Friedrich Schleiermacher in Halle 1804-1807 9783110285475, 9783110283273

It was in Halle, Germany, that Schleiermacher laid the groundwork for his theological and philosophical system, which wa

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German Pages 155 [156] Year 2013

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Table of contents :
Zur Einführung
Schleiermachers Briefwechsel 1806–1807 – Eindrücke einer faszinierenden Lektüre
Schleiermacher als christlicher Theologe. Die Bedeutung der Hallenser Professur
„… mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen“. Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit
Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen
interpretari necesse est. Über die Wurzeln von Schleiermachers „Hermeneutik und Kritik“
Die anfängliche Ausbildung des Kulturbegriffs in Schleiermachers Hallenser Ethik
Analogie versus Wechselwirkung – Zur „Symphilosophie“ zwischen Schleiermacher und Steffens
„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“ Politik, Krieg und Zeitdeutung in Schleiermachers Hallenser Briefwechsel
Die Harzreise (1806)
Siglen
Archivalien
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Personenregister
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Friedrich Schleiermacher in Halle 1804-1807
 9783110285475, 9783110283273

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Andreas Arndt (Hrsg.) Friedrich Schleiermacher in Halle –

Friedrich Schleiermacher in Halle –

Herausgegeben von Andreas Arndt

DE GRUYTER

Der Band wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademieprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung des Landes Berlin erarbeitet.

ISBN ---- e-ISBN ---- Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Andreas Arndt Zur Einführung

1

Notger Slenczka Schleiermachers Briefwechsel 1806 – 1807 – Eindrücke einer faszinierenden 9 Lektüre Eilert Herms Schleiermacher als christlicher Theologe. Die Bedeutung der Hallenser 17 Professur Hermann Patsch „… mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen“. 31 Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit Andreas Arndt Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser 55 Vorlesungen Wolfgang Virmond interpretari necesse est. Über die Wurzeln von Schleiermachers „Hermeneutik 67 und Kritik“ Wilhelm Gräb Die anfängliche Ausbildung des Kulturbegriffs in Schleiermachers 77 Hallenser Ethik Sarah Schmidt Analogie versus Wechselwirkung – Zur „Symphilosophie“ zwischen 91 Schleiermacher und Steffens Simon Gerber „… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“ Politik, Krieg und 115 Zeitdeutung in Schleiermachers Hallenser Briefwechsel Simon Gerber Die Harzreise (1806)

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Inhalt

Siglen Archivalien

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Personenregister

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Andreas Arndt

Zur Einführung Ende 2011 wurde das Akademienvorhaben „Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften planmäßig beendet; als letzter Band im Rahmen dieses Vorhabens erschien Schleiermachers Briefwechsel von 1806 bis 1807. Damit ist Schleiermachers Wirken als Professor der Theologie und Philosophie an der Hallenser Universität im Briefwechsel vollständig dokumentiert. Aus diesem Anlass veranstaltete das Vorhaben am 16. Dezember ein Symposion, auf dem der neue Briefband vorgestellt und auf der Grundlage der neu erschlossenen Quellen eine erste Bilanz der intellektuellen Entwicklung Schleiermachers in Halle gezogen werden sollte. Während seiner Wirksamkeit als Professor in Halle hat Schleiermacher den Grund zu seinem theologischen und philosophischen System gelegt. Seine Lehrtätigkeit fand im Herbst 1806 mit der Schließung der Universität durch Napoleon ein jähes Ende, wodurch Schleiermacher nachhaltig politisiert und zum glühenden preußischen Patrioten wurde. Diese werkgeschichtlich und biographisch wichtige Periode ist bisher nicht ihrer Bedeutung entsprechend ins Blickfeld der Forschung gerückt; eine zusammenfassende Darstellung ist Desiderat. Wilhelm Dilthey hat die Hallenser Zeit im Rahmen seiner groß angelegte Biographie nicht abschließend bearbeitet¹ und spätere Darstellungen haben seither kaum neue Quellen erschlossen.² Notger Slenczka berichtet zum Auftakt über seine Lektüre des im Rahmen der V. Abteilung der KGA zuletzt erschienen Bandes, der den Briefwechsel der bewegten Jahre 1806 bis 1807 umfasst. Er macht nicht nur die Vielschichtigkeit des Briefwechsels sichtbar, sondern zeigt vor allem auch, wie angesichts der politischen und militärischen Katastrophe Preußens Diskurse initiiert werden, in denen mit Hilfe des vorhandenen geschichtsphilosophischen Instrumentariums, namentlich Herders, neue Standortbestimmungen versucht werden; hierfür stehen exemplarisch die Briefe Karl Georg von Raumers an Schleiermacher. Schleiermacher wurde als Professor der Theologie, Philosophie und als Universitätsprediger nach Halle berufen. Dass Schleiermacher sich als Prediger und als Philosoph schon längst einen Namen gemacht hatte, bedarf kaum einer Erläuterung; schwieriger ist die Frage zu beantworten, was Schleiermacher für eine theologische Professur qualifizierte und auf welcher Grundlage er zum Beginn des Wintersemesters 1804/05 damit beginnen konnte, Dogmatik und theo-

 Vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, 2 Bde., hg.v. M. Redeker, Berlin 1966.  Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher, Göttingen 2001, 147– 186.

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logische Enzyklopädie zu lesen. Der vorangegangene, von Schleiermacher abgelehnte Ruf nach Würzburg (11. Februar 1804) bezog sich auf eine Professur für theologische Sittenlehre und praktische Theologie,³ wofür Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre ⁴ und seine anonym publizierte Schrift Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat ⁵ einschlägig waren. Die folgenden Beiträge von Eilert Herms und Hermann Patsch versuchen erstmals, eine Antwort darauf zu geben, auf welcher Grundlage Schleiermacher seine theologische Lehrtätigkeit in Halle aufnehmen und in kurzer Zeit sein eigenes theologisches System profilieren konnte, wobei überraschende Kontinuitäten zu der frühromantischen Periode Schleiermachers zutage treten. Eine vergleichbare Frage wie im Blick auf die Theologie stellt sich auch hinsichtlich der Hermeneutik, die Schleiermacher erstmals im Sommer 1805 gelesen hat. Auch hierfür schien er, wie es zudem auch durch seine brieflichen Auskunftsersuchen an seinen Freund Gaß nahegelegt wird, kaum vorbereitet zu sein. Wolfgang Virmond, der inzwischen in Zusammenarbeit mit Hermann Patsch die Edition der Hermeneutik im Rahmen der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe vorgelegt hat,⁶ geht dieser Frage in seinem Beitrag nach und kommt zu dem Ergebnis, dass Schleiermacher vor allem durch seine philologische Praxis im Zusammenhang mit der Platon-Übersetzung über das hermeneutische Instrumentarium verfügte, auch wenn er theoretisch Nachholbedarf hatte. Vergleichsweise besser erforscht ist Schleiermachers philosophische Entwicklung, weil hier immer ein Brückenschlag von den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre zu der Berliner Systemkonzeption seit der ersten DialektikVorlesung 1811 möglich schien. Dass Schleiermacher in seinen Berliner Vorlesungen zur philosophischen Ethik, die er 1808, noch vor der Gründung der Universität hielt, eine von der Dialektik, aber auch von den Grundlinien deutlich abweichende Wissenschaftskonzeption vertrat, habe ich bereits vor fast 30 Jahren anhand einer bis dahin unbekannten Vorlesungsnachschrift Karl August Varnhagen von Enses zeigen können.⁷ Inzwischen bearbeitete Nachschriften zu den Hallenser Ethik-Vorlesungen 1805/06, deren Gehalt weit über Schleiermachers

 Vgl. KGA V/7, XX.  Berlin 1803 (KGA I/4, 27– 357).  Berlin 1804 (KGA I/4, 359 – 460); die Gutachten erschienen im Januar 1804; Schleiermacher war sehr schnell als Autor bekannt (vgl. KGA I/4, LXXVIIIf.).  KGA II/4.  Andreas Arndt, „Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme“, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 103 – 121.

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eigenhändiges Brouillon zur Ethik 1805/06⁸ hinausgeht, bestätigen diesen Befund; hierüber handelt mein Beitrag, der sich auf bisher unveröffentlichte Nachschriften zur philosophischen Ethik stützt. Darüber hinaus tritt hier auch Schleiermachers Ablehnung der Grundsatzphilosophie Reinhold-Fichtescher Prägung in deutlichen Formulierungen hervor, die sich sonst so nicht finden. Auch Wilhelm Gräb wertet diese Nachschriften aus, wobei er zeigen kann, dass Schleiermacher 1805/06 in offenkundiger Anlehnung an Herder mit einem sehr weitreichenden Kulturbegriff arbeitet, der letztlich das höchste Gut selbst bezeichnet. Auch dies ging so aus Schleiermachers eigenhändigen Aufzeichnungen nicht hervor. Wohl um Missverständnisse aufgrund der zu seiner Zeit gebräuchlichen, weniger avancierten Verwendungen des Begriffs „Kultur“ zu vermeiden, hat Schleiermacher später diesen Kulturbegriff nicht mehr verwendet. Noch wenig ausgeleuchtet ist Schleiermachers Verhältnis zu Henrich Steffens, dem norwegischen Naturphilosophen, mit dem Schleiermacher sich in Halle rasch anfreundete und auf den er in seinen Vorlesungen verwies (wie umgekehrt auch). Sarah Schmidt fragt in ihrem Beitrag erstmals danach, wie weit die inhaltlichen Gemeinsamkeiten eigentlich gehen und kommt zu dem Schluss, dass beide zwar in ihren allgemeinsten philosophischen Grundüberzeugungen übereinstimmen, jedoch mit ganz unterschiedlichen theoretischen Mitteln arbeiten, so dass ihre Positionen in der Durchführung stark divergieren. Der militärische Zusammenbruch Preußens 1806 hat Schleiermacher stark erschüttert und nachhaltig politisiert. Simon Gerber wertet den Schleiermacherschen Briefwechsel der Jahre 1806 und 1807 umfassend aus, um zu zeigen, wie Schleiermacher sich zum radikalen Preußischen Patrioten entwickelt, wie sein Umfeld darauf reagiert und wie sich die Kriegsereignisse und die politische Zeitgeschichte in den Briefen jener Jahre insgesamt widerspiegeln. Gerbers Beitrag unterstreicht, welche Bedeutung der Edition des Briefwechsels auch in dieser Hinsicht zukommt. Nach Erscheinen von KGA V/9 und längere Zeit nach dem Symposion wurde uns ein Dokument zu der geognostischen Harzreise bekannt, die Schleiermacher und Steffens zu Pfingsten 1806 in Begleitung von Studenten unternahmen. In Clausthal fuhren sie in die Grube „Dorothea“ ein und Schleiermacher trug sich anschließend – im Namen der ganzen Reisegesellschaft – in das Fremdenbuch der Clausthaler Grube ein. Dieser Eintrag ist vor gut einem Jahrzehnt publiziert worden,⁹ der Schleiermacher-Forschung jedoch unbekannt geblieben. Simon  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Werke, Bd. 2, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg.v. O. Braun, Leipzig 1913, 75 – 239.  Eva Harten, „Hat sich Friedrich Schleiermacher in das Fremdenbuch der Grube Dorothea eingetragen?“, in: Harz-Berg-Kalender für das Jahr 2002, 43 – 45.

