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German Pages 268 Year 2021
Seth M. Holmes Frische Früchte, kaputte Körper
Kultur und soziale Praxis
Für Ed und Carolyn Holmes, die mir ein Leben zeigten, das für neue Fragen offen ist. Für die Triqui in den USA und Mexiko, die mich in ihre Leben eingelassen und mich zu neuen Antworten geführt haben. » unsere Arbeit ist noch nicht getan.« – Dolores Huerta
Seth M. Holmes (PhD, MD), Kulturanthropologe und Arzt, ist Associate Professor für Gesellschafts- und Umweltforschung sowie für Medizinische Anthropologie an der University of California (Berkeley), Co-Vorsitzender des Berkeley Center for Social Medicine, praktizierender Arzt im Highland Hospital sowie aktives Mitglied der Structural Competency Working Group. Er forscht über soziale Hierarchien, Ungerechtigkeit im Gesundheitswesen und Asymmetrien in Kontexten transnationaler Migration. Darüber hinaus publiziert er u.a. bei »salon.com« und in »The Huffington Post«.
Seth M. Holmes
Frische Früchte, kaputte Körper Migration, Rassismus und die Landwirtschaft in den USA Übersetzung aus dem Englischen von Jennifer Sophia Theodor
Originally published as »Fresh Fruit, Broken Bodies: Migrant Farmworkers in the United States«. © 2013 The Regents of the University of California. Published by arrangement with University of California Press.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Seth M. Holmes Übersetzung aus dem Englischen: Jennifer Sophia Theodor, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5054-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5054-3 https://doi.org/10.14361/9783839450543 Buchreihen-ISSN: 2703-0024 Buchreihen-eISSN: 2703-0032 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Vorwort von Philippe Bourgois: Die symbolische Gewalt der ursprünglichen Akkumulation in den USA...........................................................13 Danksagungen ..................................................................... 21 1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?« ......................... 27 Die Straße aus San Miguel .......................................................... 27 Feldforschung in Bewegung ........................................................ 29 Zur Grenze reisen .................................................................. 34 Die Grenze erleiden ................................................................ 34 Frühling in San Miguel .............................................................. 36 Die mexikanische Seite der Grenze ................................................. 38 Auslagerung und Ausbeutung....................................................... 39 Von der Grenzstadt an die Grenze................................................... 40 Individualismus in der Migrationsforschung ......................................... 43 Überqueren ........................................................................ 44 Die Gefahr an der Grenze einordnen ................................................ 48 Verhaftet .......................................................................... 48 »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«............................................ 52 Nach der Freilassung ............................................................... 53 Zur Struktur des Buchs ............................................................. 54 2. »Wir sind Feldarbeiter«: Eine verkörperte Anthropologie der Migration ...... 59 Erklären und erklärt werden ......................................................... 61 Verkörperte Anthropologie ......................................................... 63 Die Bedeutung migrantischer Landarbeit ........................................... 70 Die Gewalt in der landwirtschaftlichen Wanderarbeit ................................ 75
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb .... 77 Das Skagit Valley .................................................................. 77 Wanderarbeiter·innen im Skagit-Valley .............................................. 79 Die Tanaka Brothers Farm .......................................................... 80 Die Geschäftsführer ................................................................ 84 Verwaltungsassistentinnen ........................................................ 94 Die Erntemanager .................................................................. 96 Aufseher·innen ..................................................................... 99 Prüfer·innen ...................................................................... 102 Feldarbeiter·innen, die nach Stundenlohn bezahlt werden........................... 105 Feldarbeiter·innen, die nach Gewicht bezahlt werden ............................... 106 »Die weiße Crew« ........................................................... 106 »Die mexikanische Crew« ....................................................107 Fehl am Platz ...................................................................... 113 Kalifornien ......................................................................... 115 Hierarchien bei der Arbeit ......................................................... 118 4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums ......... 125 Gesellschaftlich bedingtes Leid und das Kontinuum der Gewalt ..................... 125 Abelino und der Schmerz des Pflückens ............................................ 127 Die Hierarchie erleiden ............................................................ 132 Crescencio und die Qual der Beleidigung ........................................... 133 Wanderlandarbeit und gesundheitliche Ungleichheit im Kontext .................... 136 Bernardo und die Folgen der Folter ................................................ 142 Die unfassbar schwere Statue ..................................................... 146 5.
»Ärzte wissen gar nichts«: Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen ....................... 151 Der klinische Blick ................................................................ 154 Abelinos Knie – Strukturen und der medizinische Blick in der Gesundheitsversorgung von Migrant·innen .................................... 158 Gesundheitsversorgung für Migrant·innen .......................................... 166 Strukturelle Faktoren für Kliniker·innen in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen ..................................................................... 169 Crescencios Kopfschmerzen – Strukturen und der medizinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen.......................... 174 Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen – Washington und Kalifornien ........................................................ 177
Bernardos Bauchschmerzen – Strukturen und der medizinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen .............................. 184 Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Wanderarbeiter·innen – San Miguel, Oaxaca ........................................ 186 Kontextlose Medizin und unpolitische Kulturkompetenz ............................ 194 6.
»Weil sie dem Boden näher sind«: Die Naturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid ............................................................. 199 Die Verborgenheit der Körper von Wanderarbeiter·innen ............................ 199 Symbolische Gewalt ............................................................... 200 Staatsbürgerschaft, Kultur und Differenz .......................................... 202 Rassifizierung, Position und Ausschluss............................................ 206 Für das eigene Leiden verantwortlich gemacht...................................... 211 Normalisierung ....................................................................215 Naturalisierung ....................................................................216 Internalisierung ................................................................... 218 Körperhaltung bei der Arbeit ...................................................... 220 Widerstand und Verweigerung ..................................................... 222 Der Streik und die Aktennotiz...................................................... 224 Gesellschaftlicher Wandel und Reproduktion ....................................... 226 7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr .................... 229 Möglichkeiten der Hoffnung und Veränderung ...................................... 229 Migrationsforschung, Binaritäten und Bedeutungen ................................ 233 Der Stellungskrieg durch Sprache ................................................. 238 Pragmatische Solidarität auf der Farm und mehr................................... 239 Kritische Öffentliche Gesundheit und Befreiungsmedizin ............................241 Gesellschaftliche und globale Solidarität ........................................... 245 Nachwort: Über ethnografisches Schreiben und Kontextwissen oder: Warum dieses Buch keinen Methodenteil hat ................................. 249 Bibliographie ..................................................................... 253 Bibliographie der englischen Originalausgabe ................................ 253 Werke, die zusätzlich für die deutsche Ausgabe verwendet wurden ........... 266
„In Frische Früchte, Kaputte Körper bietet Seth Holmes eine wichtige und fesselnde neue Ethnografie, die die strukturelle Gewalt, die dem System der Wanderarbeit in den Vereinigten Staaten innewohnt, mit den sozialen Prozessen verbindet, durch die sie normalisiert wird. Auf der Grundlage von fünf Jahren der Feldforschung unter den Triqui aus Oaxaca, Mexiko, untersucht Holmes das lokale Verständnis von Leiden und Krankheit und entlarvt Stereotypen und Vorurteile, die er mit der transnationalen Arbeit in Verbindung bringt, die billiges Essen auf amerikanische Tische bringt. In diesem fesselnden Buch geht Holmes der Frage nach, wie man mit den Wanderarbeitern und ihren Verbündeten zusammenarbeiten kann, um die Ausbeutung, die über nationale Grenzen hinausgeht und allzu oft versteckt wird, zu beenden. Dieses Buch ist eine fesselnde Lektüre nicht nur für Kultur- und Medizinanthropologen, Studenten der Ethnologie, Arbeits- und Landwirtschaftsstudenten, Ärzte und Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens, sondern auch für jeden, der sich für das Leben und Wohlergehen der Menschen interessiert, die ihnen billiges, frisches Obst liefern.“ Paul Farmer, Co-Gründer von “Partners In Health and Chair of the Department of Global Health and Social Medicine” an der Harvard Medical School. „In diesem Buch werden Konzepte aus der Welt der Wissenschaft dazu genutzt, unser Verständnis für das Leben der Menschen zu bereichern; und umgekehrt bereichern die anschaulichen Details und das einfühlsame Porträt der Lebenswirklichkeit der Menschen die Wissenschaft. Das Buch lässt den Leser keinen Zweifel daran, dass wirtschaftliche Regelungen, soziale Hierarchien, Diskriminierung, und schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesundheit marginalisierter Menschen haben. Das alles geschieht mit dem Fingerspitzengefühl eines begabten Autors. Der Leser erlebt die Details und ist sehr bewegt “ Professor Sir Michael Marmot, Director, UCL Institute of Health Equity „Bietet ein einzigartiges Verständnis der politischen Ökonomie der Wanderarbeit und ihrer menschlichen Kosten.“ Didier Fassin, Professor of Social Science am Institute for Advanced Study, Princeton, und Autor von Humanitarian Reason „Frische Früchte, Kaputte Körper ist eine kraftvolle Darstellung der sozialen und politischen Realitäten, die die Körper der mexikanischen Wanderarbeiter in
der reichsten Wirtschaft der Welt prägen und ihre Lebensperspektiven einschränken. Eine fesselnde Lektüre und ein entschlossener Aufruf zu gerechten Arbeitsbeziehungen und gesundheitlicher Gleichheit als Schlüssel zu einer gemeinsamen und nachhaltigen menschlichen Entwicklung.“ JoÈo Biehl, Autor von Vita: Life in a Zone of Social Abandonment „Holmes’ Buch ist eine lyrische, ethnografische Arbeit im Stile von Robert Chailloux’ Stillleben mit Erdbeeren, die die mühsame Arbeit indigener mexikanischer Pflücker offenbart, die in einer Klientelbeziehung zu japanisch-amerikanischen Farmbesitzern gefangen sind, die ihrerseits in einem Preiskampf mit globalen Konkurrenten gefangen sind, um die schöne Fülle zu produzieren, die wir als selbstverständlich ansehen.“ Nancy Scheper-Hughes, Autor von Death without Weeping „Eine ethnografische Tour du Force. Holmes bietet uns die seltene Kombination von medizinischen, anthropologischen und humanitären Einblicken in das Leben der oaxacaischen Wanderarbeiter in den Vereinigten Staaten. Ihre landwirtschaftliche Feldarbeit und seine anthropologische Feldforschung überschneiden sich und ergeben ein Buch voller Einblicke in das Pathos, die Ungleichheiten, die Frustrationen und die Träume, die das tägliche Leben der Landarbeiter prägen. Durch Holmes’ lebendige Prosa und die Worte der Arbeiter selbst fühlen wir mit den Arbeitern mit, wenn sie ihre Körper beim Pflücken von Obst und beim Beschneiden von Weinstöcken strapazieren, wir spüren ihre Angst, wenn sie die Grenze zwischen den USA und Mexiko überqueren, wir verstehen ihre Frustration, wenn sie von den Einwanderungsbehörden verfolgt und festgehalten werden, und wir jubeln über ihre Beharrlichkeit, wenn sie mit Bürokraten und medizinischem Personal konfrontiert werden, die sie so behandeln, als seien sie selbst Schuld an ihrer verarmten Situation. Eine Pflichtlektüre für alle, die sich für das oft unsichtbare Leben und Leiden derjenigen interessieren, deren Arbeit unseren Lebensunterhalt sichert.“ Leo R. Chavez, Professor of Anthropology, University of California, Irvine “In seinem ersten Buch gewährt uns der Anthropologe und Arzt Seth M. Holmes einen intimen Einblick in das Leben von Wanderarbeitern in der Landwirtschaft. Anhand seiner umfassenden Recherchen enthüllt Holmes die Kämpfe von Millionen von Menschen, die jedes Jahr auf unseren Feldern arbeiten, um Lebensmittel auf unseren Tischen zu produzieren. Dies
sind die Geschichten, die bei den politischen Entscheidungsprozessen zur Einwanderungs- und Agrarpolitik im Mittelpunkt stehen sollten. Holmes’ Buch hilft uns, sie dort zu platzieren.“ Anna Lapp, Autor von Diet for a Hot Planet und Gründerin des Real Food Media Project „Wie die Reportagen von Edward R. Murrow und die Arbeit von Cesar Chavez erinnert uns Seth Holmes’ Buch an diese modernen Migranten an die Menschen, die die größte Menge an Nahrungsmitteln produzieren, die die Welt je gesehen hat. Sie übernehmen Jobs, die andere amerikanische Arbeiter nicht annehmen würden, für Löhne, die andere amerikanische Arbeiter nicht akzeptieren würden, und unter Bedingungen, die andere amerikanische Arbeiter nicht tolerieren würden. Doch abgesehen von der Minderheit der Landarbeiter, die durch die Verträge der United Farm Workers geschützt sind, verdienen diese Arbeiter zu oft nicht genug, um sich angemessen zu ernähren. Seth Holmes’ Schrift treibt die laufende Organisierungsarbeit der UFW unter den Landarbeitern voran und mahnt die amerikanische Bevölkerung, dass unsere Arbeit noch nicht abgeschlossen ist.“ Arturo S. Rodriguez, President, United Farm Workers of America
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Karte der Wanderfeldforschung, die 2003 im Nordwesten von Washington State begann. Ich durchquerte Zentralkalifornien, zog bis nach Oaxaca in Mexiko und kehrte 2004 wieder zurück..................................... 31 Abb. 2: Der Autor und Macario mit ihren Triqui-Gefährten in der Grenzwüste. ........ 33 Abb. 3: Der Autor und Triqui-Männer in der Grenzwüste. ............................ 46 Abb. 4: Triqui-Männer, die in der Grenzwüste unter Müllsäcken schlafen. ............ 47 Abb. 5: Wohncamp der Arbeiter·innen auf der Farm. ................................. 80 Abb. 6: Übersicht der Arbeitshierarchie auf der Farm. Durchgezogene Linien bedeuten direkte Aufsicht, gepunktete Linien eine weniger formelle Aufsicht. ....... 84 Abb. 7: Eine weiße jugendliche Prüferin mit mexikanischen Pflückern. ............. 104 Abb. 8: Marcelina beim Pflücken von Erdbeeren. Sie hat Tücher umgebunden, um sich vor der Sonne zu schützen............................................. 110 Abb. 9: Samuel mit Kindern beim Beschnitt kalifornischer Weinreben. ............... 117 Tabelle 1: Konzeptuelles Diagramm der Hierarchien auf der Farm. ................... 121 Abb. 10: Abelino bei der Feldarbeit. ................................................ 128 Abb. 11: Selbstmedikation: Tablettendosen hinter einer Hütte. ...................... 136 Abb. 12: Das Dorf San Miguel, Oaxaca. Foto von Seth M. Holmes...................... 152 Abb. 13: Markttag im Zentrum von San Miguel, wo das Centro de Salud liegt. ........ 188 Abb. 14: Samuels Schwester mit Feuerholz für den Tag, auf dem Rückweg nach San Miguel mit Samuels Vater. ............................................... 192 Abb. 15: Gefahr: Pestizidaufbewahrung. ............................................ 219 Abb. 16: Ein·e Prüfer·in steht über knienden Pflücker·innen im Erdbeerfeld. .......... 221 Abb. 17: Erbeerpflückerinnen im Streik, Tanaka Brothers Farm. .................... 224 Abb. 18: Erdbeerpflücker im Streik lesen die Liste der Missstände. ................. 225
Vorwort von Philippe Bourgois: Die symbolische Gewalt der ursprünglichen Akkumulation in den USA
Ein guter alter Gesundheitsrat lautet: »Esst viel frisches Obst – frische Früchte sind gesund!« Den Lesenden dieses Buches – die zu dem winzigen Teil der Weltbevölkerung gehören, der Zugang zu wichtigen, kritischen und bewegenden Büchern wie diesem des Arztes und Anthropologen Seth Holmes hat – mag dieser Imperativ der gesundheitlichen Biomacht womöglich als selbstverständlich erscheinen. Die meisten Menschen in den USA – und in Deutschland –, die nicht in Armut leben, haben gelernt, die Schlimmsten der billigen, industriell verarbeiteten und biologisch veränderten Fertiggerichte voller Zucker, Salz und Fett zu meiden.1 Aufgrund der Herrschaft der Konzerne sind viele verarmte Menschen weltweit jedoch weiterhin zum Verzehr solcher Lebensmittel verdammt. Einige der global Privilegierten in den USA können sich vielleicht an die Lektüre von Steinbecks Grapes of Wrath und an den Boykott von Weintrauben zur Unterstützung von Cesar Chavez‹ Bewegung der United Farm Workers erinnern. Sie sind sich vielleicht wage darüber im Klaren, dass die leckeren und gesunden Früchte, die sie löblicherweise zu sich nehmen, auf billigste Weise produziert werden: Sie zerstören buchstäblich die Rücken, Knie, Hüften und andere überbeanspruchte Körperteile von Landarbeiter·innen aus Lateinamerika. Holmes macht uns deutlich, warum wir die Verbindung zwischen unserer »Selbstsorge« und dem Leid, das indigenen Landarbeiter·innen aus Mexiko auferlegt wird, häufig nicht herstellen. Die Naturalisierung von rassistischen Hierarchien macht es unsichtbar. Holmes zeigt, wie dringend wir die Ungleichheitsstrukturen im globalen Gefüge erkennen müssen. Sie wirken zwar
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Vgl. Moss 2013.
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auf uns alle, verteilen das verkörperte Leid aber ungerecht stärker auf strukturell gefährdete Bevölkerungsgruppen2 .Es steht viel auf dem Spiel, denn diese globalen Ungleichheiten zerstören Körper, oft sind sie tödlich. Holmes zeigt genau, wer körperlich und emotional – und auf welch intime Weise – versehrt wird; durch die Auswirkungen von Rassismus, durch internationale Handelspolitik, durch Alltagspraktiken, die Ungleichheit normalisieren, durch Strafverfolgung und disziplinäre Wissensformen. Er erkundet die intellektuellen, politischen, praktischen und ethischen Implikationen von Marx, besonders aber von Bourdieu und dem frühen Foucault, so dass die Lesenden den Zusammenhang zwischen ihren eigenen Vorteilen im gegenwärtigen BiomachtRegime und dem Schaden für die Körper und Leben indigener Arbeiter·innen ohne Aufenthaltstitel nicht länger verkennen können. Tatsächlich dokumentiert Holmes ethnografisch, wie der Zugang zu frischem Obst in den USA und in vielen wohlhabenden Teilen der Welt durch eine symbolische Gewalt ermöglicht wird: Rassismus wird als natürlicher Zustand behandelt. Er übersetzt sich in missbräuchliche Arbeitshierarchien, segregiertes Wohnen und ungesunde Lebensbedingungen, wie Holmes konkret aufzeigt. Das offene Geheimnis dieses politisch auferlegten Leids der illegalisierten Landarbeiter·innen aus Lateinamerika in den USA der 2010er Jahre erfüllt einen skrupellosen Zweck: Es erzeugt Profite für transnationale Agrarunternehmen und hält US-Staatsbürger·innen gesund. Das Leiden der Triqui ist wohl nützlicher, ungesünder und unsichtbarer als die menschengemachte Umweltkatastrophe, die während der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre 2,5 Millionen Menschen die Great Plains verlassen ließ. Damals migrierten 200.000 »Okies« (aus Oklahoma) zur Feldarbeit nach Kalifornien, wo sie zum großen Aufschwung der milliardenschweren kalifornischen industriellen Landwirtschaft beitrugen. Auch die »Okies« wurden mit Beleidigungen begrüßt. Ladentüren trugen Schilder, auf denen stand: »Okies und Hunde müssen draußen bleiben.« Holmes hat einen echten, pensionierten »Okie« besucht, musste jedoch feststellen, dass dieser ältere, gesellschaftlich aufgestiegene, ehemalige Wanderarbeiter das gleiche Gift, mit dem er vor mehr als einem halben Jahrhundert bespuckt wurde, nun selbst verbreitet. Er versucht, Holmes davon zu überzeugen, dass die jüngste Gruppe migrantischer Landarbeiter·innen, sprich die indigenen Triqui-Amerikaner·innen, kulturell unterlegen seien und ihre Armut verdient hätten. Er erklärt ihren Phänotyp,
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Vgl. Quesada, Hart und Bourgois 2011.
Vorwort von Philippe Bourgois
ihre Körpergröße, Hochzeitsbräuche, Sprache, Nationalität und sogar ihre Arbeitsdisziplin und Ausbeutbarkeit zu schändlichen Kennzeichen ihrer rassifizierten Ethnizität, durch die ihnen ihr vergifteter Platz in der Beschäftigungshierarchie der globalen Arbeitskräfte zukomme. Biomacht, symbolische Gewalt, Rassismus der alten Schule und fremdenfeindlicher Nationalismus haben die Nische des Frischobstes in den USA zu einem gewinnbringenden und wachsenden Geschäft gemacht. Die strukturelle Gewalt der US-Einwanderungsgesetze sowie die Details und Regeln ihrer Umsetzung durch Grenzschutz und Arbeitsplatzinspektion unterstützen dieses Geschäft. Die politische Illegalisierung mexikanischer Landarbeiter·innen in den USA verglich Michael Burawoy 1976 provokativ mit den Mechanismen der ungleich gegliederten Produktionsweisen (hier: agrarwirtschaftlicher Kapitalismus gegenüber Subsistenzlandwirtschaft), auf denen die Bergbauindustrie in Südafrika beruhte. So subventionierte die Bergbauindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lebens- und Arbeitsbedingungen weißer Südafrikaner·innen durch die politische und gesetzliche Durchsetzung der Apartheid und segregierten »Homelands« für Schwarze Arbeiter·innen. Beinahe 40 Jahre nach Burawoys Kritik wird diese Dynamik in der Beziehung der US-amerikanischen Landwirtschaft zu den ländlichen, indigenen Kommunen in Mexiko weiterhin institutionalisiert und – wie Holmes scharfsinnig aufzeigt – verkörpert. Die Reproduktionskosten der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte der USA (das Aufwachsen der Kinder und die Ausbildung der Arbeiter·innen selbst) sowie von deren körperlichem Verschleiß (Arbeitsverletzungen, Pestizidvergiftungen, vorzeitiges Altern, Arbeitsunfähigkeit und Ruhestand) werden in deren Herkunftsorte ausgelagert. Wenn die körperlich überanstrengten und giftstoffbelasteten Landarbeiter·innen zu krank werden, um weiterzuarbeiten, suchen die meisten von ihnen »freiwillig« Zuflucht in die Herkunftskommunen. Die liegen in ganz Lateinamerika – aber besonders in Mexiko – und zunehmend in indigenen Gebieten. Die Industrie – sogar der von Holmes untersuchte Familienbetrieb – setzt ihre Arbeiter·innen enormen Mengen versprühter, krebserregender Stoffe aus und stellt sie vor die Wahl zwischen Hunger und wiederholten Belastungsverletzungen, die allzu oft ernste lebenslange Beeinträchtigungen zur Folge haben. Wenn die Verzweiflung der Arbeiter·innen übermäßig sichtbar oder kostspielig wird, werden sie bequemerweise vom Grenzschutz abgeschoben und als Kriminelle gelistet. Wenn diese Saisonarbeiter·innen voller Schmerzen und Erschöpfung nach Hause in ihre vormals halbautonomen und subsistenzwirtschaftlichen
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Kommunen zurückkehren, stellen sie fest, dass ihre abgelegenen Dörfer und Weiler vom Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) zerstört wurden. Eher früher als später zwingt die Armut die meisten von ihnen dazu, sich erneut über die militarisierte Nordgrenze zu schleppen, um eine weitere Erntesaison hindurch hart zu arbeiten und brutal ausgebeutet zu werden. Diese indigenen Gemeinden versorgten früher die lokalen, mexikanischen Märkte mit Mais. Doch der Maisanbau als wertvolle Einnahmequelle und nährstoffreiche Eigenversorgung funktioniert nicht mehr. Die lokalen Märkte sind von kommerziell angebautem Import-Mais aus den USA und verpackten Fertiggerichten überschwemmt, die vom ungleichen Zugang zu Steuervergünstigungen und Gentechnologien profitieren. Denn die neoliberale Praxis ist nicht konsistent mit ihrer eigenen Ideologie des freien Marktes. Diese ungesunde und politisch auferlegte strukturelle Gewalt kann als zeitgenössische Form der ursprünglichen Akkumulation verstanden werden. Sie ähnelt der Privatisierung und Kommerzialisierung der britischen Landwirtschaft durch die Auflösung der Allmendrechte im England des 16. Jahrhunderts. Diese Enclosure-Bewegung diente Marx als Musterbeispiel der gewaltvollen Geburt des Kapitals: »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend«3 . US-amerikanische Einwanderungsund Arbeitsgesetze sowie – etwas ferner – die ungleiche Ausformung der Produktionsweise über die internationalen Grenzen hinweg verhindern, dass die Landarbeiter·innen sich für ihre Rechte organisieren oder sich auch nur über ihre »Überausbeutung« als Saisonarbeiter·innen beklagen. Diese parasitäre Strategie in der länderübergreifenden Arbeitsstruktur verstärkt eine »kombinierte Unterdrückung«, in der die Erfahrungen von Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung zu einer verkörperten symbolischenGewalt verschmelzen. Als Arzt und Anthropologe, der sich als öffentlicher Intellektueller und Heilkundiger sieht, ist Holmes in einer besonderen Position, um die verkörperte Erfahrung dieser Mehrfachunterdrückung zu verstehen und zu theoretisieren. Auf provokative Weise überbrückt er zwei intellektuelle und berufliche Disziplinen sowie Epistemologien, die sehr unterschiedlich in die Welt blicken: die Anthropologie4 mit ihrer produktiv zweigleisigen Grundlage in
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Marx 1962, S. 788. Anmerkung zur Übersetzung: Der Begriff der Anthropologie in der deutschen Übersetzung umfasst mehrere Forschungsfelder von der Ethnologie bis hin zur Sozial- und Kulturanthropologie.
Vorwort von Philippe Bourgois
den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie die Biomedizin mit ihrer positivistischen Hingabe für statistisch bedeutsame, objektive Nachweise. Holmes begreift den Körper aus der Perspektive eines praktizierenden Mediziners, der technisch weiß, wie unsere Organe, Zellen und Synapsen funktionieren. Er bringt wertvolle praktische Fähigkeiten mit, um Menschen zu heilen sowie das hohe Einkommen eines US-amerikanischen Arztes – auch wenn das wohl durch seine Tätigkeiten in der universitären Lehre und in der medizinischen Erstversorgung bedeutend reduziert wird. Vor allem ist Holmes ein Grenzgänger, der eindeutig auf der Seite der Armen steht. Er überschreitet die Grenzziehungen entlang von Klasse, Nationalität, ethnisierter Zugehörigkeit, beruflichem Status, Raum und Kultur, die – gemeinsam mit Geschlecht, Sexualität, Normativität, Alter und Befähigung – die meisten Gesellschaften strukturieren und die am hyperglobalisierten Knoten zwischen USA und Mexiko besonders machtvoll und ungleich sind. Holmes hat den Mut, den konfrontativen Habitus von Ärzt·innen – der ihm in seiner strengen Ausbildung im Medizinstudium sowie in seiner kindlichen Sozialisation als Sohn eines Radiologen auferlegt wurde – sinnvoll anzuwenden, indem er an seiner Zunft der wohlmeinenden Ärzt·innen Verrat übt. Holmes deckt die ungewollt entpolitisierenden Logiken einer geschlossenen, sich selbst schützenden, privilegierten Nische Nordamerikas – jene der praktizierenden Ärzt·innen – von innen heraus auf. In Kapitel 5 begleitet er seine befreundeten Landarbeiter·innen in eine Klinik, um sie dort zu unterstützen. Durch diese praktische Solidarität kann Holmes die Mechanismen analysieren, durch die symbolische Gewalt grundlegend verfasst ist und funktioniert. Naturalisierte rassistische Unterdrückung kann sich so nicht länger als unbeabsichtigtes und offenes Geheimnis unter seinen Kolleg·innen in der klinischen Praxis reproduzieren, wo sie strukturell verletzbare Patient·innen versorgen. Zugleich hält Holmes immer eine analytische und persönliche Hermeneutik der Großzügigkeit aufrecht, die jede manichäische, politische Rechthaberei überwindet und die kulturrelativistischen und postmodernen Fallstricke der Anthropologie vermeidet. Sonst würde er die hässlichen Widersprüche und Leiden nicht erkennen, die von politisch-ökonomischen, kulturellen, psychodynamischen und körperlichen Kräften verursacht werden. Holmes‹ politisch-theoretischer Einblick offenbart, warum ehrlich engagierte, fürsorgliche und intelligente Ärzt·innen unabsichtlich ihre Patient·innen für deren eigene Dilemmata verantwortlich machen und über die gesellschaftlich-strukturelle Ungleichheit weitgehend ahnungslos bleiben. Dieses Verkennen ist das Ergebnis von vielen Jahren der Disziplinierung von Macht-Wissen während ihrer Fehlausbildung
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in den Wissenschaften und im Medizinstudium. Als praktizierender Arzt, der im Interesse der Armen arbeiten möchte, weiß Holmes womit seine Kolleg·innen zu kämpfen haben. Denn auch er muss in den ungleichen Nahkampf mit der byzantinischen Unlogik des Erstattungssystems der Krankenversicherungen eintreten, der den überbezahlten Ärzt·innen in den USA vom Gesundheitssystem auferlegt wird. Dieses System wird von Marktkräften beherrscht, die den persönlichen Kontakt zwischen Patient·innen und Ärzt·innen reduzieren, den Zugang zu Technologien und Medikation beschränken und den medizinischen Blick einengen. Ebendiese theoretisch informierte Großzügigkeit ermöglicht es Holmes auch, uns aufzuzeigen wie ein aufrichtig netter und ethisch orientierter Familienhofbetreiber,den er in der Kirche kennenlernt, seinen verletzbarsten Arbeiter·innen furchtbare Bedingungen aufdrücken kann. Auch dieser Landwirt ist im selben Netz der ungleichen globalen Märktegefangen, das die Leben seiner Arbeiter·innen zerstört. Holmes ist ein eingefleischter Grenzgänger in seinem intellektuellen, beruflichen und privaten Leben. Zudem erweist er sich in diesem Buch als Meister jener zentralen Methode, die die Kulturanthropologie so interessant macht: die teilnehmende Beobachtung als Variante der Ethnografie. Holmes lebt in baufälligen Landarbeitshütten (und zittert nachts vor Kälte), pflückt stundenlang Beeren (wobei er seine Sehnen schädigt und von den Pestiziden Husten bekommt), begleitet seine befreundeten Landarbeiter·innen in Kliniken und unterstützt sie bei den Ärzt·innen. Er nimmt an Hochzeiten und Taufen teil, schließt sich einem Familienverbund an und migriert mit ihm in der Nebensaison, auf der Suche nach zeitweilig existenzsichernder Arbeit, durch Kaliforniens Central Valley (auf einer Reise, die an die der »Okies« erinnert). Er ist bereit, eines der überfüllten Autos zu steuern, das auf dieser Reise in einer prekären Karawane achtsam unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung fährt, um nicht auf den Radar einer feindseligen Autobahnpolizei zu geraten. Er kampiert und wäscht sich mit den Familien auf Rastplätzen und als der Familienverbund schließlich eine heruntergekommene Unterkunft im Elendsviertel bezieht, beharrt er diskret darauf, für den Rest des Winters darin einen eigenen Schlafplatz zu beziehen. Schließlich kehrt er mit seinen Gefährt·innen »nach Hause« in deren unzugängliche Dörfer in Mexiko zurück. Durch all das vermittelt Holmes die Geschichten echter Menschen – und das ist ein Verdienst der Anthropologie, trotz all ihrer Schwächen und schwerwiegenden elitären Vergehen. Ich beneide alle, die das Einführungskapitel dieses Buchs noch nicht gelesen haben, denn es ist mehr als ergreifend. Holmes nimmt uns mit – tief in
Vorwort von Philippe Bourgois
die Wüste von Arizona, Sonora, mit seinen Triqui-Gefährten, wo sie Klapperschlangen, Helikoptern, bewaffneten Grenzschützern und Geländefahrzeugen ausweichen. Wir könnten uns kein brutaleres und wirksameres System ausdenken, um die besten und selbstdiszipliniertesten Arbeiter·innen auszuwählen. Zugleich weist Holmes aber die anthropologische Erzählung vom eigenen männlichen Heldentum und Allwissen zurück. Trotz seines Muts und seiner Fähigkeit, Härten zu ertragen und Gefahren auf sich zu nehmen – die die Armen regelmäßig erfahren –, sowie deutlich für Gerechtigkeit einzutreten, ist Holmes kein Indiana Jones. Wie wir alle hat auch er seine persönliche Verletzbarkeit. Er bricht in Tränen aus, als er während seiner Inhaftierung in einer Zelle in Arizona von Beamtenbeschimpft wird. Während er dieses Detail seiner eigenen Subjektivität offenlegt, zeigt er ein weiteres Beispiel der missbräuchlichen Funktionsweise von Macht: wenn die, die sie innehaben, ihre Inhaftierten auf der intimsten Ebene ihrer Körper und Gefühle unnötigerweise demütigen. Danke, Seth, dass du ein öffentlicher Anthropologe bist und ein dringendes Thema ansprichst, bei dem es um sehr viel geht. Deine Generation von Akademiker·innen hat das Potenzial, als zugleich kritische Intellektuelle und Heilkundige durch ihre harte Arbeit, Intelligenz und verkörperte praktische Empathie die medizinische Anthropologie und die Sozialwissenschaften im Allgemeinen zu revolutionieren.
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Danksagungen
Im Verlauf der Forschung und des Schreibens an diesem Buchs habe ich unfassbar viel Unterstützung und Ermutigung erhalten. An allererster Stelle danke ich den Triqui, die mich in ihrem Zuhause in Oaxaca und in ihren Hütten in den Camps in Washington willkommen hießen. Sie ließen mich in ihren Autos schlafen, als wir wohnungslos und unterwegs waren, und beherbergten mich in ihren Wohnungen in Kalifornien. Vor allem aber schenkten sie mir Vertrauen – besonders in der Grenzwüste. Diese Menschen, die mir mit der Zeit genug vertrauten, um mich zu Ereignissen in ihren Leben einzuladen – von Geburten über Arbeitsverhandlungen bis hin zur Grenzüberquerung – haben diese Feldforschung überhaupt erst möglich gemacht. Als ich in Washington in meine Hütte im Arbeitscamp einzog, ging ich davon aus, ein oder zwei Jahre lang Zeuge von erschütternden Lebensrealitäten zu werden. Doch zu meiner Überraschung fand ich mich mit neuen Freund·innen wieder. Ich habe ihre Namen und persönlichen Informationen verändert, um ihre Privatsphäre zu schützen und bedaure, nicht allen namentlich danken zu können. Als Erstes möchte ich dem Menschen, den ich hier Samuel nenne, dafür danken, mir sein Vertrauen geschenkt und sich vor seiner Familie und seinen Freund·innen für mich verbürgt zu haben. Seine Familie in Oaxaca war erstaunlich geduldig und hieß diesen großen, kahlköpfigen, weißen Besucher aus dem Norden willkommen; sogar als die Nachbar·innen mich wie einen CIA-Agenten oder Drogenschmuggler behandelten, wofür ich häufig gehalten wurde. Seine Familie und seine Freund·innen (und auch manche seiner Verleumder·innen) in den USA waren eine große Unterstützung: Sie teilten ihre Erfahrungen und blieben mit mir in Kontakt, als ich nicht mehr vor Ort, sondern vom Schreibtisch aus arbeitete. Besonders Samuel, Joaquin, José und Maribel haben meinem Denken und Schreiben zentrale Erkenntnisse und Weisung geschenkt. Sie haben mich regelmäßig mit Anrufen und Besuchen motiviert und mich daran erinnert, wie wichtig es ist, eine breite-
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re Öffentlichkeit über ihre Leben als indigene Migrant·innen zu informieren. Zudem danke ich ihren Familien, Marcelina, Crescencio, Abelino, Bernardo, Juana; all jenen, die sich in Oaxaca mit mir anfreundeten; jenen, die mir vertrauten, mit ihnen die Grenze zu überqueren; und vielen weiteren. Meine Forschung wurde auch von weiteren Menschen im Feld ermöglicht. In meinen ersten, einsamen Monaten im Arbeitscamp in Washington teilten die Menschen vom Projekt Tierra Nueva ihre Einsichten und ihre Freundschaft mit mir. Die Tanaka-Farm erlaubte mir, auf dem Hof zu leben und auf den Feldern zu pflücken, zu beobachten sowie mit den Angestellten Gespräche zu führen. Ohne diesen Zugang zu einem Betrieb aus erster Hand, wäre meine Forschung verwässert oder sogar unmöglich gewesen. Ich danke allen Angestellten auf der Tanaka-Farm für den Einblick, den sie mir in ihre Welten gewährt haben. Besonderer Dank gilt jenen, die ich hier John, Rob, Mike, Sally, Jan und Mateo nenne. Die Nachbar·innen der Farm und der Camps, Bewohner·innen des Skagit Valley, schenkten mir wichtige Erkenntnisse über die Landwirtschaft im Allgemeinen und die rassistischen Verhältnisse in den ländlichen USA im Besonderen. Insbesondere möchte ich meinen Freund·innen danken: den Kaninchen-Leuten, ihren zweisprachigen Freund·innen die Straße runter, meinen Bekannten in der PFLAG von Skagit, den Leuten, die sich um die Aussichtsstationen im Northern-CascadeNationalpark kümmern, und natürlich meinem langbärtigen Freund und seinen inspirierenden allwöchentlichen Mahnwachen am örtlichen Gerichtsgebäude. Zudem bin ich dankbar für die Hilfe weiterer Menschen in Oaxaca, besonders Kris Olmsted, Alejandro de Avila und Fray Eugenio, für ihre moralische Unterstützung und intellektuelle Gesellschaft. Begeistert möchte ich den Mitarbeiter·innen der Kliniken für Migrant·innen in Washington State und Kalifornien danken, die mich willkommen geheißen und mich über die medizinischen Probleme und Gesundheitsversorgung dieser Bevölkerungsgruppe aufgeklärt haben. Zusammen mit ihnen allen möchte ich an gesellschaftlichem und gesundheitspolitischem Wandel arbeiten. Ich danke auch den Institutionen, die meine Arbeit an diesem Projekt finanziell unterstützt haben: dem Martin Sisters Endowed Chair an der School of Public Health der University of California, Berkeley (UCB); dem Department of Anthropology der UCB; dem Department of Anthropology, History and Social Medicine an der University of California, San Francisco (UCSF); dem Medical Scientist Training Program an der UCSF; dem University of California Institute for Mexico and the United States; der Mustard Seed Foundation; der Graduate Division Dean’s Fellowship an der UCSF; dem Center for
Danksagungen
Reproductive Health Research and Policy an der UCSF; der School of Medicine Rainer Fund an der UCSF; dem Physician Scientist Program an der University of Pennsylvania; und dem Robert Wood Johnson Foundation Health & Society Scholars Program an der Columbia University. Ich danke den folgenden Organisationen für weitere Arten der Unterstützung: Tierra Nueva und Jesse Costello-Good für einen ruhigen Raum zum Denken und Schreiben; den Aktiven in der Society for Humanities, Social Sciences and Medicine (u.a. VinhKim Nguyen, Jeremy Green, Walt Schalick, David Meltzer, Helena Hansen, Jennifer Karlin, Adam Baim, Ippolytos Kalofonos und Scott Stonington) sowie dem Harvard Department of Global Health and Social Medicine (besonders Allan Brandt, Paul Farmer und Arthur Kleinman) für ihren Glauben an meinen multidisziplinären beruflichen Weg; der Abteilung für Medical Humanities an der University of Rochester (besonders Stephanie Brown Clark, Jane Greenlaw und Ted Brown) und dem dortigen Department of Anthropology (besonders Robert Foster) sowie der CRUX NYC Kletter-Community für den ruhigen Raum in meiner Schreibphase im Norden des Bundesstaats New York. Ich muss meiner Familie dafür danken, dass sie mir von klein auf auch Wirklichkeiten außerhalb unseres komfortablen, vorstädtischen Familienlebens gezeigt hat. Ich bezweifle, dass meine Eltern wussten, was für einen Prozess die Begegnungen mit transnationaler Ungleichheit in mir anstoßen würden: Ich hinterfragte, was ich über die Gesellschaft und die Welt lernte – und schließlich auch viele der Paradigmen meiner Eltern selbst. Meine Familie war aktiv an meiner Ausbildung beteiligt, las und kommentierte Texte und blieb während meiner einsameren Monate in Kontakt oder besuchte mich. Mein Bruder, Wynn, war ein besonders wertvoller Mitdenker und -theoretiker. Ich danke Mom, Dad, Wynn, Deb, Na, Laura, Aidan, Kellan und meinen Großeltern für die unschätzbar wertvolle Unterstützung. Die letzte Frage, die meine Großmutter mir stellte, bevor sie im Frühling 2013 starb, lautete: »Hast du dein Buch fertiggestellt?« Danke auch an meine Freund·innen, die mich während meiner Feldforschung per Post kontaktierten oder persönlich besuchten: Corey und Bethanie, Adam, Kai, Jack, Ippy, Kelly, Rachel, Tim, Cale, Mark und Gwen. Danke an Cale und Lane für ihre Unterstützung während der manchmal angstvollen Monate, in denen ich diesen Text schrieb, ihn überarbeitete und Schreibblockaden überwinden musste. Danke an Vincanne Adams, Philippe Bourgois, Nancy Scheper- Hughes, Lawrence Cohen und andere im Programm der Medical Anthropology von UCSF und UCB; an Tris Parslow, Jana Toutolmin, Kevin Shannon, Catheri-
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ne Norton und andere im Medical Scientist Training Program an der UCSF; sowie an Helen Loeser, Maureen Mitchell und andere in der School of Medicine an der UCSF für die Überzeugung von der gemeinsamen Ausbildung in Medizin und Sozialwissenschaften; an Lisa Bellini, Gary Koretsky, Richard Shannon, Ilene Rosen, Robby Aronowitz, David Asch, Skip Brass und andere an der University of Pennsylvania für ihre kreativen Weisen, mir während meines intensiven Praktikums und Aufenthalts Zeit zum Schreiben und Unterstützung zu schenken; sowie an Bruce Link, Peter Bearman, Lisa Bates, Gina Lovasi, Julien Tietler, Beth Povinelli, Lesley Sharp, Kim Hopper, Zoe Donaldson, Kristen Springer, Kristin Harper, Jason Fletcher, Mark Hatzenbuehler, Kerry Keyes, Jennifer Hirsch, Helena Hansen, Cate Taylor und andere an der Columbia University für die interdisziplinären intellektuellen Diskussionen, die mir dabei halfen, eine deutlichere Sprache zu finden. Ohne die gesammelte Unterstützung all dieser Personen und Institutionen hätte ich das Projekt nicht fertiggestellt. Ich bin dankbar, an Universitäten ausgebildet worden zu sein, die für ungewöhnliche berufliche Wege und interdisziplinäre Perspektiven offen sind. Ich danke meinen vielen offiziellen und inoffiziellen Kolleg·innen und Berater·innen: Chris Kiefer für seine Erreichbarkeit und Reaktionen auf meinen Text; Lawrence Cohen und Vincanne Adams für ihre Unterstützung in meiner Erkundung neuer Ideen; Gay Becker für das genaue und konstruktive Lesen meiner Entwürfe; Donald Moore für eines meiner liebsten Seminare im Hauptstudium über Gesellschaftstheorien; Judith Justice und Jeanne Simonelli dafür, dass sie mir anthropologisches Engagement im Feld der Weltgesundheit vormachten; Paul Farmer und Adrienne Pine für ihr Vorleben von verschiedenen Formen der leidenschaftlichen und strategischen Solidarität; Catherine Maternowska, Steffanie Strathdee, Wayne Cornelius, Lois Lorentzen, Jennifer Burrell und dem Manuskript-Workshop an der SUNY Albany für unzählige Erkenntnisse über die Forschung zu Migration; Jim Quesada, Rosemarie Chierichi, Xochitl Castañeda, Heide Castañeda, Sarah Willen, Liz Cartwright und Kurt Organista für spannende Diskussionen über Migration sowie für die moralische Unterstützung; Donna Goldstein und Laurie Hart für die Ermutigung zum Schreiben und Finden meines beruflichen Wegs aus der Ferne; dem Center for Latin American Studies an der UCB für die Eröffnung von Räumen für Wissenschaftler·innen, die sich mit aktuellen Themen in Lateinamerika befassen; dem Center for Comparative Immigration Studies an der UC San Diego für die verstreute Gemeinschaft von Mentor·innen und Kolleg·innen der Migrationsforschung; Tom Boyce, Nancy Adler, Paula Brave-
Danksagungen
man, Ray Catalano, Len Syme, Denise Herd, Merry Minkler, Rachel MorelloFrosh und Mahasin Mujahid für die Unterstützung meiner Forschung und Fragen, obwohl unsere Methoden sich stark unterschieden; Jeff Gaines, John Fife und BorderLinks für ihre Überzeugung, dass mein Schreiben im Kampf für soziale Gerechtigkeit wichtig ist; No More Deaths, Jennifer Hill und Daniel Ramirez für den Raum, um mich von meiner Zeit in der Wüste und im Grenzschutzgefängnis in Arizona zu erholen; Joe Figini und Heather Williams für ihren rechtlichen Rat vor und nach meiner Begegnung mit dem Grenzschutz; John Hughes, Walt Odets, Chris Bartlett, Jeff Darcy und Susan Phillips dafür, dass sie mich inmitten dieser wunderbaren und ermüdenden Arbeit bei Sinnen gehalten haben; und Steve McPhee für sein Vorleben eines tiefen Mitgefühls für jene, die Leid erfahren. Vor allem bin ich dankbar für den unbezahlbaren Rat, Kommentar und Rückhalt von Philippe Bourgois. Danke für die vielen Treffen und Telefonate in den letzten Jahren – voller akademischem Rat, theoretischen Ideen und einem offenen Ohr für einen Anthropologen, der manchmal von den miterlebten Wirklichkeiten deprimiert war. Danke, dass du kritische Theorien zu gesellschaftlicher Ungleichheit lebendig werden lässt. Ich danke meinen formalen Mentor·innen: Nancy Scheper-Hughes, ein Vorbild im leidenschaftlichen und engagierten Schreiben und eine Denkerin mit einer beeindruckend vielseitigen Kombination aus theoretischen Perspektiven; Loïc Wacquant, der kritische Gesellschaftstheorie, angewandt auf aktuelle gesellschaftliche Situationen, so präzise erklärt; Stanley Brandes für die unterstützende Schreibberatung und die Leitung einer wunderbaren Schreibgruppe; sowie Tom Denberg für herausfordernde Erkenntnisse hinsichtlich der Zusammenführung von anthropologischer Forschung und akademischer Medizin. Danke an meine Kolleg·innen in der Anthropologie, besonders Maya Ponte, Ippolytos Kalofonos, Meg Stalcup, Thurka Sangaramoorthy, Ben Hickler, Scott Stonington, Angela Jenks, Adrienne Pine, Katya Wesolowski, Jelani Mahiri, Johanna Crane sowie an die Schreibgruppe zu Gewalt in den Amerikas am Center for Latin American Studies der UCB, die frühe Entwürfe dieses Projekts gelesen haben. Danke an Daniel Mason für die Teilnahme an dieser Gruppe und die schriftstellerischen Einsichten. Schließlich danke ich der University of California Press; besonders den drei Gutachter·innen (zwei anonym und eine Person aus der Fachredaktionsleitung) für die kritischen theoretischen Rückmeldungen zum Text sowie an Naomi Schneider für die wertvollen redaktionellen Vorschläge zur Verbesserung des Erzählflusses.
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Ich bin den Triqui von San Miguel auf sehr vielen Ebenen zu Dank verpflichtet. Trotz meiner Fehler und nicht perfekten Wiedergabe hoffe ich, dass ihre Geschichten und Erfahrungen auf diesen Seiten vermittelt werden. Sie nehmen hoffentlich die Stereotype auseinander, die gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen normalisieren und das dadurch bedingte Leid naturalisieren. Seth M. Holmes Berkeley, Kalifornien, Sommer 2012
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
Die Straße aus San Miguel1 Es ist Anfang April und unsere Gruppe verlässt das Triqui-Dorf San Miguel in den Bergen von Oaxaca, Mexiko.2 Wir alle tragen langärmlige Kleidung und einen kleinen Rucksack in dunklen Farbtönen. Der Rucksack enthält eine Garnitur Wechselkleidung, eine Plastiktüte mit Kojotenfell und Kiefernharz – ein Schutz, den ein·e Heiler·in angefertigt hat und der suerte [Glück] genannt wird – sowie viele Totopos [geräucherte, hausgemachte Tortillas] und getrocknete Bohnen als Proviant. Macario hatte mir gesagt, ich solle diese Dinge mitbringen. Wir haben jeweils ein- bis zweitausend Dollar dabei, um die Busfahrt bis zur Grenze, Essen an der Grenze, Fahrten auf beiden Seiten der Grenze und die »Kojoten« zu bezahlen, die uns über die Grenze bringen. Unsere Reise beginnt mit einer zweistündigen Fahrt in einem VW-Bus von San Miguel zur mestizischen3 Stadt Tlaxiaco. Nachdem wir unsere Busfahrkarten gekauft haben, gehen wir auf den Markt und kaufen Lebensmittel, die wir im Bus miteinander 1
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Die Feldnotizen (in diesem Kapitel kursiv gesetzt) wurden für den Lesefluss gestrafft und geglättet. Die authentische Erzählweise meines Schreibens und Aufzeichnens unmittelbar nach den Ereignissen wurde aber beibehalten. Die Triqui sind eine indigene, mexikanische Bevölkerungsgruppe aus den Bergen von Oaxaca, Mexiko, aus einer Gegend, die üblicherweise als La Mixteca bezeichnet wird. Als Mestiz@s (wörtlich übersetzt »vermischt«) werden Mexikaner·innen bezeichnet, die sowohl indigene als auch spanische Vorfahren haben – im Alltagssprachgebrauch werden sie als die »normalen Mexikaner·innen« oder eben als die »Mexikaner·innen« verstanden. Anmerkung zur Übersetzung: Rassifizierung findet an verschiedenen Orten nach unterschiedlichen Kategorien statt, die historisch bedingt und an jeweils angewandten kolonial-rassistischen, gesellschaftlichen Spaltungen und Hierarchien orientiert sind. Mexikos nationale Identität bezieht sich auf die Mestizaje, also die »Mischung« verschiedener rassifizierter Gruppen, und damit auch auf die koloniale Gewalt gegen die indigene Bevölkerung. Eine mestizische Stadt bedeutet in Mexiko, dass dort
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teilen können. Joaquin entscheidet sich für Mangos, Macario nimmt Orangen und Erdnüsse, ich kleine, süße Bananen. Macario kauft eine Steinschleuder, um in der Wüste Klapperschlangen zu vertreiben. Er fragt, ob ich auch eine an mir tragen möchte, aber ich habe keine Erfahrung mit Steinschleudern. Als wir zum Bus zurückkehren, erwarten uns zwei Nonnen aus San Miguel, um uns alles Gute zu wünschen als wir einsteigen. Die jüngere Nonne erklärt mir, dass sie jedes Wochenende dorthin kommen, um für die Menschen zu beten, die über die Grenze gehen. Die Busfahrt ist schon an sich anstrengend. Der Bus ist voller Menschen, vornehmlich Männer. Die meisten wollen zur Grenze, nur etwa sechs Personen fahren nach Baja Californiazur Tomatenernte. Wir fahren insgesamt 49 Stunden; von 15 Uhr am Samstag bis zu unserer Ankunft in Altar um 16 Uhr am Montag. Zwischen Oaxaca und der Grenze passieren wir fünf Checkpoints der Armee. An jedem stehen Schilder auf Spanisch: »Ständige Kampagne gegen den Drogenhandel«. Vor jedem Checkpoint fordert der Busfahrer oder sein Assistent die Passagiere auf, anzugeben, dass sie zur Arbeit nach Baja California fahren, damit der Halt nicht wegen Fragen zum Grenzübertritt in die USA zu lange dauert. Mir sagt der Fahrer jedes Mal, ich solle behaupten, dass ich bloß zum nächsten touristischen Ort fahre – nach Mazatlán, Hermosillo, Guadalajara, je nach dem, wo wir gerade sind. Bevor wir einen Checkpoint erreichen, wird es still im Bus und die Menschen scheinen nervös zu sein – aufgrund der Möglichkeit, dass sie befragt oder in den Süden zurückgeschickt werden. Jedes Mal steigen zwei oder drei Soldaten in grünen Militäruniformen in den Bus ein und fordern ein paar scheinbar willkürlich ausgesuchte Personen auf, sich auszuweisen. Sie durchsuchen auch ein paar Taschen, während andere Soldaten, mit Gewehren auf dem Rücken, durch die Fenster in den Bus schauen. Interessanterweise fahren auch drei Armeesoldaten mit uns im Bus. Sie sind auf dem Weg zu ihrem Stützpunkt im Norden Mexikos. Wie alle anderen auch spielen sie die Geschichte mit. Der älteste der Soldaten, der neben mir sitzt, ist überzeugt, dass ich ein »Kojote« sei, der seine Freunde zu einem Auftrag in die USA bringe. Er erklärt mir, dass diese Militärkontrollen von der US Drug Enforcement Agency finanziert werden, um den Drogenschmuggel über die Grenze und undokumentierte Einwanderung in die USA zu unterbinden. Er sagt, ich solle den Assistent des Fahrers kostenlos mit nach »El Norte« nehmen, weil er so nett zu allen im Bus sei. Der Assistent, der das Geld für die Fahrt einsammelt, die Zeitplanung bei den Essenspausen vorgibt und dafür sorgt, dass nach dem Essen alle rechtzeitig wieder im Bus sind, lächelt bloß als Reaktion. Ich
die Mehrheitsgesellschaft lebt, während die indigenen Ortschaften abgelegener und ärmer sind.
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
antworte, dass ich kein »Kojote« bin. Der Soldat lacht und fragt auf Spanisch: »Warum nimmst du diese Jungs denn dann mit?«
Feldforschung in Bewegung Für durchgängige anderthalb Jahre und später für einige kürzere Feldaufenthalte habe ich die klassische anthropologische Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung genutzt, um die komplizierten Fragen der Einwanderung, der hierarchischen Gesellschaft und Gesundheitsversorgung zu verstehen. Diese Methode beinhaltet das langfristige Eintauchen in die alltäglichen Leben und Praktiken von Menschen – wobei oft auch gezielte Gespräche sowie Interviews geführt und aufgezeichnet werden. Aufgrund meines Interesses an den Interaktionen und Wahrnehmungen verschiedener Bevölkerungsgruppen habe ich auch Medienberichte über Migration gesammelt und Krankenblätter migrantischer Patient·innen gelesen. Dieses Buch beruht auf einer Feldforschung, die an vielen Orten und in Bewegung ist – die »den Menschen folgt«, wie sie George Marcus skizziert hat. Diese ethnografische Arbeitsweise nimmt die Verflechtungen der gegenwärtigen Welt ernst.4 Anfang der 2000er Jahre suchte ich aktiv nach einem interessanten und wichtigen ethnografischen Projekt. Ich entschied mich für diesen Kontext angesichts der gesellschaftlich, politisch und gesundheitlich bedeutenden Fragen rund um die Migration zwischen Mexiko und den USA. Mein Bekannter James, – der Leiter eines gemeinnützigen Vereins ist und mit Wanderarbeiter·innen im Skagit Valley in Washington State arbeitet – regte mich dazu an, mich mit den Triqui aus San Miguel in Oaxaca, zu beschäftigen. Er erklärte, dass diese Gruppe besonders interessant und wichtig sei, da sie erst vor jüngerer Zeit damit begonnen habe, in die USA zu migrieren. Zudem habe sie den Ruf, gewalttätig zu sein, und lebe und arbeite in Washington State und Kalifornien in ungesunden Bedingungen. Im Frühling 2003 beschloss ich, San Miguel El Grande in Oaxaca zu besuchen – den ländlichen Heimatort vieler mexikanischer Triqui, die in Washington und Kalifornien arbeiteten. San Miguel liegt 2500 Meter über dem Meeresspiegel und hat ungefähr 3000 Einwohner·innen. Den Großteil des Jahres hält sich die Hälfte der Einwohner·innen zum Arbeiten in den USA auf. Bei
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Vgl. Marcus 1998.
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meiner Ankunft in Tlaxiaco, der nächsten Kreisstadt mit vornehmlich »mestizischer« Bevölkerung, rieten mir mehrere Bewohner·innen davon ab, nach San Miguel zu fahren. Langjährige, protestantische Missionarinnen, Kellner und Fahrer·innen der Minibusse zwischen den Ortschaften erzählten mir ausdrückliche und detaillierte Geschichten von Leuten, die aus San Miguel verbannt wurden, auf die geschossen oder deren Autos gestohlen worden waren. Nachdem ich aus dem Minibus ausgestiegen und die mehrere Kilometer lange, unbefestigte Straße nach San Miguel gelaufen war, erreichte ich la presidencia [das Rathaus]. Ich stellte mich den vier Männern dort als Freund von James vor, des Sozialarbeiters und Seelsorgers in Washington State. Ich wurde mit kalter Stille begrüßt. Dann sprachen die Beamten in schnellem Triqui miteinander, dem ich nicht folgen konnte, bis einer mich fragte: »¿Cuál Jaime?« [Welcher James?] Als sie schließlich überzeugt zu sein schienen, dass wir denselben James kannten, lud mich ein Mann mit weißem Plastik-Sombrero zu sich nach Hause zum Essen ein. Wir gingen schweigend den staubigen Hügel hinauf und ich fragte mich, worauf ich mich hier eingelassen hatte. Ich versuchte es mit verschiedenen Fragen wie: »Wie lange fahren Leute aus San Miguel schon in die USA?«, »Haben Sife von einer sozialen Bewegung namens MULT gehört?«5 , »Wann sind Sie das erste Mal in die USA gefahren?« Staubiger Wind und Schweigen waren die Antwort. Die gesamte Mahlzeit verlief auf diese Weise, schweigend. Danach dankte ich dem Mann und seiner Frau für das Essen und kehrte zur Hauptstraße außerhalb des Ortes zurück, wo ich den nächsten vorbeifahrenden Minibus nahm. Nachdem ich in die USA zurückgekehrt und diese Erfahrung verarbeitet hatte, erinnerte ich mich an Eric Wolfs Artikel über »geschlossene, unternehmerische Kommunen [closed corporate communities]« in Mesoamerika.6 Wolf zufolge hatten sich lateinamerikanische indigene Gruppen in Sprache, Kleidung und Vertrauensgemeinschaften voneinander getrennt. Diese Gemeinschaften seien misstrauisch gegenüber allen Außenstehenden geworden. Ich entschied, dass es nicht leicht werden würde, vielleicht unmöglich und – wie einige Leute nahegelegt hatten – sogar gefährlich, meine Feldforschung in San Miguel zu beginnen.
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MULT [Movimiento de Unificación y Liberación Triqui] ist eine politische Bewegung von Triqui im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Vgl. Wolf 1957.
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
Abb. 1: Karte der Wanderfeldforschung, die 2003 im Nordwesten von Washington State begann. Ich durchquerte Zentralkalifornien, zog bis nach Oaxaca in Mexiko und kehrte 2004 wieder zurück.
Mithilfe von James und einer Kindheitsfreundin, die jetzt im Skagit Valley lebte, begann ich meine Feldforschung also im Nordwesten von Washington State. Meine Nachbarin aus der Kindheit war dort Pfarrerin einer Kirche geworden, die auch vom Vorsitzenden eines der größten Landwirtschaftsbetriebe der Region besucht wurde. Sie half mir dabei, dessen Erlaubnis zu erhalten, auf seiner Beerenfarm leben und arbeiten zu können. James und sein Kollegium stellten mich hier mehreren Triqui, mixtekischen und »mestizischen« Familien vor, die aus Mexiko hergekommen waren. Mit diesem dürftigen Entree zog ich im Frühsommer 2003 in meine Einraumhütte im größten Arbeitscamp der Farm. Ich lebte dort über den Sommer und Herbst und überstand die Lebensbedingungen, die von einem Freund als »nahezu elendig« beschrieben wurden. Ich hockte den ganzen Tag nieder, um mit den anderen Bewohner·innen Beeren zu pflücken, lernte langsam die Wanderarbeiter·innen und andere Farmangestellte kennen, beobachtete und interview-
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te medizinisches Personal in den Kliniken für Migrant·innen sowie andere Anwohner·innen der Gegend. Im November begleitete ich einen Familienverbund aus 23 Triqui auf ihrem Weg von Washington State ins Central Valley von Kalifornien. Wir fuhren langsam als Karawane durch die Dunkelheit, aßen selbstgemachte Tacos und übernachteten auf Raststätten. Wir verbrachten eine Woche ohne Unterkunft in Madera, Kalifornien, schliefen in unseren Autos und wuschen uns in den Parks der Stadt. Jeden Tag fuhren wir das Straßennetz der Stadt ab und suchten nach einer Unterkunft bis wir eine Dreizimmerwohnung mit Badezimmer im Elendsviertel fanden. In jenem Winter teilten sich 19 von uns diese Wohnung, suchten nach Arbeit, besuchten die lokale Klinik für Migrant·innen und das Gesundheitsamt und fanden gelegentlich Arbeit im Schnitt von Weinreben. Den Frühling 2004 verbrachte ich dann in San Miguel El Grande, in Oaxaca, Mexiko. Ich lebte in einem teils errichteten Haus mit der erweiterten Familie von Samuel: seinem Vater, der sein genaues Alter nicht wusste, sich aber für viejo [alt] hielt; mit Samuels 28-jähriger Schwester; sowie seinen Nichten und Neffen, die als zu jung galten, um mit ihren Eltern die Grenze zu überqueren. Gebaut war das Haus aus rohen Betonplatten, die Stück für Stück errichtet wurden, wenn Samuel Geld aus Kalifornien schickte, wo er meist lebte und arbeitete. Zusammen mit Samuels Familie nutzte ich die von Schlangen bewohnte Latrine und besuchte das staatliche Gesundheitszentrum, wenn ich krank war. Ich holte Wasser vom Brunnen, erntete und pflanzte Mais und Bohnen und brachte die Rinder und Schafe auf die Weide. In dieser Zeit erfuhr ich aus der Nähe, was diesen Ort als »geschlossene, unternehmerische Kommune« ausmachte. Diese Triqui-Ortschaft erwies sich mir gegenüber von Anfang an als sehr misstrauisch und unfreundlich. Ich wurde mehrfach von Menschen aus dem Ort selbst vor der Gewalt gewarnt und mir wurde vorgeworfen, ein Spion der US-amerikanischen Polizei zu sein. Ein paar Mal wurde mir gedroht, mich zu entführen oder zu inhaftieren, weil »gabachos [weiße US-Amerikaner] hier nichts zu suchen« hätten. Im April 2004 begleitete ich eine Gruppe junger Männer aus San Miguel, die sich auf die Überquerung der Grenze [la línea] vorbereitete. Wir wanderten durch die Wüste nach Arizona und wurden vom Grenzschutz ins Grenzgefängnis gesteckt. Die Männer aus San Miguel wurden nach Mexiko abgeschoben, ich wurde schließlich mit einer Geldstrafe für meine unerlaubte Einreise entlassen. Den Rest des Monats führte ich Interviews mit Grenzaktivist·innen, Grenzbeamt·innen, Grenzanwohner·innen und Mitgliedern von Bürger-
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wehren in den US-amerikanischen Grenzgebieten. Im Mai traf ich meine Triqui-Freunde schließlich in Madera, Kalifornien, wieder, nachdem sie alle, bis auf einen, wieder erfolgreich die Grenze überquert hatten. Den restlichen Mai lebte ich mit Samuel und seiner erweiterten Familie in einer anderen Slum-Wohnung in Zentralkalifornien, bevor wir dann gemeinsam wieder nach Washington State migrierten. Ich lebte den Sommer über in derselben Hütte im selben Arbeitslager wie im Vorjahr. In den nachfolgenden Jahren, in denen ich für mein Medizinstudium nach Hause zurückkehrte und an diesem Buch arbeitete, stattete ich meinen Triqui-Gefährt·innen in Washington, Kalifornien und Oaxaca mehrere kurze Besuche ab und hielt auch telefonisch den Kontakt.
Abb. 2: Der Autor und Macario mit ihren Triqui-Gefährten in der Grenzwüste.
Foto mit Genehmigung von Seth M. Holmes.
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Zur Grenze reisen Dreimal am Tag hält unser Bus an. Zweimal tagsüber für Essenspausen, jeweils für 30 Minuten bei einem Restaurant an der Straße, das ich sonst nie besuchen würde. Die Restaurants sind dreckig, überall sind Fliegen und die wenigen Mitarbeiter·innen versuchen hektisch, uns alle mit Essen zu versorgen. Mir ist schon übel, bevor ich das Essen zu mir nehme, weil ich die Gerüche und den unhygienischen Anblick nicht ertrage. Es gibt zwei oder drei Menüs zur Auswahl, die alle Fleisch, Reis und Limonade enthalten. Ich esse immer gemeinsam mit vier meiner Triqui-Gefährten aus San Miguel, einschließlich Macario und Joaquin. Wir wechseln uns ab, holen die Mahlzeiten für alle und essen zusammen – meist im Stehen, weil es nicht genug Sitzplätze gibt. Der Fahrer und sein Assistent bekommen die Mahlzeiten umsonst – dafür, dass sie uns alle in diese Restaurants bringen. Die Gespräche während der Mahlzeiten drehen sich meistens um bereits erlebte Gewalterfahrungen und Leid an der Grenze. Alle wirken gereizt und nervös angesichts dessen, was womöglich auf sie zukommt. Die Leute sprechen darüber, ob wir wohl vom Grenzschutz erwischt und ob wir beim Versuch des Grenzübertritts sterben werden. Einmal am Tag halten wir an, um zu tanken, während wir alle so schnell wie möglich auf die Toilette gehen. Diese Toiletten haben meistens zwei Kabinen für einen Bus mit mehr als 30 Männern. Während ich auf der Toilette sitze, sagen Wartende, die meine Schuhe unter der Tür erkennen, »Beeil dich, gabacho!« oder »Mach hin!«. Sie sagen das auch zu allen anderen, deren Schuhe sie erkennen. Einige der Kabinen haben keine Türen, so dass die Schlange der Wartenden der Person auf der Toilette direkt gegenübersteht. Der Bus fährt die ganze Nacht durch und wir versuchen alle, so viel wie möglich zu schlafen, da wir wissen, dass wir all unsere Energie für die baldige Wanderung durch die Wüste brauchen. Der Bus könnte Jahrzehnte zuvor dem Greyhound-Unternehmen, das Langstrecken in den USA befährt, gehört haben. Die Sitze lassen sich nur rund fünf Zentimeter zurücklehnen. Es ist beengend: der Bus ist voller Menschen und kleiner Rucksäcke. Auch Angst und Sorge füllen den Raum.
Die Grenze erleiden Im ersten Jahr meiner Feldforschung sind allein im Grenzgebiet um Tucson mehr als 500 Menschen gestorben. Die meisten starben an Hitzeschlägen und Dehydrierung, einige durch direkte Gewalteinwirkung. Den Migrant·innen begegnen in den Grenzgebieten viele tödliche Gefahren. Es gibt mexikanische und US-amerikanische Angreifer und Entführer, die auf ihr Geld aus
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sind. Hitze, Sonne, Schlangen und Kakteen greifen ihre Körper an; bewaffnete US-amerikanische Bürgerwehren ihre Freiheit und Grenzbeamt·innen ihre Akten. Meine Triqui-Gefährt·innen erklären ihr alltägliches Leben allgemein mit dem Begriff des sufrimiento [des Leidens]. Doch ein Ort dieses sufrimiento, der am häufigsten von Triqui-Migrant·innen beschrieben wird, ist die Grenze zwischen Mexiko und den USA.7 In meiner ganzen Feldforschung haben mir meine migrierenden Gefährt·innen immer wieder von ihren grauenhaften Erfahrungen erzählt. Eine meiner Freund·innen wurde mit ihrem vierjährigen Sohn entführt, womit Lösegeld erpresst werden sollte. Die beiden entkamen mit einer anderen Geisel durch ein Fenster aus dem Haus in Phoenix, Arizona, wo sie für mehrere Tage gefangen gehalten wurden. Sie fanden eine Telefonzelle und riefen Verwandte in Kalifornien an, die sofort hinfuhren und sie abholten. Ein junger Mann beschrieb Verbrennungen auf seiner Haut und in seiner Lunge, die er erlitt, nachdem sein »Kojote« ihn in einem Zug in einen Chemiebehälter gestoßen hatte. Ein anderer Mann erklärte, dass er von einem Grenzbeamten vergewaltigt und dafür freigelassen wurde. All meine Gefährt·innen können viele Geschichten des Leidens, der Angst, Gefahr und Gewalt an der Grenze erzählen. Ich erkannte schon früh in meiner Feldforschung, dass eine Ethnografie über dieses Leid und die Migration unvollständig wäre, wenn ich einen solch wichtigen Ort des Leidens von lateinamerikanischen Migrant·innen nicht selbst erleben würde. Ich hatte einige eindrückliche Beschreibungen von Grenzüberquerungen gelesen.8 Doch seit der zunehmenden Militarisierung der Grenze nach 9/11 gab es sehr wenige – in den USA veröffentlichte Erzählungen aus erster Hand – und die meisten davon waren ziemlich eingeschränkt. Zum Beispiel enthielt der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Artikel Enrique’s Journey in der Los Angeles Times vom 29. September 2002 beeindruckende Fotografien und Erzählungen von einer Zugfahrt durch Mexiko bis an die Grenze, doch die Fotografin und ihr Team haben nicht wirklich mit den mexikanischen und zentralamerikanischen Migrant·innen die Grenze überquert.
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Für eine weiterführende Besprechung vom Tod an der Grenze: vgl. Cornelius 2001; Green 2008; Massey et al. 2002; Migration News 2003a. Eine der eindringlichsten Beschreibungen bietet Ted Conovers (1987): Coyote.
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Ich fragte also meine Triqui-Freund·innen, was sie von der Möglichkeit hielten, die Grenze wie sie zu überqueren. Sie warnten mich vor Raubüberfällen, bewaffneten Bürgerwehren, Klapperschlangen und der Hitze. Zugleich erinnerten sie mich daran, dass die Grenzüberquerung eine grundlegende Erfahrung des sufrimiento sei, die ich verstehen sollte und begannen, mich mit Menschen bekannt zu machen, die mich vielleicht über die Grenze mitnehmen könnten. Parallel kommunizierte ich mit Anwält·innen in den USA über diese Idee. Sie warnten mich vor dem Tod durch Dehydrierung und Hitzeschlag, durch Entführung und Raub und durch den Biss einer Klapperschlange – sowie vor der Möglichkeit, für einen »Kojoten« gehalten und für diese schwere Straftat angeklagt zu werden. Eine der auf Einwanderung und diese Grenze spezialisierten Anwält·innen in Arizona sagte mir eindringlich, ich solle die Grenze nicht auf diesem Wege überqueren, gab mir aber ihre Handynummer für den Fall, dass ich mich doch dazu entschied, es zu versuchen. Schließlich sprach ich mit meiner Familie und meinen Freund·innen. Meine Mutter teilte meinen Wunsch, die Ungerechtigkeit zu verstehen und mich dagegen einzusetzen. Gleichzeitig bekam sie Angst um mich. Ich musste ihr versprechen, dass ich sie unmittelbar nach der Überquerung anrufen würde, um sie wissen zu lassen, dass ich noch lebte und in Sicherheit war. Nachdem ich die Gefahren abgewogen hatte, schaute ich mich nach einer Triqui-Gruppe um, die ich über die Grenze begleiten könnte.
Frühling in San Miguel Im März 2004 wurde ich von einer Gruppe aus Triqui-Männern eingeladen, mit ihnen die Grenze in die USA zu überqueren. Wir planten gemeinsam in San Miguel aufzubrechen, den Bus durch Mexiko Richtung Norden zu nehmen und dann durch die Wüste über die Grenze nach Arizona zu laufen. Die Gruppe bestand aus neun jungen Männern aus San Miguel und einem aus einem benachbarten Dorf. Zwei der Männer waren noch keine 20 Jahre alt und hofften, erstmals in die USA zu kommen. Einer dieser jungen Männer war der Neffe des »Kojoten«, den wir an der Grenze treffen wollten, um das letzte Wegstück der Reise zu unternehmen. Der Rest der Männer war Mitte bis Ende 20 und wollte nach Kalifornien zurückkehren. Diese Männer hatten ihre Familien in verschiedenen Landwirtschaftsgebieten in Zentralkalifornien zurückgelassen, um nach Hause, nach San Miguel zu fahren und ihren
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Verwandten Geld zu geben, bei der Maisernte zu helfen und sich an den Festlichkeiten für den Schutzheiligen des Dorfes im November zu beteiligen. Einer dieser Männer, Macario, war im Sommer zuvor mein Nachbar in den Hütten im Arbeitscamp in Washington gewesen. Er war 29 Jahre alt, damals dreifacher Vater und hatte den Ruf, einer der schnellsten Erdbeerpflücker·innen zu sein. Ich erinnere mich daran, wie er mich in meinen ersten Monaten im Camp zur Tauffeier seiner kleinen Tochter an seiner Hütte einlud. Macarios beiden jüngsten, in den USA geborenen, Kinder waren nun bei seiner Frau in Madera, Kalifornien. Seine beiden älteren Kinder lebten mit seinen Eltern in San Miguel, um dort die Grundschule zu besuchen bis sie alt genug waren, um selbst die Grenze zu überqueren. In den paar Wochen vor unserem Aufbruch stellte Macario mich einigen anderen aus der Gruppe vor. Joaquin war ein enger Freund von Macario. Er wollte zu seiner Frau und seinem Baby in eine Beerenanbauregion nahe Watsonville an der zentralkalifornischen Küste zurückkehren. Ich hatte bereits erfolglos versucht, mich anderen Gruppen aus San Miguel anzuschließen, die durch die Wüste in die USA wollten. Ein »Kojote« hatte mir eine morgendliche Uhrzeit an einem Wochenende genannt, zu der ich ihn treffen und seine Gruppe begleiten sollte. Doch als ich dort ankam, war sein Haus leer und abgeschlossen. Ich erfuhr später von Freund·innen, dass dieser Mann erwogen hatte, dass ich ein Spion der US-Grenzbehörde sein könnte und sich daher dazu entschieden hatte, ohne mich aufzubrechen. Jeden Samstag im März und April verlässt ein Bus voller Menschen, die die Grenze zu überqueren hoffen, die Kleinstadt Tlaxiaco. In jedem dieser Busse sitzen eine oder zwei Gruppen aus fünf bis zehn Männern aus San Miguel, die über die Grenze wollen. Als ich mit meiner Gruppe San Miguel verließ, um die Reise nach Norden anzutreten, waren beinahe alle Triqui, die ich aus Washington und Kalifornien kannte, bereits in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Die meisten Leute, einschließlich aller Frauen und Kinder, versuchen ihre Überquerung, bevor die Wüste im April und Mai zu heiß wird. Unsere Reise war von Sorge und Angst durchdrungen und fand, abgesehen vom späten Aufbruch, unter ziemlich idealen Bedingungen statt: Wir waren ausschließlich gesunde, junge und schnelle Wanderer. Viele Gruppen mit älteren oder jüngeren Migrant·innen aus San Miguel brauchen im Durchschnitt drei bis fünf Tage, um die Wüste zu durchqueren. Zudem haben meine Triqui-Freunde das Glück, mit »Kojoten« aus ihren eigenen Heimatdörfern die Grenze zu überqueren, also mit Menschen, die sie kennen – manchmal sind es entfernte Verwandte. Das stärkt im Allgemeinen das Vertrauen und
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die Sicherheit. Alle, die – zum Beispiel aus Süd- oder Zentralamerika – an der Grenze ankommen und in einer der Grenzstädte nach einem Wüstenführersuchen, wissen nicht, ob sie tatsächlich an einen »Kojoten« oder aber an einen Betrüger geraten.
Die mexikanische Seite der Grenze In Altar, dem kleinen Wüstenort in Nordmexiko, wo unsere Busfahrt endet, gibt es ein paar 100 Einwohner·innen und wahrscheinlich 2000 Menschen, die sich auf die Grenzüberquerung vorbereiten. Als der Bus sich Altar nähert, fordert der Busfahrer uns auf, unsere Rucksäcke einzusammeln und uns zum Aussteigen bereit zu machen. Außerhalb des Ortes lässt er uns alle an einer verlassenen Tankstelleschnell aus dem Bus springen und zu Fuß in den Ort laufen. Denn: »Altar está caliente.« [Altar ist heiß.]. Macario sagt vor sich hin, ohne jemand Bestimmtes dabei anzusprechen: »De por si, Altar es caliente.« [So ist es, Altar ist heiß.]. Alle, die in Hörweite sitzen, kichern nervös. Caliente bedeutet in diesem Kontext sowohl »heiß« als auch »gefährlich«. Leise kichernd – vielleicht um unsere Angst zu überdecken – treten wir in die stechende Sonne hinaus, verfluchen den Busfahrer dafür, uns so weit außerhalb abgesetzt zu haben und folgen dem jungen Mann in unserer Gruppe, der der Neffe des »Kojoten« ist, den wir im Ort treffen wollen. Meine Haut pellt sich bereits vom trockenen heißen Wind im Bus und von der Sonne, die durch das Fenster schien. Nun beginne ich stark zu schwitzen. Dieser Ort macht mir Angst. Es ist unmöglich zu wissen, welche Person in dunkler Kleidung uns – als leichtes Ziel – Geld abnehmen will und welche Person selbst die Grenze zu überqueren hofft. Macario sagt mir, ich solle gut auf mein Geld aufpassen. Er sagt: »Die Leute wissen, wie sie an dein Geld kommen, ohne dass du es überhaupt merkst.« Ich schiebe über mein Geld in meiner Tasche eine leere Dose und fühle mich ein bisschen sicherer. Hier gibt es Leute, vornehmlich Männer aus ganz Mexiko und Lateinamerika; einige scheinen chilangos [Leute aus Mexiko-Stadt] zu sein, die meisten sehen aber aus wie campesinos [Leute aus dem ländlichen Mexiko]. Die einzigen Läden im Ort sind Geldwechselstuben, eine Western Union, ein paar Restaurants, Lebensmittelgeschäfte mit Regalen voller Wasserflaschen und Gatorade [isotonisches Getränk] sowie Marktstände voller dunkler Kleidung und kleiner Rucksäcke. Ich versuche mich zu entscheiden, wann ich am besten die drei anthropologischen Fachbücher, die ich in meinem Rucksack trage, per Post an meine Adresse in den USA schicken soll, so dass ich sie nicht mehr mitschleppen muss.
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
In der katholischen Kirche im Ortszentrum hängen über den Kirchenbänken handgemalte Poster an den Wänden, auf denen die vielen Gefahren der Grenzüberquerung abgebildet sind: Klapperschlangen, Skorpione, Wüsteninsekten, verschiedene Kaktusarten, Dehydrierung, Hitze und Angreifer. Auf jedem Poster steht in fetten roten Buchstaben auf Spanisch die Frage: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?« Die Kirche hat einen kleinen Nebenraum, wo die Menschen Kerzen anzünden und für die sichere Reise beten. Macario und ich planen, das zu tun, haben aber am Ende doch nicht mehr genug Zeit. Alles in diesem Ort ist so deutlich und offensichtlich an Menschen ausgerichtet, die die Grenze überqueren wollen. Ich frage mich selbst, warum der ganze Betrieb hier nicht längst vom US-Grenzschutz geschlossen wurde, wenn dessen primäres Ziel die Beendigung der undokumentierten Einreise ist.
Auslagerung und Ausbeutung Wie vom Soziologen Michael Burawoy beschrieben9 ,zeichnen sich Systeme der Wanderarbeit häufig dadurch aus, dass sie die Reproduktion und die Produktion einer Arbeitskraft räumlich und zeitlich trennen. Die migrantische Arbeitskraft kann im einen Kontext trotz Niedriglöhnen überleben und zur wirtschaftlichen Produktion beitragen, weil Familie, Gesellschaft und Staat im anderen Kontext für Bildung, Gesundheitsversorgung und andere Leistungen, die für die Reproduktion notwendig sind, sorgen. Auf diese Weise lagert der empfangende Staat die Kosten aus, die zur Erneuerung der Arbeitskraft anfallen, und profitiert dadurch weitreichend vom Phänomen der Arbeitsmigration. Im Falle meiner Triqui-Gefährt·innen greift diese Analyse gut, da vornehmlich gesunde und junge Menschen zum Arbeiten in die USA gehen, nachdem sie in Oaxaca, Mexiko, groß geworden und ausgebildet worden sind. Burawoys Analyse entsprechend kehren viele von ihnen an ihren Heimatort zurück, wenn sie aufgrund von Alter, Krankheit oder einer Verletzung nicht mehr arbeiten können. Alles was zur Reproduktion und Rekonvaleszenz nötig ist, erhalten sie also in Mexiko. Die USA bieten hingegen nur das Nötigste, während die Migrant·innen dort arbeiten. Die Trennung dieser Prozesse ist kein natürliches oder gewähltes Phänomen. Vielmehr muss sie durch das Zusammenkommen widersprüchlicher politischer und wirtschaftlicher Kräfte erzwungen werden. In Systemen der Arbeitsmigration wirken wirtschaftliche Kräfte, die die billige Arbeitskraft 9
Vgl. Burawoy 1976.