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Gerber hat daher nachträglich noch einen Aufsatz zur Harzreise beigesteuert, dem auch Schleiermachers Eintrag im Faksimile beigegeben ist. Für die Genehmigung zur Veröffentlichung danken wir der Bibliothek des Landesamtes für Bergbau, Energie und Geologie in Clausthal. *** Das vorliegende Buch bezieht sich vielfach auf Texte, die erst im Rahmen der Arbeit an der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe der Forschung zugänglich gemacht wurden. Das 2011 abgeschlossene Akademienvorhaben, dessen Vorgeschichte bis in den Herbst 1979 zurückreicht, hatte die Edition des Schleiermacherschen Briefwechsels zum Gegenstand, durch die eine Fülle neuer Quellen erschlossen werden konnte. Es wurde zum Januar 2012 abgelöst durch das Neuvorhaben „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“. Im Rahmen des neuen Akademienvorhabens werden neben dem Briefwechsel und Schleiermachers Tageskalendern auch die Vorlesungen zur philosophischen Ethik und zur praktischen Theologie bearbeitet. Indem im Rahmen des Symposions zu Schleiermachers Hallenser Zeit nicht nur der Briefwechsel ausgewertet wurde, sondern auch Vorlesungsnachschriften, die Gegenstand des Neuvorhabens sind, wurde nicht nur Rückblick auf das alte Projekt gehalten, sondern auch – unter Benutzung vorbereitender Arbeiten – ein Ausblick auf das neue Vorhaben gegeben. Ich möchte dies zum Anlass nehmen um kurz an die Geschichte des alten Vorhabens zu erinnern und das neue vorzustellen. Im September 1979 wurde in Berlin, gefördert von der Schleiermacherschen Stiftung im Zusammenwirken mit der Evangelischen Kirche der Union (EKU) und dem Land Berlin, eine Schleiermacherforschungsstelle begründet, an der seither der Briefwechsel im Rahmen der fünften Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) von zwei Editoren bearbeitet wurde. Mit der Übernahme der Trägerschaft durch die Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1989 konnte eine dritte Editorenstelle geschaffen und die Abteilung II (Vorlesungen) in Angriff genommen werden. Nach der Auflösung dieser Akademie Ende 1990 trat das Land Berlin an deren Stelle, bis der Berliner Anteil der KGA zum 1. Januar 1994 an die BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften überführt werden konnte. Nachdem die EKU sich 1998 aufgrund der allgemeinen Finanzsituation aus der Förderung zurückgezogen hatte, konnte die BBAW die Weiterarbeit an der V. Abteilung der KGA (Briefwechsel und biographische Dokumente) sichern, indem diese 1999 in das Akademieprogramm der Bund-Länder-Kommission überführt wurde, während die Abt. II (Vorlesungen) außerhalb des Akademienprogramms seit Februar 2000 mit Mitteln der DFG (bis Februar 2004) bzw. der Thyssen-Stiftung (seit 2004) fortgesetzt wurde. Dieses Akademienvorhaben ist Ende 2011 mit dem Erscheinen des 9. Bandes der V. Abteilung ausgelaufen.

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Das zum Januar 2012 begonnene Akademienvorhaben kann auf die Arbeitsergebnisse der Schleiermacherforschungsstelle seit 1979 zurückgreifen. Dies betrifft vor allem die Erfassung und Sammlung der Materialien: des Schleiermacherschen Briefwechsels (sowohl der überlieferten eigenhändigen Manuskripte als auch der Abschriften und Drucke) sowie der Vorlesungsmanuskripte und Vorlesungsnachschriften und auch der Tagebücher. Das Neuvorhaben ist biographisch auf Schleiermachers Berliner Zeit seit 1808 zentriert, eine Zeit, in der er beruflich (Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche, Professor an derr Berliner Universität und Akademiemitglied) und auch privat (1809 Heirat mit Henriette von Willich) seine Bestimmung findet, die aber gleichwohl vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund äußerst bewegt ist. Schleiermacher, der der Preußischen Reformpartei nahe steht, ist in konspirative Unternehmungen involviert, die eine Erhebung gegen Frankreich vorbereiten sollen. Zur Hebung des Staatsbürgerbewusstseins stellt er die Kanzel in den Dienst der patriotischen Bewegung („patriotische Predigten“); 1813 übernimmt er sogar die Chefredaktion einer politischen Zeitung, des Preußischen Correspondenten. Führend beteiligt war Schleiermacher an der Reform des Bildungswesens. Mit seinen Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808) begründete er die Konzeption der neuen Berliner Universität. Als Mitglied des Unterrichtsdepartements war Schleiermacher darüber hinaus für die Reform des Schulwesens und der Lehrerausbildung tätig; schließlich wirkte er auch an der Reorganisation der Königlichen Bibliothek mit. Von herausragender Bedeutung ist Schleiermachers Rolle in der Kirchenpolitik. An der Herstellung der Union zwischen Lutheranern und Reformierten, die ihm bereits in seiner Zeit als Charité-Prediger ein Anliegen war, hatte er maßgeblichen Anteil und ebenso an den (letztlich gescheiterten) Bemühungen um eine demokratische Synodalverfassung. In dem Agendenstreit 1827 bestand er auf der Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat, als er dem König das Recht absprach, eine Liturgie zu verordnen. Seine politische Wirksamkeit brachte Schleiermacher in dem durch die Heilige Allianz (1815) geprägten Klima der Restauration in Konflikte. Er wurde demagogischer Umtriebe verdächtigt, seine Vorlesungen und Predigten wurden seit 1817 von Spitzeln überwacht und Briefe an den befreundeten Verleger Georg Andreas Reimer und seinen Schwager Ernst Moritz Arndt beschlagnahmt. Verhöre bei der Polizei folgten und Schleiermacher drohten Amtsenthebung und Strafversetzung. Die Verfolgungen wurden 1824 eingestellt, aber erst 1831 erfuhr Schleiermacher mit der Verleihung des roten Adlerordens dritter Klasse (einer verhältnismäßig niedrigen Auszeichnung) eine Geste öffentlicher Rehabilitierung. Scheinbar unbeeindruckt von diesen Ereignissen arbeitete Schleiermacher auf wissenschaftlichem Gebiet. Als Theologe veröffentlichte er den Grundriss seines Systems (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 1811) sowie, neben

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zahlreichen Abhandlungen und Kritiken, sein dogmatisches Hauptwerk Der christliche Glaube, das in zwei völlig voneinander abweichenden Auflagen (1821/22 und 1831/32) erschien und die theologischen Diskussionen bis heute nachhaltig beeinflusst hat. Als Philosoph wirkte Schleiermacher vor allem durch seine Vorlesungen, die erst nach seinem Tode publiziert wurde. Einzelne Teile seines philosophischen Wissenschaftsentwurfs wurden auch in den Abhandlungen der Akademie publiziert. In der Hermeneutik und Pädagogik gilt Schleiermacher heute als Klassiker. Sein Werk wirkt fächer- und konfessionsübergreifend und international bis in die Gegenwart, dies gilt auch für seine Beiträge zur PlatonForschung. Das Ziel des Neuvorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834“ ist es, im Kontext der Biographie die wissenschaftliche, kirchliche und politische Tätigkeit Schleiermachers von 1808 bis 1834 zu erschließen. Es soll gefragt werden, welche Zusammenhänge zwischen Schleiermachers politisch-gesellschaftlichem Engagement und seiner Theorieentwicklung bestehen und wie seine Positionen vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte zu verorten sind: Ist Schleiermacher, wie oft behauptet, ein „Liberaler“ oder gar ein „Demokrat“? Oder ist er eher ein konservativer Reformer, der Staat und Gesellschaft auf der Basis protestantischchristlicher Gesinnung erneuern will? Um solche Fragen beantworten und auch die biographischen Kontexte ausleuchten zu können, müssen neue Quellen erschlossen werden. Diese Grundlagenforschung steht im Mittelpunkt des Akademienvorhabens, das für eine Laufzeit von 14 Jahren bis Ende 2025 projektiert ist. Das Vorhaben ruht auf drei Säulen. An erster Stelle ist der Briefwechsel zu nennen. Für den Zeitraum 1808 – 1834 sind ca. 880 Briefe von Schleiermacher und ca. 1280 an ihn gerichtete Briefe überliefert; gut ein Drittel der Briefe von Schleiermacher und fast drei Viertel der Briefe an Schleiermacher in diesem Zeitraum sind bisher überhaupt noch nicht gedruckt, ein großer Teil der bereits gedruckten Briefe nur gekürzt publiziert. Dies unterstreicht, dass die Kenntnis von Schleiermachers Biographie erst durch die vollständige Edition des Briefwechsels gesichert werden kann. Schleiermachers politische, wissenschaftliche und kirchliche Aktivitäten kommen auf vielfältige Weise in seiner Korrespondenz zur Sprache; darüber hinaus spielt das Moment des Persönlichen eine bedeutende Rolle, wobei der Austausch von Briefen für Schleiermacher den unmittelbaren geselligen Verkehr ersetzte bzw. vertiefte. Die zweite Säule des Vorhabens ist die Edition von Schleiermachers Tageskalendern. Diese liegen für die Jahre 1808 – 1811 und 1820 – 1834 vor und wurden bisher nicht ediert und nur punktuell ausgewertet. Sie enthalten Notizen über Einnahmen und Ausgaben, Reisen, empfangene und verschickte Briefe, Treffen mit Freunden und Kollegen, berufliche Termine (Sitzungen, Predigten, Vorlesungen, Konfirmandenunterricht, Taufen etc.), Lektüre, gehörte Musik usw. Auch