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von Migrant·innen begrüßen und sogar einfordern, während politische Kräfte diesen Menschen zugleich die Einreise ins Land verwehren. Solche Systeme erfordern eine Reihe von politischen und rechtlichen Mechanismen, die voraussetzen, dass diese Migrant·innen über keine Bürgerrechte verfügen und ihre Macht im Beschäftigungsverhältnis stark eingeschränkt ist. Die Reproduktion eines Systems der migrantischen Arbeit ist davon abhängig, dass die Migrant·innen weder einzeln noch als Gruppe die Institutionen, die sie den anderen Arbeiter·innen und Unternehmen unterwerfen, beeinflussen können. Immer wieder führen erneuerte rechtliche, politische und symbolische Trennungen zur maximalen Ausbeutung der Arbeitskräfte und zu deren Leid sowie Gefährdung auf beiden Seiten der Grenze. Solche Trennungen sind beispielsweise im Gesetzesvorschlag 187 (aus dem Jahr 1994) in Kalifornien und ähnlichen Initiativen in Arizona und Colorado verankert, die es USamerikanischen Unternehmen verbieten sollten, mehr Lohn auszuzahlen als die Arbeiter·innen für ihr bloßes Überleben bräuchten – auch der Staat dürfte demnach keine Gelder für deren Gesundheitsversorgung, Bildung oder andere Sozialdienste zur Verfügung stellen.
Von der Grenzstadt an die Grenze Der Mann, der unsere Gruppe führt, läuft mit uns mehrere Blocks durch eine Wohnstraße entlang und dann durch eine Tür. Sie führt in eine unmöblierte Einzimmerwohnung. Hier werden wir bleiben bis unser »Kojote« kommt. Der feuchte Betonboden ist an mehreren Stellen mit Streifen eines alten und schmuddeligen Teppichs bedeckt – wahrscheinlich zum Schlafen. Das Badezimmer hat kein Wasserzugang und stinkt nach alten Fäkalien und Urin. Die Dusche hinter der Wohnung besteht aus einem Schlauch, der an einer Eisenstange befestigt ist. Nasse Tücher ermöglichen eine minimale Privatsphäre. Der Boden ist matschig. Diese Dusche nutzen mehrere Wohnungen, deren Hintertüren zur selben Parzelle führen. In diesem Hinterhof essen wir auf dem Beton, der voller Flecken und Resten von vergammeltem Essen ist, unser Proviant. Eine dünne, gelbe Katze miaut uns an und hofft auf Almosen. Während wir in der heißen und stinkenden Wohnung sitzen, kommt alle paar Stunden jemand herein, ohne vorher zu klopfen. Erst ist es unser »Kojote«, der vom Arbeiten in den USA angekommen ist und alle in einer Mischung aus Triqui und Spanisch begrüßt. Er erklärt uns, dass wir am nächsten Abend aufbrechen werden. Dann geht er hinaus und besorgt uns Essen. Macario begleitet ihn, um ihm zu erklären, wer ich bin und warum ich dort bin. Ich bin nervös und frage mich, ob dies vielleicht das
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
Ende meiner Reise mit der Gruppe bedeuten könnte. Macario kommt später zurück und sagt mir, er habe ihm erklärt, dass ich ein Student sei, der das Leid der Armen am eigenen Leib erfahren wolle. Der »Kojote« ist damit einverstanden mich mitzunehmen, und sagt, er würde kein Geld von mir nehmen, da ich dies tun will, um mit denen, die leiden, zu cooperar [wörtlich »kooperieren« – aber mit einer greifbareren Bedeutungsebene, den eigenen Teil beizutragen oder den Kostenanteil zu übernehmen]. Später kommt ein mexikanischer Mann mittleren Alters herein. Er teilt uns mit, dass ihm die Wohnung gehöre fragt, zu welchem »Kojoten« wir gehörten und sagt uns, dass wir ihn für unseren Aufenthalt dort bezahlen müssten. Ein Mann bezahlt ihn, der Rest von uns hält sein Geld versteckt und sagt, dass unser »Kojote« ihn bezahlen werde. Als er geht, fragt er noch ob uns heiß sei; einige bejahen das. Er schaltet die ausgehöhlte Klimaanlage ein – die jetzt eher ein Ventilator ist, da man hindurchschauen kann und es kein Schutzgitter mehr vor den kreisenden Flügeln gibt. Ein weiterer Mann kommt ein paar Mal herein und fragt namentlich nach unserem »Kojoten«. Einer von uns fragt, wer er sei und er antwortet: »Euer raitero [Fahrer] für morgen.« Er fragt mich mehrfach, wer ich sei, da meine Anwesenheit ihn nervös zu machen scheint. Er sagt meinen Freunden, dass sie nicht sicher sein könnten, dass ich kein Spion der migra [Einwanderungsbehörde] oder der Polizei bin. Ich denke im Stillen über seine Worte nach. Raitero, das Wort für unseren Minibusfahrer, klingt beunruhigend ähnlich wie ratero, was »Angreifer« oder »Räuber« bedeutet. Die semantische Verwirrung vermengt sich mit meiner zunehmenden Ungewissheit über die Identitäten und Absichten aller, die wir treffen. Mehrere Stunden, nachdem wir schlafen gingen, kommen in den frühen Morgenstunden drei junge Männer herein, schalten die nackte Glühbirne ein, die an der Decke hängt, und reden gefühlt mehrere Stunden lang laut miteinander. Ich verstecke mich unter meiner Decke, um möglichst keine Aufmerksamkeit auf mich, als Weißen, zu ziehen. Am Morgen verkündet einer der drei, dass sie aus Michoacán kommen und am Vortag den Grenzübertritt versucht haben, aber abgeschoben wurden. Einer schläft mitten im Raum auf dem Sitz eines Vans. Sie sind viel lauter als meine Triqui-Freunde, die sie still beobachten. Die Männer aus Michoacán schalten den Fernsehkanal um, den wir geschaut hatten und ich sage etwas. Ihr fehlender Respekt gegenüber meinen Gefährten macht mich sauer. Später sagt mir Macario, dass sie rateros und deshalb so unhöflich sind. Wir haben uns nicht gut ausgeruht. Nach einer 48-stündigen Busfahrt und dieser Nacht voller Unterbrechungen bin ich erschöpft und frage mich, ob diese Wüstenwanderung schon verdammt ist, bevor wir überhaupt zu laufen beginnen. Am nächsten Tag gehen wir durch den Ort. Einige rufen ihre Verwandten an und bitten sie Geld zu überweisen, weil sie nicht genug haben. Wir alle kaufen Gallonen von Wasser und Gatorade. Unser »Kojote« weist uns an, Mayonnaise zu kaufen, in die wir
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unser Geld stecken, so dass es versteckt ist, falls wir unterwegs von rateros angegriffen werden. Offenbar sind wir nicht die einzige Gruppe, die das so macht. Im Lebensmittelgeschäft gibt es ganze Regalreihen mit Mayonnaise-Gläsern in fünf verschiedenen Größen. Immer wenn uns andere aus unserem Bus aus Tlaxiaco begegnen, winken sie mir zu oder grüßen mich. Sie scheinen alle zu denken, dass ich ein »Kojote« bin und mehrere fragen mich, wann ich Leute nach Norden bringe. Macario und seine Freunde sagen, ich sollte die anderen foppen und ihnen anbieten, sie für 2000 Dollar nach Arizona zu fahren. Ich bin aber zu fokussiert und nervös für solche Scherze. Nach den Vorbereitungen versuchen wir Karten zu spielen und warten auf unsere Abfahrt. Am Nachmittag kommt plötzlich ein Mann herein, den ich nicht kenne, und sagt uns, wir sollen durch die Hintertür hinausrennen, um loszufahren. Der Mann, der gesagt hatte, ich könnte ein Spion sein, schaut den Fahrer an, zeigt auf mich und sagt: »Siehst du, was ich meine?« Der Fahrer ist ein großer, hellhäutiger Mexikaner mit Cowboyhut, sauberen Jeans und durchgeknöpftem Hemd. Wir stapeln uns zu zehnt auf die hinterste Bank eines Zwölfsitzers, in dem schon 13 Leute sitzen, so dass wir nun insgesamt 23 erwachsene Passagiere sind. Joaquin findet eine alte Teenie-Zeitschrift hinter dem Sitz, liest daraus laut vor und lacht. Das hebt ein wenig die Stimmung. Wir fahren etwa drei Stunden lang, sehr schnell und ohne Klimaanlage oder Lüftung über Schotterpisten durch die Wüstensonne. Durch den oberen Schlitz der geschlossenen Fenster dringt Staub von der Wüstenstraße herein und landet auf unserer schwitzigen Haut und Kleidung. So nehmen wir von Kopf bis Fuß langsam eine beige Farbe an. Während dieser Zeit passieren wir mindestens zwei Busse, zehn andere Minibusse und eine Handvoll Autos und Pick-ups, die in Richtung Ortschaft zurückkehren. Der Fahrer erzählt uns, dass es heute caliente sei und er Sorge habe, erwischt zu werden. Nach drei Stunden auf der Straße biegt der Fahrer plötzlich von der Straße ab, zwischen die Kakteen und fährt noch schneller durch den weichen Sand. Er hält bei einer kleinen abgelegenen Siedlung aus wenigen Häusern, die aus Ziegelsteinen, Pappe und Blech bestehen und ohne Mörtel zusammengebastelt sind. Draußen auf Betonblöcken und umgedrehten Eimern sitzen mehrere hellhäutige mestizische Männer mit Cowboyhüten und großen Pistolen. Ich fühle mich wie in einem Mad-Max-Film mit Tina Turner und verrückten Kämpfen im Motorradkäfig – ein Vorposten gesetzloser Rebellengangs mit großen Schusswaffen und Behelfsunterkünften. Ein paar der Männer drehen sich um und schauen mich an, als ich aus dem Van aussteige. Ich steche deutlich hervor. Ich bewege mich im Schatten und hoffe, mich vor der Sonne und ihrem Blick zu verstecken. Unser »Kojote« verschwindet für eine halbe Stunde mit dem Fahrer, ohne uns zu erklären, was geschieht. Wir stehen schweigend beisammen, warten, denken nach. Wie-
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
der sorge ich mich bezüglich der Identität und Absichten aller Personen, die wir treffen. Welcher der Männer hier draußen ist vertrauenswürdig? Welcher ist ein bewaffneter ratero, der weiß, dass wir alle viel Bares dabei haben und nur darauf wartet, unser Geld zu stehlen? Könnte diese ganze Situation arrangiert sein? Ohne Erklärung bittet unser »Kojote« uns, uns zu zwei anderen Männern auf der Ladefläche eines alten Pick-ups zu drängen. Der Boden hat mehrere Risse und Löcher, die groß genug sind, dass wir unter uns die Wüste sehen können. So fahren wir über eine Stunde lang im Stehen und blicken dabei abwechselnd nach vorn und auf den Sand unter uns. Ab und zu wirkt es so, als ob ein anderes Auto uns folge. Der Pick-up scheint mehrere unnötige Umwege zu nehmen, nur um dann wieder auf die Straße zurückzukehren. An diesem Punkt gibt es keine andere Option mehr als weiterzufahren. Ein paar Minuten nachdem wir die beiden Männer bei einem noch kleineren Posten abgesetzt haben, hält ein camouflage-farbener, militärischer Geländewagen der mexikanischen Grupo Beta [Organisation der mexikanischen Armee, deren Aufgabe es ist, Grenzgewalt gegen Migrant·innen zu beenden] und werden befragt – besonders ich. Glücklicherweise kommt einer der Soldaten der Grupo Beta aus Oaxaca und weiß, dass ich all die geografischen Fragen über meine Aufenthalte in Oaxaca richtig beantwortet habe. Auch meine Freunde aus San Miguel bestätigen meine Geschichte. Der Soldat schaut sich meinen Pass an und scheint zufrieden: »Meinen Landsmännern: Viel Glück! Meinem Freund aus dem Schwesterland: Gott segne dich!«
Individualismus in der Migrationsforschung Die traditionelle Migrationsforschung fokussiert auf die Motivationen, die eine Einzelperson zur Migration bewegen. Diese Motivationen werden häufig als »Push«- und »Pull«-Faktoren eingeordnet. »Push«-Faktoren werden hierbei in der »Entsendegemeinschaft« verortet und umfassen Aspekte wie Armut oder Rassismus im Herkunftsort der migrierenden Person. »Pull«-Faktoren werden wiederum in der »Aufnahmegemeinschaft« verortet und umfassen Aspekte wie dortige soziale Netzwerke und wirtschaftliche Möglichkeiten. Viele Expert·innen im Bereich der Öffentlichen Gesundheit, die sogenanntes »Risikoverhalten« untersuchen, würden sagen, dass diese »Push«- und »Pull«- Faktoren in die »Entscheidungsgewichtung« einer Person miteinbezogen werden, wenn diese Person ein Verhalten erwägt, das sie in Gefahr
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bringt.10 Solch eine Sicht geht von einem rational handelnden Individuum aus, das sein Eigeninteresse maximieren will und durch Entscheidungen Kontrolle über sein Schicksal hat. In diesen Analysen ist der Blick auf die zentrale Bedeutung des strukturellen Kontextes sehr reduziert. Auch wird vernachlässigt, inwieweit strukturelle Kräfte individuelle Entscheidungen beschränken, beeinflussen und wie sie lenken, welche Optionen Menschen überhaupt zur Verfügung stehen. Wie ich im Schlusskapitel weiter diskutiere, setzt ein Großteil der traditionellen Migrationsforschung eine Zweiteilung voraus: zwischen freiwilligen Wirtschaftsmigrant·innen einerseits und zwangsweise politischen Geflüchteten andererseits. Die Logik hinter dieser Dichotomie besagt, dass Geflüchteten im Gastland politische und soziale Rechte gewährt werden, weil sie aus politischen Gründen zur Migration gezwungen waren. Migrant·innen hingegen werden diese Rechte nicht gewährt, weil sie sich vermeintlich freiwillig dazu entschieden haben, aus wirtschaftlichen Gründen zu migrieren. Die Schule der Migrationsforschung, die sich auf die oben genannten »Push«und »Pull«-Faktoren beruft, neigt zu der Annahme, dass Arbeitsmigration eine gänzlich freiwillige Entscheidung aus wirtschaftlichen Gründen sei. Doch meine Triqui-Gefährt·innen erleben ihre Arbeitsmigration keineswegs als freiwillig. Vielmehr haben sie mir wiederholt erzählt, dass sie zur Migration gezwungen seien, um ihr Überleben und das ihrer Familien zu sichern. Während unserer Wanderung durch die Grenzwüste, sagte Macario einmal zu mir: »Wir haben keine andere Möglichkeit mehr.«
Überqueren Der Pick-up setzt uns mitten in der Wüste ab. Wir danken dem Fahrer und laufen zu den großen Kakteen, in deren bisschen Schatten wir uns verstecken. Unser »Kojote« schleicht für ein paar Minuten voran. Dann kommt er zurück und sagt uns, dass die Grenzpatrouille sehr aktiv sei und wir hier warten sollten. Wir sitzen in einem Kreis. Ein paar Leute holen ihr Essen heraus und wir teilen uns ihre Totopos und getrockneten Bohnen. Es fühlt sich gut an miteinander Essen zu teilen. Es fühlt sich an wie Familie, Solidarität – fast wie ein Gemeinschaftsritual vor einer gefährlichen Prüfung von biblischem Ausmaß. Zwei aus unserer Gruppe haben Durchfall und bitten mich 10
Vgl. Bandura 1997. Für weitere Kritiken am Konzept von »Push«- und »Pull«-Faktoren der Migration: vgl. Massey et al. 2002; Portes und Bach 1985; Wood 1982.
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
um antidiarrhöische Tabletten, die ich in meiner Tasche habe. Ein anderer hat sich vor einer Woche auf einem Hügel hinter seinem Haus das Fußgelenk verstaucht und bittet um Ibuprofen. Jedes Mal wenn wir den Klang eines Autos hören, wissen wir, dass es Angreifer sein könnten – oder andere Migrant·innen, die die Grenze überqueren wollen. Wir sitzen still und warten angespannt. Macario holt Knoblauchzehen aus seiner Tasche und verreibt eine auf seinen Stiefeln. Er weist mich an, es ihm nachzutun, um Klapperschlangen fernzuhalten. Nach einer Stunde des nervenaufreibenden Wartens setzen wir unsere Rucksäcke auf und folgen dem »Kojoten« im Gänsemarsch tiefer in die Wüste, Richtung Norden. Ich sehe in der Ferne eine weitere Reihe einzelner Personen als die Sonne sich langsam gen Horizont senkt. Tief in meiner Tasche halte ich mein suerte fest in der Hand. Der »Kojote« sagt, wir sollten uns hinhocken und warten. Er geht voraus, zeigt dann mit einem Arm nach unten und wir rennen alle so schnell wir können durch – meist untendrunter – einen mehr als zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun. Wir rennen über eine Sandstraße, durch einen weiteren Stacheldrahtzaun und rennen immer weiter, bis wir völlig aus der Puste sind. Jetzt gehen wir schnell weiter. Es ist etwa 18.30 Uhr und die Sonne ist gerade untergegangen. Wir wiederholen das Ganze mindestens zehn weitere Male – durch, unter und über hohe Holz- und Stacheldrahtzäune. Obwohl ich ein Läufer bin und im Sommer Wandertouren führe, bewegen wir uns schneller als ich mich je zuvor bewegt habe – ohne Pausen zu machen. Mein Mund wird beim Gehen schnell trocken und alle paar Stunden habe ich eine Gallone Wasser geleert. Ich trage fünf Gallonen Wasser und mehrere Flaschen Gatorade und Pedialyte mit mir. Wir gehen und rennen weiter – ab und zu ducken wir uns unter Zäunen oder klettern darüber. Wir ziehen Stachel von Kakteen aus unseren Schienbeinen, die wir in der dunklen Nacht nicht gesehen haben. Wir gehen, ohne zu sprechen, atmen nur laut und denken nach. Ich denke an die Berge zu unserer Rechten und wie schön die Wüste unter anderen Umständen sein könnte. Ich höre einen Hund bellen und denke an die Orte zu unserer Linken und wie gemütlich die dort lebenden Menschen wahrscheinlich gerade schlafen. Macario sagt mir, dass wir jetzt in Arizona sind. Ich sehe keinen Unterschied. Nachdem wir mehrere Stunden weitergelaufen sind, halten wir an einem ausgetrockneten Flussbett an. Als ich mich hinsetze, bin ich dankbar, dass es hier keine versteckten Kaktusstachel gibt. Wieder sitzen wir im Kreis, drei Leute packen Essen aus und wir teilen. Wir reiben wieder Knoblauch auf unsere Schuhe und ein paar von uns bereiten in ihren Händen Steinschleudern vor. Es ist fast Vollmond und die Wüste ist schaurig still.
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Abb. 3: Der Autor und Triqui-Männer in der Grenzwüste.
Foto von Seth M. Holmes.
Nachdem wir für eine weitere Stunde gelaufen und gerannt sind, hören wir einen Helikopter. Ich versuche mich unter einem hohen Kaktus zu verstecken. Joaquin sagt mir, ich dürfe nicht in die Richtung des Helikopters gucken, weil er meine Augen sehen könnte. Ich erinnere mich daran, dass die Triqui bei der Jagd, in den Bergen von Oaxaca, in der Dämmerung Taschenlampen benutzen, um die Augen von Kaninchen zu finden, um sie dann zu erschießen. Ich fühle mich wie ein Kaninchen – verletzlich und gejagt. Macario versteckt sich unter einem Kaktus, wo eine Klapperschlange ihn anklappert, aber er bewegt sich nicht, um nicht entdeckt zu werden. Der Helikopter fliegt davon – in die Ferne, bis wir ihn kaum noch hören. Nach zwei weiteren Stunden Wanderung halten wir wieder an einem trockenen Flussbett. Einer der jüngeren Männer bittet dabei um Hilfe, große Kaktusstachel aus einem seiner Beine zu ziehen. Wir sitzen im Kreis und teilen Essen. Zwei Leute teilen gekochte Grashüpfer vom Markt in Tlaxiaco. Die Geschmacksnoten verbinden uns mit geliebten Menschen in Oaxaca. Nachdem wir viele Meilen auf Blasen gelaufen sind und ich mein gesamtes Ibuprofen mit den anderen geteilt habe, halten wir an und machen an einem großen, trockenen Flussbett unter mehreren Bäumen Pause. Wir schlafen ein – wir nutzen aufgerissene Müllsäcke als Decken. Unser »Kojote« lässt uns allein, um mit seiner Kontaktperson in einem nahegelegenen indigenen Verwaltungsgebiet zu besprechen, ob wir über den zweiten Grenzstützpunkt und bis nach Phoenix gefahren werden könnten. Er kehrt sor-
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genvoll zurück und erzählt uns, dass seine Kontaktperson keine Fahrten mehr mache, weil die Grenzpatrouillen aktiver geworden seien. Wir besprechen, ob wir unser Geld zusammenwerfen, um uns ein Auto zu kaufen und selbst zu fahren oder um jemand dafür zu bezahlen. Zwei der Männer versuchen mich davon zu überzeugen, sie nach Phoenix, an den inneren Grenzstützpunkten vorbei, zu fahren. Ich sage ihnen, dass das eine Straftat sei und ich dafür ins Gefängnis gehen und meine Arbeitserlaubnis verlieren würde. Sie scheinen mit meiner Antwort zufrieden zu sein – sie respektieren die Notwendigkeit, arbeiten zu müssen. Nachdem wir uns dafür entscheiden, eine andere Fahrtmöglichkeit zu suchen, schleicht unser »Kojote« davon, um einen anderen Fahrer zu organisieren. Wir warten einige Stunden lang. Wir ruhen uns schweigend aus, trinken Gatorade und putzen unsere Zähne im Flussbett. Plötzlich kommt unser »Kojote« angerannt und spricht in schnellem Triqui. Zwei Grenzbeamte – einer Schwarz, einer weiß – tauchen hinter ihm auf, rennen durch die Bäume, springen in unser Flussbett und richten ihre Schusswaffen auf uns.
Abb. 4: Triqui-Männer, die in der Grenzwüste unter Müllsäcken schlafen.
Foto von Seth M. Holmes.
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Die Gefahr an der Grenze einordnen In den Pausen am Flussbett suchten mich die Kirchenposter heim: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?« Auf den ersten Blick scheint es für Tausende, die die Grenze überqueren, um in den USA zu arbeiten, die Antwort offensichtlich klar »Ja« zu lauten. Doch wenn wir diese Frage für bare Münze nehmen, verpassen wir die wichtige Gelegenheit, ihr Framing zu hinterfragen. Wie Judith Butler aufzeigt,11 prägen solche Rahmungen unsere Wahrnehmung einer Sache oder Situation. Sie ermöglichen es ihr, sich von ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen und in anderen Zeiten und Räumen Bedeutung zu erlangen. Ähnlich wie Mediendiskurse über den Tod von Migrant·innen in der Grenzregion formuliert die Frage »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«, die Überquerung der Grenze als eine individuelle Entscheidung – als eine Entscheidung, die mit dem Risiko des Todes getroffen wird. In den USA wird diese Rahmung regelmäßig genutzt, um die fehlende Trauer über die Toten und das fehlende Handeln für Gleichheit und Veränderung zu erreichen. Doch die Wirklichkeit des Überlebens für meine Triqui-Gefährt·innen zeigt, dass es gefährlicher wäre, ohne Arbeit, Geld, Essen oder Bildung in San Miguel zu bleiben. In diesem Herkunftskontext ist das Überqueren der Grenze also keine Entscheidung, sich riskant zu verhalten, sondern ein Prozess, der notwendig ist, um zu überleben und um das Leben weniger gefährlich zu machen.
Verhaftet Die Beamten befehlen uns auf Spanisch, die Hände zu heben und uns nicht zu bewegen. Sie weisen uns an, alle Stifte, Messer und Zahnbürsten aus unseren Taschen zu holen, sie auf den Boden zu legen und dann unsere Hände in die Luft zu heben. Die Beamten trennen mich von meinen Freunden und führen uns Richtung Straße. Die verstreuten Stifte, Nagelknipser, Zahnbürsten und andere Gegenstände bleiben als Müll in der Wüste zurück. Wir warten am Straßenrand nahe einer Kirche, um ins Grenzgefängnis gebracht zu werden. Der weiße Grenzbeamte sagt zu mir auf Englisch: »Das sieht nicht gut aus für dich, mit einem Haufen Illegaler.« Er fragt, wer ich sei und ich erkläre, dass ich ein 11
Vgl. Butler 2009. Über das Framing von Migrant·innen in den USA: siehe Chavez 2001; ebd. 2008; Grillo 1985; Jain 2006.
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Student der Medizin und Anthropologie sei, der für seine Abschlussarbeit forsche und zeige ihm die Briefe, die ich von der Uni dabei habe, und meinen Pass. Die Beamten rufen ihren Vorgesetzten an und lassen ihn wissen, dass sie einen US-C [US-amerikanischen Staatsbürger] mit einer Gruppe »Illegaler« gefunden haben. Der Vorgesetzte kommt 30 Minuten später dazu und verhört mich. Er steht über mir und zieht die Augenbrauen hoch; er erinnert mich an einen wütenden, herablassenden Lehrer. Er bringt mich nach hinten in einen Grenzschutzlaster und meine Freunde in einen anderen. Mein Wagen hält ein Mal an, um zwei guatemaltekische Männer einzusammeln, die gerade verhaftet wurden; ein Mal, um uns am Straßenrand pinkeln zu lassen und ein Mal, um einen der beiden Beamten in ein nahegelegenes Krankenhaus für die indigenen Anwohner·innen zu bringen – wo er einen Klapperschlangenbiss behandeln lässt, den er sich bei der Jagd nach uns zugezogen hat. Die Klimaanlage in unserem Kastenwagen funktioniert nicht und es fühlt sich so an, als würden wir darin gebacken. Während wir beim Krankenhaus hinten im Laster warten, schlage ich gegen die Fenster und bitte den Beamten, der vorbei kommt, etwas gegen die zunehmende Hitze zu tun. Er öffnet die Hintertür – einen Spalt weit – und sichert sie mit Handschellen. Als wir ins Gefängnis geführt werden, schütteln die Grenzbeamt·innen, die an uns vorbeikommen, wegen mir den Kopf und ignorieren meine Gefährten. Ein älterer Mann, der etwas zu sagen zu haben scheint, starrt mir in die Augen und fragt: »Glauben Sie wirklich, Ihre Abschlussarbeit ist es wert, das Gesetz dieses Landes zu brechen?« Ein Teil von mir will sagen, dass es nicht nur um eine Abschlussarbeit geht, sondern darum, unsere immer stärker globalisierte Welt zu verstehen und zu positiver gesellschaftlicher Veränderung beizutragen. Ein Teil von mir will erklären, dass ich mich vorher bei Fachanwält·innen habe beraten lassen und all die rechtlichen Auswirkungen meines Handelns bereits kannte und schon im Voraus beschlossen hatte, dass es das wert war. Ich senke den Blick und sage kleinlaut: »Wohl nicht.« Ich will ihn nicht wütender machen als er schon zu sein scheint, denn er hat jetzt die Macht. Er sagt mir, dass sie mich für »Menschenschmuggel« zur Rechenschaft ziehen, und dass sie mich, wenn das nicht durchgehen sollte, mit 5000 Dollar für die »Einreise ohne Einreisekontrolle« dran kriegen. Ich weiß, dass die Anklage des Menschenschmuggels wahrscheinlich nicht standhält, aber es macht mich trotzdem wahnsinnig. Einreise ohne Einreisekontrolle ist nur ein zivilrechtliches Vergehen und es besorgt mich nicht, es als Eintrag in meinem Führungszeugnis zu haben. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, sagt der Beamte, dass Drogendealer für die Einreise ohne Einreisekontrolle belangt würden und es damit für mich schwierig werden könnte, je wieder zu reisen. Ich frage mich, warum die Beamten so fokussiert und wütend auf mich zu sein scheinen, wenn es offenbar so viele, deutlich gefährlichere Kriminelle in den Grenzgebieten gibt, auf die sie ihre Zeit und Energie
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verwenden könnten. Ich frage mich, warum sie mich des Menschenschmuggels anklagen, wenn sie alle einzugestehen scheinen, dass ich »für meine Abschlussarbeit« hier bin. Schließlich – so denke ich bei mir: Welcher verrückte Schmuggler würde schwere anthropologische Fachbücher und offizielle Briefe von Universitäten mit sich herumtragen, die sein Vorhaben erklären? Sobald wir im Gefängnis ankommen, landen meine Triqui-Freunde in einer Zelle und ich allein in einer anderen. Nachdem ich ein paar Stunden in der Zelle gehalten wurde und leise Kinderlieder aus der Sonntagsschule vor mich hin singe, um mich abzulenken, bemerke ich, dass meine Triqui-Gefährten in einer Reihe am Eingangstresen vorbeigeleitet, ihre Fingerabdrücke und Fotos abgenommen werden. Ich frage mich, wie sich das auf ihre Möglichkeiten auswirkt, sich jemals in der Zukunft auf Greencards zu bewerben. Ich erinnere mich daran, in der Broschüre, die die Grupo Beta uns gegeben hatte, gelesen zu haben, dass ich alle sechs Stunden das Recht habe, zu telefonieren sowie Essen und Trinken zu erhalten. Ich entscheide, dass ich eine der Anwält·innen für Einwanderung anrufen will, mit denen ich schon gesprochen habe. Ich gucke durch das Fenster zu einer rothaarigen Beamtin herüber und mache eine Geste als würde ich telefonieren. Die Beamtin bildet mit ihrem Mund das Wort »No« und wendet sich ab. Ich mache dieselbe Bewegung in Richtung eines jungen Beamten und er schüttelt schnell den Kopf und runzelt die Stirn. Drei weitere Male kommen Beamt·innen zu meiner Zelle und schütteln auf übertriebene Weise den Kopf, bevor sie wieder weggehen. Einer sagt mir, ich solle nicht zu der Zelle gucken, in der meine Freunde sitzen. Offenbar hat er Angst, wir könnten mit unseren Gesichtern kommunizieren. An einer Stelle zähle ich 14 Uniformierte, die einem Beamten dabei zuschauen, wie er durch meinen Rucksack wühlt und meine Kamera, mein Aufnahmegerät, die Anthropologiebücher, meinen Pass und Briefe von Menschen in San Miguel an ihre Lieben in den USA untersucht. Ich lese, was in die Tür meiner Zelle eingeritzt wurde. Vieles sind Botschaften von Frauen an ihre Lieben. Viele richten sich an spezifische Menschen: Schwestern, Freund·innen, Ehemänner, Kinder. Ich wünschte, ich hätte einen Stift und Papier, um sie alle zu notieren. Stattdessen lese ich sie immer wieder und wieder und versuche, sie mir zu merken. Ich sehe viele Versionen derselben Formeln auf Spanisch: »100 Prozent mexikanisch« oder »Stolz, aus Mexiko zu kommen‹ neben Aussagen wie »Verliere nicht die Hoffnung«, »Gott wird für dich sorgen« oder »Lass dich nicht von ihnen unterkriegen«. Es gibt auch viele Botschaften bezüglich der Rückkehr: »Ich komme wieder, sobald sie mich abgesetzt haben« oder »Bis bald in Chicago«. Unerwarteterweise trösten diese Botschaften mich. Als ein junger Latino-Beamter zu meiner Zelle kommt, um die Erlaubnis einzuholen, die Bilder in meiner Digitalkamera anzuschauen, sage ich ihm, dass es mir gestat-
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tet sein sollte, mit meiner Anwältin zu sprechen. Er führt mich zum Eingangstresen, nimmt meine Fingerabdrücke gleich vor den Zellen voller inhaftierter Migrant·innen ab. Mehrere Beamt·innen schauen träge zu, während ich die Anwältin in Arizona anrufe, die mich zuvor schon beraten hatte. Sie sagt, dass sie am nächsten Tag kommen wird, um mich zu treffen. Sie sagt, die Gerichte in Arizona seien überlastet und es könnte länger als einen Monat dauern, bis ich eine Anhörung bekäme und mir ein weiterer Anruf gestattet würde. Sie bietet an, meine Freund·innen und Familie anzurufen. Ich beginne ihr die Telefonnummern meiner Mutter und meines Vaters, meines Bruders, eines anderen Anwalts und einiger meiner engsten Freund·innen zu geben. Ich fange an zu weinen, bin erschöpft, stelle mir das Leben im Gefängnis vor, während ich darauf warte, dass das Justizsystem meinen Fall bearbeitet. Das ist die letzte Situation, in der mich meine Freunde aus San Miguel sehen. Während ich am Telefon weine, werden sie weggebracht, in einen Bus gesetzt und zurück nach Mexiko abgeschoben. Nach meinem Telefonat werde ich in meine Zelle zurückgebracht. Ich frage mich, wie meine Triqui-Freunde behandelt werden. Ich werde gezwungen, auf die gegenüberliegende Wand in meiner Zelle zu gucken und nicht aus dem Fenster der Zelle hinaus – sogar nachdem meine Freunde fort sind. Ich muss auf’s Klo, will die Toilette aber nicht benutzen, da sie für alle offen sichtbar am Ende meiner Zelle steht. Außerdem gibt es in der Zelle kein Toilettenpapier. Hinzu kommt, dass ich langsam hungrig und durstig werde. Wieder erinnere ich mich, dass vom Grenzschutz Festgenommene in der Haft alle sechs Stunden das Recht auf Essen und Trinken haben. Ich schaue auf die Uhr an der Wand. Es sind schon mehr als acht Stunden vergangen. Ich erinnere mich an die kalten Reaktionen, die ich auf meine Bitte um das Telefonat durch das Fenster bekommen habe, und entscheide mich, es nicht zu versuchen. Ich bin zutiefst erleichtert, als ein Beamter zu meiner Zelle kommt und mir mitteilt, dass sie beschlossen hätten, den Vorwurf des Menschenschmuggels fallen zu lassen und stattdessen bloß die Strafgebühr von 5000 US-Dollar für die Einreise ohne Einreisekontrolle erheben. Ich frage mich, wer diese Entscheidung getroffen hat und bin dankbar für die Vernunft dieser Person, sich und mir diese Zeit zu ersparen. Ich bitte um etwas zu trinken, zu essen und Toilettenpapier. Er kommt zurück mit sechs Crackern, einer winzigen Flasche mit einem orange-farbenen Getränk (laut Etikett mit 0 Prozent Saft) und ohne Toilettenpapier. Auf meinem Weg nach draußen reiche ich förmlich Beschwerde gegen die beiden Diensthabenden ein, die mir das Telefonat verwehrt haben. Die Verwalterin, die meine Beschwerde aufnimmt, fragt mich drei Mal: »Sie verstehen aber schon die Schwere ihres Vergehens, ja?« Sie scheint mich daran erinnern zu müssen, dass ich im Unrecht sei – und nicht die Grenzbeamt·innen. Ich frage mich, warum Polizeibeamt·innen scheinbar häufig der Respekt gegenüber dem anderen Menschen, mit dem sie interagieren, zu feh-
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len scheint. Ich frage mich, wie ich die Strafgebühr bezahlen soll. Ich frage mich, wie es meinen Triqui-Freunden geht und wie es sich anfühlen mag, zu wissen, dass man den Weg erneut versuchen muss.
»Ist es die Gefahr für dein Leben wert?« Im Diskurs der Öffentlichen Gesundheit und der Weltgesundheit bleibt der Fokus meist, etwa im Falle des Todes an der Grenze, auf dem individuellen Risikoverhalten. In den Mainstream-Medien werden migrantische Arbeiter·innen dargestellt, als verdienten sie ihr Schicksal, sogar den frühzeitigen Tod, weil vorausgesetzt wird, dass sie sich freiwillig dazu entschieden haben, zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Vorteil die Grenze zu überqueren. Wie ich jedoch oben herausgestellt habe, erklären meine Triqui-Freund·innen, dass sie dazu gezwungen sind, die Grenze zu überqueren. Zumal die Unterscheidung zwischen wirtschaftlich und politisch veranlasster Migration oft schwammig ist. Besonders deutlich ist das im Zusammenhang der internationalen Regelungen, die neoliberalen Freihandel erzwingen, und der aktiven militärischen Repression gegen indigene Menschen, die in Südmexiko um kollektive, sozioökonomische Verbesserungen ihrer Situation kämpfen. Besonders wichtig ist hier das von den USA eingebrachte Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), das wirtschaftliche Barrieren wie Zolltarife zwischen den unterzeichnenden Ländern verbietet. So wurde die mexikanische Regierung dazu gezwungen, ihre Zollgebühren aufzuheben, einschließlich jener auf Mais, dem wichtigsten Anbauprodukt von indigenen Familien im Süden Mexikos. NAFTA und andere Freihandelsregelungen verbieten jedoch keine Staatssubventionen. So konnte die US-Regierung ihre Subventionen auf Mais Jahr für Jahr erhöhen und so im Endeffekt einen Umkehrzoll gegen mexikanischen Mais erwirken. Zumal solche Subventionen nur relativ reichen Ländern möglich sind und von der relativ armen mexikanischen Regierung nicht geleistet werden könnten. Während meiner Feldforschung in San Miguel sah ich selbst, wie der gentechnisch veränderte GroßindustrieMais aus dem Mittleren Westen der USA auf dem Markt preisgünstiger angeboten wurde als der vor Ort, im selben Dorf von Familien angebaute Mais.12
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Für eine weitere Diskussion zu NAFTA und Migration aus Oaxaca: vgl. Rural Migration News 2003; Stephen 2007. Über Migration aus Oaxaca in die USA: vgl. Edinger 1996.
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
Wie können die enormen Gefahren an der Grenze die Gefahr wert sein? Auf der anderen Seite der Gleichung stehen herzlose internationale Politiken und Wirtschaftsmärkte. In San Miguel zu bleiben, bedeutet an diesem Punkt, nicht genug Geld für Nahrung zu haben und die Schuluniformen nicht bezahlen zu können, die erforderlich sind, damit deine Kinder die öffentliche Schule besuchen dürfen. Die Rechnung enthält den langsamen, aber sicheren Tod auf einer Seite der Gleichung und enorme Risiken auf der anderen. In San Miguel zu bleiben, ohne ein Familienmitglied in den Norden zu schicken, beinhaltet einen langsamen, gemeinschaftlichen Tod durch den ungleichen »freien« Markt. In San Miguel zu bleiben, bedeutet, dein Leben in Gefahr zu bringen – langsam und gewiss. Es ist entscheidend, dass Anthropolog·innen und Expert·innen der Weltgesundheit und Öffentlichen Gesundheit Leid, Tod und Risiko so neu formulieren, dass Analysen von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Strukturen einbezogen werden. Um Leid und Tod in den Grenzgebieten zu lindern, müssen wir gemeinsam die rechtlichen und politischen Dispositive in den Blick nehmen, die Arbeitsmigration überhaupt erst hervorbringen. Politische Bedingungen, die Ungleichheit produzieren, wie NAFTA und das Central American Free Trade Agreement (CAFTA), müssen neu verhandelt und Gesetze zur Reform des Gesundheitswesens ausgeweitet werden, um strukturell gefährdete Bevölkerungsgruppen wie Migrant·innen zu erreichen. Ohne diese Neurahmung werden weiterhin nicht nur die Reproduktionskosten externalisiert, sondern auch Risiko und Verantwortung individualisiert. Wenn Risiko und Schuld dem Individuum zugeschrieben werden, fokussieren auch die erdachten Lösungen und geplanten Interventionen auf das Verhalten von Einzelpersonen. Doch in solchen Kontexten lenken Interventionsversuche bezüglich des individuellen Verhaltens die Aufmerksamkeit weg von den strukturellen Kräften, die Lebensgefahr und Tod überhaupt erst hervorbringen. Ohne eine Neuausrichtung in unserem Verständnis von Risiko und der entsprechenden Interventionen werden weiterhin jährlich Hunderte von Menschen in den Grenzgebieten sterben und andere während ihrer Migrationen Leid erfahren.
Nach der Freilassung Nachdem ich eine Bekannte in Phoenix erreicht habe, laufe ich im Dunkeln durch den verlassenen Ort zu einer Greyhound-Station und nehme einen Bus nach Phoenix. Drei
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Tage lang bleibe ich im Haus dieser Bekannten – die ironischerweise zum Tod an der Grenze forscht und schreibt – und erhole mich körperlich und emotional von dem Trip. Es gibt ein krasses Gewitter mit Sturzregen und Überflutungen und ich sorge mich um die Sicherheit und Gesundheit meiner Freunde, falls sie wieder in der Wüste sind. Da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, fliege ich wenige Tage später nach Kalifornien zurück. Ich warte in Kalifornien und versuche alle paar Tage, Macario auf seinem Handy zu erreichen. Einer meiner Kommiliton·innen der Anthropologie bietet an, eine SoliParty zu schmeißen, um mir mit der Strafzahlung zu helfen. Die Party findet nie statt, aber das Angebot fühlt sich unterstützend an. Nach einer Woche kommen meine TriquiFreunde in Madera, Kalifornien, an. Einer der jüngeren Männer schafft es in der Zeit meiner Feldforschung nicht mehr, dorthin zurückzukehren, weil ihm das Geld fehlt, um ein zweites Mal den »Kojoten« und die Fahrer zu bezahlen. Stattdessen kehrt er zu seiner Familie nach Oaxaca zurück. Als Macario und ich uns in der Folgewoche wiedersehen, erzählt er mir, dass die zweite Grenzüberquerung ihm viel Leid gebracht habe. Er spricht kurz von Blasen und weiteren Klapperschlangen, aber er will nicht zu viel darüber reden, weil er Angst hat, andere würden sich über ihn lustig machen, weil er nicht stärker ist. Er zeigt mir die großen, aufgeplatzten Blasen an seinen Füßen und die Löcher in seinen Socken. Er erzählt mir, dass einige der anderen Männer in der Gruppe mich dafür verantwortlich machten, ihnen Unglück gebracht zu haben. Er erzählt auch, dass der Fahrer des Grenzschutzes bei ihrer Abschiebung und Ankunft an der Grenze in Nogales, Arizona, noch einmal umgekehrt sei. Er fuhr sie zurück zur Station und ließ sie ein englischsprachiges Schreiben unterzeichnen, das sie nicht lesen konnten. Ihnen wurde gesagt, darin stünde, ich sei ihr Freund, der in ihrem Heimatort gelebt habe und kein »Kojote« sei. Schließlich kamen sie erst spät nachts in Mexiko an.
Zur Struktur des Buchs Obwohl ich dieses Buch vornehmlich in Form von inhaltlich gebündelten Kapiteln geschrieben habe, versuche ich, das sich entfaltende erzählerische Wesen der Migrationserfahrung darzustellen. Diese Strategie zeigt die alltäglichen Freuden und Leiden der Migration ebenso wie das körperliche Erleben der Feldforschung in Bewegung und an vielen Orten [multisited fieldwork in transit]. Gespräche, Interviews und Zitate beruhen entweder auf AudioAufzeichnungen oder auf meinen handschriftlichen und getippten Notizen. Die Übersetzungen stammen von mir, wenn nicht anders angegeben. Wäh-
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
rend ich die Namen der Menschen und einiger Orte, die in diesem Buch beschrieben werden, geändert habe – um die Identitäten jener zu schützen, die mir das Vertrauen schenkten, mich in ihre Leben einzulassen – erhalte ich durchweg so gut wie möglich die Details und Fülle wirklicher Erfahrungen und Beobachtungen. In Kapitel 2 erkunde ich, wie wichtig es ist, die Migration zwischen Mexiko und den USA zu verstehen, und eine Ethnografie zu betreiben, die nicht nur auf die Körper der untersuchten Menschen fokussiert, sondern auch auf den Körper der anthropologisch forschenden Person. In Kapitel 3 beschreibe ich aus erster Hand die Arbeitsteilung in der US-amerikanischen Landwirtschaft, die nach höchst rassistisch und nationalistisch strukturierten Hierarchien Leid verteilt. Ethnizität ist keine genetische oder biologische Gegebenheit, sondern eine somatische und gesellschaftliche Kategorie.13 Wie Mary Weismantel und andere beschreiben14 ,formt die gesellschaftliche und wirtschaftliche Geschichte von Menschen nicht nur deren Körper, sondern auch die Wahrnehmung von deren Körpern auf ethnisierende Weise. Zudem kann Ethnizität mit Althussers Konzept der Interpellation15 – der Anrufung – verstanden werden, wobei ein Subjekt durch gesellschaftliche und ökonomische Strukturen in einer bestimmten Kategorie in Machthierarchien positioniert wird und zugleich sich selbst und andere als Mitglieder dieser bestimmten Kategorien anerkennt. Krankheit als Verkörperung von Gewalt ist der Fokus von Kapitel 4, das sich auf die Erfahrungen von drei Triqui-Wanderarbeitern stützt. Es soll zeigen, dass Erkrankungen häufig die Manifestation von struktureller, symbolischer und politischer Gewalt sind – und zuweilen von Widerstand und Rebellion. Kapitel 5 versucht, die entkontextualisierenden Perspektiven nachzuvollziehen, durch die medizinische Fachkräfte die Misere ihrer migrantischen Patient·innen sehen. Ärzt·innen und Pfleger·innen verschlimmern deren Lage noch dadurch, dass sie die Opfer struktureller Ungleichheiten selbst für ihre Leiden verantwortlich machen. In Kapitel 6 befasse ich mich mit der entscheidenden Frage, wie solche Hierarchien selbstverständlich werden, indem ich die Normalisierung von ge-
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Anmerkung zur Übersetzung: Diese aktuellen Rassismustheorien entsprechende analytische Perspektive liegt der Übersetzungsentscheidung zugrunde, im Deutschen von Ethnisierung oder Rassifizierung zu sprechen. Für eine weitere Diskussion der somatischen, gesellschaftlich und historischen rassifizierenden Kategorisierung von Körpern: vgl. Weismantel und Eisenman 1988. Vgl. Althusser 1982.
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sellschaftlicher und gesundheitlicher Ungleichheit als Beispiel symbolischer Gewalt analysiere.16 Für Menschen auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie naturalisieren (stereotype) Wahrnehmungen und Vorannahmen die Position jener, die übergeordnet werden, ebenso wie die Position jener, die untergeordnet werden. Das gilt auch – und das ist vielleicht am beunruhigendsten – für die eigene Gruppe und sich selbst. Das Kapitel macht über die Repräsentationen marginalisierter Menschen besorgt – hinsichtlich der wichtigen Kritik an der »Kultur der Armut«. Doch mit Philippe Bourgois17 halte ich es für wichtig, marginalisierte Menschen als ganze Menschen zu porträtieren und dabei die Ungleichheiten und Vorurteile zu zeigen, gegen die sie ankämpfen müssen. Entlang von Laura Naders Aufruf, »nach oben zu forschen« – die Mächtigen zu analysieren und nicht nur die Marginalisierten – soll dieses Buch einen »vertikalen Schnitt« setzen und jede Ebene der gesellschaftlichen Hierarchien im Zusammenhang der Landarbeit erkunden.18 Das Schlusskapitel des Buchs beschäftigt sich mit der Zukunft der Triqui-Migrant·innen, mit Möglichkeiten der Hoffnung und mit der Schwierigkeit, Widerstand zu leisten und Veränderung zu bewirken. Es ist ein Aufruf, Wanderarbeiter·innen zuzuhören, sich mit ihren sozialen Bewegungen solidarisch zu zeigen und sich auf vielen Ebenen für Gleichheit einzusetzen, von kleinteiligen Arbeitspraktiken auf der Farm bis hin zu großen weltpolitischen Fragen. Ich versuche die Leben und Erfahrungen von Macario und meinen anderen Triqui-Gefährt·innen darzustellen und zu analysieren, um den gesellschaftlichen und symbolischen Kontext des Leidens unter Wanderarbeiter·innen besser zu verstehen. Ein Verständnis der Mechanismen, durch die bestimmte Klassen von Menschen abgeschrieben und gesellschaftliche Ungleichheiten zur Selbstverständlichkeit werden, kann hoffentlich dazu beitragen, ebendiese Mechanismen und die Strukturen, deren Teil sie sind, abzubauen. Ich hoffe, dass jene, die diese Seiten lesen, in ihrer gemeinsamen Menschlichkeit bewegt werden19 ,so dass Repräsentationen von und Politiken
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Vgl. Bourdieu und Wacquant 1992. Vgl. Bourgois 1995, S. 11-18. Vgl. Nader 1972. Primo Levi schreibt in Die Untergegangenen und die Geretteten (1990/1986) vom »Mitmensch«, also vom Menschen, dem ausreichend Persönlichkeit zugeschrieben wird, um als wirklich wahrgenommen zu werden und somit Mitgefühl und Solidarität hervorzurufen.
1. Einleitung: »Ist es die Gefahr für dein Leben wert?«
für Wanderarbeiter·innen für sie als Menschen menschlicher, gerechter und ansprechender werden. Die US-amerikanische Öffentlichkeit könnte beginnen, mexikanische Wanderarbeiter·innen als ihre Mitmenschen zu sehen, als hart arbeitende Fachkräfte, als Leute, die durch Ungleichheiten ungerecht behandelt werden. Ich hoffe, dieses Erkennen wird die öffentliche Meinung, die Praktiken von Arbeitgeber·innen und Kliniker·innen ebenso verändern wie die entsprechenden Wirtschafts-, Migrations- und Arbeitsmarktpolitiken. Außerdem hoffe ich, dass dieses Buch Anthropolog·innen und anderen Sozialwissenschaftler·innen zu verstehen hilft, wie Wahrnehmung, gesellschaftliche Hierarchie und Naturalisierung in einem breiteren Sinne funktionieren. Mit diesen Hoffnungen im Kopf lade ich Sie Lesenden auf die Reise der Migration in diesem Buch ein – mit mir sowie mit Macario und weiteren indigenen mexikanischen Landarbeiter·innen.
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2. »Wir sind Feldarbeiter«: Eine verkörperte Anthropologie der Migration »Wir geben den Feldern alles, wir sind Feldarbeiter. Wir arbeiten; wir pflanzen schon unser ganzes Leben lang. …« »Arme Menschen aus Oacaxa kommen hierher; wir kommen her und geben unsere Kraft und alles – und sie tun nichts für uns. Diese Regierung überlebt, weil wir dazu bereit sind.« Samuel, 31-jähriger triqui-mexikanischer Vater, im Sommer 2004 im Gespräch mit seiner Familie und mir bei Tamales in seiner Hütte im Arbeitscamp in Washington State.
Ich betreibe Feldforschung, die Triqui-Migrant·innen sind Feldarbeiter·innen. Jahr für Jahr ernten sie Erdbeeren und Blaubeeren auf den Feldern von Washington State sowie Weintrauben und Spargel auf den Feldern von Kalifornien. Meine Triqui-Gefährt·innen leben weit weg von ihren Familien und ihren Heimatorten in den Bergen von Oaxaca, Mexiko. Sie »geben den Feldern« in den USA »alles«: ihre Arbeit, ihre Fähigkeiten, ihre Energie und Zeit sowie ihre Identitäten und ihren Ruf, ihren Geist und ihre Körper. Die Zeit, die sie auch lernend in der Schule oder im Studium hätten verbringen können, verbringen sie schuftend auf den Feldern, um Geld zum Überleben zu verdienen. Ihren Körpern, die vielleicht geruhsam mit ihren Verwandten in ihren eigenen bunten Maisfeldern in Oaxaca gearbeitet oder auch still an einem Schreibtisch gesessen hätten, bietet der transnationale Markt als einzige Chance das Pflücken. Sie arbeiten den ganzen Tag gebückt, jeden Tag in schneller Bewegung, den Pestiziden und dem Wetter ausgesetzt. Durch
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ihren Einsatz für die Felder der US-amerikanischen Landwirtschaft erleiden ihre Körper Verletzungen, Schmerzen und Verfall. Obwohl mein Feld sich für eine Zeit lang mit ihrem überschneidet, mache ich eine andere Art von Arbeit. Ich will die politischen, ökonomischen, kulturellen und gesellschaftlichen Komponenten von Wanderarbeit und Gesundheit verstehen, indem ich Zeit »im Feld« verbringe, wie Anthropolog·innen es nennen. Ich bin dankbar, dass die Triqui-Arbeiter·innen, die in diesem Buch beschrieben werden, mir Einlass in ihre Leben gestattet haben – über ihre ganze Migration hinweg, in Washington, Oregon, Kalifornien, Oaxaca und in den Grenzgebieten von Sonora und Arizona. Während dieser Zeit habe ich mein Denken, meinen Körper und meine sozialen Erfahrungen der Produktion von Feldnotizen gewidmet. Schließlich hoffe ich, dass meine Feldforschung und mein Text zur Linderung des gesellschaftlich bedingten Leids beitragen, das der migrantischen Landarbeit in Nordamerika innewohnt. In einem breiteren Sinne erkundet dieses Buch aus ethnografischer Sicht die verschränkten Hierarchien von Rassifizierung, Arbeit, Leid und Krankheit in der US-amerikanischen Landwirtschaft sowie die Prozesse, durch die sie normalisiert und unsichtbar werden. Zuerst lege ich die Struktur der Farmarbeit offen und beschreibe, wie landwirtschaftliche Arbeit in den USA entlang einer rassistischen und nationalistischen Hierarchie – also nach Zuweisungen der Ethnisierung und Staatsangehörigkeit – aufgeteilt wird. Dann zeige ich aus ethnografischer Sicht, dass aus dieser Rangordnung entsprechende Leiden und Erkrankungen hervorgehen – besonders unter den undokumentiert eingereisten, indigen-mexikanischen Pflücker·innen. Es wird jedoch deutlich, dass diese verletzende Hierarchie von der Farmleitung und -verwaltung weder beschlossen noch geplant wurde; vielmehr geht sie aus größeren, gesellschaftlichen Strukturen hervor. Bemerkenswerterweise werden diese Ungleichheitsstrukturen von den Menschen auf der Farm kaum problematisiert, auch nicht von den am stärksten darin ausgebeuteten. In den ethnografischen Daten stellen wir fest, dass diese Struktur durch wahrgenommene körperliche Unterschiede unsichtbar gemacht wird, wozu auch ethnisierte Konzepte von Stolz gehören. Mithilfe von Bourdieus Theorie zu symbolischer Gewalt argumentiere ich, dass die Selbstverständlichkeit in diesen gesellschaftlichen und gesundheitlichen Ungleichheiten zu deren Rechtfertigung und Reproduktion beiträgt. Das Buch schließt mit Möglichkeiten der pragmatischen Solidarität und des weitergehend positiven Wandels.1 1
Zu »pragmatischer Solidarität«: vgl. Farmer 1999.
2. »Wir sind Feldarbeiter«: Eine verkörperte Anthropologie der Migration
Erklären und erklärt werden Wie die meisten Forscher·innen hatte ich Schwierigkeiten, unterschiedlichen Adressat·innen mein Forschungsprojekt zu erklären. Mit anderen Kulturanthropolog·innen und Soziolog·innen habe ich mich daran gewöhnt, gesellschaftstheoretische Wendungen wie »nach Bourdieu« und »Foucault’sche Gouvernementalität« und »Biomacht« zu benutzen und wissende Blicke als Reaktion zu erhalten – mal einverstanden, mal kritisch. Doch außerhalb der Disziplin scheint die Anthropologie zuweilen besonders schwer zu erklären zu sein. Wir benutzen keine Methoden, die üblicherweise mit dem Wort »Forschung« verknüpft werden: Wir tropfen nichts mit Pipetten in Reagenzgläser und verstärken keine genetischen Merkmale, verteilen keine Umfragen oder führen strukturierte Interviews in geschlossenen Räumen. Stattdessen führen wir teilnehmende Beobachtungen von langer Dauer durch, erzeugen Felddaten aus Beobachtungen und verkörperter Teilnahme an den Gesprächen und Aktivitäten des Alltagslebens. 1922 hat Bronislaw Malinowski dieses Konzept der teilnehmenden Beobachtung erklärt, indem er anführte, dass es »eine Reihe von Phänomenen von großer Bedeutung [gibt], die unmöglich aufgezeichnet werden können, indem etwas schriftlich erfragt oder berechnet wird; vielmehr müssen sie in ihrer ganzen Aktualität beobachtet werden.« Doch für die meisten Menschen sieht das so aus, als würden wir vor allem rumhängen, naive Fragen stellen und dabei einen Kassettenrekorder oder ein Notizbuch benutzen. Clifford Geertz und James Clifford gingen kürzlich tatsächlich so weit, von »tiefem Abhängen [deep hanging out]« zu sprechen, um das Eintauchen in die Feldforschung zu diskutieren, das so zentral für die Anthropologie ist.2 Als Anthropologe und Arzt war meine Position ziemlich kompliziert. Als ich meine Feldforschung begann, stellte ich fest, dass die meisten Leute das Wort Anthropologe entweder nicht kannten oder dachten, es bezeichne eine Person, die irgendwo in Ägypten Knochen und Ruinen erforscht. Als ich in das Arbeitscamp einer Beerenfarm in Washington State einzog, versuchte ich zu erklären, dass ich Medizin und Anthropologie studierte und über die Gesundheitssituation, Arbeitsverhältnisse und rassistischen Hierarchien in einem ganzen Migrationskreislauf lernen wollte. Das schien für manche Menschen Sinn zu ergeben und verlangsamte den Schwall an Fragen, warum 2
Vgl. Geertz, Clifford: »Deep Hanging Out«, in: New York Review of Books (22. Oktober 1998).
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ich als gabacho3 in diesem Camp lebte. Es führte auch dazu, dass manche Pflücker·innen zu meiner Hütte kamen, um nach Medizin gegen Rückenschmerzen zu fragen, und dass der Vorarbeiter mich als »Doctor Seth« vorstellte. Nachdem ich mehreren Leuten erklärt hatte, dass ich keine Medikamente hatte und vor allem im Camp lebte, um zu lernen, begann ich anzunehmen, dass die anderen Pflücker·innen mich nun als inkompetenten und unnützen, wenn auch interessierten, Arzt duldeten. Ich war in der Farmhierarchie in vielerlei Hinsicht fehl am Platz – bezüglich Klasse, Rassifizierung und Staatsangehörigkeit. Das rief bei Menschen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen auf der Farm verschiedene Reaktionen hervor: von Respekt, über Gelächter bis hin zu Misstrauen. Die Verwirrung gab es natürlich auch außerhalb der Farm. Einmal während unseres Winters in Kalifornien fuhren mein Pflückkollege Samuel und ich zu einem Waschsalon, um unsere und die Kleidung seiner Familie zu waschen. Damals war Samuel 31 Jahre alt und der Vater eines kleinen Jungen. Er war im Dorf San Miguel in den Bergen von Oaxaca aufgewachsen und hatte in den letzten Jahren aus den USA Geld an seine Schwester, Nichten und seinen Vater geschickt, die zuhause blieben. Er fuhr einen Aerostar Minibus, hörte mexikanische Rockmusik und trug wegen seines Kinnbarts auf Triqui den Spitznamen »Ziegenkopf«. Während wir unsere schmutzige Kleidung ausluden, fragte ein anderer mexikanischer Migrant Samuel auf Spanisch, warum er mit seinem jefe, seinem Chef, die Wäsche mache. Samuel antwortete, dass ich nicht sein Chef, sondern sein Freund sei. Der andere Mann war nicht leicht zu überzeugen: »Nein wirklich, warum bist du mit deinem Chef hier?« fragte er auf Spanisch. Samuel erklärte, dass ich im Arbeitscamp lebte, mit ihnen auf einer Farm Erdbeeren pflückte und ihre indigene Sprache lernte. Samuel fasste dann zusammen: »Er will selbst erfahren, wie die Armen leiden.« Obwohl ich selbst nie so von meiner Arbeit gesprochen hatte, wurde das die Erklärung meiner Triqui-Gefährt·innen, warum ich bei ihnen war und was ich tat. In vielerlei Hinsicht war dies eine klare und kurze Beschreibung der verkörperten Anthropologie über Wanderarbeit, die ich für dieses Buch durchzuführen versuchte. Diese Erklärung befriedigte auch die Neugier und den Argwohn der triqui-, mixtekisch- und mestizisch-mexikanischen Zuhörer·in-
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Als gabacho/a/os werden in Teilen Mexikos weiße US-Amerikaner·innen bezeichnet – ähnlich dem Wort gringo/a/os.
2. »Wir sind Feldarbeiter«: Eine verkörperte Anthropologie der Migration
nen, denen sie unterbreitet wurde.4 Meine verwirrende Präsenz in den Leben von Triqui-Arbeitsmigrant·innen wurde als legitim, gar als sinnvoll, erachtet, sobald als ihr Ziel verstanden wurde, zu »erfahren, wie die Armen leiden«.5 Armut, Gewalt und verkörpertes Leid sind zentrale Erfahrungen in ihren Leben und somit einige der zentralen Themen dieses Buchs.
Verkörperte Anthropologie Historisch verstanden Anthropolog·innen ihre Arbeit als bloßes Dokumentieren von Tatsachen aus der Welt da draußen. Nancy Scheper-Hughes schreibt: »Sie taten so, als gebe es keine·n Ethnograf·in im Feld.« Sie argumentiert, dass sie »das Selbst [behandelten,] als sei ›es‹ ein unsichtbarer und durchlässiger Schirm, durch den reine Informationen, ›Fakten‹ objektiv gefiltert und aufgezeichnet werden konnten.«6 Wir selbst, unsere Körper, wurden für selbstverständlich genommen und als bloßes Werkzeug der Beobachtung erachtet (wenn wir überhaupt in den Blick kamen). Im Großen und Ganzen haben wir unsere Körper in den Erfahrungen der Feldforschung ignoriert. Während die Dokumentation von »Fakten« wichtig ist und eine Frage von Leben und Tod sein kann, ist es auch wichtig für Anthropolog·innen, über ihre eigene verkörperte Erfahrung in der Feldforschung nachzudenken. Paul Stoller fordert eine »sinnliche Forschung«, die »den sinnlich empfangenden Körper – Gerüche, Geschmäcker, Texturen und Empfindungen – in die ethnografische Arbeit einbezieht.«7 Obwohl Stoller sich mehr auf die Körper seiner »Songhai«-Informant·innen bezieht als auf seine eigene verkörperte Er-
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Wie die Triqui sind die Mixtek·innen eine indigene Bevölkerungsgruppe aus La Mixteca in Oaxaca, Mexiko. Es gab Momente und Räume, in denen meine Triqui-Gefährt·innen sich vor allem anderen als »die Armen« definiert sahen. Interessanterweise identifizieren sie sich in dieser Redewendung als Teil einer sozialen Klasse, bevor sie ihre Zugehörigkeit zu Kategorien der Ethnizität (Triqui), Nationalität (mexikanisch), des staatsbürgerschaftlichen Status (ohne Aufenthaltsrecht [undocumented]) oder vielen weiteren möglichen Kennzeichen nennen. Wie im gesamten Buch deutlich wird, sind diese Kategorien in der Arbeitshierarchie auf der Farm untrennbar miteinander verknüpft und kommen unterschiedlich zum Einsatz, je nachdem wer in welchem Kontext die Zugehörigkeit zuschreibt. Scheper-Hughes 1992, S. 23. Stoller 1997: xv.
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fahrung, könnte ein Fokus auf den Ethnografie betreibenden Körper als eine intime Form der sinnlichen Forschung oder verkörperten Anthropologie betrachtet werden. Der ethnografische Soziologe Loïc Wacquant beschreibt eine Feldforschung, die über den Körper der Ethnografie betreibenden Person nachdenkt, als »leiblich«.8 Ich beziehe mich auf den Körper, nicht in Wiederholung westlicher Vorannahmen einer Körper-Geist-Dichotomie, sondern in Anlehnung an Margaret Locks und Nancy Scheper-Hughes‹ Konzept eines »geistreichen Körpers«.9 Mit dieser Wendung versuchen die Autorinnen, die in westlichen Gesellschaften übliche Trennung von Geist und Körper aufzuheben, indem sie dem Körper selbst in seinem Fühlen und Denken Geist zuschreiben. Auf ähnliche Weise bietet Maurice Merleau-Ponty eine phänomenologische Philosophie, in der der Körper als ein Subjekt-Objekt aktiv mit der Welt interagiert, deren gesamte Bestandteile ebenfalls Subjekt-Objekte sind.10 Der Körper ist also nichts, was ich »habe« oder »nutze«, um Informationen zu finden; vielmehr »bin« ich mein Körper und mein »Körper selbst« – »ich selbst« – produziert Felddaten. In meiner Feldforschung versorgten mich meine körperlichen Erfahrungen mit wertvollen Erkenntnissen zu gesellschaftlich bedingtem Leid, zu Machthierarchien und zu den Auswirkungen von Feldforschungsbeziehungen. Es waren nicht nur meine Augen und Ohren, die wertvolle Feldbeobachtungen sammelten, sondern auch mein Nacken, als kalter Regen die Innenseiten meiner – vom Betrieb zur Verfügung gestellten – Regenkleidung durchnässte, meine wunden Knie, Hüften und der untere Rücken, die von der gebückten Haltung beim Erdbeerpflücken schmerzten; mein übersäuerter Magen, der Stresssignale zeigte, bevor ich den Tag im Wettrennen mit der Uhr verbrachte, um meinen Pflückjob zu behalten; mein umnebelter und müder Kopf nach zu vielen Nächten am Stück, in denen mein Schlaf vom Regen unterbrochen wurde, der vom leckenden Dach auf mein Gesicht tropfte, oder vom kalten Wind und den Geräuschen, die durch die durchlässigen Wände im Arbeitscamp drangen; meine schmerzenden Beine und mein verkaterter Kopf nach einem Abend voller Tanz und Alkohol zur Tauffeier eines Triqui-Kindes; mein steifer Nacken vom wohnungslosen Leben im Auto auf dem Weg von Washington nach Kalifornien und auf der Suche nach einer
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Vgl. Wacquant 2005. Für weitere Beispiele von verkörperter Anthropologie: vgl. Estroff 1985; Farquhar 2002. Scheper-Hughes und Lock 1987. Vgl. Merleau-Ponty 1966.
2. »Wir sind Feldarbeiter«: Eine verkörperte Anthropologie der Migration
Wohnung; meine trockene Kehle, müden Beine und überaktive Vorstellungskraft inmitten des Laufs durch die todbringende Wüste von Arizona nach Tagen der Anstrengung, um die Grenze zu erreichen. All dies sind einige der Situationen, in denen mein Körper mir wichtige Feldnotizen über gesellschaftlich bedingtes Leid bot. Hätte ich meinen körperlichen Erfahrungen keine Aufmerksamkeit geschenkt, wären mir viele wichtige Informationen über die alltäglichen Leben von Wanderarbeiter·innen entgangen. Selbstverständlich waren unsere Erfahrungen nicht dieselben, auch wenn wir situativ die Lebens- und Arbeitsbedingungen teilten. Nachdem wir eine Woche lang in Zentralkalifornien wohnungslos in Autos gelebt hatten, fanden meine Triqui-Gefährt·innen und ich eine Wohnung in einem Elendsviertel, die von Wanderarbeiter·innen ohne Bonitätsnachweis gemietet werden konnte. Zu 19 Personen (einschließlich vier Kindern unter fünf Jahren) zogen wir in diese Dreizimmerwohnung mit dünnen Wänden und hohlen Türen. Ich bat darum, statt gemeinsam mit zwei Erwachsenen und einer Jugendlichen im türlosen Wohnzimmer, allein im Wandschrank im Flur der Wohnung schlafen zu dürfen, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Der Schrank war gerade groß genug, dass ich darin ohne Matratze diagonal liegen konnte – Kopf und Füße in gegenüberliegenden Ecken. Für mich fühlte sich diese Privatsphäre absolut notwendig an, um mich am Ende der vollen Tage zu entspannen und nicht verrückt zu werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, im Wohnzimmer zu schlafen, immer wach zu werden, wenn eines der kleinen Kinder auf dem Weg ins Bad oder in die Küche quengelte. Doch meine Triqui-Gefährt·innen waren sichtlich amüsiert von meiner Entscheidung, derart unbequem zu liegen, anstatt auf einer Matratze im Wohnzimmer mit den anderen Mitbewohner·innen. Sie witzelten immer wieder mit anderen Triqui-Freund·innen über den gabacho chakuh11 , der lieber in ihrem Flurschrank schlief als im wunderbar geräumigen Wohnzimmer. Dieser Unterschied lässt sich anhand von Bourdieus Konzept des Habitus‹ erläutern.12 Bourdieu erklärt Habitus als die Mischung aus körperlichem
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Chaku’ ist meine Transliteration des Triqui-Worts für »Kahlkopf«. Triqui bezeichnen einander häufig anhand von Spitznamen, die sich vage auf das Aussehen des Kopfes einer Person beziehen. Wie schon erwähnt, wurde mein Informant Samuel als »Ziegenkopf« bezeichnet, weil er einen Kinnbart trug. Samuels Bruder, der auch in der Wohnung im kalifornischen Elendsviertel wohnte, wurde »Schafkopf« nachgerufen, weil sein Haar oft unordentlich lag und an Schafwolle erinnerte. Vgl. Bourdieu und Wacquant 1992.
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Verhalten, Dispositionen, Geschmack und Begehren, die über lebenslange Erfahrungen akkresziert – also der Reihe nach aufgeschichtet – werden. Meine lebenslangen körperlichen Erfahrungen – zum Beispiel als Kind in meinem halbstädtischen Zuhause in einem eigenen Zimmer gewohnt zu haben – hatten sich zu einem Habitus akkresziert, der zum Entspannen Privatsphäre erforderte. Auf der anderen Seite könnte der Habitus meiner Triqui-Gefährt·innen – die in bodenlosen Hütten aufgewachsen waren, in denen sich mehrere Menschen einen Raum teilten und im globalisierten Film und Fernsehen die Darstellung der körperlichen Bequemlichkeit wohlhabender Lebensstile anschauten – deren klare Priorisierung der körperlichen Bequemlichkeit von Platz und Matratze erklären. Mein Körper bot mir Einsichten, nicht nur durch die Erfahrung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter·innen, sondern auch wenn ich bestimmte Reaktionen anderer Menschen hervorrief. In vielen Situationen wurde mein hellhäutiger, großer, studentisch gekleideter, Englisch sprechender Körper sehr anders behandelt als die Körper meiner TriquiGefährt·innen. Die Dienstvorgesetzten im Hofbetrieb bezeichneten mich nie mit abfälligen Namen, so wie sie es mit den Arbeiter·innen aus Oaxaca taten. Stattdessen blieben sie häufig stehen, um mit mir zu scherzen. Derweil pflückten sie Beeren und legten sie in meinen Eimer, um mir zu helfen, die Mindestpflückmenge zu erreichen. Die in die Körper eingeschriebenen gesellschaftlichen Kategorien führten dazu, dass ich auf Augenhöhe, als Freund oder gar als überlegene Person behandelt wurde, während die Menschen aus Oaxaca meistens als Untergebene, manchmal wie Tiere oder Maschinen, behandelt wurden. Am Zahltag ging üblicherweise mindestens eine der mir bekannten Triqui-Familien zu Burger King zum Abendessen. Gegen Ende meiner Feldforschung wurde ich öfters eingeladen, mitzukommen. An einem solchen Tag fuhr ich mit Samuel und seiner fünfköpfigen Familie in ihrem Minibus zum örtlichen Burger King. Wir bestellten das Übliche: vier Whopper, vier große Pommes und zwei Kindermenüs. Dieses Mal kamen die vier Whopper und die Kindermenüs jedoch nur mit drei mittleren Pommes. Ohne über unseren jeweiligen sozialen Status nachzudenken, schlug ich vor, dass eine Person zum Tresen gehen und um die richtige Pommes-Bestellung bitten solle. Samuel und seine Frau Leticia runzelten die Stirn und schauten einander an. Dann erklärten sie mir, dass sie so etwas niemals tun könnten, weil sie keine anderen Pommes, sondern wahrscheinlich Schwierigkeiten bekommen würden, wenn sie nachhakten. Samuel bat mich, hinzugehen, um
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zu sehen, was die Mitarbeiter·innen bei einem gabacho machen würden. Wie ich erwartet hatte, gaben sie uns vier große Pommes und entschuldigten sich freundlich und bemüht. Samuel war erstaunt. Mein Körper wurde behandelt, als hätte und verdiente er Macht, während sie immer wieder als Untergebene behandelt wurden, die keinen Respekt verdienten. Ähnliche Ungleichheiten im Umgang mit uns spielten sich viel zu häufig in den verschiedensten Zusammenhängen ab. In den Kliniken in Washington und Kalifornien sowie in Oaxaca erhielten meine Triqui-Gefährt·innen falsche Anweisungen, Abrechnungen oder Medikamente. Sie wurden allgemein als Unterlegene behandelt, die gehorchen sollten, ohne Fragen zu stellen. Nachdem ich diese Situationen beobachtete oder durch sie davon erfuhr und daraufhin eine·n Klinikmitarbeiter·in um Unterstützung bat, wurde mir mit einer freundlichen – wenn auch manchmal unaufrichtigen – Entschuldigung und einer schnellen Berichtigung der Situation begegnet. Wenn meine Triqui-Freund·innen selbst um Hilfe baten, wurde ihnen meist eine Abfuhr erteilt und ihnen gesagt, dass da nichts zu machen sei – »Punkt«. Meine Triqui-Gefährt·innen versteckten sich regelmäßig voller Furcht, wenn sie mich fragten, ob ein Auto oder Laster mit einer Aufschrift auf der Seite zum Grenzschutz oder zur Polizei gehörte. Ich nahm diese Autos selten überhaupt wahr, bevor sie mir gezeigt wurden. Meine Triqui-Freund·innen hielten ihre eigenen Autos im perfekten Zustand: Jeder Riss in der Windschutzscheibe wurde geflickt, jede Lampe funktionierte einwandfrei, jeder Aufkleber war an seinem vorgeschriebenen Platz; und natürlich wurde die Geschwindigkeitsbegrenzung immer eingehalten, damit die Polizei sie nicht anhielt. Ich wiederum hatte über all diese Details kaum nachgedacht. Einige der Migrant·innen sprachen vom »Driving While Brown« [von der besonderen Anforderung, als Person of Color – als Mensch, der nicht als weiß gelesen wird – in den USA Auto zu fahren], um die Wirkung der rassistisch-nationalistischen Kontrollkriterien zu bezeichnen. Jedes winzigste Problem mit ihrem Auto oder ihrem Fahrstil könnte zum Anlass werden, sie aus dem Verkehr zu ziehen, und in der Folge zu ihrer Abschiebung führen. Obwohl der Lokalpolizei in Washington State gesetzlich nicht erlaubt war, anhand von rassistischen Kriterien Kontrollen durchzuführen, kontaktierten Polizeibeamt·innen manchmal Grenzschutzbeamt·innen zum Übersetzen. Wenn eine Person vom Grenzschutz dann einmal vor Ort war, konnte sie auch den Aufenthaltsstatus prüfen und diejenigen abschieben, die keinen hatten. Das nährte das allgemeine Misstrauen gegenüber Beamt·innen der Exekutive. Ich wusste, dass ich wahrscheinlich nie für einen kleinen Riss
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in der Windschutzscheibe oder ein kaputtes Bremslicht angehalten werden würde. Sollte es doch geschehen, würde ich eine einfache – wenn auch autoritäre – mündliche Verwarnung erhalten. In den vielen Monaten, in denen ich mit Wanderarbeiter·innen in den USA lebte, aß, medizinische Behandlung aufsuchte und Auto fuhr, wurde mir sehr deutlich, dass alle Menschen um uns herum, meinem Körper einen bedeutend anderen Ort in der Machtstruktur unserer Gesellschaft zuwiesen als den Körpern meiner Triqui-Freund·innen. Ich begriff also gesellschaftlich bedingtes Leid und enorme gesellschaftliche Hierarchien. Zudem ließ mich mein verkörpertes Erleben die Unmöglichkeit erfahren, Forschung von zwischenmenschlichen Beziehungen zu trennen. Trotz meines Studiums zu Gesellschaftstheorien und meiner umfassenden Lektüre von Ethnografien hatte ich unbewusst angenommen, ich würde einfach ein Jahr der Migration mit einer Gruppe Triqui verbringen, um etwas über eine wichtige und wahrscheinlich schwierige Wirklichkeit zu erfahren und aufzuschreiben. Angesichts der vielen Ethnografien, die den Eindruck von einer unveränderten und oft unbeteiligten, anthropologisch forschenden Person hinterlassen, hatte ich nicht ernsthaft darüber nachgedacht, wie ich mich selbst verändern würde. Anders als die typische Darstellung des unveränderten Anthropologen, der seinen Körper objektiv einsetzt, um Fakten zu beobachten, erforderte meine Erfahrung der anthropologischen Feldforschung viele Ebenen der persönlichen Beteiligung und hat mich auf unerwartete Weisen verändert. Erstens wurde ich stärker in die sozialen Anforderungen von Freundschaft einbezogen, als ich es mir im Vorhinein vorgestellt hatte. Während die Menschen mich langsam in ihre Leben und Zuhause einließen und Vertrauen zu mir aufnahmen, wurde ich eher ein ungewöhnlicher Freund als ein bloßer Forscher. Nachdem wir zusammen im selben Camp gelebt, gemeinsam Beeren gepflückt, dieselben Kliniken besucht und auf dem Rücksitz derselben Autos geschlafen hatten, begannen meine Triqui-Freund·innen mir zu vertrauen. Als ich zum ersten Mal in das Arbeitscamp in Washington State einzog, verbreiteten sich Gerüchte im Camp, ich sei womöglich ein CIA-Agent oder ein Drogenschmuggler, der eine gute Tarnung sucht. Nachdem ich mehrere Monate dort gelebt hatte, widersprachen Samuel und die anderen Pflücker·innen, die ich kennengelernt hatte, diesen Gerüchten. Sie nutzten die üblich gewordene Erklärung von mir als gabacho chakuh‹, der erfahren will, wie die Armen leiden. Dieses zunehmende Vertrauen führte dazu, dass ich zum Essen, zu Geburten, Taufen, Heilungen und sogar zu einem Streik eingeladen
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wurde. Es führte auch dazu, dass ich unfreiwilliger Teil und Empfänger von Bündnissen, Familienfehden, Hass, Gerüchten und möglicherweise Hexerei wurde. Die unerwartete Wirklichkeit dieser Beziehungen führte auch zu regelmäßigen Anrufen aus dem ganzen Land, in denen ich um Hilfe gebeten wurde; sei es im Umgang mit einer Klinik, mit Leuten, die einem Freund das Auto geklaut hatten, oder mit der Polizei. Sie führte auch zu der Erwartung, regelmäßig zu kommunizieren und quer durchs Land für Besuch zu fliegen. Freundschaft bedeutete natürlich auch, dass ich am Austausch von Geschenken zwischen meinen Gefährt·innen aus dem Triqui-Gebiet von Oaxaca teilnahm. Im Gegenzug für das Vertrauen, das die Menschen mir bezüglich ihrer Alltagsleben entgegenbrachten, engagierte ich mich mit Zeit, Geld und Sorgen – wenn ich ein Übergepäck voller Triqui-Lebensmittel, pinker Haarspangen, Geburtsurkunden, Fotografien, Kaktusnadeln zum Nähen, Hundertdollarscheine, kaputter Kameras und neuer Stereoanlagen zwischen Oaxaca, Kalifornien und Washington für Familienmitglieder überbrachte, die nicht so frei über die Grenze reisen konnten wie ich. Ich lehnte auch sanft und nervös diverse Bitten ab, Autos, Minibusse und Kinder mit USamerikanischem Pass ohne ihre undokumentiert migrierenden Eltern mit über die Grenze zu nehmen. Diese Beziehungen brachten nicht nur die vorhersehbaren Erfordernisse und Errungenschaften mit sich, die ich schon erwähnt habe, sondern auch Erwartungen der Solidarität, Fürsprache und des Aktivismus‹. Ein Körper kann nicht die Wirklichkeit von gesellschaftlich anders eingeordneten Menschen miterleben, ohne sich auf irgendeine Weise zu verändern. In meinem Fall erkenne ich das an meiner veränderten Wahrnehmung der Früchte, die ich esse und der Landschaften, die ich sehe. Sie erinnern mich an die versteckten Komplexitäten der gesellschaftlichen Strukturen, in denen und meine Lebensbedingungen und ich eingebettet sind. Meine verbliebenen Rücken- und Knieschmerzen haben eine ähnliche Wirkung. Zudem ist mein Wunsch gewachsen, mich an Aktionen für lokale und größere strukturelle Veränderung zu beteiligen. In jeder Woche meiner Feldforschung wurde ich von mindestens einer Person unter den Triqui-Gefährt·innen um Unterstützung in der Interaktion mit Geschäften, Kliniken, der Verkehrspolizei oder dem staatlichen Gesundheitsprogramm für Kinder mit US-amerikanischem Pass gebeten. Ohne diese Einladungen in die extrem mikropolitischen, lokalen Formen der Interessenvertretung hätte ich nicht verstanden, wie übermäßig viel Zeit und Energie meine Gefährt·innen damit verbrachten, ihre Interaktionen mit der US-amerikanischen Gesellschaft zu verhandeln. Ich hätte nicht verstan-
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den, wie schlecht Migrant·innen behandelt werden oder wie stark sich das verändern kann, sobald ein gebildeter, weißer US-Amerikaner dabei ist. Dieses regelmäßige Miterleben von Vorurteilen und Hierarchien nährte mein Bedürfnis, mich für größere gesellschaftliche Veränderungen zu engagieren. Obwohl die meisten meiner Triqui-Freund·innen ihre Position in der Welt meist als selbstverständlich hinnahmen, hinterfragten sie manchmal die Organisation dieser Gesellschaft und der Welt. In solchen Momenten baten sie mich darum, in ihren Leben involviert zu bleiben, weiter über ihre Leben zu sprechen und zu schreiben und mich mit ihnen für eine bessere Zukunft einzusetzen. Sie baten mich, sie einzuladen, um auch mit anderen gabachos zu sprechen – und ich war schockiert darüber, wie viele Konferenzen zu Migration keine Migrant·innen einladen, obwohl sie die Expert·innen zu diesem Thema sind. Im Schlusskapitel dieses Buchs versuche ich, ein paar Vorschläge für positive Veränderungen auszuarbeiten – sie entspringen den Überlegungen meiner Triqui-Gefährt·innen und meiner Analyse. Ich erlebte die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Wanderarbeiter·innen mit, wurde in ein Gewebe aus Beziehungen samt aller Schwierigkeiten involviert und mit den daraus folgenden Erwartungen und Wünschen nach aktiver Solidarität konfrontiert: Meine verkörperten Erfahrungen haben meine Feldforschung auf unerwartete Weise bereichert. Neben der unerlässlichen Rolle als Protokollant ist meine Verantwortung als kritischer Anthropologe, auch zur Kenntnis zu nehmen, welche Feldnotizen der Körper mir bietet.13 Diese verkörperte Erfahrung macht die ethnografische Beschreibung des Alltagslebens dichter und lebendiger, auch die Beschreibung von Wirklichkeiten des gesellschaftlich bedingten Leids, der Ungleichheit und der Hierarchie sowie der lokalen und globalen Solidarität. In diesem Buch versuche ich eine kritische und reflexiv verkörperte Anthropologie des Kontextes und des Alltagslebens von indigenen mexikanischen Wanderarbeiter·innen in den USA zu realisieren.
Die Bedeutung migrantischer Landarbeit Angesichts der wachsenden Zahl von Migrant·innen und der negativen Art, wie sie wahrgenommen und behandelt werden, ist es besonders wichtig, in 13
Das Konzept von der Anthropolog·in als Protokollant·in: vgl. Scheper-Hughes 1992; Berger und Mohr 1967.
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der gegenwärtigen Welt das Phänomen der Migration zu verstehen. Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen schätzt konservativ, dass es 175 Millionen Migrant·innen weltweit gibt, beinahe 50 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor.14 In den USA schätzen Forscher·innen, dass von den rund 290 Millionen Bewohner·innen 36 Millionen immigriert sind15 , von denen etwa fünf bis zehn Millionen keinen Aufenthaltsstatus haben.16 Zudem wird geschätzt, dass etwa 95 Prozent der Landarbeiter·innen in den USA in Mexiko geboren wurden und davon 52 Prozent ohne Aufenthaltsstatus in den USA sind.17 Doch es ist nicht bloß die schiere Zahl an Migrant·innen, die dieses Thema so wichtig macht, sondern die Art, wie sie wahrgenommen werden und wie mit ihnen umgegangen wird. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die USA jede Woche etwa 4000 Menschen abschieben, – die meisten nach Mexiko – und dass das Board of Immigration Appeals einen Rückstand von 56.000 Fällen verzeichnet.18 Jährlich werden etwa 5000 immigrierte Minderjährige festgenommen und inhaftiert, die meisten entlang der Grenze zu Mexiko.19 Unabhängig von der finanziellen Lage dieser inhaftierten Kinder gewährleistet die US-amerikanische Regierung keine Verteidigungsanwält·innen für sie. Außerdem warnte das Bündnis der US-amerikanischen Landkreise an der mexikanischen Grenze, dass 77 Krankenhäuser entlang der Grenze in finanzieller Not seien, und warb für die Erstattung der Kosten für dortige Notfallbehandlungen von Migrant·innen.20 Jenseits dieser politischen Fragen hinsichtlich der Grenze, wurden in den USA mehrere Gesetze gegen Immigrierte erlassen. 1994 initiierten Wähler·innen in Kalifornien die Kampagne »Save Our State«, auch »Proposition 187«, um allen Menschen öffentliche Dienste wie Gesundheitsversorgung und Bildung zu verwehren, bei denen der »begründete Verdacht« besteht, dass sie keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. 2004 stimmten die Wähler·innen in Arizona für den Arizona Taxpayer and Citizen Protection Act, der von allen Menschen erfordert, beim Wählen ihre Staatsbürgerschaft nachzuweisen. Um öffentliche Zuwendungen jeglicher Art zu erhalten, müssen sie ihren Aufent-
14 15 16 17 18 19 20
Vgl. Migration News 2003b. Vgl. Migration News 2002. Vgl. Espenshade 1995. Vgl. Frank et al. 2004; Kandula, Kersey und Lurie 2004. Vgl. Migration News 2003a. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.
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haltsstatus nachweisen. Das Gesetz bedingt auch Strafanzeigen gegen öffentliche Angestellte, die Menschen nicht anzeigen, die im Verdacht stehen, keinen legalen Aufenthaltsstatus zu haben. Ähnliche Regelungen sind auch in anderen Bundesstaaten in Kraft getreten, die weiter von der Grenze entfernt liegen, etwa in Colorado. Trotz der zentralen Bedeutung dieser Anti-Einwanderungs-Politiken, bilden genau genommen internationale Wirtschaftspolitiken die Wurzel der zeitgenössischen Arbeitsmigration. Wie ich in der Einleitung erwähne, begann im Rahmen des Nordamerikanische Freihandelsabkommens (NAFTA) am 1. Januar 2003 die Deregulierung des gesamten landwirtschaftlichen Handels.21 Die mexikanische Regierung hat aufgezeigt, dass seit der ursprünglichen Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die USA ihre Agrarsubventionen um 300 Prozent erhöht haben.22 Die mexikanische Regierung mit weniger Finanzmitteln hat in den letzten zwei Jahrzehnten hingegen die finanzielle Unterstützung für Maiserzeuger·innen reduziert – von denen die meisten indigene campesinos aus dem Süden Mexikos sind23 – was dazu geführt hat, dass immer mehr Menschen migrieren müssen, um zu überleben.24 Mexikanische Aktivist·innen drängen die mexikanische Regierung dazu, NAFTA neu zu verhandeln, so dass weniger Bäuer·innen und Landarbeiter·innen durch Verarmung zur Wanderarbeit gezwungen werden.25 In verschiedenen ländlichen Regionen Mexikos haben sich Widerstandsgruppen gebildet, – manche bewaffnet, manche nicht – um ein Ende dieser strukturellen Gewalt durch die neoliberalen internationalen Politiken einzufordern, die von den Schlagwörtern »Entwicklung« und »Freihandel« legitimiert werden. Sie fordern »Arbeit, Land, Wohnraum, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden.«26 Mehrere Erklärungen solcher Gruppen benennen die Migration oder Vertreibung als spezifische Anlässe ihrer Rebellion.27 Militärische und paramilitärische Gruppen haben auf diesen Widerstand mit Mas-
21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Rural Migration News 2003a oder b?. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Bacon 2004; Simon 1997; Stephen 2007. Vgl. Rural Migration News 2003. Marcos 1995. Vgl. siehe Marcos 1995; Ejército Popular Revolucionario 2002.
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sakern und dem Verschwindenlassen all jener geantwortet, die verdächtigt wurden, mit diesen Widerstandsbewegungen in Verbindung zu stehen.28 In der heutigen Welt ist Migration eine bedeutsame, oft gewaltvolle und schmerzhafte Wirklichkeit. Sie ist eng verbunden mit anderen modernen Problemen – wie neoliberalen Marktpolitiken, zunehmenden globalen Ungleichheiten, Repräsentationen von »Entwicklung«, dezentralisierter Kriegsführung und mehr. Was häufig als »Einwanderungsproblem« bezeichnet wird, erscheint in den USA mit Blick auf die mexikanische Diaspora der Landarbeiter·innen besonders relevant.29 Diese Arbeiter·innen werden in Mexiko und in den USA von verschiedenen Grausamkeiten bedroht und stehen in beiden Ländern im Fokus von andauernden Debatten über Migrationsgesetze und -politiken. Doch wissen wir relativ wenig über die alltäglichen Leben dieser weitgehend im Verborgenen lebenden Bevölkerungsgruppe. Um deren beunruhigende Lebenssituation zu verbessern, müssen wir zuerst verstehen, was diese Menschen zur Migration führt, welche Leiden mexikanische Wanderarbeiter·innen durch ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in den USA erfahren, wie die für ihre Versorgung zuständigen Kliniker·innen und politischen Entscheidungsträger·innen darauf reagieren und welche Wahrnehmungen und Stereotype diese Probleme normalisieren. Meinen Landarbeitsgefährt·innen zufolge ist Migration ein (relativ) neues Phänomen für die Gesellschaft der Triqui. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren begannen Triqui-Wanderarbeiter·innen für die Beerenpflücksaison im Sommer und Herbst nach Washington State zu reisen und im Winter nach San Miguel zurückzukehren, um bei den Feierlichkeiten für den Schutzheiligen des Dorfs dabei zu sein und ihren Familien bei der Maisernte zu helfen. Seit 9/11 und der zunehmenden Militarisierung der Grenze durch die Operation Gatekeeper und andere Programme, deren ausdrückliches Ziel die »Schließung der Grenze« ist, bleiben die meisten Triqui-Wanderarbeiter·innen mittlerweile lieber gleich für mehrere Jahre am Stück in den USA, bevor sie zurückkehren. Ironischerweise haben also die gewaltvollen Bemühungen, Migrant·innen draußen zu halten, dazu geführt, dass viele von ihnen länger im Land bleiben. Die meisten haben ein bestimmtes finanzielles Ziel – etwa genug anzusparen, um ein Haus zu bauen oder um einen Brautpreis zu bezahlen und heiraten zu können. Es ist einfach zu gefährlich und zu teuer, jedes Jahr die Grenze zu überqueren. Alle 28 29
Vgl. Amnesty International 1986; Franco 2002; INS 1998. Vgl. siehe Sassen 1998; Grillo 1985; Bustamante 1983; Quesada 1999.
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in San Miguel kennen eine Person, die in der Wüste von Arizona gestorben ist und eine, die unterwegs entführt oder ausgeraubt wurde. Während die meisten Triqui-Wanderarbeiter·innen zwischen 3000 und 5000 US-Dollar im Jahr verdienen, kostet jede Grenzüberquerung (in die USA) mittlerweile zwischen 1500 und 2500 US-Dollar für Fahrten, Essen und einen »Kojoten«. Einige der Jugendlichen und jungen Erwachsenen versuchen noch, jedes Jahr zum Schutzheiligenfest im November nach Hause zu kommen und über Weihnachten dort zu bleiben. Deshalb hat San Miguel im November und Dezember die meisten Bewohner·innen. Zum Jahreszeitenwechsel, vom Winter in den Frühling, werden es dann wieder weniger, wenn die Menschen wieder den Bus nach Norden nehmen, um eine weitere Grenzüberquerung zu riskieren. Heute schätzen Forscher·innen, dass sich eine Million indigener Mexikaner·innen, die meisten davon Mixtek·innen und Triqui aus dem Bundesstaat Oaxaca, in den USA aufhalten.30 Die Triqui kommen aus mehreren Dörfern in den Bergen der Region, die als La Mixteca bekannt ist. Sie machen heute die Mehrheit der Landarbeiter·innen im Nordwesten von Washington aus und ihre Zahl nimmt auch in anderen Teilen der USA zu, etwa in einigen Orten in Oregon, auf ein paar Farmen in Kalifornien oder im ländlichen Gebiet nahe Albany im Bundesstaat New York. Ihre Geschichte ist von der Herrschaft vieler Mächte gekennzeichnet: spanische Conquistadores, US-amerikanische Protestant·innen, mexikanische katholische Missionare, mexikanische Politik sowie die lokale und regionale »mestizische« Bevölkerung und andere Indigene. Die Gegenwart der Triqui ist von äußerer und innerer Gewalt geprägt – so ihr weit verbreiteter Ruf. Jede dieser Erfahrungen der Unterwerfung hat für die Triqui zu erlebter Gewalt und Vertreibung geführt. Heute ist eine weitere Form der Vertreibung die Reaktion auf die strukturelle Gewalt und Ungleichheit: die Migration. Es scheint besonders wichtig, Triqui-Migrant·innen zu verstehen, da sie erst vor Kurzem in die Arbeitsmigration eingestiegen sind, ihre Zahl in verschiedenen Migrationskreisläufen weiter zunimmt und sie am unteren Ende vieler gesellschaftlicher Hierarchien positioniert sind. Wie Daniel Rothenberg zeigt, gibt es zudem enge Verbindungen zwischen migrantischen Landarbeiter·innen und dem Rest der US-amerikanischen Öffentlichkeit.31 Die letzten Hände, in denen die Blaubeeren, Erdbeeren, Pfirsiche, Spargel oder Blattsalate lagen, die wir im Lebensmittelgeschäft einkau30 31
Vgl. McGuire und Georges 2003. Vgl. siehe Fox und Rivera-Salgado 2004. Vgl. Rothenberg 1998.
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fen, gehörten sehr wahrscheinlich einer lateinamerikanischen Wanderarbeiter·in. Wie können wir dieser intimen Übergabe von Essen aus einer Hand in die andere mit Respekt begegnen?
Die Gewalt in der landwirtschaftlichen Wanderarbeit Diese Ethnografie will offenlegen, wie (gesundheitliches) Leid, gesellschaftliche Ungleichheit in Verbindung mit struktureller Gewalt und die normalisierende symbolische Gewalt durch Stereotype und Vorurteile miteinander zusammenhängen. Zugleich versucht sie die Geschichten von indigenen mexikanischen Wanderarbeiter·innen zu erzählen, die weitgehend vor dem Blick einer breiteren Öffentlichkeit verborgen sind. Mit struktureller Gewalt meine ich die Gewalt, die von Ordnungen gesellschaftlicher Ungleichheit ausgeht und die ähnlich verletzende Auswirkungen auf Körper hat wie Stich- oder Schussverletzungen. Es handelt sich um die Gewalt, die die englischen Arbeiter·innen, auf die Friedrich Engels sich bezieht, als »sozialen Mord« beschrieben.32 Ein Großteil der strukturellen Gewalt in den heutigen USA ist entlang der Spannungslinien von Klasse, Rassifizierung, Staatsangehörigkeit, Geschlecht und Sexualität strukturiert.33 Das Konzept der symbolischen Gewalt wurde vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt, der damit auf die Verknüpfungen gesellschaftli32 33
Vgl. Engels 1958. Vgl. Bourgois 1988; Eber 1995; Farmer 1992; ebd. 1997; ebd. 1999; Kleinman und Kleinman 1994; Scheper-Hughes 1992; ebd. 2002; ebd. 2003; Singer und Baer 1995. Wacquant (2004) weist auf mögliche analytische Fallstricke einer allzu allgemeinen Verwendung des Begriffs »strukturelle Gewalt« hin. Um verschiedene Formen von Gewalt nicht zu vermengen, verwende ich den Begriff in einem engeren Sinne und bleibe nah an Johan Galtungs (1969) sowie Scheper-Hughes’ und Bourgois’ (2003) Fokus auf die politisch-ökonomische Herrschaft. Die Auswirkungen von struktureller Herrschaft werden hier also konzeptuell getrennt von – unter anderem – alltäglicher körperlicher Gewalt, bewaffneter politischer oder symbolischer Gewalt, die mit der Komplizenschaft der Beherrschten inszeniert wird; vgl. Bourgois 2001. Die Wendung »struktureller Gewalt« ist hilfreich, um zu zeigen, dass gesellschaftliche Strukturen »in Friedenszeiten« Gewalt verüben können, die dieselben Auswirkungen hat, wie andere Formen der Gewalt, wenn auch in einem anderen zeitlichen Maßstab; vgl. Engels 1958. Zudem veranschauliche ich ethnografisch die Möglichkeiten, wie strukturelle Gewalt alltäglich in der gesellschaftlichen Hierarchie des Hofbetriebs praktiziert wird – nicht nur gegen jene, die am stärksten ausgebeutet und marginalisiert werden.
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cher Ungleichheitsstrukturen mit den entsprechenden Wahrnehmungen hinwies.34 Für Bourdieu entstehen die Linsen, durch die wir die soziale Welt wahrnehmen, aus ebendieser Welt. Deshalb passen unsere Wahrnehmungsfilter zu der sozialen Welt, aus der sie hervorgehen. Dadurch verkennen wir die gesellschaftlichen Strukturen und Ungleichheiten in der Welt als natürlich. Symbolische Gewalt funktioniert durch die Wahrnehmungen der »Herrschenden« und der »Beherrschten« (in Bourdieus Worten). Zugleich neigt sie dazu, jenen mit mehr Macht dienlich zu sein.35 Jede Gruppe versteht nicht nur die eigene Zugehörigkeit und Verortung als natürlich, sondern auch die der anderen zu deren jeweiligen Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie. So neigen die Mächtigen zu dem Glauben, ihre Erfolge selbst verdient zu haben, und schreiben den Machtlosen die Verantwortung für deren Probleme zu. Strukturelle Gewalt – mit ihren bösartigen Auswirkungen auf die Gesundheit – und symbolische Gewalt – mit ihrer subtilen Naturalisierung von Ungleichheiten im Hofbetrieb, in der Klinik, in den Medien – bilden den Knoten aus Gewalt und Leid, der das Phänomen der migrantischen Wanderarbeit in Nordamerika prägt. Dieses Buch versucht, durch diese Konzepte die Leben, Arbeit und Leiden von Triqui-Wanderarbeiter·innen in Mexiko und den USA zu verstehen. In einem breiteren Sinne ist es ein Projekt der kritischen verkörperten Anthropologie, die sich dagegen einsetzt, wie bestimmte Klassen von Menschen abgeschrieben oder als weniger menschlich erachtet werden.
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Vgl. Bourdieu 2001; ebd. 2005. Vgl. Bourgois 1995; ebd. 2001; Scheper-Hughes und Bourgois 2003; Klinenberg 1999.
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb1
Das Skagit Valley Im Herbst 2002 besuchte ich den Nordwesten Washingtons, um zu erkunden, wie ich in der Gegend Feldforschung zur Wanderarbeit durchführen könnte. Auf der Fahrt von Seattle nach Norden ins Skagit Valley war ich beeindruckt von der natürlichen Schönheit der Landschaft. Der große Skagit River fließt aus den schneebedeckten Bergen des North-Cascades-Nationalparks nach Westen zum Puget Sound am Pazifik durch einige der dramatischsten Kulissen Nordamerikas. Der Fluss liegt auf halber Strecke zwischen Seattle in Washington und Vancouver in British Columbia (Kanada), etwa eineinhalb Stunden Autofahrt von beiden Städten entfernt. Das Tal besteht aus Beerenfeldern und Apfelplantagen – weit verbreitet ist im regnerischen Nordwesten am Pazifik auch der dunkelgrüne Tannenbaum. Dazwischen gibt es immer mal ein leuchtend buntes Tulpenfeld oder ein braunes brachliegendes Feld. Das Skagit County umfasst sehr unterschiedliche Ortschaften: Flussaufwärts in den Bergen liegen Holzfäller-Orte wie Concrete, am Fuß der Berge befinden sich Eisenbahnstädte wie Burlington, in den Überschwemmungsgebieten im Flachland gibt es Landwirtschaftsorte wie Bow und an der Küste rund um 1
Teile dieses Kapitels wurden veröffentlicht in: Holmes, Seth M.: »Parce qu’ils sont plus près du sol: L’invisibilisation de la souffrance sociale des cueilleurs de baies«, in: Actes de Recherche en Sciences Sociales 165/2 (2006), S. 28-51. Holmes, Seth M.: »An Ethnographic Study of the Social Context of Migrant Health in the United States«, in: PLoS Medicine 3/10 (2006), S. 448. Seth M. Holmes, Seth M.: »Oaxacans Like to Work Bent Over: The Naturalization of Social Suffering among Berry Farm Workers«, in: International Migration 45/3 (2007): S. 39-68. Seth M. Holmes, Seth M.: »Structural Vulnerability and Hierarchies of Ethnicity and Citizenship on the Farm«, in: Medical Anthropology 30/4 (2011): S. 425-49.
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die Flussmündung liegen wohlhabende Dörfer wie La Conner sowie indigene Verwaltungsgebiete – sogenannte Reservate – wie Lummi Island. Die Gegend ist besonders berühmt für ihr alljährliches Tulpenfest im Frühling, bekommt aber auch viel Besuch für das Skagit Valley Casino, das vom Upper Skagit Indian Tribe betrieben wird, und für die vielen Wanderwege in der Umgebung. In meiner Vorstellung als Kind aus dem Osten Washingtons war der nordwestliche Teil des Bundesstaats eine idyllische Landwirtschaftsregion mit Aussichten auf die Berggipfel und die Inseln im Puget Sound. Bei meinem ersten Besuch im Skagit County stellte ich fest, dass die meiste Landwirtschaft im tief liegenden Flachland der Überschwemmungsgebiete des Skagit Rivers stattfindet. Dieses Gebiet wird durch einen grasüberwachsenen Hochwasserschutzdamm von etwa eineinhalb Metern Höhe vor dem Tidenhub im Puget Sound geschützt. Der Damm windet sich sanft entlang der Bucht. Der breite Schotterweg auf dem Damm bietet einige der faszinierendsten 360-Grad-Aussichten, die ich je gesehen habe. Im Westen geht die Sonne inmitten der San Juan Islands unter. Die küstennahen Berge von Washington und British Columbia liegen unweit im Norden. Im Osten erhebt sich der gletscherbedeckte Vulkan Mount Baker, der von mehreren weiteren schneebedeckten Bergen umgeben ist. Große, baufällige Scheunen stechen aus dem Flickenteppich aus Tulpen- und Beerenfeldern heraus, die sich nach Süden erstrecken. Vielleicht fällt der betrachtenden Person in der Ferne auch die Abgaswolke auf, die nahe einer Papierfabrik über dem Ozean hängt. Das Tal besteht aus mehreren Ortschaften entlang der InterstateAutobahn 5 mit charmanten, aus Backstein und Holz errichteten Stadtzentren aus der Jahrhundertwende, die von wachsenden Einkaufsmeilen, Wohngebäuden und -siedlungen umgeben sind. Die Häuser der lokalen Elite prahlen mit ihrer überwältigenden Aussicht aus bewaldeten Hügeln auf die Küste am Talrand. Das meiste, nun mit Ladenzeilen bebaute, Land war in den 1990er oder frühen 2000er Jahren noch ein Blumen- oder Beerenfeld. Im Tal werden viele herzzerreißende Geschichten über die schwierige Lage von Familienbetrieben in der Landwirtschaft in den USA erzählt – Geschichten vom Milchbauernhof des Nachbarn Benson, der nach fünf Generationen dicht machen musste, weil er nach landwirtschaftspolitischen Neuerungen nicht mehr mit der unternehmerischen Agrarindustrie des Mittleren Westens mithalten konnte; oder vom Bauern Johnson und seinen Beerenfeldern, die aufgrund der zunehmenden Konkurrenz aus China und Chile nach beinahe einem Jahrhundert aufgegeben werden mussten; oder vom Obstbauern Christensen, der sich noch immer dafür schämt, sein Land an die Bauherren
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
eines neuen Walmart verkauft zu haben, nachdem seine Familie dort seit ihrer Ankunft aus Skandinavien Äpfel angebaut hatte. Ein häufiger AutoSticker im Tal empört sich über dieses Phänomen: »Save Skagit Farmland, Pavement Is Forever [Rettet Skagit-Farmland, der Asphalt bleibt für immer].« Die verbleibenden landwirtschaftlich genutzten Flächen werden noch immer von mehreren Familienbetrieben bewirtschaftet, die im Vergleich zum Gros der US-amerikanischen Agrarindustrie verhältnismäßig klein sind.
Wanderarbeiter·innen im Skagit-Valley Wie ich im Laufe meiner Feldforschung entdeckte, ist das Skagit Valley ein wichtiger Ort für mehrere transnationale Kreisläufe mexikanischer Landarbeiter·innen2 – einschließlich indigener Triqui und Mixtek·innen aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Einige tausende Menschen migrieren jeden Frühling zur Saisonarbeit hierher. Sie schneiden Tulpen und pflücken Äpfel und Beeren. Derweil leben sie in provisorischen Hütten aus Pappe, Plastikfolien und kaputten Autos oder in betriebseigenen Arbeitscamps, die oft ganz in der Nähe der Villen der lokalen Oberschicht mit malerischen Aussichten über das Tal liegen. Die Camps der Migrant·innen sehen aus wie dicht an dicht stehende, verrostete und mit Zinn gedeckte Schuppen oder auch wie aneinandergereihte Hühnerställe.3 Im Arbeitscamp, wo ich dann lebte, waren die Sperrholzwände teilweise von sich abschälender und absplitternder rosabräunlicher Farbe bedeckt. Die Baracken waren nicht isoliert und der Wind zog besonders nachts durch Löcher und Risse. Jede Einheit erhob sich etwa 30 Zentimeter über der Erde und hatte auf einer Seite zwei kleine Fenster, von denen manche zerbrochen und die meisten mit Stücken alter Pappe zugeklebt waren. Draußen war der Boden entweder tiefer Matsch oder wurde, wenn er trocken war, von vorbeifahrenden Autos zu Staub aufgewirbelt. An Sommertagen leiteten die Zinndächer der Hütten die Sonnenwärme wie ein Ofen nach innen, so dass es drinnen regelmäßig 38 Grad Celsius heiß wurde. In der Nacht war die Luft feucht und kalt, in der Blaubeersaison im Herbst fiel die Innenraumtemperatur auf unter 0 Grad Celsius.
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Für Besprechungen von Transnationalität: vgl. Besserer 2004; Hirsch 2003; Kearney 1998; Rouse 2002. Ein Bauunternehmer, der kürzlich durch das Tal fuhr, hielt eines der Arbeitscamps tatsächlich für eine Ansammlung von Hühnerställen.
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Abb. 5: Wohncamp der Arbeiter·innen auf der Farm.
Foto von Seth M. Holmes.
In den ersten und letzten Phasen meiner Feldforschung lebte ich inmitten des größten Arbeitscamps auf der Farm in einer 3-mal-3,5-Meter großen Einheit, die dort cabina [Hütte] genannt wurde. Richtiger wäre es, sie vielleicht als Baracke oder Bude zu bezeichnen. Üblicherweise teilte sich mindestens eine Familie eine Baracke dieser Größe. In meiner gab es eine alte, feuchte Matratze mit Rostflecken an ihren Stahlfedern, ein winziges Waschbecken mit orange-farbenem Wasser aus getrennten Schläuchen für kaltes und warmes Wasser, einen alten, stinkenden Kühlschrank und einen Camping-Gaskocher mit zwei Platten. Die Gemeinschaftstoiletten und -duschen befanden sich in abgetrennten, großen Sperrholzgebäuden mit Betonböden. Baracken wie meine, in denen Tausende von Arbeiter·innen und ihre Familien im ganzen Land leben, liegen meist versteckt vor dem öffentlichen Anblick – auf dem Gelände hinter dem Baumbestand einer Farm oder hinter anderen Farmgebäuden.
Die Tanaka Brothers Farm Die Farm der Tanaka-Brüder ist mit rund 500 Arbeitskräften in der Hochphase der Pflücksaison, von Ende Mai bis Anfang November, die größte im Skagit Valley. Im Winter arbeiten hier nur noch verschwindend wenige – etwa 50
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Menschen. Dieser Familienbetrieb ist in vierter Generation im Besitz von japanisch-amerikanischen Betreibern, deren Elterngeneration die Hälfte ihres Landes während der Inhaftierungen der 1940er Jahre verlor.4 Der Teil der Familie, dem mehr als einhundert Hektar [hundreds of acres] Land auf Bainbridge Island nahe Seattle gehörte, wurde plötzlich interniert und das Land von der Regierung beschlagnahmt. Der Teil der Familie im Skagit Valley hatte noch Zeit, ihre Farm einer befreundeten angloamerikanischen Familie zu übertragen und konnte dieses Schicksal so verhindern. Heute ist die Farm berühmt für ihre Erdbeeren – vornehmlich von der Sorte »Northwest«, die der Vater der heutigen Betreiber gezüchtet und kultiviert hat. Das Geschäft ist vertikal integriert: Es umfasst alles vom Saat- und Setzling-Anbau über die Obstund Beerenproduktion bis hin zur Verarbeitungsanlage. Doch die meisten auf der Farm produzierten Früchte und Beeren werden unter dem Label größerer Unternehmen verkauft: von Beerenkonzernen wie Driscoll’s bis zu Molkereiunternehmen wie Häagen-Dazs. Die Farm besteht aus mehreren hundert Hektar [several thousand acres], von denen viel zu sehen ist, wenn man auf der Interstate 5 Richtung Westen durch das Tal fährt. Der Großteil des Landes ist mit breiten Reihen von Erdbeerpflanzen bebaut, wobei auch eine beachtliche Zahl von Feldern den Himbeeren und Äpfeln, sowie den ökologischen und sogenannten traditionellen Blaubeeren vorbehalten sind. Am Fuß eines bewaldeten Hügels, das an eines der Blaubeerfelder an der ländlichen Christensen Road angrenzt, liegt das größte Camp für Wanderarbeiter·innen auf der Farm. Hier werden jeden Sommer 250 Arbeiter·innen mitsamt Familie untergebracht. Das Camp besteht aus Sperrholzbaracken ohne Isolierung, Heizung oder Holzverkleidung unter dem Zinndach. Unmittelbar über diesem Camp stehen auf der Christensen Heights Road fünf schöne, große Häuser – teils hinter Bäumen verborgen – mit bodentiefen Fenstern, die das Panorama des malerischen Tals einfangen. Die anderen beiden Arbeitscamps liegen recht versteckt hinter der großen Betonhalle mit der Verarbeitungsanlage und den Gebäuden der Hofverwaltung. Das Camp, das am
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Anmerkung zur Übersetzung: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten zigtausende japanische Migrant·innen in der kalifornischen Landwirtschaft. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in den USA, (besonders entlang der Westküste) 120.000 Menschen mit japanischem Hintergrund, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, politischen Einstellung oder Aktivität entlang einer rassistischen Logik interniert. Die meisten Lager blieben bis zum Kriegsende bestehen, bevor die Menschen ihr Leben neu aufbauen konnten.
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nächsten zur Straße liegt, beherbergt etwa 50 Menschen, die über das ganze Jahr angestellt sind. Die dortigen Unterkünfte sind isoliert und beheizt und unter dem Zinndach gibt es eine Holzverkleidung. Das andere Camp, ein paar hundert Meter weiter von der Straße entfernt, wird im Sommer von beinahe einhundert Arbeiter·innen und ihren Familien bewohnt. Die Baracken in diesem Camp haben eine Holzschicht unter dem Zinndach und sind isoliert, aber nicht beheizt. Schräg gegenüber von zwei der Arbeitscamps und der Betonhalle mit der Verarbeitungsanlage liegen die Häuser von einigen Mitgliedern der Familie Tanaka. Von der Hauptstraße aus am sichtbarsten ist ein einstöckiges Backsteinhaus hinter einem hohen, weißen Holzzaun. Es erinnert an eine kleine Version eines Plantagen-Wohnsitzes im Baustil Jeffersons. Eine öffentliche Grundschule liegt gleich gegenüber vom Haupteingang zu den zwei kleineren Arbeitscamps. Die Tanaka-Farm bewirbt sich selbst als »Familienunternehmen in vierter Generation mit mehr als 85 Jahren Erfahrung in der Kleinobstindustrie«. Das Geschäftsziel der Farm ist die Produktion und der gewinnbringende Verkauf von hochwertigen Früchten. Diese Farm ist auf geschmacksintensive Beeren spezialisiert, die zur Verwendung in Molkereiprodukten wie Eis oder Joghurt verkauft und denen keine Konservierungsstoffe, künstliche Aromen oder Farben zugesetzt werden. Diese Northwest-Züchtung der Erdbeere ist vollkommen rot, hat unglaublich viel leckeren Saft und ist nur wenige Minuten haltbar. Die Frischmarkt-Erdbeersorte California hingegen, die als ganze Beere in Lebensmittelgeschäften verkauft wird, ist in der Mitte weiß, hat weniger geschmacksintensiven Saft und bringt eine deutlich höhere Haltbarkeit mit sich. Auf einigen der Felder der Tanaka-Farm werden Blaubeeren ökologisch angebaut. Sie werden unter dem Namen eines großen Biolebensmittelherstellers vertrieben, der auch an der Verwaltung der Felder beteiligt ist. Auf der praktischen Ebene setzen, ziehen, ernten, verarbeiten, verpacken und verkaufen die Mitarbeiter·innen auf der Farm zugunsten der Geschäftsziele des Unternehmens. Auf einer subtileren Ebene wohnt der Arbeitsstruktur auf der Farm eine intime und komplexe Segregation inne – eine »kombinierte Unterdrückung [joint oppression]«.5 Phillipe Bourgois prägt diesen Begriff in seiner Analyse einer zentralamerikanischen Bananenplantage, um aufzuzeigen, wie Rassismus und Kapitalismus ineinandergreifen und eine Unterdrückung hervorbringen, die sich im Erleben und materiell von jener unterscheidet, die durch 5
Vgl. Bourgois 1995; Holmes 2006a; ders. 2006b.
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Ethnisierung und Klassenzugehörigkeit jeweils produziert wird. Nach meinen ersten paar Wochen im Arbeitscamp und beim Beerenpflücken begann ich, die komplizierte Organisation der Farmarbeit entlang einer komplexen Hierarchie zu erkennen. In der gegenwärtigen US-amerikanischen Landwirtschaft fallen die primären Machtlinien entlang der Kategorien von Rassifizierung, Klassenzugehörigkeit und Staatsangehörigkeit. Die Arbeitsstruktur auf der Tanaka-Farm wird von den Asymmetrien in der breiteren Gesellschaft – besonders entlang dieser drei Faktoren – bestimmt, zugleich verstärkt sie diese größeren Ungleichheiten. Der Komplex der Farmarbeit umfasst mehrere hundert Arbeiter·innen, die viele verschiedene Positionen bekleiden: vom Besitzer zur Rezeptionistin, von der Feldmanagerin zum Traktorfahrer, vom Beerenprüfer zur Beerenpflückerin. Menschen auf der Farm beschrieben die Hierarchie häufig in vertikalen Metaphern. Sie sprachen von jenen »über« oder »unter« ihnen, davon, etwas zu »überwachen« oder »ganz unten zu stehen«. Verantwortlichkeiten, Ängste, Privilegien und die Erfahrung von Zeit unterscheiden sich von oben nach unten in dieser Arbeitshierarchie. Die symbolische vertikale Metapher korrespondiert auch mit der Verstecktheit und Sichtbarkeit von Menschen, wobei jene, die in der Hierarchie oben stehen, außerhalb der Farm am sichtbarsten und jene, die unten stehen, nach außen hin am verstecktesten sind. Übereinstimmend mit den vertikalen Metaphern, die von den Menschen auf der Farm benutzt werden, befasst sich der Rest dieses Kapitels mit der sozialen Schichtung in der Landarbeit und bewegt sich dabei von »oben« nach »unten«.
Geschäftsführung (10 Personen) Verwaltungsassistenz (10 Personen) Erntemanagement (3 Personen) Aufsicht (10 Personen) Beerenprüfung (20 Personen) Feldarbeit auf Stundenlohn (60 Personen) Feldarbeit im Akkord (300 Personen)
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Abb. 6: Übersicht der Arbeitshierarchie auf der Farm. Durchgezogene Linien bedeuten direkte Aufsicht, gepunktete Linien eine weniger formelle Aufsicht.
Die Geschäftsführer Heute besteht die Geschäftsführung der Farm mehrheitlich aus der dritten Generation Brüder in der Familie Tanaka. Ergänzt werden diese Geschäftsführer von angloamerikanischen Expert·innen, die aus anderen Landwirtschaftsbetrieben übernommen wurden. Die Geschäftsführung sorgt sich vornehmlich um das Überleben des Betriebs in einer rauen Wettbewerbslandschaft angesichts stärker werdender Großunternehmen der Agrarindustrie,
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sich ausdehnender Städte und einer ungleichen wirtschaftlichen Globalisierung. Im Laufe meiner Feldforschung machten viele meiner Freund·innen und Familie, die mich im Camp besuchten, schnell die Farmleitung für die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beerenpflücker·innen verantwortlich. Sie gingen automatisch davon aus, dass die Bauerndie Situation ganz einfach ändern konnten. Diese Vermutung wird von anderen Texten über Landarbeiter·innen gestützt, von denen viele die Details aus den Leben der Pflücker·innen beschreiben, die Erfahrung der Bauern aber auslassen.6 Die Tatsache, dass die Perspektiven der Farmleitung im Allgemeinen übersehen werden, ermutigt zur Annahme, dass die Bauern reich, egoistisch oder unbekümmert seien. Die krasse Wirklichkeit und gefährdete Zukunft der Farm dient als Erinnerung daran, dass die Situation komplexer ist. Die Korporatisierung der US-amerikanischen Landwirtschaft und das Wachstum internationaler freier Märkte bedrängen Bäuer·innen, so dass sie sich nicht einfach vorstellen können, die Bezahlung der Pflücker·innen zu erhöhen oder die Zustände Zustand in den Arbeitscamps zu verbessern, ohne damit den Bankrott der Farm zu riskieren. Anders ausgedrückt sind die mächtigsten Einflüsse von struktureller Natur und nicht von individuellen Handlungstragenden gewollt. Strukturelle Gewalt wird hier durch Marktregeln umgesetzt und später durch internationalen und inländischen Rassismus, Klassismus, Sexismus und Vorurteile gegen Migrant·innen kanalisiert.7 Doch strukturelle Gewalt ist kein einfaches Phänomen, das nur in eine Richtung verläuft. Vielmehr produzieren größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen auf jeder Ebene der Farmhierarchie eine gewisse Verletzbarkeit.8 Wie strukturell die Arbeitshierarchie auf der Farm beschaffen ist, wird noch deutlicher, wenn die Hoffnungen und Werte der Bauern in Betracht gezogen werden. Die Geschäftsführer der Tanaka-Farm sind ethische und gute Menschen, die sich das Beste für sich selbst, für ihre Arbeiter·innen und lokale Gemeinde wünschen. Sie möchten bequem leben, ihre Arbeiter·innen gut behandeln und ihren Kindern und Enkelkindern etwas hinterlassen. Sie haben
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Rothenbergs With These Hands (1988) mit einer dichten Beschreibung von Bäuer·innen und Pflücker·innen ist eine bemerkenswerte Ausnahme. Vgl. Bourgois 2001; Farmer 1992; ders. 1997; ders. 1999. Vgl. Quesada, Hart und Bourgois 2011.
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eine Vision von einer guten Gesellschaft, die Familienbetriebe in der Landwirtschaft sowie Aufstiegsmöglichkeiten für alle Menschen umfasst. Einige von ihnen engagieren sich in lokalen Vereinen für solche gesellschaftlichen Hoffnungen. Mehrere von ihnen erbaten in verschiedenen Momenten meiner Feldforschung meine Meinung zu der Frage, wie die Arbeitscamps für die Arbeiter·innen verbessert werden könnten. Nach dem Streik der Pflücker·innen, den ich in Kapitel 6 beschreibe und in dem die ausdrücklich rassistische Behandlung der Pflücker·innen auf den Feldern deutlich wurde, waren die Bauern sichtlich überrascht und bestürzt. Sie gaben sofort die Anweisung an die Erntemanager und die darunter liegende Arbeitsstruktur, dass die Arbeiter·innen mit Respekt zu behandeln sind. Selbstverständlich stehen die Geschäftsführer in Komplizenschaft mit dem ungerechten System und einige handeln aktiver rassistisch und fremdenfeindlich als andere. Insgesamt ist es jedoch womöglich angemessener, sie als Menschen zu begreifen, die in einem ungleichen und groben System ihr Bestes tun, als ihnen Schuld zuzuweisen. Der aktuelle Leiter der Farm, John Tanaka – heute in seinen Fünfzigern –, ist der zweitälteste Bruder. Er wuchs auf der Farm auf und ging nach seinem Studienabschluss zum Militär. Nachdem er 26 Jahre lang als Offizier gedient hatte, kehrte John auf die Farm zurück und wurde deren Vorsitzender. Er hat die schnelle Sprechweise und aufrechte Körperhaltung, die man von einem Militäroffizier erwarten mag, sowie die Fähigkeit, Gespräche über umstrittene Themen zu führen, die man von einer politischen Führungsperson erwarten mag. Als Vorsitzender besteht eine seiner Aufgaben darin, ein positives Bild von der Farm in der lokalen Gemeinde zu fördern. Zu diesem Zweck ist er Vorsitzender in einem Verein zum Schutz von Farmland, trifft sich regelmäßig mit verschiedenen Nachbarschaftsgruppen und hat sich kürzlich für den Gemeinderat des Landkreises zur Wahl gestellt. Seine Hauptaufgabe besteht jedoch darin, alle Vorgänge auf der Farm zu leiten und ihre Wirtschaftlichkeit sicherzustellen. Ich traf John Tanaka bei meinem ersten Besuch im Skagit Valley, als ich nach Möglichkeiten Ausschau hielt, in der Gegend eine längere und durchgängige Feldforschung mit Triqui-Wanderarbeiter·innen durchzuführen. Nachdem ich nach Seattle geflogen war, fuhr ich auf der Interstate 5 nach Norden, wo ich in dem schönen, landwirtschaftlich geprägten Tal im jetzigen Haus meiner Kindheitsnachbarin ankam. Diese Frau – jetzt Anfang dreißig – ist im Osten Washingtons im Haus neben unserem aufgewachsen und in dieselbe Schule und Kirche gegangen wie ich. Ihre erste Anstellung nach ihrem Abschluss vom College und Theologischen Seminar war jene als
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Pfarrerin in einer kleinen, methodistischen Kirche im Skagit County. In der Woche, die ich mit ihr und ihrem Mann verbrachte, erzählte sie mir, dass die Farm mit den meisten Triqui-Wanderarbeiter·innen die Tanaka Brothers Farm sei. Am Sonntag besuchte ich die Messe, wo sie mich John Tanaka und seiner Frau vorstellte und John wissen ließ, dass ich eine anthropologische Feldforschung in der Gegend vornehmen wollte, in der es um Wanderarbeiter·innen, ethnisierte Beziehungen und Gesundheit gehen sollte. John und seine Frau waren freundlich und er schien von meiner Idee angetan zu sein. Am nächsten Tag traf ich ihn morgens um 5.30 Uhr in seinem Büro auf der Farm, um zu besprechen, dass ich in dem Arbeitscamp leben würde, wo die meisten Triqui-Familien lebten, die im Sommer die Beeren pflückten. John deutete an, dass er Interesse habe, mehr über die indigenen Wanderarbeiter·innen aus Oaxaca zu erfahren. Er sei erst kürzlich über die Unterscheidung zwischen »normalen« (wie die meisten Menschen in der Gegend »mestizische« Mexikaner·innen sahen) und indigenen Mexikaner·innen informiert worden. Wir hielten den Kontakt über den restlichen Frühling und Anfang Juni zog ich in das Camp ein. Johns Arbeitsablauf wird vom Wetter, von der Wachstumsgeschwindigkeit der Pflanzen, den Treffen von Nachbarschaftsgruppen, den Öffnungszeiten der Beerenmärkte und dem aktuellen Stand der Arbeitskräfte auf der Farm beeinflusst. Üblicherweise beginnt sein Arbeitstag vor sechs Uhr morgens; mittags macht er eine Pause, um im nahegelegenen Fitnessstudio zu trainieren oder mit seiner Frau zu essen; und kehrt dann zurück, um bis in den späten Nachmittag zu arbeiten. Er arbeitet sieben Tage die Woche auf der Farm, außer im Winter, wenn er in der zugehörigen Pflanzenschule in Kalifornien beschäftigt ist. Er erklärte mir, dass Betriebe in Kalifornien Überstunden bezahlen müssten, wenn irgendwer mehr als sechs Tag die Woche arbeitete. In Washington gab es eine solche Regelung nicht. Die meiste Zeit verbrachte John drinnen an seinem Schreibtisch. Ab und zu besuchte er aber auch die Felder, um zu sehen, wie es lief und um Präsenz zu zeigen. Er erklärte mir, dass die Feldarbeiter·innen sich freuten ihn zu sehen, wenn er auf die Felder ging. Seine alltäglichen Sorgen drehten sich um Dinge wie die Wirtschaftlichkeit des Betriebs mit ihren vielen Einflussfaktoren wie dem Wetter, der Aktivität der Vögel, den Marktpreisen und der Bindung der Mitarbeiter·innen. In mehreren Gesprächen erzählte mir John von der Schwierigkeit, mit all den Variablen umzugehen, die auf der geschäftlichen Seite der Farm eine Rolle spielen. An seinem Schreibtisch in seinem eigenen Büro, das sich in dem Wohnwagen, der als Hauptbüro der Farm fungiert, befand, erörterte
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John einige der Schwierigkeiten eines landwirtschaftlichen Familienbetriebs: »Es unterscheidet sich von anderen Unternehmen, wo du ein Geschäft aufbaust und es dann verkaufst oder eine bestimmte Profitabilität erreichst, mit der du zufrieden bist. In unserem Geschäft wollen wir es für die nächste Generation weiterentwickeln. Das bedeutet, dass ich – wenn ich dann in Rente gehe, weißt du – keine Dollars aus der Firma mitnehme, weil das für die nächste Generation ein Loch hinterlassen würde. Das wissen wir und darauf richten wir unsere Aufmerksamkeit.« Während meines zweiten Sommers im Skagit Valley stimmte John einem Gespräch mit verschiedenen interessierten Anwohner·innen zu, das von einer lokalen Organisation, die sich für Wanderarbeiter·innen engagiert, veranstaltet wurde. Das Gespräch fand in einem Konferenzraum im zweiten Stock der Verarbeitungsanlage auf der Farm statt, von wo aus durch ein großes Fenster die Fließbandarbeiter·innen in gelben Gummianzügen und Haarnetzen zu sehen waren. John nahm die Fragen des vornehmlich weißen Publikums aus etwas mehr als 20 Personen an und die Antworten wurden für die zwei teilnehmenden spanischsprachigen Anwohner·innen übersetzt. Hier beantwortete er Fragen über die zentralen Probleme der Farm. John: Die Herausforderung für uns in der Geschäftsführung ist es, unseren Marktanteil zu halten. Der Unterschied ist, dass der Mindestlohn in South Carolina bei 5,75 Dollar pro Stunde liegt. In Washington zahle ich den Pflücker·innen 7,16 Dollar, den staatlichen Mindestlohn, konkurriere aber auf dem gleichen Markt. Das ist ein enormer Unterschied, ein enormer Unterschied. Ich würde sagen, die größte Herausforderung ist wahrscheinlich die Konkurrenz im Ausland. Zum Beispiel China: Die könnten eine Erdbeere billiger nach San Francisco bringen und an ein Restaurant liefern, als wir das können. Und noch billiger nach Japan. Wir zahlen 7,16 Dollar die Stunde. In den meisten Ländern, über die wir hier sprechen, China oder Chile oder wo auch immer, zahlen sie das nicht einmal für einen ganzen Tag! Nun ist die andere Seite die Frage der Arbeitskräfte. Das ist das nächste – wahrscheinlich das größte – Problem der heutigen Landwirtschaft. Im Moment, heute, scheint die Lage entspannt zu sein bezüglich der Arbeitskräfte, die wir haben und die wir für verfügbar halten. Mit Blick auf die Zukunft wird das aber, denke ich, zum Problem werden. Wir müssen entweder einen Weg finden, das, was wir heute tun, mit Maschinen zu tun. Oder wir müssen den richtigen Arbeitsmarkt finden, der
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uns weiterhin mit den Arbeitskräften versorgt, die wir brauchen werden, um unsere Früchte zu ernten. Das ist ein mehrdimensionales Problem. Es ist so, dass die erste Generation herüberkommt und bereit ist, in den Feldern zu arbeiten. Aber die nächste Generation, die hier zur Schule geht, die hat nicht diese Leidenschaft für die Feldarbeit. Anwohnerin: Da sehen dann 14 Dollar die Stunde im Trockenbau schon richtig gut aus [lacht]. John: Angesichts der Bildung und weiterer Möglichkeiten machen sie andere Sachen, das ist in Ordnung. Ich habe überhaupt kein Problem damit – ich meine, unsere Familie hat dasselbe gemacht. Ich gehe in die 1940er Jahre zurück: Wir haben kanadische Indigene gesehen; und spanischsprachige Leute, nicht aus Mexiko, aber innerhalb von Ost-Washington und Oregon, Kalifornien, Texas.9 Das war der Anfang. Dann hatten wir die Leute aus Kambodscha und Vietnam. Und dann begann die Migration der Hispanics aus Mexiko. Und dann machten sie längere Wege. Sie kamen bis aus dem Bundesstaat Oaxaca, wo heute viele von ihnen herkommen. Den gleichen Trend sehen wir bei den Generationen: Die erste Generation arbeitet auf den Feldern, viele bleiben auf deinem Hof; aus der nächsten Generation bleiben weniger bei dir und mehr von ihnen bekommen Bildung und machen andere Dinge. Ich
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Anmerkung zur Übersetzung: Die spanische Sprache kam nicht vornehmlich durch Einwanderung in die USA, sondern sie war schon da. Daher stammt der aktivistische Ausspruch: »We did not cross the border, the border crossed us!« [Wir haben nicht die Grenze überquert, sondern die Grenze uns.] Infolge des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs (1846-1848) trat Mexiko im Vertrag von Guadalupe Hidalgo knapp 1,4 Millionen Quadratkilometer seines Territoriums an die USA ab. Mexiko verlor beinahe die Hälfte seines vormaligen Territoriums und die Grenze zu den USA wurde drastisch neu gezogen. Die Fläche der heutigen US-Staaten Kalifornien, Utah, Nevada, der Großteil Arizonas, die Hälfte von New Mexico, ein Viertel von Colorado, ein Zipfel von Wyoming sowie Texas wurde so zu US-amerikanischem Gebiet. Mehr als 100.000 indigene und spanische Mexikaner·innen, die das Gebiet bewohnten, hatten ein Jahr Zeit, um sich für die mexikanische oder die US-amerikanische Staatsangehörigkeit zu entscheiden, sonst würden sie automatisch zu US-Staatsbürger·innen (schätzungsweise 80.000 Menschen). Mexikaner·innen mit europäischer Abstammung wurden im Rassifizierungssystem der USA als »weiß« erachtet und erhielten das Wahlrecht. Die von dieser Grenzverschiebung betroffenen indigenen Mexikaner·innen hingegen erhielten bis in die 1930er Jahre hinein keine volle US-Staatsbürgerschaft. Dieser älteste Vertrag, der noch heute zwischen den USA und Mexiko in Kraft ist, schrieb große Ungleichheiten zwischen den beiden Ländern fest, die ihre Beziehung und politische Entwicklung bis heute prägen. (https://reimaginebelonging.de/ereignisse/united-states/8 0-000-mexikanerinnen-werden-us-staatsangehorige)
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bin überzeugt, dass jede Bevölkerungsgruppe mit der dritten Migrationsgeneration die Landwirtschaft verlässt. Es sei denn, die Leute besitzen eine Farm und führen sie selbst. John erkennt an, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflücker·innen so schlecht sind, dass jede Gruppe sich so schnell wie möglich aus dieser Position hinausbegeben wird. Die Pflücker·innen kommen zu jeder Zeit aus den verletzbarsten Bevölkerungsgruppen. Sobald diese Gruppen gesellschaftlich und wirtschaftlich aufsteigen, nimmt eine noch stärker ausgebeutete und unterdrückte Gruppe ihren Platz ein. Im Verlauf meiner Feldforschung haben die Kinder der Triqui-Migrant·innen in der Schule Englisch gelernt. Sie hoffen darauf, andere Arbeit zu finden, auch wenn ihnen aufgrund der Vorurteile und rassistischen Hierarchien in den USA bislang nur sehr wenige andere Möglichkeiten offenstehen. Einerseits fungiert dieses Narrativ der ethnisierten Nachfolge als Rechtfertigung für die Misere der Gruppe, die aktuell ganz unten in der Hierarchie steht. Das heißt, sie scheint den Eindruck zu fördern, dass es okay ist, wenn bestimmte Kategorien von Menschen gegenwärtig unter schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen leiden, weil auch andere Gruppen diese Bedingungen in der Vergangenheit schon aushalten mussten. Manche Menschen verstehen dies mittlerweile als eine naturgegebene Evolutionsgeschichte. Johns jüngerer Bruder Rob Tanaka ist direkt für die landwirtschaftliche Produktion auf der Farm verantwortlich. Rob ist ein großgewachsener, bärtiger Mann mit einer freundlichen und sanften Persönlichkeit. Er plant alles – vom Setzen bis zur Ernte – und beaufsichtigt jene, die den Anbau der einzelnen Pflanzenarten verantworten. Sein Büro befindet sich in einem kleinen Haus inmitten von Beerenfeldern, mehrere Meilen von den Hauptbüros entfernt. Er verbringt die meiste Zeit in seinem Büro, arbeitet aber auch vom Laptop aus, im kleinen Wohnzimmer im Hauptbürogebäude und besucht häufig die Felder. Rob erzählte mir in mehreren Gesprächen – in diesem Raum – von seinen beruflichen Sorgen. Seine Hauptsorge bezog sich konkret auf die Landarbeit – das Wetter, die Insekten und Vögel, die Bodenqualität, die Arbeitskräfte –, doch ihn beschäftigte auch die Konkurrenz und das Überleben der Farm. Seth: Was macht am meisten Probleme? Rob: Für uns ist es die Frage der Arbeitskraft. Wir können hier die besten Pflanzen ziehen, aber wenn wir keine Leute für die Ernte haben, gehen wir unter. Und das Wetter. Es gibt Überschwemmungen, Frost. Ein Frost tötet die wachsenden
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Knospen, so können wir zwischen 5 und 40 Prozent der Ernte verlieren. Und die Vorschriften sind ein ziemliches Problem. Vorschriften, die unsere Praxis verändern, rauben uns die Gewinnmarge und das Geld fließt woanders hin. Hinzu kommt die zunehmende Verstädterung. Wir werden darum kämpfen, Familienbetriebe in der Landwirtschaft zu erhalten, wenn es sein muss. Wenn wir versuchen, eine Farm zu betreiben und weiterzugeben und plötzlich werden hier all diese Gebäude errichtet, dann sagen wir: »Eh, warte mal, ich dachte, wir könnten noch weitere hundert Jahre hier im Tal Landwirtschaft betreiben.« Wo auch immer die Grenze des Wachstums liegt, der Typ auf der anderen Seite des Zauns wartet nur darauf, zu verkaufen, weil es doch alles eine ökonomische Frage ist. Das verstehe ich. Hättest du lieber 200 Piepen oder 200.000? Wie soll die Landwirtschaft sich damit messen? Besonders jetzt, da die Verarbeitung ausgelagert wird und die Produktion ins Ausland geht, wo es billiger ist. Für alles sind die Kosten gestiegen, aber die Preise sind quasi gleich geblieben. Früher waren das alles getrennte Firmen: die Pflanzenschule, die Farm, die Verarbeitung, der Vertrieb. Heute machen wir das alles hier und hoffen, so überleben zu können. Ich bin sehr besorgt darüber, unseren Betrieb zu erweitern. Jedes Mal, wenn wir entscheiden, etwas Größeres zu machen, denke ich »Wow, willst du dir noch mehr den Kopf zerbrechen? Bist du sicher?« [schmunzelt] Und wir versuchen, für die Zukunft unserer Kinder und der nächsten Generation und für die Zukunft der Gemeinschaft vorzusorgen… Im Moment steigt der Absatz der Blaubeeren, die durch eine ziemlich gute Marketing-Kampagne an Beliebtheit gewonnen haben. Die gesundheitsfördernden Aspekte der Blaubeeren wurden in den letzten zehn Jahren wirklich viel beschworen. Wenn wir das nicht hätten, ginge es uns glaube ich schlecht. Seth: Einige eurer Blaubeeren sind bio, richtig? Die neben dem Camp 2? Rob: Yeah. Ja, das soll das Risiko verteilen. Wir haben unser Risiko gesenkt, Schulden zu machen, aber der Ertrag ist auch nicht so toll. Die Hoffnung ist, dass er stabil wird, statt das hier zu machen [bewegt seine Hände hoch und runter]. Und wenn wir alles andere aufgeben, könnte uns das ein stetes Einkommen schaffen, so wie ein ziemlich konservativer Investmentfonds gegenüber der Spekulation auf Technologie-Aktien. Stell dir vor, wir bauen ein Portfolio aus Früchten. Manche bringen mehr Risiko als andere; es ist dasselbe. Zum Beispiel Äpfel: Wir hatten geplant, dieses Jahr 20 Morgen aus dem Betrieb zu nehmen, aber wir werden mit ihnen ein bisschen Geld machen, also machen wir das … Seth: … eher nicht [kichert]. Rob: Yeah.
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In einem anderen Gespräch erzählte mir Rob von einem kürzlichen Treffen der Geschäftsführer hinsichtlich der Frage, ob sie ein »großartiges Unternehmen« oder ein »Level-5-Unternehmen (nach Maslows Bedürfnispyramide)« werden würden. Er erklärte, dass er jedes Mal, wenn er das Wort »great« in der Diskussion hörte, nur noch die Profitabilität für die Anteilshaber·innen erkannte. Er erinnerte sich, dass er darüber wütend wurde und sagte: »Wir haben schon ein großartiges [great] Unternehmen und wenn es das ist, was eine Firma großartig macht, dann möchte ich eine gute Firma sein.« Er beschreibt seine Frustration mit der zunehmenden Unternehmenslogik und Bürokratisierung der Farm. Er mochte den Betrieb mehr, als er noch ein kleiner Familienbetrieb war und er »nicht all diese Schleifen drehen musste, um einen Scheck auszustellen.« Später erklärte er seine Ziele hinsichtlich der Pflücker·innen. »Wir setzen auf gerecht und beständig. Wenn eine·r von ihnen fehlt, fehlt dir ein Bein. Ich hoffe, wir bleiben mit unserer Gemeinschaft in Kontakt, sowohl den hier lebenden als auch mit den Wanderarbeiter·innen. Ich hoffe, dass sie mich als gerechte Person sehen.« Rob Tanaka befindet sich in einer Zwickmühle. Er muss den Betrieb vergrößern, um auf dem Markt zu bestehen und versucht zugleich, »in Kontakt mit« den Pflücker·innen zu bleiben und sich der Entwicklung zu widersetzen, dass die Farm ein weiteres unpersönliches Agrarindustrieunternehmen wird. Tom, ein weiterer Geschäftsführer, ein hagerer, weißer Mann in seinen Vierzigern, wurde von der Tanaka-Familie hinzugezogen, um die Farm dabei zu unterstützen, im internationalen Kleinobstmarkt zu bestehen. Er hat ein Büro in dem Trailer mit den anderen Büros der Geschäftsführung, wobei er sich mehr als die anderen um dessen Dekoration bemüht hat. Sein Büro wird von einem Gemälde geschmückt, das Arbeiter·innen beim Pflücken von Erdbeeren in China zeigt – einem jener Orte, zu dem er in Konkurrenz steht. Vorher hat Tom die Verarbeitung und Vermarktung eines großen mexikanischen Erdbeererzeugers geleitet. Auf der Tanaka-Farm beginnt sein Job vor dem Sonnenaufgang – wenn er seine Wettbewerber und möglichen Käufer in Polen, China und Chile anruft. Später am Tag kann er Pausen machen, um Freund·innen zu treffen oder essen zu gehen. Er versucht jeden Tag, einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen, indem er Früchte von anderen Höfen hinzukauft, um sie zu verarbeiten und dann zu verkaufen. Über mehrere Monate hinweg beschrieb Tom mir gegenüber, die krassen Wettbewerbsnachteile der Farm im inländischen und internationalen Zusammenhang.
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Tom: In Oregon (und) Washington haben wir Totem [Erdbeersorte]. Lass sie uns als Northwest bezeichnen. Die aktuell große Rote in Kalifornien ist die Camarosa. Diese California geht auf den Konserven- und den Frischmarkt. Da machen sie das große Geld. Konserven, Füllungen, Saftkonzentrate, Pop-Tarts [von Kellogg’s vermarktetes süßes Teiggebäck], Gelees, alle Süßungsmittel mit Erdbeergeschmack; alles, was mit Lebensmittelwissenschaften zu tun hat. Die sind mein Feind, die Lebensmittelforschung. Sie nehmen eine nicht besonders schmackhafte Erdbeere – du hast die Camarosa ja probiert. Sie ist nicht besonders geschmacksintensiv. Sie ist weiß in der Mitte. Wenn du sie einkochst, löst sie sich einfach auf. Sie fügen dann Zucker, Süßungsmittel und Farbstoffe bei, um diese Erdbeere zu strecken. Du nimmst also eine sehr billige Erdbeere, fügst ihr Zeug bei und streckst sie. Wenn du also eine Pop-Tart isst, schmeckst du etwas Süßes, das vielleicht an eine Erdbeere erinnert. Die Sorte Northwest hingegen ist für Molkereiprodukte. Der Markt, den ich verfolge, ist der für Joghurt und Eiscreme, weil die Erdbeere selbst, in ihrer natürlichen Form, das Produkt tragen muss. Northwest ist komplett rot. Wenn du dir also zum Beispiel die Eiscreme von Häagen-Dazs anschaust, siehst du Vanille, Sahne, Zucker und Erdbeere. Wenn du eine aus California kaufst, findest du Emulgatoren; es könnten 20 verschiedene sein. Seth: Warum gibt es Northwest nicht verbreiteter auf dem Frischmarkt? Tom: Weil man sie nicht mal auf die andere Straßenseite transportieren kann; es ist schon schwierig, sie bis nach Seattle zu bringen. Du siehst ja, wie sie in unserer Verarbeitungsanlage ankommen, da tropft schon der Saft raus. California verschiffe ich 40 Stunden lang von Oxnard und sie kommen in besserem Zustand hier in der Anlage an als unsere eigenen Früchte. Camarosa sind ein Traum für den Vertrieb; sie sind wie Kartoffeln, sie sind steinhart. Ich konkurriere vor allem mit Polen, weil deren Sorte dem, was wir hier oben machen, am ähnlichsten ist. Wenn Polen eine schlechte Ernte hat, kann ich Produkte für Häagen-Dazs Europe nach Frankreich bringen. Die Sorte aus Chile und China ist eher vom Typ California. Letztes Jahr haben sie Totem in China eingeführt, das ist also unsere nächste Bedrohung. Ich denke, unsere Wettbewerbsnachteile liegen nicht bloß in den Nachteilen von Northwest gegenüber California. Ich denke, die US-amerikanische Erdbeerindustrie hat insgesamt Probleme. Wir sind gezwungen, den ganzen Weg der Beere ab der Farm kenntlich zu machen, um sicherzustellen, dass wir nicht zu viele Pestizide nutzen. In China hingegen machen sie das nicht. Ich bin kein Optimist hinsichtlich der Zukunft der Northwest-Erdbeere. Sie ist teuer. Wenn du zum Beispiel mit einer Farm hier sprichst, werden sie dir sagen, dass sie 50 Cent pro Pfund ab Feld wollen. Ich kann hier gefrorene Camarosa als fertiges, aus
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China importiertes Produkt der Güteklasse A für 40 Cent das Pfund kaufen. Deswegen bezahlen sie den R&D-Leuten [in Forschung und Entwicklung] 80.000 Kröten im Jahr, damit sie sie strecken. Am Ende geht es ums Haushalten. Also halte ich an einer absolut schrumpfenden Kundenbasis fest. Anfang des Jahres ist ein Käufer von einer halben Millionen Pfund abgesprungen. Die sind nach Chile gegangen. Ich kann es ihnen nicht verübeln; so ist das eben. Ich hoffe bloß, dass Häagen-Dazs weiter bei uns kauft. Die Geschäftsführer, die ich hier vorstellt habe, sorgen sich um das Überleben der Farm für künftige Generationen, das sie entgegen der trüben Aussichten in Landwirtschaft und Markt zu sichern versuchen. Sie haben lange Arbeitstage, zerbrechen sich über viele Faktoren den Kopf, die sie nur teilweise kontrollieren können und wären gern ein ethisch verantwortlicher Betrieb, der seine Arbeiter·innen gut behandelt. Sie haben eine gewisse Kontrolle über ihren eigenen Zeitplan. Sie machen Pausen wann sie möchten, um zu essen oder zu trainieren, zu telefonieren oder eine·n Freund·in zu treffen. Sie sind finanziell verhältnismäßig abgesichert und haben gemütliche, ruhige Wohnhäuser mit eigenen Bädern und Küchen, Isolierung und Heizung. Zudem haben sie eigene Innenraumbüros mit Telefonen und Computern sowie Mitarbeiter·innen, die »unter ihnen« arbeiten, – wie sie es nennen.
Verwaltungsassistentinnen Die meisten Verwaltungsassistentinnen sind weiß, hinzu kommen ein paar Latinas mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft. Alle sind Frauen. Sie arbeiten im Sitzen, an Schreibtischen in Gemeinschaftsbüros ohne Privatsphäre. Sie bedienen den Empfang, interagieren mit weißen Anwohner·innen und Geschäftsleuten ebenso wie mit mexikanischen Landarbeiter·innen. Sally ist die ganzjährige Hauptrezeptionistin. Sie ist eine schlanke, weiße Frau um die 40, die häufig ein Lächeln im Gesicht trägt. Sie ist im gleichen Ort aufgewachsen, in dem die Farm liegt, und lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem relativ kleinen Haus. Der Rezeptionsschreibtisch stand früher in einer anderen Richtung als der Empfangstresen, so dass jede Person, die hereinkam, sich dem Rücken der Rezeptionistin näherte. Sally versucht, die Arbeiter·innen gut zu behandeln. Dazu gehörte als erste Tat, als sie anfing hier zu arbeiten, den Schreibtisch in deren Richtung umzudrehen.
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Sie half, Darlehen für die mexikanischen Landarbeiter·innen einzurichten, als die Pflücksaison in einem Jahr nach hinten verschoben wurde und die Arbeiter·innen in ihren Autos lebten und auf den Saisonbeginn warteten – ohne Geld und Essen. Die Aufseher·innen und Geschäftsführer tadelten Sally manchmal dafür, zu nett mit den Arbeiter·innen umzugehen. Ihr wurde schon gesagt, sie solle »kürzer angebunden«, »schneller« und »weniger freundlich« sein. Zuweilen fühlte sie sich von den Leuten »über ihr« (wie sie es ausdrückt) nicht respektiert und wie eine »Tagelöhnerin« behandelt. Sie beschwerte sich bei mir, dass diese Leute ihr häufig Ratschläge über ihre Arbeit gäben und Aufträge ohne die übliche Höflichkeit wie »Bitte« oder »Danke« an sie herantrügen. Samantha ist eine weiße, zweisprachige Verwaltungsassistentin in ihren Mittfünfzigern, die vor zwei Jahren eingestellt wurde, um die Arbeit mit den spanischsprachigen Mitarbeiter·innen zu unterstützen. Zuvor hatte sie als Reisekauffrau mit Schwerpunkt auf Spanien und lateinamerikanische Länder gearbeitet. Sie lebte allein auf einem kleinen Grundstück, mehrere Meilen von der Farm entfernt, mit ein paar eigenen Nutztieren. Ihr Schreibtisch stand im Flur neben dem Haupteingang und den privaten Büros der Geschäftsführer. In ihrem ersten Jahr auf der Tanaka-Farm wurde ihr erstmals der Unterschied zwischen »normalen Mexikaner·innen« (wie sie sie nannte) und indigenen Mexikaner·innen bewusst. Im Verlauf unserer Begegnungen beschrieb sie indigene Mexikaner·innen aus Oaxaca als »schmutzig« und »einfach« und sagte Dinge wie: »Sie wissen nicht mal, wie man ein Bankkonto benutzt.« Maria ist eine 30-jährige Latina aus Texas. Ihre Urgroßeltern waren aus Mexiko in die USA gezogen. Sie lebte in dem ganzjährigen Camp mit Heizung und Isolierung, das am nächsten an den Büros liegt. Sie arbeitete von Mai bis November in verschiedenen Positionen, manchmal am Schreibtisch mit Sally, manchmal in dem mobilen Büro, wo Pflücker·innen am Nachmittag Fragen stellten und ihre Post abholen konnten. Freitags arbeitete sie in dem Holzschuppen, wo Lohnschecks an die Arbeiter·innen ausgeteilt werden, die in einer langen Schlange warten. In den ersten Sommern auf der Farm – einschließlich des Sommers, in dem sie schwanger war – pflückte sie Beeren und arbeitete mit einer Hacke. Nach vier Arbeitsjahren an der Hacke wurde sie in die Schreibtischarbeit versetzt – vor allem, weil sie fließend Englisch sprach. Wie Samantha begegnete sie indigenen Mexikaner·innen erstmals durch ihre Arbeit auf der Farm. Sie erklärte mir ihre Arbeit, während wir in der mobilen Büroeinheit saßen und ab und zu unterbrochen wurden, wenn ein·e Pflücker·in Post abholte.
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Es ist ziemlich leicht, mit mir klarzukommen. Ich denke, deshalb bin ich seit fünf Jahren im Büro. Ich versuche diesen Leuten zu helfen: Etwa kam gerade einer und es ging um seine Karten [auf denen markiert ist, wie lange und viel eine Person gepflückt hat]. Ich kann Probleme bekommen, wenn ich irgendwas mit diesen Karten mache, weil es nicht meine Aufgabe ist. Aber ich mache es meistens trotzdem, weil ich sie verstehe. Ich habe da angefangen wie sie; ich habe ganz unten angefangen. Diese Saison war verrückt und voll. Letzte Woche habe ich 108 Stunden gearbeitet. Und dann versuchst du, Antworten [für die Pflücker·innen] zu bekommen; manchmal versuchst du, Antworten zu bekommen, aber es wird nur den Fragen ausgewichen. Einer der Tanakas ist wirklich hilfreich. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich gleich zu ihm. Er hört meistens zu und ist ziemlich verständnisvoll. Die Verwaltungsassistentinnen sind verantwortlich für die Ausführung von Aufgaben für die Geschäftsführung. Sie bieten ein freundliches Gesicht nach außen und verwalten streng nach innen. Sie arbeiten sechs oder sieben Tage die Woche, im Innenraum an Schreibtischen, ohne Privatsphäre, wobei sie regelmäßig Anrufe entgegennehmen, die sie von ihren anderen Aufgaben ablenken. Sie sorgen sich um die Stimmungen und Meinungen ihrer Chefs. Sie erhalten den Mindestlohn und bekommen Überstunden nicht bezahlt, da die Landwirtschaft nicht unter die US-amerikanische Gesetzgebung zu Überstunden fällt.10 Sie machen Mittagspause und können Pausen machen, um zur Toilette zu gehen, solange gerade niemand da ist und in dem Moment ihre Unterstützung braucht.
Die Erntemanager Die Erntemanagerverantworten alle Details, die mit der effizienten Produktion einer bestimmten Anbaupflanze zu tun haben: vom Pflügen bis zum Setzen, vom Beschnitt bis zur Schädlingsbekämpfung, vom Pflücken bis zur Lieferung an die Verarbeitungsanlage. Sie haben private Büros in dem Feldhaus inmitten der Blaubeer- und Erdbeerfelder in der Nähe des größten Arbeitscamps an der Landstraße Christensen Road, wobei sie eine beachtliche Zeit auf den Feldern herumlaufen und sie beaufsichtigen. Während der Ernte beginnen sie ihre Arbeit um fünf Uhr morgens, an sieben Tagen pro Woche, und beenden sie am frühen Abend. Sie können eine Pause machen, wenn sie
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Vgl. Sakala 1987.
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wollen, um zu essen, Erledigungen zu machen oder nach Hause zu gehen. Die Erntemanager sorgen sich um die Verfügbarkeit von Gerätschaften, die Auswirkungen des Wetters auf die Pflanzen und die Fügsamkeit ihrer Arbeitskräfte. Sie haben eine gewisse Kontrolle darüber, wie viel Lohn die Pflücker·innen erhalten und haben einige Feldaufseher·innen unter sich, die ihre Anweisungen umsetzen. Jeff ist ein 30-jähriger weißer Mann, der kürzlich einen Abschluss in Landwirtschaftsmarketing an einer Universität in Kalifornien erlangt hat. Er ist für die Blaubeeren und Himbeeren zuständig. Jeff erzählte mir von seinem Job, als wir zusammen in seinem weißen Pick-up fuhren – hinten drauf zwei große Hunde. Wir fuhren zu einem Landwirtschaftshandel und kauften große Betonabflüsse für die Blaubeerfelder sowie zu Costo, um besonders hochwertige, teure Steaks zu kaufen, die er zu einem gemeinsamen Essen in seiner Kirche mitbringen wollte. Er erklärte mir die verschiedenen Aufgaben auf dem Himbeerfeld, damit ich verstand, wie viele Dinge ein Erntemanager gleichzeitig überblicken muss. Seine größte Sorge war die Vielzahl an Chefs in einem Familienbetrieb ohne eine strenge Befehlskette. Er sorgte sich auch um das Wetter und die Erntecrews. »Es ist, wie es ist«, sagte er zu mir: »Manchmal treten Leute in Streik und manchmal pflücken sie. Es ist ein bisschen wie das Wetter; du kannst es nicht wirklich vorhersehen und du hast eigentlich keine Kontrolle darüber, aber normalerweise funktioniert es am Ende doch.« Er fuhr fort: »Wir machen faire Preise. Wenn die Crew also in Streik tritt, sagen wir einfach: »Hey, wir werden auch morgen hier sein‹ und so ist das eben. Sie können zurückkommen, wenn sie wollen.« Er erzählte mir, dass alle Leute, die an den Himbeermaschinen arbeiten, Latin@s aus Texas seien, während die Menschen, die die Blaubeeren pflücken, »O-hacan« (aus Oaxaca) seien. Dabei sagte er mir zugleich, dass er den Unterschied nicht erkennen könnte. In jener Woche unseres Gesprächs war Jeff mitten in der Budgetplanung für das folgende Jahr und versuchte das Ernteergebnis vorherzusagen. Jedes Jahr macht er Vorhersagen auf Grundlage der gezählten Knospen: Für jede Knospe im Herbst erwartet er sieben Beeren im folgenden Sommer, wobei ein Frost die Früchte kleiner machen oder die Knospen komplett vernichten könnte. Scott ist ein schlanker, mittelalter weißer Mann, der von einer großen Apfelplantage in Ost-Washington auf die Tanaka-Farm gekommen ist. Er verwaltet die Erdbeerpflanzen und Apfelbäume. Er sprach mit mir in seinem privaten Büro, das sich ebenfalls in dem Feldhaus befindet, sowie auf den Feldern, während ich Erdbeeren pflückte und er herumlief und mit Leuten sprach – wobei er zwischendurch Beeren aß. Er erklärte mir die Anzahl der
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Arbeiter·innen auf der Farm – annähernd 500 Personen im Sommer und 50 im Winter – und was in den verschiedenen Jahreszeiten getan wird. Seine Hauptsorgen drehten sich um die Führung der Arbeitskräfte, »was manchmal ziemlich überfordernd ist«. Das folgende Interview fand nach einem kurzen Streik der Erdbeerpflücker·innen im Spätsommer statt. Seth: Was bereitet dir als Erntemanager die meisten Sorgen? Scott: Vieles [lacht]. Verdammte Veränderungen, beinahe täglich. Wenn die Erdbeerernte näher rückt, gibt es einen großen Schub, wenn die Camps sich zu füllen beginnen. »Werde ich genug Pflücker·innen bekommen?« Die Sorge ist eigentlich nicht, dass es zu viele sein könnten, sondern immer, ob ich genug bekommen werde… Sobald ich sehe, dass wir 300 Leute in den Camps haben, erleichtert das diese Sorge ein bisschen. Ich kann mit 300 Leuten Erdbeeren pflücken, aber mit 350 ist es viel besser. Wenn es an die 400 sind, dann kommt die Sorge, dass du zu viele Leute hast. Dann können sie nur vier Stunden am Tag arbeiten. Wenn du 400 Leute hast, dann ist das Feld ziemlich schnell fertig. Also versuchen wir es zwischen 350 und 400 zu halten, so dass alle einen richtigen Arbeitstag haben. Sie können hinreichend Geld verdienen und mit dem Gefühl rausgehen, einen ganzen Arbeitstag gehabt zu haben. Dann haben sie ihren Lohn gemacht und genug Zeit, um sich für den nächsten Tag zu erholen. Wenn die Erdbeeren gut laufen, dann ergeben sich die anderen Früchte wie von selbst. Aber wir könnten es nicht machen ohne die Leute, die herkommen und das für uns erledigen. Der [Streik], den wir dieses Jahr hatten, war eine große Nummer. Er hat mir Sorge bereitet. Seit ich hier arbeite, habe ich einige der Tanakas kennengelernt. Sie wollen alle ihre Leute gut behandeln. Das ist ein großer Antrieb für sie. Wenn dann also so etwas passiert, nehmen sie sich wirklich zurück, um zu sehen, wie alles genau läuft. Du findest fast immer einen Tanaka draußen auf dem Feld. Sie packen immer noch wirklich an. Seth: Und das ist anders als auf anderen Farmen, die du kennst? Scott: Oh ja. Die Farm, die ich im Osten Washingtons geleitet habe, hatte 150 Morgen Land. Den Mann, dem der Betrieb gehörte, sah ich nur zwei Mal im Jahr. Es war ein großer Wechsel für mich, als ich hierher kam, dass der Mann, dem die Farm gehört, da draußen ist und auf dem Gelände arbeitet. Ich denke, das ist wirklich rundum gut für die Stimmung. Das ist einfach die Arbeitsethik der Tanakas. Sie – sie packen echt an. Wenn du da draußen bist und sieben Tage die Woche 14 Stunden arbeitest, tun sie es auch – und normalerweise arbeiten sie länger als alle anderen. Du siehst, wie John um 3 Uhr morgens ankommt und vielleicht bis 7, 8, 9 Uhr am
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Abend bleibt. Von Sonnenaufgang bis es dunkel ist, das liegt eben in der Natur der Landwirtschaft. Heute wird viel über Einwanderung und die Grenze und solche Sachen geredet. Die Leute geben am Ende eine Menge Geld aus, um hier rauf zu kommen zum Arbeiten. Ich denke, wir sollten der Politik sagen, auch wenn das nicht beliebt ist oder so, dass es eine Menge Bedarf nach ihnen gibt, dass sie hier arbeiten müssen. Das ist eine Tatsache. Nachdem ich mein Aufnahmegerät ausgeschaltet hatte, fragte Scott mich nach meinem Interesse, mit einigen der Triqui-Arbeiterdie Grenze zu überqueren. Erst schlug er mir vor, eine Erlaubnis von der nationalen Regierung einzuholen. Später hatte er es sich anders überlegt und sagte, dass es damit das Problem gebe, dass sie mich dann nach all den Informationen fragen würden, wo ich über die Grenze gekommen sei. Er fürchtete, dass die Regierung dann diese Route sperren würde »und wir keine Arbeiter·innen mehr [hätten].« Er erklärte mir, dass wahrscheinlich 90 Prozent der Pflücker·innen ohne Aufenthaltsstatus waren. Die Profile der Erntemanager bringen die praktischen Versuche der Verwaltung in den Blick, inmitten schwieriger Bedingungen eine gute, ethisch verantwortliche Farm zu betreiben. Zusätzlich zeigte sich Scott überaus besorgt über die direkten Auswirkungen von Einwanderungs- und Grenzpolitiken auf seine Arbeitskräfte. Wie viele Hofbetreiber·innen, mit denen ich gesprochen habe, wusste er, dass die aktuelle Struktur der US-amerikanischen Landwirtschaft ohne undokumentiert eingereiste, lateinamerikanische Wanderarbeiter·innen nicht möglich wäre.