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die Ergebnisse von Schachpartien, Verzeichnisse von Einnahmen und Ausgaben und Notizen zu eingegangenen und abgesandten Briefen finden sich. Die Tagebücher sind mit unterschiedlicher Genauigkeit und Intensität geführt und zudem lückenhaft; sie bieten aber einen sonst nicht zu gewinnenden Einblick in Schleiermachers Aktivitäten und besonders das Kommunikationsnetz in Berlin, das sich im Briefwechsel natürlicherweise kaum dokumentiert. Drittens schließlich ist die Edition zweier gewichtiger Vorlesungen zu nennen, der Vorlesungen über die philosophische Ethik und der Vorlesungen über die praktische Theologie. Schleiermachers Ethik ist eine Theorie der Geschichte als Vernunftkultur; in ihr wird der Gedanke eines umfassenden Fortschritts im Sittlichen ebenso begründet wie die Strukturierung der gesellschaftlichen sowie der politischen Sphäre. Sie bildet die theoretische Grundlage seiner politischen und gesellschaftlichen Interventionen. Schleiermachers praktische Theologie ist für sein Konzept der gesamten Theologie von zentraler Bedeutung. Da die Theologie auf Kirchenleitung zielt, ist sie die Krone der gesamten theologischen Wissenschaft. Sie ist zugleich auch diejenige Disziplin, in der die Fragen der Kirchenverfassung und des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat grundsätzlich erörtert werden und die daher Schleiermachers kirchenpolitisches Handeln begründet. Beide Vorlesungen liegen noch nicht in kritischen Ausgaben vor. Erst auf ihrer Grundlage wird es möglich sein, das politische Selbstverständnis Schleiermachers sowie den Zusammenhang von Theorieentwicklung einerseits und politisch-gesellschaftlicher Entwicklung andererseits zu bestimmen. Die Edition der Vorlesungen und des Briefwechsels erfolgt im Rahmen der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe (KGA). Die Tageskalender sollen dagegen zunächst in einer Datenbank im Internet publiziert werden. Im Rahmen des Akademienvorhabens werden nur Textbände erarbeitet; die Erstellung von Kommentarbänden erfolgt mit Drittmitteln, die von der Stiftung der Evangelischen Kirche der Union gewährt werden. Das Vorhaben ist Teil des Zentrums PreußenBerlin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Notger Slenczka

Schleiermachers Briefwechsel 1806 – 1807 – Eindrücke einer faszinierenden Lektüre 1 Die Briefpartner Mir ist der im Programm notierte Titel meines Beitrags mündlich so ausgelegt worden, das ich die Aufgabe habe, Ihnen in einem ganz subjektiven Zugriff Eindrücke von der Lektüre dieses Bandes mitzuteilen. Das stellte sich als ein ausgesprochen reizvoller Auftrag heraus. Eigentlich wollte ich es mir einfacher machen, hier und da ein paar Blüten sammeln und dann aus den Zufallsfunden einen Strauß binden – aber nach wenigen Seiten schon ergriff mich der Band in ganz eigentümlicher Weise. Vor mir lag eine ungeheure Vielfalt von Briefen aus sehr unterschiedlicher Feder; weit über die Hälfte der Briefe sind Briefe anderer an Schleiermacher: wir stoßen auf die Schwester Charlotte, auf die alten Freunde und Vertrauten – von Brinkmann über das Ehepaar Steffens über die Mitglieder der Familie von Willich – der Freund Ehrenfried, der 1807 starb. Seine Frau Henriette, die Schleiermacher später heiraten wird – allein über diese sehr eigentümlichen Briefe an und von Henriette von Willich ließ sich ein langer Vortrag halten. Wir begegnen alten Berliner Freunden und Weggefährten. Henriette Herz, Friedrich und Dorothea Schlegel, der Familie Stubenrauch, 15 Briefe dieses Onkels, der ebenfalls 1807 stirbt. Die Briefe von und an Kollegen – Karl von Raumer, Philipp Konrad Marheineke; die Briefe seines Verlegers Georg Andreas Reimer, der nicht nur in diesem Band mit seiner weit über die Geschäftsinteressen des Verlages hinausgehenden Anteilnahme an der wissenschaftlichen Arbeit und mit seiner bis ins Persönliche gehenden Fürsorge für seine Autoren dem Leser ans Herz wächst.

2 Der Niederschlag des Krieges Aus den Briefen an diese und weitere Personen und in den Briefen von ihnen entsteht ein facetten- und perspektivenreiches Bild einer ungeheuer bewegten Zeit. Der erste Brief stammt von April 1806; Schleiermacher lehrt bereits seit drei Semestern in Halle. Wir stehen im Zentrum der Napoleonischen Kriege, mindestens zwei der Brieffreunde sind als Militärpfarrer tätig: von Willich in Schwedischen Diensten an der Ostsee, Joachim Christian Gaß in Stettin. Hinter den Schreibern liegt die Schlacht von Austerlitz im Dezember 1805, der anschließende Zusammenbruch der gegen Napoleon stehenden Koalition aus Österreich und

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Notger Slenczka

Rußland, an der sich Preußen nicht beteiligt hatte, und der am 26.12.1805 geschlossene Frieden von Preßburg. Im Juli 1806 wird der Rheinbund gegründet, und am 8. 8.1806 legt Franz II. die Krone des Deutschen Reiches nieder, das damit als politische Einheit zu existieren aufhört. Wenn ich nichts überlesen habe, findet dies zuletzt genannte Ereignis kaum einen Niederschlag in den Briefen, wohl aber die Vorbereitungen auf eine Auseinandersetzung zwischen dem auf den Beistand Rußlands hoffenden Preußen und Napoleon: So schreibt am 23. August 1806 Joachim Christian Gaß an Schleiermacher: „Ich halte einen Krieg mit Napoleon für unvermeidlich, von unserer Seite für notwendig und gerecht und jeden Aufschub für gefährlicher, als das Uebel selbst. Noch haben wir Kraft und Muth zum Wiederstande, noch ist der rechte Zeitpunkt nicht verstrichen, und ich bin kühn genug zu hoffen, Preußen könne der Retter Deutschlands werden …“ (Brief 2245, 2– 30) Schleiermacher plant für den Sommer ein Treffen unter anderem mit Reimer, aber auch Henriette Herz und seiner Halbschwester Nanny in Dresden; diese Reise steht von vornherein unter den Gewitterwolken des sich abzeichnenden Krieges. Schleiermacher freilich glaubt noch im August nicht an den Ausbruch ernsthafter Auseinandersetzungen: „Ich meines Theils bin leider überzeugt genug, daß wir keinen Krieg bekommen, und daß wir was die Franzosen betrifft ganz ungestört hätten in Dresden sein können. Es juckt mich in allen Fingern ein politisches Pamphlet zu schreiben und wenn ich nur irgend Zeit dazu hätte thäte ich es auch und das recht derb.“ (Brief 2257, 16 – 20) Schleiermacher teilt den bei allen Briefschreibern (Gaß; Brief 2245, 143 ff.) und weit über ihren Kreis hinaus verbreiteten Eindruck, dass Preußen und insbesondere der König seine große Stunde und seine Pflicht versäume. Die Schlacht von Jena und Auerstädt Mitte Oktober zerschlägt alle Hoffnungen, die sich an die entschiedene Haltung geknüpft hatten, die Friedrich Wilhelm III. endlich eingenommen hatte. Die wenige Tage später am 17. Oktober erfolgende Einnahme Halles bringt Schleiermacher in unmittelbaren Kontakt mit dem Kriegsgeschehen. Zu Beginn seines wenig später erschienenen Sendschreibens über den Timotheusbrief karikiert er diese Begegnung mit distanzierter Ironie, wenn er vom „in mancherlei Weise interessante[n] Anblikk der französischen Krieger“ (KGA I/5, 157) spricht. Seine Briefe von Ende Oktober/Anfang November, etwa der vom 4. November an Reimer, sprechen allerdings eine ganz andere Sprache; der genannte Brief steht noch ganz unter dem Eindruck der Lebensgefahr, in die er und Steffens geraten waren, als sie wie Touristen – übrigens in Begleitung eines Kindes von Steffens – ein Gefecht an der Saalebrücke mit ansehen wollten und zwischen die zurückgehenden Preußen und die vordrängenden Franzosen zu kommen drohten. Schleiermacher beschreibt in diesen Briefen auch die Plünderung in den ersten Tagen nach der Eroberung, die Einquartierung von

Schleiermachers Briefwechsel 1806 – 1807 – Eindrücke einer faszinierenden Lektüre

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Flüchtlingen und Offizieren – von diesen Ereignissen gibt es einen Parallelbericht in den Erinnerungen Heinrich Steffens‘, der dankenswerterweise im vorliegenden Band mit abgedruckt ist. Schleiermacher beschreibt, wie die Einquartierungskosten seine Semestergelder verschlingen, äußert die Befürchtung, dass die Auszahlung der Gehälter unterbleiben könnte. Diese Befürchtung erweist sich als nur zu begründet, und das Thema ‚Geld‘ zieht sich durch fast alle folgenden Briefe, insbesondere diejenigen von und an Reimer: Auf seine Rolle fällt ein interessantes Licht: er ist der einzige, der durch Außenstände und aus den übrigen deutschen Gebieten eingehende Zahlungen imstande ist, im Freundeskreis mit finanziellen Zuwendungen auszuhelfen. Eine Fundgrube ist der Briefwechsel dadurch für jemanden, der sich für die Komplikationen des Einlösens von Wechseln interessiert – ein hochkomplizierter Vorgang eines von Reimer initiierten Wechselbezugs auf den Seidenhändler Jaques Bassenge zieht sich über mehrere Briefe hin. Die Aufhebung der Universität und die Ausweisung der Studenten sowie die Frage, wann und vor allem wo eine neue Preußische Universität gegründet wird – Frankfurt und Königsberg sind im Gespräch, aber eben auch Berlin – beschäftigt Schleiermacher, Steffens und den Juristen Christian Gottlieb Konopak intensiv: Während Steffens zeitweilig nach Dänemark zurückgeht, folgt Konopak schließlich nach langem Zögern einem Ruf nach Rostock.