Aufseher·innen Unter jedem Erntemanager arbeiten mehrere Aufseher·innen, die oft als crew bosses bezeichnet werden. Sie stehen jeweils einer Crew von 10 bis 20 Pflücker·innen vor. Sie gehen durch die Reihen und begutachten die Arbeit der Pflücker·innen. Sie weisen sie an, schneller zu pflücken,weniger Beeren zurückzulassen, weniger Blätter in die Beereneimer mitzunehmen oder weniger Pfund Beeren pro Eimer zu pflücken. Die Crew-Chef·innen werden stets von den Erntemanagern beobachtet, können aber kurze Toilettenpausen machen und führen oft unbeschwerte Unterhaltungen mit Kolleg·innen. Die meisten von ihnen sind US-amerikanische Latin@s, es gibt aber auch ein paar wei-
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ße US-Amerikaner·innen, ein paar »mestizische« Mexikaner·innen und einen mixtekischen Indigenen aus Oaxaca. Die meisten Crew-Chef·innen leben im ganzjährigen Camp, in isolierten Unterkünften. Die Crew-Chef·innen der »mexikanischen Crews« (wie sie genannt werden) arbeiten den ganzen Tag draußen, gehen herum und beaufsichtigen, geben Anweisungen und Verwarnungen. Die Chefin der lokalen weißen Crew hat ein eigenes privates Büro im Hauptgebäude der Farm, verbringt aber regelmäßig Zeit mit der Aufsicht auf den Feldern. Einige der Crew-Chef·innen behandeln die indigenen Pflücker·innen mit Respekt, andere rufen sie mit ausdrücklich beleidigenden und rassistischen Namen. Der Crew-Chef, dem Pflücker·innen am häufigsten eine solche rassistische Behandlung vorwerfen, hat eine Tochter namens Barbara, die ebenfalls als Crew-Chefin arbeitet. Barbara ist eine zweisprachige Latina aus Texas in ihren frühen Zwanzigern, die seit elf Jahren während der Erntezeit auf der Farm mitarbeitet. Sie besucht in Texas das Community-College und möchte Geschichtslehrerin werden. Sie ärgert sich darüber, dass andere Crew-Chef·innen die Menschen aus Oaxaca als pinche Oaxaco [verdammter Oaxacaner] oder als indio estúpido [dummer Indianer] beleidigen. In einer Unterhaltung erklärte sie mir, dass die Leute aus Oaxaca zu viel Angst hätten, sich zu beschweren oder bessere Arbeitsbedingungen einzufordern, weil sie ihre Jobs nicht verlieren wollten. Sie beschrieb eine Regel auf der Farm, dass Pflücker·innen, die ein Mal von einer Crew-Chef·in gefeuert wurden, von niemandem auf der Farm jemals wieder angeheuert werden durften. Sie sagte: »Das ist ungerecht. Ich denke, es muss eine gegenseitige Kontrolle geben. Das ist ja hier keine Diktatur.« Ihre Familie hatte in Texas und in den von der Farm angebotenen Abendkursen Englisch gelernt. Die Geschäftsführer hatten die Absicht geäußert, dass diese Kurse für alle auf dem Hof zugänglich wären. Andere auf der Farm glaubten jedoch, dass die Kurse für alle Mitarbeiter·innen offen wären, außer für die Pflücker·innen. Dieser inoffizielle und doch wirksame Ausschluss der Pflücker·innen aus den Englischkursen schürte indirekt die Segregation auf der Farm. Mateo ist ein 29-jähriger mixtekischer Vater von zwei kleinen Kindern. Er arbeitet seit zwölf Jahren auf der Tanaka-Farm und besucht seit fünf Jahren die Englischkurse der Farm. Seine Familie hatte genug Geld, um ihn in Oaxaca die Sekundarschule abschließen zu lassen, bevor er emigrierte. Er spricht seine Muttersprache, Mixteco Alto und fließend Spanisch und ist die einzige Person aus Oaxaca, die einen anderen Job hat als das Pflücken. Er beaufsichtigt Pflücker·innen bei der Erdbeer- und der Blaubeerernte. Er hofft, weiter
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Englisch zu lernen und im Hofbetrieb aufzusteigen, bis er »mit dem Kopf statt mit dem Körper arbeiten [trabajar con la mente en vez del cuerpo]« kann. Mateo sorgt sich um die schwangeren Frauen in seiner Crew, die lange, harte Tage hindurch im Kontakt mit pestizidbedeckten Pflanzen pflücken. In einem Gespräch erklärte er, dass wegen der Arbeitsbelastung viele von ihnen zu früh gebären würden. Er sorgte sich wegen der geringen Bezahlung der Pflücker·innen. Die Bezahlung für Erdbeeren sei im vergangenen Jahrzehnt nur um wenige Cents pro Pfund gestiegen und die Bezahlung für Blaubeeren sei in den letzten Jahren gesunken. Barbara und Mateo drückten beide ihren Wunsch aus, die Arbeiter·innen gut zu behandeln. Die Strukturen, in denen sie arbeiteten, benannten sie aber als »ungerecht«. Einige der Crew-Chef·innen, die für ihren unverhohlenen Rassismus berüchtigt waren, hatten kein Interesse daran, von mir interviewt zu werden. Mateos Position als einziger Crew-Chef aus Oaxaca zeigt, wie wichtig die Ressourcen sind, Spanisch und Englisch zu lernen, um gesellschaftliche und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten zu haben. Shelly ist eine recht kleine, weiße Frau in ihren frühen Vierzigern. Sie hat mit sieben Jahren angefangen, in der lokalen Pflück-Crew zu arbeiten. Nach dem College kam sie zurück, um als Verwaltungsassistentin auf der Farm zu arbeiten. Dann heiratete sie Rob Tanaka und beaufsichtigt heute die Crews aus lokalen, weißen jugendlichen Pflücker·innen und Beerenprüfer·innen. Sie sieht den Sinn der lokalen Crews darin, dass den ansässigen Familien der Wert von Landwirtschaft eingeprägt wird und dass weiße Jugendliche lernen, Vielfalt zu respektieren. Die Wahrnehmungen und Einstellungen der weißen Pflücker·innen und Prüfer·innen sind natürlich komplizierter, wie ich später besprechen werde. In ihrem Büro erzählte mir Shelly, dass sie die Tage vermisse, in denen die Mehrheit der Pflücker·innen auf der Farm mestizische Mexikaner·innen waren, die sie als »traditionelle Mexikaner·innen« bezeichnet. Bei einer anderen Gelegenheit sagte sie mir, dass sie von den Pflücker·innen aus Oaxaca »genug habe«, und beschrieb sie als »schmutziger«, »weniger respektvoll« und weniger arbeits-, familien- und gemeinschaftsorientiert. Wie ich im Laufe meiner Feldforschung lernte, konnte ich die Wahrnehmungen und Beschreibungen zwischen den verschieden ethnisierten Gruppen nicht für bare Münze nehmen. Selbstverständlich waren die indigenen Mexikaner·innen buchstäblich schmutziger als ihre mestizischen Kolleg·innen: schlicht, weil sie im Dreck gebückt Erdbeeren pflückten, während Letztere auf Himbeermaschinen saßen oder als Crew-Chef·innen über die Fel-
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der liefen.11 Ich hatte nie irgendwelche respektlosen Handlungen seitens der indigenen Arbeiter·innen beobachtet oder davon gehört. Die Sprachbarriere erschwerte es auch, das zu wissen. Shelly sprach weder Triqui noch Mixtekisch und ihr Spanisch war dürftig. Die Pflücker·innen aus Oaxaca sprachen kein Englisch und viele von ihnen sprachen kein fließendes Spanisch. Shellys Vorstellung, die Pflücker·innen aus Oaxaca wären weniger arbeitsorientiert, stand der Einschätzung mehrerer Crew-Chef·innen konträr entgegen. Sie erklärten, dass die Triqui-Pflücker·innen die »mestizischen« und mixtekischen Pflücker·innen auf der Farm ersetzten, gerade weil sie so hart und schnell arbeiteten. Angesichts der Tatsache, dass die Triqui-Pflücker·innen üblicherweise mit der ganzen Familien migrierten und ich in den Camps an unzähligen Taufen und Geburtstagsfeiern im Familienkreis teilnahm – während mestizische Mexikaner·innen eher allein migrierten und ihre Familien in Mexiko ließen – erschien mir auch Shellys Blick, die Menschen aus Oaxaca, seien weniger familien- und gemeinschaftsorientiert, eine Fehlwahrnehmung zu sein. Stattdessen scheint sie den physischen Schmutz ihrer Arbeit symbolisch mit dem Charakter der indigenen Arbeiter·innen verknüpft zu haben.12 Zugleich hatte Shelly die begrenzte Möglichkeit der Beziehung zwischen ihr und den indigenen Arbeiter·innen aufgrund der Sprachbarrieren symbolisch als deren Charakterfehler projiziert.13 Die Profile der Aufseher·innen lassen die »de facto Apartheid«14 auf der Farm hervortreten und veranschaulichen eine Bandbreite an Reaktionen auf ethnisierte und klassenbedingte Unterschiede in einem ausbeuterischen System.
Prüfer·innen Lokale weiße Jugendliche stanzen die Start- und Schlusszeiten sowie das Gewicht eines jeden eingebrachten Beereneimers auf die täglichen Arbeitskarten der einzelnen Pflücker·innen. An meinem ersten Tag des Beerenpflückens
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Vgl. Orwell 1937. Andere Bedeutungen von »Schmutz« werden in Kapitel 6 erörtert. Vgl. ebd. In Kapitel 6 werden die Naturalisierung, Normalisierung und Rechtfertigung sozialer Hierarchien auf der Farm weiter besprochen. Vgl. Bourgois 1995. Zu den Zusammenhängen zwischen ethnisierten Beziehungen in Mexiko und den USA: vgl. Stephen 2007.
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kam ich um 5.10 Uhr morgens an, aber der Prüfer markierte meine Ankunftszeit als 5.30 Uhr. Jeden Tag, den ich pflückte, entsprach die Markierung entweder meiner tatsächlichen Anfangszeit oder sie war später – nie früher. In jenem Sommer erklärte mir einer der Aufseher dann auch, dass die Aufseher·innen den Prüfer·innen jeden Morgen eine bestimmte Zeit sagten, die sie auf allen Karten stanzen sollten. Er betrachtete diese Standardisierung als bloße Maßnahme, um für die Aufseher·innen und Prüfer·innen das Verfahren zu vereinfachen. Als Pflücker erlebte ich diese Standardisierung jedoch als ungerecht. Auch am Ende des Tages wurde den Prüfer·innen eine bestimmte Zeit vorgegeben, die sie auf den Karten stanzen sollten – häufig früher als die meisten Pflücker·innen zu arbeiten aufhörten. Über den Tag hinweg stellten die Prüfer·innen sicher, dass die eingebrachten Beeren reif und noch nicht verdorben waren und dass keine Blätter dabei waren. Sie saßen oder standen im Schatten von Schirmen oder in der Sonne und sie redeten und lachten miteinander. Sie sprachen mit den Pflücker·innen Englisch und ließen ab und zu ein spanisches Wort fallen. Manche schleuderten ab und zu englischsprachige Schimpfwörter – und manchmal sogar eine Beere – nach den Pflücker·innen, die oft so alt waren, dass sie ihre Eltern hätten sein können. Manche sprachen von den mexikanischen Pflücker·innen als »Fettköpfe« und witzelten darüber, dass sie Lowrider fuhren. Ich hatte nie einen einzigen Lowrider auf einem der Parkplätze der Arbeitscamps oder Beerenfelder gesehen. Der folgende Auszug aus einer audio-aufgezeichneten Feldnotiz beschreibt die Prüfstationen an einem meiner ersten Pflücktage. Es gab verschiedene Stationen, wo man seine Beeren wiegen lassen konnte. Die erste Station, zu der ich ging, hatte drei Prüfer·innen und sie waren langsam. Sie waren nicht gemein und sie waren nicht freundlich, nur irgendwie langsam und schlecht organisiert, was frustrierend war, weil sie mir meine Zeit nahmen, um Pfunde (von Beeren) einzuholen. Und ich könnte vielleicht das Mindestgewicht für den Tag verfehlen, weil sie langsam waren. Zusätzlich markierten sie mir 26 Pfund, obwohl meine Beeren 28 wogen. An der nächsten Station, die ich aufsuchte, um meine Beeren zu wiegen, war gerade eine Person dabei, es einer anderen beizubringen: »Wenn du beim Blick auf die Beeren mehr als zehn grüne Stiele siehst, nimm sie raus. Wirf die schlechten Beeren weg. Du musst auch die Beeren anschauen, die darunter liegen, denn sie versuchen manchmal, die schlechten Beeren zu verstecken.« Ich dachte mir: »Du hast keine Zeit, um zu versuchen, irgendetwas zu verstecken. Du arbeitest nur; du machst es, so schnell du kannst!« Bei der nächsten Station, zu der ich ging, gab es ein Mädchen und den einen Chicano-Jungen. Der Chicano sprach nicht. Er be-
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wegte nur Beeren vor und zurück und das Mädchen wog wirklich schnell; ich mochte, wie schnell sie waren. An der nächsten Station schienen sie etwas grob mit den Leuten umzugehen – warfen auf eine Weise Beeren weg, die nicht respektvoll wirkte. Sie nahmen Beeren aus den Eimern, guckten die Leute an und sagten »No!«, ohne genug Spanisch zu sprechen, um zu erklären, was sie mit No meinten. Sie weigerten sich einfach, die Eimer zu wiegen. In meinem zweiten Sommer auf der Farm kam eine weiße College-Studentin zu mir herüber und sagte: »Ich habe gehört, du schreibst ein Buch.« Laura war in der Gegend aufgewachsen und ihre Aufgabe war es, Pflücker·innen den einzelnen Crews zuzuweisen und ihre Identifikationsschildchen zu prüfen. Sie studierte am College in Seattle Spanisch und sprach gerne mit den Pflücker·innen und erfuhr etwas über sie. Sie war frustriert von der Art, wie ihre Aufseherin Shelly mit den Pflücker·innen umging. Laura erklärte: »Eines Tages liefen wir zurück zu den Autos und ein Mädchen unterhielt sich mit einem der Pflücker und übte ihr Spanisch. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch miteinander sprachen, aber Shelly sagte etwas zu ihr, etwa, dass sie nicht wollte, dass sie mit den Pflücker·innen sprach. Es ist, als vertraute sie ihnen nicht. Sie ist oft genervt. Ich war überrascht, also: Warum wollte sie nicht, dass wir mit ihnen sprechen?«
Abb. 7: Eine weiße jugendliche Prüferin mit mexikanischen Pflückern.
Foto von Seth M. Holmes.
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Die Farmleitung – einschließlich Shelly, die die weißen Pflück- und PrüfCrews beaufsichtigt – sieht die Anstellung weißer jugendlicher Prüfer·innen als Beitrag zur Entwicklung positiver Werte gegenüber der Landwirtschaft und Vielfalt im Tal. Jedoch lernen die Prüfer·innen hier auch, dass es ihnen zusteht, Macht über Mexikaner·innen auszuüben, die ihre Eltern oder Großeltern sein könnten. Die Jugendlichen erhalten Mindestlohn, wobei sie die meiste Zeit quatschen und sitzen dürfen. Die Pflücker·innen knien durchgängig und arbeiten so schnell sie können, um ihre Jobs zu behalten. Die weißen Prüfer·innen erhalten Macht darüber, wie viel Pfund den Pflücker·innen auf ihre Karten gestanzt werden; und in den meisten Fällen ist mein Erfahrungswert, dass Prüfer·innen weniger Gewicht auf den Karten markierten, als die Waage anzeigte. Im Laufe meiner Feldforschung habe ich unzählige Male erlebt, dass Aufseher·innen den Prüfer·innen sagten, dass die Arbeiter·innen nicht mehr als dreißig Pfund pro Eimer pflücken sollten. Sie sagten, dass mehr Gewicht die Beeren schädigen würde. Zudem wiesen sie darauf hin, dass die Pflücker·innen versuchen würden »damit davon zu kommen«, mehr Beeren pro Eimer einzuholen, weil sie »faul« seien. Natürlich gab es keine Möglichkeit, genau einzuschätzen, wie viel die Beeren in meinem Eimer wiegen würden. Und ich erlebte das Pflücken von Erdbeeren als alles andere als faul. Den Prüfer·innen wurde auch erlaubt, die Pflücker·innen als Menschen zu behandeln, die keinen gleichwertigen Respekt verdienen. Das diente der weiteren Entwicklung von Perspektiven, durch die symbolische Gewalt – also die Naturalisierung von Ungleichheit – bewirkt wurde.15 Zusätzlich zeigte Laura auf, dass die Farmleitung manchmal direkt daran arbeitete, die Arbeitspositionen und ethnisierten Gruppen voneinander getrennt zu halten.
Feldarbeiter·innen, die nach Stundenlohn bezahlt werden Mehrere kleine Gruppen von Feldarbeiter·innen werden entsprechend des Mindestlohns nach Stundenlohn bezahlt. Sie alle wohnen in den Camps mit Holzverkleidung unter den Zinndächern, aber ohne Heizung und Isolierung. Sie arbeiten sieben Tage die Woche, von circa 5 Uhr am Morgen bis zum frühen Abend. Annähernd ein Dutzend Männer, meist mestizische Mexikaner und nur wenige mixtekische Arbeiter aus Oaxaca, fahren Traktoren zwischen den Feldern und der Verarbeitungsanlage hin und her. Die Traktoren 15
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transportieren meterhohe Stapel von Beerenbehältern und die Fahrer sind den ganzen Tag der direkten Sonne oder dem Regen ausgesetzt. Zusätzlich arbeiten kleine Gruppen aus Männern und Frauen, die meisten mestizischen Mexikaner·innen und ein paar Mixtek·innen, in anderen Bereichen: Sie binden den neuen Himbeerwuchs ab, bedecken Blaubeerbüsche mit Plastik, versprühen chemische Pestizide oder Essigkonzentrat (auf den ökologischen Feldern) oder arbeiten mit Hacken zwischen den Pflanzenreihen. Rund 30 Himbeerpflücker·innen arbeiten etwa einen Monat lang, sieben Tage die Woche zwischen 12 und 18 Stunden am Tag. Zwei bis drei Personen arbeiten auf jeder Himbeererntemaschine, die etwa eine Etage hoch und knallgelb ist und die Form eines umgedrehten »U« hat, das hoch genug ist, damit eine Reihe Himbeerbüsche unter den Bogen passt. Die Maschine schüttelt die Büsche so, dass die reifen Beeren auf ein Fließband und dann in eine Kiste fallen. Eine Person fährt die Maschine, die anderen bewegen die vollen Beerenkisten weiter und entfernen schlechte Beeren und Blätter. Alle Arbeiter·innen sitzen und haben minimalen Schatten durch Schirme, die auf der Maschine angebracht sind. Alle Himbeerpflücker·innen sind Latin@s aus Texas; die meisten sind mit dem Chef der Himbeercrew verwandt.
Feldarbeiter·innen, die nach Gewicht bezahlt werden »Die weiße Crew« Pflücker·innen sind die einzige Gruppe, die nicht nach Arbeitsstunden bezahlt wird. Stattdessen erhalten sie einen bestimmten Betrag pro Pfund der von ihnen geernteten Früchte. Die weißen jugendlichen Pflücker·innen erhalten 14 Cent pro Pfund Beeren, doch weil sie unter 16 Jahren sind, gilt für sie kein Mindestlohn und sie müssen kein tägliches Mindestgewicht erfüllen. Sie wohnen in den relativ komfortablen Häusern ihrer Eltern. Sie arbeiten sechs Tage die Woche, in gebückter Haltung, haben aber keinen Zeitdruck und machen regelmäßig Pausen. Ich habe oft beobachtet, wie ihre Eltern ihnen für einen Teil des Tages beim Pflücken helfen und ihren Eimern Beeren beisteuern. Sie werden von ihrer Aufseherin Shelly gut und freundlich behandelt. Einige von ihnen hoffen, in die Position als Prüfer·in befördert zu werden; andere entscheiden sich dafür, dass sie nicht mit den Händen arbeiten wollen und hören mit dem Saisonende auf, auf der Farm zu arbeiten. Sie beklagen sich über Knie- und Hüftschmerzen und dass sie ihre Freizeit lieber
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mit ihren Freund·innen verbringen würden. Die Knie- und Hüftschmerzen sind temporär, weil diese Arbeiter·innen nicht nur Pausen von der gebückten Haltung machen, sondern zudem höchstens ein paar Sommer lang pflücken. Es gab grundlegende Unterschiede zwischen der Arbeit der jugendlichen weißen Pflücker·innen und jener der mexikanischen Pflücker·innen. Dazu gehörte die wichtige Tatsache, dass Erstere kein tägliches Mindestgewicht erfüllen mussten, um ihren Job zu behalten, so dass sie in ihrer eigenen Geschwindigkeit arbeiten und Pausen machen konnten und, dass sie allenfalls einige Sommer lang pflückten. Trotz dieser entscheidenden Unterschiede, reagierten mehrere weiße Bewohner·innen der Gegend sowie Freund·innen von mir auf die Beschreibung meiner Forschung zu migrantischen Pflücker·innen mit der Aussage, sie würden »wissen, wie das ist«, weil sie in in ihrer Jugend in einer weißen Crew gepflückt hatten. Einige sagten zudem: »Es ist eigentlich gar nicht so schlimm.«
»Die mexikanische Crew« Wie die Crew aus weißen Jugendlichen werden auch die mexikanischen Pflücker·innen nicht nach Arbeitsstunden bezahlt. Stattdessen werden sie als »Vertragsarbeiter·innen« bezeichnet und erhalten einen bestimmten Betrag pro geerntete Fruchteinheit. Die meisten leben in dem Camp, das am weitesten vom Hauptbüro der Farm entfernt liegt und weder Heizung noch Isolierung, noch eine Holzverkleidung unter dem Zinndach hat. Jeden Tag wird ihnen ein Mindestgewicht an zu pflückenden Früchten mitgeteilt. Der Anbaumanager berechnet das Minimum, um sicherzustellen, dass jede·r Pflücker·in mehr als ausreichend Ernte dafür einbringt, dass es sich für den Betrieb lohnt, ihnen den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn zu zahlen. Wenn sie zwei Mal zu wenig pflücken, fliegen sie raus und müssen das Camp verlassen. Der erste Vertragspflücker, den ich traf, ein Mann namens Abelino, erklärte: »Die Stundenjobs, die Lohnjobs sind besser, weil du damit rechnen kannst, wie viel du verdienen wirst. Aber sie geben uns diese Jobs nicht.« Annähernd 25 Personen, meist »Mestizen« und ein paar mixtekische und Triqui-Männer, pflücken Äpfel. Die Feld-Chefin Abby erklärte mir, dass das Pflücken von Äpfeln der härteste Job auf der Farm sei. Apfelpflücker·innen arbeiten fünf bis zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Sie tragen einen schweren Beutel voller Äpfel über der Schulter. Sie steigen immer wieder Leitern hinauf und hinunter, um die Äpfel zu erreichen. Diese Arbeit ist beliebt, weil sie dafür bekannt ist, der am besten bezahlte Pflückjob zu sein.
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Die Mehrheit der Pflücker·innen – 350 bis 400 Personen – arbeiten jedoch für einen Monat im Erdbeerfeld und danach drei Monate lang in den Blaubeerfeldern. Neben wenigen Mixtek·innen besteht diese Gruppe fast komplett aus Triqui-Männern, -Frauen und -Jugendlichen – die gesetzliche Altersuntergrenze für landwirtschaftliche Arbeiter·innen liegt bei 14 Jahren. Die meisten Triqui-Pflücker·innen kommen mit anderen Familienmitgliedern, die meisten stammen aus demselben Dorf, San Miguel, in den Bergen von Oaxaca. Der offizielle Vertragslohn für die Erdbeerernte ist 14 Cent pro Pfund Früchte. Das bedeutet, dass Pflücker·innen 51 Pfund entlaubte Erdbeeren pro Stunde einholen müssen, weil die Farm den damaligen Mindestlohn des Bundesstaats Washington in Höhe von 7.16 US-Dollar zahlen muss. Um dieses Minimum zu erfüllen, machen die Pflücker·innen von morgens um 5 Uhr bis in den Nachmittag, wenn das jeweilige Feld fertig geerntet ist, wenige bis gar keine Pausen. Nichtsdestotrotz werden sie von manchen Crew-Chef·innen gerügt und als perros [Hunde], »Esel« und »Oaxacos« [beleidigende Falschbezeichnung von Menschen aus Oaxaca] beschimpft. Viele essen und trinken nichts vor der Arbeit, so dass sie nicht die Zeit für den Toilettengang brauchen. Sie arbeiten so hart und schnell, wie sie nur können. Arme fliegen durch die Luft, während sie auf der Erde knien, pflücken und mit ihren Beereneimern zu den Prüfer·innen rennen. Ihre Bezeichnung als Vertragsarbeiter·innen ist fehlleitend. Es gab Gelegenheiten, in denen die Bezahlung pro Einheit von den Erntemanagern ohne Vorwarnung oder Möglichkeit der Verhandlung geändert wurde. Erdbeerpflücker·innen arbeiten mit beiden Händen gleichzeitig, um das Mindestgewicht zu erfüllen. Sie zwicken den grünen Stiel und die Blätter von jeder Erdbeere ab und tun ihr Bestes, die grünen und gammligen Beeren zu meiden. Während meiner Feldforschung pflückte ich ein oder zwei Tage pro Woche. Ich bekam eine Gastritis, Kopfschmerzen sowie Knie-, Rückenund Hüftschmerzen für mehrere darauffolgende Tage. Ich schrieb in einer Feldnotiz nach dem Pflücken: »Es hat sich echt angefühlt wie reine Folter.« Triqui-Pflücker·innen arbeiten sieben Tage die Woche, bei jedem Wetter und ohne einen freien Tag, bis die letzte Erdbeere verarbeitet ist. In der untersten Position der ethnisierten Arbeitshierarchie erleiden Triqui-Pflücker·innen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Gesundheitsproblemen: von idiopathischen Rücken- und Knieschmerzen bis zu Bandscheibenvorfällen, von Typ-2-Diabetes bis zu Frühgeburten und Fehlbildungen in der Fötus-
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
entwicklung.16 Die nun folgenden knappen Personenvorstellungen beleuchten die ökonomischen und körperlichen Härten für die Pflücker·innen auf der Farm und an der Grenze zwischen Mexiko und den USA und berühren die Bedeutung von Sprache, Ethnisierung und Bildung in der Struktur der Arbeitshierarchie auf der Farm. Marcelina ist 28 Jahre alt und zweifache Mutter. Sie ist eine Cousine von Samuel – den ich im ersten Kapitel vorgestellt habe – und in San Miguel aufgewachsen. Sie ist eine der Personen, mit denen ich mir im Winter die Wohnung in Zentralkalifornien teilte. Jeden Sommer organisiert ein lokaler Verein im Skagit Valley ein Seminar über migrantische Landarbeit. Das Seminar umfasst einen Besuch auf einer Farm und in einem Arbeitscamp sowie mehrere kurze Vorträge und Gespräche mit Leuten aus allen Bereichen der Wanderarbeit, von Pflücker·innen bis zu den Bäuer·innen, von Grenzschutzbeamt·innen bis zu Sozialarbeiter·innen. Das Publikum besteht zum Großteil aus weißen Erwachsenen aus der Mittelschicht, die in der Gegend wohnen, und ein paar wenigen mestizischen und indigenen Landarbeiter·innen. Gegen Ende meines ersten Sommers der Feldforschung wurde Marcelina eingeladen, um bei dem Seminar über ihre Erfahrungen als Migrantin und Pflückerin zu sprechen. Mit ihrer einjährigen Tochter im Arm näherte sie sich schüchtern der Dolmetscherin – und sprach dann auf Spanisch, ihrer Zweitsprache. Guten Tag. Ich bin Marcelina. Ich komme hier in die USA, um zu arbeiten. Ein Mann hat mich mit zwei Kindern verlassen. Ich wollte hierherkommen, um Geld zu verdienen, aber nein. Ich verdiene nicht einmal genug, um meiner Mutter in Oaxaca etwas zu schicken, die sich um meinen Sohn kümmert. Manchmal kommt die Erdbeere schlecht, dein Rücken schmerzt und du verdienst nichts. Es tut mir leid, mein Spanisch ist nicht so gut. Ich bin reine Triqui, [kichert] reine Triqui. Es ist sehr schwierig hier. Die Farmleitung will einer alleinstehenden Frau kein eigenes Zimmer geben. Also lebe ich mit dieser Familie dort [sie zeigt auf eine fünfköpfige Triqui-Familie im Publikum]. Man verdient hier gar nichts, nichts zum Überleben. Zudem habe ich meine Tochter hier dabei und ich verdiene nichts, was ich ihr geben kann. Arbeiten und arbeiten. Nichts. Ich bin seit vier Jahren hier und nichts.
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Vgl. Holmes 2006; Kandula, Kersey und Lurie 2004; McGuire und Georges 2003; Migration News 2004; Mobed, Gold und Schenker 1992; Rural Migration News 2005; Rust 1990; Sakala 1987; Slesinger 1992; Villarejo 2003.
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Es ist sehr schwierig für einen Menschen hier. Ich bin gekommen, um Geld zu verdienen, ich dachte so: »Hier auf der anderen Seite [der Grenze] gibt es Geld und gutes Geld«, aber nein. Wir können noch nicht mal genug verdienen, um zu überleben. Und dann stehlen sie [die Prüfer·innen] uns Pfunde. Manchmal gelangen gammlige Beeren in den Eimer – »Iss die!« sagen sie und werfen sie dir ins Gesicht. Sie arbeiten nicht gut. Und es gibt fast keine guten Beeren zu dieser Zeit im Jahr, bloß gammlige. Es ist nicht gut. Du verdienst nicht mal genug, um zu essen. Ich habe zwei Kinder und es ist sehr hässlich hier, sehr hässlich, auf dem Feld zu arbeiten. So ist das. Manchmal willst du dich wehren, aber nein. Du kannst mit ihnen nicht reden.
Abb. 8: Marcelina beim Pflücken von Erdbeeren. Sie hat Tücher umgebunden, um sich vor der Sonne zu schützen.
Foto von Seth M. Holmes.
Nachdem sie über die Schwierigkeiten ihrer Arbeit auf der Farm in Washington gesprochen hatte, wurde Marcelina gebeten, über den Migrationsverlauf im Allgemeinen zu sprechen. Sie fuhr fort: Dort in Oaxaca haben wir keine Arbeit. Nur die Männer arbeiten manchmal. Doch da es viele Kinder in meiner Familie gibt, verdienten die Männer nicht das Geld für mich und meinen Sohn. Deswegen wollte ich herkommen, um Geld zu verdienen,
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aber nein, nein, nein. Du verdienst hier nichts, du hast nichts zum Überleben. Ich wollte arbeiten, vorankommen [salir adelante] mit meinen Kindern, sie weiterbringen [salir adelante]. Ich bin seit vier Jahren hier, ohne meinen Sohn zu sehen. In Kalifornien gibt es keine Arbeit, nur den Beschnitt. Und du verdienst aus dem gleichen Grund kein Geld. Wir sprechen kein Spanisch und zwar, weil wir kein Geld haben, um zu lernen. Eltern leiden, um ihre Kinder in die Schule zu schicken, Essen und Schuluniformen zu kaufen. Ich habe dort viele Schwestern, die lernen, aber ich konnte es nicht. Es gibt viele Kinder, die nicht zur Schule gehen, weil das Geld fehlt. Ich musste Oaxaca verlassen, um nicht Hunger zu leiden. Ich hoffte, ich könnte genug verdienen, um etwas zurückzuschicken und meine Schwestern zu unterstützen, die zur Schule gehen. Ich musste selbst die Schule aufgeben. Eine der Triqui-Familien, die mich am meisten in ihre Leben aufnahm, war die von Samuel, seiner Frau Leticia und ihrem vierjährigen Sohn. Wie schon beschrieben, teilte ich mir nach der Reise von der Farm in Washington nach Madera in Kalifornien eine Dreizimmerwohnung mit Samuel, Leticia und ihrem Sohn, mit Marcelina und ihrer Tochter, mit Samuels Schwester und ihrem Sohn, mit Samuels Bruder, dessen Frau und ihrem Sohn sowie mit zwei weiteren vierköpfigen Familien. An einem Abend im Arbeitscamp – als wir mit leise gestelltem Lautsprecher einen Jet-Li-Actionfilm schauten und blaues Kool Aid tranken – beschrieb Samuel auf Spanisch ihre Leben als Wanderarbeiter·innen. Samuel: Hier bei Tanaka müssen wir keine Miete zahlen, aber sie zahlen uns nicht viel Lohn. Sie zahlen 14 Cent das Pfund. Und sie ziehen die Landes- und Bundessteuern, die Sozialversicherung ab. Sie zahlen uns 20 Dollar am Tag. … Sie zahlen nicht fair. Wenn eine Person 34 Pfund Erdbeeren hat, dann stehlen sie vier Pfund, weil die Prüfer·innen nur 30 Pfund markieren. Das ist nicht gerecht. Das ist das, was die Leute am meisten stört. Die Leute arbeiten viel. Sie leiden. Menschen leiden. Es ist leicht für die, aber für uns ist es das nicht. In den Blaubeeren klauen sie uns eine Unze aus den kleinen Schachteln und deshalb können Leute nicht vorankommen [salir adelante]. Wir pflücken eine Menge Früchte und wir verdienen kein Geld. Die Leute beschweren sich nicht. Sie haben Angst, weil die Farm sie dann feuert. Wir wollen ihnen Dinge sagen, aber wir können nicht, weil wir keine Papiere haben. Manchmal sind die Chefs richtig gemein und sie schieben dich ab. Manchmal, wenn eine Person sich beschwert, dann geben sie der Polizei einen Hinweis und die kann uns etwas antun. Deswegen schweigen die Leute.
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Seth: Wie viel verdienst du pro Jahr? Samuel: Eine Person macht 3000 bis 5000 Dollar im Jahr. Wir wollen nicht reich werden. Wir kommen nicht hierher, um reich zu werden. Ja, das ist sehr wenig. Sie sagen, der Chef will nicht, dass wir Geld verdienen, und ich frage mich: »Warum?« Einige Aufseher·innen erklären, wie wir pflücken oder was wir tun sollen, aber andere sind böse Menschen oder haben fiese Launen und erklären schlecht, was wir tun oder pflücken sollen. Sie schreien uns sogar an, benutzen Wörter, die wir nicht benutzen sollten. Wenn du Menschen schlecht behandelst, werden sie nicht ruhig oder zufrieden arbeiten. Und wenn wir das dem Chef erzählen, glaubt der uns vielleicht nicht. Sie schreien uns an und nennen uns »dumme Esel« oder »Hunde«. Sie behandeln uns sehr hässlich. Einer von Marcelinas und Samuels Cousins, Joaquin mit den Spitznamen Gordo [Dicker] und Lobo [Wolf], wohnte auch mit uns in dem Elendsapartment in Zentralkalifornien. Im ersten Spätsommer meiner Feldforschung blieb Joaquins Aerostar Minivan mit Baujahr 1990 liegen. Die meisten meiner TriquiGefährt·innen kauften alte US-amerikanische Minivans, weil sie häufig weniger als 500 US-Dollar kosteten und mehrere Menschen auf die Felder, zum Einkaufen oder am Dienstagabend in die lokale Kirche zur Lebensmitteltafel brachten. Ich stand mit mehreren von Joaquins Triqui-Freunden am Auto und wir versuchten gemeinsam, das Problem zu lösen. Irgendwann wendete sich die Unterhaltung der Arbeit zu und Joaquin erörterte den Stress und die Widersprüche des Pflückens. Die Aufseher·innen sagen, sie nehmen uns unsere [Betriebs-]Ausweise weg und feuern uns, wenn wir nicht das Minimum pflücken. Sie sagen, wir lassen zu viele Beeren fallen, wir müssen langsamer machen, damit wir nicht so viel fallen lassen. Wenn wir langsamer machen, schaffen wir es nicht [zum Mindestgewicht] und sie sagen uns: »Macht schneller!«, »Ihr wisst nicht, wie man arbeitet!«, »Indianer, ihr könnt nichts!«. Wir wissen schon, wie man arbeitet und warum die Beeren herunterfallen. Wenn wir langsam machen, können wir kein Geld verdienen und wir bekommen Schwierigkeiten. Wenn wir uns beeilen, fallen uns Beeren herunter und sie kommen und geißeln uns. »Dummer Esel!«, »Hund«. Wir haben Angst. An meinem ersten Tag beim Pflücken waren die einzigen, die so langsam waren wie ich, zwei Latinas aus Südkalifornien und ein Latino, der täglich aus einem Vorort von Seattle pendelte. Nach der ersten Woche pflückten die beiden Latinas zusammen in einen Eimer, um das Mindestgewicht zu erreichen und einen Lohnscheck zu erhalten. In der zweiten Woche sah ich den Mann
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
aus Seattle nicht mehr. Ich fragte die Aufseherin, wo er hin sei, in der Annahme, er hätte die Arbeit zu schwer gefunden und deshalb aufgegeben. Sie sagte mir, dass die Farm einen Deal mit ihm getroffen habe: Wenn er es schaffte, eine Woche lang zu pflücken, dann würden sie ihm einen nach Stunden bezahlten Job in der Verarbeitungsanlage geben. Seither sei er »eine·r unserer härtesten Arbeiter·innen« in der Anlage. Ich fragte dann nach, warum die indigenen Mexikaner·innen keine Jobs in der Verarbeitungsanlage bekommen könnten. Die Aufseherin antwortete: »Menschen, die in den Wanderarbeitscamps leben, können diese Jobs nicht haben, sie können nur pflücken.« Für sie war das eine Farmregel, die keinerlei Erklärung erforderte. Marginalisierung schafft also Marginalisierung. Die indigenen Mexikaner·innen leben in den migrantischen Camps, weil sie keine Ressourcen haben, eine Wohnung in der Stadt anzumieten. Weil sie in den Camps leben, bekommen sie nur die schlechtesten Jobs auf der Farm. Inoffizielle Farmregeln und -praktiken verstärken subtil die rassistischen Arbeitshierarchien. Die Position der Triqui-Arbeiter·innen wird mehrfach bestimmt: von Armut, Bildungsniveau, Sprache, Aufenthaltsstatus und Ethnisierung. Zusätzlich produzieren diese Faktoren einander. Zum Beispiel verkürzt die Armut einer Familie die Ausbildung einer Person, was deren Fähigkeit begrenzt, Spanisch – oder gar Englisch – zu lernen, was wiederum ihre Möglichkeit einschränkt, den untersten Rang der Arbeits- und Wohnsituation zu verlassen. Armut wird zugleich von dem institutionellen Rassismus bestimmt, der am stärksten gegen die Triqui am Werk ist. Die Segregation auf der Farm ist das Ergebnis eines komplexen Systems aus vielen Knoten der Ungleichheit.
Fehl am Platz In vielerlei Hinsicht – Ethnisierung, Bildung, Staatsangehörigkeit, gesellschaftliche Klasse – nahm ich nicht die »richtige« Position in der Arbeitshierarchie ein. Zum Zweck meiner Forschung pflückte ich regelmäßig mit den Triqui-Arbeiter·innen Beeren und lebte in dem Arbeitscamp, in dem die Mehrheit der Triqui-Familien wohnte. Unser Arbeitscamp lag am weitesten von den Hauptgebäuden entfernt, an der ländlichen Christensen Road. Alle Baracken waren aus Sperrholz gebaut und hatten ein Zinndach. Als ich erstmals eine der weißen Familien traf, die direkt oberhalb vom Camp auf der Christensen Heights Road lebte, erklärte sie mir, dass die mexikanischen Einwander·innen so spät feierten und so viel tranken, dass sie jeden Morgen
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um vier Uhr ihre Hupen hören konnten. Wie meine Triqui-Nachbar·innen im Camp wurde ich jedoch jeden Morgen vom Hupen der Vans geweckt, die vor dem Sonnenaufgang kamen, um die Kinder, die in der lokalen Tagesstätte betreut wurden, abzuholen, bevor ihre Eltern zum Pflücken aufbrachen. Während der Beerenernte im Herbst, wenn die Vans nach Sonnenaufgang kamen, wurden wir stattdessen vom kalten Regen in unseren Hütten geweckt: Die Zinndächer, an denen unser Atem über Nacht kondensiert und gefroren war, wurden von der Morgensonne aufgetaut. Tatsächlich sah ich relativ wenig Alkoholkonsum im Camp. Wenn eine Triqui-Familie eine Taufoder Geburtstagsfeier ausrichtete, wurden Tacos, Limonaden und Bier serviert und es wurde mexikanische Norteño- und Chilena-Musik gespielt, zu der ein paar Leute tanzten. Bei diesen Gelegenheiten berauschten sich eine oder zwei Personen – immer Männer. Die meisten Leute tranken keinen oder nur sehr wenig Alkohol. Obwohl ich in denselben Gegebenheiten arbeitete und lebte wie die Triqui-Migrant·innen, behandelten mich die Geschäftsführer wie jemanden, der fehl am Platz ist, und gaben mir die besondere Erlaubnis, meinen Job und meine Hütte zu behalten, obwohl ich es nie schaffte, das Minimum an Beeren zu pflücken. Aufgrund meines gesellschaftlichen und kulturellen Kapitals behandelten sie mich manchmal sogar, als wäre ich ihnen überlegen und baten mich um Rat hinsichtlich der Zukunft der Arbeitsverhältnisse und Unterbringung auf der Farm. Erntemanager, Feld-Chef·innen und Prüfer·innen behandelten mich wie eine Art Hofnarren – als respektierte Unterhaltung. Sie scherzten mit mir herum, lachten und stellten rhetorische Fragen wie: »Bist du immer noch froh, dass du dich zum Pflücken entschieden hast?« Wenn sie durch die Felder liefen, hielten sie regelmäßig bei mir an und sprachen mit mir, pflückten Beeren in meinen Eimer, um mich zu unterstützen, was sie sonst nicht für Pflücker·innen taten. Auf der anderen Seite interagierten die anderen Pflücker·innen mit einer Mischung aus Respekt und Misstrauen mit mir. Zum Beispiel gab es Gerüchte, dass ich ein Spion der Polizei oder ein Drogenschmuggler auf der Suche nach Tarnung sei. Als ich zum ersten Mal in das Camp zog, fragten sich viele Triqui dort, warum ein gabacho dort leben und Beeren pflücken wollte. Manche Leute beschwerten sich, dass ich »wirklich langsam pflück[t]e«; »er liegt immer hinten«, sagten sie. Im Spätsommer meiner ersten Saison auf der Farm klagte Samuel während einer Unterhaltung über die Probleme in seinem Heimatort aufgrund der fehlenden Ressourcen. Er sagte, sie bräuchten einen starken Bürgermeister. Ich fragte ihn, ob er eines Tages Bürgermeister sein würde.
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
Er antwortete: »Nein. Du brauchst ein bisschen Bildung, Geld und Ideen. Du wirst der Präsident von San Miguel, Set‹, und du kannst viel Gutes tun! Wir brauchen eine Wasserpumpe und befestigte Straßen. Du könntest eine Apotheke eröffnen und ein Haus bauen und eine Triqui-Frau heiraten [lacht].« In meinen ersten paar Monaten des Lebens und Arbeitens unter den Triqui bemerkte ich, dass sogar die Kinder die Segregation auf der Farm anzuerkennen schienen. Da die Erwachsenen in den Camps mir gegenüber misstrauisch waren, verbrachte ich am Anfang meiner Feldforschung einige Zeit im Spiel mit den Kindern. Nachdem ich eine Reihe von Kindern gefragt hatte, wo sie herkamen und welche Sprachen sie sprachen, stellte ich fest, dass alle Kinder, die mich besuchen kamen, Triqui waren. Keines der mixtekischen oder mestizischen Kinder kamen zu meiner Hütte. Offenbar erkannten die Kinder an – oder wurden ausdrücklich von ihren Eltern instruiert17 –, dass ich in der Farmhierarchie einen Ort der Triqui bewohnte und reagierten entsprechend auf mich. Gegen Ende meiner Forschung sagte Samuel zu mir: »Genau jetzt sind wir und du gleich; wir sind arm. Aber später wirst du reich sein und in einem luxuriösen Haus [casa de lujo] leben.« Ich erklärte ihm, dass ich kein luxuriöses Haus wollte, sondern vielmehr ein einfaches kleines Haus. Samuel schaute mir in die Augen und antwortete: »Aber du wirst ein Badezimmer im Haus haben, richtig?«
Kalifornien Am Ende der Beerensaison im Skagit Valley, nachdem ich fast fünf Monate auf der Tanaka-Farm gelebt hatte, wurde ich dazu eingeladen, mit Samuel und seiner erweiterten Familie Richtung Süden nach Kalifornien zu fahren. Sein jüngster Cousin, Juan, hatte noch keinen Führerschein, war noch nicht mit dem Fahren auf Autobahnen vertraut und brauchte jemanden, der seinen kürzlich erstandenen, gebrauchten Ford Taurus steuern würde. Juan war 16 Jahre alt und alleinstehend. Er war zu Beginn der Beerensaison vor einigen Monaten, zum ersten Mal aus San Miguel in die USA gekommen. Nach unserem letzten Pflücktag packten Juan und ich sein Auto und ich fuhr den Ford Taurus in einer Karawane mit sechs Aerostar-Minivans. Wir nahmen den direkten Weg und fuhren unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung durch die Nacht von Nordwest-Washington bis Zentralkalifornien, hiel17
Vgl. Wolfenstein 1955.
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ten unterwegs für kurze Toiletten- und Essenspausen an Rastplätzen. Wir aßen hausgemachte Tacos und Koriandersalate, die wir mitgebracht hatten. An den Rastplätzen schliefen wir, spaßten mit den Kindern herum – die sich lebhaft austobten, nachdem sie so lange im Auto eingepfercht waren – und erinnerten uns gemeinsam an die Momente, in denen verschiedene Leute Angst gehabt hatten, ein Polizeiauto würde uns anhalten. Sobald wir in Madera, Kalifornien, ankamen, dauerte es noch eine Woche, bis wir jemanden fanden, der eine verfügbare Wohnung hatte und diese an mexikanische Wanderarbeiter·innen ohne Bonitätsnachweis vermieten würde. Während dieser Woche wuschen wir uns in den öffentlichen Toiletten der Stadtparks, bevor sie zum Sonnenuntergang abgeschlossen wurden. Wir versuchten, sichere Orte zu finden, wo wir in unseren Autos schliefen. Einmal übernachteten wir in der Nähe des Mietshauses eines Triqui-Freundes, damit die Kinder dort nachts die Toilette benutzen konnten. Wir wurden jedoch mitten in der Nacht von einer weißen Nachbarin geweckt, die uns anschrie und zwang wegzufahren, weil sie nicht wollte, dass wir vor ihrem Haus im Auto schliefen. Jeden Tag fuhren wir auf der Suche nach Wohnraum die Straßen auf und ab. In den ersten Tagen fanden wir einige relativ komfortable und große Wohnungen, die zur Vermietung standen. Wir wurden aber abgewiesen, weil meine Gefährt·innen ihre Kreditwürdigkeit nicht nachweisen konnten. Mit der Zeit lernten wir, nach Wohnungen zu suchen, die nur mit handgeschriebenen Schildern – »zu vermieten« – am Fenster beworben wurden. Es waren eher schmutzige und stinkende Wohnungen in schlechtem Zustand, aber hier wurden wir als Mieter·innen eher ernst genommen. Nach acht Tagen fanden wir im Elendsviertel die Dreizimmerwohnung mit Bad, die wir uns zu 19 Personen – vornehmlich Samuels und Juans erweiterter Familie, einschließlich vier kleiner Kinder – für den Winter teilten. Jede Woche fuhren wir zum mexikanischen Markt im Ort, wo wir andere TriquiFreund·innen aus San Miguel trafen, die auf der Tanaka-Farm gewesen waren. Wir suchten regelmäßig nach Arbeit und fanden ab und zu Jobs für kurze Zeit; im Beschnitt von Weinreben.
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
Abb. 9: Samuel mit Kindern beim Beschnitt kalifornischer Weinreben.
Foto von Seth M. Holmes.
Die allgemeine Struktur der rassistischen Arbeitshierarchie in der kalifornischen Landwirtschaft entsprach jener in Washington, wobei es im Detail auch Unterschiede gab. Auch hier hatten weiße Menschen die besten Jobs, gefolgt von US-amerikanischen Latin@s, dann mestizischen Mexikaner·innen und schließlich indigenen Mexikaner·innen und ein paar Zentralamerikaner·innen. Die meisten kalifornischen Farmen nutzten Vertragsagenturen, so dass die einzelnen Pflücker·innen nicht bei der Farm angestellt wurden und ihre Anstellung somit nicht dokumentiert wurde. Diese Farmen bezahlten ihren Vertragsagenturen eine Gesamtsumme dafür, dass ein bestimmtes Feld beschnitten oder abgepflückt wurde. Die Agentur zahlte dann den jeweiligen Arbeiter·innen einen bestimmten Betrag pro beschnittene Rebe. In den fünf Monaten, die ich im Central Valley von Kalifornien lebte und arbeitete, wurde meinen Gefährt·innen und mir stets weniger als der Mindestlohn gezahlt. Zudem verboten die meisten Agenturen es, selbst zum Feld zu fahren oder zu laufen. Wir mussten uns für fünf bis sieben US-Dollar am Tag vom »Fahrtanbieter« [raitero] bringen lassen, der fast immer ein Verwandter des Agenten war. Am Ende blieben uns rund zehn US-Dollar für einen fünf-
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stündigen Arbeitstag und eine Fahrtzeit von bis zu zwei Stunden pro Strecke. Zusätzlich boten die meisten Farmen in Kalifornien keine Unterkunft, so dass einige unserer Einkommen in die Miete für unsere Elendswohnung flossen. Der Bundesstaat Kalifornien bot Landarbeiter·innen auch keine Kinderbetreuung, wie es in Washington der Fall war. Ein Elternteil verzichtete also auf den Lohnscheck, um mit den Kindern zu Hause zu bleiben. Alternativ zahlten die Eltern zehn US-Dollar an ein inoffizielles Kinderbetreuungsprogramm in einer Wohnung in der Nähe oder sie nahmen die Kinder mit auf den Weinberg, auf dem sie gerade arbeiteten. Die Triqui-Pflücker·innen berichteten auch von ausdrücklicherem Rassismus in Kalifornien, besonders von Latin@s, die US-amerikanische Staatsbürger·innen waren. Obwohl die allgemeine Form der gesellschaftlichen Hierarchie gleich blieb, waren die Details der Alltagsleben der Triqui in Kalifornien in mehrfacher Hinsicht schlimmer. Trotz meiner zahlreichen Versuche zogen die Vertragsagenturen in Kalifornien nicht in Betracht, mich für sie arbeiten zu lassen. Meines Erachtens lag das einerseits daran, dass sie erkannten, dass ich nicht zu dieser Position in der Hierarchie passte. Andererseits fürchteten sie, ihre schlechten und ungerechten Arbeitsbedingungen könnten aufgedeckt werden.
Hierarchien bei der Arbeit Verantwortlichkeiten, Stressoren und Privilegien unterscheiden sich entlang der Positionen in der Arbeitshierarchie, die ich oben aus ethnografischer Perspektive beschrieben habe. Auf jeder Ebene der Leiter sorgen sich die Personen um Faktoren, die sie kaum kontrollieren können. Alle auf der Tanaka-Farm sind strukturell verletzbar18 , wobei die Charakteristika und Tiefe der Verletzbarkeit sich je nach Position in der Arbeitsstruktur unterscheiden. Zum Beispiel nehmen Möglichkeiten ab und Sorgen zu, je weiter unten eine Person in der Rangordnung steht. Jene an deren Spitze sorgen sich um die Wettbewerbsfähigkeit und das Wetter. Die Manager und Verwalterinnen in der Mitte sorgen sich ebenfalls um diese Faktoren und darum, wie ihre Vorgesetzten mit ihnen umgehen. Die Pflücker·innen sorgen sich darum, genug zu pflücken, um das Mindestgewicht zu erreichen und ihren Job und Wohnraum nicht zu verlieren. Je höher eine Person in der Struktur 18
Vgl. Quesada, Hart und Bourgois 2011.
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
positioniert ist, desto mehr Kontrolle hat sie über ihre Zeit. Die Geschäftsführung und Manager können Pausen machen, wann immer sie wollen. Die Verwaltungsassistentinnen und Prüfer·innen können sich aussuchen, wann sie kurze Pausen machen, je nachdem ob ihr·e Aufseher·in zustimmt oder nicht da ist. Die Feldarbeiter·innen können nur unregelmäßig Pausen machen, wenn sie bereit sind, dafür Lohn zu verlieren – und sogar dann können sie gemaßregelt werden. Je niedriger eine Person in der Hierarchie positioniert ist, desto weniger Lohn erhält sie und strukturell verletzbarer ist sie. Die Geschäftsführer und Manager sind finanziell relativ abgesichert und haben komfortable Häuser. Das Verwaltungspersonal und die Prüfer·innen bekommen Mindestlohn und leben als Mitglieder der ländlichen Arbeiter·innenklasse in weniger komfortablen Häusern. Die Pflücker·innen werden nach Pflückgewicht bezahlt und leben in Armutsbedingungen in den Baracken des Arbeitscamps. Ihnen ist stets bewusst, dass sie Gefahr laufen, sogar diese ärmliche Behausung zu verlieren. Unter den Pflücker·innen verdienen die Erdbeer- und Blaubeerpflücker·innen am wenigsten und laufen eher Gefahr, das Mindestgewicht nicht zu erreichen und gefeuert zu werden, als die Apfelpflücker·innen. Während alle auf der Farm für dasselbe Unternehmen arbeiten und von diesem bezahlt werden, sind Macht und Verletzbarkeit ungleich verteilt. Die Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Pflücker·innen fungieren als halbwegs kontrollierbare Variablen, die die Geschäftsführung der Farm als Puffer zwischen Marktveränderungen und der Wirtschaftlichkeit der Farm nutzt. Die hier vorliegende rassistische Arbeitshierarchie – weiße und asiatischamerikanische US-Staatsbürger·innen, Latin@s mit US-Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltstitel, mestizische Mexikaner·innen ohne Aufenthaltsstatus, indigene Mexikaner·innen ohne Aufenthaltsstatus – ist in der nordamerikanischen Landwirtschaft üblich. Die relative Position der Triqui unterhalb der Mixtek·innen kann durch die Rangordnung ihrer wahrgenommenen »Indigenität« verstanden werden. Viele Landarbeiter·innen und Manager·innen sagten mir, dass die Triqui auf reinere Weise indigen seien als andere Gruppen, weil Triqui immer noch ihre Hauptsprache ist und weil »sie einfacher sind«. Ethnisierung dient hier als Tarnung für eine sozialdarwinistische Sicht auf Indigenität gegenüber Zivilisation. Die Anglo- und Japanisch-Amerikaner·innen bewohnen den Pol der Zivilisation. Die Triqui werden im Gegenpol verortet: als indigene Bäuer·innen, Wilde, einfache Kinder. Je zivilisierter eine Person konzipiert wird, desto besser ist der Job, den sie bekommt. Gleichzeitig gilt: Je besser der Job einer Person ist, desto »zivilisierter« darf sie
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sein (bzw. als solche wahrgenommen werden). Diese Hierarchie der Zivilisation korreliert auch grob mit dem staatsbürgerschaftlichen Status: von der US-amerikanischen Staatsangehörigkeit zum Aufenthaltstitel über die mexikanische Staatsangehörigkeit bis zu den mexikanischen Einwander·innen in die USA ohne dortigen Aufenthaltsstatus. Doch das ist nur ein kleiner Ausschnitt der globalen Hierarchie. Das Kontinuum der strukturellen Verletzbarkeit kann als Vergrößerungslinse verstanden werden: Es durchzieht viele solcher Hierarchien. Das Kontinuum aus größerer Distanz zu betrachten, macht deutlich, dass die lokalen Besitzer des Familienbetriebs in der globalen Hierarchie der Konzernlandwirtschaft relativ weit unten positioniert sind. Wenn wir ausder Nähe hinschauen, erkennen wir die Hierarchie auf dieser bestimmten Farm. Zudem verändern sich die Wahrnehmungen von Ethnizität, wenn wir die Linse vergrößern oder verkleinern. Wie oben erwähnt, erachteten viele der Leitungspersonen auf der Farm (ebenso wie weiße Anwohner·innen) alle migrantischen Landarbeiter·innen als »mexikanisch«, während Personen im näheren Kontakt mit ihnen zwischen »üblichen Mexikaner·innen« und »Leuten aus Oaxaca« unterschieden und Personen, die auf den Feldern arbeiteten, zwischen mestizischen, mixtekischen und TriquiMexikaner·innen unterschieden.19 Arbeitende Körper werden nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit in auferlegte Hierarchien der Arbeit, des Respekts und Leids organisiert. Die Überdeterminierung des nachteiligen Loses der indigenen mexikanischen Beerenpflücker·innen entspricht Bourgois‹ Konzept der »kombinierten Un-
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Wie in Kapitel 1 erwähnt, verwende ich Ethnizität bzw. Ethnisierung nicht als genetische oder biologische Gegebenheit, sondern als biologisiertes, gesellschaftliches Phänomen. Ich verstehe Ethnisierung im Sinne von Althussers (1982) Konzeptualisierung von Interpellation, in der ein menschliches Subjekt durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen in eine bestimmte Kategorie oder Position in Machthierarchien eingeordnet wird und zugleich sich selbst und andere als Mitglieder ihrer spezifischen Kategorien anerkennt. Wie in Kapitel 6 genauer betrachtet wird, verstehe ich Ethnisierung und Rassifizierung wie Weismantel und Eisenman (1998) als zugleich gesellschaftlich bedingt und materiell wirkungsvoll. In diesem Sinne erzeugt die gesellschaftliche Position einer Person (z.B. die Nähe zu Tieren, der Zugang zu Zahnpflege, Duschen und Seife) nicht nur die Wahrnehmungen von dieser Person im Sinne einer bestimmten Rassifizierung, sondern auch die unterscheidenden Bedingungen, unter denen ihr materieller Körper sich entwickelt und über die Zeit verändert.
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
terdrückung«.20 Auf der Tanaka-Farm verbinden sich Klassenzugehörigkeit, Rassifizierung und Staatsangehörigkeit: Den Triqui-Arbeiter·innen wird der Respekt sowie körperliche und seelische Gesundheit verwehrt. Tabelle 1: Konzeptuelles Diagramm der Hierarchien auf der Farm.
Hierarchie am meisten ↑ ↑ ↑ ↑
Respekt, Gesundheit, finanzielle Sicherheit, Kontrolle über die eigene Zeit und Arbeit sowie die der anderen ↓ ↓ ↓ ↓
am wenigsten
Typ der Arbeit Status in den USA sitzende Arbeit im Gebäude
stehende Arbeit
Staatsbürgerschaft
Aufenthaltstitel
Sprache Englisch
Spanisch
Ethnisierung angloamerikanisch japanischamerikanisch USamerikanische Latinos
»mestizisch«mexikanisch
kniende Arbeit im Freien
kein Aufenthaltsstatus
indigene Sprachen
mixtekischmexikanisch Triqui-mexikanisch
Während Klassenzugehörigkeit, Rassifizierung und Staatsangehörigkeit die zentralen Linien der Macht auf der Farm bilden, werden Geschlechterhierarchien besonders deutlich, wenn wir die Personen in den Blick nehmen, die fehl am Platz erscheinen. Die einzigen Personen, die in eine Position befördert werden, die über jener angeordnet ist, die für sie entsprechend ihrer Rassifizierung und Staatsangehörigkeit üblich wäre, sind Männer (zum Beispiel Mateo, die einzige indigene Person, die zum Aufseher befördert wurde). Während meiner Feldforschung wurden nie Frauen über ihre – entlang von Rassifizierung und Staatsangehörigkeit – erwartungsgemäße Position in der 20
Vgl. Bourgois 1988. Vgl. Stephens (2007) Konzept der »grenzüberschreitenden Leben«, das betont, wie indigene mexikansiche Migrant·innen mehrere Grenzen – der Klassenzugehörigkeit, Rassifizierung, Nationalstaaten etc. – überqueren müssen.
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Hierarchie befördert. Diese Geschlechterhierarchie wird zudem durch Unterschiede in Bildung und Sprachkenntnissen verstärkt. Aufgrund der angenommenen Rollendichotomie in San Miguel und in den USA, zwischen der privaten häuslichen Sphäre für Frauen und der öffentlichen Sphäre für Männer, haben Frauen weniger Bildungsmöglichkeiten. Die Schulbildung der meisten Triqui-Frauen in San Miguel ist auf die Grundschule beschränkt, da von ihnen erwartet wird, häusliche Pflichten zu erfüllen. Viele der Frauen sprechen daher nur wenige Worte Spanisch. Im Gegensatz dazu beenden die meisten Triqui-Männer in San Miguel die weiterführende Schule und sprechen fließend Spanisch. Zudem ist es für Triqui-Männer wahrscheinlicher, in den USA außer Hause zu arbeiten als für Triqui-Frauen, was ihnen eine weitere Gelegenheit bietet, ihr Spanisch zu perfektionieren und womöglich auch Englisch zu lernen.21 Wie aus den ethnografischen Daten deutlich wird, wird die Segregation nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit nicht von den Farmbesitzern bewusst eingesetzt oder beabsichtigt. Stattdessen werden diese Ungleichheiten von größeren, strukturellen Kräften und den von ihnen erzeugten Ängsten hervorgebracht. Die Farm kann in gewissem Sinne als eine Art »Grauzone« gesehen werden – in Anlehnung an die Beschreibung von Primo Levi zu jener in den Lagern des Holocausts.22 Levis Grauzone umfasste derart schlimme Bedingungen, dass jede internierte Person, die nach ihrem eigenen Überleben strebte, dadurch zur Komplizin mit einem Gewaltsystem gegen andere wurde. Levi regte an, dass seine Analyse, die sich auf eine furchtbare Gewaltsituation bezog, auch in Bezug auf Alltagssituationen, wie »eine[n] großen Industriebetrieb[]«, verstanden und genutzt werden kann.23
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Das vergeschlechtlichte Wesen der Sprachkenntnisse beeinflusste nicht nur die Position von Frauen und Männern innerhalb der Farmhierarchie, sondern auch meine Möglichkeiten, eine nähere Beziehung zu ihnen aufzubauen. Ich habe zwar viele Wörter und Redewendungen auf Triqui gelernt, jedoch ist es mir nicht gelungen, diese Sprache während meiner Feldforschung fließend zu erlernen – vor allem, weil Triqui eine schwierige tonale Sprache ist, die nie verschriftlicht wurde. Leider hinderten meine schlechten Triquikenntnisse und die unsicheren Spanisch- und Englischkenntnisse vieler Triqui-Frauen mich daran, mit weiteren Interviews oder Gesprächen auf sie zuzugehen. Wo es mir möglich ist, versuche ich dieser Schwierigkeit mit der Auswahl von Zitaten aus dem Material entgegenzuwirken, die sich sowohl auf Männer als auch auf Frauen beziehen. Vgl. Levi 2015. Vgl. Ebd., S. 37.
3. Hierarchien auf dem Feld: Die rassistische Arbeitsteilung im Hofbetrieb
Auf ähnliche Weise argumentieren Scheper-Hughes und Bourgois, dass durch ein Kontinuum der Gewalt die direkte politische Gewalt in Kriegszeiten und die strukturelle und symbolische Gewalt in Zeiten des Friedens einander spiegeln und hervorbringen.24 In der vielschichtigen Grauzone der gegenwärtigen US-amerikanischen Landwirtschaft werden sogar ethisch verantwortungsbewusste Bäuer·innen in ihrem Kampf um das betriebliche Überleben von einem zunehmend harschen Markt dazu gezwungen, an einem Arbeitssystem teilzunehmen, dass Leid aufrechterhält. Diese Grauzone wird am deutlichsten, wenn Arbeiter·innen ihre Vorgesetzten (durch Gewalt nach unten) beeindrucken wollen, um aufzusteigen, wenn zum Beispiel Prüfer·innen aufgrund des Drucks von oben Pflücker·innen um Pflückpfunde oder -minuten betrügen. Zugleich gibt es Hinweise auf einen »schlechten Glauben« auf der Farm – bei bestimmten Aufseher·innen mehr als bei anderen. Die Wendung vom »schlechten Glauben« wurde von Jean-Paul Sartre eingeführt, um zu beschreiben, wie Personen sich wissentlich selbst täuschen, um für sie verstörende Wirklichkeiten nicht anerkennen zu müssen.25 Scheper-Hughes baut auf diesem Konzept auf, um anzudeuten, wie Gemeinschaften angesichts von Armut und Leid kollektive Selbsttäuschung betreiben.26 Sie nutzt das Konzept des »kollektiven schlechten Glaubens«, um die Praxis im Nordosten Brasiliens zu analysieren, unterernährten und hungernden Kindern Beruhigungsmittel zu verabreichen. Solcher kollektiver schlechter Glaube zeigt sich im Skagit Valley, wenn weiße Anwohner·innen mir erzählen, sie wüssten, wie es für die mexikanischen Wanderarbeiter·innen sei, Beeren zu pflücken, weil sie das einen Sommer lang in ihrer Jugend getan haben – trotz der offensichtlichen und bedeutend unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Crews aus weißen Jugendlichen und der mexikanischen Crews. Kollektiver schlechter Glaube zeigt sich auch, wenn indigene Sprachen fälschlicherweise als »Dialekte« zurückgestuft und beeindruckend effiziente Pflücker·innen als »ungelernt« kategorisiert werden.27 Solche Formen des kollektiven schlechten Glaubens werden durch offizielle und inoffizielle Politiken und Praktiken, wie den Ausschluss der Pflücker·innen aus den Englischkursen, gefördert. Sie werden
24 25 26 27
Vgl. Scheper-Hughes und Bourgois 2003. Vgl. Sartre 1956. Vgl. Scheper-Hughes 1992. Mit diesen und anderen Repräsentationen werde ich mich erneut und genauer im Schlusskapitel beschäftigen.
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zudem durch die räumliche Trennung, Bürokratieebenen und Sprachbarrieren ermöglicht, die die Bauern von der ausdrücklicheren schlechten Behandlung der Beerenpflücker·innen trennt. Da die migrantischen Landarbeiter·innen im Allgemeinen eher versteckt sind, kann sich ein kollektiver schlechter Glaube auch jenseits der Grenzen der Farm fortsetzen. Das ist besonders besorgniserregend, wenn er sich in den Wahrnehmungen und Praktiken der Menschen in Dienstleistungs- und Versorgungsberufen zeigt, etwa im Gesundheitswesen, womit sich die folgenden Kapitel beschäftigen.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
Gesellschaftlich bedingtes Leid und das Kontinuum der Gewalt Während der beiden Sommer meiner Feldforschung auf der Tanaka Brothers Farm pflückte ich ein oder zwei Mal die Woche Beeren. In den Tagen darauf hatte ich mehrere Arten von Schmerzen. In der Nacht vor dem Pflücken hatte ich Magenprobleme, weil mich der Stress plagte, das Mindestgewicht der Pflückmenge zu erreichen. Während ich pflückte, taten stets meine Knie weh – ich versuchte verschiedene Positionen, mal in der Hocke, mal auf den Knien, mal auf nur einem Knie. Jedes Mal, wenn ich aufstand, um meine Beeren zur Waage zu bringen, fühlte es sich an, als ob warme Flüssigkeit wie mein eigenes Blut meine Hosen hinunter und in meine Schuhe lief. Ich beugte mich den ganzen Tag nach vorne, um die Erdbeeren unter den Blättern zu sehen, mein Nacken und Rücken schmerzten ab dem späten Morgen. Für zwei oder drei Tage nach dem Pflücken nahm ich Ibuprofen und nutzte manchmal das heiße Becken in einem örtlichen und privaten Fitnessstudio, um die Schmerzen zu lindern – wobei ich mir bewusst war, wie ungleich der Zugang zu diesen Annehmlichkeiten war. Nach der ersten Woche des Pflückens auf der Farm fragte ich zwei junge Pflückerinnen, wie sich ihre Knie und Rücken anfühlten. Eine antwortete, dass sie nichts mehr spüren könnte [Mi cuerpo ya no puede sentir nada], wobei ihre Knie manchmal noch schmerzten. Die andere sagte, dass ihre Knie, ihr Rücken und ihre Hüfte immer wehtäten [Siempre me duelen]. Später an jenem Nachmittag erzählte mir einer der jungen Männer, die ich in der Woche vor der Ernte jeden Tag Basketball spielen gesehen hatte, dass er und seine Freunde nicht länger laufen könnten, weil ihre Körper so schmerzten [Ya no corremos; no aguantamos]. Tatsächlich fühlen sich sogar die Landschaften, die mir so erhaben und wunderschön erschienen, für die Pflücker·innen hässlich,
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schmerzvoll und arbeitsreich an. Bei mehreren Gelegenheiten reagierten meine Triqui-Gefährt·innen verwirrt auf meine Ausrufe über die Schönheit der Gegend und erklärten, dass die Felder für sie »reine Arbeit« [puro trabajo] darstellten. Knie-, Rücken- und Hüftschmerzen sind nur ein Bruchteil dessen, wie der gesellschaftliche Kontext migrantischer Landarbeit – insbesondere die Lebens- und Arbeitsbedingungen – sich auf die Körper meiner TriquiGefährt·innen auswirkt. Diese Schmerzen sind Beispiele der strukturellen Gewalt gesellschaftlicher Hierarchien, die in Form von Leiden und Krankheiten verkörpert werden. Die Baracken, in denen die Triqui-Pflücker·innen leben, die zermürbenden Bedingungen, unter denen sie arbeiten und die Gefahr, die sie in der Grenzwüste auf sich nehmen, fungieren als Mechanismen, durch die strukturelle Gewalt Leid erzeugt. Ich nutze das Wort Leid/en nicht nur für körperliche Krankheiten, sondern auch für mentale, existenzielle und zwischenmenschliche Pein. Scheper-Hughes und Bourgois schlagen vor, Gewalt als ein Kontinuum zu verstehen, das nicht nur direkte politische Gewalt umfasst, sondern auch strukturelle, symbolische und alltägliche Gewalt.1 Sie legen nahe, dass diese Ausdrucksweisen der Gewalt zu Kriegs- und zu Friedenszeiten einander erzeugen und verstärken sowie verbergen und legitimieren. Bourgois definiert direkte politische Gewalt als »gezielte körperliche Gewalt und Terror, die von offiziellen Behörden und von jenen, die sich ihnen entgegenstellen, ausgeübt werden.«2 Strukturelle Gewalt manifestiert sich in Form gesellschaftlicher Ungleichheiten und Hierarchien, häufig entlang sozialer Kategorien wie Staatsangehörigkeit, Klassenzugehörigkeit, Rassifizierung, Geschlecht und Sexualität.3 Symbolische Gewalt ist nach Bourdieu die Internalisierung und Rechtfertigung von Hierarchien. Sie wird durch das Erkennen und Verkennen, durch das Wissen und Empfinden, und mit dem unbewussten Einvernehmen der Dominierten ausgeübt. Scheper-Hughes nutzt den Begriff »Alltagsgewalt«, um die normalisierten Ausdrucksweisen von Gewalt auf häuslichen, kriminellen und institutionellen Ebenen zu beschreiben, die eine alltägliche Selbstverständlichkeit von Gewalt und Demütigung erzeugen.4 Bourgois fordert Ethnograf·innen dazu auf, »den Impuls des Zensierens zu prüfen und
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Vgl. Scheper-Hughes und Bourgois 2004; Bourgois 2001. Vgl. Bourgois 2001, S. 8. Vgl. Galtung 1969; Farmer 1997. Vgl. Scheper-Hughes 1992; ebd. 1997.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
stattdessen die Kausalitätsketten zu verdeutlichen, die strukturelle, politische und symbolische Gewalt zu einer alltäglichen Gewalt verknüpfen, die ungleiche Machtverhältnisse untermauert und Widerstandsbemühungen untergräbt.«5 Dieses Kapitel richtet die ethnografische Aufmerksamkeit darauf, »wie die Armen leiden«. In diesem Fall geht es um die Ärmsten der Armen auf der Farm, die Triqui-Erdbeerpflücker·innen. Ein Großteil des Leids der TriquiWanderarbeiter·innen kann als eine direkte Verkörperung des Gewaltkontinuums verstanden werden. Während meiner Feldforschung litten viele Triqui unter beträchtlichen Gesundheitsproblemen, die sich auf ihre Fähigkeit auswirkten, auf der Arbeit und in ihren Familien zu funktionieren. Ich diskutiere insbesondere die Erfahrungen von drei Migranten, die ich näher kennengelernt habe: Abelino, Crescencio und Bernardo. Während das Leiden der Triqui-Beerenpflücker·innen im Allgemeinen von deren Position ganz unten in mehreren Hierarchien bestimmt ist, soll jede dieser drei Skizzen die Verkörperung eines jeweiligen Ausdrucks des Gewaltkontinuums hervorheben. Abelinos Knieverletzung stellt das körperliche und geistige Leid dar, das von der strukturellen Gewalt der segregierten Arbeit verursacht wird. Crescencios Kopfschmerzen bringen die verkörperten Auswirkungen der verbalen und symbolischen Gewalt in Form von rassistischen Beleidigungen und Stereotypen ans Licht. Bernardos Bauchschmerzen betonen schließlich die Gesundheitseffekte der direkten politischen Gewalt durch militärische Repression. Gleichzeitig zeigt jeder Fall, inwieweit die Verkörperung der primären Gewaltform mit dem Rest des Gewaltkontinuums in Wechselwirkung steht.
Abelino und der Schmerz des Pflückens Der erste Triqui-Pflücker, dem ich begegnete, als ich das Skagit Valley besuchte, war Abelino, ein 35-jähriger Vater von vier Kindern. Er, seine Frau Abelina und ihre Kinder lebten zusammen in einer kleinen Baracke nahe meiner in dem Arbeitscamp, das am weitesten von der Hauptstraße entfernt liegt. In einer Unterhaltung, als wir hausgemachte Tacos in seiner Hütte aßen, erklärte mir Abelino auf Spanisch, warum die Triqui ihre Heimatorte in Mexiko verlassen mussten.
5
Vgl. Bourgois 2001, S. 30.
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Abb. 10: Abelino bei der Feldarbeit.
Foto von Seth M. Holmes.
In Oaxaca gibt es für uns keine Arbeit. Es gibt keine Arbeit. Es gibt nichts. Wenn kein Geld da ist, weißt du nicht, was du tun sollst. Und Schuhe kannst du nicht bekommen. Ein Schuh wie dieser [er zeigt auf seine Tennisschuhe] kostet rund 300 mexikanische Pesos. Du musst zwei Wochen lang arbeiten, um ein Paar Schuhe zu kaufen. Hosen kosten 300. Es ist schwierig. Wir kommen hierher und es ist ein bisschen besser, aber wir leiden noch immer bei der Arbeit. Es ist auch schwierig, so oft an einen anderen Ort zu ziehen. Mit der Familie hierher zu kommen und sich zwischen verschiedenen Orten zu bewegen. Wir leiden darunter. Die Kinder verpassen ihren Unterricht und lernen nicht gut. Deshalb wollen wir hier nur für eine Saison mit (legaler Aufenthalts- )Erlaubnis bleiben und den Kindern die Schulbildung in Mexiko ermöglichen. Müssen wir migrieren, um zu überleben? Ja, das müssen wir. Die Wirtschaft im Triqui-Gebiet von Oaxaca liegt danieder und die Situation ist bedrückend. Um ihre Häuser behalten und ihre Familien in Oaxaca unterstützen zu können, müssen die Menschen die Region verlassen, um zu arbeiten. Oaxacas wirtschaftliche Krise ist mit diskriminierenden internationalen Politiken aus den USA – wie NAFTA – verknüpft sowie mit ungleichen Wirtschaftspraktiken in Mexiko, die koloniale Wurzeln haben. Abelino beschreibt, wie die Unbeständigkeit der Migration auf vielen Ebenen Leid verursacht.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
Durch ihre Umzüge von einem Ort zum anderen können die Arbeiter·innen die meisten Einnahmen für irgendein Ziel ansparen und sie an Familienmitglieder in Oaxaca senden. Zugleich führt diese fortwährende Bewegung zu Phasen der Wohnungslosigkeit, zu der Angst, gefasst und abgeschoben zu werden, zur Entwurzelung von Verbindungen und Beziehungen außerhalb des Migrationskreislaufs sowie zu einem Verlust von produktivem Lernen und Kontinuität für die Kinder. Durch ihre Wohnortswechsel von Bundesstaat zu Bundesstaat fallen die Arbeiter·innen – einschließlich schwangerer Frauen und junger Mütter – aus dem Raster der Sozial- und Gesundheitsdienste heraus, auf die sie andernfalls Anspruch hätten. Später am selben Abend erklärte mir Abelino die Schwierigkeit, ohne offizielle Einreisedokumente in die USA zu gelangen: Wir müssen migrieren, um zu überleben. Und wir müssen die Grenze überqueren, zwei Tage und zwei Nächte – manchmal fünf Tage – leiden und laufen, um hierher zu kommen, zu arbeiten und die Amerikaner·innen zu unterstützen. Denn sie arbeiten nicht, wie wir es tun. Sie werden bloß reich, während sie einen leichten Job machen, etwa in Geschäften, in Büros, aber sie arbeiten nicht auf dem Feld. Wir Mexikaner·innen aus vielen mexikanischen Bundesstaaten kommen hierher, um unsere Familien zu ernähren. Wir möchten die Erlaubnis erhalten, bloß für die Erntesaison (legal) einzureisen und dann in unser Land zurückzukehren. Die Grenze von Mexiko in die USA zu überqueren, bürdet den TriquiMigrant·innen ein unglaubliches finanzielles, körperliches und emotionales Leid auf. Jede Person gibt auf diesem Weg zwischen 1500 und 2500 US-Dollar aus: für die verschiedenen Personen, die sie fahren oder führen. Sie laufen in Eile, unter körperlich unmöglichen Bedingungen, werden von Kaktusstacheln gestochen, versuchen Klapperschlangen auszuweichen, klettern und springen über unzählige Stacheldrahtzäune – und verwenden bei all dem keine Taschenlampen, um nicht vom Grenzschutz und von Bürgerwehren entdeckt zu werden. Wegen des Gewichts nehmen sie grundsätzlich nicht ausreichend Nahrung und Wasser mit. Sie gehen jeden Schritt dieses Weges in dem bedrohlichen Bewusstsein, jeden Moment vom Grenzschutz festgenommen und abgeschoben werden zu können. Das bedeutet für sie dann, dass sie Geld für einen neuen Versuch erneut zusammenkratzen und diese alptraumhafte Wanderung von vorn beginnen müssen. Das Leiden, über das Abelino am meisten sprach, bezog sich jedoch auf das Pflücken auf der Farm. Nach ihrer Ankunft im Skagit Valley versuchen viele Triqui, verschiedene Arten von Jobs zu bekommen, etwa auf Baustellen
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oder in der Verarbeitungsanlage der Farm. Doch der einzige Job, der ihnen offensteht, ist die Beerenernte. Während meiner Zeit auf der Farm erklärte mir Abelino früh die Erfahrung des Pflückens: »Du pflückst mit den Händen, gebückt, so kniend [er zeigt die Haltung mit vollständig angewinkelten Knien und nach vorn gebeugtem Kopf]. Dein Rücken tut weh: Du bekommst Knieschmerzen und Schmerzen hier [er fasst nach seiner Hüfte]. Wenn es regnet, wirst du ziemlich sauer und du musst weiter pflücken. Sie machen keine Mittagspausen. Du musst jeden Tag auf diese Art arbeiten, um irgendetwas zu verdienen. Du leidest sehr bei der Arbeit.« Er erklärte, dass das Pflücken der Blaubeeren im Herbst zwar nicht so körperlich zermürbend sei wie das Ernten der Erdbeeren im Sommer, das damit aber auch viel weniger Geld zu verdienen sei. Eines Morgens während meines ersten Sommers auf der Farm folgte ich wie sonst auch Abelino, seiner Frau und ihrer ältesten Tochter auf dem Weg zu den Feldern, auf denen wir an jenem Tag pflücken sollten. Es war stockdunkel bevor die Sonne aufging und wir trugen schwere Kleidung in Schichten, die wir mit der aufsteigenden Sonne ablegen würden. Wir standen Schlange und unsere Pflückkarten für den Tag wurden mit unserer Anfangszeit markiert. Doch wie wir es mittlerweile erwarteten, wurde die Karte markiert, als seien wir eine halbe Stunde später angekommen. Uns wurden Reihen nebeneinander zugewiesen und wir begannen schweigend, in unsere jeweiligen Eimer zu pflücken. Wie üblich fiel ich schnell zurück, obwohl ich gelernt hatte, relativ zügig mit beiden Händen gleichzeitig zu pflücken. Wir pflückten so schnell wir konnten, während wir hockend zwischen links und rechts wechselten, um aus beiden von dort erreichbaren Beerenreihen gleichzeitig zu pflücken. Am Ende jenes Tages erzählte mir Abelino, dass er beim Pflücken – inmitten einer Reihe bei einer der unzähligen Drehungen von rechts nach links – akute, intensive Schmerzen an seinem rechten Knie bekommen habe. Er sagte, es habe sich so angefühlt, als ob sein Fuß sich nicht mehr bewegen ließe und dann begann plötzlich der starke Schmerz. Der Schmerz saß im Innern des Knies und war direkt hinter der Kniescheibe am intensivsten. Er fühlte auch, dass sich etwas lose im Knie herum bewegte. Er versuchte den Rest des Tages weiterzuarbeiten – in der vergeblichen Hoffnung, dass der Schmerz wieder verschwinden würde. Er versuchte, mit gestreckten Knien und gebeugter Hüfte zu pflücken, aber das schmerzte fast genauso schlimm und machte ihn bedeutend langsamer, so dass er beinahe das Mindestgewicht verfehlte. Als wir am Ende des Tages zu unseren Autos gingen, um zum Camp zurückzufahren, erzählte Abelino unserer Aufsicht von dem Vorfall. Der Auf-
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
seher sagte einfach nur »OK« und fuhr ohne Weiteres in seinem weißen FarmPick-up davon. Unsicher was er nun tun sollte, versuchte Abelino am nächsten Tag mit großen Schmerzen weiterzupflücken und schaffte wieder nur knapp das Minimum. Folglich suchte Abelino vier Ärzt·innen, einen Physiotherapeuten und einen Triqui-Heiler auf. Er beantragte auch die bürokratisch schwierige Arbeitsunfallentschädigung. Schließlich wurde sein Schmerz von einer Reha-Ärztin als Patellaspitzensyndrom diagnostiziert, einer Entzündung der Sehnen hinter der Kniescheibe. Die gesellschaftliche und politische Genese von Abelinos Knieschmerzen hätte nicht deutlicher sein können. Sein Schmerz wurde zweifelsfrei dadurch verursacht, dass er als Triqui ohne Aufenthaltsstatus sowohl durch internationale Marktungleichheiten als auch durch diskriminierende Praktiken vor Ort von jeder anderen bis auf dieser einen (körperlich) engen und besonders traumatischen Arbeitsposition ausgeschlossen wurde. Diese Beschäftigung erforderte, dass er sich sieben Tage die Woche bei jedem Wetter in der Hocke gebückt hin und her drehte, um so schnell wie möglich Erdbeeren zu pflücken. Tendinitis wird biomedizinisch als Entzündung verstanden, die von der wiederholten Überlastung und Anstrengung einer bestimmten Sehne verursacht wird. Die Entzündung kann durch jahrelange Überarbeitung entstehen und von einzelnen Belastungsereignissen verschlimmert werden. Abelinos Position am unteren Ende der Arbeitshierarchie auf der Farm entlang von Ethnisierung und Staatsangehörigkeit bedeutete, dass er – wie hunderte weitere Triqui-Pflücker·innen mit Knie-, Rücken- und Hüftschmerzen – in ebendiese Bedingungen gezwungen wurde, die chronische Gelenkentzündungen und Gelenkabbau hervorbringen. Zudem vermischte sich sein Leiden mit der Tatsache, dass er – wie andere Triqui aus Oaxaca – von den Folgen internationaler Handelspolitik und der Expansion multinationaler Konzerne dazu getrieben wurde, eine lebensgefährliche Grenze zu überqueren und dann in Angst zu leben, an jedem Ort nur vorübergehend sein zu dürfen. Zumal er diese niedergeschlagene Situation für seine Kinder reproduzierte, die nicht in der Schule bleiben und nach einer besseren Zukunft streben konnten. So wurde sein Körper zum Opfer mehrerer Schichten der strukturellen Gewalt. Zu Beginn des darauffolgenden Sommers erzählte Abelino mir, dass er noch immer an Knieschmerzen litt. Nichtsdestotrotz versuchte er wieder zu pflücken – denn er wollte das Überleben seiner Familie sichern und sich weiter auf das Ziel zubewegen, das Dach seines Hauses in San Miguel zu decken.
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Die Hierarchie erleiden Auf der Tanaka-Farm korrelieren die Hierarchien der Ethnisierung und Staatsangehörigkeit mit der Rangordnung bezüglich der Arbeit und des Wohnens. Bei näherer Untersuchung wird deutlich, dass dieser ganze Komplex auf einer Hierarchie des Leidens kartiert werden kann. Sich dem Körper zu widmen, um das Gewaltkontinuum in der Migration zwischen Mexiko und den USA zu analysieren, ermöglicht ein tieferes Verständnis von den Verknüpfungen zwischen Ethnisierung, Staatsangehörigkeit, Gesundheit und Krankheit. Die Mitarbeiter·innen auf der Beerenfarm im Skagit Valley verkörpern Machtgefälle und Vorurteile. Die Arbeits- und Lebensbedingungen, das Maß des erfahrenen Respekts und der Zugang zu politischer Macht jeder der Gruppen in der Arbeitshierarchie führen zu verschiedenen Formen des Leidens von oben nach unten. Ein Fokus auf die Verkörperung verschiedener Ausdrucksweisen von Gewalt verdeutlicht, wie gesellschaftliche Kräfte sich auf und als körperliche Leiden auswirken. In der US-amerikanischen Landwirtschaft gilt im Allgemeinen: Je mexikanischer und »indigener« eine Person wahrgenommen wird, desto psychisch stressiger, körperlich belastender und gefährlicher ist der ihr zugewiesene Job. Wie viel Leid ein migrantischer Körper ertragen muss, wird also davon geprägt, wo er in der doppelt ethnisierten Arbeitshierarchie eingeordnet wird. Je weiter unten auf der Leiter – von angloamerikanischen USStaatsbürger·innen bis zu indigenen Mexikaner·innen ohne Aufenthaltsstatus – eine Person positioniert ist, desto herabwürdigender wird sie von Vorgesetzten behandelt, desto körperlich anspruchsvoller ist ihre Arbeit, desto mehr ist sie dem Wetter und den Pestiziden ausgesetzt, desto mehr Angst hat sie vor dem Staat, desto unkomfortabler ist ihr Wohnraum und desto weniger Kontrolle hat diese Person über ihre eigene Zeit. Natürlich leiden die Menschen auf allen Hierarchieebenen. Doch auch das Leid steigt von oben nach unten in der Hierarchie. Einige der gesellschaftlichen und geistigen Formen des Leids werden von der Farmleitung als Sorgen um die Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit beschrieben, von den Verwaltungsassistentinnen als Sorgen um die Wirtschaftlichkeit und den fehlenden Respekt ihrer Vorgesetzten und von den Beerenpflücker·innen als Sorgen um rassistische Beschimpfungen durch Aufseher·innen und das wirtschaftliche Überleben ihrer Familien. Auch für die konkrete körperliche Ebene des Leidens gilt diese grobe Verteilung. Zum Beispiel sorgt sich die Farmleitung am meisten um Krankheiten, die eher der oberen Mittelschicht zuge-
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schrieben werden, wie Herzinfarkt und Krebs. Die Verwaltungsassistentinnen sind ebenfalls um diese Krankheiten besorgt sowie um repetitive Belastungsverletzungen wie das Karpaltunnelsyndrom. Die Erdbeerpflücker·innen sind gefährdet, Herzkrankheiten und viele Krebsarten zu bekommen, sorgen sich aber am meisten um Pestizidvergiftungen, Muskel- und Skelettverletzungen sowie chronische Schmerzen. Die Triqui stehen ganz unten in der Rangordnung im Skagit Valley. Sie wohnen in den kältesten und feuchtesten Baracken, ohne Isolierung oder Heizung unter einem Zinndach. Sie haben die stressigsten, demütigendsten und körperlich belastendsten Jobs und arbeiten sieben Tage die Woche ohne Pausen, wobei sie Pestiziden und dem Wetter ausgesetzt sind. Triqui-Pflücker·innen ertragen einen ungleichen Anteil an Krankheit und Schmerzen.
Crescencio und die Qual der Beleidigung Nach einem ganzen Pflücktag auf dem Erdbeerfeld – gegen Ende meines ersten Sommers –, kehrte ich zu meiner Hütte zurück und stellte fest, dass die lokale Klinik für Migrant·innen eine Gesundheitsmesse im Arbeitscamp vorbereitete. An der Veranstaltung war ein pensionierter evangelikal-christlicher Missionar beteiligt, der früher in Südamerika stationiert gewesen war. Er reiste nun mit einem großen Wohnwagen an, der zu einer mobilen Zahnklinik umgebaut war, sowie mit einer Zahnärztin, ein paar Pflegekräften, einigen Gesundheitspädagog·innen und mehreren Medizinstudent·innen, die mit ihren privaten Autos kamen. Während die Pflücker·innen duschten, ihre Kleidung voller Beerenflecken wechselten und Wäsche machten, liefen die Pfleger·innen und Gesundheitspädagog·innen die Staubwege des Camps entlang und informierten die Leute, dass auf dem Basketballfeld die Messe stattfinden würde. Die Veranstaltung begann damit, dass sie die im Camp lebenden Kinder zusammentrieben und ihnen zeigten, wie sie ihre Zähne putzen und Zahnseide benutzen sollten. Nachdem sie den anwesenden Kindern Zahnbürsten und Zahnpasta ausgeteilt hatten, packten sie einen großen, rechteckigen Kuchen mit bunter Glasur aus, schnitten ihn in kleine Teile und verteilten ihn an die lange Schlange aufgeregter Kinder. Als nächstes zeigten sie ein Video, in dem eine mexikanische, subsistenzwirtschaftende, alleinerziehende Mutter, deren Mann gestorben war, sich bei ihrem Freund mit HIV infizierte. Die Pflegerin, die die Fragerunde nach dem Film leitete, betonte mehrfach, dass »nicht nur Schwuchteln [jotos] HIV bekommen; das kriegen
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auch Bäuerinnen [campesinas], Mütter und Freundinnen.« Die jungen Männer, mit denen ich zusammenstand, kicherten jedes Mal wenn sie joto sagte. Die zwölf Medizinstudent·innen, von denen nur zwei Spanisch sprachen, kamen aus der nahegelegenen medizinischen Fakultät und verbrachten die dreistündige Gesundheitsmesse abwechselnd damit, zuzuschauen, untereinander zu quatschen und Second-Hand-Kleidung in eine lebhafte Ansammlung von Wanderarbeiter·innen zu werfen. Als die Gesundheitsmesse dem Ende zuging und die Mitarbeiter·innen der lokalen Migrant·innen-Klinik zusammenpackten, kam ein Mann aus dem Camp zu mir herüber. Crescencio wohnte mit seiner Frau, zwei Töchtern im Alter von fünf und acht Jahren und einem elfjährigen Sohn in einer Baracke nahe meiner. Er hatte von der Campleitung gehört, dass ich angehender Arzt war und fragte mich, ob ich Medizin gegen Kopfschmerzen hätte. Als ich um mehr Informationen bat, erklärte er mir, dass er seit fast sieben Jahren an lähmenden Kopfschmerzen litt – also etwa seitdem er zum Arbeiten migrierte. Er beschrieb den Schmerz, der mittig im oberen Kopf saß und manchmal auch hinter dem einen oder anderen Auge. Der Schmerz war so entsetzlich, dass er sich auf nichts konzentrieren konnte, bis er schließlich nachließ. Wie jede·r gute·r Medizinstudent·in, stellte ich viel zu viele Fragen. Ich fand heraus, dass die Kopfschmerzen nicht besser wurden dadurch, dass Crescencio aß, sich ausruhte, hinsetzte, aufstand, sich bewegte, Wasser trank oder auch Tylenol oder Ibuprofen einnahm. Er erklärte mir geduldig, dass er diese schwerwiegenden Kopfschmerzen jedes Mal bekam, wenn ein·e Aufseher·in ihn bei der Arbeit beleidigte, sich über ihn lustig machte oder ihn ungerecht rügte. Die häufigsten Auslöser waren die Beleidigung »dummer Oaxacaner« oder wenn ihm auf herablassende oder wütende Art befohlen wurde, sich zu »beeilen«, während er bereits so schnell pflückte, wie er nur konnte. Er erklärte mir, dass er sich Sorgen machte, weil mit diesen Kopfschmerzen jedes unangenehme Geräusch und jede Verärgerung ihn stark mitnahm und er dann schneller wütend auf seine Frau und Kinder wurde. Weniger wütend mit seiner Familie zu sein, war sein Hauptgrund, Hilfe bezüglich der Kopfschmerzen zu suchen. Er wollte sich dieses Problems annehmen, bevor es noch ernster würde – genauer, bevor er gegen seine Frau oder Kinder gewalttätig werden würde. Nach den ersten Saisons der Migration in andere mexikanische Bundesstaaten hatte Crescencio Ärzt·innen in der öffentlichen Klinik in San Miguel aufgesucht, die es mit verschiedenen Tabletten und Spritzen versuchten. Einige der Medikamente brachten kurzfristig Linderung, aber die Kopfschmer-
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zen kamen immer wieder. Nach Jahren der Migration innerhalb Mexikos begann Crescencio, zum Arbeiten auf die Tanaka-Farm in Washington zu kommen, doch die Kopfschmerzen hielten an. Im Arbeitscamp sowie zu Hause in Oaxaca, wo er in den Wintern zurückkehrte, traf er auch eine·n TriquiHeiler·in, die ihm traditionell die Zukunft vorhersagte und eine Reinigung durchführte, um böse Geister aus seinem Körper zu vertreiben. Diese Interventionen linderten die Kopfschmerzen für eine Weile. Doch nach jeder biomedizinischen oder traditionellen Behandlung kehrten die Kopfschmerzen zurück, ausgelöst vom erneut respektlosen Umgang mit ihm auf der Arbeit. Die einzige Behandlung, die Crescencio gefunden hatte, war das Trinken von 20 bis 24 Bier. Er teilte mir sachlich mit, dass er sich, wenn er diese Menge an Bier trank, entspannen konnte und der Schmerz am nächsten Morgen weg war. In einer durchschnittlichen Arbeitswoche musste er diese Abhilfe mehrfach anwenden. Crescencios Kopfschmerzen zeigen den komplizierten Kreislauf von Verknüpfungen zwischen Leiden und den gesellschaftlichen und symbolischen Kräften, die sein Leben strukturieren. Erstens ist Crescencio – wie Abelino und andere Triqui-Migrant·innen – Opfer der gesellschaftlichen Kräfte, die ihn dazu zwingen, unter schlechten Bedingungen am unteren Ende der Hierarchie zu leben und zu arbeiten. Zweitens beschimpfen ihn einige Personen, die ihm in der Hierarchie übergeordnet sind, mit rassistischen Beleidigungen und unmöglichen Forderungen. Die Verachtung, mit der Crescencio behandelt wird, führt zu seinen entsetzlichen Kopfschmerzen. Diese gesellschaftlich bedingten Kopfschmerzen bringen ihn dazu, auf seine Familie wütend zu sein und sich zu betrinken – und so unfreiwillig das Stereotyp von mexikanischen Migranten als Frauenfeinden und Alkoholikern zu bedienen. Dieses Stereotyp dient dann dazu, die Hierarchie entlang von Ethnisierung und Staatsangehörigkeit auf der Farm und den rassistischen Umgang mit Wanderarbeiter·innen zu rechtfertigen. Diese symbolische Gewalt, die Crescencio genau verkörpert, macht den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit unsichtbar, die der Respektlosigkeit zugrunde liegen, die er und andere mexikanische Migrant·innen so selbstverständlich erfahren. Schließlich kommt diese Respektlosigkeit zu den Kräften hinzu, die migrantische Beerenpflücker·innen am unteren Ende der Farmhierarchie positionieren.
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Abb. 11: Selbstmedikation: Tablettendosen hinter einer Hütte.
Foto von Seth M. Holmes.
Wanderlandarbeit und gesundheitliche Ungleichheit im Kontext Im ganzen Land sind immigrierte Landarbeiter·innen kränker als andere Bevölkerungsgruppen. Im Einklang mit dem Konzept der strukturellen Verletzbarkeit6 verläuft diese gesundheitliche Ungleichheit entlang von Staatsangehörigkeit, Ethnisierung und Klassengrenzen. Wie in Kapitel 2 erwähnt, zeigt der National Agricultural Workers Survey, dass 81 Prozent der Landarbeiter·innen Migrant·innen sind. Von diesen wurden 95 Prozent in Mexiko ge6
Vgl. Quesada, Bourgois und Hart 2011.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
boren7 und 52 Prozent haben keinen Aufenthaltsstatus in den USA.8 Die Forschung schätzt, dass sich eine Million indigener Migrant·innen aus Oaxaca in den USA aufhalten – die meisten davon Mixtek·innen, Zapotek·innen und Triqui.9 Das Durchschnittsalter von Landarbeiter·innen ist 29 Jahre und sehr wenige sind über 60 Jahre alt.10 Jedoch sind die Gesundheitsstatistiken für immigrierte Landarbeiter·innen ungenau, da keine richtige Zählung möglich ist. Schätzungen zur Zahl der immigrierten Landarbeiter·innen in den USA schwanken zwischen 750.000 und 12 Millionen.11 Zudem sind die meisten Daten zu Morbidität und Sterblichkeit nach unten hin verzerrt, weil Arbeiter·innen ohne Aufenthaltsstatus Angst haben, Gesundheitsprobleme zu melden, weil Arbeits- und Gesundheitsgesetze in der Landwirtschaft wenig durchgesetzt werden und weil viele lateinamerikanische Migrant·innen de facto in ihre Herkunftsländer zurückkehren, wenn sie älter oder behindert werden, was zur statistischen Voreingenommenheit führt, die Arbeiter·innen seien gesund [healthy worker bias].12 Trotz großer Aufmerksamkeit in der Öffentlichen Gesundheit für das, was oft als »Paradox der gesunden Latin@s« bezeichnet wird, hat eine Menge Forschung gezeigt, dass Landarbeiter·innen einen unverhältnismäßig großen Anteil an Erkrankungen haben. Dieses Paradoxon bedeutet, dass es bestimmte Gesundheitszustände gibt, in denen die Latin@-Bevölkerung insgesamt besser abschneidet als anders ethnisierte Gruppen, obwohl ihr sozioökonomischer Status im Verhältnis schlechter ist. Ein Hauptproblem hier ist die Definition der Metakategorie »Latin@«. Ein Großteil der Forschung zu diesem Paradoxon unterscheidet weder zwischen Menschen, die in den USA geboren wurden und jenen, die woanders geboren wurden, noch zwischen Menschen aus Spanien, Südamerika, Zentralamerika und Mexiko – geschweige denn zwischen solchen mit und ohne indigenen Familienhintergrund. Obwohl die Triqui, die ich kennengelernt habe, sich selbst nicht als Latin@s betrachten, verbuchen die Daten der Öffentlichen Gesundheit und des Zensus alle Menschen, die sagen, dass sie familiäre Bezüge zu Lateinamerika haben, in einer gemeinsamen Kategorie namens »Latin@« (oder Hispanic im Falle des
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Vgl. Kandula, Kersey und Lurie 2004. Vgl. Villarejo 2003. Vgl. McGuire und Georges 2003. Vgl. Frank et al. 2004; Slesinger 1992. Vgl. Slesinger 1992. Vgl. Villarejo 2003.
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Zensus). Jüngere Forschung zeigt, dass in den USA Latin@-Kinder doppelt so oft sterben oder ins Krankenhaus kommen, nachdem sie als Fußgänger·innen verletzt wurden, wie weiße Kinder. Erwachsene Latin@s erhalten seltener Vorsorgeuntersuchungen auf Krebserkrankungen.13 Ein Bericht des Institute of Medicine deutet außerdem darauf hin, dass alle nicht weiß ethnisierten Bevölkerungsgruppen definitiv eine geringwertigere Gesundheitsversorgung erhalten.14 Obwohl es nur wenig spezifische Forschung zur kleineren Bevölkerungsgruppe der Menschen aus Oaxaca gegeben hat, ist es wahrscheinlich, dass sie in den USA eine noch schlechtere Gesundheitsversorgung erhalten als andere »Latin@s«, da es ihnen im Verhältnis an gesellschaftlichem und kulturellem Kapital und an beruflichen, sprachlichen und Bildungsressourcen fehlt.15 Neben der Meta-Ethnisierung als Latin@s gehören Triqui-Erbeerpflücker·innen zur benachteiligten Kategorie der Menschen, die in die USA eingewandert sind. Mehrere Studien zeigen, dass der Gesundheitszustand immigrierter Menschen sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer in den USA verschlechtert. Gesundheitsindikatoren wie Übergewicht, erhöhter Cholesterinspiegel, Tabak- und Alkoholkonsum, Konsum illegaler Drogen, psychische Erkrankungen, Suizid sowie Tötungen nehmen zwischen mexikanischen Immigrierten und ihrer Nachfolgegeneration in den USA zu.16 Auch der Nährwert der Ernährung von Migrant·innen nimmt mit dem ersten Jahr in den USA bedeutend ab.17 Bei Immigrierten ohne Aufenthaltsstatus kommt der zusätzlich negative Gesundheitsfaktor hinzu, dass sie überwinden müssen, was Wissenschaftler·innen schon als »gewaltvollste Grenze der Welt zwischen zwei Ländern, die nicht miteinander im Krieg sind« bezeichnet haben.18 Ein fehlender Aufenthaltsstatus steigert zudem die »allostatische Belastung« – biomedizinisch verstanden als Anhäufung von Gesundheitsrisiken, die mit chronischem Stress zusammenhängen – aufgrund der traumatischen Erfahrungen der Grenzüberquerung und der Angst vor der Abschiebung.19
13 14 15 16 17 18 19
Vgl. Kandula, Kersey und Lurie 2004. Vgl. Kauffold et al. 2004. Vgl.Bourdieu 1997. Vgl. ebd.; Villarejo 2003. Vgl. Villarejo 2003. Vgl. McGuire und Georges 2003. Vgl. ebd.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
Zudem leiden mexikanische Wanderarbeiter·innen in der Landwirtschaft aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit an einer schlechteren Gesundheit. Landarbeiter·innen haben eine fünf Mal höhere Sterblichkeitsrate als alle anderen Arbeiter·innen.20 Außerdem haben Arbeiter·innen in der Landwirtschaft eine erhöhte Rate an nicht tödlichen Verletzungen, muskuloskelettalen Schmerzen, Herzleiden und vielen Krebstypen.21 Kinder, die in der Nähe von Farmen geboren werden, haben zudem ein erhöhtes Risiko für Totgeburten und angeborene Geburtsfehler.22 Des Weiteren deutet die Forschung darauf hin, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte der Arbeiter·innen in der Landwirtschaft von chronischen Symptomen berichtet, die mit der Pestizidbelastung zusammenhängen: etwa Kopfschmerzen, Haut- und Augenirritationen sowie Erkältungssymptome.23 Für immigrierte und Saisonarbeiter·innen verschärft sich diese Situation noch – sie haben in der Landwirtschaft den schlechtesten Gesundheitszustand. Die große Mehrheit dieser Personen und Familien lebt unterhalb der Armutsgrenze.24 Bei ihnen treten viele chronische Erkrankungen häufiger auf; etwa Mangelernährung, Blutarmut, Bluthochdruck, Diabetes, Dermatitis, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Angst, Erinnerungsprobleme, Unfruchtbarkeit, Bluterkrankungen, Zahnprobleme und Auffälligkeiten in der Leber- und Nierenfunktion.25 Immigrierte Landarbeiter·innen haben häufiger Lungenprobleme – und zwar in einem Maß, dass die Landarbeit eine vergleichbare Auswirkung auf die Lungengesundheit hat wie das Rauchen.26 Auch akute Krankheiten treten häufiger auf – etwa Infektionen des Blasentraktes oder der Nieren, Hitzeschlag, Milzbrand, Ascariose (Spulwurmbefall), Enzephalitis (Hirnentzündung), Leptospirose, Tollwut, Salmonellose, Tetanus und Kokzidioidomykose (auch als Talfieber oder Wüstenfieber bekannt) – die größtenteils von schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie fehlenden Sanitäranlagen verursacht werden.27 Die Prävalenz für Tuberkulose, die ebenfalls mit verarmten Lebensbedingungen verknüpft ist, ist unter immigrierten Arbeiter·innen
20 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Frank et al. 2004. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.; Mobed, Gold und Schenker 1992. Vgl. Frank et al. 2004. Vgl. Rust 1990; Slesinger 1992; Villarejo 2003. Vgl. Slesinger 1992; Mobed, Gold und Schenker 1992. Vgl. Mobed, Gold und Schenker 1992. Vgl. Ebd.; Sakala 1987.
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sechs Mal höher als in der allgemeinen US-amerikanischen Bevölkerung.28 HIV-Infektionen kommen drei Mal so oft vor wie in der US-amerikanischen und mexikanischen Bevölkerung.29 Die Kinder von immigrierten Landarbeiter·innen weisen häufig Mangelernährung, Sehstörungen, Zahnprobleme, Anämie und Bleivergiftungen auf.30 Trotz des schlechteren Gesundheitszustands und dem daraus folgenden Bedarf nach Gesundheits- und Sozialdiensten, ist der Zugang dazu für Wanderlandarbeiter·innen mit enormen Hürden versehen. Landarbeiter·innen sind in allen – außer 15 der 50 – US-amerikanischen Bundesstaaten gänzlich oder teilweise von Arbeitsunfallentschädigungen ausgeschlossen.31 Das Arbeitsschutzgesetz, der Fair Labor Standards Act von 1938, gewährleistete einen Mindestlohn und Zuschläge für Überstunden und schränkte Kinderarbeit ein; doch das Gesetz galt nicht für Landarbeiter·innen. 1966 erweiterten Gesetzesänderungen seine Gültigkeit vordergründig auf Landarbeiter·innen, schlossen deren Mehrheit jedoch wieder aus, da das Gesetz noch immer nicht für kleine Hofbetriebe und auch nicht für Arbeiter·innen galt, die Akkordlöhne bekamen. Die Änderungen schränkten die Kinderarbeit in der Landwirtschaft ein: Kinder unter 16 Jahren durften nun nur noch ungefährliche Landarbeitsjobs übernehmen. Erst ab 16 Jahren durften sie dann auch gefährliche Aufgaben übernehmen. Die Änderungen von 1974 erhielten die Ausschlussklauseln aufrecht. Die meisten Landarbeiter·innen wurden zudem durch das Sozialversicherungsgesetz und seine späteren Anpassungen von Leistungen bezüglich Arbeitslosigkeit ausgeschlossen. Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus haben darauf ohnehin keinen Anspruch. Obwohl die Wohnsituation von Migrant·innen im Housing Act von 1949 und im Occupational Safety and Health Act von 1970 erwähnt wird, fallen auch ihre Lebensbedingungen weiterhin hinter den Forderungen zurück. Und schließlich wurde den Arbeiter·innen in der Landwirtschaft das im Wagner Act von 1935 festgehaltene Recht verwehrt, kollektiv zu verhandeln. Sie haben dieses Verhandlungsrecht nur im Bundesstaat Kalifornien mit dem Agricultural Labor Relations Act von 1975 erhalten – nachdem sich die United Farm Workers (UFW) dort enorm organisierten und starke Repressionen und Gewalt ertragen mussten. Obwohl dieser Sieg zu verbesserten Arbeitsbedingungen führte,
28 29 30 31
Vgl. Villarejo 2003. Vgl. Rural Migration News 2005. Vgl. Mobed, Gold, and Schenker 1992. Vgl. Sakala 1987.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
blieb das Landwirtschaftssystem in Kalifornien für Arbeiter·innen auf Farmen ohne UFW-Verträge extrem ausbeutend. Des Weiteren müssen wir uns daran erinnern, dass die bestehenden Vorgaben für Landarbeiter·innen oft nicht eingehalten werden, da das Machtgefälle so groß ist und Vorgesetzte den Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus mit der Abschiebung drohen können, sollten sie Verstöße anzeigen. Obwohl es ein bundesweites Migrant Health Program gibt, erreicht es nach Schätzungen nur 13 Prozent der eingewanderten Arbeiter·innen, also der Bevölkerungsgruppe, auf die es abzielt.32 Obwohl sie weit unter der Armutsgrenze leben, haben weniger als ein Drittel der immigrierten Frauen Anspruch auf MedicAid.33 Meist liegt das an ihrer nicht sesshaften Existenz in mehreren Bundesstaaten und ihrem fehlenden Aufenthaltsstatus.34 Wissenschaftler·innen schätzen, dass weniger als 30 Prozent der immigrierten Arbeiter·innen krankenversichert sind – im Gegensatz zu geschätzten 84 Prozent der gesamten US-amerikanischen Einwohner·innen.35 Diese Ungleichheit wird mit der ansonsten löblichen Reform der Gesundheitsversorgung im Jahr 2009 wohl noch verstärkt werden (bzw. worden sein). Sie soll(te) den Anteil der US-Staatsbürger·innen mit Krankenversicherung erhöhen, enthielt aber keine Bestimmungen für die verletzbarste Bevölkerungsgruppe: die eingewanderten Arbeiter·innen. Des Weiteren wird geschätzt, dass in Kalifornien weniger als zehn Prozent der indigen-mexikanischen Landarbeiter·innen krankenversichert sind, während es von ihren mestizischen Kolleg·innen 30 Prozent sind.36 Unter anderem aufgrund dieser Hindernisse ist es für Wanderarbeiter·innen unwahrscheinlicher, dass sie präventiv versorgt werden. 27 Prozent von ihnen erhalten nie eine Routineuntersuchung, 25 Prozent nie eine Zahn- und 43 Prozent nie eine Augenuntersuchung.37 Tatsächlich nehmen viele Wanderarbeiter·innen in den USA bedeutende Härten auf sich, um nach Mexiko zurückzukehren und sich dort medizinisch versorgen zu lassen. Sie erklären diese Entscheidung mit wirtschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Gründen.38 Wichtig ist, dass diese Statistiken direkt der beliebten Kla32 33 34 35 36 37 38
Vgl. Villarejo 2003. Anmerkung zur Übersetzung: MedicAid ist ein staatliches Unterstützungsprogramm für die Gesundheitsversorgung bedürftiger Menschen in den USA. Vgl. Kauffold et al. 2004. Vgl. Health Outreach Partners 2010; Villarejo 2003; Migration News 2004. Vgl. Mines, Nichols und Runsten 2010. Vgl. siehe Bade 1999. Vgl. Slesinger 1992. Vgl. Kauffold et al. 2004.
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ge unter US-Amerikaner·innen widersprechen, Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus seien der Grund für den Niedergang des US-amerikanischen Gesundheitssystems, weil sie es zu viel nutzten.
Bernardo und die Folgen der Folter In meiner Zeit auf der Farm in Washington traf ich eine Triqui-Familie, die außerhalb des Camps in einer Wohnung im Ort wohnte. Der 27-jährige Martin hatte über seinen Vater Bernardo einen legalen Aufenthalt in den USA erhalten, der durch den Straferlass von 1986 als Landarbeiter unter dem BraceroProgramm seinen Aufenthaltsstatus sichern konnte.39 Martin arbeitet nicht mehr auf der Tanaka-Farm, sondern gemeinsam mit seiner Frau in einer Anlage, in der Hühnerfleisch verpackt wird. Bernardo war seinerzeit einer der ersten Triqui, die nach Washington kamen. Als er den Aufenthaltsstatus in den USA erhielt, beendete er seine Arbeit auf der Farm und zog zurück nach Oaxaca. Seit den 1980er Jahren arbeitet Bernardo nun jeden Sommer fünf Monate lang in einer Fischfabrik in Alaska, um sich, seine Frau und seine Schwester zu finanzieren. Die Familie kommt ursprünglich aus San Pedro, einer Triqui-Ortschaft in den Bergen von Oaxaca nahe San Miguel – dem Heimatort der anderen Triqui, die ich in Washington kennenlernte. Während das gesamte Triqui-Gebiet in Oaxaca dafür verschrien ist, gewaltvoll zu sein, ist San Pedro das berüchtigtste. Daher stammt auch die Bewegung für die Vereinigung und den Kampf
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Anmerkung zur Übersetzung: Das Bracero-Programm bestand aus einer Reihe von Gesetzen und diplomatischen Vereinbarungen, die von 1942 bis 1964 die Arbeitsmigration von Mexiko in die USA regelten. Das Programm rettete die US-amerikanische Landwirtschaft (auch, indem es die Organisierung der Landarbeiter untergrub), jedoch waren die Bedingungen für die mexikanischen Arbeiter miserabel. Das Ende des Programms hinterließ Menschen ohne Aufenthaltsstatus, die weiterhin in der USamerikanischen Landwirtschaft arbeiteten. 1986 erließ US-Präsident Reagan den Immigration Reform and Control Act (auch bekannt als Straferlass von 1986). Das Gesetz gab illegalisiert in den USA lebenden Migrant·innen die Möglichkeit, einen legalen Status zu bekommen, wenn sie bestimmte Vorgaben erfüllten. Beinahe drei Millionen undokumentierte Migrant·innen erhielten auf diesem Wege einen legalen und dauerhaften Aufenthaltsstatus. Das Gesetz verbot auch, Arbeiter·innen ohne Aufenthaltsstatus wissentlich einzustellen.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
der Triqui (El Movimiento de Unificación y Lucha Triqui, MULT), die sich während meiner Feldforschung von einer Widerstandsbewegung im Untergrund zu einer offiziellen politischen Partei entwickelte. MULT war eine verhältnismäßig kleine Bewegung, die sich auf den Ort San Pedro konzentrierte und nicht mit anderen zeitgenössischen Bewegungen wie den Zapatistas in Chiapas verknüpft war. Mitten im Winter rief mich Martin an und lud mich ein, mit ihm einen Road Trip nach Oaxaca zu unternehmen. Zwei Tage später brachen wir auf und fuhren ohne Schlafpausen bis nach Oaxaca durch. Auf der 5000 Kilometer weiten Fahrt (pro Strecke) waren wir fünf Personen in meinem engen Honda Civic: Martin, seine vierjährige Tochter,seine siebenjährigen Söhne und ich. Wir hielten auf beiden Fahrten bloß für einen Ölwechsel in Arizona an, ein oder zwei Mal am Tag um Essen zu kaufen sowie ein Mal, um im ländlichen Oaxaca einen platten Reifen zu wechseln. Ansonsten wechselten Martin und ich uns damit ab, zu fahren, zu schlafen und die Kinder zu unterhalten. Auf dem Weg nach Süden mussten wir zudem öfters sauber machen, nachdem Martins Tochter eine Lebensmittelvergiftung erlitt, Durchfall hatte und sich übergeben musste. Ich verbrachte meine erste Woche im Bundesstaat Oaxaca in Bernardos Haus in der Stadt Juxtlahuaca. Seine Familie kam ursprünglich aus San Pedro, wo ihr Land am Ortsrand nahe eines mestizischen Dorfes lag. Dort wurden sie regelmäßig von bewaffneten Nachbar·innen angegriffen oder griffen die Nachbar·innen selbst an. Der fortwährende gewaltvolle Konflikt drehte sich primär um Landbesitz und politische Zugehörigkeiten. Die meisten Leute in San Pedro unterstützten MULT, während der Nachbarort die Institutionalisierte Revolutionspartei [Partido Revolucionario Institucional, PRI] unterstützte, die in Mexiko seit über siebzig Jahren an der Macht ist. Bei unserem Besuch in San Pedro beschrieb Bernardo die Situation in gebrochenem Spanisch, seiner Zweitsprache. Es gab viele Tote! Oh, so viele Tote! Es gab dort ein 14-jähriges Mädchen [er zeigt auf die Berge, wo die meisten Triqui leben], noch ein Kind. Sie haben sie geholt, bevor sie den Hügel hoch ist. Viele haben sie vergewaltigt. Sie haben sie vergewaltigt, zu mehreren! Dann wurde sie umgebracht, mit sehr viel Gewalt, viele Messerstiche. Dann wurde dort, wo wir hingezogen waren, ein Lehrer umgebracht [er zeigt in Richtung San Pedro]. Oh! Der Sohn von Miguel [einem Mann aus der Führungsriege von MULT], erinnerst du dich? Ich habe ihm Limonade gegeben? Ich stand hier [er gestikuliert] und du warst dort neben Martin. Sie haben seinen Sohn erschossen.
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Dann da drüben und dort und dort [er zeigt mit der Hand in mehrere unterschiedliche Richtungen]. Oh, so viele Tote. Vielleicht acht, vielleicht zehn, in den letzten zwei Monaten. Böse Leute, sehr böse. Sie morden zwischen politischen Parteien. Es ist hier sehr gefährlich. Wenn du etwas sagst und nicht mitbekommst, dass dir jemand im Verborgenen zuhört, macht es plötzlich »Peng!« oder mit dem Messer – und du bist tot. Ich kann hier abends nicht raus, auch wenn wir etwas brauchen. Nicht am Abend, nein! Gefährlich, es ist sehr gefährlich hier. Tagsüber ist es okay. Ich gehe auf den Markt oder zum Arzt. Aber nicht am Abend. Ich habe Angst. So viel Gefahr, ja, ja. Bernardo und Martins Familie ist, wie viele andere, von San Pedro in die nahegelegene Kleinstadt Juxtlahuaca gezogen, um der Gewalt zu entkommen. Viele solcher Landkriege dauern in La Mixteca in der Region Oaxaca noch immer an. Mit dem Geld, das Bernardo durch seine Wanderarbeit in den USA verdient hatte, konnte die Familie sich ein Haus in Juxtlahuaca bauen und in einem Raum des Hauses einen kleinen Laden eröffnen. Als wir am Abend auf den steilen Schotterpisten von unserem Besuch in San Pedro zurückfuhren, fragte mich Bernardo, ob ich eine gute Medizin für seinen Bauch wüsste. Er erklärte mir, dass er seit acht Jahren Magenschmerzen habe. Er sagte: »Mein Magen mag Essen nicht mehr. Ich habe keine Lust mehr, zu essen. Essen tut weh.« Bevor er jeden Frühling nach Alaska fährt, um dort zu arbeiten, gibt ihm sein Arzt in Juxtlahuaca eine ganze Reihe an »Vitaminspritzen« und »Spritzen, die den Appetit anregen sollen«, so dass er genug Energie hat, um in der Fabrik zu arbeiten. Wenn er aus Alaska zurückkehrt, ist er schwach und dünn und bekommt dieselben vielen Spritzen wieder, um seine Kraft zurückzuerlangen, damit er sich um die Maisfelder der Familie nahe Juxtlahuaca kümmern kann. Die folgende Beschreibung wurde von regelmäßigem Stöhnen und Seufzen begleitet. Es bereitet mir solche Schmerzen! Genau hier [er zeigt auf seinen Unterbauch], solche Schmerzen – und sie kommen hoch. Sie hüpfen wie Stimmbänder, so, so [er öffnet und schließt in schnellem Wechsel seine Hände]. Ich wache auf und mein Bauch tut weh, au! Er wird hart, wie diese Bank hier hart ist [er berührt die Holzbank, auf der wir sitzen]. Dann drücke ich auf meinen Bauch mit einer Limo-Flasche. Ich drücke und drücke und drücke hier [er drückt seine Faust langsam in seinen Bauch]. Und es hilft ein bisschen. Aber, au! Ich kann es nicht leiden. Ich kann nicht essen! Nichts! Jedes Mal, wenn ich esse, tut es weh, es schmerzt. Aber ich halte aus [me aguanto]. Ich halte aus, bis die Arbeit vorbei ist.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
Bernardo hatte in den letzten Jahren an Gewicht verloren und fühlte sich jeden Morgen schwach, wenn er um 5 Uhr früh aufbrach, um auf den Familienfeldern zu arbeiten – noch bevor ich aufstand. Seine Frau sagte mir, dass er sich zwingen musste, eine Tortilla und ein Ei zu essen, bevor er mit der Feldarbeit begann. Als ich ihn fragte, warum sein Bauch wehtat, erklärte er mir erst, dass es daran lag, dass er sein ganzes Leben lang schon so hart arbeitete. Ich habe meine Schmerzen wegen der vielen Arbeit. Oh, so viel Arbeit. Ich bin nach Veracruz losgezogen, um Zuckerrohr zu schlagen, als ich acht war. So viel Arbeit in meinem ganzen Leben. Veracruz, Baja California, Washington, Oregon, Kalifornien, North Carolina, oh! Und jetzt Alaska. Und hier auch, das Maisfeld und das Haus. Mein ganzes Leben schon arbeite ich viel. Und man wird müde, müde, und der Körper tut weh. In Alaska arbeiten wir 16 Stunden, ja! Sieben Tage die Woche. Zwei Monate lang ohne Pause. Dann für zwei weitere Monate lang vielleicht zehn Stunden oder acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Oh! So viel Arbeit! »So viel zu arbeiten [tanto trabajar], zehrt den Körper aus«, sagte er mit einem erschöpften Lächeln. Er fuhr fort: »Alles, was ich habe, habe ich erarbeitet. Ich ernte den Mais, schneide die zacate [Maispflanzen], binde sie, alles allein, allein. Ich bin 62 Jahre alt oder vielleicht 80; ich weiß es nicht.40 Dieses Haus, dieser Boden, es kommt alles von meiner Arbeit. Wer wird mich und meine Familie ernähren, wenn ich nicht arbeite? Niemand. Es gibt hier nichts.« Als ich ihn fragte, warum die Schmerzen vor acht Jahren anfingen, fügte er eine wichtige Information hinzu: »Auch die Soldaten. Du weißt, was Soldaten [soldados] sind, oder? Ja, die Soldaten haben mich viele Male geschlagen und getreten. Sie haben mich so in den Bauch geschlagen [er macht eine Faust und boxt in die Luft]. Ah! So viele Prügel [chingadazos], bis alles voller Blut war. Wegen der Bewegung [MULT]. Leute erzählten Gerüchte über uns und dann kamen die Soldaten, die blauen Soldaten und verprügelten mich.« Acht Jahre zuvor wurde Bernardo von der mexikanischen Bundespolizei, die für Drogen zuständig ist, entführt und gefoltert. Wegen der Farbe ihrer Uniformen nennt er sie »die blauen Soldaten«. Dieser Arm des mexikanischen Militärs wird von der US-amerikanischen Drogenbehörde finanziert: offiziell um den Drogenschmuggel zwischen Mexiko und den USA zu beenden. 40
Einige ältere Triqui in Oaxaca wussten ihr Alter nicht und sagten häufig: »60 oder 80«, was einfach zu bedeuten schien: »Ich gelte als alt.«
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Bernardo wurde mehrfach von diesen Soldaten verprügelt und ins Gefängnis gesteckt. Dort wurde ihm trotz Nachfragen medizinische Hilfe verweigert, so dass er das Trinken seines eigenen Urins als einzige Möglichkeit sah, um seinen Bauch bei der Heilung zu unterstützen. Des Weiteren wurde ihm an vielen Tagen seiner Gefangenschaft Nahrung verwehrt. Die »blauen Soldaten« sagten ihm, dass er aufgrund des Verdachts, zu MULT zu gehören, entführt worden sei, obwohl die Bewegung keine Verbindungen mit dem Drogenhandel hatte. Nach monatelangen Bemühungen durch Bernardo und seine Familie unterschrieb und stempelte der Bürgermeister von Juxtlahuaca ein offizielles Schreiben, das Bernardo mir nun stolz zeigte. Es besagte, dass er kein Unrecht begangen hatte – und so wurde er schließlich aus dem Gefängnis entlassen. Wie Abelino und Crescencio erträgt Bernardo ein Leiden, das direkt von gesellschaftlichen und politischen Kräften bestimmt wird. Das gegenwärtige System des neoliberalen Konzernkapitalismus hat Ungleichheiten errichtet, die Südmexiko in eine immer schlimmer werdende wirtschaftliche Krise gebracht haben. Die Armut ist einer der Hauptfaktoren, die zu den lokalen Landkriegen führen. Sie führt auch dazu, dass körperlich gesunde Arbeiter·innen zum Überleben emigrieren. Die politischen Bündnisse des mexikanischen Militärs mitsamt seiner Bindung an US-amerikanische Gelder münden in der Repression von Bewegungen, die eine gerechtere Verteilung von Macht und Ressourcen einfordern. Die politische Gewalt gegen verdächtigte Mitglieder von Bewegungen für indigene Rechte verkörpert sich nicht nur als Krankheit, wie in Bernardos Fall, sondern verstärkt auch das neoliberale Wirtschaftsprojekt, die Armut und das Leiden von Millionen marginalisierter Menschen. Die Logik hinter dieser Gewalt besagt, dass die Ärmsten der Armen nicht für sich einstehen dürfen und ihnen keine politische und wirtschaftliche Macht zugestanden wird. Die Zukunft der multinationalen Konzernprofite hängt davon ab.
Die unfassbar schwere Statue An dem Tag als Bernardo mich zu einem Besuch in San Pedro mitnahm, traf ich auch einen seiner älteren Triqui-Nachbarn. Dieser alte Mann erzählte mir eine Ursprungsgeschichte der Triqui aus San Pedro. Ich hörte im TriquiGebiet von Oaxaca bei mehreren Gelegenheiten verschiedene Versionen dieser Geschichte.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
Pedro (oder Miguel, wenn die erzählende Person aus San Miguel kommt), war ein junger Mann, der vor langer Zeit auf fruchtbarem Boden in der Mitte von Mexiko lebte. Pedro hatte einen Bruder (Miguel bzw. Pedro, entsprechend des jeweiligen Triqui-Ortes) und eine Schwester, Ana (entsprechend des dritten Triqui-Ortes Santa Ana). Als Pedro noch ein Jugendlicher war, vertrieben die Leute [la gente] seine Familie aus der Gegend. Als die Familie den Ort zu Fuß verließ, musste Pedro eine Jesus-Figur am Kreuz tragen. Sie gingen und gingen und die Statue von Jesus wurde immer schwerer und schwerer, bis die Familie sich an einem neuen Ort niederlassen konnte, wo sie ankamen und sich ein neues Zuhause aufbauten. Nach einigen Jahren vertrieben die Leute die Familie auch aus dieser Gegend. Wieder musste Pedro die Statue von Jesus am Kreuz tragen, während sie gingen. Wieder wurde die Statue sehr schwer, sie mussten anhalten und ein neues Zuhause gründen. Doch wieder vertrieben die Leute Pedro und seine Familie. Dies geschah mehrere Male bis Pedro diese trockenen Berge in den Wolken erreichte, wo es schwer ist, Pflanzen anzubauen [die erzählenden Personen zeigten auf die Berge rund um ihren Heimatort] und wo die Jesus-Statue unfassbar schwer wurde. Pedro und seine Familie ließen sich hier in diesen trockenen Bergen nieder und wir können immer noch hören, wie er jedes Jahr beim Fest des Schutzheiligen lacht und feiert. Diese Ursprungsgeschichte weist viele Parallelen zur Geschichte der Triqui auf, die immer wieder mit Gewalt vom Land in Oaxaca vertrieben worden sind – durch globale Märkte werden sie nun zur Migration gezwungen und in Mexiko und in den USA ohne Respekt behandelt. Zugleich wird den Triqui von anderen und von sich selbst Gewalttätigkeit zugeschrieben. Kurz nachdem ich San Miguel verließ, um in die USA zurückzukehren, wurde auf zwei meiner Triqui-Freunde geschossen, während sie selbst auf zwei andere TriquiMänner schossen. Dieser Vorfall ereignete sich kurz nach einer besonders kontroversen Regionalwahl in Oaxaca im Jahr 2004 und hing gerüchteweise mit politischen Zugehörigkeiten zusammen. Ein Ehepaar, das in der Nähe von San Miguel missionierte, erzählte mir, dass der Mann bei einem ihrer ersten Besuche in der Gegend vor einigen Jahren von einem Triqui in die Schulter geschossen wurde. Mehrere andere Personen in den Bergen von Oaxaca – einschließlich Bernardo – warnten mich davor, bloß vorsichtig zu sein, weil das Triqui-Gebiet nach ihrer Aussage voller Gewalt und Gefahren sei. Diese zugeschriebene und tatsächliche körperliche Gewalt der Triqui kann als eine weitere Verkörperung des Gewaltkontinuums verstanden werden. In Anlehnung an Michael Taussigs Analyse zur kolonialen Gewalt in
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der südamerikanischen Region Putumayo, kann die Gewalt der Triqui als eine Art Mimikry oder Spiegelung der gewaltvollen Vertreibung verstanden werden, die sie unzählige Male erlebt haben.41 Auf ähnliche Weise konzeptualisiert Frantz Fanon zwischenmenschliche Gewalt im kolonialen Algerien als eine Art kurzsichtige Mimikry.42 Fanon identifiziert die Gewalt, die von einem hungernden Algerier gegen einen Nachbarn ausgeübt wird, der als Ladenbesitzer die Bezahlung für das von ihm verkaufte Brot einfordert, als eine fehlgeleitete Spiegelung der strukturellen und politischen Gewalt des Kolonialregimes. Die Person sieht den Nachbarn, der den Brotladen besitzt, als Menschen, der ihm Essen vorenthält und erkennt nicht das koloniale Regime als Hauptursache für seine Armut und seinen Hunger. Ähnlich lässt sich die Triqui-Gewalt zwischen politischen Parteien und Nachbarorten als Spiegelung der Gewalt sehen, die sie durch das mexikanische Militär und den ungerechten Weltmarkt erfahren. Doch Taussig stellt auch heraus, dass die Gewalt der Kolonisierenden auch auf deren eigenen Ängsten vor der imaginierten Gewalt der von ihnen Unterdrückten beruht. Auf ähnliche Weise wird die Unterdrückung der Triqui durch die mexikanische Regierung mit dem Narrativ der Triqui-Gewalt gerechtfertigt. Das Leiden der Triqui-Wanderarbeiter·innen ist eine Verkörperung von mehreren Formen der Gewalt. Die politische Gewalt von Landkriegen hat sie dazu dazu getrieben, in unwirtlichem Klima und ohne einfachen Zugang zu Wasser zu leben. Die strukturelle Gewalt des neoliberalen Kapitalismus zwingt sie, ihr Zuhause und ihre Familienmitglieder zu verlassen, eine lange und lebensgefährliche Grenzüberquerung durch die Wüste zu durchleiden und in einem neuen Land nach Möglichkeiten zum Überleben zu suchen. Die strukturelle Gewalt der Arbeitshierarchien in den USA, die nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit organisiert sind, platziert sie ganz unten – mit den gefährlichsten und zermürbendsten Tätigkeiten sowie der schlechtesten Unterbringung. Aufgrund ihrer Position ganz unten in der Hierarchie erleiden die Triqui-Wanderarbeiter·innen ohne Aufenthaltsstatus in den USA unverhältnismäßig viele Verletzungen und Erkrankungen. Abelinos Knieschmerzen sind ein direktes Ergebnis der strukturellen Gewalt: besonders, da sie ihn zu Jobs drängt, die wiederholende und schädigende Bewegungen erfordern, die als Folge den körperlichen Verfall, Entzündungen und Schmerzen nahezu garantieren. Er hat keine Möglichkeit, 41 42
Vgl. Taussig 1986. Vgl. Fanon 1963.
4. »Wie die Armen leiden«: Die Verkörperung des Gewaltkontinuums
andere Formen der Arbeit auszuüben – wie die »leichten Jobs«, in denen er US-amerikanische Staatsbürger·innen sieht. Des Weiteren prägen nationale und lokale Vorurteile und Stereotypen die Arbeitshierarchie auf eine Weise, dass Triqui-Arbeiter·innen häufig respektlos behandelt und rassistisch beleidigt werden. Für die Mehrheit von ihnen führt der fehlende Aufenthaltsstatus zu Angst vor den Behörden und zur Unmöglichkeit, gegen erfahrenes Unrecht aufzubegehren. Diese äußeren und verinnerlichten Formen der symbolischen Gewalt stützen nicht nur ungleiche Arbeitshierarchien durch deren Normalisierung, sondern führen auch zu verschiedenartigen Leiden, wie Crescencios hartnäckigen Kopfschmerzen. Diese Kopfschmerzen wiederum führen zurück zur symbolischen Gewalt der Stereotype von gewalttätigen, alkoholkranken und machistischen, mexikanischen Migranten. Zugleich übt das mexikanische Militär Gewalt aus – in Reaktion auf die Furcht der Wirtschaftselite vor der Aussicht, dass die Entrechteten sich für Bildung sowie für ökonomische, gesundheitliche und politische Rechte organisieren. Bernardos belastende Bauchschmerzen fingen mit der direkten politischen Gewalt mehrerer wohlplatzierter Faustschläge und Stiefeltritte an und entwickelten sich durch die strukturelle Gewalt weiter, die ihm abverlangte, lange und schwere Tage in Alaska und Oaxaca zu arbeiten, damit seine Familie überlebte. Ähnlich wie die institutionelle Gewalt, die Scheper-Hughes und Basaglia analysieren43, ist normalisierte Alltagsgewalt auch in den Interaktionen zwischen Triqui-Migrant·innen und jenen Menschen erkennbar, die sie medizinisch versorgen sollen. In diesen Beziehungen wird unabsichtlich ihre Situation verschlimmert: durch die bürokratische Dysfunktion der Gesundheitsversorgung sowie die Wahrnehmungslinsen der wohlmeinenden und idealistischen Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit den Erfahrungen von Triqui in der Gesundheitsversorgung, insbesondere von Abelino, Crescencio und Bernardo.
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Vgl. Scheper-Hughes 1992; Basaglia 1987.
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5. »Ärzte wissen gar nichts«: Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen1
Als ich zum ersten Mal nach San Miguel kam, versuchte ich den Beamtenin la presidencia [Rathaus] zu erklären, warum ich dort sei. Ich sagte ihnen, dass ich hoffte, einige Monate im Ort leben zu können, um das Alltagsleben und die gesundheitliche Situation der Bewohner·innen kennenzulernen. Der für rechtliche Fragen zuständige Beamte [el síndico] erklärte, dass es keine Übernachtungsmöglichkeiten, kein Hotel oder Gästehaus gebe, dass ich aber im örtlichen Centro de Salud [Gesundheitszentrum] arbeiten könnte, da ihnen Personal fehlte. San Miguel hat eine kleine, aus Bundesgeldern finanzierte Klinik, in der abwechselnd ein Assistenzarzt [pasante] und eine Pflegerin arbeiteten – häufig mit einem oder zwei Tagen dazwischen, an denen niemand da war. Jede·r Assistenzärzt·in in Mexiko muss nach Abschluss des Medizinstudiums ein soziales Jahr absolvieren und bekommt eine Klinik zugewiesen. Jedes Jahr kommt also ein·e neue·r Assistenzärzt·in in die Klinik und auch die Pfleger·innen werden von der Bundesregierung mindestens einmal jährlich ausgetauscht. Daher gibt es fast keine Beziehung zwischen dem Dorf und dem Klinikpersonal. Der síndico erzählte mir, dass die Pflegerin und der Arzt, Josefina und Juan, beide aus Oaxaca-Stadt kämen und nur Spanisch sprächen.
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Teile dieses Kapitels wurden zuerst veröffentlicht in: Holmes, Seth M.: »The Clinical Gaze in the Practice of Migrant Health: Mexican Migrants in the United States«, in: Social Science & Medicine 74, Nr. 6, (2012), S. 873-81.
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Abb. 12: Das Dorf San Miguel, Oaxaca. Foto von Seth M. Holmes.
Der Vorschlag des síndico, ich solle im Centro de Salud aushelfen, machte mich nervös. Ich hatte die Sorge, ausschließlich als Mediziner und nicht als Anthropologe wahrgenommen zu werden und dass ich womöglich fälschlicherweise für einen voll ausgebildeten Arzt gehalten würde. Ich sagte ihm, dass es mich interessieren würde, den Arzt und die Pflegerin vor Ort zu beobachten und ihnen zu assistieren – wenn es angemessen wäre –, dass ich aber vor allem dort sei, um von den Menschen zu lernen und nicht selbst als Arzt arbeiten könne. Er sah enttäuscht und verwirrt aus. Nachdem ich wiederholte, dass ich vor allem dort sei, um von den Triqui über ihre Leben und Gesundheit zu erfahren, schien er immer noch nicht überzeugt davon zu sein, dass ich keinen Posten in der Klinik annehmen wollte. Ich versuchte zu erklären, dass ich meine Ausbildung zum Arzt noch nicht abgeschlossen hätte und noch von Mediziner·innen mit mehr Erfahrung überwacht werden musste. Der síndico antwortete: »Ese médico no sabe nada« [Dieser Arzt weiß gar nichts]. Diese barsche Aussage verdutzte mich. Ich fragte mich, ob er das sagte, weil es einen Unterschied in den Krankheitserklärungsmodellen zwischen diesem indigenen Triqui und jenem städtischen Schulmediziner gab; weil er das fehlende Wissen von Assistenzärzt·innen im Allgemeinen angemessen beurteilte; oder weil dieser bestimmte Mediziner wenig wusste oder schlecht mit den Patient·innen umging. Unabhängig vom vornehmlichen Grund ging
5. Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen
ich davon aus, dass die Beschreibung spezifisch dem Arzt Juan und der Situation in der Klinik von San Miguel galt. Doch als ich meine Feldforschung in Washington, Kalifornien und Arizona fortsetzte und dann während der Dienstzeit eines neuen pasante nach San Miguel zurückkehrte, hörte ich in mehreren Zusammenhängen die Aussage: »Los médicos no saben nada« [Die Ärzte wissen gar nichts]. Dieser Refrain befremdete mich. Ich hatte angenommen, dass die Ärzt·innen, die in den Kliniken für Migrant·innen oder in den staatlichen Kliniken in Oaxaca mit den Triqui arbeiteten, wertgeschätzt würden – unter anderem, weil sie auf renommierte moderne Einrichtungen und höhere Gehälter verzichteten, um für diese Bevölkerungsgruppe zu arbeiten. Zudem befand ich mich selbst inmitten eines anspruchsvollen Studiums – nicht nur zum Anthropologen, sondern auch zum Arzt – und wollte in beiden Bereichen zukünftig mit südamerikanischen Wanderarbeiter·innen arbeiten. Warum dachten die Triqui, dass die Ärzt·innen, die mit ihnen arbeiteten, nichts wussten? Was stimmte nicht in der Beziehung zwischen Ärzt·in und Patient·in? Warum war sie in ihrer gegenwärtigen Form offenbar derart unnütz? Könnte eine Veränderung in dieser Beziehung meinen (erkrankten) Triqui-Gefährt·innen besser helfen? Welche wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und symbolischen Strukturen verhinderten eine solche Veränderung? Und wie könnte sich die Anthropologie zur klinischen Medizin und Öffentlichen Gesundheit äußern? Das folgende Kapitel wird von diesen Fragen geleitet. Im vorherigen Kapitel habe ich die Krankheitsgeschichten von Abelino, Crescencio und Bernardo erzählt und Auswirkungen der verschiedenen Ausdrucksformen von Gewalt in der Wanderlandarbeit in den Blick genommen. Nun erzähle ich weiter die Geschichten von Abelinos Knie, Crescencios Kopfschmerzen und Bernardos Bauchschmerzen, während diese Personen in Washington, Kalifornien und Oaxaca mit medizinischen Fachkräften interagieren. Anhand von diesen Erzählungen sowie von Gesprächen mit Kliniker·innen und Beobachtungen der medizinischen Begegnungen erkundet dieses Kapitel sowohl die strukturellen Faktoren, die sich auf die Gesundheitsversorgung von Migrant·innen auswirken, als auch die Linsen, durch die medizinische Fachkräfte ihre migrantischen Patient·innen sehen.
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Der klinische Blick Als Anthropologe und Arzt beschäftige ich mich sowohl mit Theorien zu gesellschaftlichen Ordnungen und ihrer Verbindung zu Körpern als auch mit der Möglichkeit, dass Leiden auf eine respektvolle, egalitäre und wirksame Weise gelindert werden können. Meine doppelte Ausbildung hat mich gleichermaßen angeregt und verwirrt. Die Linsen, durch die Kulturanthropolog·innen und Ärzt·innen die Welt zu sehen lernen, unterscheiden sich bedeutend – manchmal widersprechen sie sich auch. Während ich die kritische Gesellschaftsanalyse der Anthropologie unglaublich wichtig fand, schätzte ich zugleich die fundierten Anliegen der klinischen Medizin wert. Andere, die an den Rändern der klinischen Medizin und anthropologischen Analyse arbeiten, boten mir wertvolle Einsichten und Methodologien. Bekannt sind Kleinmans Texte zu Krankheitsnarrativen und den Erklärungsmodellen von Patient·innen sowie Farmers Essays zu pragmatischer Solidarität und struktureller Gewalt.2 Kleinman nimmt in den Blick, wie Patient·innen gesellschaftliche Wirklichkeiten somatisieren und wie wichtig es ist, dass Kliniker·innen genau zuhören, wie ihre Patient·innen die Krankheit verstehen. Farmer macht deutlich, wie wichtig strukturelle Faktoren von Krankheit sind und fordert eine gerechtere Verteilung von biomedizinischen Ressourcen.3 Dieses Kapitel greift diese Analysen auf: Kleinman zu Wahrnehmungen und Erklärungsmodellen von Patient·innen sowie Farmer zu Wirkungen von struktureller Gewalt auf Patient·innen. Ich kehre sie jedoch um und fokussiere auf die medizinischen Fachkräfte anstatt auf die Patient·innen. Nachdem ich meine TriquiFreund·innen in Kliniken für Migrant·innen, Krankenhäuser und zu traditionellen Heiler·innen in den USA und in Mexiko begleitet hatte, interessierte mich ebenso, wie gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen die medizinischen Fachkräfte beeinflussen, durch welche Linsen sie ihre Patient·in2 3
Vgl. Kleinman 1988; Farmer 1997; ebd. 1998. In jüngeren Publikationen – siehe Cohen 2000; Fassin 2001; ebd. 2005; Hansen 2005; Holmes und Ponte 2011; Kalofonos 2010; Konner 1987; Metzl 2011; Nguyen 2010; Stoner et al. 2002; Stonington 2006; Wendland 2010 – haben andere medizinische Anthropolog·innen den Blick erweitert und weitere Aspekte in Betracht gezogen wie etwa den wirtschaftlichen und religiösen Kontext von Infektionskrankheiten weltweit, die Rassifizierung von psychischen Erkrankungen und Sucht, den symbolischen Kontext des Alterns und des Todes rund um die Welt, die Politiken des Ein- und Ausschlusses von immigrierten Menschen sowie die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse, durch die medizinische Fachkräfte hervorgebracht werden.
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nen wahrnehmen und wie sie auf sie reagieren und welche Versorgung sie schließlich anbieten konnten. Eine der wichtigsten Analysen der Wahrnehmungen durch medizinische Fachkräfte in der klinischen Begegnung ist Michel Foucaults Die Geburt der Klinik.4 Foucault beschreibt, was er als »den Blick« bezeichnet. Er erklärt, dass die klinische Begegnung sich vom 18. zum 19. Jahrhundert drastisch verändert hat: »In einer winzigen, aber entscheidenden Veränderung kündigt sich diese neue Struktur an – natürlich ohne sich darin zu erschöpfen: wurde im 18. Jahrhundert der Dialog zwischen Arzt und Patient·innen noch mit seiner spezifischen Grammatik und Stilistik durch die Frage »Was haben Sie?« eröffnet, so finden wir die Spielregeln der Klinik und das Prinzip ihres Diskurses in jener anderen Frage wieder: »Wo tut es Ihnen weh?«5 In der Zeit als das Sezieren von Leichen als Praxis aufkam, verschob sich die Wahrnehmung von Krankheit von etwas, dass die ganze Person umfasst, hin zu einer anatomisch lokalisierbaren Läsion. Es wurde nun nicht mehr für notwendig gehalten, dass sich Ärzt·innen für eine Diagnose und Behandlung von ihren Patient·innen anhörten, wie sie ihre Erfahrung der Krankheit – ihre Symptome – beschrieben. Stattdessen legten Mediziner·innen nun ihren Fokus auf isolierte, erkrankte Organe, behandelten die Patient·in zunehmend als Körper – im Sinne einer Reihe anatomischer Objekte – und ignorierten die gesellschaftlichen und persönlichen Wirklichkeiten der Patient·in als (betroffener) Person. Im Paradigma des klinischen Blicks untersuchen und besprechen Ärzt·innen die Krankheiten von Patient·innen, während die Patient·in weitgehend schweigt. In vielerlei Hinsicht kann dies als Beginn der modernen positivistischen Naturwissenschaften verstanden werden, in denen menschliche, gesellschaftliche und historische Kontexte für unbedeutend gehalten werden. Seit der von Foucault beschriebenen Veränderung haben viele Medizinforscher·innen die Verobjektivierung von Patient·innen kritisiert. Der Aphorismus »Frag nicht, welche Krankheit ein·e Patient·in hat, frag, welche·r Patient·in die Krankheit hat« wird dem kanadischen Arzt aus dem 19. Jahrhundert William Osler zugeschrieben.6 Mitte der 1990er Jahre schrieb der Kinderarzt und Soziobiologe Tom Boyce ganz ähnlich: »Mir ist zunehmend unwohl,
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Vgl. Foucault 2016; ebd. 1963. Vgl. ebd.: 16. Dieses Zitat taucht in unterschiedlicher Form in verschiedenen Publikationen auf. Vgl. zum Beispiel Carrillo 1999.
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dass wir in unseren überstürzten Bemühungen, einen feineren und differenzierenderen Fokus auf die Läsionen zu richten, die einer Krankheit zugrunde liegen, die Gelegenheit verpassen, die Person oder Patient·in jenseits der Krankheit zu sehen.«7 Boyce beschreibt den klinischen Blick als »kurzsichtige Ansicht«, die durch die Patient·in hindurchsieht, um auf die Pathologie, das Organ oder die Läsion zu fokussieren. Andere diskutieren die Konsequenzen des Paradigmas dieses Blicks für die medizinischen Fachkräfte selbst. Stefan Hirschauer beschreibt, wie die Chirurgie alle Beteiligten – Patient·in, Chirurg·in, Pfleger·in – zu Werkzeugen macht.8 Die Rituale rund um die Chirurgie »entpersönlichen« nicht nur die Patient·in, sondern auch die medizinischen Fachkräfte. Er deutet jedoch an, dass diese zeitweilige, ritualisierte »Entpersönlichung« die Persönlichkeit aller Beteiligten schütze. Ähnlich beschreiben Joseph Lella und Dorothy Pawluch die entmenschlichende Erfahrung von Medizinstudent·innen, wenn sie Leichen zu ihrem Untersuchungsobjekt machen.9 Während die Studierenden die menschlichen Körper verobjektivieren, erleben sie ihre eigene Entmenschlichung. Der klinische Blick wird nicht nur im Anatomieseminar und Operationssaal gelehrt, sondern auch in den Modellen des Verarztens, die Studierenden präsentiert werden. Laut Holmes und Maya Ponte, beide Anthropolog·innen und Ärzt·innen, macht die Struktur der schriftlichen und mündlichen Präsentation von Patient·innen durch Medizinstudent·innen Erstere mitsamt ihrer persönlichen, gesellschaftlichen und körperlichen Wirklichkeit zu verallgemeinerten Fällen medizinischer Erkrankungen, während sie zugleich die Studierenden vor Ungewissheit schützt.10 Melvin Konner, ebenfalls Arzt und Anthropologe, beschreibt in Becoming a Doctor seine Erfahrung als Medizinstudent.11 Meistens, so schreibt er, entwickelten Assistenz- und behandelnde Ärzt·innen Strategien, um durchzukommen und verobjektivieren dabei ihre Patient·innen anstatt eine zwischenmenschliche Beziehung zu
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Boyce 1994, S. 144-45 (Hervorhebung im Original). Vgl. Hirschauer 1991. Vgl. Lella und Pawluch 1988. Vgl. Holmes und Ponte 2011. Auch zur Unsicherheit von Medizinstudierenden: vgl. Fox 1980. Vgl. Konner 1987. Zur Anthropologie der zeitgenössischen klinischen Ausbildung: vgl. Holms, Jenks und Stonington 2011.
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ihnen aufzubauen. Im Schlusskapitel verdeutlicht Konner, dass die Beziehung zwischen Ärzt·in und Patient·in keine Beziehung zwischen »ich« und »du« sei, wie Martin Buber es nennen würde, sondern vielmehr eine zwischen »wir« und »ihr«.12 Dies soll den Vorrang der Interaktionen unter Ärzt·innen und Auszubildenden zeigen; sie bilden ein medizinisches Team, sprich eine »Ärzt·in-Ärzt·in«-Beziehung. Erst wenn das Team als Beziehungseinheit besteht, gibt es eine Beziehung zu den Patient·innen. Das wird in Foucaults Beschreibung von Charcot und der Salpêtrière-Klinik deutlich.13 Charcot präsentierte seinen Psychiatriestudenten (auf gewaltvolle Weise) Patientinnen, um sie über Hysterie zu lehren. Er sprach über die Patientinnen, ließ die Studenten sie anfassen und anstupsen (einschließlich ihrer Schambereiche) und ließ die Frauen wegbringen, wenn sie sich selbst sexuell in Pose setzten. So führte die »Arzt-Arzt«-Beziehung zwischen Charcot und seinen Studenten zur Verobjektivierung der Frauen. Sie wurden versteckt, sobald sie ihre persönliche Handlungsfähigkeit zeigten. Eine aktuellere Analyse bietet Beverly Ann Davenport zu einer der Kliniken für Obdachlose, die zu einem beachtlichen Teil der Ausbildung von Medizinstudent·innen geworden sind. Es handelt sich um einen Raum, in dem zwei medizinische Paradigmen miteinander in Konflikt stehen: Das »Bezeugen« und der medizinische Blick.14 Medizinische Ausbilder·innen in dieser Klinik lehrten, Davenport zufolge, das »Bezeugen«, also die Behandlung von Patient·innen als ganzen Persönlichkeiten, in einem bewussten Widerstand gegen den medizinischen Blick. Ärzt·innen versuchen, dieses menschlich sensible Modell umzusetzen, während sie zugleich in einem vom Biotechnischen geprägten System praktizieren. Mal modellieren sie das Bezeugen für ihre Studierenden, mal folgen sie dem kurzsichtigen Blick auf die Pathologie. Ich möchte hier herausfinden, inwiefern die Analysen zum medizinischen Blick von Foucault und anderen im Bereich der Gesundheitsversorgung von Migrant·innen im 21. Jahrhundert anwendbar sind. Was zeichnet den medizinischen Blick in einer gegenwärtigen Klinik für Migrant·innen aus? Wie hängt das mit der recht jungen Bewegung zusammen, die medizinische Ausbildung »biopsychosozial« und gesellschaftskompetenter zu gestalten? Wie hängt das mit größeren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen
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Vgl. Ebd. 365. Vgl. Foucault 1990. Vgl. Davenport 2000.
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zusammen? Wie könnte ein Alternativmodell für die Klinik für Migrant·innen aussehen? Ich erkunde diese Fragen durch die Interaktionen von Abelino, Crescencio und Bernardo mit dem Gesundheitssystem.
Abelinos Knie – Strukturen und der medizinische Blick in der Gesundheitsversorgung von Migrant·innen Zwei Tage nach Abelinos Knieunfall sagte der Erntemanager am Morgen das Pflücken ab, da es starken kalten Regen gebe. Abelino und ich fuhren zu einer Notversorgungsklinik. Abelino traf hier in den folgenden paar Monaten auf mehrere Ärzt·innen und einen Physiotherapeuten – meist ohne Dolmetschung ins Spanische und nie ins Triqui. In diesen Monaten humpelte er durch das Camp und kümmerte sich um die Kinder, während seine Frau und älteste Tochter weiter auf den Feldern pflückten. Der Arzt für die Notfallversorgung hörte sich kurz Abelinos Beschreibung an, was passiert war, und untersuchte sein geschwollenes Knie. Er ordnete ein Röntgenbild an, das zwar zeigen konnte, dass keine Knochenbrüche vorlagen, allerdings bildete es kein Weichgewebe, keine Sehnen, Schleimbeutel oder Meniskusse ab. Der Röntgenbericht schloss einfach damit ab, es sei ein »normales rechtes Knie«. Der Arzt erklärte Abelino, dass er nicht auf dem Beerenfeld arbeiten solle, sondern sein Knie schonen müsse. Dieser Arzt war nicht sicher, ob der Knieschmerz von einer Bänderstauchung oder einem Meniskusriss kam und plante eine weitere Untersuchung, sobald der Schmerz nachgelassen hätte. Abelino bat um eine Spritze gegen die Schmerzen – eine übliche Methode der Medikation in Mexiko – doch der Arzt lehnte das ab. Stattdessen gab er Abelino eine Überweisung in die Physiotherapie, einen Entzündungshemmer und die Anweisung, sein Knie regelmäßig zu kühlen. Dieser Arzt für die Notfallversorgung füllte auch die Unterlagen aus, mit denen Abelino eine Entschädigung für den Arbeitsausfall beim Department of Labor and Industries (LNI) des Bundesstaats Washington beantragen konnte. Zwei Tage später ging Abelino zum Physiotherapeuten, der eine eigene Bewertung des Knies vornahm. An diesem Punkt beschrieb Abelino seine Knieschmerzen auf einer Skala von eins bis zehn für den schlimmsten vorstellbaren Schmerz mit einer sieben. Der Physiotherapeut gab Abelino Knieübungen auf, die er zu Hause machen sollte und empfahl den Besuch bei einem spezialisierten Orthopäden. In der folgenden Woche, als Abelino und ich für seinen Termin in die Klinik kamen, war der ursprüngliche Arzt für die Notfallversorgung nicht im
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Dienst. Also ging er zu einem seiner Kolleg·innen. Dieser Arzt schaute in Abelinos Akte, hörte sich von Abelino kurz an, was passiert war und sagte ihm, dass er »leichte Arbeit« machen könne – vorausgesetzt, er bücke sich nicht und laufe oder stehe nicht lange. Dieser Arzt füllte ein Formular diesen Inhalts aus und gab es Abelino zur Vorlage auf der Tanaka-Farm. Der Arzt erklärte darin die Verletzungsursache so: »beim Pflücken [habe er] sein rechtes Knie verdreht.« Diese Beschreibung ist nicht nur ungenau; sie macht Abelino sprachlich auch zum Subjekt, dessen Handeln das Problem produziert hat: Er hat das direkte Objekt des Satzes, sein Knie, verdreht. Obwohl Abelino chronische Gastritis hat, so dass er die traditionellen scharfen TriquiGerichte nicht essen kann, schrieb der Arzt ohne rückzufragen, ob Abelino irgendwelche Magensymptome habe, in das Formular: »[Der Patient] bestätigt, dass er keine gastrointestinalen Verstimmungen von den nichtsteroidalen Entzündungshemmern hat.« Nichtsteroidale Entzündungshemmer wie Ibuprofen verschlimmern aber Gastritis und es gibt eine relative Kontraindikation, sie im Falle vorhandener gastrointestinaler Probleme anzuwenden. Keine der medizinischen Fachkräfte, die noch mit Abelino arbeitete, überprüfte diese Angabe. Der Arzt gab Abelino eine Stützbandage und wies ihn an, sie zu tragen. Abelino sagte mir später, dass die Bandage die Schmerzen verschlimmerte, so dass er sie nur zwei Mal trug. An diesem Nachmittag ging Abelino ins Büro der Farm und bat um leichtere Arbeit. Die zweisprachige Rezeptionistin Samantha erwiderte in frustriertem Ton: »Nein, weil Nein [No, porque no]« und ließ ihn nicht mit jemand anders sprechen. In der Zwischenzeit hatte Abelino auch einen Triqui-Heiler einbezogen. Diesen alten, einsprachigen Mann, der tagsüber Erdbeeren pflückte, suchte Abelino abends in seiner Hütte im Arbeitscamp auf. Ich saß bei der Behandlung dabei und Abelino übersetzte mir die Wörter aus dem Triqui, die ich nicht verstand. Der Heiler mischte und legte ein Deck mexikanischer Karten aus. Das wiederholte er mehrfach, um herauszufinden, was die Quelle der Schmerzen war. Er ließ Abelino wissen, dass der Geist eines Menschen, den Abelino sterben gesehen hatte, sich an ihn geheftet habe. Um den Geist loszuwerden und seinen Patienten zu heilen, begoss der Heiler ein paar rohe Eier mit Rum und rieb sie über Abelinos Körper – besonders rund um sein Knie. Die rumbedeckten Eier könnten den Geist dazu verlocken, sich an sie zu heften, erklärte er. Dann verließ er die Hütte und warf die Eier in die Ferne, um den Geist von Abelinos Knie fortzulocken. Über die nächsten paar Wochen, in denen Abelino sich erholte, ließen seine Knieschmerzen ein wenig nach: fünf von zehn auf der Schmerzskala.
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Er konnte humpelnd laufen, aber es bereitete ihm immer noch unerträgliche Schmerzen, wenn er versuchte sich zu bücken oder hinzuhocken. Da Abelino keine Möglichkeit zu leichterer Arbeit gegeben wurde, versuchte er, zum Erdbeerpflücken zurückzukehren, um zur Ernährung seiner Familie beizutragen. Die Schwellung nahm sofort wieder zu und der intensive Schmerz kehrte zurück, so dass Abelino nach zwei Tagen wieder zu arbeiten aufhörte. 19 Tage nach der Verletzung akzeptierte das LNI den Abelinos Anspruch auf die Kostenübernahme der medizinischen Behandlung und die Auszahlung von zwei Dritteln seines Lohns, solange er nicht arbeiten konnte. Beide Leistungen würden beendet, sobald Abelinos Knie ausreichend genesen sei, dass er zur Arbeit zurückkehren könnte oder aber das Problem als chronisch ohne Verbesserung eingestuft werden würde. Die LNI-Akte besagt, dass er zur »leichten Arbeit« zurückgekehrt sei, bis er »das Knie wieder verletzt« habe. Es ist unklar, wie das LNI Abelinos Rückkehr zum Erdbeerpflücken als »leichte Tätigkeit« verstehen konnte. Der Arzt von der Notfallversorgung erkannte an, dass es sich um eine falsche Darstellung handelte und schrieb ins Krankenblatt, dass es auf der Tanaka-Farm »offenbar keine leichte Arbeit« gebe, ohne diese Aussage zu überprüfen. Die LNI-Akte besagte auch: »Er deutete an, dass er kein Englisch spreche. Ich fragte ihn, ob er Spanisch spreche und er sagte (glaube ich) Ja.« Der LNI ermöglichte dennoch erst zwei Wochen später eine Spanischübersetzung für Abelinos Kliniktermine. Drei Monate nach dieser Eintragung setzte das LNI den Hinweis in Abelinos Akte, dass jede Post an Abelino ihm auf Spanisch zukommen sollte. Die allermeisten Briefe, die danach geschickt wurden, waren dennoch ausschließlich auf Englisch verfasst. Die Tanaka-Farm teilte dem LNI mit, dass Abelino 7,16 US-Dollar pro Stunde verdienen und keine Zusatzleistungen erhalten würde. Diese Mitteilung bewertete seine Bezahlung als beträchtlich niedriger, als sie war, weil Abelino regelmäßig mehr als das Mindestgewicht pflückte und zusätzlich Wohnraum von der Farm erhielt. Die Farm schickte eine Kopie von Abelinos Arbeitsstunden und Lohnzahlungen jenen Monats, in dem er sich seine Knieverletzung zugezogen hatte: also des Monats, in dem er nur zwei Tage gearbeitet und sehr langsam gepflückt hatte. Auf Grundlage dieser falschen Information berechnete das LNI dann, wie viel Abelino vor seiner Verletzung gearbeitet habe und leitete daraus seine Ersatzleistungen ab. Ein ehrenamtlicher Sozialarbeiter einer lokalen Nichtregierungsorganisation rief im LNI an, um herauszufinden, was erforderlich wäre, um die Einkommensgrundlage zu korrigieren, und half Abelino, Kopien seiner Lohnschecks aus den Monaten vor der Verletzung einzusenden. Doch das LNI berechnete Abelinos Leistun-
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gen nie neu. Das LNI schickte Abelino zwei Monate nach seiner Verletzung und einen Monat nach der (fehlerhaften) Berechnung seiner Entschädigungsleistungen einen Brief auf Englisch, in dem er gebeten wurde, die Berechnungen zu prüfen und das LNI wissen zu lassen, ob er eine Unterkunft oder andere Leistungen erhielt. Da er den Brief nicht lesen konnte, antwortete Abelino auch nicht. Sobald ich den Brief sah, rief ich im LNI an und forderte, dass sein Einkommen neu berechnet und seine Unterkunft einbezogen werden musste. Diese Forderung wurde in seiner Akte zwar eingetragen, aber nie erfüllt. Der Notversorgungsarzt forderte eine orthopädische Untersuchung an, die die Empfehlung zur leichten Arbeitstätigkeit wiederholte. Er forderte auch eine MRT-Untersuchung an, die eine normale Knochenstruktur mit anormaler Schwellung im Weichgewebe in, vor und unter der Patellasehne ergab. Der MRT-Bericht besagte, dass es »keine Instabilität« im Knie gebe, ohne zu spezifizieren, was das bedeutete. Einige Wochen nach der Behandlung beendete der Notversorgungsarzt die Physiotherapie, ohne dass eine bedeutende Verbesserung vorlag und wälzte seinen Patienten erfolgreich an eine RehaMedizinerin ab. Die Reha-Ärztin wollte den LNI-Patienten zunächst gar nicht annehmen, weil das mehr Papierkram bedeutete, stimmte aber letztlich zu. Diese Ärztin begann die Physiotherapie von Neuem, da sie zu helfen schien, und sagte Abelino, dass er beim Erdbeerpflücken hart arbeiten müsse, damit sein Knie besser würde. Ihr schien nicht klar zu sein, dass sein Versuch, zur Arbeit zurückzukehren, die vermehrten Schmerzen und Schwellung verursacht hatte. Zudem schien sie zu denken, dass sein Nachname in Wirklichkeit sein Vorname wäre und sprach ihn deshalb immer wieder so an. Sie bat mich zu übersetzen, dass er »falsch gepflückt und sein Knie verletzt hat, weil er nicht weiß, wie man sich bückt«, obwohl sie in ihrem eiligen Gesprächsablauf nicht einmal gefragt hatte, wie er pflückte oder sich bückte. Sie schrieb in ihre Akte, die aufgrund vieler Rechtschreibfehler schwer zu verstehen war, er sei »ein ziemlich schlechter Erzähler, jedoch auch Zweitsprachler.« Ebenso gut könnte man sagen, dass sie aufgrund der Sprachbarriere eine schlechte Interviewerin war. Nichtsdestotrotz forderte sie für die weiteren Termine keine Dolmetschung an. Sie beendete den Termin und gab ihm ein Rezept für starke, nichtsteroidale Entzündungshemmer. Wie die vorherigen Ärzte fragte sie Abelino nicht, ob er kontraindizierende Magenprobleme hätte. Nach ein paar Monaten arrangierte das LNI für Abelino ein Treffen mit der Verwaltung der Tanaka-Farm und einer Beraterin, um zu bestimmen, was für eine Arbeitsvereinbarung getroffen werden könnte. Abelino und ich gin-
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gen zu dem Treffen im Hauptbüro der Farm. Als Samantha zwanzig Minuten zu spät in den Raum kam, grüßte sie uns herzlich. Der andere Vertreter der Tanaka-Farm sprach noch in einem anderen Raum mit der LNI-Beraterin und rief an, um zu sagen, dass sie sich verspäten würden. Samantha antwortete: »Kein Problem, lasst Euch Zeit.« Ich fragte mich, warum die Beraterin sich ohne Abelino mit der Farmverwaltung traf. Samantha wendete sich Abelino zu und sagte auf Spanisch, dass es kalt draußen sei. Abelino antwortete, dass es in den Arbeitscamps richtig kalt wäre. Ich erklärte, dass der Morgenfrost an der Innenseite der Zinndächer jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang als kalter Innenraumregen auf die Gesichter und Besitztümer der Bewohner·innen fiel. Ich erwähnte auch, dass die meisten der Familien in unserem Camp ihre Gasflammen über Nacht anließen, um zu verhindern, dass es drinnen fror. Samantha sagte auf Spanisch: »Ja, ja, es ist so kalt. Ich wohne auf einer kleinen Ranch mit zwei Gänsen, vier Katzen, zwei Pferden und zwei Hunden. Und jeden Morgen ist das Wasser für die Pferde gefroren und ich muss in meinen Hausschuhen rausgehen, mit heißem Wasser, und den Pferden und den anderen Tieren Wasser geben. Und wenn ich zurückkomme, ist es so kalt, dass ich kaum meine Finger bewegen kann!« Ich erinnere mich, dass ich zugleich überrascht und beleidigt war, dass Samantha völlig ahnungslos davon zu sein schien, dass Hunderte von Menschen auf der Farm trotz Minusgrade ohne Isolierung und Heizung lebten, während sie sich beklagte, dass ihr am Morgen zeitweilig die Hände kalt wurden. Abelino antwortete: »Oh, du hast eine Ranch [rancho]?« Samantha: »Nein, nein, es sind nur ein paar Hektar – es ist ein kleiner Hof [ranchito].« Ähnlich wie im »Leidenswettbewerb« in Kaliforniens Proposition 187, den James Quesada beschreibt,15 schmälerte Samantha das dauerhafte Leid der Triqui-Migrant·innen, indem sie ihm ihr eigenes zeitweiliges Leiden voranstellte. Als die LNI-Beraterin und der Farm-Verwalter schließlich kamen, erklärte die Beraterin Abelino mithilfe von Samanthas Dolmetschung, dass sie ihm helfen würde, leichte Arbeit auf der Farm zu bekommen. Abelino erklärte, dass er einen Monat später mit seiner Familie nach Kalifornien ziehen müsse, wenn die Pflücksaison in Washington vorüber sei. Er sagte ihr, dass er vor allem wollte, dass die Farm ihm eine leichte Arbeit für die Folgesaison im nächsten Sommer garantierte. Die Beraterin erklärte, dass das LNI nicht länger seine durch die Arbeitsverletzung entstandenen Behandlungskosten tragen und ihm auch nicht helfen würde, leichte Arbeit zu bekommen, sobald 15
Vgl. Quesada 1999.