3 Das Ende der Lehrtätigkeit in Halle Schleiermacher bleibt in Halle, liest aber seit dem SS 1807 in Berlin; im März 1807 erwähnt er zum ersten Mal den Gedanken der Gründung einer philosophischen und theologischen Akademie in Berlin, in einem späteren Brief vom November spricht er Reimer gegenüber von der Arbeit an der Programmschrift zur Universitätsgründung. Das Ende der akademischen Lehre in Halle führt nicht etwa zur Untätigkeit – im Gegenteil: In dieser Zeit erscheint ein Predigtband; wir lesen von der intensiven Arbeit an der zweiten Auflage der Reden über die Religion, insbesondere aber von der Arbeit an der Platonübersetzung – und wir nehmen im Vorbeigehen wahr, daß da offensichtlich ein Manuskript der ersten Dogmatikvorlesung unter den Freunden kursiert – bedauerlicherweise verloren.

4 Deutung der politischen Situation Die politische Situation verlangt nach Deutung, und diese ist im Kreis der Briefpartner offenbar kontrovers – und auf diesen Punkt werde ich mich jetzt konzentrieren.

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Notger Slenczka

Schleiermacher selbst ringt sich nach der Katastrophe von Jena und Auerstädt erst langsam zu einer Deutung durch; in einem Brief an Henriette Herz, wie der erwähnte an Reimer ebenfalls vom 4.11. 1806, vergleicht er nach dem Einmarsch der Franzosen in Potsdam und Berlin die ungewisse Situation Deutschlands mit seinem Verhältnis zu Eleonore Grunow – im Blick ist offenbar die lähmende Ungewissheit während der Stolper Zeit: „Wie ich oft nicht wußte was Leonore that in kritischen Augenblicken sondern nur lieben konnte, so weiß ich auch jetzt nicht was das Vaterland thut. Sollte das auch sich und mich ganz so verlassen wie sie? Bisweilen denke ich es kann noch alles gut werden, gut herrlich und glorreich; aber es gehört Besonnenheit und Geschick dazu, und wird es an beidem nicht fehlen?“ (An H. Herz, Brief 2302, 25 – 31, vgl. Brief 2326). In einem späteren Brief, ebenfalls an Henriette Herz, deutet er den Verlust der Berufstätigkeit als Zerstörung der Stütze, die ihm nach dem Verlust Eleonores Halt gegeben habe. Er deutet Todessehnsucht an und rechnet damit, dass wenigstens dieser Wunsch in Erfüllung gehen könne, wenn der Hass gegen den Protestantismus, den er bei Napoleon diagnostiziert, sich ausleben werde: „Denn wenn das Glück nicht umschlägt so wird er gewiß bald wüthen gegen den verhaßten Protestantismus, und dann wird es vor vielen andern mein Beruf sein hervorzutreten. Niemand kann wissen was ihm bestimmt ist in dieser Zeit! Es kann noch wieder Märtyrer geben wissenschaftliche und religiöse.“ (Brief 2326, 17– 21). Diese Prognose ist keine Grille eines Augenblicks; in einem Brief an Reimer kommt er wenig später auf das Thema zurück und stellt fest, dass der Preußische Staat daran gelitten habe, dass die Nation sich zwar die wissenschaftliche und die religiöse Organisation angeeignet habe; die politische Organisation aber habe sich als reinen – man muss hinzufügen: fürstlichen – Verwaltungsapparat verstanden, mit dem sich die Bürger nicht identifiziert und den sie nicht als Ausdruck ihres kollektiven Willens verstanden haben. Nichts fürchtet er so sehr wie einen schmerzlindernden Frieden, der dieses Übel nur verlängern würde. Er hält einen vollständigen Sieg Napoleons für die beste Lösung, da dieser Sieg dazu führen werde, daß Napoleon sich gegen Wissenschaft und die protestantische Religion wenden werde, also gegen die Institutionen, mit denen sich die Nation, wie er sagt, identifiziert habe: „… dann wird die Nation aufstehn und sich also auch einen Staat bilden.“ (Brief 2342, 54 f.; vgl. Brief 2365, 17– 24); dasselbe Thema wenig später in einem Brief an Ehrenfried von Willich – Sorge macht ihm hier nicht sein individuelles Geschick, auch nicht der Zustand des allgemeinsten, der Nation, „aber was in der Mitte liegt, die Art, wie der Einzelne auf das Ganze wirken kann, die ganze wissenschaftliche und kirchliche Organisation erfüllt mich mit Sorgen.“ (Brief 2344, 66 – 69) – offenbar betrachtet Schleiermacher seine Tätigkeit auf der Kanzel und auf dem Katheder als Instrument der Einwirkung auf die Nation mittels der Institutionen, die sich die Gesellschaft angeeignet hat und mit der sie sich

Schleiermachers Briefwechsel 1806 – 1807 – Eindrücke einer faszinierenden Lektüre

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identifiziert; darüber, dass seine Predigten in dieser Zeit als patriotisch empfunden wurden, liegen Berichte vor. Es ist vielleicht etwas gewagt, aber möglicherweis schlägt sich in dieser Verbindung von Religion und Wissenschaft die entsprechende deutliche Gewichtsverlagerung nieder, die Schleiermacher in der Umarbeitung der zweiten Rede für die zweite Auflage der Religionsschrift vorgenommen hatte, die Mitte 1806 erschienen war.

5 Im Gespräch mit Karl Raumer Die Deutung der politischen Zeitläufte erfährt eine Vertiefung in der brieflichen Auseinandersetzung mit dem Mineralogen Karl Georg von Raumer – diese Briefe Raumers, die hier zum ersten Mal publiziert werden, sind ein hochinteressantes Zeugnis einer sehr radikalen Deutung der politischen Probleme, einer Deutung, in der Motive auftauchen, die man später als ‚völkisch‘ rubrizieren wird. Raumer stellt das von ihm diagnostizierte Staatskonzept in Frage, nach dem die Staaten in Europa als eine Art Handelskompanien auftreten und angesehen werden, in die der Einzelnen investiere, solange es seinen Geschäftsinteressen dient. Wie Schleiermacher fragt auch er offenbar nach einer Alternative zu diesem angeblichen Selbstverständnis des Preußischen Staates. Er hält Preußen für ein Gemisch von Nationen, das genau aus diesem Grund nicht existenzfähig sei, und genau darum irre Schleiermacher, wenn er – sei es brieflich, sei es mündlich – Kriege als Ausbruch des Nationalinstinkts bezeichne: Mehrere Nationen, die von einem Handelskompanie-Staat zusammengehalten werden, bilden keinen gemeinsamen Instinkt aus. Er fragt nach einem Grund des Staates, nach einer Einheit in einem Geiste, und dies habe dem Preußischen Staat gefehlt: „Nicht der einzelne König; nicht die einzelne Generation wird gerichtet, sondern die Handlungsweise des Staates von Anbeginn seiner Existenz. (Ist dies Chimäre, so sind überhaupt Nation, Nationalinstinkt, Nationalcharakter, Patriotismus pp. Chimären – aller Menschenverein in einem Geiste.)“ (Brief 2378, 88 – 92). Genau gegen dies Prinzip, dass die Grundlage eines Staates eine Nation sein müsse, habe Preußen mit seiner Eroberungspolitik verstoßen. Auf dieser – in der Grundstruktur deutlich von Herder beeinflussten – Basis weist er Napoleon bzw. den Franzosen eine positive Rolle zu: „Wenn nun … doch der Instinkt waltete, allein statt des Nationalinstinkts, ein höherer sich regte, von jener Art, wie bey der Völkerwanderung: Eine Nation zur executiven Gewalt vom Planeten erlesen wäre, zur Zerstörerin erbärmlicher Verhältnisse, zur Reinigung, dem Herrn den Steg zu bereiten?“ (Brief 2378, 59 – 64) – die Franzosen sind somit der von der die Geschichte lenkenden Kraft ausgewählte Kehrbesen. Und in den dann folgenden Briefen entfaltet von Raumer diese Ansicht, verteidigt sie gegen die Empörung der Freunde über die

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Notger Slenczka

positive Rolle, die er den Franzosen zugeschrieben habe, verweist auf die Quellen seines Interesses an der Völkerwanderung – kurz: Hier werden die Früchte der Herderschen Deutung der Menschheitsgeschichte reif in einer Analyse des politischen Tagesgeschehens als Auseinandersetzung von Nationen, die von Raumer in einem späteren Brief in höchst eigentümlicher und hochinteressanter Weise religiös deutet: Napoleon kreuzigt Deutschland und bereitet so in der Zerstörung alles Brüchigen die Auferstehung vor (Brief 2425); und er verbindet diese christlich-religiös angehauchten Geschichtsspekulationen auf der anderen Seite mit einem morbiden Interesse an den von ihm als düster und bedrohlich empfundenen, aber auch als Schlüssel zum Verständnis der Geschichte betrachteten Edda-Sagen (Brief 2283). Das sind Vorboten eines neuen Staatsbegriffs, der in den Befreiungskriegen Urständ feiern wird. Schleiermacher bleibt eher reserviert; in einem Brief an Henriette Herz spricht zwar auch er vom Genius der Menschheit, der in der Geschichte walte – aber von der Idee der einen deutschen Nation hält er hier noch nichts (Brief 2409); er schreibt an den Bruder von Raumers, Friedrich Ludwig Georg: „Um ein neues Deutschland zu haben muß wol das alte noch viel weiter zertrümmert werden. Außer dem daß ich ein Deutscher bin habe ich wirklich aus vielen Gründen die Schwachheit ein Preuße zu sein zum großen Aerger Ihres Bruders …“ (Brief 2392, 25 – 28) Es wäre eine reizvolle, aber diesen Kontext übersteigende Aufgabe, diese im lebendigen brieflichen Austausch hier und anderweitig vorgetragenen Deutungen der politischen Ereignisse als einen, in der vornapoleonischen Zeit zweifellos vorbereiteten, Umbruch des Staatsverständnisses zu deuten und auf seine Wirkungsgeschichte hin zu verfolgen.