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er Washington verließ. Er wiederholte seine Bitte um leichte Arbeit in der kommenden Saison, sie wiederum wiederholte, dass mit dem Verlassen des Bundesstaates seine Akte geschlossen werden würde. Der Vertreter der Farm schwieg, das Treffen wurde beendet und alle schüttelten sich die Hände. Kurz darauf füllte die LNI-Beraterin ein Formular aus, das empfahl, Abelino solle als »Allgemeiner Arbeiter [General Laborer]« mit »leichter Arbeit« betraut werden, einschließlich »verschiedener Farmtätigkeiten, die in den vier Jahreszeiten variieren.« Die Tätigkeiten, die die Beraterin aufführte umfassten »Hacken per Hand«, »Beschnitt von Himbeerpflanzen«, »manuelle Beerenernte«, »maschinelle Beerenernte« und »andere allgemein erforderliche Arbeiten«. Diesem Formular zufolge war die »manuelle Beerenernte« also »leichte Arbeit«. In dem Bericht wurde nirgendwo erwähnt, dass die Beerenernte das ständige Beugen der Knie erforderte, was Abelinos Knieschmerzen ja überhaupt erst verursacht und dann verschlimmert hatte. Obwohl Abelino an die Reha-Medizinerin überwiesen worden war, schickte das LNI den Bericht an den ursprünglichen Notversorgungsarzt, den Abelino seit Monaten nicht gesehen hatte. Dieser Arzt unterzeichnete trotz allem sein Einverständnis mit dem Bericht. Beim nächsten Termin – wieder ohne Dolmetscher·in – gab die RehaÄrztin Abelino mehrere Injektionen mit lokal wirksamen Steroiden ins Knie. Das verringerte bedeutend die Schmerzen und Schwellung im Knie, allerdings hatte Abelino wenig später beim Beugen und Hocken in der Physiotherapie nach wie vor starke Schmerzen. Durchschnittlich lagen seine Schmerzen nun bei zwei oder vier von zehn auf der Schmerzskala. Diese Verbesserung ließ den Physiotherapeuten auf die Ironie hinweisen, dass die von Abelino eingangs angeforderte, aber von den Ärzten verweigerte Behandlung, sich nun doch als wirksamste erwies. Der Physiotherapeut sagte mir auch, dass er befürchtete, die Reha-Medizinerin würde Abelinos Angaben zu den Schmerzen nicht glauben, sondern sich stattdessen nur die Röntgen- und MRT-Bilder anschauen. Diese Ärztin schenkte ihre meiste Aufmerksamkeit den radiologischen Bildern und den Ergebnissen ihrer knappen Untersuchung – die im Krankenblatt unter der Überschrift »objektiv« eingetragen wurden – und berücksichtigte kaum Abelinos Beschreibung zu den eigenen Symptomen – die im Krankenblatt unter »subjektiv« eingetragen wurden.16 Diese Trennung
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Für eine weitere Besprechung des »Subjektiven« und des »Objektiven« in der problembasierten Krankenakte: vgl. Holmes und Ponte 2011.
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zwischen »subjektiv« (was die Patient·in beobachtet und erlebt) und »objektiv« (was die Ärzt·in beobachtet oder am Körper testet) auf dem Krankenblatt wird zu einer dauerhaften Aufzeichnung des klinischen Blicks. Diese Ärztin forderte Abelino weiterhin dazu auf, dass er zur Arbeit zurückkehren müsse, um wieder gesund zu werden – trotz seiner Hinweise, dass das Bücken und Hocken ihm enorme Schmerzen verursachte. Der Anstellungsplan der Beraterin veranlasste das LNI, Abelino wieder zur Arbeit zu schicken. Das beinhaltete auch die Aufforderung an die RehaMedizinerin, eine abschließende Bewertung auf einem Formular einzureichen. Diese Ärztin erwiderte auf dem Formular, dass Abelino zur vollbelastenden Tätigkeit zurückkehren könne. Um ihre Entscheidung zu rechtfertigen, zitierte sie direkt aus dem MRT-Bericht, dass es »keine Instabilität« in Abelinos Knie gebe. Hiermit wurden mit sofortiger Wirkung Abelinos LNI-Akte geschlossen und seine minimalen Entschädigungsschecks sowie die Kostenübernahme für die medizinische Behandlung beendet. Ohne den LNI-Prozess und ihre direkte Rolle in Bezug auf die Beendigung von Abelinos Unterstützung gänzlich zu verstehen, erklärte mir diese Ärztin im Privaten, dass Abelino eine Verbesserung in seinem Knie nach den Spritzen nur angab, weil die »Pflücksaison vorbei ist und er somit keine Arbeitsentschädigung mehr bekommen kann.«, nicht weil er sich wirklich besser fühlte. Nach der Zeit in Oregon und Kalifornien im Winter und Frühling kam Abelino im Sommer wieder auf die Tanaka-Farm. Er versuchte zwei Tage lang, Beeren zu pflücken, aber der intensive Schmerz und die Schwellung in seinem rechten Knie kehrten zurück. Mithilfe einer zweisprachigen Ärztin in der Klinik für Migrant·innen beantragte Abelino die Wiedereröffnung seiner Ansprüche. Die Ärztin in der Klinik für Migrant·innen gab an, dass Abelinos Knie nun stärker geschwollen war und sich sein Bewegungsradius seit dem Vorjahr, in dem sein Fall geschlossen wurde, verringert hatte. Das LNI beauftragte daraufhin zwei unabhängige medizinische Gutachten. Diese Bewertungen fassten die vorherigen MRT-Ergebnisse in ihrem Bericht an das LNI falsch zusammen – als »gänzlich normal«. Der Abschnitt des Berichts mit der Überschrift »Sozioökonomische Vorgeschichte« besagte nur: »verheiratet mit acht Unterhaltsberechtigten, hat sechs Jahre Schulbildung, kein Militärdienst, kein Tabakkonsum, Alkoholkonsum oder Medikamente, einschließlich verschriebener Medikamente.« Seine Lebens- und Arbeitsbedingungen wurden nicht erwähnt. Das LNI schloss, dass sein Knie sich »wahrscheinlich nicht verschlechtert« habe und wies eine weitere MRT-Untersuchung an; die Entscheidung, den Fall zu schließen, sollte dezidiert auf diesem MRT-Ergebnis
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beruhen. So würde das biotechnische Bildgebungsverfahren, das von einem Radiologen interpretiert wurde, der Abelino nie treffen oder untersuchen sollte, Vorrang bekommen vor den Darstellungen des Geschehens durch die behandelnde Ärztin und den Patienten selbst. Der MRT-Bericht des Radiologen besagte, dass die Schwellung des Knies sich nicht verschlechtert und Abelino vielleicht degenerative Arthritis habe sowie dass »der Leistungsanspruch abgelehnt werden kann« – obwohl Radiolog·innen in Arbeitsmedizin weder ausgebildet noch qualifiziert sind. Auf Grundlage dieses Berichts wies das LNI Abelinos Antrag zurück. Der englischsprachige Brief an Abelino besagte, dass seine Akte geschlossen und der Fall weiterhin als beendet gelten würde. Er schloss mit »beste[n] Wünschen für Ihre künftige Gesundheit, Anstellung und Sicherheit«. Jahre später erzählte mir Abelino, dass er immer noch Knieschmerzen habe und »Ärzte nichts wissen« [los médicos no saben nada]. Nach einer genaueren Betrachtung von Abelinos Begegnungen mit den Gesundheitseinrichtungen ergibt diese gängige Bemerkung mehr Sinn. Im Verlauf der Behandlung wurden dort mehrere Fehlannahmen getroffen: von der Abwesenheit von Magenproblemen bis zu seiner ersten Rückkehr zur Arbeit als »leichte Tätigkeit«; von seiner Fähigkeit, auf Englisch lesen zu können; bis zu seiner Bezahlung nach Stundenlohn; von seinem falschen Bücken beim Pflücken als Verletzungsursache bis zu seiner Vortäuschung von Schmerzen; von der Gewichtung der »objektiven« biotechnischen Tests bis zum Ausschluss seiner eigenen Angaben und Erfahrungen aus der Bewertung der Situation. Mehrere dieser Annahmen wurden zu Tatsachen gemacht, indem sie in Krankenblätter und Berichte eingetragen wurden, die anschließend von anderen Personen aufgegriffen und übernommen wurden. Einige Handlungen der medizinischen Fachkräfte könnten als schlechte medizinische Praxis betrachtet werden (etwa die Gabe kontraindizierter Medikation, ohne dies sorgfältig zu überprüfen), doch sie alle sind wahrscheinlich das Ergebnis eines unfassbar hektischen, unterbesetzten, unterfinanzierten und unpersönlichen Gesundheitswesens. Diese ethnografische Skizze wirft Licht auf drei wichtige Aspekte des klinischen Blicks in der Gesundheitsversorgung von Migrant·innen, auf die ich später erneut eingehen werde. Erstens bewerten Ärzt·innen in diesem Bereich – wie in anderen biomedizinischen Bereichen und entsprechend Foucaults Paradigma des klinischen Blicks – ihre eigene Beobachtung sowie biotechnische Testverfahren am Körper des Patienten als wichtiger als die Aussagen des Patienten. Abelinos Beschreibungen seiner gesellschaftlichen und beruflichen Vorgeschichte erhalten kaum Aufmerksamkeit, obwohl interna-
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tionale Marktasymmetrien und lokale Diskriminierungspraktiken ihn in die Arbeitsposition brachten, die seine Verletzung überhaupt erst verursachte. Ähnlich wird seinen Beschreibungen der körperlichen Erfahrung misstraut. Am Ende fungieren vereinfachte Interpretationen radiologischer Bildgebungen, die im Krankenblatt als Wahrheit eingetragen werden, als Rechtfertigung für die Entscheidung der Ärztin, Abelino wieder zum Pflücken zurückzuschicken sowie für die Entscheidung des LNI, den Fall zu schließen. Zweitens machen Ärzt·innen in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen – wie in anderen Kliniken auch – ungewollt ihre Patient·innen für deren Leiden verantwortlich. Aufgrund von Zeitmangel, das Problem richtig zu erkunden, und der Unfähigkeit, die transnationalen und lokalen Strukturen zu erkennen, die auf Abelinos Körper wirken, gibt die Reha-Medizinerin an, dass Abelinos Schmerzen eine Folge seines Verhaltens seien; er habe »nicht richtig« gepflückt. Drittens macht strukturelle Gewalt nicht nur die Armen und Patient·innen zum Opfer, sondern – auf andere Weise – auch die Fachkräfte, die Ärzt·innen. Wie in dieser Skizze deutlich wird, arbeiteten die Ärzt·innen in geschäftigen, hektischen Umgebungen und erhielten nur Teilinformationen über den Patienten sowie das institutionelle Verfahren. Sie mussten innerhalb eines 15-minütigen Termins verschiedene bürokratische Formulare ausfüllen, die Untersuchung und ein Gespräch durchführen sowie einen Behandlungsplan formulieren und umsetzen. Der Druck des gegenwärtigen neoliberalen, kapitalistischen Systems auf das Gesundheitswesen und dessen Finanzierung zwingt medizinische Fachkräfte in einen Zwiespalt. Entweder bringen sie die Zeit und Energie auf, die nötig ist, um Patient·innen zuzuhören und sie vollständig zu behandeln – und gefährden so ihren Arbeitsplatz und ihre Klinik – oder sie bewegen sich hektisch, um ihre Praxis in Gang zu halten, und widmen sich ihren Patient·innen nur mit halber Aufmerksamkeit.
Gesundheitsversorgung für Migrant·innen Bevor ich mich den Erfahrungen im Gesundheitswesen von Crescencio und Bernardo zuwende, möchte ich den allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext erkunden, in dem Kliniker·innen im Bereich der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen arbeiten. Zu Thanksgiving im Jahr 1960 strahlten die CBS News einen Beitrag namens Harvest of Shame [Ernte der Schande] aus. Die Sendung war Teil einer bundesweiten Bewegung, auf die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen jener Menschen hinzuweisen, die von
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Regierungsbehörden als »Wander- und Saisonlandarbeiter·innen« gruppiert wurden. Zu jener Zeit waren die meisten Wanderlandarbeiter·innen weiße Menschen, die als dust bowl migrants [Migrant·innen aus dem staubigen mittleren Westen des Landes] bekannt waren sowie Schwarze Menschen von der Ostküste. Vor allem in Reaktion auf diese Bewegung und darauffolgenden Debatten verabschiedete der Kongress 1962 den Migrant Health Act, der die Gesetzgebung zur Öffentlichen Gesundheit um das Migrant Health Program ergänzte, das die Finanzierung von medizinischen und sozialen Diensten für Wanderlandarbeiter·innen verfügte. Seit der Verabschiedung dieses Gesetzes gibt es eine Kontroverse über die sich verändernde ethnische Zusammensetzung der Landarbeiter·innen und über die Frage, ob Lateinamerikaner·innen in der Definition von Wander- und Saisonlandarbeiter·innen miteinbezogen werden sollten oder nicht. Jedoch stehen aktuell die Begriffe »Landarbeiter·in« und »Wanderarbeiter·in« beinahe ausschließlich für Menschen mit lateinamerikanischem Familienhintergrund. Das Migrant Health Program finanziert derzeit mehr als 400 Kliniken zur Gesundheitsversorgung von Migrant·innen in 42 Bundesstaaten. Seit Beginn dieses Programms ist migrant health zunehmend als eigenes Feld im US-amerikanischen Gesundheitswesen anerkannt. Heute wird es im Allgemeinen als Gesundheitsversorgung für mexikanische und zentralamerikanische Wanderarbeiter·innen verstanden. 1984 wurde das Migrant Clinicians Network gegründet, um Kliniker·innen zu vernetzen und weiterzubilden, die mit diesen Bevölkerungsgruppen arbeiten.17 Das Netzwerk hat derzeit mehr als 2000 Mitglieder bundesweit. An jedem der drei Hauptorte meiner Feldforschung gab es eine medizinische Einrichtung zur Erstversorgung, die meine Triqui-Gefährt·innen für ihre Gesundheitsangelegenheiten aufsuchten. So gibt es im Skagit Valley in Washington eine aus Bundesgeldern finanzierte Klinik für Migrant·innen, mit sechs Ärzt·innen und einer Hebamme, zwei Zahnärzt·innen, zwei Gesundheitspädagog·innen, sechs Pflegekräften und mehreren Verwaltungsangestellten. Die Ärzt·innen waren eine idealistische, weiße Frau mit Studienabschluss von einer renommierten Universität; eine weiße Frau, die als Tochter christlicher, medizinischer Missionar·innen in Südamerika groß geworden ist und ihr Studium ebenfalls an einer hochrangigen medizinischen Hochschule absolviert hatte; ein weißer Bergsteiger, dem es gefiel, in der Nähe der North
17
Siehe www.migrantclinician.com.
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Cascade Mountains zu leben; eine Frau mit zentralamerikanischem Familienhintergrund, die in der Gegend aufgewachsen war; sowie ein pensionierter weißer, ausschließlich englischsprachiger Mann, der als Vertretungsarzt an einzelnen Tagen einsprang. Die Pflegekräfte waren vornehmlich Latinas aus der Gegend sowie eine Schwarze Frau, die in die Region zog, um näher an ihrer Familie zu leben. Die Preise der Klinik für Migrant·innen sind gestuft, wobei die meisten mexikanischen Landarbeiter·innen weit unter der niedrigsten Schwelle der gelisteten Einkommen verdienen und daher 15 US-Dollar pro Besuch als Eigenbeitrag zahlen müssen. Früher war die Klinik an zwei Abenden in der Woche auch nach 17 Uhr geöffnet. Vor Kurzem wurden die Öffnungszeiten geändert und nun ist die Klinik nicht mehr an zwei Abenden bis 19 Uhr, sondern nur noch an einem Abend bis 21 Uhr geöffnet. Diese Änderung der Öffnungszeiten sowie der Anspruch der Klinik, alle verarmten Menschen in der Gegend zu versorgen und nicht etwa nur die migrantischen Landarbeiter·innen, hat zu einer Abnahme des Anteils an Patient·innen geführt, die auf den Farmen arbeiten. Heute ist es an jedem beliebigen Tag gleichermaßen wahrscheinlich, im Wartezimmer der Klinik verarmte, weiße Anwohner·innen anzutreffen wie verarmte mexikanische Wanderarbeiter·innen. Im Central Valley in Kalifornien suchten meine Triqui-Freund·innen eine vornehmlich aus Bundesgeldern finanzierte Gesundheitsklinik auf, in der vier Ärzt·innen, acht Pflegekräfte, ein·e Zahnärzt·in und mehrere Verwaltungsangestellte arbeiteten. Die meisten Klinikangestellten waren Latin@s, die im Central Valley aufgewachsen waren. Ein Arzt kam aus Südamerika und musste in einem staatlichen örtlichen Gesundheitszentrum arbeiten, bis seine Einwanderungsangelegenheiten abgeschlossen waren. Die Preise der Klinik waren gestuft, die niedrigste Zuzahlung lag bei 30 US-Dollar. Die Patient·innen dieser Klinik setzten sich aus US-amerikanischen Anwohner·innen mit lateinamerikanischem Familienhintergrund sowie mexikanischen und zentralamerikanischen immigrierten Arbeiter·innen zusammen. Da die Zuzahlung hier doppelt so hoch war, gingen meine Triqui-Gefährt·innen seltener in diese Klinik als in jene in Washington. Wie schon erwähnt, gab es in San Miguel ein bundesfinanziertes Centro de Salud, wo abwechselnd der auswärtige Assistenzarzt und die auswärtige Pflegekraft arbeiteten und dazwischen häufig ein bis zwei Tage niemand anzutreffen war. Sowohl der Assistenzarzt als auch die Pflegekraft kamen aus Oaxaca-Stadt und sprachen nur Spanisch. Mehrere Triqui-Familien aus den Grenzregionen ihrer Ortschaften waren aufgrund der dortigen Gewalt über Landansprüche in größere, vornehmlich von »Mestiz@s« bewohnte Städte im
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Bundesstaat Oaxaca gezogen. In jeder dieser Städte gab es eine staatliche Klinik sowie mehrere private Ärzt·innen mit eigener Praxis. Den anderen zwei wichtigen Triqui-Ortschaften wurde ihr Status als Kreisstadt von der Landesregierung entzogen worden, so dass sie auch die Finanzierung für ihre Kliniken verloren hatten. Meine Triqui-Freund·innen erklärten, dass es in den anderen beiden Triqui-Orten zu viel politische Organisierung gegeben habe, woraufhin die Landesregierung von Oaxaca diese Orte herabstufte und unter die politische Jurisdiktion nahegelegener, vornehmlich von »Mestiz@s« bewohnter und regierter Kreisstädte stellte. Zusätzlich zu den Kliniken suchten sich meine Triqui-Freund·innen Hilfe von traditionellen Heiler·innen. Traditionelle Heilpraktiken – ähnlich der oben beschriebenen Erfahrung Abelinos – werden nicht nur in Oaxaca angewendet, sondern auch unter TriquiLandarbeiter·innen in den USA.18 So war der alte, ausschließlich Triquisprachige Vater des síndico in San Miguel ein traditioneller Heiler. Auch Crescencio wurde dazu ausgebildet, allerdings wurde das noch nicht allgemein anerkannt.
Strukturelle Faktoren für Kliniker·innen in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen Biomedizinische Fachkräfte im Feld der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen arbeiten unter anspruchsvollen und schwierigen Bedingungen. Die meisten Kliniken für migrantische Landarbeiter·innen sind gemeinnützige Organisationen mit unverlässlichen und veränderlichen Finanzierungsquellen. Vielen fehlt es an teuren Medikamenten und medizinischen Geräten. Ärzt·innen und Pflegekräfte in diesen Kliniken erbringen viele zusätzliche Leistungen; fordern etwa kostenlose Medikamente für ihre Patient·innen an oder füllen Formulare aus, um vergünstigte perinatale Versorgung für werdende Mütter zu beantragen. Diese Kliniker·innen verlieren oft die Hoffnung, wenn sie die systematische Verschlechterung des Gesundheitszustands junger, gesunder Menschen beobachten, die in die USA kommen, um auf den Farmen zu arbeiten. Dr. Samuelson, der bergsteigende Arzt in der Klinik für Migrant·innen im Skagit Valley, erzählte mir von seiner Frustration über die mit der Zeit immer stärker zerstörten Körper seiner Patient·innen.
18
Vgl. Bade 2004.
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Ich sehe schrecklich viele Menschen, die einfach abnutzen und auslaugen. Sie wurden benutzt und ausgenutzt und haben körperlich härter gearbeitet als irgendwer so viele Jahre lang arbeiten sollte. Da kommen sie mit dumpfen Rückenschmerzen heraus. Du arbeitest daran und es wird nicht besser und du glaubst nicht, dass da irgendwas simuliert ist. Es geht bis an den Punkt, wo du einfach ein MRT veranlassen musst und ihr Rücken ist erledigt. In ihren frühen Vierzigern haben sie die Arthritis von Siebzigjährigen – und sie genesen nicht. Ihnen wird gesagt: »Es tut mir leid, machen sie weiter, was sie tun«, und sie hängen fest. Kurz gesagt, sie sind aufgeschmissen, und das ist tragisch. Mehrere Kliniker·innen wiesen auch auf die Schwierigkeiten hin, die vom Rassismus im Wartezimmer der Klinik verursacht wurde. Ärzt·innen und Pflegekräfte sprachen davon, dass weiße Patient·innen zu ihnen Dinge sagten wie, »Ich kann nicht um diese Zeit kommen, denn ich möchte nicht mit diesen Leuten im Wartezimmer sitzen«, womit sie mexikanische Wanderarbeiter·innen meinten. Einige weiße Patient·innen beschwerten sich über den Geruch der Landarbeiter·innen nach der Pflückarbeit oder beschwerten sich, dass die Landarbeiter·innen ihre Kinder mitbrachten. Bundesweit sind nur annähernd fünf Prozent der Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus krankenversichert und die meisten können aufgrund ihres fehlenden Aufenthaltstitels nicht auf Medicaid oder Medicare zugreifen.19 Das bedeutet nicht nur, dass viele Kliniken nur für wenige ihrer Leistungen die Kosten erstattet bekommen, sondern auch, dass es viele Hürden gibt, um diesen Menschen eine hochwertige Versorgung anzubieten. Das niedrige Niveau der Erstattung bedeutet, dass solche Kliniken regelmäßig Förderungen aus öffentlichen und privaten Quellen beantragen müssen, um bestehen zu bleiben. Angesichts der ungleichmäßigen Finanzierung müssen die Klinikverwalter·innen ab und zu wichtige Programme kürzen, wenn ihnen die Förderung fehlt oder sich die Prioritäten der geldgebenden Institutionen verändern. Um eine solche Unterfinanzierung zu kompensieren, widmen die Ärzt·innen und Pflegekräfte viel Zeit und Energie dem Versuch, Proben oder Spenden von Medikamenten zu bekommen, die ihre Patient·innen brauchen. Dr. Goldenson, der südamerikanische Arzt in der Klinik in Kalifornien, erzählte mir von einem Patienten, der bei der Arbeit auf den Feldern am Talfie-
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Vgl. Villarejo 2003; Migration News 2004. Anmerkung zur Übersetzung: Medicare ist wie Medicaid ein staatliches Unterstützungsprogramm für die Gesundheitsversorgung bedürftiger Menschen in den USA.
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ber (Kokzidioidomykose) erkrankte. Diese potenziell tödliche Krankheit wird durch das Einatmen von Erde verursacht und ist daher eine bedeutende Sorge unter Landarbeiter·innen. Dr. Goldenson hatte in den vergangenen drei Jahren zwei Wanderlandarbeiter als Patienten, die am Talfieber erkrankt waren. Beide brauchen für den Rest ihres Lebens eine Suppressionstherapie mit einem teuren antifungalen Antibiotikum. Dr. Goldenson beschrieb den Fortschritt eines der Patienten. Es geht ihm nicht so gut. Aber immerhin überlebt er. Im Grunde wird er sein Leben lang 1000 Dollar im Monat für Diflucan brauchen. Natürlich kann dieser Kerl nicht 1000 Dollar monatlich aufbringen. Bislang konnten wir MediCal dazu bringen, die Kosten zu decken, wobei ich jeden Monat durch die Wiederbewilligung gehen muss. […] Ich habe schon oft viel Zeit mit dem Versuch verbracht, Proben zu bekommen. Ich rufe Freund·innen an oder suche nach speziellen Programmen. Es ist viel Arbeit. Aber es fühlt sich gut an, weil das Leute sind, die das wirklich wertschätzen. Die Notwendigkeit, ausreichend Geld zum Überleben zu verdienen, und die mangelnde Flexibilität in den Zeitplänen der Landarbeit, erschweren es für die Wanderarbeiter·innen, sich tagsüber frei zu nehmen und die Klinik aufzusuchen. Hierdurch wird gefördert, dass die Arbeiter·innen warten, bis sie bereits sehr krank sind, bevor sie in die Klinik kommen. Sie sind auch gezwungen, Termine zu verpassen, wenn am entsprechenden Tag länger gepflückt wird als erwartet. Kliniker·innen erzählten mir bei verschiedenen Gelegenheiten, wie schwierig es sei, diese Arbeiter·innen wirksam zu behandeln, da sie die Präventionsangebote nicht nutzten und häufig Termine verpassten. Auch sei es schwierig, die Kontinuität der Versorgung sicherzustellen, weil die meisten Wanderarbeiter·innen alle paar Monate umziehen, um an verschiedenen Orten zu arbeiten. Das bedeutet, dass an jedem neuen Ort die Kliniker·innen eine neue Quelle der rabattierten oder frei verfügbaren Medikamente finden müssen. Dr. McCaffree, eine Mitte dreißigjährige Ärztin in der Klinik für Migrant·innen im Skagit Valley, die in einer Missionarsfamilie in Südamerika aufgewachsen war, erzählte mir: »Die meisten [Migrant·innen] haben keine Versicherung, das ist also noch schwieriger, weil du mit ihnen eine Medikation anfängst und schon weißt, dass sie sie wieder absetzen müssen, wo auch immer sie als Nächstes hingehen.« Die Nichtsesshaftigkeit im Leben der Landarbeiter·innen bedeutet auch, dass ihre medizinischen Akten extrem unvollständig sind. Jede Klinik hat mindestens ein Krankenblatt für jede·n Patient·in, das nur die Saisons abdeckt, in denen die Person in
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der Gegend lebte. Viele Kliniken haben mehr als ein Krankenblatt für jede·n Patient·in, weil die Akten uneinheitlich nach mütterlichem Nachnamen, väterlichem Nachnamen oder Nachnamen der Ehepartner·innen abgelegt werden und es zudem direkte Falschtranskriptionen der Triqui-Namen auf Spanisch gibt. Des Weiteren geben einige der Patient·innen ohne Aufenthaltsstatus Spitznamen oder falsche Namen an, weil sie fürchten, ihre Daten könnten an den Grenzschutz weitergegeben werden. Sprachunterschiede sorgen auf mehreren Ebenen für Komplikationen im Bereich der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen. Die meisten Kliniker·innen sprechen Englisch und Spanisch; doch einige, wie der Vertretungsarzt im Skagit Valley, brauchen eine·n Dolmetscher·in, wenn sie spanischsprachige Patient·innen haben. Oft haben Kliniker·innen mit schlechten Spanischkenntnissen keine Zeit, eine·n Dolmetscher·in zu organisieren und führen die Untersuchung stattdessen auf Englisch durch, was die Patient·in jedoch nicht verstehen kann oder aber haben eine unprofessionell dolmetschende Person. So beobachtete ich zum Beispiel, wie ein Kind die gynäkologische Untersuchung seiner Mutter übersetzte. Eine mir bekannte Triqui-Patientin hatte eine Frühgeburt. Die Pfleger·innen schrieben auf, »Patientin verweigert Brustpumpe«, obwohl sie in der Interaktion, aus der sie das schlossen, keine Übersetzung stattfand. Die Sozialarbeiterin des Krankenhauses, die mich darauf hinwies, sagte: »Ich kann mir nur vorstellen, was sie dachte, was gesagt wurde, als sie mit der elektrischen Maschine in Richtung ihrer Brüste gestikulierten.« Die Hebamme im Skagit Valley erzählte mir, wie Sprachunterschiede sowie Zeit- und Personalmangel auf unterschiedliche Weise zu schlechter Versorgung führten: »Es gibt viele Angestellte, die sich nicht damit aufhalten wollen, ausgebildete Dolmetscher·innen zu organisieren. Leute ziehen mich heran und sagen: Oh, könntest du mal eben dolmetschen? Diese Person hat das Recht auf eine richtige Übersetzung und nicht bloß ein fünf-minütiges Gespräch mit mir, während ich von Patient·in zu Patient·in renne. Es fehlt einfach die Bereitschaft. Es geht nur um diesen einzigen weiteren Schritt. Es ist Rassismus. Und es ist die Überarbeitung, weil unser System derzeit eine absolute Katastrophe ist.« »Bist du sicher, dass du Arzt werden willst?«, fragte sie mich. Nur sehr wenige Kliniken für Migrant·innen bieten ihre Dienste in anderen Sprachen als Englisch oder Spanisch an. Das Krankenhaus im Skagit Valley, wo meine Triqui-Freund·innen hingingen, wenn sie stationär behandelt werden mussten, bietet durch einen lokalen gemeinnützigen Sprachdienstleister situativ eine mixtekische Übersetzung an. Jedoch wird häufig ein·e
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Mixtekisch-Dolmetscher·in hinzugerufen, sobald die Klinikmitarbeiter·innen herausfinden, dass eine Person aus Oaxaca kommt – auch wenn die Person nur Triqui spricht. Zudem deuteten mehrere Kliniker·innen an, dass es besonders schwierig sei, mit den Frauen aus Oaxaca zu kommunizieren. In San Miguel haben weniger Triqui-Frauen als -Männer die Schule besucht und manche sprechen daher kein Spanisch. Auch beschwerten sich die Kliniker·innen, dass Frauen aus Oaxaca leise sprächen und ihnen dabei nicht in die Augen blickten. Manchmal haben Vorannahmen über Sprachkenntnisse und eine fehlende Dolmetschung noch schlimmere Folgen. Ein Triqui-Mann namens Adolfo Ruiz-Alvarez wurde zwei Jahre lang in der staatlichen Psychiatrie von Oregon festgehalten und mit Medikamenten behandelt, nachdem er nur auf Spanisch verhört und auf Hausfriedensbruch und unsittliches Verhalten verklagt worden war.20 Meinen Triqui-Gefährt·innen zufolge konnte Ruiz-Alvarez nicht auf Spanisch kommunizieren, was von den Behörden jedoch für seine Muttersprache gehalten wurde – und deshalb wurde er für verrückt erklärt. Als ich von diesem Fall hörte, erinnerte ich mich, dass ich mehrfach für öffentliche Unsittlichkeit hätte angeklagt werden können, als ich während der wohnungslosen Zeit in Kalifornien in Parks pinkelte, da die öffentlichen Toiletten nach Sonnenuntergang abgeschlossen wurden. Meine Triqui-Gefährt·innen beschrieben auch den Fall eines mixtekischen Mannes, Santiago Ventura Morales, der ohne mixtekische Übersetzung des Mordes angeklagt wurde. Ventura Morales wurde vier Jahre lang in einem Bundesgefängnis in Oregon festgehalten, bevor eine gemeinnützige Organisation sich einschaltete, die sich für indigene Mexikaner·innen einsetzt und ihnen Dolmetschdienste anbietet, und am Ende einen Freispruch erwirkte.21 Kliniker·innen im Bereich der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen arbeiten in schwierigen Umgebungen und brauchen zusätzliche Zeit und Mehrarbeit, um Medikamente zu beschaffen, um mit dem Rassismus ihrer weißen Patient·innen umzugehen und um ihre Arbeit in mehreren Sprachen zu verrichten, während es ihnen an verlässlichen Ressourcen fehlt. Obwohl sie sich überarbeitet, machtlos und manchmal hoffnungslos fühlen, arbeiten sie engagiert mit dieser Bevölkerungsgruppe zusammen. Viele beschrieben, dass lateinamerikanische Wanderarbeiter·innen eine hochwertige Versorgung verdienten. Sie sprachen von ihrem Gefühl der Berufung zu ihrer 20 21
Vgl. Davis 2002. Vgl. ebd.
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Arbeit, dieser Bevölkerungsgruppe eine gute Versorgung zu bieten. Wie Dr. Goldenson es ausdrückte: »Es ist ein sehr schwieriges Problem. Wir haben eine schlimme Krise im Versicherungs- und im Gesundheitswesen. Ich meine, Staatsbürger·innen können sich die Krankenversicherung nicht wirklich leisten. Und die migrantischen Arbeiter·innen, ich bin wirklich überzeugt, dass sie mindestens denselben Zugang haben sollten wie andere. Ich meine, sie leisten da eine Arbeit, die sonst niemand machen will. Das ist die Wahrheit. Das ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum wir in den Supermarkt gehen und Obst zu einem bezahlbaren Preis kaufen können. Es handelt sich hier also um eine Gruppe, die wirklich unsere Aufmerksamkeit verdient.«
Crescencios Kopfschmerzen – Strukturen und der medizinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen Im letzten Kapitel beschrieb mir Crescencio nach der Gesundheitsmesse in unserem Arbeitscamp seine Kopfschmerzen. Er sagte mir, er habe diese entsetzlichen Kopfschmerzen bekommen, nachdem er auf der Arbeit rassistisch beleidigt und ungerecht behandelt wurde. Er erklärte mir, dass er eine Behandlung wolle, bevor er sich im Kontext seiner Familie zu sehr aufregen oder gar gewalttätig werden würde. Er erzählte, dass er bereits mehrere Ärzt·innen in den USA und in Mexiko sowie einen traditionellen Triqui-Heiler aufgesucht habe, dass aber keine der Therapien langfristige Wirkung gezeigt hätte. Da mir nichts Besseres einfiel, schlug ich vor, dass Crescencio die örtliche Klinik für Migrant·innen aufsucht, um zu sehen, ob sie eine neue Lösung für sein Problem ausprobieren würden. Ich erinnerte mich an das Verfahren zur Diagnose und Behandlung von Kopfschmerzen, das ich im Medizinstudium gelernt hatte. Ich fragte mich, ob die Ärzt·innen in der Klinik ähnlich vorgehen würden und Medikamente ausprobierten, die sich auf Spannungs-, Clusteroder Migränekopfschmerzen konzentrierten. Eine Woche später erzählte mir Crescencio, dass er bei einer der Ärzt·innen in der Klinik gewesen sei und sie ihm überhaupt kein Medikament gegeben habe. Er sagte, dass sie ihn in eine Therapie überwiesen habe und fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Ich beschrieb ihm, dass hier eine Person dafür bezahlt würde, mit ihm zusammenzusitzen, ihm Fragen zu stellen und seine Antworten anzuhören, um ihm zu helfen, seine Gefühle und Gedanken durchzuarbeiten oder seinen ungesunden Substanzkonsum zu verringern. Zugleich wusste ich, dass er kaum Geld hatte, um überhaupt in die Klinik zu gehen und es unwahrscheinlich
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war, dass er 15 US-Dollar pro Sitzung für eine Psychotherapie oder Gespräche zu seinem Substanzmissbrauch bezahlen würde (auch wenn das anderen Menschen sehr günstig erscheinen mag). Nach mehreren Wochen, in denen ich versuchte, einen Termin mit dieser Ärztin in der Klinik zu bekommen, konnte ich sie schließlich zu Crescencios Kopfschmerzen befragen. Sie dachte kurz nach und schaute dann kurz in Crescencios Krankenblatt, um ihre Erinnerung aufzufrischen. Sie sagte mir, dass er vor über einem Monat ein Mal kurz bei ihr gewesen sei. Sie hatte ihn aufgefordert, seinen Alkoholkonsum zu verringern und dann zurückzukommen, um weiterzusehen. Er kam dann zu einer anderen Zeit wieder und traf einen anderen Arzt an – den Vertretungsarzt, der nur Englisch sprach. Nachdem sie in ihre und die Notizen des Vertretungsarztes im Krankenblatt schaute, erzählte sie mir aus ihrer Perspektive von Crescencios Situation. Naja, also er hält sich für das Opfer und denkt, dass der Alkohol oder die Kopfschmerzen ihn dazu bringen, seine Frau zu schlagen. Aber eigentlich ist er der Täter und alle anderen sind die Opfer. Und solange er sein Problem nicht anerkennt, kann er es nicht verändern. Ich bin in einem Gremium der CPS [Child Protective Services/Kinderschutzdienste] und da habe ich viel über häusliche Gewalt gelernt. Wir haben festgestellt, dass nichts wirklich funktioniert, keine Migräne-Medikamente oder so etwas, außer die Leute ins Gefängnis zu stecken, so dass sie eine Machtdemonstration sehen. Das ist das einzige, was funktioniert, weil sie sich dann das Problem als ihr Eigenes eingestehen müssen und anfangen, sich zu verändern. Es ist ein komplexes psychosoziales Problem, ein Verhaltensmuster. Wahrscheinlich hat sein Vater ihn so behandelt, ihn geschlagen und war ein Alkoholiker – und jetzt macht er das auch. Es ist ein klassischer Fall von häuslicher Gewalt. Er ist ein Mal zu mir gekommen und ich habe ihn aufgefordert, zwei Wochen lang nicht zu trinken und dann wiederzukommen. Aber er ist zwei Wochen später nicht wiedergekommen. Stattdessen kam er einen Monat später und war bei einem unserer Vertretungsärzt·innen. Offenbar hat er dem Arzt etwas davon erzählt, dass es ihn wahnsinnig macht, wenn die Leute auf der Arbeit ihm sagen, was er tun soll – und dass das seine Kopfschmerzen verursacht. Offensichtlich hat er Probleme. Er muss lernen, mit Autoritäten umzugehen. Wir haben ihn in die Therapie überwiesen. Wissen Sie, ob er zur Therapie geht? Wie in Abelinos Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen stand auch diese Ärztin unter Zeitdruck und machte Vorannahmen, ohne die psychosoziale Wirklichkeit des Patienten richtig zu erkunden. In Crescencios Fall nahm die
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Ärztin an, dass seine Beschreibung zur Erregung und Wut bedeutete, dass er seine Frau bereits geschlagen hätte und dies weiterhin täte. Ohne den Sorgen des Patienten ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken, ohne den Fokus auf die Kopfschmerzen und deren Ursachen zu legen, nahm sie vor allem die von ihr angenommene Gewalt in der Partnerschaft in den Blick. Während es absolut richtig und wichtig ist, achtsam für die Möglichkeit dieser Gewalt zu sein, hat dieser Fokus hier womöglich zu einem Kurzschluss hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten für Crescencio geführt. Ohne alle möglichen Therapien für schwere Kopfschmerzen in Betracht zu ziehen, vertritt die Ärztin rückblickend die Meinung, Leute wie Crescencio sollten eingesperrt werden. Nachdem sie im Krankenblatt gelesen hatten, dass Crescencios Kopfschmerzen mit der schlechten Behandlung durch die Aufseher·innen auf der Farm zusammenhingen, schlugen die Ärzt·innen eine Therapie vor, um ihm dabei zu helfen, seine »Probleme« mit Autoritäten zu überwinden und seinen Alkoholkonsum zu behandeln. Ohne die Einsicht, dass Crescencios Leiden von mehreren Ebenen der gesellschaftlichen Ungleichheit und Respektlosigkeit bestimmt wurden, begründeten sie die Kopfschmerzen versehentlich mit der psychologischen Verfassung des Patienten. Schließlich waren ihre Hauptinterventionen zweierlei. Erstens sagten sie ihm, er solle im kalten Entzug mit dem Trinken aufhören, obwohl der Alkohol die einzige wirksame Intervention bezüglich seiner Kopfschmerzen war, wie er nach Jahren der aktiven Suche herausgefunden hatte. Leider – aber vielleicht erwartbarerweise – konnte er nicht aufhören zu trinken. Zweitens überwiesen die Ärzt·innen den Patienten in eine Therapie, ohne dass er verstand, was das bedeutete. Eine Therapie, die dem Patienten dabei hilft, seine schlechte Behandlung durch die Aufseher·innen zu akzeptieren, kann dem Patienten vielleicht helfen, in einer schwierigen Situation Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Eine Substanzmissbrauchstherapie kann dem Patienten helfen, den Schaden durch den Konsum zu verringern und ein gesünderes Verhalten zu entwickeln. Zugleich kann die Therapie aber auch fördern, dass der Patient seinen Platz in einer Arbeitshierarchie akzeptiert, die von Respektlosigkeit und rassistischen Beleidigungen durchzogen ist, so wie in Crescencios Fall. Auf diese Weise waren die Interventionen der Klinik nicht nur unwirksam, sondern sie stützten unabsichtlich die gesellschaftlichen Faktoren des Leidens und verstärkten die gesellschaftlichen Strukturen, die Crescencios Arbeitsposition und seine Kopfschmerzen überhaupt erst hervorbrachten.
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Crescencios Kopfschmerzen sind ein Ergebnis der internationalen, wirtschaftlichen Ungleichheiten, die ihn überhaupt erst dazu zwingen, als Wanderlandarbeiter tätig zu sein und die rassistische Behandlung in der Farmhierarchie nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit zu ertragen. Diese gesellschaftlich hervorgebrachten Kopfschmerzen führen dazu, dass Crescencio aufgeregt und wütend auf seine Familie wurde und trank – womit er das Stereotyp vom mexikanischen Migranten als potenziell gewalttätigem Alkoholiker erfüllt. Die rassistische Behandlung, die seine Kopfschmerzen erzeugt, wird dann anhand der verkörperten Stereotype gerechtfertigt, die in Teilen überhaupt erst durch diese Diskriminierung hervorgebracht wurden. Die mächtigen wirtschaftlichen Strukturen, die auf die Klinik für Migrant·innen wirken, sowie die beschränkte Wahrnehmung der Biomedizin verstärken durchweg subtil diese rechtfertigende symbolische Gewalt in Crescencios Erfahrung im Gesundheitswesen.
Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen – Washington und Kalifornien Es kann nicht stark genug betont werden, wie wichtig Wahrnehmung in der sozialen Interaktion ist. Sozialwissenschaftler·innen haben die Bedeutung sozialer Wahrnehmung in ganz verschiedenen Zusammenhängen aufgezeigt: in den Wirkungen der Repräsentationen von »den Armen« in der Internationalen Entwicklungsarbeit,22 den Ergebnissen der symbolischen Verknüpfung von Geschlechterhierarchien und menschlichen Zellen in der Medizin23 und in den Folgen der klassenspezifischen Bedeutungen von Geruch.24 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt das »Sein als WahrgenommenSein«.25 Anders ausgedrückt werden Menschen durch die Wahrnehmung anderer bestimmt. Diese Wahrnehmung oder Identifikation26 bestimmt die Handlungen anderer Menschen gegenüber dieser Person. Diese Handlungen wiederum prägen die Handlungen der Person selbst, insofern sie in Reaktion auf andere handelt und ihre potenziellen Handlungen von den Handlungen
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Vgl. Sachs 1991. Vgl. Martin 1992. Vgl. Orwell 1937. Vgl. Bourdieu 2005, z.B. S. 112. Vgl. Brubaker und Cooper 2000; siehe Pine 2008.
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anderer hervorgebracht oder beschränkt werden. Zudem wirken sich diese Wahrnehmungen und Handlungen auf die materiellen Bedingungen aus, in denen diese Person lebt – insofern diese Bedingungen kontinuierlich durch soziale Handlungen auf größerer politisch-ökonomischer sowie kleinerer intimerer Ebene hervorgebracht werden. Die Erfahrungen des Leidens und des Krankseins von Triqui-Wanderlandarbeiter·innen werden bedeutend von den Reaktionen medizinischer Fachkräfte im Bereich der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen geprägt. Diese medizinischen Reaktionen auf das Leiden der Triqui zu verstehen, erfordert eine Analyse der Linsen, durch die diese Gesundheitsfachkräfte das Leiden ihrer Triqui-Patient·innen wahrnehmen. Ethnografische Daten zeigen, dass diese Wahrnehmungen von positiven bis zu neutralen, von negativen bis zu unverhohlen rassistischen Haltungen reichen. Mehrere medizinische Fachkräfte in Kliniken für Migrant·innen sagten, dass Wanderlandarbeiter·innen eine Gruppe seien, die Unterstützung verdient und mit der sie gerne arbeiten. Die medizinische Leiterin der Klinik im Skagit Valley sagte mir, dass die Wanderarbeiter·innen, die in die USA kommen, »die Sterne« Mexikos seien. Die Hebamme in derselben Klinik erzählte mir, sie seien »die Besten und die Mutigsten« aus Mexiko, weil sie erfolgreich die Grenze überquert und in den USA Arbeit gefunden hätten. Dr. McCaffree sagte mir, sie sei immer wieder »beeindruckt davon, wie sie weitermachen« und wie sie »trotz ihrer schwierigen Schicksale glücklich und zufrieden zu sein« schienen. Mehrere Kliniker·innen sagten mir, dass mexikanische Landarbeiter·innen kaum über ihre Krankheiten klagten und wenige öffentliche Ressourcen wie Klinikdienste, Sozialleistungen oder Entschädigungsansprüche nutzten. Mehrfach erzählten mir Ärzt·innen und Pflegekräfte, dass die Wanderlandarbeiter·innen respektvoller seien als die weißen Patient·innen ihrer Klinik und dass ihre Kinder sich besser benähmen. Zudem seien die indigenen Menschen aus Oaxaca besonders respektvoll. Es beschwerten sich jedoch auch Kliniker·innen über ihre Patient·innen aus der Landarbeit. Eine der Pfleger·innen im Skagit Valley erzählte mir, »sie sorgen nicht wirklich gut für sich« und müssten beigebracht bekommen, sich besser um ihre Körper zu kümmern. Dr. Goldenson beklagte sich mir gegenüber, dass die mexikanischen Migrant·innen »nicht glauben, dass sie Medikamente brauchen«. Als Beispiel nannte er, dass sie häufig die Folgen von unbehandelter Diabetes falsch verstünden und zu dem Schluss kämen, dass die Folgeschäden der Krankheit, wie Blindheit oder Nervenprobleme, durch Diabetesbehandlungen wie Insulin verursacht würden. Mehrere Ärzt·innen
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beschwerten sich auch über die Praktiken der mexikanischen Patient·innen hinsichtlich der traditionellen Heilung und über sogenannte kulturgebundene Syndrome wie susto [Angstzustände und körperliche Beschwerden durch emotionale Traumata oder das Mitleiden mit anderen].27 Einige Kliniker·innen machten diese Überzeugungen und Praktiken für den schlechten Gesundheitszustand ihrer Patient·innen verantwortlich. Johanna, die Hebamme in der Klinik im Skagit Valley sagte mir, dass sie eine Heilung für susto erfunden habe, die sie für einen großen Erfolg hielt. Dazu gehörten Kamillentee und Erholung von der Haushaltsarbeit. Dann erklärte sie weitere Schwierigkeiten, die ihr bei ihrer Arbeit mit mexikanischen Wanderarbeiter·innen begegneten. Einer der interessantesten Aspekte der Arbeit mit spanischsprachigen Patient·innen ist einfach diese Abneigung, spezifische und quantitative Angaben zu machen. Es ist enorm. Ich weiß nicht, ob du schonmal versucht hast, jemandes Krankengeschichte zu erfahren. Aber wenn du fragst: »Wie lange hast du dieses Problem schon?« oder »Wo tut es weh?« oder »Was können Sie mir über Ihr Problem sagen?«; dann bekommst du eine ganze Sammlung ungenauer Antworten. Sagen wir, du hast Bauchschmerzen und ich frage, was los ist, und du sagst: »Naja, es ist am Montag losgegangen und es fühlt sich soundso an und dazu kommen noch diese und jene damit zusammenhängenden Symptome.« Du und ich wären auf derselben Wellenlänge und das wäre sehr hilfreich für mich. Ich wäre sehr dankbar, dass du genau erklären kannst, was los ist. Bei den mexikanischen Leuten – beinahe bei allen – egal wie lange du sie schon kennst, bekommst du eine so vage Antwort wie »Seit einer Weile tut es irgendwie hier weh, es fühlt sich nach Schmerzen an«, wobei sie üblicherweise die Schmerzen relativieren. Es ist einfach schwierig, eine gute Geschichte von ihnen zu bekommen und dazu habe ich eine Menge Ideen. Johanna denkt, dass dieses Problem mit dem Fehlen einer guten Gesundheitsversorgung in Mexiko und mit religiöser Scham zusammenhänge, die Krankheiten mit persönlicher Sünde oder moralischem Scheitern verknüpft. Zugleich könnte dieses Kommunikationsproblem sehr viel eher auf Missverständnissen zwischen Menschen verschiedener Klassenzugehörigkeiten als zwischen nationalen oder ethnisierten Zugehörigkeiten beruhen. Beispielsweise würden die mir bekannten mexikanischen Ärzt·innen und Pflegekräfte auf diese Fragen genauso antworten wie ich – und zwar aufgrund ihrer Aus-
27
Vgl. Rubel 1964; Rubel und Moore 2001.
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bildung und ihres beruflichen Hintergrundes, unabhängig von ihrer Sprache oder Nationalität. Die meisten Kliniker·innen benannten als wichtigste Gesundheitsprobleme migrantischer Landarbeiter·innen Diabetes, körperliche Schmerzen von der Arbeit, Verletzungen bei der Arbeit und Zahnprobleme. Die medizinische Leiterin der Klinik in Washington sagte, dass die meisten ihrer Patient·innen auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« häufig antworteten: »Naja, es tut alles weh, aber so ist das eben.« Ein pensionierter Zahnarzt sagte mir, dass (in die USA immigrierte) Mexikaner·innen lange warteten, bis sie die Zahnklinik aufsuchten, so dass die Probleme oft so ernst seien, dass er ihnen einen Zahn ziehen muss. Er erklärte auch, dass die Arbeit mit mexikanischen Patient·innen aufgrund von körperlichen Unterschieden schwierig sei, die er biologistisch ethnisierte: »Es ist die Genetik. Sie haben einfach eine andere Knochenstruktur; es ist als würdest du den Zahn aus Granit herausziehen. Du betest, dass er sich bewegt. Dein rechter Arm wird also drei Mal so kräftig wie der linke. Das siehst du bei vielen mexikanischen Leuten, weißt du, große Kiefer oder eine sehr schwere Knochenstruktur. Nordeuropäer·innen sind viel leichter gebaut.« Die Ärzt·innen in der Klinik für Migrant·innen erzählten mir, dass die Zahnprobleme der Wanderarbeiter·innen daher rührten, dass sie als Kinder in ihren Fläschchen zu oft Saft bekommen hätten. Die Hebamme Johanna, sagte mir, dass sie viel häusliche Gewalt der Männer gegen ihre Frauen erkannte. Ihre Theorie lautete, dass diese Gewalt in großen Teilen aus der Enttäuschung der Männer über unerfüllte Erwartungen in den USA herrührte. Einige der Pflegekräfte in derselben Klinik sagten mir jedoch, dass es unter Wanderlandarbeiter·innen sehr wenig häusliche Gewalt gebe. Dr. McCaffree fügte hinzu, dass sie einen hohen Anteil an unverheirateten Schwangerschaften und von Depressionen sehe. Die Depression, sagte sie, sei bei den Männern als Alkoholismus maskiert und bei den Frauen als vage Schmerzen. Alle anderen Kliniker·innen sagten mir, dass die Wanderarbeiter·innen geringere Raten an Substanzmissbrauch zeigten als ihre USamerikanischen Patient·innen. Zugleich erklärte Dr. McCaffrees Pflegekraft, dass sie ein geringeres Vorkommen von Depression unter den immigrierten als unter den weißen Patient·innen sehe. Ein zusätzliches, häufiges Missverständnis zwischen Gesundheitsfachkräften und Triqui-Patient·innen bezieht sich auf die Ehe. Der Großteil der Triqui heiratet nach traditioneller Praxis. Dazu gehört die Zahlung des Brautpreises von rund 1500 US-Dollar in San Miguel oder 2500 US-Dollar in den USA durch den Mann an die Familie seiner Verlobten. Die meisten
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Paare schließen keine offiziell anerkannte kirchliche oder staatliche Ehe. Der rechtliche Status dieser Partnerschaften ist also kompliziert, weil die Paare keine staatlichen Eheformulare ausfüllen. Doch für die Triqui handelt es sich um anerkannte Ehen. Viele der »unverheirateten Schwangerschaften«, von denen Dr. McCaffree spricht, sind also wahrscheinlich nicht so einfach einzuordnen.28 Neben der üblichen Aberkennung der Triqui-Ehe durch medizinische Fachkräfte gibt es ein weiteres interkulturelles und rechtliches Problem rund um die Ehe, und zwar das Alter der Paare. Triqui-Männer heiraten üblicherweise zwischen ihrem 16. und 20. Lebensjahr, während ihre Partnerinnen häufig zwischen 14 und 18 Jahre alt sind. Aus Berichten von Triqui und Kliniker·innen in Washington und Kalifornien weiß ich, dass Folgendes regelmäßig vorkommt: Ein Triqui-Paar kommt ins Krankenhaus, damit die Frau ihr erstes Kind auf die Welt bringen kann. Im Gespräch mit der Patientin bestimmen die Pflegekräfte oder Sozialarbeiter·innen anhand von einfachen Definitionen, dass das Paar gesetzlich nicht verheiratet sei, und stellen dann fest, dass die Frau noch keine 17 Jahre alt ist, der Mann hingegen 17 oder älter. Die Krankenhausmitarbeiter·innen nehmen dann Kontakt mit Strafverfolgungsbehörden auf, wozu sie in manchen Bundesstaaten verpflichtet sind. Die Frau wird in die Obhut von Verwandten oder einem Gericht gegeben und der Mann wird der schweren Straftat der Vergewaltigung angeklagt. Er kommt dann ins Gefängnis (in manchen Bundesstaaten für bis zu zehn Jahre).29 2009 haben die populären englischsprachigen Medien in den USA auch die traditionellen Brautpreispraktiken unter Triqui in Greenfield, Kalifornien, völlig falsch dargestellt. Trotz der nuancierten und kontextualisierenden Aussagen der lokalen Polizeidienststelle, lief die folgende eurozentrische Titelgeschichte durch die Mainstream-Medien: »Mann verkauft Tochter für Geld, Bier und Fleisch.«30 Tatsächlich waren Geld, Alkohol und Fleisch der vereinbarte Brautpreis, der es der Brautfamilie ermöglichte, eine traditionelle Hochzeitsfeier auszurichten. Trotz der Ähnlichkeit zu verbreiteten, weißen und protestantischen Hochzeitstraditionen, die eine teure Hochzeitsparty umfassen (die ebenfalls Geld, Bier und Fleisch involviert), wurde diese sensationsheischende Story und der damit zusammenhängende Rechtsstreit landesweit in Nachrichtenkanälen wie CNN und 28 29 30
Vgl. Holmes 2009. Vgl. Quinones 1998. Vgl. Holmes 2009.
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Los Angeles Times wiedergekäut. Im Falle der Triqui-Paare, die ich in der Zeit ihre ersten Kindsgeburten beobachtete, entschied sich das Pflegepersonal trotz solcher potenzieller Missverständnisse gegen eine Anzeige, auch wenn die Paare im oben genannten Alter die traditionelle Ehe eingegangen waren. Nachdem die Mitarbeiter·innen die Paare kennengelernt hatten, hielten sie solche Medienberichte für ein grausames Missverständnis. Die medizinische Leitung der Klinik im Skagit Valley sagte mir, dass ein hoher Prozentsatz der weißen und mexikanischen Patient·innen, die vom Staat Ausgleichszahlungen bei Verdienstausfall beantragten, nur »das System nutzen wollen«. Sie erklärte zudem, dass viele Migrant·innen von Texas und Kalifornien nach Washington kämen, weil sie gehört oder die Erfahrung gemacht hätten, dass die staatliche Gesundheitsabsicherung hier gut sei. Ähnlich erzählten mir verschiedene Mitarbeiter·innen im Sozialamt von Madera, Kalifornien, – einschließlich des Eigentümers der Elendswohnung, in der wir dort lebten – dass überall in Oaxaca Schilder stünden, auf denen die Leute nach Madera gerufen würden, weil sie dort Sozialleistungen beziehen könnten. Während meiner Feldforschung hörte ich jedoch von keiner einzigen immigrierten Person, dass die Sozialleistungen oder Krankenversicherung ein Motiv für ihre Migration gewesen seien. Auf all meinen Reisen durch Oaxaca habe ich kein einziges Schild gesehen, dass die Sozialleistungen in den USA bewarb, erst recht nicht jene in Madera, Kalifornien. Tatsächlich hatten die allermeisten meiner Triqui-Gefährt·innen in den meisten Bundesstaaten weder Zugang zu Sozialleistungen noch zur Krankenversicherung, da sie zu häufig umzogen oder keine Aufenthaltspapiere hatten. Einige Triqui-Familien beantragten und erhielten einfache und kurzfristige Ernährungsunterstützung rund um die Geburt, wobei sich diese Unterstützung als minimal und das nötige Verfahren als unverhältnismäßig zeitaufwändig erwies. Eine·r der Ärzt·innen in der Klinik im Skagit Valley sagte mir, dass die Mexikaner·innen in den USA das Gesundheitssystem missbrauchten, indem sie versuchten, mehrere Meinungen zu ihren Erkrankungen und den richtigen Behandlungen einzuholen. Dr. Samuelson, der Arzt in derselben Klinik, der die meisten Fälle von Arbeitsverletzungen betreute, widersprach dieser Einschätzung gewissermaßen. Er schrieb viele der unabhängigen medizinischen Gutachten in der Gegend, wenn spanischsprachige Patient·innen Ausgleichszahlungen beantragten. Er erklärte, dass häufig die Sprachbarriere zu Problemen bei der Prüfung der Verlässlichkeit der Patient·innen führte. Zudem erklärte er, dass viele dieser Patient·innen eine andere Haltung zu Schmerzen hätten und »das ist in der Industrie [der Ausgleichszahlungen]
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nicht erlaubt«: Wenn Patient·innen bei manchen Teilen der Tests schneller reagieren, »wird das als Vortäuschung von Schmerzen interpretiert, während es sich in Wirklichkeit um die Angst vor Schmerzen handelt.« »So kommt es«, fährt er fort, »dass ich dieselbe Untersuchung durchführe und völlig unterschiedliche Ergebnisse erhalte. Aber der Verdacht des Betrugs wurde bereits erhoben.« Bei den wenigen Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus, die aufgrund von Arbeitsverletzungen Ausgleichszahlungen beantragen, führt diese Verdächtigung zu langfristigen Problemen mit ihren Unterlagen. Deshalb, erklärte Dr. Samuelson, sei es häufig notwendig, dass die Patient·innen mehrere Ärzt·innen aufsuchten, um eine Person zu finden, die sie mit der nötigen Achtsamkeit behandelte. Die medizinischen Fachkräfte, denen ich begegnete, bemerkten häufig weitere Unterschiede zwischen den migrantischen Landarbeiter·innen aus Oaxaca und den mestizischen Mexikaner·innen. Mehrere Ärzt·innen und Pflegekräfte wiesen darauf hin, dass ihre Patient·innen aus Oaxaca ärmer waren als ihre anderen Patient·innen. Dr. McCaffree sagte mir: »Sie scheinen sehr viel ärmer zu sein und haben daher keinen Zugang [zu Gesundheitsversorgung] … Ihre Kleidung ist ein klein wenig dreckiger. Sie scheinen viel dünner zu sein, haben nicht viel Übergewicht, und tragen Kleidung, die nicht so häufig gewechselt wird.« Zu vielen Gelegenheiten erzählten mir Kliniker·innen, dass der Gesundheitszustand der Menschen aus Oaxaca schlechter sei als der von anderen Gruppen. Eine Person sagte: »Sie sind einfach kränker und haben mehr körperliche Schmerzen.« Das entspricht auch den Statistiken zu gesundheitlicher Ungleichheit, die ich bereits besprochen habe. Kliniker·innen im Feld der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen in Washington und Kalifornien haben eine ganze Reihe von Überzeugungen über ihre aus Mexiko immigrierten Patient·innen. Sie halten sie für respektvoll, zäh und einer guten Gesundheitsversorgung würdig. Zugleich finden viele Kliniker·innen es frustrierend, mit den Wanderarbeiter·innen zu arbeiten, weil sie traditionelle Gesundheitspraktiken anwenden und nur vage Krankengeschichten mitbringen. Einige Kliniker·innen hegen eurozentrische Vorannahmen über ihre Patient·innen, etwa hinsichtlich der Wirklichkeit ihrer Ehen. Verschiedene Kliniker·innen haben widersprüchliche Ansichten über die Häufigkeit von Substanzmissbrauch, Depressionen oder der Beantragung von Ausgleichszahlungen innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe. Jedoch stimmen die medizinischen Fachkräfte darin überein, für bestimmte Gesundheitszustände wie Zahnprobleme oder die körperliche Gesamt-
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verfassung das kulturelle Verhalten ihrer Patient·innen verantwortlich zu machen.
Bernardos Bauchschmerzen – Strukturen und der medizinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen Bernardo hatte chronische Bauchschmerzen, die ihm das Essen zur Qual machten. Daher fühlte er sich schwach und verlor langsam an Gewicht. Jedes Jahr erhielt er über mehrere Wochen lang Injektionen, bevor er Oaxaca verließ, um in Alaska in einer Fischfabrik zu arbeiten. Sie machten ihn seiner Erklärung nach stärker und förderten seinen Appetit. Wenn er – wieder schwächer und dünner – aus Alaska nach Hause zurückkam, unterzog er sich derselben Behandlung mit Injektionen. Er schrieb die Schmerzen einerseits seiner lebenslangen, anstrengenden Wanderarbeit zu und andererseits den Schlägen, die er – als verdächtiges Mitglied einer Bewegung für indigene Rechte – vom (US-finanzierten) mexikanischen Militär bekommen hatte. Während einer Saison, als er noch auf der Tanaka-Farm Beeren pflückte, ging Bernardo ins lokale Krankenhaus, um seine Bauchschmerzen behandeln zu lassen. Er bat um Medikamente, die den Schmerz linderten und seinen Appetit anregten. Obwohl Bernardo eine ältere Triqui-Person ist und sehr wenig Spanisch spricht, wurde er von einem englischsprachigen Arzt untersucht und ließ dabei seine Schwiegertochter übersetzen. Die Schwiegertochter ist eine mixtekische Frau, die kein Triqui und nur wenig Englisch spricht. Sie tat ihr Bestes, um zwischen Spanisch und Englisch zu dolmetschen. Im Krankenblatt definierte der Arzt Bernardo als Hispanic, »der nur Spanisch spricht, offenbar gebrochenes Spanisch, was für die Spanisch-Dolmetscherin schwer zu verstehen ist.« Später beschrieb der Arzt seinen Eindruck: »Ich muss sagen, die Krankengeschichte wurde durch eine Dolmetscherin vermittelt und mein Eindruck ist, dass der Patient dazu neigte, auf Aspekten zu beharren, die nicht mit den gestellten Fragen zusammenhingen, mir aber dennoch übersetzt wurden.« Aus dieser missverstandenen, vielschichtigen linguistischen Barriere schloss der Arzt, dass »er offenbar keine Krankengeschichte aus der Vergangenheit mitbringt. Keine Krankengeschichte.« Das Ausmaß seiner sozialen Vorgeschichte wird in zwei Sätzen zusammengefasst: »Er lebt hier. Tätig als ungelernter Arbeiter.« Nachdem er die Übersetzung von Bernardos Gewalterfahrung missverstanden hatte, notierte der Arzt einfach, Bernardo sei »ein alter Boxer und fragt sich, ob das stumpfe Bauchtrauma [von damals] zu seinem jetzigen Zustand beitragen könnte.«
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Aufgrund der zeitlichen und sprachlichen Beschränkungen des medizinischen Gesprächs war dem Arzt der Ort und die Beschaffenheit der Schmerzen nicht klar. Bernardo wurde aufgrund von »Schmerzen in der Brust« über Nacht ins Krankenhaus eingeliefert, um einen Herzinfarkt auszuschließen. Er erhielt einen Belastungstest, nachdem die technische Assistenz notierte, »er hat eine hervorragende Belastungsfähigkeit« und »dieses Kardiogramm zeugt von einem geringen Risiko.« Bernardo erklärte wiederholt, dass er Medikamente brauche, um seine Schmerzen zu lindern und seinen Appetit anzuregen. Er erklärte auch, dass er um 15.30 Uhr zur Arbeit auf der Farm zurück sein müsse. Nach dem Belastungstest verweigerte Bernardo eine dritte Blutabnahme und eine Ultraschalluntersuchung, weil er zur Arbeit musste. Bernardo musste ein Formular unterschreiben, »gegen ärztlichen Rat« das Krankenhaus verlassen zu haben und erhielt später eine Rechnung über 3000 US-Dollar. Bernardos Krankenhauserfahrung veranschaulicht viele der Probleme, die aus einem Mangel an Zeit und angemessener Dolmetschung hervorgehen – beides liegt vornehmlich an einem Finanzierungssystem der Gesundheitsversorgung, das auf Gewinnmaximierung und nicht auf die Versorgung der Patient·innen ausgerichtet ist. Infolge dieser strukturellen Beschränkungen nahm der Arzt an, Bernardo sei ein Spanisch sprechender Hispanic, notierte eine sehr begrenzte Vorgeschichte, die seine Migration ignorierte, und bestimmte, dass der Ausschluss eines Herzinfarkts das einzig wichtige Vorhaben war. Auf Bernardos wiederholte Bitte um die Behandlung seiner Bauchschmerzen und seines Appetitmangels wurde nicht reagiert. Am eindrücklichsten und erschreckendsten war die völlige Fehlinterpretation der erfahrenen Folter durch das Militär, so dass Bernardo in der medizinischen Stammakte als »ein alter Boxer« bezeichnet wurde. Während meines jüngsten Besuchs in Oaxaca, übernachtete ich bei Bernardo in Juxtlahuaca und besuchte den privaten Arzt, der ihm die Injektionen gab, die laut Bernardo die einzige Medizin waren, die ihm gegen die Schmerzen und den Gewichtsverlust halfen. Ich sprach am Abend mit dem Arzt, als seine Klinik zeitweilig wegen eines Stromausfalls geschlossen war. Er sagte mir, dass Bernardo ein Magensäureproblem wie Gastritis oder ein Geschwür habe. Er legte nahe, dass sein gastrointestinales Problem daher käme, dass er »zu viel scharfes Chili, zu viel Fett und zu viele Würzmittel« esse. Er fuhr fort: »[Indigene Leute] essen auch nicht zur richtigen Zeit, sondern warten lange zwischen den Mahlzeiten.« Der Arzt gab Bernardo eine Tablette, um seine Magensäure zu reduzieren. Er erklärte, dass es bessere Tabletten dafür gebe,
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die aber für Bernardo zu teuer seien. Er empfahl Bernardo, Milch und Joghurt zu sich zu nehmen, um den Schutzfilm seiner Magenschleimhaut zu unterstützen. Der Arzt verabreichte zudem Injektionen mit Vitamin B-12, um zu behandeln, was er für eine Neuropathie (Nervenschmerzen) hielt. Er erklärte, dass diese Neuropathie darin begründet sei, dass indigene Menschen »sich bei der Arbeit zu viel bücken und im Schlaf zu sehr krümmen.« Wie viele der US-amerikanischen Kliniker·innen konnte auch dieser Arzt Bernardos gesellschaftlichen und beruflichen Kontext nicht erkennen und machte stattdessen seine angenommenen und »kulturalisierten« Verhaltensweisen für sein Leiden verantwortlich. Entweder konnte der Arzt kein ausreichend umfassendes Anamnesegespräch führen, um von Bernardos Foltererfahrung zu erfahren, oder er verknüpfte diese Geschichte nicht mit den chronischen Schmerzen. Stattdessen entpolitisiert die Praxis der Biomedizin Krankheit. Teilweise tilgt sie sogar die strukturellen Faktoren von Leid, wie die politische Geschichte der militärischen Folter und die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die zur lebenslangen, harten Wanderarbeit führen.
Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Wanderarbeiter·innen – San Miguel, Oaxaca Bernardo wurde in einer mestizischen Ortschaft medizinisch versorgt, weil er durch die fortwährenden »Landkriege« vertrieben worden war. Die meisten Triqui im Bundesstaat Oaxaca erhalten ihre Gesundheitsversorgung im bundesfinanzierten Centro de Salud in ihrem Heimatdorf. Im Verlauf meiner Feldforschung lebte ich für fünf Monate komplett im Triqui-Dorf San Miguel und kehrte später für einige kürzere Besuche dorthin zurück. In dieser Zeit beobachtete und interviewte ich die Ärzt·innen und Pflegekräfte am Centro in der Ortsmitte. Das Centro besteht aus einem kleinen Eingangsbereich, der zugleich das Wartezimmer mit sechs Stühlen darstellt; einem kleinen Untersuchungszimmer; einem kleinen Raum mit zwei Betten, in dem Patient·innen über Nacht bleiben können (was während meiner Beobachtung nie vorkam); einem kleinen Badezimmer für die Mitarbeiter·innen mit einer Wassertoilette und einer Dusche; einer kleinen Küche für die Mitarbeiter·innen mit Gasherd; und einem kleinen Schlafzimmer für die Mitarbeiter·innen. Das Bad bezieht das Wasser aus einem großen schwarzen Kanister auf dem Dach. Der Kanister wird von den Müttern des Dorfs mit Wasser befüllt, die arm genug sind, um am Bundesprogramm Oportunidades teilzunehmen, das früher auch
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als Progresa bekannt war.31 Das Programm bietet eine regelmäßige Auszahlung kleiner Geldbeträge durch das Centro für Nahrung und Schulkleidung für die Kinder. Die Mitarbeiter·innen des Centro fordern, dass die Frauen, die in dem Programm eingeschrieben sind, einen Eimer Wasser im Austausch für ihre Auszahlung mitbringen, obwohl das keine Anforderung des Bundesprogramms ist. Laut dem Schild an der Tür bot das Centro sieben Tage die Woche, von 8 bis 14 und von 16 bis 18 Uhr, eine offene Sprechstunde an. Notfallversorgung sei rund um die Uhr verfügbar. Doch mindestens die Hälfte der Male, die ich zur Klinik ging – fast immer während der Sprechstundenzeiten – war die Kliniktür verschlossen und niemand reagierte auf mein Klopfen. Im Wartebereich des Centro hängen für alle sichtbar drei große Poster. Eines davon ist eine Karte des kleinen Ortes, auf der das Haus jeder Familie per Hand eingezeichnet wurde und daran das Auftreten von Krankheiten wie Tuberkulose, Diabetes, Fehlgeburten und Mangelernährung vermerkt ist. Ein anderes Poster hat die Überschrift: »10 Rechte von Patienten«.32 Aufgeführt sind etwa: »Mit Würde und Respekt behandelt werden«; »Frei über die eigene medizinische Behandlung entscheiden können«; »Entscheiden Sie, ob Sie Ihr Einverständnis zu risikoreichen Eingriffen geben oder nicht«; »Vertraulichkeit«; »Im Falle eines Notfalls medizinisch versorgt werden.« Es ist bemerkenswert, wie deutlich die öffentliche Verkündung von vorliegenden Krankheiten auf dem ersten Poster dem Recht auf »Vertraulichkeit« widerspricht, das auf dem zweiten Poster verkündet wird. Das dritte Poster trägt den Titel: »Die Zehn Gebote des Guten Patienten«33 und enthält Aufforderungen wie: »Vertraue deinem Arzt und nehme die Medizin, die er verschreibt«; »Sei dir bewusst, dass es dein Gesundheitszentrum ist und du es pflegen solltest«; »Frag den Arzt, wie du dafür sorgen kannst, keine Kinder mehr zu bekommen«; »Sei respektvoll im Umgang mit Ärzten und Pflegekräften«; »Halte dich und dein Haus sauber.« Die nachfolgenden ethnografischen Skizzen zeigen, wie diese widersprüchlichen Sichtweisen auf die Beziehung zwischen Ärzt·innen und Patient·innen in den alltäglichen klinischen Begegnungen in San Miguel miteinander konkurrieren: von der Überwachungsbiomacht des ersten Posters über die individualisierten Rechte der Patient·innen auf dem zweiten bis hin zu den Beziehungsrollen zwischen Patron und Schützling auf dem dritten. 31 32 33
Für mehr Hintergrundinformation: siehe Sesia 2001; Stephen 2007. Vgl. CONAMED, ohne Datum. Vgl. Grupo Autocolor de Oaxaca, ohne Datum.
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Abb. 13: Markttag im Zentrum von San Miguel, wo das Centro de Salud liegt.
Foto von Seth M. Holmes.