6 Ende Diese Briefausgabe ist mehr als verdienstvoll; sie zeichnet ein Bild des Lebens und der Zeitgenossenschaft Schleiermachers, das kein Biograph einholen kann und das sich in der Lektüre entfaltet. Das haben die Empfänger der Briefe dieses ‚Genies der Freundschaft‘ bereits damals gespürt, wie eine Passage aus einem Brief der Schwester Schleiermachers, Charlotte, zeigt, die man eigentlich als eine treffende Überschrift über die hier in Berlin vorangetriebene Edition der Briefe stellen sollte, eine Passage, die in einem Satz zusammenfasst, was wir an diesen Briefen haben; mit den ersten Worten spricht Charlotte in dritter Person von sich selbst: „Die Lotte hat ja eine rechte SchreibLust SchreibSeeligkeit sage lieber SchreibeSucht – aus meinen Zeilen an Nany [die Halbschwester, die Schleiermachers Haushalt führte] weißt Du – daß ich in alten Briefen gewühlt, und wie du

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leicht errathen wirst eine alzu späte Reue wegen dem verbrennen deiner Preußischen Berliner Landsberger – Halleschen Briefe gefühlt habe – Deine ganze LebensGeschichte hätte ich nun so trefflich in einem Buch …“ (Brief 2256, 2– 7)

Eilert Herms

Schleiermacher als christlicher Theologe. Die Bedeutung der Hallenser Professur Der Fußpunkt einer jeden Gesamtinterpretation des philosophisch-theologischen bzw. theologisch-philosophischen Systems Schleiermachers ist dessen Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie. Zu dieser Frage finden sich die entscheidenden Aussagen in § 1– 4 der ersten und § 32– 34 der zweiten Ausgabe der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums: Nach dem allgemeinen epistemologischen Hinweis darauf, dass sich das Wesen wie eines jeden innergeschichtlich-gewordenen Realen so auch des Christentums weder rein empirisch auffassen, noch rein aus der Idee ableiten lasse, sondern nur „kritisch“¹ durch „Gegeneinanderhalten des geschichtlich in ihm Gegebenen und des in der Idee der Religion und der Kirche als veränderliche Größe Gesetzten zu bestimmen“² sei, heißt es daher 1811, dass „der Standpunkt der philosophischen Theologie in Beziehung auf das Christentum überhaupt […] nur über (Hervorhebung: E. H.) demselben (sc. dem Christentum) zu nehmen“³ sei. Den Doppelsinn dieser Formulierung⁴ beseitigt der Autor 1831, indem er, für Eindeutigkeit sorgend, formuliert: „Die philosophische Theologie kann […] ihren Ausgangspunkt nur über dem Christentum in dem logischen Sinne des Wortes (d. h.: „logisch über“: Hervorhebung und Hinzufügung E. H.) nehmen, d. h. in dem allgemeinen Begriff der frommen oder Glaubensgemeinschaft“.⁵ Damit ist klar gestellt, dass für Schleiermacher das Philosophieren als die Erfassung der Idee, d. h. der universalen Züge, des uns zu verstehen gegebenen Realen nicht verlangt, den Boden der eigenen geschichtlich gegebenen Lebensgegenwart zu verlassen und einen „Standpunkt“⁶ auf einem dem Werden enthobenen neutralen, übergeschichtlichen Terrain zu gewinnen, sondern dass es im

 KD2 § 31.  KD1 § 2.  KD1 § 4.  Die Formulierung kann meinen: a) „über“ im Sinne des Aufsuchens eines Bodens, der nicht schon der christliche ist, sondern irgendwo sonst liegt, also sachlich jedenfalls jenseits des Christentums; oder b) „über“ im Sinne eines auf dem Boden des Christentums selbst stattfindenden Zugriffs auf den logisch übergeordneten Allgemeinbegriff „Religion“ bzw. „religiöse Gemeinschaft“, wie er im Christentum selbst vorausgesetzt und in der Selbstreflexion des Christentums, also auch auf dem Boden, im Horizont und aus der Perspektive des Christentums selbst, zugänglich ist.  KD2 § 33.  KD1 § 4.

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Philosophieren nur darum geht, auf dem Boden der bestimmten gewordenen und im Werden stehenden geschichtlichen Gegenwart, in ihrem Horizont und Licht, nach den universalen Bedingungen desjenigen Werdens zu fragen, welches diese gewordene, zur „kritischen“ Selbsterfassung fähige Gegenwart, hier: des (den Autor selbst einschließenden) Christentums, heraufgeführt hat. Die universalen Bedingungen dieses Werdens sind zugänglich auf dem Boden und im Licht der durch dieses Werden gewordenen, zur kritischen Selbsterfassung fähigen geschichtlichen Gegenwart, und sie müssen der logische „Ausgangspunkt“⁷ des Verfahrens sein, wenn es, wie in der Theologie, um die kritische Bestimmung des Wesens des eigenen geschichtlich-gewordenen Menschseins-im-Werden, nämlich genau: des eigenen geschichtlich-gewordenen Christseins im Werden, geht.⁸ Die Theologie selbst hat ihre Suche nach dem Wesen des gegenwärtigen Christentums „philosophisch“ zu beginnen und zur Lösung dieser Aufgabe die Gesamtheit der universalen Bedingungen des Werdens zu thematisieren, unter denen das eigene gegenwärtige Mensch- und Christsein geworden ist und im Werden steht. Diese Gesamtheit der Bedingungen des Mensch- und Christseins umfasst: a) das Weltgeschehen insgesamt; näherhin b) das Weltgeschehen, sofern es kraft der dauernden Faktizität des Beseeltseins der Natur durch den Geist⁹ menschliche Geschichte ist; diese Geschichte näherhin c) in ihrem Charakter als Geschichte des Gebildetwerdens der Menschheit ¹⁰ zur unverstellten Erfassung ihres eigenen Wesens; sodann d) diese Bildungsgeschichte der Menschheit in ihrem wesentlichen Charakter als Geschichte der Religionen (bzw. Weltanschauungen¹¹), von denen jede als ein

 KD2 § 33.  Den Grundsatz, dass nur auf dem Boden der Bestimmtheit des gegenwärtigen Lebensgefühls explikativ („dolmetschend“) philosophiert werden kann und muss, hat Schleiermacher klar ausgesprochen in seinem Brief an F.H. Jacobi aus dem Jahre 1818, in: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 2, Berlin 1860, 349 f.  Hierzu vgl. E. Herms, „‚Beseelung der Natur durch die Vernunft‘. Eine Untersuchung der Einleitung zu Schleiermachers Ethikvorlesung von 1805/06“, in: ders., Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 49 – 100.  Hierzu vgl. E. Herms, „Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz“, in, ders., Menschsein im Werden, a.a.O. (Anm. 9), 228 – 249.  Dieser Ausdruck spielt in Schleiermachers späteren Texten keine prominente Rolle, begegnet aber in den Reden: „Weltanschauung“ (KGA I/2, 262,24; 320,34), „Anschauung(en) der Welt“ (KGA I/2, 222,23; 224, 34). Er ist auch für das, was Schleiermacher mit dem Ausdruck „Religion“ der Sache nach meint, eine sachlich zutreffende Bezeichnung. Das ergibt sich aus den Ausführungen der zweiten Rede über die Religion (KGA I/2, 206 – 247, dort bes. 223,20 – 234,32).

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geschichtliches „Gesamtleben“¹² verfasst ist, dessen geschichtliche Qualität und Identität in der andauernden Wirksamkeit der ihm zugänglichen (d. h.: ihm offenbaren) und es beseelenden Sicht der universalen Bedingungen des Weltgeschehens gründet, und schließlich e) das christliche Gesamtleben, sein Wesen, und d. h. genau die Bedingungen seiner geschichtlichen Qualität und Identität, nämlich seiner geschichtlichen Qualität als Kirche, d. h. als Gemeinschaft der Erlösten, die aus der gegenwartsbestimmenden erlösende Kraft ihres geschichtlichen Ursprungs, der erlösenden Wirkung Christi als des Erlösers, lebt,¹³ und seiner geschichtlichen Identität, die in der gemeinschaftlichen Bezeugung ihres Ursprungs, der gegenwartsbestimmenden erlösenden Kraft Christi, besteht,¹⁴ und zwar in der angemessenen Bezeugung dieses ihres Ursprungs, die diese ihre Angemessenheit vermöge der Orientierung des aktuellen gemeinschaftlichen Zeugnisvollzugs an der in den neutestamentlichen Büchern gegebenen kanonischen Gestalt dieses Ursprungszeugnisses besitzt und wahrt,¹⁵ deren notwendige Bedingung wiederum die hermeneutische Kompetenz der ins

 Die Art, in der Schleiermacher diesen Ausdruck auf das Christentum anwendet, in dem er vom „christlichen Gesamtleben“ als einem „neuen“ spricht (Glaubenslehre2 § 87, Leitsatz; vgl. auch die §§ 82,3; 83, Leitsatz; 86,1; 88, Leitsatz; 89, Leitsatz; 90,1; 100,3; 101,4; 121, Leitsatz; 123, Leitsatz), zeigt dass es für ihn daneben auch noch andere, ältere Arten eines religiös-weltanschaulich fundierten geschichtlichen Gesamtlebens gibt. Der Ausdruck „Gesamtleben“ bezeichnet eine Klasse von gleichartigen geschichtlichen Phänomenen, von denen das „christliche“ nur eines ist. Über den realen Umfang des christlichen Gesamtlebens sprechen sich die Aussagen der christlichen Sittenlehre aus (immer noch maßgebliche Ausgabe: SW I/12, hg. von L. Jonas, Berlin 1843). Dieser, in der christlichen Sittenlehre erfasste Umfang des christlichen Gesamtlebens muss als exemplarisch für den Umfang auch des Gesamtlebens anderer Religionen, etwa des Judentums oder des Islam, gelten.  Glaubenslehre2 §§ 115 – 125. Diese Paragraphen greifen auf den gesamten Sachkomplex der Christologie zurück (§§ 91– 112) und machen deutlich, dass diese christologischen und soteriologischen Aussagen ipso facto zugleich Aussagen über das Entstehen der Kirche und über die Mitteilung des Heiligen Geistes sind (dazu vgl. jetzt Holger Werries, Alles Handeln ein Handeln der Kirche. Schleiermachers Ekklesiologie als Christologie, Leipzig 2012).  Schleiermacher sieht die Identität der Kirche in den Selbstaussagen der christlichen Gemeinschaft, der Kirche, über ihre unveränderlichen Züge beschrieben: Glaubenslehre2 §§ 126 – 156. Die Vollzugsform dieses Ursprungszeugnisses (Erlöstseinszeugnisses) wird im Ganzen von Schleiermachers Lehre vom Gottesdienst beschrieben (dazu vgl. Ralf Stroh, Schleiermachers Gottesdiensttheorie, Berlin 1998).  Vgl. Glaubenslehre2 §§ 128 – 132 sowie KD2 §§ 103 – 114. Prägnant heißt es im Brief an Jacobi von 1818 (Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, a.a.O., Anm. 8, 351): „Die Bibel ist die ursprüngliche Dolmetschung des christlichen Gefühls und eben deshalb so feststehend, daß sie nur immer besser verstanden und entwickelt werden muß“.