Die Ärzt·innen und Pflegekräfte im Centro nahmen die Triqui auf unterschiedliche Weise wahr. Zum Beispiel hatte das Centro kürzlich einen zusammenfassenden Bericht über die Gesundheit des Ortes San Miguel herausgebracht. Die Pflegerin, die ihn angefertigt hatte, führte die »fehlende Familienplanung durch die Familien« und »fehlende Akzeptanz gegenüber ZervixAbstrichen« als die zwei wichtigsten Gesundheitsprobleme an. Ich bat die Pflegerin, mir diese Probleme genauer zu erörtern und sie erklärte einfach: »Sie lassen sich nicht einfach darauf [auf die Abstriche] ein.« Der Bericht nannte »Kultur und Sitten« als Gründe für diese beiden Probleme. 33,6 Prozent Analphabetismus in der Bevölkerung wurden hier als weniger wichtiges Problem angeführt und dabei der Vorwurf formuliert, dass dies »an der Tatsache liege, dass Familienväter es bevorzugen, dass Kinder sich den Feldern widmen, als dass sie ihre Grundschulausbildung abschließen […] Manchmal nimmt der Familienvater die Kinder mit in den Bundesstaat Culiacán, Sinaloa, Hermosillo, Ensenada, USA.« Das dritte aufgeführte Problem sei das »Wohnen« – mit der Erklärung, dass »Promiskuität in dieser Bevölkerungsgruppe existiert, weil in manchen Häusern drei Familien zusammen leben.« Die Pflegerin schrieb, dass diese enge Wohnsituation aus »Sitten der Bevölkerungsgruppe« hervorgehe. Für das Problem der »Verschmutzung« machte
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die Pflegekraft die »Verbrennung von Müll« verantwortlich – und dass »nicht immer Latrinen genutzt« würden. In all diesen Beispielen werden Gesundheitsprobleme auf »kulturalisierte« Verhaltensweisen der Triqui zurückgeführt und dabei gesellschaftliche Strukturen ignoriert. In welchem Sinne ist die Ablehnung gegenüber vaginalen Abstrichen ein wichtigeres Gesundheitsproblem als die hohe Rate der Kindstode aufgrund von armutsbedingter Mangelernährung und Durchfall? In welchem Sinne ist die Behauptung berechtigt, Eltern würden ihre Kinder bevorzugt arbeiten lassen, anstatt klar zu machen, dass die Eltern praktisch dazu gezwungen werden, ihre Kinder arbeiten zu lassen, damit diese inmitten internationaler und lokaler wirtschaftlicher Ungleichheiten überhaupt überleben können? Als ich den Abschnitt zum überfüllten Wohnraum las, fragte ich mich, warum die Pflegerin hier als Grund »Sitten« anführte – anstelle von Armut, neoliberalem Konzernkapitalismus oder gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zu sprechen. Während meiner Beobachtungen im Centro wurde jede Woche mindestens einer Triqui-Mutter mitgeteilt, dass ihr Kind mangelernährt sei. Regelmäßig sagten Pfleger·innen oder Ärzt·innen Sätze wie: »Wenn Sie ihrem Kind mehr Tacos und weniger Sabritas [Chipsmarke] gäben, dann hätten wir dieses Problem nicht.« Doch ich hörte sie nie fragen, ob die Familie überhaupt Chips kaufte oder Geld gehabt hätte, um Sabritas zu kaufen. In einer dieser Situationen wurde eine Mutter heftig getadelt: »Ach Mensch! Was machen wir denn jetzt?! Deine Tochter ist ein Jahr und sieben Monate alt und wiegt so viel wie ein sechs Monate altes Kind wiegen sollte! Ach du!« In diesen Interaktionen nutzten Pfleger·innen und Ärzt·innen plötzlich tú, sie duzten also die Patient·innen, die wiederum immer in der höflich siezenden Form – usted – antworteten. Nach staatlichen Vorgaben muss das Centro alle Kinder, die als mangelernährt eingestuft wurden, monatlich wiegen und messen, solange bis ihr Ernährungszustand als »gut« eingestuft würde. Doch die Ernährungskategorien beruhen auf Durchschnitten als Normwerten und der Mangelernährungsindex bezieht sich ausschließlich auf Gewicht und Größe. Dieser Index wurde in Mexiko-Stadt in einer vornehmlich gut situierten mestizischen Bevölkerung mit anderen Ernährungsgewohnheiten und einer höheren durchschnittlichen Körpermasse und -größe aufgestellt. In Anwesenheit mehrerer Triqui-Patient·innen im Wartezimmer des Centro erklärte mir eine der Pfleger·innen, dass dieser Index bei der indigenen Bevölkerung schlecht funktioniere und dennoch weiterhin vom Gesundheitsamt verlangt werde. Hier wird also ein medizinisches Register, das anhand einer bezüglich Eth-
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nisierung und Klasse spezifischen Bevölkerungsgruppe erstellt wurde, normativ auf eine andere Gruppe angewandt – wodurch diese Patient·innen als anormal definiert, überwacht und zuweilen für ein unterstelltes Verhalten beschämt werden. Diese Praxis ist ein sehr gutes Beispiel für strukturellen Rassismus und Klassismus im medizinischen Kontext. Nachdem die Pflegerin mir auf Spanisch die Probleme mit dem Ernährungsindex erklärt hatte, erzählte sie mir ebenfalls vor allen Leuten im Wartezimmer: »Ich mag es hier nicht, ich möchte hier weg.« Sie sagte, dass sie bleiben würde, wenn die Triqui-Patient·innen ihr nur mehr Aufmerksamkeit und Dank schenkten. Während dieser Unterhaltung behandelte sie die Patient·innen im Wartezimmer, ohne sie für mehr Privatsphäre in den Untersuchungsraum zu bitten. Eine Person hatte grippeähnliche Symptome, Schmerzen und hohes Fieber. Die Pflegerin erklärte mir, dass das Centro nicht ausreichend mit Medikamenten ausgestattet sei und sie der Patient·in eine Schmerztablette geben müsse, »weil das alles ist, was ich da habe«. Nachdem sie die anwesenden Patient·innen behandelt hatte, sagte sie jenen, die noch draußen warteten, dass sie nun schließen werde, um sich um Papierkram zu kümmern. Ähnlich wie andere Ärzt·innen und Pfleger·innen, die ich beobachtet habe, zog sie die Eingangstür zu, schloss ab, ließ die Jalousien herunter und machte Musik an, obwohl auf dem außen an der Tür angebrachten Plan mit den Öffnungszeiten stand, dass die Klinik für weitere zwei Stunden eine offene Sprechstunde anbietet. Sie reagierte nicht auf das mehrmalige, zu hörende Klopfen an der Kliniktür. Stattdessen nahm sie mich mit in die Küche im hinteren Gebäudeteil und kochte uns zum Mittagessen einen Menudo [Kutteleintopf]. Sie erzählte mir von ihrer Wahrnehmung des Dorflebens. Eine Freundin, die Psychologin war, hatte mir empfohlen, einen Ort wie diesen zu finden und mich darauf zu konzentrieren. Ich habe lange gesucht und nichts gefunden, was ich mochte. Ich mag die Landschaft nicht, das Klima und erst recht nicht die Leute! Die Menschen hier sind faul und schmutzig, sie sind ignorant und lästern viel. Ich habe mal in einem anderen Ort gearbeitet, wo die Leute sauber waren. Ja, dort gab es auch fließend Wasser, aber die Leute waren einfach sauber und kämmten ihr Haar! Hier pinkeln die Frauen hin, wo sie wollen. Kein Wunder, dass sie hier Atemprobleme haben, wenn sie überall hin pinkeln; und dann kommt der Wind und wirbelt den Staub auf. Ich habe einer Frau gesagt, sie soll die Haare ihrer Tochter kämmen, damit sie hübsch aussieht. Aber die Frau sagte: »Nein, das ist nicht gut; wir sind Triqui.«
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Die Leute hier sind unehrlich, ich traue ihnen nicht über den Weg, Seth‹. Sie könnten dich umbringen, weil du die eine Person grüßt und bei der anderen vergisst, Hallo zu sagen. Ich habe mal in einem Ort gearbeitet, wo das Klima und die Leute warm waren. Jetzt lebe ich unter kalten Menschen. Warum sollte ich eine Freundschaft mit einer indigenen Person anfangen? Ich brauche nichts von denen. Ich dachte früher, dass indigene Leute so richtig arm dran wären, verarmt und kaputt. Jetzt weiß ich, dass sie einfach faul und dreckig sind. Ich wollte früher mein Leben aufgeben, um ihnen zu helfen, auch wenn sie mich nicht bezahlten und mir nicht einmal dafür dankten. Jetzt werde ich keine Zeit und keinen Peso mehr in ein Pueblo stecken. Keinen einzigen Peso! Das klingt übel, nicht wahr? Aber ich werde keine Minute und keinen Peso für eine indigene Person geben. Sie haben mich nicht verdient und sie haben meine Freundschaft nicht verdient. Weißt du warum Mexiko so große Schulden hat und keine Straßen baut oder irgendwas? Es geht alles in die Pueblos, so dass sie dort Medizin haben können. Es geht alles in die Pueblos. Und außerdem können sie nicht kochen! Wenn ich Seminare zu Ernährung gebe, dann bitte ich sie manchmal, irgendeinen Kürbis und Fleisch mitzubringen. Und ich versuche ihnen beizubringen, wie Tamales [gefüllte Teigtaschen in Maisblättern] gehen, aber sie wollen es nicht lernen und sie bringen auch nicht die Lebensmittel zum Kochen mit. Ich sage ihnen, sie sollen mehr Rellenos [gefüllte Paprika] oder Masitas [Blätterteigtaschen] oder Mole [mexikanische Saucen] zubereiten; und sie wissen nicht einmal, wie das geht! Sie kochen einfach nur die Blätter all dieser Pflanzen hier draußen – vom Rettich bis zu den Senfpflanzen – und essen die. Das ist alles, was sie kennen! Als wir das Mittagessen beendet hatten, erzählte mir die Pflegerin, dass sie eine ältere Triqui-Frau getroffen habe, die sehr nett zu ihr wäre und versuchte, ihr Triqui beizubringen und manchmal für sie kochte. Die Kommentare der Pflegerin zeugen von einem mangelnden Bewusstsein für den gesellschaftlichen Kontext ihrer Patient·innen, ähnlich wie bei den Kliniker·innen in den USA. Jedoch haben sie feindseligere, affektive Obertöne, die womöglich daher rühren, dass die Bundesregierung diese Pflegerin dazu verpflichtet, für mehrere Tage in der Woche ihr Zuhause und ihre Freund·innen in Oaxaca-Stadt zu verlassen. Zudem verkennt sie hinsichtlich der Reinlichkeit, wie viel Arbeit es ist, sich in San Miguel zu waschen. In diesem Bergdorf müssen die Menschen täglich zum Fuß eines langen, steilen Hügels hinabsteigen und dann 10 bis 15 Eimer Wasser vom Brunnen nach Hause tragen. Dieses Wasser wird zum Kochen, für die Tiere als Trinkwas-
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ser, zum Spülen und Waschen verwendet. Zudem müssen sie mehrere Meilen in den kommunalen Wald wandern, um mit der Machete Feuerholz schneiden und es wieder zurück nach Hause tragen. Sie müssen auch zu einem nahegelegenen Fluss laufen, um eine der wenigen Garnituren Kleidung zu waschen, die sie besitzen.
Abb. 14: Samuels Schwester mit Feuerholz für den Tag, auf dem Rückweg nach San Miguel mit Samuels Vater.
Foto von Seth M. Holmes.
Das Holz wird dann genutzt, um ein Feuer zu machen, das groß genug sein muss, um Mahlzeiten zu kochen – Mais bei geringer Hitze köcheln zu lassen und daraus Masa und Tortillas zu machen –, um Trinkwasser durch Abkochen zu reinigen und Wasser zu erhitzen, mit dem der Körper in der kalten Bergluft gewaschen werden kann. Dann muss die Person, die sich waschen möchte, auch noch einen ausreichend abgeschiedenen Ort finden, ohne den Innenraum des Hauses zu verdrecken oder so viel Matsch zu produzieren, dass das Waschen umsonst war. Als ich in San Miguel lebte, half ich der Familie, bei der ich wohnte, dabei, den Mais zu ernten und zu pflanzen sowie jeden Tag die Ochsen und Ziegen zu den Weiden zu bringen. Aufgrund der genannten Gründe und obwohl ich von dieser Arbeit verschwitzt und matschig wurde, wusch ich mich höchstens ein Mal pro Woche. Die Mitarbeiter·innen des Centro de Salud hingegen können täglich duschen und sich mit fließendem
5. Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen
Wasser waschen, das regelmäßig von den ärmsten Frauen des Dorfes dorthin geschleppt wird. Als ich bei einem meiner späteren Besuche nach San Miguel zurückkehrte, war die Pflegerin nicht mehr dort. Sie war von den Ortsvorständen gebeten worden, zu gehen, »weil sie zu viel Urlaub machte«. Die neue Pflegerin war eine freundliche Frau, auch aus Oaxaca-Stadt. Ich traf sie zum ersten Mal gemeinsam mit einem Triqui-Freund, Nicolas, den ich auf der Tanaka-Farm in Washington kennengelernt hatte. Nicolas bat sie um Hilfe bei der Vorbereitung der Gesundheitsdokumente, die er für den Antrag auf einen Aufenthaltsstatus in den USA brauchte. Sie sagte: »Naja, ich weiß nicht, ob du [in den USA] wirklich so hart arbeitest, wie du sagst, aber ich schau mal, was ich tun kann.« In Nicolas‹ Anwesenheit erklärte sie, dass sie eine evangelikale Christin sei. Sie sagte zu mir in gewandter Redeweise, dass die meisten Triqui katholisch seien und – »katholisch bedeutet hier, dass sie zu Bildnissen aus Holz und Eisen und Stahl und wer weiß was beten. Wir beten einfach zu dem lebendigen Gott, wo auch immer wir sind, zu dem Gott, der den Wind und die Sonne gemacht hat. Katholisch heißt, du kannst machen, was du willst. Du kannst trinken und Liebhaber·innen haben und viele Feste feiern – die ganze Zeit Geburtstage und anderes.« Sie setzte ihre Erzählung fort: »Die Sitten der Triqui sind jungfräulich rein, sie sind von nichts verändert worden. Sie sind noch immer so, wie sie immer gewesen sind. Einige der Triqui-Pueblos sind gesetzlos, sie haben nur die Sitten.« Dann fragte sie mich: »Du denkst also darüber nach, die Grenze zu überqueren? Für sie [sie gestikuliert mit der Hand in Richtung Triqui-Pueblo] ist das bloß ein weiteres Abenteuer, so wie vieles in ihren Leben ein Abenteuer ist. Du solltest aber ein Gegengift gegen die Schlangenbisse mitnehmen.« Wie Samantha bezüglich Abelinos Knie schätzte diese Pflegerin das Leiden der Triqui-Wanderarbeiter·innen gering, besonders indem sie die schwierige und gefährliche Grenzüberquerung als bloßes »Abenteuer« bezeichnete. Zudem hallte auch hier das sozialdarwinistische Verständnis von indigener Einfachheit wider, das ich schon auf der Tanaka-Farm gehört hatte. Die Pflegerin erzählte mir weiter (vor Nicolas), dass vor einer Woche in San Miguel ein Baby gestorben war. Sie erklärte, dass die Mutter des Kindes der Pflegerin gesagt habe, dass sie das Baby ins Centro gebracht habe, wo der Arzt eine Erkältung diagnostizierte und ihr ein paar Tabletten gab. Die Pflegerin fügte hinzu: »Babys können gar keine Pillen schlucken.« Dem Baby ging es immer schlechter und die Mutter habe mehrfach versucht, den Arzt ausfindig zu machen, doch die Tür der Klinik war verschlossen und niemand reagierte.
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Sie fuhr mit dem Baby in den nahegelegenen mestizischen Ort Tlaxiaco, wo das Baby im Krankenhaus an Folgekomplikationen einer Lungenentzündung starb. »Wenn wir in einer ciudad [Stadt] arbeiten würden, statt in einem Pueblo, wäre er jetzt im Gefängnis. Wenn wir beide da gewesen wären und nur pastillitas [Pastillen] gegeben hätten, dann wären wir beide im Gefängnis.« Einige Tage später kehrte die Pflegerin über das Wochenende nach Oaxaca-Stadt zurück und der Arzt kam nach San Miguel. Er beklagte sich bei mir, dass die Triqui nicht oft genug in die Klinik kämen. Um seinen Punkt zu veranschaulichen, sagte er: »Letzte Woche hat eine Mutter ihr Baby den ganzen Weg nach Tlaxiaco gebracht, anstatt es zu mir zu bringen; und das Baby ist gestorben, weil es so lange gedauert hat, dorthin zu kommen.« Er beklagte sich auch darüber, wie die Triqui tratschten und das Gerücht verbreiteten, er sei nicht im Centro zugegen. Die Kliniker·innen in San Miguel arbeiten in der schwierigen Umgebung einer Klinik, in der es an Medikamenten und medizinischen Geräten fehlt. Die Bundesregierung fordert von ihnen, für mehrere Tage in der Woche mehrere Reisestunden von ihren Freund·innen und Familien entfernt an einem Ort zu arbeiten, wo die Menschen eine andere Sprache sprechen. Wie den Kliniker·innen in Washington und Kalifornien fehlt auch ihnen das Bewusstsein für die gesellschaftlichen Kräfte, die die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Patient·innen beeinträchtigen. Stattdessen neigen sie dazu, die Erkrankungen ihrer Patient·innen anhand ihrer eigenen Vorannahmen über deren Kultur und Verhalten zu begründen. Sie bekommen eurozentrische Kriterien an die Hand, die sie anwenden müssen, wie zum Beispiel den Mangelernährungsindex. Aufgrund der weitgehend fehlenden politischen Macht ihrer Patient·innen können sie straflos ärztliche Fehler begehen. Schließlich nehmen sie ihre Patient·innen durch rassistische Metaphern wie Schmutz, Gewalt und Faulheit wahr, so dass sie diese Menschen nicht für würdig genug halten, eine Versorgung zu bekommen.
Kontextlose Medizin und unpolitische Kulturkompetenz Im Paradigma des klinischen Blicks überrascht es kaum, dass die Kliniker·innen, mit denen ich sprach, die Körper von Individuen aus der Triqui-Bevölkerung vor Ort behandeln und doch unfähig sind, den gesellschaftlichen Zusammenhang einzubeziehen, der ihnen Leid zufügt. Nur gelegentlich – zum Beispiel Dr. Samuelson und Dr. Goldenson – hörte ich
5. Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen
Mediziner·innen den Kontext herausstellen, in dem eine Person lebt: deren Lebens- und Arbeitsbedingungen oder die internationale Wirtschafts- und Migrationspolitik. Doch diese größeren politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte sind grundlegende Ursachen für die Leiden ihrer Patient·innen. Zugleich kann den Therapeut·innen diese Kontextausblendung nicht persönlich zum Vorwurf gemacht werden. Auch sie sind von den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen geprägt. Ihr Ausblenden des sozialen und politischen Kontexts ist von ihren schwierigen, hektischen und emotional anstrengenden Arbeitsbedingungen geprägt. Eine weitere Ursache liegt in der Art, wie Medizin gegenwärtig gedacht und gelehrt wird. Die meisten dieser Personen haben sich für eine Anstellung in Kliniken für Migrant·innen entschieden, weil sie helfen wollten. Sie bringen eine Menge Mitgefühl mit und empfinden eine Berufung zu dieser Arbeit. Doch sie haben auch gelernt, ihre Patient·innen durch eine enge Linse zu betrachten – sie schauen auf das Individuum und nicht auf dessen soziale Einbettung. Ärzt·innen in den USA und in Mexiko lernen nicht, die gesellschaftlichen Faktoren von Gesundheitsproblemen zu erkennen – oder sie aus den Berichten ihrer Patient·innen herauszuhören. Diese Kontextausblendung zeigt sich, wenn die Abschnitte der Krankenblätter zur sozialen Vorgeschichte gänzlich die gesellschaftlichen Wirklichkeiten auslassen oder wenn etwa Foltererfahrung als Boxkampf eingetragen wird. Stattdessen lernen sie, die meiste Aufmerksamkeit auf die vermeintlich objektiven Informationen zu richten, die ihre eigenen ärztlichen Untersuchungen und noch stärker ihre biotechnologischen Bluttests und radiologischen Messungen ergeben.34 Unweigerlich tappen sie also in die Falle einer zu engen Perspektive, durch die sie Krankheit entkontextualisieren und sie aus dem Bereich der Politik, Macht und Ungleichheit in den Bereich des individuellen Körpers verschieben. Die vorgelagerten Faktoren, die Leid verursachen, bleiben unerkannt, unbeachtet und unbehandelt. Ähnlich wie die von Ferguson beschriebene »Anti-Politik-Maschine« in Entwicklungsorganisationen35 entpolitisiert die Biomedizin wirkungsvoll Gesundheitsprobleme. Krankheit wird hier nicht in politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen begründet, sondern in individuellem Verhalten, unterstellten kulturellen Praktiken und ethnisierten körperlichen Unterschieden. Neben diesem entkontextualisierenden Blick lernen Ärzt·innen in Nordamerika heute auch, das Verhalten 34 35
Vgl. Good 2001. Vgl. Ferguson 1990.
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von Patient·innen als Faktor in Gesundheitsfragen einzubeziehen – etwa Lebensführung, Ernährung, Gewohnheiten oder Sucht. Löblicherweise wurde die medizinische Bildung insgesamt erweitert und dabei verhaltensbezogene Gesundheitsbildung in das Paradigma der biopsychosozialen Gesundheit aufgenommen, das George Engel 1977 einführte. Gleichzeitig lernen die Gesundheitsfachkräfte nicht, die globalen politisch-ökonomischen Strukturen und lokalen Hierarchien zu beachten, die die Leiden ihrer Patient·innen prägen, sondern haben nur Werkzeuge, um biologische und verhaltensbezogene Faktoren von Erkrankungen zu erkennen. Sie sind darauf beschränkt, die Entstehung von Krankheit nur in den Patient·innen selbst zu verorten: in ihren Körpern (die Genetik, von der der Zahnarzt spricht), in ihrem Verhalten (das falsche Bücken, von der die Reha-Ärztin ausgeht) oder in ihrer Kultur (die Bräuche, die die Pflegerin in San Miguel heraufbeschwört). Wie zum Hohn machen wohlmeinende Kliniker·innen das Ganze also noch schlimmer, indem sie ihre Patient·innen selbst für ihre Leiden verantwortlich machen. In Reaktion auf die sozialwissenschaftliche Kritik am begrenzten Blick der Biomedizin in einer multikulturellen Welt haben biomedizinische Institutionen damit begonnen, kulturelle Kompetenzen zu lehren.36 Das Feld der kulturellen Kompetenz soll auf vielfältige Weise den klinischen Blick erweitern, um eurozentrische Vorannahmen und wirkungslose Interventionen zu vermeiden. Die meisten Mainstream-Trainings für kulturelle Kompetenz befassen sich mit Listen von stereotypen Eigenschaften »ethnisierter« Gruppen.37 Dieser Fokus legt nahe, dass die Kultur der Patient·innen das Problem darstellt, das es zu verstehen gilt, und dass sie das Hindernis ist, das überwunden werden muss, um wirkungsvolle Gesundheitsversorgung zu bieten.38 In den Formulierungen der »kulturellen Kompetenz« bleiben die eigene Kultur der Biomedizin und die strukturellen Faktoren von Gesundheit und Gesundheitsversorgung weitgehend nicht untersucht. Doch die oben angeführten ethnografischen Informationen widersprechen diesem Fokus. Denn sie zeigen, dass es häufig die Struktur und Kultur der Biomedizin sind, die eine wirksame Versorgung behindern. Wie Jonathan Metzl vorgeschlagen hat, sollte medizinische Lehre statt der derzeit vorherrschenden »kulturellen
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Vgl. Kleinman und Benson 2006. Vgl. Jenks 2011; Hester 2012; Willen et al. 2010. Vgl. Jenks 2011; Shaw and Armin 2011.
5. Der klinische Blick in der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen
Kompetenz« eine Schulung in Gesellschaftsanalyse und in »struktureller Kompetenz« bieten.39 Ohne das Kontinuum der Gewalt in den Hierarchien der Ethnisierung und Staatsangehörigkeit sowie in den internationalen Politiken anzuerkennen, die ihre Patient·innen überhaupt erst in verletzende Situationen bringt, machen Kliniker·innen häufig die Patient·innen selbst für ihre Krankheiten verantwortlich: die mutmaßlich falsche Art, sich beim Pflücken zu bücken; das vermeintliche Problem mit Autoritäten oder die falsche Ernährung. Die Art, wie Beerenpflücker·innen stehen – tatsächlich eine falsche, ungesunde Haltung – ist nur der körperliche Faktor ihres Leidens. Ironischerweise kann hier der fortschrittliche Einbezug von Verhalten in die medizinische Ausbildung bei fehlendem entsprechenden Einbezug des gesellschaftlichen Kontextes Kliniker·innen eben dazu führen, die Opfer von gesellschaftlich bedingtem Leid selbst dafür verantwortlich zu machen oder sie gar zu kriminalisieren.40 Sogar jene medizinischen Fachkräfte, die sich der gesellschaftlichen Faktoren von Gesundheit sehr bewusst sind, können in einer Art Verteidigungsmechanismus gegen das, was ihnen hoffnungslos erscheint, auf biologistische und »kulturalisierte« Erklärungen zurückgreifen. Den Opfern von Vorurteilen sowie wirtschaftlichen und historischen Ungleichheiten wird also selbst die Schuld für ihre missliche Lage zugeschoben. Sie werden dafür verantwortlich gemacht, dass sie eine schlechte Arbeit und Gesundheit haben, obwohl es sich dabei um Ergebnisse von gesellschaftlichen Strukturen handelt, in denen sie situiert sind. Die Wirklichkeit der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen ist jedoch noch komplizierter und potenziell gefährlich. Die schwierigen Umstände und der begrenzte Blick der Kliniken für Migrant·innen machen es sogar den idealistischsten Mitarbeiter·innen unmöglich, wirksame Behandlungen anzubieten. Nicht nur können diese Ärzt·innen keine angemessenen Interventionen empfehlen; sie verschreiben häufig wirkungslose Behandlungen mit unbeabsichtigt schädigenden Ergebnissen. Einige dieser Behandlungen – wie die Rückkehr eines Patienten mit verletztem Knie zur vollen Arbeit – können ihren Patient·innen direkt schaden. Sogar die Interventionen wohlmeinender Ärzt·innen – zum Beispiel die schmerzlindernden Injektionen und die Überweisung in die Therapie, um unter anderem die potenziell grausame Behandlung durch Aufseher·innen zu akzeptieren – können unbeabsichtigt die un39 40
Vgl. Metzl 2011. Vgl. Terrio 2004.
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gleichen gesellschaftlichen Formationen stützen, die die Krankheiten überhaupt erst verursachen. Diese Behandlungen entpolitisieren ungewollt das Leiden und stärken so eben die krankheitsverursachenden Unterdrückungsstrukturen. Die Gewalt, die von gesellschaftlichen Hierarchien ausgeht, erstreckt sich von der Farm bis in die Klinik für Migrant·innen – trotz der beeindruckenden Werte und Absichten in beiden Institutionen. Die Struktur der Gesundheitsversorgung muss so verändert werden, dass sie allen Patient·innen hochwertige Versorgung bieten kann, anstatt privaten Gewinn und Kosteneinsparungen zum Ziel zu haben. Der gegenwärtige biologistische und auf »kulturalisiertes« Verhalten fokussierte klinische Blick muss so verändert werden, dass er die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren von Krankheit und Gesundheit anerkennt, so dass er also strukturelle Kompetenz umfasst. Bis dahin ist es kein Wunder, dass meine TriquiGefährt·innen zu dem Schluss kommen, dass »los médicos no saben nada«.
6. »Weil sie dem Boden näher sind«: Die Naturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid
Die Verborgenheit der Körper von Wanderarbeiter·innen »Es gibt hier keine Migrant·innen, warum suchst du hier? Ich habe von keinen gehört. Wenn du Migrant·innen willst, musst du auf die andere Seite der Berge, in den Osten Washingtons fahren. Ich glaube, da pflücken viele die Äpfel rund um Yakima. Aber hier gibt es keine.« Diesen Rat gab mir im Herbst 2002 ein regionaler Beauftragter der Öffentlichen Gesundheit im Bundesstaat Washington, als ich die Möglichkeiten erkundete, im Skagit County meine ethnografische Feldforschung durchzuführen. Das Skagit Valley ist ein aktiver Knotenpunkt in den transnationalen Migrationskreisen tausender mexikanischer Wanderarbeiter·innen,1 einschließlich meiner Triqui-Gefährt·innen aus dem Bundesstaat Oaxaca. Wie können also Tausende von Menschen, eben jene Menschen, die die berühmte Landwirtschaft des Tals ermöglichen, übersehen werden? Wie können Postkarten vom jährlichen Tulpen-Festival die Arbeiter·innen unsichtbar machen, die die Tulpenfelder bestellen und deren Blumen ernten? Die Öffentlichkeit – insbesondere eine wohlhabende Öffentlichkeit, die in elitären Lebensmittelgeschäften einkauft und in exklusiven Wohngegenden lebt – ist geübt darin, wegzuschauen und sie lebt in räumlicher Distanz von den Wanderarbeiter·innen.2 Eine weiße Anwohnerin im Skagit Valley, mit der ich mich während meines ersten Sommers auf der Tanaka Brothers Farm anfreundete, erklärte mir:
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Vgl. Besserer 2004; Hirsch 2003; Kearney 1998; Rouse 2002. Vgl. Sangaramoorthy 2004; Chavez 1992.
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»Am erschreckendsten finde ich, dass die [mexikanischen Wanderlandarbeiter·innen] für die Welt, in der ich lebe und die Menschen, mit denen ich lebe und mich umgebe, gar nicht existieren. Wir haben sie überhaupt nicht auf dem Schirm. Es gibt sie einfach nicht. Es ist wahrscheinlicher, dass wir uns für ein Waisenkind in Acapulco engagieren, weil das irgendwie schicker ist oder weniger unheimlich oder so, als dass wir herausfinden, dass fünf Meilen von uns entfernt Menschen leben, für die ich mich interessieren könnte.« Auf viele der seltenen Gelegenheiten, in denen die mexikanischen Migrant·innen in den USA im Fokus sind, folgen fremdenfeindliche und rassistische Rhetoriken sowie Hasskriminalität.3 Hier, wie an vielen Orten, wo diasporische Arbeiter·innen um ihr Überleben kämpfen,4 ist die Verborgenheit der migrantischen Körper bloß einer der Faktoren, die ihre fortwährend schlechte Behandlung und Leid ermöglichen. Um achtsam an einer Verbesserung der leidvollen, gesellschaftlichen Situation zu arbeiten, müssen sich Menschen zuerst der Ungleichheiten bewusst werden, die das Leid verursachen. Das gilt nicht nur für die weißen Anwohner·innen des Skagit Valley und Zentralkaliforniens, sondern auch für die Wanderarbeiter·innen selbst. Zudem müssen diese Hierarchien als historisch bedingt und gesellschaftlich konstruiert – und damit als veränderbar – anerkannt werden. Wenn Ungleichheiten hingegen als normal, verdient und natürlich wahrgenommen werden, können solche zerstörerischen gesellschaftlichen Gefüge reproduziert und ignoriert werden.5 Hier ist es entscheidend, zu verstehen, wie die fortwährende schlechte Behandlung und das Leiden der Wanderarbeiter·innen zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind, die von allen Beteiligten normalisiert und naturalisiert wird. Das ist ein wichtiger erster Schritt, um im Kontext der Migration zwischen Mexiko und den USA auf Respekt, Gleichheit und Gesundheit hinzuwirken.
Symbolische Gewalt Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt hat sich mir als besonders nützlich erwiesen, um zu verstehen, wie die Ordnung der bisher beschriebenen Ungleichheiten zu etwas geworden ist, das weder hinterfragt noch ange3 4 5
Vgl. Rothenberg 1998; Quesada 1999. Vgl. Wells 1996. Vgl. Scheper-Hughes 1997.
6. - Die Naturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid
fochten wird – nicht einmal durch jene, die darin am stärksten unterdrückt werden.6 Symbolische Gewalt bezeichnet die Naturalisierung, einschließlich der Internalisierung – also Verinnerlichung –, von gesellschaftlichen Asymmetrien. Bourdieu erklärt, dass wir die Welt durch Doxa (mentale Schemata) und durch den Habitus (historisch akkretierte körperliche Gewohnheiten) erfahren. Sie werden durch eben jene soziale Welt weitergegeben und lassen somit die gesellschaftliche Ordnung – einschließlich ihrer Hierarchien – natürlich erscheinen. Daher verkennen wir Unterdrückung als natürlich, weil sie zu unseren mentalen und körperlichen Schemata passt, durch die wir sie wahrnehmen. Bourdieu schreibt: »Ihre Wirkung entfaltet die symbolische Herrschaft (sei sie die einer Ethnie, des Geschlechts, der Kultur, der Sprache und so fort) nicht in der reinen Logik des erkennenden Bewußtseins, sondern durch die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata, die für die Habitus konstitutiv sind und die diesseits von Willenskontrolle und bewußter Entscheidung eine sich selbst zutiefst dunkle Erkenntnisbeziehung begründen.«7 Anders ausgedrückt wirkt symbolische Gewalt schon im Prozess der Wahrnehmung, also verborgen vor dem bewussten Denken. Während Sartres Konzept des schlechten Glaubens ein gewisses Bewusstsein innewohnt – Individuen täuschen sich wissentlich selbst, um Wirklichkeiten zu vermeiden, die sie verstören –, ist das Wirken der symbolischen Gewalt verborgen, gerade weil sie durch eben die Kategorien und Linsen der Wahrnehmung funktioniert. Bourdieu fährt anhand seiner Metapher von der sozialen Welt als einem »Spiel« fort und beschreibt illusio als »Investition in das Spiel selbst«.8 Alle gesellschaftlichen Akteur·innen in einem gegebenen Feld müssen durch ein gewisses Maß der Illusion an die Spielregeln glauben. Eine der Hauptregeln der sozialen Welt ist, dass Menschen in der Position des Wahrgenommenwerdens »zur Selbstwahrnehmung durch die herrschenden [] Kategorien verurteilt« sind.9 Wenn wir dies einbeziehen, dann stimmen die Opfer von symbolischer Gewalt per Definition ihrer eigenen Unterdrückung unwissentlich
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Vgl. Bourdieu 2001; ders. 2005; Bourdieu und Wacquant 1992. Vgl. Bourdieu 2005, S. 70. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. Bourdieu 2005, S. 121.
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zu, indem sie das Spiel überhaupt mitspielen. In Bourdieus Buch Die männliche Herrschaft erkennen wir, dass sowohl die Beherrschten als auch die Herrschenden Opfer der symbolischen Gewalt sind – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Hier nehmen sowohl Männer als auch Frauen sich selbst und die anderen als Teil einer Welt wahr, die scheinbar »natürlich« aus solch dichotomen Schemata wie »hoch/niedrig, männlich/weiblich, weiß/Schwarz und so fort.« besteht.10 Gesellschaftliche Akteur·innen haben also keine andere Wahl als sich selbst und ihre Welt durch Schemata wahrzunehmen, die durch asymmetrische Machtverhältnisse erzeugt wurden. Die Asymmetrien, die die soziale Welt einschließen, werden somit unsichtbar gemacht und von allen Beteiligten für selbstverständlich und normal gehalten.11
Staatsbürgerschaft, Kultur und Differenz Viele der Bezeichnungen, die andere Bewohner·innen der Gegend für mexikanische Wanderarbeiter·innen benutzen, schließen diese von einem angenommenen »Wir« aus – auf der Grundlage der symbolischen Behauptung, dass sie nicht am richtigen Ort seien. Wie ich im Schlussteil noch besprechen werde, transportiert das Wort »Migrant·in« Vorannahmen darüber, dass eine Person sich von einer begrenzten »entsendenden« Gemeinschaft in eine davon getrennte »empfangende« Gemeinschaft bewegt hat. Da »Migrant·in« beinahe ausschließlich genutzt wird, um eine Person zu beschreiben, die außerhalb ihres Herkunftsortes wohnt und arbeitet, konnotiert das Wort, dass die Person am gegenwärtigen Ort fehl am Platz ist und eigentlich woanders hingehört. Auch weitere häufig genutzte Wörter wie »Mexikaner·innen«, »Ausländer·innen« und »Oaxacaner·innen« deuten an, dass die bezeichnete Person anderswo herkommt und anderswo hingehört. Interessanterweise hat die Verwendung dieser Worte durch die meisten weißen Anwohner·innen nichts mit der tatsächlichen Staatsangehörigkeit der bezeichneten Personen zu tun, also damit, ob eine Person rechtlich Mexikaner·in oder US-Amerikaner·in ist. J.R., einer der weißen Anwohner·innen, den ich in Zentralkalifornien kennenlernte, zögerte nicht, den Latino-Bürgermeister eines nahegelegenen Ortes als »Fremden« zu bezeichnen, obwohl er ein US-amerikanischer Staatsbürger sein muss, um dieses Amt zu bekleiden. Zumal der Bürgermeister – an10 11
Vgl. Bourdieu 2005, S. 66. Vgl. Bourdieu 2001; ebd. 2005; Bourdieu und Wacquant 1992.
6. - Die Naturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid
ders als der Sprechende selbst – gebürtiger Kalifornier war. Dieser Sprachgebrauch zeugt von einer unausgesprochenen Furcht vor dem ethnisierten Anderen, wie in J.R.s Ausführung deutlich wird: »Das erste, womit du zu tun hast, wenn ein Fremder deine Kommune leitet ist, dass er keine Ahnung von Politik hat und nichts. Er will nur die Macht übernehmen.« Ich lernte J.R. und seine Frau Janet über ihren Neffen kennen, der zu meinen nächsten Kindheitsfreunden gehörte. J.R. war in den 1940er Jahren als verarmter »Okie« mit seiner Familie aus dem Mittleren Westen nach Zentralkalifornien gezogen, um dort in der Ernte zu arbeiten. Seine Familie lebte in Zelten und pflückte zwölf Jahre lang Weintrauben, bevor sich andere Arbeitsmöglichkeiten für sie auftaten. Als ich J.R. traf, war er kurz zuvor aus seiner Tätigkeit als Mechaniker in einem großen Flugunternehmen in Kalifornien in Rente gegangen und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, sich um seinen Garten und seine Oldtimer zu kümmern. Janet war in einer weißen Mittelschichtsfamilie in Fresno, Kalifornien, aufgewachsen. Sie arbeitete als Fachbereichsleiterin in einem der großen Verkehrsbetriebe in der Region. Bei mehreren Treffen boten sie mir Limonade und Obst an, während ich unser Gespräch aufzeichnete. Viele weiße Anwohner·innen im Skagit Valley und in Zentralkalifornien bezeichneten US-amerikanische Latin@s auf abwertende Weise als Mexicans. Janet erzählte mir: »Irgendwann ist Kalifornien zu 75 Prozent mexikanisch.« Die Gegenüberstellung zwischen »mexikanisch« und »amerikanisch« und die Annahme, dass »amerikanisch« nur weiße Menschen umfasste, wurde später im Gespräch deutlich, als Janet sich beschwerte: »Es macht mich verrückt, wenn ich in den Supermarkt gehe und sie das [ethnisierte Kleidung] tragen […] ich denke dann: ›Warum könnt ihr nicht anfangen, euch wie Amerikaner·innen anzuziehen?!‹« Die zugrunde liegende Angst vor kultureller Differenz wurde deutlich als J.R. erklärte: »Damals gehörte es [in Zentralkalifornien] zu unseren Hobbies, Mexikaner zu verprügeln.« Ich fragte: »Einfach so?« Er stellte klar: »Weißt du, du haust ihn um, wenn du ihn auf der Straße erwischst, denn früher oder später würde er das mit dir machen. Schlag einfach einen von ihnen grün und blau. Schnapp ihn dir, wenn er alleine ist und stauch‹ ihn zusammen, Mann, echt gut. Einfach, weil er ein Mex ist.« »Aber weißt du«, fuhr er fort, »er war eine Bedrohung für uns. Er nahm die Landarbeiter-Jobs.« Janet korrigierte ihn, dass weiße Leute schon nicht mehr bereit gewesen waren, auf den kalifornischen Feldern zu pflücken, bevor die Höfe Mexikaner·innen engagieren mussten. J.R. stimmte dem zu und fügte hinzu: »Plus, er war anders als ich.«
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Diese Abneigung gegen kulturelle Differenz wurde im gleichen Gespräch noch deutlicher, als J.R. auf Janets Überlegungen reagierte, wie Spannungen zwischen verschiedenen rassifizierten Gruppen sich möglicherweise lösen ließen. Er entgegnete ihr: »Warum sollte sich das je ändern? Es liegt daran, dass sie nicht hungrig sind. Also wird er Mex bleiben. So ist das einfach. Zu viel freie Sozialleistungen. Machst du ihn hungrig, fügt er sich ein; dann integriert er sich. Doch bis dahin, warum sollte er seinen Namen ändern, weißt du, so von Gonzales zu Smith? Er wird Gonzales bleiben und all die Dinge umsonst bekommen. Das ist das größte Problem, die Sozialhilfe. Er ist eine Last für mich, weil er sich nicht ändern will.« Hier wird für die Differenz – »Mex bleiben« – der vermeintliche Erhalt von Sozialleistungen verantwortlich gemacht: »all die Dinge umsonst bekommen«. In einem getrennten Gespräch formulierte Janet eine ähnliche Haltung: »Wir lassen diese mexikanischen Leute hierher kommen. Wenn sie dann das Gefühl bekommen ›Ach, wir wollen keine Baumwolle pflücken, wir wollen das nicht pflücken‹, dann lassen wir sie an unsere Sozialhilfe.« Also müssen die Menschen, die J.R. und Janet sich vorstellen, eine Vermengung aus Mexikaner·innen und Latin@s mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft sein. Auf diese Weise deuten ihre Worte an, dass US-amerikanische Latin@s in den USA fehl am Platz und nicht amerikanisch seien und dass sie dort nicht hingehörten. In einem anderen Gespräch sagte J.R.: »Die Mexikaner·innen haben Probleme und jetzt haben deine Leute Probleme, weil sie sich nicht verändern wollen. Sie wollen ihre Kultur behalten. Man muss die Leute dazu bringen, sich sofort zu integrieren. Die Leute müssen sich vermischen. Wenn du sie nicht vermischst, wirst du zum Fremden dort, stell dir vor. Du bist anders.« Nicht nur Unterschiede werden als Problem erachtet, sondern sie werden mit »Mex bleiben« gleichgesetzt, wenn die Menschen sich nicht in das »integrieren«, was J.R. unter (dem weißen) Amerika versteht. J.R. reproduziert hier die Annahme der Akkulturation (kulturellen Anpassung) aus der öffentlichen Vorstellungswelt und dem Literaturbestand der Öffentlichen Gesundheit. Dieses Konzept legt nahe, dass kulturelle Differenz schrittweise getilgt werde, wenn Menschen sich von ihrer ethnisierten Kultur in die dominante Kultur hineinbewegen. Linda Hunt und andere erklären problematische Vorannahmen im Modell der Akkulturation im Literaturbestand der Öffentlichen Gesundheit: »Die ethnisierte Kultur wird also als Gegensatz zu den Vorteilen und Fallstricken der Westlichen Kultur verstanden, wobei sich die Person im Akkulturationsprozess weg von der Tradition
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und hin zur Moderne bewegt.«12 Auch Matthew Gutmann kritisiert diese Texte: »Die Diskussion […] beruht regelmäßig auf einem impliziten Standard, unter dem Differenzen mit dem ›Normalen‹ verglichen werden.«13 Jedoch vermeiden sowohl die Literatur der Öffentlichen Gesundheit als auch J.R.s Aussagen eigentümlicherweise jegliche Definition des »Normalen« oder des »Mainstreams«. Guttman erkennt, dass der unmarkierte, angenommene Mainstream, an den sich Immigrierte anpassen sollen, die weiße US-amerikanische Mittelschicht ist. Das Konzept der Akkulturation vermischt also Staatsangehörigkeit, Rassifizierung, Klassenzugehörigkeit und Habitus (einschließlich des Kleidungsstils) und tilgt zugleich die Geschichte und internationale Politik. Die Diasporaforschung bietet als alternatives Konzept die »Hybridisierung«14 und erinnert uns daran, dass die Praktiken von Immigrierten im fortwährenden Kontakt mit anderen Menschen und Orten erhalten und zugleich verändert werden. Eine weitere Alternative bieten meine Triqui-Gefährt·innen, die nicht langfristig in den USA bleiben oder die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erlangen wollen. Stattdessen möchten Samuel und meine anderen TriquiFreund·innen eine legale Erlaubnis erhalten, saisonal in den USA zu arbeiten, während sie mexikanische Staatsbürger·innen bleiben. Sie sehen den gesamten transnationalen Migrationskreislauf zwischen San Miguel, dem Skagit Valley und Zentralkalifornien als ihre räumlich erweiterte Nachbarschaft und Gemeinschaft.15 Zugleich empfinden sie San Miguel als ihre primäre Heimat und wünschen sich, so viel wie möglich mit ihrer Kernfamilie und erweiterten Familie dort am selben Ort zu sein. Jedoch möchten sie legal saisonal in den USA arbeiten, so dass sie und ihre Familien überleben können, ohne die gefährliche Wüste durchqueren zu müssen. Manche meiner Triqui-Freund·innen haben versucht, zum Arbeiten in die mestizische Stadt Tlaxiaco nahe San Miguel zu migrieren, aber die Löhne, die sie dort bekommen können, waren viel geringer. Je weiter sie sich von San Miguel entfernen, desto mehr können sie verdienen. In Oaxaca-Stadt bekommen sie schon ein bisschen mehr, mehr noch in Mexiko-Stadt, wieder mehr in Baja California
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Hunt et al. 2004. Gutmann 1999. Vgl. Gilroy 1989; Hall 1990. Vgl. Rouse 2002. Zu transnationalen US-Mexikanischen Räumen: vgl. de Genova 2005. Zu »long-distance nationalism« (Fernnationalismus, Nationalismus aus der Ferne): vgl. Glick Schiller und Fouron 2001.
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und noch mehr in den USA. Um so viel Zeit wie möglich in ihrem Heimatort leben zu können, müssen meine Triqui-Freund·innen also ironischerweise so weit weg migrieren wie möglich. Die meisten arbeiten auf ein bestimmtes Ziel hin – genug Geld verdienen, um den Bau ihrer Häuser fertigzustellen, um ein Jahr lang Nahrung und die Schuluniformen der Kinder zu kaufen oder den Brautpreis an die Familie der Frau zu bezahlen, die sie heiraten möchten – und wollen schnellstmöglich nach San Miguel zurückkehren, sobald dieses Ziel erreicht ist. Die Erfahrung meiner Triqui-Gefährt·innen betont eine andere tief liegende Ironie in der gegenwärtigen Migration zwischen Mexiko und den USA: Je gefährlicher und teurer die Grenzüberquerung durch das »Schließen der Grenze« – die Militarisierung und den Bau physischer Mauern – gemacht wird, desto länger bleiben Samuel und meine anderen Triqui-Freund·innen in den USA.
Rassifizierung, Position und Ausschluss Lokale Anwohner·innen nehmen die Wanderarbeiter·innen unterschiedlich wahr, je nachdem wo sie selbst gesellschaftlich positioniert und wie nah sie den inneren Funktionsweisen der US-Landwirtschaft sind. Die weißen Anwohner·innen im Skagit Valley und in Zentralkalifornien hielten üblicherweise alle Menschen mit (sichtbaren) lateinamerikanischen Familienhintergründen für »mexikanisch« – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Wer in der Landwirtschaft arbeitete, aber recht weit entfernt von mexikanischen Wanderarbeiter·innen – etwa in der Geschäftsführung oder im Erntemanagement der Tanaka-Farm – konnte schon eher einen Unterschied zwischen USamerikanischen Latin@s (die sie üblicherweise als Hispanics bezeichneten), mestizischen Mexikaner·innen [regular Mexicans oder traditional Mexicans] und indigenen Mexikaner·innen aus dem Bundesstaat Oaxaca [Oaxacans] festmachen. Menschen, die direkt mit mexikanischen Arbeiter·innen arbeiteten – etwa die Chefs der Latin@-Crew auf der Tanaka-Farm –, unterschieden tendenziell zwischen US-Latin@s [Tejanos oder Chicanos], »mestizischen« Mexikaner·innen [Mexicanos], Mixtek·innen und Triqui. Um eine reale Vorstellung davon zu bekommen, wie gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert und das gesellschaftlich bedingte Leid der Wanderarbeiter·innen normalisiert
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wird, müssen wir uns dieser vielschichtigen Landschaft gesellschaftlicher Kategorien gewahr sein.16 An einer der größten öffentlichen Schulen im Skagit Valley haben Dutzende Schüler·innen eine Gang namens WAM gegründet: »Whites Against Mexicans« [Weiße gegen Mexikaner·innen]. Diese Gang hat Wände, Notizbücher und Handys mit dem Schriftzug WAM versehen, Schusswaffen in die Schule mitgebracht, andere Schüler·innen bedroht und Schlägereien provoziert. Die Schulleitung reagierte, indem sie alle nachsitzen ließ oder von der Schule verwies, auf deren Eigentum irgendwo WAM stand. In Reaktion auf WAM etablierte eine andere Gruppe Schüler·innen ein wöchentliches Event namens WAMsketball, um Spannungen zu lösen und positive Beziehungen zwischen den verschiedenen rassifizierten Gruppen zu fördern. Ähnlich wie im Sprachgebrauch der weißen Gesprächspartner·innen in Zentralkalifornien, bezeichnet Mexican in diesen beiden Fällen nicht Menschen mit mexikanischer Staatsangehörigkeit oder Herkunft, sondern Personen, die als anders markiert wurden und auf die hinab gesehen wurde. Eine der Lehrer·innen erklärte: »Es gibt eine Menge Kids an der Schule, die stolz auf ihre mexikanischen Wurzeln sind und das zur Schau stellen. Manche Kids an der Schule denken, dass sie selber schuld sind, weil sie sich entscheiden, nicht wie die weißen Kids zu sein.« Sie gab Beispiele, wie Schüler·innen offen ihren mexikanischen Familienhintergrund zeigten: durch die Art der Jeans, die sie trugen, oder wie sie sich frisierten. Sie fuhr fort, dass nicht nur weiße Schüler·innen zu WAM gehörten, sondern auch Schüler·innen mit samoanischen, russischen (im Skagit Valley als eigene ethnische Gruppe betrachtet), asiatisch-amerikanischen und lateinamerikanischen Familienhintergründen. Diese Praktiken und Wahrnehmungen werfen Licht auf die in diesem USamerikanischen Tal konkurrierenden Verständnisse von Rassifizierung – was es bedeutet, »weiß« oder »mexikanisch« zu sein. Junior, der sich selbst als Latino identifiziert und auch von anderen so gesehen wird, spielt regelmäßig im weißen Team WAMsketball oder ist Schiedsrichter. Er erklärte: »Es ist eine Frage der Haltung. So wie die Mexikaner·innen in der Schule ihre Haltung haben.« Sein weißer Freund John, der anfangs bei WAM aktiv war und sich später WAMsketball angeschlossen hatte, versuchte, Junior Ethnizität zu erklären: »Ich weiß, dass Junior mexikanisch ist, aber nicht wirklich. [Zu Junior gewandt:] Du kannst nicht mexikanisch sein, weil wenn du es bist, dann können weiße Leute an unserer Schule nicht mit dir 16
Vgl. Fox 2005. Zu vielschichtiger Ethnizität und Staatsangehörigkeit: vgl. Fox 2006.
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reden.« Trotz des unmittelbaren Kontextes der Gewalt, die kürzlich von WAM ausging, antwortete Junior: »Mexikaner sind wie Gangster; so sind Mexikaner eben.« Er fuhr fort: »Wenn du sagst, jemand ist Hispanic, dann sagst du, dass du Respekt für die Person hast. Aber wenn du eine Person Mexican nennst, ist das wie zu sagen: ›Du bist ein dreckiger Mexikaner‹.« In Purity and Danger erklärt Mary Douglas, dass Schmutz schlicht Materie sei, die sich am falschen Ort befände: »Schmutz ist im Wesentlichen Unordnung. […] Er existiert im Auge der Betrachter·in. Wenn wir den Schmutz jagen, Dinge in Papier einwickeln, etwas dekorieren oder aufräumen, dann sind wir nicht von der Angst geleitet, krank zu werden, sondern ordnen auf positive Weise unsere Umgebung neu, machen, dass sie unserer Vorstellung entspricht.«17 Sand wird als »sauber« erachtet, wenn er sich am Strand oder im Sandkasten befindet, aber als »dreckig«, wenn er im Haus oder auf den Händen eines Kindes verteilt ist. Ähnlich werden jene, die für mexikanisch gehalten und damit als fehl am Platz erachtet werden, häufig als schmutzig bezeichnet. Anwohner·innen und Lokalzeitungen gebrauchten Metaphern wie »das Aufputzen der Nachbarschaft«, um ein Projekt zu bezeichnen, das praktisch jene, die für Mexikaner·innen gehalten wurden, aus ihrer Gegend vertrieb, indem Arbeitscamps, Abholorte für Tagelöhner·innen oder Wohngebäude geschlossen wurden, wo vornehmlich mexikanische Migrant·innen und US-amerikanische Latin@s lebten. Obwohl J.R. im einen Atemzug beklagte, dass »[Mexikaner·innen] sich besser kleiden als ich«, nannte er sie im nächsten »dreckig« und »schmutzig«. Zum Beispiel beschrieb er ein örtliches Arbeitscamp auf einer Farm in Zentralkalifornien: »Die [Mexikaner·innen] machten also den Farmer für ihre Schmutzigkeit verantwortlich; sie schoben ihm die Schuld zu! Sagten, er führe da draußen ein Sklavenlager mit völlig unzulänglichen Wohnräumen. Keine Rohrleitung; weißt du, nichts von all dem. Die Toilette war vom Rohr abgebrochen; sie war nicht gereinigt oder gefegt worden, seit sie eingezogen waren; überall Bierdosen. Da hing er rum und trank Bier anstatt sein Haus zu putzen. Sauversiffte Mexikaner, weißt du.« Als ich um Klärung bat, gestand J.R. ein, dass er das Camp nicht selbst gesehen, sondern durch einen der lokalen Nachrichtenkanäle davon gehört hatte. Er fuhr fort und stellte seine Kindheit als immigrierter »Okie« in Kalifornien den Mexikaner·innen gegenüber:
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Vgl. Douglas 1966, S. 2.
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Als wir in Zelten lebten, war der Boden genauso sauber wie dieser [zeigt auf seinen makellosen Küchenboden aus weißen Kacheln] und die Kinder auch. Meine Mutter sagte immer: »Seife ist billig.« Und es gab keine Kakerlaken bei uns zu Hause. Nein, weil wir alles sauber hielten. Aber diese Wetbacks [abwertende Bezeichnung für durch illegal eingewanderte Mexikaner·innen, die den Rio Grande durchquert haben] – so nenne ich sie weiterhin; heute heißen sie »Migrant·innen« – sie kommen in eine schöne Siedlung und zerfetzen sie betrunken, saufend, und dann wollen sie eine neue. Es gibt da jetzt einen Ort namens Dos Palos. Sie hatten eine schöne Situation dort, weißt du, Arbeitscamps. Es war ein alter Flughafen, ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg. Da haben sie einen Bulldozer drüber gejagt, weil die Mexikaner·innen sich beklagt haben, es sei schmutzig dort. Das war es; es war schmutzig. Aber das waren sie. Überall waren Fast-Food-Verpackungen zu sehen, Becher. Sie hielten am alten Taco Bell und sonst wo und kauften ihr Essen und aßen und tranken und tranken Cervezas [Bier], mucho cervezas [viele Biere], oh, immer her damit! J.R. gestand wieder ein, dass seine Beschreibung dieses Arbeitscamps aus einem lokalen Fernsehsender kam. Eine andere Anwohnerin, die ich bei meinen Vorbereitungsaufenthalten in Zentralkalifornien getroffen hatte und die sich selbst als »halb Latina und halb Native American« identifizierte, beklagte sich bei mir: »Diese Mexikaner·innen sind schmutzig. Sie sind schmutzig und egoistisch. Sie übernehmen hier wie die Kakerlaken!« Als Beispiel erzählte sie mir dann, wie mexikanische Migrant·innen im nahen Fluss badeten und Müll am Ufer hinterließen. Wenn ich jetzt an ihre Beschwerde denke, erinnere ich mich wieder an die Woche, in der ich in öffentlichen Parks aß und mich wusch, während wir wohnungslos in Autos schliefen und darauf warteten, eine heruntergekommene Wohnung in Madera zu finden, die an Leute ohne Kreditgeschichte vermietet werden würde. Wie George Orwell in Der Weg nach Wigan Pier herausstellt, führen ihre alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen dazu, dass »die unteren Klassen stinken«.18 In einem materiellen Sinne ist das Pflücken von Erdbeeren eine schmutzigere Arbeit als die Schreibtischarbeit in einem Bürogebäude. Die Baracken der Arbeitscamps auf der Tanaka Brothers Farm in Washington waren von Schotterpisten umgeben, die abwechselnd bei Regen in tiefem Matsch versanken und in feinem Staub aufgingen, sobald die Sonne schien. Es war extrem schwierig, dort irgendetwas sauber zu halten. Ich wischte
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Vgl. Orwell 1982, S. 125.
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täglich meine Hütte sauber, da der Raum schnell wieder von hellbraunem Staub bedeckt war. Während US-Latin@s und mestizische Mexikaner·innen symbolisch von der Kategorie »amerikanisch« ausgeschlossen werden, praktizieren einige von ihnen wiederum eine weitere linguistische Kategorie, die indigene Mexikaner·innen ausschließt. Wenn sie die Worte Mexican oder Mexicano gebrauchten, bezeichneten sie nur mestizische Mexikaner·innen. Trotz ihrer mexikanischen Staatsangehörigkeit werden mixtekische und Triqui-Mexikaner·innen einfach als Oaxacan, Oaxaqueño oder noch abwertender als Oaxaco oder Indio bezeichnet. Manchmal sprachen US-Latin@s von mestizischen Mexikaner·innen als regular Mexicans [ordentliche, normale Mexikaner·innen] und unterschieden sie so von indigenen Mexikaner·innen, die gewissermaßen als Gegensatz dazu – als irregular [ordnungswidrig, irregulär] verstanden wurden. Interessanterweise beschrieben mehrere US-Latin@-Crew-Chef·innen auf der Tanaka-Farm nur mixtekische und Triqui, nicht aber mestizische Mexikaner·innen, als »schmutzig«. Samantha, die zweisprachige weiße Rezeptionistin auf der Farm beschrieb Leute aus Oaxaca als »schmutziger als normale Mexikaner·innen«. Diese symbolische Dichotomie ist einer der vielen Faktoren, die es weißen US-Bürger·innen, Latin@-US-Bürger·innen und mestizischen Mexikaner·innen ermöglichen, gleichgültig gegenüber dem Leiden jener zu werden, die als Andere unterschieden und als fehl am Platz erachtet werden. Mary Weismantel argumentiert, dass Kategorien der Rassifizierung ohne Rassismus unnötig sind.19 Anders gesagt werden rassifizierte Kategorien nur im Kontext von Ausschlüssen gebraucht. Sie argumentiert gegen die Polarisierung zwischen gänzlich biologistischen Vorstellungen von Rasse auf der einen und immateriellen, konstruktivistischen Kritiken auf der anderen Seite. Weismantel und Stephen Eisenman stellen fest, dass gegenwärtige biologistische Konzepte von Rasse den Körper tilgen: »Die Wissenschaft der Genetik missachtet die natürliche Entwicklung des menschlichen Körpers nach der Empfängnis: seine täglichen Interaktionen mit der Welt und anderen Organismen sind ein bloßer Nachgedanke, unwichtig angesichts des biologischen Schicksals, das vom genetischen Code vorbestimmt ist, und somit unbedeutend und unsichtbar.«20 Zugleich argumentieren sie gegen einen »Antiessenzialismus, [der] leicht in Antimaterialismus übergeht.«21 Auf der Grundlage 19 20 21
Vgl. Weismantel 2001, S. 34. Weismantel und Eisenman 1998, S. 134. Ebd.
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von Feldforschung in den Anden beschreiben Weismantel und Eisenman indigene Konzepte, in denen »Rassifizierung sich im Körper sammelt, in seinen Extremitäten und Öffnungen, seinen Organen und Impulsen, als Ergebnis eines Lebens, das in einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt geführt wurde.«22 Mit diesem Verständnis kann sich die Rassifizierung einer Person mit der Zeit verändern, so wie sich die Körperform und der Geruch als Ergebnis der alltäglichen körperlichen Praktiken verändern. Als Beispiel beschreiben die Autor·innen, wie in Ecuador Geruch damit zusammenhängt, was es bedeutet, indigen oder weiß (einschließlich mestizisch) zu sein. Indigene Menschen werden hier nicht einfach anhand ihrer Augen- oder Hautfarbe identifiziert, sondern anhand der »schmutzigen« Gerüche, die auf ihre Armut und ihr gemeinsames Leben mit Tieren in der Subsistenzlandwirtschaft hindeuten. Im Gegensatz dazu umfasst Weißsein den Kauf und Gebrauch importierter Produkte, die Körper hervorbringen, die riechen und aussehen, als hätten sie keinerlei Interaktionen mit anderen Lebewesen. Sie erklären, dass Weißsein eine »Reihe wirtschaftlicher und politischer Privilegien ist, die von Generation zu Generation weitergegeben werden«23 und dann das Aussehen, die Form und den Geruch des Körpers beeinflussen. Dieses verkörperte und sozial bedingte Verständnis von Rassifizierung lässt sich gut auf den Kontext der Migration zwischen Mexiko und den USA anwenden. Hier werden Menschen in verschiedenen rassifizierten Kategorien wahrgenommen, je nach gesellschaftlicher Verortung der wahrnehmenden Person: Menschen wird aufgrund ihrer Kleidung oder Frisur vorgeworfen, ihr Mexikanischsein »zur Schau zu stellen«; die Gewalt weißer Gangs wird getilgt, indem ein »mexikanischer« Kleidungsstil als »Gangstersein« übersetzt wird; verarmte und nicht weiße Menschen werden in Kontexten als »schmutzig« erachtet, in denen sie als fehl am Platz gelten oder ausgeschlossen werden.
Für das eigene Leiden verantwortlich gemacht Auf jeder Ebene der nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit geordneten Hierarchie auf der Tanaka-Farm glaubt die jeweilige Gruppe, dass die Menschen, die ihnen untergeordnet sind, ihre missliche Lage verdient hätten. 22 23
Ebd., S. 133. Ebd., S. 136.
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Weiße Anwohner·innen im Skagit Valley und in Zentralkalifornien sagten mir regelmäßig, dass Mexikaner·innen nicht gebildet seien, weil sie »faul« wären. Mehrere weiße Bewohner·innen erklärten mir, dass Mexicans schlechte Arbeit hätten, weil sie »nicht versuchen, Englisch zu lernen.« Bei einem unserer Gespräche auf der Tanaka-Farm behauptete Samantha, dass die Wanderarbeiter·innen »keine Bankkonten [hätten], weil sie nicht wissen, wie das geht; sie sind wie Kinder.« In Zentralkalifornien sagte Janet zu mir: »Ich werde ein bisschen sauer über die Mexicans, denn es scheint so, als ob sie nicht mal versuchen, Englisch zu lernen, weißt du; und sie sind in unserem Land, warum lernen sie es nicht?« Später im selben Interview erklärte Janet: Am Morgen stehe ich auf, mache mich fertig für die Arbeit und schalte den Fernseher ein, um die Nachrichten zu sehen. Da kannst du lernen, Englisch zu sprechen. Es kommt sowas wie »Nummer eins« und sie halten die Zahl eins hoch. Jeden Tag ist etwas anderes dran, so »thank you«, »thank you«. Das wiederholen sie und dann halten sie das geschriebene Wort hoch und zeigen es dir. Es gibt Sachen im Fernsehen und wenn Leute es wirklich wollten – ich weiß, sie sind draußen auf dem Feld, aber trotzdem – Ich glaube, wenn sie es wollten, könnten sie etwas lernen, um es zu etwas zu bringen. Janet erkennt an, dass mexikanische Landarbeiter·innen auf den Feldern arbeiten und die von ihr beschriebene Fernsehsendung nicht ansehen können, aber sie lässt andere Aspekte außen vor, die im gesellschaftlichen und materiellen Zusammenhang des Englischlernens relevant sind. Alle meine TriquiGefährt·innen sagten mir, dass sie Englisch lernen wollen, und mehrere versuchten es auch während meiner Feldforschung. Abelino wollte den abendlichen Englischkurs auf der Tanaka-Farm besuchen, wurde aber mit der Begründung abgewiesen, der Kurs sei nicht offen für Leute, die in den Arbeitscamps lebten. Dann schrieb er sich für einen Englisch-als-Zweitsprache-Kurs am örtlichen Community College ein. Er schloss ein Semester ab und musste dann aufhören, weil der nächste Kurs früher am Abend stattfand, wenn er noch seine Arbeit verrichtete oder seine Familie in die lokale Kirche brachte, die zu jener Zeit kostenloses Essen anbot. Im Einklang mit dem üblichen Mythos von einer klassenlosen, individualistischen Gesellschaft behauptete J.R. im Interview Folgendes: »Du kannst in diesem Land alles tun, was du willst. Alle können alles werden, was sie wollen. Es gibt in diesem Land keine Ausrede. Es gibt keine Hindernisse. Nichts hält dich zurück, außer du selbst. Du kannst niemanden, außer dir, selbst dafür verantwortlich machen, wenn du nicht das Beste erreichst, was du kannst.«
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Dieses Erzählbild, das an Horatio Algers Mythos vom armen jungen Mann anknüpft, der allein aufgrund seiner harten Arbeit Erfolg hat, ignoriert und tilgt die Hierarchie nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit, die (besonders) die materiellen Leben all jener prägt, die in der US-amerikanischen Landwirtschaft arbeiten. Auf ähnlich kontextlose Weise machen viele weiße USAmerikaner·innen den Staat Mexiko oder »mexikanische politische Korruption« für die Armut im ländlichen Mexiko verantwortlich, die Menschen dazu zwingt, zum Überleben zu migrieren. Doch dieses Narrativ ignoriert die Macht der wirtschaftlichen Interessen der USA, die NAFTA hervorgebracht haben. Indem sie Mexiko daran hindern, indigene kleinbäuerliche Maiserzeuger·innen zu schützen, während die Maisproduktion großer Agrarunternehmen in den USA staatlich subventioniert wird, haben die USA mit ihrer Politik wirksam diese Armut hergestellt. In Mexiko machten mestizische Mexikaner·innen häufig die Triqui für ihr eigenes Leid verantwortlich. Luz María, eine der mestizischen Nonnen in San Miguel, äußerte ihre Vorstellung, warum die Triqui arm sind: Sie sind nicht dazu in der Lage, sich Arbeitsquellen zu schaffen. Viele wissen nicht, wie das Leben geht. Das betrifft alles: die Hygiene und Reinigung des Hauses und die Zubereitung von Mahlzeiten, das Halten von Tieren und das Wirtschaften. Jemand könnte eine tortillería [Tortillafabrik] gründen, die einige Stunden am Tag geöffnet ist und den Leuten ihren Mais abkauft; oder es könnte eine Apotheke geben, so dass die Leute nicht nach Tlaxiaco müssen; oder ein großes Lebensmittelgeschäft – wobei das schwierig wäre, weil du jemanden dafür bezahlen müsstest, aufzupassen, dass deine Einnahmen nicht weggeklaut werden. Sie arbeiten nicht sehr hart und sie wissen nicht, wie man hart arbeitet. Ganz im Gegenteil sah ich während meiner Feldforschung, wie mehrere kleine Geschäfte in San Miguel trotz der wirtschaftlichen Depression des Ortes um ihr Überleben kämpften. Auch als Luz María sagte, dass Triqui »nicht hart arbeiten [würden]«, fragte ich mich, wie das gebückte Pflücken an sieben Tagen die Woche nicht als harte Arbeit gelten konnte. Als ich Luz María fragte, was Triqui von mestizischen Mexikaner·innen unterschied, sagte sie einfach: »Sie sind gewalttätig.« An anderer Stelle gab die Nonne zu, dass Triqui Waffen trugen, »weil sie über Generationen von Orten vertrieben wurden und sich verteidigen« müssen. Wie viele der indigenen Orte in Oaxaca hatte San Miguel mehrere aufeinanderfolgende Kämpfe um Landeigentum mit vielen Todesopfern gegen nahegelegene, sich ausbreitende größere Ortschaften geführt. Luz María erzählte mir auf Spanisch: »Die Landkonflikte drehen sich
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bloß um einen Meter oder zwei. Wahrscheinlich [a lo mejor] wollten diese Triqui die Grenzlinie einen weiteren Meter dort drüben und die Mixteken aus Santa Marta wollten einen weiteren Meter in diese Richtung.« Sie bagatellisierte die Ursachen der Gewalt und stützte so implizit ihre Behauptung, dass Triqui inhärent gewaltvoll seien und die Gewalt unnötigerweise selbst veranlassten. Juana, eine der Pflegekräfte in San Miguel, warnte mich auf ähnliche Weise vor der Gewalt der Triqui und sagte mir, dass ich es mir gut überlegen sollte, bevor ich irgendwem auf irgendeine Weise weiterhalf. »Wollen« ist eine übliche Metapher, durch die Wanderarbeiter·innen für ihre Lage selbst verantwortlich gemacht werden. Zum Beispiel sagte mir John Tanaka, Vorsitzender der Tanaka Brothers Farm, dass die Pflücker·innen »keine Mittagspause machen werden. Sie werden es einfach nicht tun. Sie wollen keine Mittagspause.« Im darauffolgenden Sommer sagte mir Scott, der Apfelerntemanager, beinahe genau dasselbe und behauptete, dass Pflücker·innen den ganzen Tag ohne Mittagspause arbeiten wollten. Als die Pflücker·innen sich über die verwirrende Lohntabelle beschwerten, flüsterte mir John Tanaka zu: »Sie wollen es nicht verstehen.« Zusätzlich werden mexikanische Wanderarbeiter·innen regelmäßig für das Leid jener verantwortlich gemacht, die als amerikanisch erachtet werden. J.R. betrachtete sie als »Last« für ihn selbst, »weil [sie] sich nicht ändern werden« und weil er glaubt, sie bezögen Sozialleistungen. Als ich einen Nachbarn des Arbeitscamps im Skagit Valley fragte, was er über seine wanderarbeitenden Nachbarn dachte, antwortete Phil: »Wegen ihnen habe ich meine Arbeit verloren!« Er erklärte, dass er mehr als zehn Jahre lang für einen örtlichen weißen Bauern gearbeitet hatte, aber dann ersetzt worden sei, weil dieser Bauer für sein Einkommen zwei Wanderarbeiter einstellen konnte. Seine Mutter erinnerte ihn daran, dass er den Job gehasst hatte, und Phil stimmte zu. Er war ein LKW-Fahrer gewesen, der die Kartoffeln von einem örtlichen Hof in mehrere Bundesstaaten im Westen der USA ausgeliefert hatte. Jetzt arbeitet er in der örtlichen Feuerwache und wird als Feuerwehrmann ausgebildet. Interessanterweise gab er die Schuld den mexikanischen Migrant·innen; entschuldigte den Bauern, der ja tatsächlich die Personalentscheidungen traf; und schwieg über den Druck des internationalen Marktes. Bezüglich des Bauern sagte Phil einfach: »Ich verstehe, wo er herkommt; er will effizient seine Farm betreiben.«
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Normalisierung Viele weiße Bewohner·innen des Skagit Valley und Zentralkaliforniens sehen das Leiden der Wanderarbeiter·innen als normal an, jedoch aus verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Gründen. Erstens – und vielleicht am wichtigsten – gewöhnen sich die Leute einfach daran, die Bedingungen zu sehen, unter denen die Menschen auf den Farmen leben und arbeiten. Obwohl die Camps vor den Blicken der meisten Bewohner·innen des Skagit Valley verborgen sind, laufen und fahren die näheren Anwohner·innen täglich an den Camps vorbei. Mehrere erzählten mir, dass die Bedingungen der Camps sie verstörte, als sie in die Gegend zogen, dass sie sich aber an sie gewöhnt hätten und jetzt ohne weitere Gedanken an ihnen vorbeifuhren. Zweitens rechtfertigen viele Leute die Lebensbedingungen der Wanderarbeiter·innen durch ihre eigene Mutmaßung darüber, was für diese normal sei. John Tanaka wiederholte, was mir viele Menschen erzählt hatten; dass die Camps annehmbar seien, weil sie viel besser seien, als die Unterkünfte, die die Pflücker·innen in Mexiko bewohnten. Keine der Personen, die dies behauptete, hatte die Heimatorte der Pflücker·innen besucht oder sie nach ihrem Wohnraum in Mexiko gefragt. Nichtsdestotrotz setzt diese Rechtfertigung voraus, dass die ursprüngliche ökonomische Ungleichheit akzeptabel sei, die die Triqui schon in Oaxaca ärmlich wohnen lässt. Ironischerweise rechtfertigten mehrere Leute im Skagit Valley die Lebensbedingungen der immigrierten Landarbeiter·innen mit der gegenteiligen Mutmaßung, dass die Pflücker·innen in Mexiko in viel besseren Häusern lebten als in den Camps. Der Besitzer des nächstgelegenen Lebensmittelgeschäfts, wo viele Pflücker·innen zum Einkaufen zu Fuß hinliefen, sagte mir, dass die Camps in Ordnung seien, denn: »Sie haben alle Pools und große Häuser in Mexiko und Kalifornien und sind hier nur für den Sommer.« Ein Nachbar des Camps, in dem ich im Skagit Valley lebte, argumentierte: »Naja, sie haben alle Autos, also brauchen sie nichts.« Ein paar Leute im Skagit Valley erörterten ihre Überzeugung von ökonomischer Mobilität und »ethnisierte« Nachfolge. John Tanaka erwähnte im Verlauf meiner Feldforschung mehrfach, dass »jede einzelne Gruppe nach drei Generationen die Landwirtschaft verlässt.« Er berief sich mit dieser Behauptung auf sein Selbstverständnis, dass japanische Amerikaner·innen sich seit ihrer Erstankunft auf der ökonomischen Leiter in den USA »hochgearbeitet« hätten. Auch einige andere Leute sagten mir, dass sie hofften, die Pflücker·innen würden sich innerhalb der Gesellschaft »hocharbeiten«. Diese Aussagen
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erkennen an, dass die Pflückarbeit auf einer Farm eine nicht wünschenswerte und schwierige Tätigkeit ist, rechtfertigen zugleich aber subtil die damit zusammenhängenden Arbeitsbedingungen als zeitweilige Etappe – gemäß des US-amerikanischen Erfolgsmythos’ »vom Tellerwäscher zum Millionär«.24 Schließlich trägt die Segregation auf der Farm auf mehrfache Weise zur Normalisierung bei. Shelly, die Aufseherin der Prüfer·innen, die weiße Jugendliche tadelte, wenn sie mit mexikanischen Pflücker·innen interagierten, erklärte mir diesbezüglich, dass die weißen Jugendlichen die Pflücker·innen nicht kennenlernen sollten, weil sie dann beim Wiegen der Beeren voreingenommen sein würden. Diese aktive Segregation führte gewiss und unter anderem zu alltäglicher Gewalt, in der die mexikanischen Pflücker·innen entmenschlicht wurden. Wenn Pflücker·innen ihre Beeren zum Wiegen brachten, setzten die weißen Jugendlichen häufig ihre Unterhaltung fort, ohne auch nur ein Zeichen zu geben, dass sie deren Ankunft zur Kenntnis genommen hatten. Sie erzählten weiter ihre Geschichten und Witze, während sie die Beeren wogen und die Karten der Pflücker·innen markierten, als ob die Pflücker·innen überhaupt nicht da wären. Während Shelly mir sagte, dass die jugendlichen Prüfer·innen auf der Farm den »Wert der Gemeinschaft« lernen sollten, förderte diese Situation auch deren Gefühl, dass rassistische Arbeitshierarchien normal und annehmbar wären.
Naturalisierung Als ich eine »mestizisch-mexikanische« Sozialarbeiterin fragte, warum Triqui ausschließlich Beerenpflückjobs haben, sagte sie: »Die Leute aus Oaxaca arbeiten gerne gebückt [A los Oaxaqueños les gusta trabajar agachados].« Dann erklärte sie, dass mestizische Mexikaner·innen, die sie Mexicanos nannte, zu große Schmerzen bekämen, wenn sie auf den Feldern arbeiteten. Auf die gleiche Frage antwortete Mateo, der einzige mixtekische Crew-Chef, die Triqui [seien] »zähe Rohlinge, die zum Arbeiten gemacht sind [bruto para trabajar].« Er sagte, dass bei seiner ersten Ankunft auf der Tanaka-Farm vor zehn Jahren alle Pflücker·innen »Mestiz·innen« aus Nordmexiko gewesen seien. Die Mixtek·innen, die dann zu der Farm migrierten, pflückten schneller und mit der Zeit kamen keine mestizischen Mexikaner·innen mehr. Jetzt, sagte mir
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Vgl. auch MacLeod 1993.
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Mateo, seien die Triqui die schnellen, »rohen« Pflücker·innen und immer weniger Mixtek·innen kämen zum Pflücken auf die Farm. Später fragte ich Scott, den Manager der Apfelernte, warum ich kaum Triqui bei der Apfelernte sehen konnte – der Vertragstätigkeit auf dem Feld mit der höchsten Bezahlung. Er erklärte: »Die O’xacans sind zu klein, um an die Äpfel ranzukommen, sie sind zu langsam. Sie müssen viel häufiger Leitern benutzen als einige der anderen. Die anderen Pflücker·innen nutzen die Leitern nur, um den obersten Teil des Baums abzuernten, während die O’xacans das schon ab der Hälfte tun müssen, weißt du. Und außerdem mögen sie sowieso keine Leitern.« Ironischerweise erzählte mir später in jener Woche eine von Scotts Crew-Chef·innen, dass der schnellste Pflücker in ihrer Crew ein Triqui wäre. Scott setzte die obige Unterhaltung fort, indem er erklärte, dass Leute aus Oaxaca perfekt seien, um Beeren zu pflücken, »weil sie dem Boden näher sind«. Als Antwort auf meine Fragen, warum die Triqui andere Jobs als die mestizischen Mexikaner·innen bekämen, erklärten mehrere Leute einfach: »Sie sind klein.« Die Haltung, dass (bestimmte) Mexikaner·innen Beeren pflücken sollten, erinnert an die Aussage des US-Senators George Murphy in Kalifornien, der während einer Senatsdebatte über Einwanderung in den 1960er Jahren verkündete, dass Mexikaner·innen Landarbeit machen sollten, weil sie »tiefer am Boden gebaut sind, so dass es ihnen leichter fällt, sich zu bücken.«25 Wahrnehmungen von körperlicher Differenz entlang ethnisiert-rassifizierter Grenzziehungen werden hier zur Linse der angewandten symbolischen Gewalt: Demnach verdiene jede Kategorie von Körpern ihre verhältnismäßig gesellschaftliche Position. Indigenen Körpern aus Oaxaca werden »natürliche Eigenschaften« zugeschrieben und der Beerenpflückjob anstelle anderer Tätigkeiten damit verknüpft. Anders ethnisierte Menschen haben dieser Wahrnehmung zufolge Körper, die nicht gut zum Pflücken passten und daher in andere Arbeitskategorien gehörten. Als ich Scott zu den möglichen negativen Gesundheitsauswirkungen von Pestiziden befragte, antwortete er: »Die Gesetzeslage ist so eng, dass auf gar keinen Fall jemand von Pestiziden krank werden kann. Ich meine, das ist so streng. Es gibt ein paar Leute da draußen, die viel empfindlicher sind und das zeigt sich ab und zu. Wir haben da nichts falsch gemacht, auch kein Nachbar hat irgendwas falsch
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Thompson 1999.
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gemacht, sie sind einfach nur empfindlicher dafür, und solche Leute gibt es immer. Ich arbeite seit 20, 25 Jahren mit Pestiziden. Die Gesetze sind heute viel strenger und die Pestizide viel harmloser. Die kannst du am gleichen Tag versprühen, wie du das Obst isst! Die chemische Zusammensetzung hat sich geändert und wirklich verbessert. Manches davon kannst du sehen: Pestizidrückstände. Manches, was Leute für solche Rückstände halten, ist aber eigentlich Schmutz, Staub.« Hier werden nicht nur ethnisierte körperliche Unterschiede, sondern auch individuelle körperliche Unterschiede angeführt, um die Schuld von der Farm abzuwenden, die dafür verantwortlich ist, dass Menschen Pestiziden und deren gesundheitlichen Folgen ausgesetzt sind.26
Internalisierung Während symbolische Gewalt auf die oben genannten Weisen von außen angewendet wird, umfasst das Konzept auch eine gewisse Verinnerlichung und subtile Komplizenschaft der Unterdrückten. Menschen nehmen nicht nur andere Menschen in deren gesellschaftlich bestimmten und zugehörigen Positionen wahr, sondern auch sich selbst. An meinem zweiten Tag beim Erdbeerpflücken fuhr ein Traktor mit langen Metallverlängerungen durch das Feld und versprühte etwas, während wir pflückten. Ich fragte Mateo, was das wäre. »Willst du das wirklich wissen? Willst du wirklich die Wahrheit?« fragte er mich. Ich nickte. »Gefährliche Insektizide«, sagte er und schüttelte den Kopf. Später im Sommer bemerkte ich mehrere große Kanister mit Warnschildern (ausschließlich auf Englisch) nahe einer der Außentoiletten und Waschbecken am Feld. Die Erdbeerpflücker·innen arbeiteten täglich ohne Handschuhe, wobei sich der sichtbare Pestizidrückstand in dem Erdbeersaft auflöste und vermischte, der ihre Hände dunkelrot färbte. Wenn sie irgendetwas aßen, aßen sie auf dem Feld beim Pflücken, ohne sich vorher die Hände zu waschen, um keine Arbeitszeit zu verlieren und das Mindestgewicht erreichen zu können. Unsere einzige Information über Pestizide kam von einer kurzen Warnkassette in monotonem Spanisch, die bei einer Orientierungsveranstaltung für Pflücker·innen, unhörbar in der Ecke einer riesigen Lagerhalle abgespielt wurde, in der sich
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Zur Individualisierung von Risiko und Verantwortung: vgl. Beck 2009.
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mehr als hundert Arbeiter·innen und ihre Kinder aufhielten. Nach der Aufnahme fragte der Hofverwalter, der die Orientierungsveranstaltung leitete, ob wir irgendwelche Fragen hätten. Nach einer kurzen Stille war er zufrieden und fuhr fort zu erklären, wo wir die Formulare unterzeichnen sollten, die wir erhalten hatten und die es nur auf Englisch gab. In einem der Formulare stand auch, dass wir zustimmten, uns nicht zu organisieren.
Abb. 15: Gefahr: Pestizidaufbewahrung.
Foto von Seth M. Holmes.
In derselben Woche, in der die Pestizide versprüht wurden, erhielt ich ein Video über die Gesundheitsgefährdung durch Pestizide, das ich von den United Farm Workers bestellt hatte. In der Hütte von Samuels Familie schauten es mehrere Pflücker·innen mit mir an. Danach fragte ich sie, was sie dachten. Einer sagte mir ganz sachlich: »Pestizide schaden nur weißen Amerikaner·innen [gabachos], weil Eure Körper fein und schwach sind.« Ein anderer sagte: »Wir Triqui sind stark, wir vertragen viel [aguantamos].« Die anderen nickten. Solche Vorstellungen wurden im Verlauf meiner Feldforschung wiederholt zum Ausdruck gebracht. Ein Triqui, mit dem ich nach Oaxaca reiste, prahlte mir gegenüber, dass es viele Triqui im mexikanischen Militär gebe, weil »wir was vertragen [aguantamos].« Diese Triqui haben selbst ihre Klassenposition verinnerlicht – durch einen ethnisierten Stolz, der auf wahrgenommenen körperlichen Unterschieden beruht und dazu beiträgt, eben jene
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Strukturen ihrer Unterdrückung zu naturalisieren und damit zu reproduzieren.