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geistliche Amt berufenen Glieder der Gemeinschaft ist.¹⁶ Diese hermeneutische Kompetenz ist komplex und besteht darin, daß ihre Inhaber den neutestamentlichen Kanon im ganzen als Zeugnis vom Ursprung der Gemeinschaft in der erlösenden Wirkung der Person Christi durchschauen, in diesem Ursprung zugleich das dauernde Wesen des christlichen Lebens erkennen¹⁷ und kraft dessen auch das Verhältnis der Gegenwart des christlichen Lebens – seines Ursprungszeugnis in Wort¹⁸ und Tat¹⁹ – zu diesem kanonisch bezeugten Ursprung und Wesen beurteilen können, sei es, daß dieses Verhältnis nun als Devianz oder als legitime Variation zu bestimmen ist, und daß sie dann durch ihre Leitungstätigkeit für die bleibende Übereinstimmung des gegenwärtigen christlichen Lebens mit seinem Ursprung und Wesen zu sorgen vermögen.²⁰ Das Bemühen, jede dieser Reflexionsaufgaben, die unter sich einen unlöslichen Zusammenhang bilden, explizit zu lösen, und zwar so, dass auch die Lösungen unter sich einen kohärenten Zusammenhang bilden, liegt in dem Disziplinengeflecht des Spätwerks vor. Aber der Blick auf das Gesamtgefüge der genannten Aufgaben beherrscht nachweislich schon von Anfang an das Wollen und Wirken Schleiermachers als christlicher Theologe: Die schon in den frühen 80er Jahren des 18. Jahrhunderts erlebte Unverständlichkeit der traditionellen Beschreibung des Ursprungs christlicher Frömmigkeit in Werk und Person Christi führt Schleiermacher zur Hinwendung zur Philosophie; und – schon damals (!) – zu der Erfahrung und Einsicht, dass der Boden des Christentums nicht um der Philosophie willen verlassen werden muss, sondern dass auf dem Boden christlicher Frömmigkeit selbst „philosophiert“ und gedankliche Klarheit über die universalen Bedingungen des Gewordenseins und Werdens dieser Frömmigkeit gewonnen werden kann.²¹ Schon die erste Auflage der Reden belegt, dass die Reflexions-

 Vgl. Glaubenslehre2 §§ 133 – 135 sowie KD2 §§ 122 – 132.  KD1 §§ 2, 5 und 5 sowie KD2 § 103 – 109.  Die Wortgestalt dieses Zeugnisses findet Schleiermacher in den in der (evangelischen) Kirche jeweils gegenwärtig geltenden (ohne Widerspruch als Beschreibung des Gemeinsamen vortragbaren) Aussagen über den Glauben als ontologische Gewissheit (in der Glaubenslehre systematisiert) und über den Glauben als Handlungsimpuls (in der Sittenlehre systematisiert).  Das Tatzeugnis ist das jeweilige christliche Leben, über dessen Ursprungs- und Wesensgemäßheit die Gemeinde und ihre Amtsinhaber zu wachen haben (vgl. die nächste Anm.).  KD1 §§ 1– 10 sowie KD2 §§ 257 und 259 – 260.  Die Absicht, die erste Auflage der Glaubenslehre F.H. Jacobi zu widmen, belegt, dass Schleiermacher sich dauernd bewusst blieb, gerade im Zusammenhang seiner frühen Jacobistudien zu den seine Position dauernd tragenden Grundeinsichten gelangt zu sein. Vgl. E. Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaft, Gütersloh 1974; P.

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themen, die diese Klarheit bringen, bereits damals dem gut Dreißigjährigen sämtlich präsent sind und zwar in ihrem genuinen Zusammenhang: Die Bedingungen des Gewordenseins und Werdens des christlichen Lebens sind nicht enger anzusetzen als die Bedingungen des Weltgeschehens, des kosmischen Werdens, überhaupt;²² dieses ist zu erfassen in seiner Duplizität als bloßes Naturgeschehen und als geschichtliches Leben der Menschheit insgesamt,²³ das dazu befähigt und dazu bestimmt ist, sich in verantwortlichen Vollzügen der Selbstreflexion und der Selbstgestaltung, also des Wissens und des Handelns, selbst zu bestimmen. Und dies unvermeidlich, nämlich kraft des unhintergehbaren und unüberholbaren Vor- und Aufgegebenseins des innerweltlichen Freiseins der Menschen für es selbst, dessen inne zu werden als eines radikal passiv erlittenen Werks des universalen Werdens die Religiosität der Menschen ausmacht²⁴ – seine Religiosität, die durch dieses universale Werden selbst heraufgeführt ist.²⁵ Präsent ist schon dem Redner, dass sich im universalen Werden erst mit dem Bestimmtwerden der Religiosität des Menschen sein Gebildetwerden vollendet²⁶ und dass die Eigenart seiner Religiosität über die Eigenart seines Gebildetseins entscheidet.²⁷ Präsent ist schon dem Redner, dass diese – die Bildung des Menschen vollendende – Bildung der Religiosität nur durch Gemeinschaft erreicht und nur in Gemeinschaft gelebt werden kann.²⁸ Und Präsent ist schon dem Redner, dass das Gesamtleben des christlich religiösen Gebildetseins nur eines im Kontext der vielen in menschlicher Geschichte gewordenen religiösen Gemeinschaften des Gebildetseins ist;²⁹ freilich dasjenige, welches sich selbst durch seinen Ursprung, d. h. durch das Auftreten und die Wirkung der Religiosität Jesu, als das religiöse Innesein des wahren

Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin 2004; Christoph Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, Berlin 2004.  Zweite Rede: KGA I/2, 234,33 ff.  KGA I/2, 223,20 – 227,24 und 227,25 – 234,32.  KGA I/2, 212,12– 15: „Die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besonderen Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkt, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht“.  KGA I/2, 211,29 – 36: Die Religion empfängt die sie ausmachende Anschauung des Universums durch dessen eigene Handlungen und (Selbst)Darstellungen.  KGA I/2, 198,2– 202,10: Wer „recht gebildet“ ist, dem wird jenseits der verächtlichen Verfallsformen von Religion diese selbst in der Tiefe des Menschseins sichtbar; freilich nur ihm.  Bildung vollendet sich erst in der Religion. Religion aber ist immer positiv, also geschichtlich wie individuell bestimmt. Also auch die darauf aufruhende Bildung.  KGA I/2, 248,7 f. mit 267,16 ff.: Bildung zur Religion erfolgt durch ihre Mitteilung, und diese geschieht kraft und in der wesentlichen Geselligkeit der Religion.  KGA I/2, 294,22 ff.; 299,6 ff.

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Wesens von religiöser Bildung und Gemeinschaft erschlossen ist.³⁰ Präsent ist ferner schon dem Redner, dass die Bildungsgestalt christlicher Religiosität in der Menschheitsgeschichte nur erreicht werden und sich ausbreiten kann vermöge der Qualität und Identität der Gemeinschaft christlicher Frömmigkeit:³¹ vermöge ihrer Qualität, die durch den Ursprung der Glaubensgemeinschaft (Frömmigkeitsgemeinschaft) festgelegt ist, also durch die die christliche Frömmigkeit in der Geschichte bewirkende Frömmigkeit Jesu,³² und vermöge ihrer Identität, die notwendig³³ bedingt ist durch die Kompetenz der von der christlich-frommen Gemeinschaft ins Leitungsamt berufenen Personen.³⁴ Und präsent ist schließlich schon dem Redner, dass diese Kompetenz eine hermeneutische ist; nämlich die Kompetenz der Schriftauslegung, die darin besteht, durch Abwehr von Missverstand und Missbrauch³⁵ des im Neuen Testament vorliegenden fixierten Ursprungszeugnisses und durch Vollzug des rechten Gebrauchs der neutestamentlichen Schrift, das Wesen christlich-religiöser Gemeinschaft und ihrer Bildungskraft, wie es durch ihren Ursprung in der Wirkung von Jesu Person und Frömmigkeit bestimmt ist, nach innen und nach außen zur Geltung zu bringen. Schon der junge Schleiermacher versteht den ganzen Auftritt der Reden, wie die einleitende „Apologie“ belegt, bereits als ein Spezimen eben dieser besonderen professionellen Kompetenz der Mitglieder des „Ordens“ derer, die ins Leitungsamt der christlichen Gemeinschaft berufen sind.³⁶ So belegen schon die Reden nicht nur, welche Horizonte philosophischer Reflexion sich die christliche Frömmigkeit zumuten muss, um sich selbst in ihrem Gewordensein und Werden gründlich zu

 KGA I/2, 316,26 ff.  KGA I/2, 317,26 – 37; 319,20 – 28; 321,4– 322,28.  KGA I/2, 322,16 – 23; 322,37– 323,2; 323,9 – 35.  Nicht: hinreichend.  Das Christentum ist eine positive Religion. Von ihm gilt, was von jeder positiven Religion gilt. Also gilt auch von ihm, obwohl es in den Passagen der Fünften Rede über das Christentum nicht eigens ausgeführt wird, was für jede religiöse Gemeinschaft hinsichtlich der Unvermeidlichkeit des Unterschiedes zwischen Priestern und Laien gilt: KGA I/2, 276,37– 277,10.  Die angemessene Auffassung der „heiligen Schriften“ des Christentums anerkennt sie als Bezeugung der „Werke“ des Geistes Jesu, die über die in diesen Schriften bezeugten hinausgehen. Unangemessen ist es, die heiligen Schriften des Christentums als einen „geschlossenen Kodex“ der Religion zu handhaben: KGA I/2, 323,2– 12. Im Übrigen gilt auch für die christliche Gemeinschaft, was schon in der zweiten Rede über die angemessene Auffassung der religiösen Texte (Dogmen und Lehrsätze) gesagt wurde (KGA I/2, 239,29 ff.): Sie sind Resultate der „Reflexion“ auf Religion, die nicht mit dieser selbst verwechselt werden dürfen.  KGA I/2 190,18 – 191,2. Freilich macht der Redner schon hier auf das Merkmal aufmerksam, das ihn von seinen „Zunftgenossen“ unterscheidet und zum Reden über die Religion bevollmächtigt: Sein Amt und sein „Beruf“ (sein Berufensein) durch die Sache selbst fallen zusammen: 191,2– 8.

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verstehen,³⁷ sondern sie belegen auch, wem diese Reflexionsarbeit zugute kommen soll: der kompetenten rednerischen Darstellung des Wesens christlichfrommer Bildung und Gemeinschaft;³⁸ einer Darstellung also, deren rednerischer Charakter darin besteht, dass sie etwas bewirkt: ³⁹ nämlich die Adressaten bewegt und erbaut – dadurch, dass sie der christlichen Frömmigkeit zur Klarheit über ihr Wesen verhilft. Gerade die Reden belegen also, dass Schleiermacher, nachdem er schon in seinem Hallenser Studium begonnen hatte, die Unhaltbarkeit von Frömmigkeit als Dogmenglaube durch eine philosophierende Entdeckung von Frömmigkeit und Glaube als Wesenszug der bildungsbedürftigen Natur des Menschen zu überwinden, nun bereits in der ersten längeren Berliner Zeit von 1797– 1802 beseelt ist vom Engagement für die religiöse Bildungskraft und Wohlordnung der christlichen Gemeinschaft⁴⁰ und vom Engagement für die professionelle Kompetenz der Amtsträger, die zur Leitung dieses Gesamtlebens berufen sind.⁴¹ Durch die Erfahrungen der beiden folgenden Jahre in Stolp gewinnt dieses Engagement Nachdruck und Profil. Es äußert sich in den 1804 erschienenen „Zwei unvorgreifliche(n) Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens, zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat“.⁴² Die hier vorgeschlagenen Verbesserungen des Zustands der evangelischen Kirche in Preußen erstrecken sich auf die Überwindung der konfessionellen Zweigleisigkeit zwischen Reformierten und Lutheranern, auf die Überwindung von intellektualistischen und moralistischen Einseitigkeiten und von Willkür im Kultus⁴³ (im Liedgut, in den Gebeten, in der Feier der Sakramente), schließlich aber vor allem auf die Verbesserung der „Beschaffenheit der Religionslehrer“, und zwar einerseits darauf, ungeeignete und unmotivierte Kandidaten von diesem Stande fernzuhalten, und gleichzeitig andererseits darauf, das Studium der Theologen auf die von ihrem Beruf verlangte hermeneutische Kernkompetenz zu konzentrieren, die darin besteht, das in der Schrift bezeugte Wesen realer christlicher Frömmigkeit zu erfassen, um dieses

 Eben die in der Zweiten Rede berücksichtigten.  KGA I/2, 191,2– 8: Nur wer durch seine Stelle im Universum – also auch durch das Universum selbst – mit der Realität der Religion bekannt gemacht wurde und sich auf ihr Wesen besonnen hat, hat den „Beruf“, über die Religion zu „reden“ (im emphatischen Sinne, nämlich bewegend zu reden; s. nächste Anm.).  KGA I/2, 269,17– 39. Vgl. dazu die späteren Aussagen über die „rednerische“ im Kreis der Formen der christlichen Glaubensrede: Glaubenslehre2 § 16,1: „Der rednerische (Ausdruck) ist rein bewegend.“  KGA I/2, 276,37– 278,17; 279,12– 284,21; 284,22– 288,9.  KGA I/2 288,10 – 290,6.  Über die Entstehung und den Erfahrungshintergrund beider Texte vgl. KGA I/4, LXXIff.  In den „öffentlichen Religionsübungen“: KGA I/4, 418 ff.

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Wesen des Christseins auch in seiner gegenwärtigen Variation zu erkennen und zu pflegen.⁴⁴ Schon hier, in den Gutachten von 1804, wird in Kürze ein dafür erforderlicher Dreifachkomplex von unerlässlichen Gegenständen des Studiums benannt: „historische“ (die Dogmatik einschließenden) Kenntnisse, praktische Anleitungen und Beschäftigung mit philosophischen Fundamentalfragen des Mensch- und Christeins.⁴⁵ Das schon hinter den Reden stehende Ideal eines Religionslehrers, der die philosophierende Reflexion auf den ganzen Komplex der universalen Bedingungen des Gewordenseins und Werdens der religiösen Gemeinschaft, in der er selbst lebt, für die nach innen und nach außen bewegende, d. h. bildend wirksame Darstellung ihres ursprünglichen Wesens benutzt, dieses Ideal scheint es auch gewesen zu sein, das Schleiermacher zunächst über das Pfarramt hinaus und in eine akademische Tätigkeit hineinstreben ließ. Das belegen die noch von Stolp aus geführten Verhandlungen über die angebotene und dann auch angenommene Würzburger Professur, welche auf Schleiermachers ausdrücklichen Wunsch mit einer Prediger Stelle verbunden wurde und so Schleiermachers Wunsch nach einer Position, in der wissenschaftliches Studium und Lehre verbunden waren mit Ausübung derjenigen professionellen Tätigkeit, deren Förderung die Wissenschaft dienen sollte.⁴⁶ Dieselbe Kombination von Position im Wissenschaftssystem und im Pfarramt zeichnet die dann in der letzten Berliner Zeit erreichte Situation aus. Sie kann keineswegs als für Schleiermacher unbequeme Doppellast angesehen werden. Vielmehr entsprach sie seinen ältesten Wünschen und hatte für ihn programmatischen Charakter: Studium und Lehre der wissenschaftlichen Theologie standen für Schleiermacher im Dienst der Befähigung der „Religionsdiener“⁴⁷ zur Erfüllung ihres Amtes der Gemeindeleitung, dessen Zentrum das Predigtamt bildet. Dieses sah Schleiermacher als das eigentliche Ziel seiner persönlichen Laufbahn an, was einerseits daraus hervorgeht, dass er sich bei den Verhandlungen im Zusammenhang seiner im Sommer 1804 anstehenden Versetzung nach Halle ausdrücklich zusichern ließ, dass ihm die spätere Aussicht auf eine der wichtigeren Predigerstellen in Berlin „unbenommen“ bleibe⁴⁸ und überhaupt – in Parallele zur Karriere seines Onkels Stubenrauch – die Professur nur als Zwischenstation auf dem Weg zum eigentlichen Karriereziel, einem bedeutenderen

 KGA I/4, 448 – 451.  KGA I/4, 449,28 – 450,6.  Vgl. den Briefwechsel Schleiermachers mit H. E. G. Paulus: KGA V/7, 189 – 191, 252– 254, 323 – 324, 339 – 341.  So die Bezeichnung im zweiten der unvorgreiflichen Gutachten.  KGA V/7, Nr. 1742,13 – 23.

Schleiermacher als christlicher Theologe. Die Bedeutung der Hallenser Professur

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Pfarramt, ansah. So schreibt er noch im Juni 1806 in unverblümter Direktheit an Gaß: „Sehr interessant ist mir, was Sie mir von Ihren Aussichten auf die Zukunft mitteilen […] Sind Sie erst in Potsdam so thun sie mir wol die Liebe den der jetzt Pischons Stelle bekommen wird, wenn ich 50 Jahr alt bin (denn länger taugt man nicht zum Professor) todtzuschlagen und dafür zu sorgen, daß Niemand anders als ich an seine Stelle kommt. Eher als ich ein Paar Mal meinen ganzen akademischen Cursus (und dazu möchten fast 12 Jahre gehören) durchgemacht, möchte ich nicht gern von hier fort. Aber dann werde ich es satt haben und mich gern in die ruhige Stelle des bloßen Predigerlebens zurükzihen“.⁴⁹

Man bekommt den Eindruck, dass Schleiermacher seinen Einsatz in der wissenschaftlichen Theologie als seinen eigenen Beitrag zur Verwirklichung des in den Stolper Gutachten vorgeschlagenen Verbesserungen des Zustandes der Kirche in Preußen ansah, und zwar dadurch, dass die nach Ämtern in dieser Gemeinschaft Strebenden durch ihr Studium zu derjenigen Kompetenz, zu denjenigen Kenntnissen und Fertigkeiten gelangen, die für die Lösung ihrer Berufsaufgabe unverzichtbar ist. Schleiermacher strebt eine Position an, in der er – um seinen eigenen späteren Ausdruck zu benutzen – selbst „Kirchenverbesserung“⁵⁰ durch Hebung des Pfarrstandes und zwar durch die dafür erforderliche Reform des Studiums betreiben kann. Das in Würzburg Angebotene wird Schleiermacher in Halle zuteil, und zwar in der umgekehrten Rangordnung: Sollte in Würzburg mit der Professur eine Predigerstelle verbunden werden, so sieht die Versetzung nach Halle eine Predigerstelle, nämlich die des reformierten Universitätspredigers, vor, die mit einer Universitätsstelle verbunden wird, nämlich mit einer außerplanmäßigen Professur extra facultatem.⁵¹ Erst vor dem Hintergrund von allem bisher Gesagten und dieser ursprünglichen Ausgestaltung der Hallenser Amtsverhältnisse wird verständlich, dass und warum Schleiermacher von den mancherlei lokalen Widerständen gegen die Einrichtung des akademischen Gottesdienstes so schmerzlich getroffen wird und so energisch um deren Überwindung kämpft.⁵² Sie gelingt erst im August 1806⁵³ – nur drei Monate vor Schließung der Universität Halle nach

   Nr.  Nr. 

KGA V/9, Nr. 2211,56 – 73. Christliche Sitte, a.a.O., (Anm. 12), 178 – 17. Vgl. die Mitteilung Staatsminister v. Massows vom 28. Mai 1804 an Schleiermacher: KGA V/7, *1735; Nr. 1756. Vgl. KGA V/8, Nr 1878,6 – 10; Nr. 1914,21– 27; Nr. 1931,159 – 161; Nr. 1969,39 – 61; Nr. 2081,19 – 26; *2119 und *2120. KGA V/9, Nr. 2226,7– 14.