Körperhaltung bei der Arbeit Zudem unterstellen die Wahrnehmungen von Körperhaltungen auf der Farm eine Hierarchie des Menschseins. Die Interpretationen von Strauss, ScheperHughes und Brandes zu Klassenzugehörigkeit und Körperpositionen erweisen sich als nützlich.27 Die doppelte Bedeutung des Wortes »Position« – sowohl als Posten der Anstellung als auch als Haltung des Körpers – deutet auf ein Phänomen hin. Tätigkeiten, die sitzend am Schreibtisch geleistet werden, sind symbolisch mit dem Kopf verknüpft, so dass sie in einer Gesellschaft, die den Körper dem Geist unterwirft, höher angesehen werden. Tätigkeiten, die im Stehen oder Gehen geleistet werden, werden stärker mit dem Körper verknüpft, als weniger intellektuell gesehen und somit weniger wertgeschätzt. Zugleich werden diese stehenden Körper als Menschen von solidem Stand angesehen. Dieser Grundrespekt zeigt sich in Formulierungen wie »aufrechter Bürger«, »aufrichtiger Charakter« und »für sich selbst einstehen«. Die Tätigkeiten ganz unten in der Hierarchie sind schließlich jene, die von Körpern erfordern, sich in den Schmutz zu hocken und zu den Pflanzen zu bücken – ihnen wird am wenigsten Respekt gezollt. Wie Tiere werden diese Arbeiter·innen »auf allen Vieren« gesehen. Diese allgemeine Analyse lässt sich gut auf das Skagit Valley anwenden, wo jene mit der meisten Macht und dem meisten Ansehen Schreibtischarbeit leisten, während die Aufseher·innen auf der mittleren Ebene stehen und gehen und die am niedrigsten eingeordneten Arbeiter·innen – den ganzen Tag lang in gebückter Haltung – als perros und burros beschimpft werden. Mateo, die einzige indigene Person aus Oaxaca, die zum Aufseher aufgestiegen ist, erklärte mir, dass er hoffe, weiter Englisch zu lernen und befördert zu werden, bis er »mit dem Kopf arbeiten kann statt mit dem Körper.« Er erklärte die Überlegenheit der Schreibtischtätigkeiten gegenüber der körperlichen Arbeit folgendermaßen: »Der Körper wird nicht immer gehen [no siempre va adar]
27
Strauss‹ (1966) Analyse ist zwar hilfreich, aber durch ihre angenommene Universalität beschränkt. Scheper-Hughes (1992) und Brandes (1980) hingegen bieten kontextualisiertere Analysen von Positionen von Körpern und der Zuschreibung von Menschlichkeit.
6. - Die Naturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid
und ich denke, ich werde müde werden [cansar]. Auch dein Geist kann nach Jahren ermüden, aber nicht wie der Körper, nicht so sehr, dass du zu krank wirst [no tanto para darte una enfermedad].« Während eines Streiks in meinem zweiten Sommer auf der Farm beklagten die Pflücker·innen, dass sie sich als minderwertig, als »niedriger [lower]«, behandelt fühlten, weil sie pflückten. Scott verwarf diese Beschwerde und erklärte mir: »Ich hatte fast das Gefühl, dass sie glaubten, sie seien niedriger gestellt, nur weil sie Pflücker·innen sind, was für mich aber einer der wichtigsten Jobs auf der Farm ist.« Während die Arbeit der Pflücker·innen besonders wichtig für die Ernte ist, zeigt meine ethnografische Forschung, dass dieser Rolle zu wenig Respekt oder Ansehen entgegengebracht wird.
Abb. 16: Ein·e Prüfer·in steht über knienden Pflücker·innen im Erdbeerfeld.
Foto von Seth M. Holmes.
Im Verlauf meiner Feldforschung auf der Farm wurden Beerenpflücker·innen bei mehreren Gelegenheiten als »Untermenschen« behandelt. Während eines Nordweststurms warteten mehrere Triqui-Frauen außerhalb des Bürogebäudes darauf, eine Rückfrage zu ihrem Lohnscheck zu stellen. Sie standen dicht beieinander im Matsch unter dem Überhang des Dachs. Als Shelly ankam, sagte sie auf Englisch: »Was steht ihr da in meinen Blumen? Weg da! Raus da!« und wedelte mit ihren Händen als wolle sie eine unerwünschte Hundemeute vertreiben.
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Im Wesentlichen wird der migrantische Körper auf eine Weise konstruiert, die ihm schadet. Besonders wegen der Wahrnehmungen von »ethnisierter« Differenz und Körperpositionen bei der Arbeit, wird dem migrantischen Körper zugeschrieben, in seine Position in eben jener landwirtschaftlichen Arbeitshierarchie zu gehören, die dann zu seiner Zerstörung führt. Diese Mechanismen, die Ungleichheit unsichtbar machen, werden verinnerlicht und in Formen des Triqui-Stolzes verstärkt. Die strukturelle Gewalt, die der segregierten Arbeit auf der Farm innewohnt, wird so wirksam getilgt, gerade weil ihr Verschwinden auf der Ebene des Körpers stattfindet – so wird sie als natürlich verstanden.
Widerstand und Verweigerung Obwohl die Normalisierung und Naturalisierung dieser gesellschaftlichen Hierarchien und gesundheitlichen Ungleichheiten mächtig sind, haben sie Lücken. Sehr selten konnte ich einen flüchtigen Eindruck von Räumen bekommen, in denen Menschen ihre eigene soziale Verortung nicht gänzlich annahmen, sondern aufschlussreiche Kritiken äußerten. Die Bank, über die die Tanaka-Farm die Pflücker·innen bezahlte, hatte die Regel, dass Beerenpflücker·innen an Zahltagen in einer getrennten Schlange vor der Bank warten mussten, während alle anderen Kund·innen zuerst bedient wurden. Jeden Freitag gab es eine lange, über den Parkplatz erstreckte Schlange mexikanischer Wanderarbeiter·innen, die mehrere Stunden lang warteten und dabei zusahen, wie jegliche weiße Kundschaft, die durch die Tür kam, nach vorne in die Schlange geleitet wurde. Obwohl ich von der Farm wöchentlich als Beerenpflücker bezahlt wurde, versuchte das Bankpersonal mehrfach, mich nach vorne in die Schlange zu holen, als ich am Zahltag mit meinen Triqui-Gefährt·innen dort ankam. Während diese Praxis weißen Menschen und Triqui die im Tal übliche Hierarchie vermittelte, erzählten mir einige der weißen Bewohner·innen, dass das nicht gerecht wäre und mindestens einer von ihnen die Bank dazu auffordert habe, ihre Regelung zu ändern. Auf geringere Weise sah ich dieses Bewusstsein über die Ungleichheit auch, wenn Nachbar·innen des Camps zugaben, dass sie sich manchmal »schuldig« oder »schlecht« fühlten, wenn sie auf ihrem Heimweg am Camp vorbeifuhren. Seltener noch formulierten Gesprächspartner·innen in den USA und in Mexiko eine breitere Gesellschaftsanalyse. Der Besitzer einer kleinen Pension in der Nähe der Camps im Skagit Valley erklärte viele der internationalen Kräfte,
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die die Hofbetriebe in der Gegend unter Druck setzten. Er verdeutlichte seine Aussage, indem er anführte, dass im Falle einer zu starken Erhöhung des Mindestlohns durch den Bundesstaat Washington die Hofbetreiber·innen auf Mechanisierung setzen könnten, was tausende Pflückjobs kosten und die Situation für Wanderarbeiter·innen noch weiter verschlechtern würde. Er sagte zurecht: »Es ist sehr komplex.« In San Miguel wird wöchentlich Pepsi von einem großen Sattelschlepper geliefert, der durch die Staubstraßen des Ortes fährt, während mexikanische Rey-Limonaden in kleinen Läden aus Triqui-Hand verkauft werden. Manche Familien erwerben mittlerweile große Paletten Pepsi-Flaschen für Festlichkeiten wie Taufen oder Hochzeiten, anstatt Rey von ihren Nachbar·innen zu kaufen. Es gibt aber ein unter allen Altersgruppen verbreitetes Gerücht im Ort, dass Pepsi und Cola Menschenblut enthalte. Ich bat Samuels Nichte, eines der Familienmitglieder, mit denen ich in San Miguel zusammenlebte, mir zu erklären, wie aus Blut Limonade gemacht werden könnte. Sie erklärte, dass in den Fabriken dieser Unternehmen die Leute lebendig und schreiend zermahlen und zu einer blutigen Masse verarbeitet würden, die dann den Getränken beigefügt werde. Obwohl manche ihrer Freund·innen Pepsi tranken, wollte sie selbst kein Menschenblut zu sich nehmen und trank daher bei Festen nur Rey-Limonaden. Multinationale Konzerne nutzen eine »Hermeneutik der Großzügigkeit«28 und florierten umfassend, indem sie Menschen »zermahlen«, insbesondere jene, die verarmt und an den Rändern lebten. Sie produzieren auf umweltschädliche Weise ungesunde Produkte in Fabriken, die meist schlechte Arbeitsbedingungen bieten, vermarkten sie weltweit vor allem an verarmte Menschen und bilden große Konglomerate aus Limonadenmarken, die alle billig verkauft werden und wirkungsvoll kleinere Produzent·innen aus dem Geschäft verdrängen. Dieses Gerücht kritisiert also ungleiche und schädliche Wirtschaftsstrukturen und führt zu praktischem Widerstand. Nichtsdestotrotz wachsen Pepsi und Coca-Cola weiter, während die meisten kleineren Firmen schließen. Auch in San Miguel geht der Trend in die Richtung Pepsi zu trinken.
28
Vgl. Farmer 1992.
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Abb. 17: Erbeerpflückerinnen im Streik, Tanaka Brothers Farm.
Foto von Rob Mercatante.
Der Streik und die Aktennotiz Eines Morgens, während meines zweiten Spätsommers auf der Tanaka-Farm, verließen die Erbeerpflücker·innen die Felder und streikten. Der Streik war nicht im Vorhinein geplant worden. Nachdem sie erfuhren, dass die Bezahlung pro Gewichtseinheit gesenkt und mehrere Menschen entlassen wurden, weil sie am Vortag das Mindestgewicht nicht erreicht hatten, begannen einige der Triqui-Pflücker·innen zu pfeifen. Mehr als die Hälfte der Leute schloss sich dem Pfeifen an, bis alle vom Feld gingen. Später erklärten mir meine Triqui-Freund·innen, dass das Pfeifen ihren Missmut ausdrückte – ich hatte es bereits im Sommer zuvor beim Blaubeerpflücken im kalten Regen gehört und mich gefragt, was es zu bedeuten hatte. In den Tagen, die zum Streik hinführten, wurden die Pflücker·innen zunehmend besorgt, weil die Beeren mit dem Vergehen des Sommers immer weniger und kleiner wurden und es deshalb immer schwieriger wurde, beim Pflücken das Mindestgewicht zu erreichen. Die Erdbeeren werden über den Sommer weniger und kleiner, weil die Felder schon früh im Sommer geerntet wurden und die Pflanzen zum Ende der Saison hin immer weniger Beeren produzieren. In diesem Kontext
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wurde die Entlassung mehrerer Leute, die am Vortag nicht das Mindestgewicht hatten pflücken können, als unangemessen und die Senkung des Lohns pro Gewichtseinheit als absolut ungerecht erachtet.
Abb. 18: Erdbeerpflücker im Streik lesen die Liste der Missstände.
Foto von Rob Mercatante.
Mit der Hilfe von Jaime, dem Sozialarbeiter, der mich bei meinem ersten Besuch im Skagit Valley den Triqui-Familien vorgestellt hatte, hatten die Pflücker·innen ein Dokument verfasst, das über 20 Beschwerdepunkte über die Arbeitsbedingungen aufführte: von der Unterbezahlung bis zu ausdrücklich rassistischen Aussagen der Aufseher·innen; von fehlenden Mittagspausen bis zu ungerechten Beförderungen von mestizischen und USLatin@-Arbeiter·innen vor den indigenen Pflücker·innen. In den folgenden Tagen hielten mehrere Geschäftsführer und ein Dutzend Pflücker·innen Treffen ab, in denen die Beschwerden besprochen wurden – wobei Jaime und ich zwischen Englisch und Spanisch dolmetschten. Die Geschäftsführer waren sichtlich überrascht und bestürzt über die Beschreibungen der ausdrücklich rassistischen Behandlung und ungleichen Beförderungen auf der Farm. Sie wiesen sofort alle Erntemanageran, die Botschaft weiterzugeben, dass mit allen Arbeiter·innen respektvoll umzugehen sei. Für meine Triqui-Gefährt·innen war die Einführung von 30-minütigen Mittagspausen und einer leicht erhöhten Bezahlung wichtiger. Für die Pflücker·innen handelte es sich um einen Erfolg. Sie bezeichneten das Dokument als contrato [Vertrag] und
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alle 12 Triqui-Vertreter·innen unterzeichneten es entsprechend der TriquiRechtstradition. Samuels Onkel, einer der Vertreter·innen der Pflücker·innen überreichte den unterzeichneten contrato an John Tanaka, der ihn für die Geschäftsführung der Farm ebenfalls unterzeichnen sollte. Nach den Rechtspraktiken der Triqui würde der contrato zu einer bindenden Vereinbarung zwischen den Unterzeichnenden werden. John Tanaka druckte die Beschwerden erneut aus, unterzeichnete das Papier und legte es als memo ab – also als innerbetriebliche Mitteilung bzw. als Aktennotiz. Im nachfolgenden Sommer wurden die Mittagspausen und die höhere Bezahlung stillschweigend wieder zurückgenommen, wobei einige meiner Triqui-Freund·innen weiterhin den Eindruck hatten, mit mehr Respekt behandelt zu werden. Der Streik, die nur zeitweilige Aufrechterhaltung seiner Ergebnisse und die Umwandlung des contrato [Vertrag] in eine memo [Aktennotiz] unterstreichen die komplizierte Beschaffenheit von Macht und Widerstand auf der Farm. Die Geschäftsführer fordern, dass alle Arbeiter·innen mit Respekt behandelt werden, während zugleich ihre tatsächlichen Sorgen um das Überleben der Farm ihnen verbieten, die vorrangigen wirtschaftlichen Anliegen der Pflücker·innen auf bleibende Weise wirksam anzugehen. Der zunehmend harte Markt, auf dem die Farm sich bewegt, bringt diese Bauern dazu, Komplizen in einem System der segregierten Arbeit zu sein, das den Pflücker·innen schadet.
Gesellschaftlicher Wandel und Reproduktion Obwohl es kleine Anzeichen des Bewusstseins über ungleiche gesellschaftliche Strukturen und ihre negativen Folgen gibt, bleibt die Hierarchie nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit in der US-amerikanischen Landwirtschaft und die entsprechende Hierarchie des Leidens weitgehend unhinterfragt und unangefochten durch alle Beteiligten. Auf vielen Ebenen normalisieren und naturalisieren verschiedene symbolische und physische Mittel die Farmhierarchien und reproduzieren sie dadurch. Die Segregation nach Ethnisierung und Staatsangehörigkeit selbst sowie Differenzen im Hinblick auf Sprache und gesellschaftliche Vernetzung ermöglichen es bestimmten Personen, ungestraft beleidigend und rassistisch zu sein, während andere versuchen, ethisch und respektvoll mit den Menschen umzugehen. Beispielsweise scheinen Shellys rassistische Haltungen gegenüber indigenen Menschen aus Oaxaca und ihr Handeln zur Durchsetzung der Segregation auf der Farm für
6. - Die Naturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid
die ethischer orientierten Geschäftsführer der Farm unsichtbar zu sein – womöglich weil sie mit Rob Tanaka verheiratet ist. Die ausdrücklich rassistische Behandlung indigener Pflücker·innen auf Spanisch durch eine zweisprachige Crew-Chefin, werden von der Geschäftsführung und von den Erntemanagern nicht bemerkt, weil sie meist auf einer anderen Sprache als Englisch stattfindet. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter·innen bleiben aus dem öffentlichen Sichtfeld verborgen und werden durch Annahmen darüber gerechtfertigt, welche Wohn- und Arbeitssituation verschiedene Personengruppen verdient hätten. Metaphern des Schmutzes und gebräuchliche Fremdbezeichnungen schließen die Pflücker·innen aus der Kategorie »amerikanisch« aus und zeugen von der Vorannahme, dass sie in den USA fehl am Platz seien. Die Wanderarbeiter·innen werden für ihr eigenes Leid ebenso verantwortlich gemacht – oft anhand der Metapher »wollen« – wie für das Leiden jener, die als »amerikanisch« eingeordnet werden. Schließlich und vielleicht am wirksamsten gibt es die Vorstellung, dass die Triqui ihren Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie verdient hätten: und zwar aufgrund von Eigenschaften, die ihnen als natürlich, ethnisch und körperlich zugeschrieben werden. Diese Naturalisierung von Unterdrückung und Rassismus ist besonders wirksam und unhinterfragt, weil sie unsichtbar auf der Ebene des Körpers umgesetzt wird. Damit ein breites Bündnis wirkungsvoll daran arbeiten kann, die ungesunden Ungleichheiten in der US-amerikanischen Landwirtschaft zu verändern, müssen wir solche Hierarchien zuerst als gesellschaftlich und historisch konstruiert und somit als veränderbar erkennen. Nur dann können wir uns symbolische, wirtschaftliche, politische und zwischenmenschliche Mittel überlegen, mit denen wir für Gleichheit kämpfen und die Strukturen zerlegen können, die dieses Leid gesellschaftlich erzeugen.
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7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr
Möglichkeiten der Hoffnung und Veränderung Schon früh in meiner Feldforschung wurde mir die Segregation der Arbeiter·innen in der US-amerikanischen Landwirtschaft entlang einer Hierarchie der Ethnisierung und Staatsangehörigkeit deutlich. Ich beobachtete wirtschaftliche Ungleichheiten und gesellschaftliche Hierarchien, die zu Vertreibung, Migration, Krankheit und Leid führten – unter anderem für meine Triqui-Gefährten Abelino, Crescencio und Bernardo. Im Verlauf meiner Feldforschung wurde ich von der deprimierenden Situation entmutigt, die scheinbar keine Möglichkeiten der Veränderung bot. Ich bemerkte, wie die sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten als normal, natürlich und berechtigt erachtet wurden. Durch die Rassifizierung von Körpern und die Wahrnehmung, dass bestimmte Kategorien »ethnisierter« Körper in bestimmte berufliche Positionen gehören, wurden diese Ungleichheiten naturalisiert. Durch die Verborgenheit bestimmter Klassen von Körpern und die subtilen Bedeutungen der (bei der Arbeit eingenommenen) Körperpositionen wurden sie normalisiert. Zugleich umfasst Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt ein gewisses Maß an Internalisierung, die ich in den Triqui-Konzeptionen von Stolz erkennen konnte, die womöglich in Teilen dazu beitragen, ihre Position in der Hierarchie der Tätigkeiten zu rechtfertigen. Zusätzlich verhinderte der medizinische Blick der Kliniker·innen im Bereich der Gesundheitsversorgung für Migrant·innen, dass die medizinischen Fachkräfte die gesellschaftlichen Ungleichheiten wahrnahmen bzw. erkannten, wie diese Ungleichheiten Krankheiten erzeugten. Stattdessen machten sie unachtsam ihre Patient·innen selbst für deren Leiden verantwortlich – ihr Verhalten, ihre Kultur oder ihre rassifizierte Biologie. Folglich empfohlen sie Behandlungen, die ungewollt die
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verletzende gesellschaftliche Struktur stützten. Die Naturalisierung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten war besonders wirksam, weil sie auf der Ebene des augenscheinlich Natürlichen stattfand: des Körpers. Die strukturelle Beschaffenheit dieser Ungleichheiten wird durch die Tatsache veranschaulicht, dass sogar idealistische und ethisch orientierte Bäuer·innen und Kliniker·innen sich in einer Grauzone bewegen, die ihre Bemühungen um ethisches Handeln neutralisiert und manchmal sogar umkehrt. Die Relevanz der politisch-ökonomischen Strukturen wurde zudem dadurch unterstrichen, dass meine Triqui-Gefährt·innen gar keine andere Wahl hatten, als die lebensgefährliche und doch notwendige Wanderung durch die Grenzwüste auf sich zu nehmen. Diese vielfach determinierte Struktur der Ungleichheiten schien alles zu erklären und erschwerte es mir besonders, mir einen realistischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und gesundheitlichen Wandel vorzustellen. Ob die Hoffnung auf dem Unbekannten und Unbenennbaren beruht, wie Crapanzano es beschreibt,1 oder auf dem wirksamen praktischen Einsatz von Wissen für symbolische, politische und materielle Veränderung, wie Miyazaki es beschreibt:2 Die zerstörerischen und überdeterminierten gesellschaftlichen und symbolischen Strukturen, die in der Migration zwischen Mexiko und den USA am Werk sind, schienen nur wenig Raum für Hoffnung zu lassen. Pierre Bourdieu, dessen Konzepte die Analyse dieses Buchs prägen, wird oft als Theoretiker der gesellschaftlichen Reproduktion beschrieben. Wissenschaftler·innen nutzen seine Theorien, um zu analysieren, wie soziale und symbolische Strukturen zur Reproduktion des gesamten gesellschaftlichen Systems führen, einschließlich seiner Ungleichheiten und Hierarchien. Obwohl dieser theoretische Rahmen häufig als überdeterminiertes, alles erklärendes Metanarrativ der Reproduktion verstanden wird, ist besonders in seinen Konzepten des Habitus‹ und der symbolischen Gewalt die Möglichkeit der Veränderung erkennbar. Bourdieu bezeichnet als Habitus die historisch akkretierten Dispositionen und Gewohnheiten des Körpers. Anders gesagt wird das körperliche Verhalten des eigenen Habitus‹ durch die soziale Welt fortgeschrieben und aufgeschichtet. Demnach kann sich der Habitus eines Menschen über die Zeit verändern, wenn sich seine Position in einer sozialen Welt verändert oder jene Dimension der sozialen Welt selbst sich verändert, 1 2
Vgl. Crapanzano 2008. Vgl. Miyazaki 2009.
7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr
die Bourdieu als Feld bezeichnet. Zudem wird unvermeidlich etwas Neues und Unvorhersehbares erzeugt, wenn der Habitus eines Menschen mit einem Feld in Kontakt kommt, zu dem er nicht passt. Wenn sich unser Habitus in einer bestimmten gesellschaftlichen Position oder sozialen Welt entwickelt hat und wir später eine andere Position einnehmen oder in ein neues Feld eintreten, wird diese Begegnung zu Veränderung führen. Wer zu Migration forscht, sollte sich über diesen Ort des potenziellen Wandels besonders bewusst sein. Das Konzept der symbolischen Gewalt ist Bourdieu zufolge ein weiterer wichtiger Schauplatz für Veränderung. In Gender and Symbolic Violence argumentiert er gegen die Möglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung allein durch den »unmittelbaren Effekt der ›Bewusstseinsbildung‹«.3 Das widerspricht klar der üblichen Erwartung in der Öffentlichen Gesundheit und Medizin, dass Bildung allein zu direkten, gesundheitsbezogenen Veränderungen – einschließlich des Verhaltens – führe. Stattdessen argumentiert Bourdieu, dass sozialer Wandel »durch radikale Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen von Produktion und Dispositionen« geschieht. Im selben Abschnitt schreibt er: »Um eine Beziehung der Herrschaft […] aufrechtzuerhalten oder zu verändern, müssen die Strukturen aufrechterhalten oder verändert werden, deren Produkt diese Dispositionen sind (und besonders die Struktur des Marktes symbolischer Güter […]).«4 Bourdieu deutet an, dass es zwischen gesellschaftlichen Strukturen und den von ihnen erzeugten, körperlichen Dispositionen sowie den symbolischen Strukturen, die sie verstärken, starke wechselseitige Beziehungen gebe. Diese Beziehungen erhalten oder verändern die von Macht durchdrungenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Veränderungen auf jeder Ebene der gesellschaftlichen Strukturen – zum Beispiel in der Einwanderungspolitik oder im Arbeitsrecht – werden neue verkörperte Dispositionen und Symbole schaffen: Metaphern, Stereotype, Bedeutungen, Konnotationen – wie »illegal« gegenüber »legal«, oder »ungelernt« gegenüber »gelernt«. Zugleich werden Veränderungen in der Symbolik zu Veränderungen körperlichen Handelns führen und somit auch zu Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen selbst – zum Beispiel bei Wahlen und den daraus folgenden Gesetzen. Mit diesem größeren Bild von Bourdieus Theorien gibt es vielleicht Raum für Hoffnung – in Crapanzanos oder Miyazakis Sinne – bezüglich der Vorwärtsschleife der
3 4
Vgl. Bourdieu 2003, S. 273. Ebd., S. 274.
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Veränderung durch gesellschaftliche Strukturen, körperliche Dispositionen und symbolische Bedeutungen. Viele Denker·innen – von Bourdieu über Foucault bis zu Gramsci – haben sich gefragt, welche Rolle sie in der Welt einnehmen sollten. Gramscis Vorschlag der organischen Intellektuellen5 und Bourdieus mehrdirektionales Verständnis von Struktur und Symbol können uns helfen, die Entnaturalisierung von gesellschaftlich bedingtem Leid anzugehen. Wenn wir Sozialwissenschaftler·innen gesellschaftlich strukturiertes Leid erforschen, theoretisieren und ihm entgegentreten, dann müssen wir uns in einem breiten Bemühen mit anderen zusammenschließen, um die gesellschaftlichen Ungleichheiten zu entnaturalisieren und die Verknüpfungen zwischen symbolischer Gewalt und diesem Leid aufzudecken.6 So können die Linsen der Wahrnehmung und die gesellschaftlichen Ungleichheiten, die sie verstärken, anerkannt, angefochten und verändert werden. Dieses Buch soll die Ungleichheiten in der landwirtschaftlichen Arbeit und Klinik entlang von Ethnisierung und Staatsangehörigkeit ebenso entnaturalisieren wie die biologisierten und rassifizierten Ungleichheiten in der Gesellschaft insgesamt. Um die weitere Militarisierung der Grenzregionen anzufechten, wird es entscheidend sein, zu erkunden, wie die symbolische Gewalt gegen mexikanische Wanderarbeiter·innen die tödlichen Bedingungen an der Grenze zwischen Mexiko und den USA legitimiert und verstärkt. Um uns eine wirksamere und kontextualisierende Gesundheitsversorgung vorzustellen, müssen wir erkunden, wie eine breitere Analyse der gesellschaftlichen Strukturen in die medizinische Ausbildung einbezogen werden kann. Wir Sozialwissenschaftler·innen müssen insgesamt 5 6
Vgl. Gramsci 1971. Der französische phänomenologische Philosoph Emmanuel Levinas hat besonders in Zwischen Uns (1995) über das Leiden und dessen Rechtfertigung geschrieben. Er argumentierte, dass unsere menschliche Verantwortung darin liege, das Leiden anderer als »zweckfreie[n] Un-Sinn« (121) zu verstehen und deshalb an seiner Linderung zu arbeiten. Er forderte » [d]as Ende der Theodizee« (124), weil er argumentierte, dass es am Ende die Herstellung des Leids rechtfertige, wenn es mit Bedeutung beladen werde. Die Anthropologin Veena Das (1987) macht einen ähnlichen analytischen Schritt in ihrer ethnografischen Betrachtung der Katastrophe von Bhopal und von Massakern in Indien. Sie weist darauf hin, dass Versuche, im Leid Bedeutung oder Sinn zu finden, dazu dienen können, patriarchale, ungerechte Strukturen zu rechtfertigen und die leidenden Personen unhörbar zu machen. Stattdessen argumentiert sie, dass Leid als illegitim und chaotisch verstanden werden muss, um das Überleben jener, die leiden, zu ermöglichen. Leid darf nicht gerechtfertigt werden, damit Leidende Trost erfahren und weiteres Leid verhindert werden kann.
7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr
unsere Aufmerksamkeit darauf richten, zu verstehen und zu theoretisieren, wie bestimmte Klassen von Menschen abgeschrieben und vergessen werden und wie ihnen zugeschrieben wird, ihr Leid verdient zu haben. Die Ethnografie – mit ihrer dichten Beschreibung und nuancierten Analyse – ist eine besonders wichtige Methodologie, um die vielschichtigen Bedeutungen und vertikalen Schnitte der Macht zu verstehen, die gesellschaftliches und kulturelles Leben ausmachen – einschließlich seiner Ungleichheiten und Rechtfertigungen.7 C. Wright Mills wird folgender Aufruf zugeschrieben, den ich hier wiederholen möchte: »Theoretiker·innen und Methodolog·innen – an die Arbeit!«
Migrationsforschung, Binaritäten und Bedeutungen Es gibt mehrere Begriffe in der Migrationsforschung, die gesellschaftliche und gesundheitliche Ungleichheiten fehlrepräsentieren und rechtfertigen können. Die Worte »Migran·tin«, »Wanderarbeiter·innen« und »migrantische Landarbeiter·innen« werden gebraucht, um vornehmlich mexikanische Menschen zu bezeichnen, die ohne Aufenthaltsstatus in den USA in der Obst- und Gemüseernte arbeiten.8 Wie bereits besprochen gehen viele Menschen, die die Worte »Einwanderung« oder »Migration« gebrauchen, davon aus, dass es sich um eine frei gewählte Bewegung zwischen bestimmten, nicht miteinander verbundenen Orten und Gesellschaften handelt. Für meine Triqui-Gefährt·innen ist die Migration jedoch eine Erfahrung der zwangsweisen Bewegung um des Überlebenswillens. Sie umfasst, was als komplexer transnationaler Migrationskreislauf von Menschen und Kapital bezeichnet werden kann.9 Die Verwandten eines Triqui-Mädchens wägen die Entscheidung, ob sie schon heiraten darf, gemeinsam ab – ob in Kalifornien persönlich vor Ort oder per Telefon aus Oaxaca. Die wenigen Küchen mit Gasherd anstelle eines Holzfeuers und die paar Häuser mit Beton- statt 7 8
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Zur vielschichtigen Beschaffenheit der Wirklichkeit: vgl. Taussig 2012. Zum anthropologischen vertikalen Schnitt: vgl. Nader 1972. In diesem Buch verwende ich die Begriffe »migrieren«, »Wanderarbeit«, »Migration« und »Migrant·in«, weil diese Wörter in diesem Kontext allgemein verständlich sind. Ich möchte jedoch keine unkritische Zustimmung zu den Annahmen hinter diesen Begriffen andeuten. Vgl. Besserer 2004; Kearney 1998; Rouse 2002. Zum »transnationalen sozialen Raum«: vgl. Glick Schiller 2003.
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Erdböden im Heimatort meiner Triqui-Gefährt·innen wurden mit dem Geld errichtet, das Verwandte aus den USA überwiesen hatten. Nach der Migrationserfahrung der Triqui sind die Orte auf wichtige und alltägliche Weise miteinander verbunden. Viele, die von »Einwanderung« und »Migration« schreiben, nehmen an (und die Politik fordert häufig), dass die immigrierten oder migrierenden Menschen sich »assimilieren« oder »kulturell anpassen« und durch die Annahme der dominanten kulturellen Praktiken langsam ihre Differenz verlieren. Außerdem erinnert uns die Diasporaforschung10 daran, dass die Identitäten und Praktiken jener, die eingewandert sind, »hybridisiert« werden – dass sie also in der Interaktion mit anderen Menschen und Orten sowohl erhalten als auch verändert werden. Zum Beispiel beginnen einige der männlichen Triqui, den Frauen, die sie heiraten möchten, eine staatlich anerkannte und kirchlich geschlossene Hochzeit statt der traditionellen Brautpreispraktiken vorzuschlagen, um die potenziellen Missverständnisse und rechtlichen Komplikationen zu vermeiden, die ich in Kapitel 5 beschrieben habe.11 Während es eurozentrisch ist, Assimilierung zu fordern, wäre es zugleich unrealistisch anzunehmen, dass die Kultur der Migrant·innen von den Bedingungen, in denen sie sich bewegen, gänzlich unberührt bliebe. Viele der Bezeichnungen für immigrierte bzw. migrierende Arbeiter·innen enthalten starke klassistische und rassistische Konnotationen. »Landarbeiter·innen« [farmworkers] sollte für alle gebraucht werden, die auf einem Hof in der Landwirtschaft arbeiten. Jedoch werden die Besitzer·innen, Manager·innen, Verwaltungsassistent·innen, Ernteaufseher·innen, Crewund Feld-Chef·innen in der Praxis nie als »Landarbeiter·innen« bezeichnet. Auf dem Hof, in der Forschung zu Farmen und im allgemeinen Sprachgebrauch werden sie stattdessen nach ihren jeweiligen Berufsbezeichnungen betitelt. »Landarbeiter·innen« bezeichnet dann nur jene Arbeiter·innen, die per Hand Obst und Gemüse ernten. Obwohl diese Bezeichnung in der Vergangenheit für weiße und Schwarze US-amerikanische Pflücker·innen – oft aus dem trockenen Mittleren Westen migriert – verwendet wurde, dient sie derzeit vor allem der Bezeichnung von Wanderarbeiter·innen aus Lateinamerika. Merklich wird die Wendung nicht genutzt, um die weißen jugendlichen Pflücker·innen zu bezeichnen, die ebenfalls auf der Tanaka-Farm arbeiten,
10 11
Vgl. Gilroy 1989; Hall 1990. Vgl. Ong 1999.
7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr
obwohl sie der gleichen Tätigkeit nachgehen wie die mexikanischen Pflücker·innen. Diese Arbeiter·innen werden vielmehr als »die weiße Crew« oder »die jugendliche Crew« bezeichnet. Zudem scheinen die Begriffe »Migrant·in« ebenso wie »Wanderarbeiter·in« linguistisch auf alle zuzutreffen, die migrieren und arbeiten, das heißt auf alle, die sich zum Arbeiten zwischen verschiedenen Orten oder Ländern bewegen. Jedoch werden wohlhabende Menschen, die zu Arbeitszwecken migrieren – wie die von Aihwa Ong beschriebenen Geschäftsleute12 oder die Architekt·innen aus Mexiko-Stadt, die den neuen Forschungscampus der University of California in San Francisco geplant haben – nie mit diesen Begriffen bezeichnet. Sie werden »internationale Geschäftsleute«, »Menschen in der Diaspora« oder auch einfach nur anhand ihres Berufs und Herkunftsortes, wie zum Beispiel »Architekt·innen aus Mexiko-Stadt«, genannt. Das Wort »Migrant·in« trägt also die spezifische Konnotation einer niederen Klassenzugehörigkeit. Menschen aus niederen Klassen, die aus Kanada oder Europa einwandern, um in der Landwirtschaft oder in Fabriken zu arbeiten, werden ebenfalls nicht als »Migrant·innen« bezeichnet. Sie heißen üblicherweise etwas wie »zeitweilige Arbeiter·innen aus Kanada« oder einfach »Fabrikarbeiter·innen aus Kanada«. »Migrant·in« hat also auch stark ethnisierte Konnotationen. Im üblichen Sprachgebrauch in den USA sind »Migrant·innen« derzeit ausschließlich verarmte, lateinamerikanische Arbeiter·innen. Ähnlich werden Landarbeiter·innen häufig als »ungelernte Arbeiter·innen« bezeichnet. Doch wir müssen diese Kategorisierung ebenso untersuchen, wie ihren Rückgriff auf das Konzept der Qualifikation und die Frage, wer entscheidet, welche Fähigkeiten hier zählen. Nach vielen Tagen, an denen ich versuchte, so schnell wie möglich zu pflücken – ich hatte viele Körperpositionen und psychologische Manöver ausprobiert –, fiel ich weiterhin mit Abstand hinter den mexikanischen Erdbeerpflücker·innen zurück, die um mich herum arbeiteten. In diesem Kontext stellte ich schnell fest, dass ich ein ungelernter Arbeiter war, während meine mexikanischen Kolleg·innen vom Fach waren. Sie kannten genaue Techniken zum schnellen Pflücken und konnten diese Geschwindigkeit aufrechterhalten. Der Gebrauch
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Zugleich werden diese Worte in Gesellschaft und Gesundheitsforschung so häufig gebraucht, dass es schwierig wäre, sie in diesem Buch komplett zu vermeiden. Daher verwende ich einige dieser Wörter weiterhin, arbeite aber gegen die Missstände und Vorurteile in der Terminologie.
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dieser Begriffe enthält einen ungleichen Respekt, was auf Klassenungleichheit und Rassismus beruht. Anstatt für ihre spezifische Arbeit respektiert und mit ihrer Tätigkeitsbezeichnung sowie ihrem Herkunftsland anerkannt zu werden, werden diese Menschen (auch sprachlich) in eine Kategorie aus Unterschichtslateinamerikaner·innen zusammengefasst.13 Viele Nachrichtenmedien bezeichnen Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus als »illegale Ausländer·innen«. Erstens ist das Wort »illegal« hier ein Adjektiv, das die Migrant·innen bestimmt, als handele es sich um die Eigenschaft einer Person. Zudem handelt es sich bei diesen Migrant·innen um härter arbeitende und gesetzestreuere Menschen, als es die meisten US-Staatsbürger·innen sind – wie es ein Abteilungsleiter des Grenzschutzes im Bundesstaat Washington herausstellte. Er sagte, sie hielten sich beim Autofahren an die Geschwindigkeitsbegrenzung, zahlten ihre Steuern, arbeiteten sehr hart und vermieden jegliche Aktivitäten, die polizeiliche Aufmerksamkeit erzeugen könnten. Der Abteilungsleiter erklärte mir, dass die Sozialversicherung in den USA schon vor Jahren pleite gegangen wäre, wenn die Arbeiter·innen ohne Aufenthaltsstatus nicht darin einzahlen würden, ohne Leistungen daraus zu beziehen. Er fuhr fort, dass es ab und zu mal eine aus Mexiko immigrierte Person gebe, die eine Straftat beginge, so wie andere Bewohner·innen der USA auch Straftaten begingen, mit dem Unterschied dass diese Migrant·innen ohne Aufenthaltsstatus gesucht und abgeschoben würden. Ansonsten, sagte er, sei er nicht daran interessiert, Leute zu verfolgen, die für die US-amerikanische Landwirtschaft hart arbeiteten. Das einzig illegale, das sie täten, sei die Überquerung der Grenze ohne die angemessenen Papiere. Das machte sie seiner Einschätzung nach aber nicht wirklich illegal.14 Er bevorzugte daher den Begriff undocumented [ohne Aufenthaltsstatus], der präziser sei und weniger Ängste vor Einwanderung schüre. Zudem gibt es klare Unstimmigkeiten in den Dichotomien, die üblicherweise in der Auseinandersetzung mit Einwanderung angewendet werden: »Flüchtling/Geflüchtete·r« gegenüber »Migrant·in«; »politisch« gegenüber »wirtschaftlich«; »unfreiwillig« gegenüber »freiwillig«.15 Die Konzepte Flücht-
13 14 15
Für eine weitere Diskussion zur Erfahrung, als »illegal« betrachtet zu werden: vgl. Castañeda 2010; Stephen 2007; Willen 2007. Vgl. Morrissey 1986. Vgl. Gramsci 1971. Für praktische Forschungsvorschläge hinsichtlich mexikanischer indigener Gemeinschaften: vgl. Kissam und Jacobs 2004.
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ling, politische·r Migrant·in und unfreiwillige·r Migrant·in sind miteinander verknüpft. Um in den USA (oder in Deutschland) als Flüchtling anerkannt zu werden und Asylrechte zu erhalten, muss eine Person unter anderem beweisen, dass sie aus politischen Gründen zur Migration gezwungen wurde. Die dichotom gegenübergestellten Begriffe fungieren als Merkmale, die es rechtfertigen, Menschen vom rechtlichen Status als Flüchtlinge und den damit einhergehenden wirtschaftlichen und politischen Rechten auszuschließen. Die Triqui, mit denen ich arbeite, werden im Diskurs der traditionellen Migrationsforschung und der US-Regierung alle als »freiwillige Wirtschaftsmigrant·innen« betrachtet. Doch die ethnografische Erkundung zeigt deutlich, dass ihre Migration tatsächlich unfreiwillig ist und es keine gültige Trennung zwischen den politischen und wirtschaftlichen Kräften gibt, die sie zur Migration veranlassen. Um zu überleben, sind die Triqui gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen, eine potenziell tödliche Grenze zu überqueren und in einer feindseligen Umgebung zu arbeiten. Die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die sie zur Migration zwingen, werden direkt von den internationalen Politiken und Militäraktionen verursacht, die zu globalen, regionalen und lokalen Ungleichheiten und Leid führen. Abschließend muss noch die Dichotomie zwischen »Sprache« und »Dialekt« infrage gestellt werden. Der Begriff Dialekt bezeichnet eine Untervariante einer Sprache, die üblicherweise beschränkt auf eine bestimmte Region gesprochen wird. Ein Dialekt gilt selbst nicht als Sprache, sondern als Abwandlung einer Sprache. Triqui und andere indigene Sprachen Lateinamerikas werden häufig als Dialekte bezeichnet. Der Apfelerntemanager auf der Tanaka-Farm war so von dieser Sicht auf indigene Sprachen überzeugt, dass er mir erzählte: »Die Leute aus Oaxaca sprechen verschiedene Dialekte des Spanischen. Wenn ich ganz genau zuhöre und aufpasse, kann ich sie verstehen.« Linguistisch betrachtet sind Mixtekisch und Triqui jedoch überhaupt nicht mit dem Spanischen verwandt. Es sind keine romanischen Sprachen. Beides sind eigene Sprachen, genauer gesagt Tonalsprachen, die eine entfernte historische Verwandtschaft miteinander aufweisen – allerdings nicht mit dem Spanischen. Miteinander sind sie in etwa so verwandt wie Spanisch und Englisch oder Englisch und Latein. Anstatt sie als Sprachen zu begreifen, die in der Region schon lange vor der spanischen Kolonisierung gesprochen wurden, impliziert ihre Bezeichnung als Dialekte, dass sie als Ableitungen aus der richtigen Sprache – dem Spanischen – entstanden seien. Diese Falschdarstellung stützt die vorherrschende Haltung, dass indigene Mexika-
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ner·innen weniger wichtig, gar weniger mexikanisch wären als mestizische Mexikaner·innen.
Der Stellungskrieg durch Sprache In seinen Gefängnisheften beschreibt Antonio Gramsci folgendes Konzept zur Hegemonie: das Phänomen, dass eine Gruppe oder Klasse von Menschen – vornehmlich die Kapital besitzende Klasse – die wirtschaftlichen und symbolischen Produktionsmittel kontrolliert.16 Kurz gesagt, existiert Hegemonie im Einvernehmen mit den unterdrückten Klassen, obwohl sie nicht in ihrem eigenen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Interesse ist. Doch Gramsci weist darauf hin, dass Hegemonie und das dazugehörige Einvernehmen nie vollständig sind.17 Es gibt immer Kämpfe über ökonomische Strukturen – Eigentum, Umverteilung, Regulierung – sowie über symbolische Strukturen – Repräsentationen und Bedeutungen. Gramsci unterscheidet zwischen zwei primären Mitteln, um die Kontrolle einer Gesellschaft zu erreichen. Das erste Mittel ist der umfassende militärische »Bewegungskrieg« und das zweite ist ein subtilerer »Stellungskrieg«. »Stellungskrieg« in Gramscis Sinne bezeichnet den fortwährenden Kampf um Bedeutungen und kulturelle Formen, die wiederum politische und wirtschaftliche Strukturen beeinflussen. Zum Beispiel haben die Bedeutungen – die durch den Gebrauch von sprachlichen Wendungen wie »illegale Ausländer·innen« mit immigrierten Arbeiter·innen aus Lateinamerika verknüpft wurden – Angst und entsprechende Rechtfertigungen für deren gesetzlichen Ausschluss von Gesundheitsversorgung, Bildung sowie anderen Leistungen erzeugt. Die Wortwahl von Kaliforniens Proposition 187 liefert ein perfektes Beispiel: »Das kriminelle Verhalten illegaler Ausländer·innen in diesem Bundesstaat schadet uns [Kalifornier·innen] persönlich.«18 Quesada schreibt, dass die Sprache dieser sogenannten »Save Our State«- Initiative erfolgreich Spaltung und Furcht schürte, indem sie das Leid (weißer) Kalifornier·innen bestätigte und jenes der aus Mexiko immigrierten Arbeiter·innen tilgte.19 Diese Darstellungen haben zu real rechtlichen und materiellen Härten für die Menschen geführt,
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Vgl. Hall 1986. Vgl. Gramsci 1971. California’s Proposition 187, zitiert in Quesada 1999. Vgl. Quesada 1999.
7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr
gegen die sie sich richten. Während fremdenfeindliche Organisationen die oben genannten Taktiken angewendet haben, haben andere – einschließlich vieler Sozialwissenschaftler·innen – versucht, die Menschlichkeit und unverzichtbare, schwere und anspruchsvolle Arbeit der Wanderlandarbeiter·innen aufzuzeigen. In den USA und den meisten anderen postindustriellen Nationalstaaten ist der militärische Gewalteinsatz [war of force] nicht offiziell gestattet – obwohl unter anderem die Militarisierung und Kriminalisierung der Innenstädte und Grenzgebiete als eben solche Gewalteinsätze gelten können. In diesen Gesellschaften werden Kämpfe um Hegemonie vornehmlich als Stellungskriege geführt. Um politische und materielle Veränderungen hinsichtlich der Rechte von Migrant·innen und Arbeiter·innen herbeizuführen, müssen wir also für eine Veränderung der Art und Weise kämpfen, wie immigrierte Arbeiter·innen repräsentiert und wahrgenommen werden.20 Denn Repräsentationen und Wahrnehmungen führen zu den entsprechenden rechtlichen und wirtschaftlichen Einschlüssen, Ausschlüssen, Befreiungen und zu Gewalt. Während das Handeln auf dieser Ebene von Diskurs und Wahrnehmung reale, materielle und gesellschaftliche Auswirkungen hat, ist es nur eine der Ebenen, auf denen strategisches Handeln notwendig ist. Um laut Gramsci und Bourdieu wirksam zu sein, muss eine akademische Kritik der symbolischen Ordnung von anderen Formen der Solidarität auf materieller und struktureller Ebene begleitet werden.
Pragmatische Solidarität auf der Farm und mehr Die Wendung »pragmatische Solidarität« wird vom Arzt und Anthropologen Paul Farmer genutzt, um seine Lesenden zu ermutigen, sich praktisch an den Kämpfen unterdrückter Bevölkerungsgruppen zu beteiligen.21 Das akademische Projekt, gesellschaftliche Ungleichheiten zu entnaturalisieren, muss von Bemühungen auf allen Ebenen – von der Mikro- bis zur Makroebene – begleitet sein. Auf der Farm könnte pragmatische Solidarität etwa bedeuten, Pflücker·innen ausdrücklich in die Englischkurse zu holen, die Informationsflüsse zur Pestizidsicherheit zu verbessern, die Pestizidanwendung zu verringern sowie gerechtere Einstellungsverfahren und Aufstiegsmöglichkeiten für 20 21
Vgl. Voss und Bloemread 2011. Vgl. Farmer 1992.
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die Arbeiter·innen zu entwickeln. In den letzten Jahren hat der Hof mehrere Blaubeerfelder auf zertifiziert biologischen Anbau umgestellt. Während das potenziell der Gesundheit der Blaubeerpflücker·innen zugute kommen könnte, erfordert die Biokennzeichnung von der Farm, dass diese Felder sobald sie als biologisch zertifiziert sind, per Maschine geerntet werden. Meine TriquiGefährt·innen sind also in einem ironischen Nachteil gefangen und pflücken weiterhin auf den pestizidbedeckten Feldern, während Maschinen auf jenen Feldern die Ernte übernehmen, die kaum Pestizide abbekommen. Als die Geschäftsführung der Farm mich um Rat bat, was zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflücker·innen zu tun wäre, bot ich an zu dolmetschen, so dass sie die Arbeiter·innen direkt fragen könnten. Ein Manager nahm das Angebot an. Am häufigsten baten meine TriquiGefährt·innen um Schotter auf den Staubpisten und Englischkurse für Pflücker·innen. Der Kies würde den Straßendreck aus den Hütten und von ihren Lebensmitteln fernhalten. Viele Pflücker·innen baten um Englischkurse am Abend nach der Arbeit, am besten in einem der Camps. Die Geschäftsführung reagierte auf diese Bitten, indem sie das Gras auf dem Feld zur Entleerung der Klärgruben mähen ließ, das sie als »Fußballplatz« bezeichneten. Dies geschah, obwohl die Leute aus Oaxaca auf der Farm Basketball spielen wollten und keinerlei Interesse an Fußball hatten. In meinem zweiten Sommer auf der Farm sammelten Anwohner·innen spontan einige hundert Dollar, um die Wege im Camp mit Kies zu bedecken – ein paar örtliche College-Studierende halfen bei der Aktion. Eine Gruppe AmericorpsFreiwilliger bot ein Mal die Woche abends nach der Rückkehr der Pflücker·innen von der Arbeit kostenlose Kurse für Englisch als Zweitsprache in den Camps an. Diese Kurse gab es einen Sommer lang, danach wurden sie nicht wieder angeboten. Diese Bemühungen um pragmatische Solidarität war eine konkrete Unterstützung für die Landarbeiter·innen. Sie zeigten aber auch, wie notwendig weitere Solidarisierung ist, die über das Pragmatische, Praktische oder Programmatische hinausgeht. Eine der Anwohner·innen, die oberhalb des Arbeitscamps der Farm wohnte, in dem ich lebte, ließ mich im zweiten Sommer meiner Feldforschung meinen Geburtstag in ihrem Zuhause feiern. Sie begrüßte, dass ich Menschen aus den verschiedenen Bereichen meines Lebens einlud: etwa meine Mutter aus Ostwashington, meine Bekannten von den lokalen Organisationen für Migrant·innenrechte und Umweltschutz sowie von PFLAG [Parents and Friends of Lesbians and Gays], meinen Kumpel, der allwöchentlich mit politischen Slogans vor dem Rathaus demonstrierte (einschließlich meines handgeschrie-
7. Fazit: Veränderung, pragmatische Solidarität und mehr
benen Lieblingsschilds »Don’t Bomb Anyone« [Bomben auf niemanden] sowie mehrere der Triqui-Familien, mit denen ich mich angefreundet hatte. Während des Geburtstagspicknicks, mit Platten voller Partysnacks von weißen Freund·innen sowie hausgemachten Tacos von Triqui-Freund·innen spielten ganz unterschiedliche Menschen miteinander fangen, streichelten Kaninchen und kommunizierten in gebrochenem »Spanglisch« sowie mittels Körpersprache miteinander. An diesem Nachmittag begann eine fortwährende saisonale Freundschaft zwischen der Gastgeberin und drei Kindern aus einer Triqui-Familie. Sie verbringen nun regelmäßig Nachmittage zusammen – im Camp oder bei ihr mit ihren Kaninchen – und lernen voneinander Englisch und Spanisch. Seit diese Frau die Kinder kennengelernt hat, bemüht sie sich engagiert darum, die Verschmutzung des Bachs zu beenden, der durch das Arbeitscamp fließt und in dem die Kinder an heißen Sommertagen spielen. Sie wurde bei den Ranch-Betreibern so berüchtigt, dass sie schon Drohungen erhielt. Zudem schrieb sie für die Lokalzeitung. Manche Artikel waren einfach lustige, menschliche Geschichten über das Gärtnern oder über lokale Tiere. Nachdem jedoch einer ihrer Artikel den Gebrauch der sprachlichen Wendung »illegal aliens [illegale Ausländer·innen]« hinterfragte, gab es reihenweise Beschwerden von anderen Anwohner·innen und sie wurde gekündigt. Als ich mich in der Redaktion bezüglich ihrer Entlassung infolge ihrer gut geschriebenen Kritik über die problematische Bezeichnung erkundigte, wurde mir mitgeteilt, dass ihre Kündigung nichts mit diesem Text und den Reaktionen darauf zu tun gehabt hätte, sondern »wir gern ab und zu die Kolumnenautor·innen wechseln, um gerecht zu sein.« Diese Frau begann dann, ihren eigenen Blog zu schreiben, auf dem sie zweifelhafte Angelegenheiten in der Gegend öffentlich macht und angreift. Auf diese Weise haben menschliche Beziehungen und Verbindungen zu lokalen Formen der Solidarität geführt, die über das Pragmatische hinausgehen und Machtstrukturen sowie Repräsentationen herausfordern, die den migrantischen Landarbeiter·innen schaden.
Kritische Öffentliche Gesundheit und Befreiungsmedizin In Kapitel 4 habe ich die Leiden von Triqui-Wanderarbeiter·innen und die gesundheitlichen Ungleichheiten im Zusammenhang mit institutionellem Rassismus und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit erkundet. Kapitel 5 bespricht die Medikalisierung der kombinierten Unterdrückung, gesellschaftlich beding-
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ter Arbeitsverletzungen und politischer Folter. Mit »Medikalisierung« meine ich, dass etwas als primär oder ausschließlich medizinisch definiert wird und dabei seines politischen, gesellschaftlichen, historischen und ökonomischen Kontextes beraubt wird.22 Indem Leid auf seine biomedizinischen und verhaltensbezogenen Aspekte reduziert wird, verleugnen medizinische Fachpersonen die Kräfte, die es verursachen. Sie verlieren so die Gelegenheit, wirksam dagegen vorzugehen. Aufgrund der Linsen, durch die Gesundheitsfachkräfte ihre Patient·innen zu sehen ausgebildet sind, können sie nicht mit den Leidtragenden zusammenarbeiten, um durch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen Krankheiten zu verhindern. Diese medizinischen Fachkräfte definieren ihre eigene Rolle in der Gesundheitsversorgung unabsichtlich sehr eng und reduktionistisch. Scheper-Hughes schreibt: »Die Medizin ist unter anderem eine technische Praxis zur ›Rationalisierung‹ menschlichen Elends und dafür, es sicher zu bewahren, es ›an seinem Platz‹ zu halten und so sein Potenzial zu beschneiden, eine aktive Kritik zu erzeugen.«23 In einem anderen Text thematisiert Scheper-Hughes jedoch das, was sie als »rebellischen Körper« bezeichnet. Sie deutet damit an, wie der Körper Kritik an »gesellschaftlichen Erkrankungen« liefert und sich dabei der Hierarchie widersetzt, wenn kein anderer Ausweg verfügbar ist.24 Ausdrücklicher schreibt sie, dass Krankheit »die Elemente enthalten kann, die für Kritik und Befreiung notwendig sind.«25 Wie könnte die medizinische Praxis sich verändern, wenn Kliniker·innen für die gesellschaftliche Kritik aufgeschlossen wären, die uns die leidenden Körper in unseren Behandlungsräumen aufzeigen? Wie verhindern Fachkräfte in der Öffentlichen Gesundheit die wirksame Behandlung von Gesundheitsproblemen, indem sie sie ohne ihren Kontext bestimmen und bloß ein Pflaster darauf kleben oder sie gar verschlimmern? Wie könnte die Rolle von medizinischen Fachkräften sein, wenn wir unsere Aufgabe ernst nähmen, Leiden zu lindern und zu verhindern – und dabei auch die strukturellen Kräfte berücksichtigten, die diesem Leiden erzeugend zugrunde liegen? Wenn medizinische Fachkräfte auf Krankheiten reagierten, indem sie nicht nur deren akute Erscheinungsform behandelten, sondern auch ihre
22 23 24 25
Vgl. Illich 1976; Kaw 1993; Martin 1992; Scheper-Hughes 1990. Scheper-Hughes 1994. Scheper-Hughes 1990. Scheper-Hughes 1992.
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gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen; dann könnten wir eine wirklichkeitsnahe und kritische Öffentliche Gesundheit sowie eine »Befreiungsmedizin« schaffen.26 Dieser letztere Begriff ist an eine Befreiungstheologie angelehnt, in der eine reflexive Auseinandersetzung mit verarmten und leidenden Menschen zu neuen Wegen führt, Theologie zu denken und sie für gesellschaftliche Gerechtigkeit einzusetzen. Während es tatsächlich auch Bedarf nach den Fähigkeiten von »engspurig« ausgebildeten und kompetenten biomedizinischen Ärzt·innen gibt, bin ich davon überzeugt, dass dies nicht ausreicht. Wie die Erfahrungen von Abelino, Crescencio und Bernardo mit dieser Art der Gesundheitsversorgung zeigen, sind medizinische Fähigkeiten, die ohne Berücksichtigung der krankheitsverursachenden gesellschaftlichen Strukturen praktiziert werden, dazu verdammt, nur die daraus folgenden biologischen und verhaltensbezogenen Faktoren einer Krankheit zu behandeln. Das führt im besten Fall zu einer unwirksamen Gesundheitsversorgung und im schlechtesten zu einer Gesundheitsversorgung, die die gesellschaftlichen Ursachen verstärkt und den Patient·innen schadet. Diese Überzeugung, dass Ärzt·innen dazu ermutigt werden müssen, die Ursachen der Leiden ihrer Patient·innen anzuerkennen und einzubeziehen, ist keineswegs unrealistisch. Vielmehr entspricht sie eindeutig dem Modell der biopsychosozialen Gesundheit, dem sich medizinische Hochschulen weltweit verschrieben haben. In der gegenwärtigen Version dieses Modells im Studium der Medizin und Öffentlichen Gesundheit bekommt das Biologische den Großteil der Aufmerksamkeit, während das Psychologische auf verhaltensbezogene Risikofaktoren beschränkt wird und nur einen Bruchteil der Zeit einnimmt sowie das Gesellschaftliche auf Beziehungen begrenzt und nur nebenbei erwähnt wird. Eine strukturelle Gesellschaftsanalyse in das Studium der Medizin und der Öffentlichen Gesundheit einzufügen, würde es in Richtung einer realistischeren und ausgewogeneren Version des biopsychosozialen Modells bewegen, das in der gegenwärtigen Ausbildung medizinischer Fachkräfte bereits ausdrücklich Grundlage sein sollte. Vor allem würde es künftige Ärzt·innen und Expert·innen der Öffentlichen Gesundheit mit den Linsen ausstatten, die Gesellschaftskritik, die sich in Krankheiten und ihren Verteilungen zeigt, erkennen. Mit einem Bewusstsein über den strukturell gewaltvollen gesellschaftlichen Kontext von Krankheit könnten medizinische Fachkräfte Leiden wirksamer anerkennen, behandeln und ihnen vorbeugen. 26
Vgl. Scheper-Hughes 1992; Smith und Hilsbos 1999.
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Zugleich braucht das Gesundheitssystem in den USA dringend eine ökonomische Umstrukturierung. Im Moment können wohlhabende Menschen, die keine Vorerkrankungen haben, sich eine hochwertige Gesundheitsversorgung leisten, während verarmte und kranke Menschen darauf angewiesen sind, zu hoffen und darum zu verhandeln, dass es in ihrer Gegend irgendeine Absicherung der Gesundheitsversorgung gibt. Die neoliberale Form des Kapitalismus‹, die die Gesundheitsversorgung in den USA strukturiert, hat dazu geführt, dass jene mit der stärksten Krankheitsbelastung zugleich jene sind, die den geringsten Zugang zu Versorgung haben. Wie viele Wissenschaftler·innen der Öffentlichen Gesundheit und medizinischen Sozialwissenschaften gezeigt haben, funktioniert dieses System nicht. Die USA geben für Gesundheitsversorgung mehr Geld pro Kopf aus als jedes andere postindustrielle Land und haben trotzdem die schlechtesten Ergebnisse. Es ist an der Zeit, aus unseren Fehlern zu lernen und uns für ein Gesundheitssystem für alle einzusetzen, das auf gleichem Zugang zu guter Patient·innenversorgung anstatt auf Unternehmensprofiten beruht. Eine vielversprechende Struktur der Gesundheitsversorgung mit diesen Zielen ist die sogenannte »Bürgerversicherung«, die in großen Teilen Europas erfolgreich umgesetzt wird. Der Affordable Care Act, der während Barack Obamas erster Amtszeit als Präsident so umstritten war, ist ein vielversprechender und wichtiger Schritt in die richtige Richtung – auch wenn das Gesetz noch Formen der Ungleichheit offen lässt, wie den Ausschluss der meisten immigrierten und migrierenden Menschen. Neben der wirksameren Behandlung einzelner Patient·innen können wir auch beginnen, eine kritische Öffentliche Gesundheit und Befreiungsmedizin zu praktizieren, indem wir uns an der Seite unserer Patient·innen für positiven gesellschaftlichen Wandel einsetzen. Rudolf Virchow, ein deutscher Arzt und Pathologe aus dem 19. Jahrhundert, wird als Begründer der Sozialmedizin erachtet. Er war davon überzeugt, dass die Berufung von Mediziner·innen und Pfleger·innen, mit den Leidenden zu arbeiten, auch ein Streben nach gesünderen Formen von Gesellschaft umfassen muss. Er schrieb: »Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.«27 Als Werkzeug, um gesellschaftliche Analysen in die Klinik einzubringen, haben Quesada, Bourgois und Hart eine Skala der »strukturellen Verletzbarkeit« vorgeschlagen. Sie könnte im routinemäßigen Patient·innengespräch und Aufnahmeprozess in Krankenhäusern angewendet, aber auch leicht auf die Praxis der Öffentlichen Gesundheit 27
Virchow, zitiert in Michel 2003 via Goschler 2002.
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ausgedehnt werden.28 Wenn wir den gesellschaftlichen Kontext von (körperlichen) Leiden anerkennen, können wir anfangen, uns gemeinsam mit den Erkrankten Lösungen vorzustellen, und uns über eine bloße pragmatische Variante der Solidarität hinausbewegen – um uns so für positive und nachhaltige Demokratie, Gleichheit und Gesundheit einzusetzen. Wie ich bereits besprochen habe, gibt es in der Forschung zur Gesundheitsversorgung für Migrant·innen häufig starke Vorannahmen zu »kultureller Anpassung« und »Assimilation«. Viele Wissenschaftler·innen wenden in diesem Rahmen statistische Skalen an – die manchmal auf so wenig beruhen, wie der Sprache, die eine Person zu Hause spricht – und vergleichen diese Skalen dann mit anderen Gesundheitsergebnissen. Viele Autor·innen machen für die schlechten Gesundheitsergebnisse einzelner Bevölkerungsgruppen einen Mangel an kultureller Anpassung und Assimilation der Menschen selbst verantwortlich. Dabei sprechen sie statt von »Kultur« von kaum definierten Konstrukten wie »Religiosität« oder »Machismus«. Andere schieben die Schuld auf eine zu starke kulturelle Anpassung und Assimilation, die sich in Aspekten wie etwa einer in den USA schlechter werdenden Ernährung ausdrücken. Unabhängig von den Besonderheiten der jeweiligen Forschung umfassen diese Rahmenvorstellungen beunruhigende Vorannahmen: Menschen würden sich in nur einer Richtung bewegen, von einer »traditionellen« Kultur in eine Kultur der vermeintlich modernen undunmarkiert weißen US-amerikanischen Mittelschicht.29 Die Forschung muss über solch unpolitische Analysen von Gesundheit hinausgehen, die nur auf dem individuellen oder kulturellen Verhalten beruhen, und stattdessen damit beginnen, die ungleichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen zu erkennen und aufzuzeigen, die schlechte Gesundheitsergebnisse überhaupt erst hervorbringen.
Gesellschaftliche und globale Solidarität In der US-amerikanischen Gesellschaft als Ganzer gibt es Möglichkeiten der Solidarität: Wir können fördern, dass Farmen Arbeiter·innen gerecht behandeln und unsere Kaufentscheidungen daran orientieren. Wir können uns gegenüber der Regierung dafür einsetzen, dass sich Einwanderungsgesetze so28 29
Vgl. Quesada, Bourgois und Hart 2011. Vgl. Hunt 2004; Gutmann 1999.
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wie die Regeln und Praktiken an den Grenzen verändern. Wir können erfahrungsgeleitete Bildungsprogramme entwickeln, die gegen den Ausschluss jener wirken, die als anders erachtet werden. Wir können das Bildungs- und das Gesundheitswesen umstrukturieren, so dass sie für alle zugänglich werden. Ich hoffe, dass die Feldnotizen in Kapitel 1 nicht nur die tödliche Gefahr und die Angst zum Ausdruck gebracht haben, die mit der Erfahrung der Grenzüberquerung einhergehen, sondern auch die schlimme Lebenslage, die diese Reise für viele Menschen notwendig macht. Die Ethnografie zeigt, dass das »Schließen der Grenze« die Menschen wohl nicht davon abhalten wird, Möglichkeiten zu finden, wie sie und ihre Familien überleben können. Stattdessen sollte unser Fokus sich den Gesellschafts- und Wirtschaftspolitiken zuwenden, die Menschen überhaupt dazu zwingen, auf diese Weise ihr Leben zu riskieren. Die Domestic Fair Trade Working Group hat versucht, in den USA ein Zertifikat für Fairen Handel zu etablieren, wie es bereits in Europa existiert. Die United Farm Workers und die Piñeros y Campesinos Unidos organisieren Arbeiter·innen für den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und Respekt. Unterstützer·innen des Dream Act fordern den gleichen Zugang zu Bildung für alle in den USA, einschließlich immigrierter Menschen. Förder·innen von Bildung in Kalifornien und in anderen Bundesstaaten wollen, dass die öffentliche Bildung – von der Grundschule bis zur Universität – wieder (staatlich) finanziert wird. Ärzt·innen-Organisationen wie die Physicians for a National Health Plan, die National Physicians Alliance und andere unterstützen eine Krankenversicherung und Gesundheitsversorgung für alle. In Arizona wollen Organisationen wie No More Deaths, die Samariter, Healing Our Borders, Borderlinks, Border Action Network und Humane Borders den Tod von Migrant·innen an der Grenze beenden, indem sie medizinische Versorgung für Migrant·innen in Not anbieten, in besonders gefährlichen Gegenden Wasserkanister aufstellen und in Seminaren das Bewusstsein für die Problematik der Grenze weitergeben. Andere Organisationen wie Community to Community und Skagitonians to Preserve Farmland arbeiten am nachbarschaftlichen Austausch und Bewusstsein über die Bedeutung der zukünftigen Landwirtschaft in den USA. Im Skagit Valley bieten das People’s Seminary und Tierra Nueva Seminare an, in denen Bewohner·innen der Gegend von Farmbesitzer·innen, Pflücker·innen und Grenzschutzbeamt·innen informiert werden, um eine realistischere Wahrnehmung von mexikanischer Migration und Landarbeit in den USA zu bekommen. Die US-amerikanische Gesellschaft verdient viel an den Wanderarbeiter·innen und gibt wenig zurück – außer Kriminalisierung, Überlastung
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und Verletzungen.30 Diese unehrliche Beziehung muss sich verändern. Wie ich in Kapitel 6 kurz anspreche, sagten mir die Triqui, die ich kennenlernte, immer wieder, dass der Erhalt eines legalen, temporären Aufenthaltsund Arbeitsrechts ihre wichtigste Hoffnung sei. Sie erklärten, dass sie ihr Zuhause in Oaxaca behalten und in den USA immer nur für eine Saison arbeiten wollten. Ironischerweise führten die politischen Maßnahmen der US-Regierung seit 9/11, die Grenzüberquerung noch gefährlicher zu machen, nur dazu, dass sich noch mehr migrantische Arbeiter·innen für mehrere Jahre in den USA aufhalten, bevor sie wieder nach Hause fahren – anstatt nur für die Erntesaison zu bleiben. Meine Triqui-Gefährt·innen wünschen sich ein gerechtes Saisonarbeitssystem, das nicht die Machtungleichheit zwischen Arbeitgeber·innen und Arbeitnehmer·innen verstärkt – so wie es jedes Vorhaben, in dem eine Aufenthaltserlaubnis nur an einen einzigen Arbeitsvertrag geknüpft ist, wohl tun würde. Die meisten mir bekannten Triqui würden einen Aufenthaltstitel oder eine temporäre Arbeitserlaubnis in den USA bevorzugen und ihre mexikanische Staatsbürgerschaft und ihre Häuser mit ihrer erweiterten Familie in Oaxaca behalten. Zugleich ist ein gangbarer Weg zur Staatsangehörigkeit – wie er in Barack Obamas vorgeschlagener Einwanderungsreform enthalten war – eine wichtige Option für viele Einwander·innen. Dies erscheint auch nur gerecht in einem Land, in dem alle anderen immigrierten Gruppen durch die Geschichte hinweg – einschließlich der europäischen Siedler·innen und Invasoren samt ihrer Nachkommen – diese Möglichkeit erhalten haben. Global und vielleicht am dringendsten brauchen wir breite Bündnisse, um eine gerechtere internationale Wirtschaft vorstellbar zu machen und in ihre Richtung zu arbeiten. Menschen dürfen gar nicht erst dazu gezwungen sein, ihr Zuhause zu verlassen und zu migrieren.31 Hierum bemühen sich etwa die Kampagnen von Global Exchange und anderen Organisationen, die gegen das Central American Free Trade Agreement (CAFTA) kämpfen; Aktivist·innen, die internationale Wirtschaftsinstitutionen wie die Welthandelsorganisation und den Internationalen Währungsfonds untergraben und reformieren wollen; sowie unzählige Bewegungen, die lokale und unabhängige Erzeuger·innen gegenüber multinationalen Unternehmen unterstützen. Die Stärkung von lokalen Erzeuger·innen – erst recht von solchen, die ökologisch, nachhaltig, nicht gentechnisch verändert, mit fairen Löhnen und ohne Ausbeutung produzieren – 30 31
Vgl. Burawoy 1976; Rothenberg 1998; Arizona Daily Star 2005. Vgl. Bacon 2013.
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ist besonders wichtig im Bereich der Landwirtschaft und der Herstellung unserer aller Nahrungsmittel. Damit internationale Gleichheit entstehen kann, müssen wir die versteckten Wirkweisen der Hegemonie aufdecken, so dass die Menschen und Unternehmen an der Macht ihre Eigeninteressen nicht mehr ungerecht durchsetzen können. Breite Bündnisse müssen sich aktiv dem »Stellungskrieg« widmen: nicht nur mit Worten und Repräsentationen, sondern auch durch konkretes rechtliches, politisches, zivilgesellschaftliches und wirtschaftliches Handeln. All diese Mittel sind nötig, um das gesellschaftlich bedingte Leid zu lindern, seiner Naturalisierung entgegenzutreten und Gesundheit, Gleichheit und wahre Demokratie zu fördern. Mit einem solch facettenreichen Ansatz können wir uns auf eine Zukunft hinbewegen, in der auch die Triqui Zugang zu menschenwürdigen und gesunden Lebens- und Arbeitsbedingungen haben – eine Zukunft, in der sie nicht länger eine tödliche Grenze überqueren und kaputte Körper ertragen müssen, um uns mit frischen Früchten zu versorgen.
Nachwort: Über ethnografisches Schreiben und Kontextwissen oder: Warum dieses Buch keinen Methodenteil hat
Da ich mich zugleich in der Anthropologie und den Gesundheitswissenschaften bewege, übersetze ich häufig zwischen diesen beiden Welten. Ich schreibe in beiden Sprachen, je nachdem, wen ich ansprechen möchte. Manchmal führt diese Übersetzung zu neuen Einsichten und Theorien, manchmal zu einem Verlust an Nuancen und Genauigkeit. Oft werde ich von Forscher·innen der Öffentlichen Gesundheit und Medizin in verschiedenen Formulierungen Folgendes gefragt: Wie können wir die Anthropologie evaluieren? Wie wissen wir, ob sie wissenschaftlich ist? Wie wissen wir, ob sie verlässlich, reproduzierbar und gültig ist? Ich antworte üblicherweise etwa so: »Lies erst einmal die Ethnografie und überlege dir dann, ob die Analyse sinnvoll ist oder nicht.« Leuten aus der Anthropologie mag das schlicht erscheinen. Wissenschaftler·innen der Gesundheitswissenschaften sind hingegen geübt darin, akademische Wissensproduktion in einer bestimmten vorgeschriebenen Form aufzunehmen. In den Gesundheitswissenschaften lernen wir, ein Hintergrundkapitel über die Relevanz der Forschungsfrage zu erwarten; einen Methodenteil, der zusammenfasst, wie die untersuchende Person sich dem Forschungsgegenstand genähert und wie sie Daten gesammelt und analysiert hat; einen Ergebnisteil, in dem die bedeutenden Daten und Messgrößen dargestellt werden; und einen Schlussteil oder ein Diskussionskapitel, in dem die Autor·in die Ergebnisse interpretiert und theoretisiert. Diese Standardisierung der Struktur bietet gewisse Vorteile: Gewünschte Informationen lassen sich schnell finden; es ist einfach, zwischen verschiedenen Texten und Autor·innen zu vergleichen; es ist möglich, die Informationen effizient zusammenzufassen, wenn sie in der erwarteten Form vorliegen. Jedoch hat
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diese Standardisierung der Literatur auch Nachteile: Der Stil der Darstellung kann nicht flexibel an das Thema und Argument angepasst werden; der gesamte Erzählfluss, der das Interesse der Lesenden halten kann, ist beschränkt; und – vielleicht am wichtigsten – die Subjektivität und Persönlichkeit der schreibenden Person in der Präsentation, Gestaltung und Interpretation der Forschung werden getilgt. Dieser letzte Nachteil bringt die problematische Implikation mit sich, dass die Ergebnisse und Analyse als kontextlos und universell erscheinen. In der medizinischen Anthropologie und Kulturanthropologie im Allgemeinen wird unser Schreiben vornehmlich für die Stärke unserer theoretischen Analyse und die Tiefe unserer Ethnografie bewertet. Die meisten Anthropolog·innen zählen ihre Methoden nicht in einem eigenen Kapitel auf, sondern schreiben so, dass die Umstände, unter denen wir zu unseren Beobachtungen kommen, Teil unserer Erzählung sind. Das langzeitige Eintauchen in die ethnografische Feldforschung hilft auch dabei, vorherige Vorstellungen und Vorannahmen aufzulösen und der Ethnograf·in selbst sowie den Lesenden neue analytische und theoretische Möglichkeiten zu eröffnen. Die gleichzeitige Darstellung von Ethnograf·in und beobachteten »Anderen« im Schreiben vermittelt den Lesenden in einer klaren Sprache nicht nur unsere Methoden, sondern auch unsere eigene gesellschaftliche Position. Wir beschreiben deutlich und reflexiv, in welchen sozialen Kategorien wir uns als Anthropolog·in bewegen und wie sie sowohl unsere Wahrnehmung als auch die Reaktionen anderer Forschungssubjekte auf uns und unsere Fragen prägen. Dadurch können die Lesenden ihre eigenen informierten Interpretationen und Analysen anstellen. Ähnlich zu der verwobenen Darstellung unserer Methoden, werden auch anthropologische Schlussfolgerungen nicht in Abschnitte verpackt, die von den ethnografischen Skizzen getrennt sind. Stattdessen werden die Analysen und Theoretisierungen häufig auf eine Weise in der ganzen Ethnografie eingewoben, dass eine direktere und nahtlose Interpretation der ethnografischen Skizzen möglich wird. Diese Darstellungsweise, in der die ethnografischen Skizzen mit den Umständen ihrer Beobachtungen und den theoretischen Analysen dieser Skizzen verknüpft werden, ermöglicht nicht nur einen erzählerischen Fluss. Sie lädt die Lesenden auch dazu ein, aktiv und kritisch den gesamten Kontext der Ethnografie, ihrer Darstellung und Interpretation einzuschätzen. Diese Art zu schreiben erinnert daran, dass die Forschung von einem bestimmten menschlichen Subjekt (oder mehreren Subjekten) in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten durchgeführt wurde. Diese Struktur lädt also die Lesenden
Nachwort
dazu ein, aktiv an der Interpretation – nicht nur der Ethnografie, sondern auch der Interpretation durch die Autor·in selbst – teilzuhaben. So werden die Lesenden daran erinnert (manchmal ungeachtet der Autor·in), dass Position, Perspektive und Kontext immer an der Produktion von Wissen beteiligt sind. Dieses Buch hat also absichtlich keinen Methodenteil.1 (Vgl. Holmes 2006 für meine Versuche, anthropologische Methoden für ein gesundheitswissenschaftliches Publikum zu übersetzen.) Stattdessen habe ich meine eigene gesellschaftliche Verortung sowie den Kontext und die Methoden meiner Beobachtungen und Analysen in die Ethnografie eingewoben. Ich hoffe, dass diese Art des ethnografischen Schreibens die Lesenden ganzer und aktiver in die Erzählung und ihre Analyse einlädt.
1
Für meine Versuche, anthropologische Methoden für ein gesundheitswissenschaftliches Publikum zu übersetzen: vgl. Holmes 2006.
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Bibliographie
Bibliographie der englischen Originalausgabe Althusser, Louis. 1982. Montesquieu, Rousseau, Marx: Politics and History. Trans. Ben Brewster. London: Verso. Amnesty International. 1986. Human Rights in Rural Areas: Exchange of Documents with the Mexican Government on Human Rights Violations in Oaxaca and Chiapas. London: Amnesty International. Arizona Daily Star. 2005. “3 Entrants’ Bodies Found on Reservation; Toll at 178.” July 20. Bacon, David. 2004. “NAFTA’s Legacy: Profits and Poverty.” San Francisco Chronicle. January 14. ———. 2013. “Let’s Stop Making Migration a Crime.” Truthout. February 15. http://truth-out.org/opinion/item/14569-lets-stop-making-migration -a-crime Bade, Bonnie. 1999. “Is There a Doctor in the Field?” Underlying Conditions Affecting Access to Health Care for California Farmworkers and Their Families. CPRC Report. [Berkeley]: California Policy Research Center, University of California. ———. 2004. “Alive and Well: Generating Alternatives to Biomedical Health Care by Mixtec Migrant Families in California.” In Indigenous Mexican Migrants in the United States, ed. Jonathan Fox and Gaspar Rivera-Salgado, 205–48. La Jolla: Center for U.S.-Mexican Studies/Center for Comparative Immigration Studies, University of California, San Diego. Bandura, Albert. 1997. Self-Efficacy: The Exercise of Control. New York: W. H. Freeman. Basaglia, Franco. 1987. Psychiatry Inside Out: Selected Writings of Franco Basaglia. Ed. Nancy Scheper-Hughes and Anne M. Lovell. New York: Columbia University Press. Beck, Ulrich. 2009. World at Risk. Cambridge: Polity Press.
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Werke, die zusätzlich für die deutsche Ausgabe verwendet wurden Bourdieu, Pierre: Meditationen – Zur Kritik der scholastischen Vernunft, übersetzt von Achim Russer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 [1997]. Bourdieu, Pierre. 2005/1998. Die männliche Herrschaft, übersetzt von Jürgen Bolder, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005 [1998]. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996 [1992]. Butler, Judith: Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M.: Campus 2010/2009. Engels, Friedrich: 1845. Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig: Otto Wigand 1845. http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10 860515-4 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, aus dem Französischen übersetzt von Traugott König, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 [1961]. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1-4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983-2019 [1976-2018]. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016 [1963] [Erste deutschsprachige Ausgabe: München: Hanser 1973]. Hall, Stuart: »Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von ›Rasse‹ und Ethnizität«, in ders.: Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1, übersetzt aus dem Englischen von Wieland Elfferding, Birgit Ermlich, Gabriela Mischkowski, Gottfried Polage, Nora Räthzel und Thomas Weber, Hamburg: Argument-Verlag 1989 [1986]. Hall, Stuart: »Kulturelle Identität und Diaspora«, in ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, übersetzt aus dem Englischen von Ulrich Mehlem, Dorothee Bohle, Joachim Gutsche, Matthias Oberg und Dominik Schrage, Hamburg: Argument-Verlag 1994 [1990]. Goschler, Constantin: Rudolf Virchow – Mediziner, Anthropologe, Politiker, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2002. Biografie besprochen und zitiert von Michel, Kai: »Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 76 (2003), S. 41. https://www.faz.net/akt uell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/politik-ist-weiter-nichtsals-medizin-im-grossen-193736.html
Bibliographie
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, 10 Bände, Hamburg: Argument-Verlag 1991 [192935]. Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, übersetzt aus dem Italienischen von Moshe Kahn, München/Wien: Carl Hanser 2015 [1988]. Levinas, Emmanuel: 1995/1993. Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übersetzt aus dem Französischen von Frank Miething, München/Wien: Carl Hanser 1995 [1993]. Marx, Karl: Das Kapital. Band I, in: Marx, Karl und Friedrich Engels: MEW 23. Berlin: Dietz 1962 [1867]. www.mlwerke.de/me/me23/me23_000.htm Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt aus dem Französischen von Rudolf Boehm, Berlin: de Gruyter 1966 [1945]. Orwell, George: Der Weg nach Wigan Pier, übersetzt aus dem Englischen von Manfred Papst, Zürich: Diogenes 1982 [1937]. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, übersetzt aus dem Französischen von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek: rororo 2008[1943]. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory – Grundlagen qualitativer Sozialforschung, übersetzt aus dem Englischen von Solveigh Niewiarra und Heiner Legewie, Weinheim: Beltz 1996 [1990].
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Social Sciences Dean Caivano, Sarah Naumes
The Sublime of the Political Narrative and Autoethnography as Theory July 2021, 162 p., hardcover 100,00 € (DE), 978-3-8376-4772-3 E-Book: PDF: 99,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4772-7
Friederike Landau, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm (eds.)
[Un]Grounding Post-Foundational Geographies May 2021, 348 p., pb., col. ill. 50,00 € (DE), 978-3-8376-5073-0 E-Book: PDF: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5073-4
Andreas de Bruin
Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5
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