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Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt und seinem Einzug in Halle.⁵⁴ Schon im September 1806 musste Schleiermacher gegen den Plan protestieren, die gerade reparierte Universitätskirche der Verpflegungskommission abzutreten.⁵⁵ Angesichts dieser enttäuschenden Schwierigkeiten werden die Aufgabe des Unterrichts in der wissenschaftlichen Theologie umso entschiedener in Angriff genommen – und zwar von Anfang an in dem gesamten Umfang, der Schleiermacher inzwischen – wie nicht nur das zweite Stolper Gutachten, sondern auch die ebenfalls noch in Stolp verfertigte Rezension von Schellings Vorlesungen über das akademische Studium beweist⁵⁶ – klar vor Augen stand: Schleiermacher begann seine Lehrtätigkeit mit Vorlesungen über theologische Enzyklopädie, über philosophische Ethik, sowie über „Dogmatik“,⁵⁷ die in den folgenden Semestern⁵⁸ wiederholt werden. Im Sommersemester 1806 wird auch „christliche Moral“ gelesen.⁵⁹ Und schon wenige Wochen nach Beginn seiner Lehrtätigkeit fasst er den Plan zu einem mehrjährigen (genau: dreijährigen) exegetischen Kursus, dessen wesentliche Elemente sein sollen: ein Semester Hermeneutik, anschließend zwei Semester kursorische Lektüre des gesamten Neuen Testaments, dann Exegese eines „historischen und eines didaktischen Buches“ des Neuen Testaments und schließlich eigene exegetische Übungen der Studierenden.⁶⁰ Dieser Plan zeigt ein Interesse an Exegese, das dann tatsächlich realisiert wird in einer intensiven Beschäftigung mit dem Corpus Paulinum, einsetzend mit einer Galatervorlesung im WS 05/06,⁶¹ fortgesetzt im SS 06 mit einer Vorlesung über den 1. Thessalonicher-, den 1. Korinther- und den Römerbrief ⁶² und gipfelnd in der Studie über den 1. Timotheusbrief von 1806/07 mit dem Nachweis von dessen nichtpaulinischer Verfasserschaft.⁶³ Im SS 06 tritt die Kir Vgl. Henrich Steffens, Was ich erlebte, Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, Bd. 5, 190 – 200; 205 – 213.  KGA V/9, XXIII Anm. 16.  KGA I/4, 461– 484.  KGA V/8, XX; vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992 (SchleiermacherArchiv 11), 300.  KGA V/8, Nr. 2026,53 – 60; vgl. Arndt und Virmond, Schleiermachers Briefwechsel, a.a.O. (Anm. 57), 301.  KGA V/9, Nr. 2211,46 ff.; vgl. KGA V/9, XXII (Arndt und Virmond, Schleiermachers Briefwechsel, a.a.O., Anm. 57, 301).  KGA V/8, Nr. 1881,34– 50.  KGA V/8, Nr. 2026,53 – 60 und XXXIII (Arndt und Virmond, Schleiermachers Briefwechsel, a.a.O., Anm. 57, 301).  KGA V/9, Nr. 2211,96 – 100. – Ergebnis: „Den Apostel Paulus hoffe ich nun bald so gut zu verstehen als den Plato selbst“ (KGA V/9, Nr. 2211,54 f.).  KGA V/9, Nr. 2322,35 – 37.

Schleiermacher als christlicher Theologe. Die Bedeutung der Hallenser Professur

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chengeschichte dazu,⁶⁴ die im Herbst 04 zunächst noch zurückgestellt worden war.⁶⁵ Ist dieses breitgefächerte Lehrangebot ohne Zusammenhang oder gar willkürlich gewählt? Keineswegs.Vielmehr zeigt es, dass Schleiermacher sofort mit der Übernahme der Hallenser Professur den „ganzen akademischen Cursus“⁶⁶ in Angriff nahm, um dessen mehrmaliger Darbietung willen er für etwa 12 Jahre an der Universität auszuharren bereit war⁶⁷ und der ihm schon bei der Abfassung des zweiten Stolper Gutachtens als für die Begründung der Amtskompetenz unbedingt erforderlich vor Augen stand: Den Grundriss dieses „ganzen akademischen Kursus“ bietet die Enzyklopädie, welche die Theologie Schleiermachers ältesten Überzeugungen entsprechend als „positive“, d. h. berufsbezogene, Wissenschaft konzipiert mit ihren drei bzw. vier wesentlichen Teilen: nämlich philosophische, historische und praktische Theologie. Indem Schleiermacher die Enzyklopädie schon im ersten Hallenser Semester und dann im dritten gleich noch einmal las, trug er gewissermaßen das Programm seines ihm vorschwebenden „ganzen akademischen Cursus“ vor. Gleichzeitig mit dem Vortrag des Programms nahm Schleiermacher aber auch schon dessen Realisierung in Angriff, indem er sich auf die tragenden Elemente dieses Grundrisses warf: einerseits auf die philosophische Ethik, in der der wesentliche Ort der – stets positiven – Religiosität in der Struktur des Menschseinsim-Werden und ihre Funktion in der Bildungsgeschichte der Menschheit aufgewiesen wird, und andererseits auf die „historische“ Theologie, deren Gegenstand das Christentum als eine – und zwar die ausgezeichnete – Ausgestaltung religiöser Gemeinschaft in der menschlichen Geschichte ist. Die für die Behandlung dieser geschichtlichen Realität des Christentums erforderlichen drei Disziplinen sind erstens die der geschichtlichen Gegenwart des Christentums zugewandten, unter ihnen auch die Dogmatik als systematische Interpretation der gegenwärtigen Glaubens- und Sittenlehre der christlichen Gemeinschaft,⁶⁸ zweitens die Exegese der neutestamentlichen Schriften als Weg zur Erkenntnis des Ursprungs und des ursprünglichen Wesens der christlichen Frömmigkeit und drittens eben die Kir-

 KGA V/9,XXII (Arndt und Virmond, Schleiermachers Briefwechsel, a.a.O., Anm. 57, 301).  KGA V/8, Nr. 1881,25.  KGA V/9, Nr. 2211,68 – 71.  Ebd.  Dass Schleiermacher einerseits „Dogmatik“ gelesen hat, andererseits aber auch „christliche Moral“ (oben Anm. 57), zeigt, dass er bereits in Halle die sachliche Differenz zwischen Glaubenslehre und Sittenlehre zugrunde legte, jedoch den Titel „Dogmatik“ noch nicht, wie später, für das Ganze der christlichen Lehre verwendete (KD), sondern nur zur Bezeichnung der Glaubenslehre.

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chengeschichte als Erkenntnis der die Gegenwartssituation heraufführenden geschichtlichen Wirksamkeit des Ursprungs- und Wesens christlicher Frömmigkeit. Just diese drei Disziplinen und keine anderen hat Schleiermacher als wesentliche Elemente des ihm vorschwebenden „ganzen akademischen Cursus“ sofort mit Übernahme der Hallenser Professur in Angriff genommen. Rein quantitativ liegt dabei der Schwerpunkt auf Dogmatik und Exegese. Auch das ist kein Zufall, sondern ergibt sich aus dem Schleiermacher vorschwebenden berufsbefähigenden Ziel des gesamten Theologiestudiums. Denn in diesen beiden Disziplinen geht es um diejenige komplexe hermeneutische Kompetenz der zukünftigen Amtsträger die darin besteht, mit den Schriften, die das gemeinsame Selbstverständnis der christlich-frommen Gemeinschaft artikulieren (das sind: die in Geltung stehenden kirchlichen Bekenntnisse und die Schriften des Neuen Testaments), sachgemäß umzugehen: nämlich so, dass das Missverständnis vermieden wird, die Aussagen dieser Texte seien selbst Gegenstand des Glaubens, die für wahr zu halten das Wesen christlicher Frömmigkeit sei,⁶⁹ und statt dessen die richtige Einsicht zu befördern, dass diese Texte Ausdruck, Selbstzeugnis christlicher Frömmigkeit (also des Gefühls des Erlöstseins durch Christus) sind, in denen die Realität dieser Frömmigkeit, ihr Ursprung und Wesen zur ansteckend wirkenden Selbstdarstellung kommt. So wie Schleiermacher schon in dem zweiten Stolper Gutachten die hermeneutischen Fähigkeiten der Amtsinhaber als das Moment nennt, mit dem die Qualität ihrer Amtsführung steht und fällt, so hält er noch in den Vorlesungen der Spätzeit fest, dass es just diese Fähigkeit zur rechten Schriftauslegung sei, deren zuverlässige Verbreitung im Klerus die Kirche in demjenigen Zustand erhalte, der möglichst wenig Verbesserungsversuch erforderlich macht.⁷⁰ Auf dieser Linie ältester Einsichten liegt das schon in Halle

 Dies Missverständnis war es, das Anlass gab zur Kritik von Bibel und Bekenntnis im Namen der Vernunft. Es steht Schleiermacher als das unbedingt zu vermeidende vor Augen. Vgl. die Bemerkung gegenüber Gaß, die Exegese müsse so gelehrt werden, dass die Studierenden „zu Interpreten“ gebildet werden, die imstande sind, zu der Realität vorzudringen, die sich in den Texten artikuliert, und somit davor bewahrt werden, „daß sie bei der Dogmatik über die dicta probantia Alles aufs Wort glauben müssen“ (KGA V / 9 Nr. 1881, 30 f.).  Christliche Sitte, a.a.O. (Anm. 12), 204 f.: „Der geistliche Hochmut (von Laien: E. H.) würde also in den einzelnen nicht entstehen, wenn er nicht immer Vorschub fände einerseits in der Unvollkommenheit der Organisation, und andererseits darin, daß nicht Anstalten genug getroffen worden sind zur Verbreitung des richtigen Schriftverständnisses, und die Menge jener verkehrten Versuche in unserer Kirche ist ein sicheres Thermometer für den Zustand des ganzen in dieser Hinsicht. Wir werden auch des Uebels nicht Herr werden, ehe die Gründe desselben gehoben sind. In der ersten Zeit der evangelischen Kirche entstanden die Verkehrtheiten mehr aus dem einen Grunde, aus Mangel an Schriftverständnis und an Mitteln, dazu zu gelangen; in

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hervortretende Engagement für das Zusammenspiel von Dogmatik und Exegese, das sich dann auch bis in die Spätzeit durchhält und dessen wichtigstes Zeugnis die Vorlesungen über das Leben Jesu sein werden.⁷¹ Alles in allem also macht die Übernahme der Hallenser Professur durch Schleiermacher nicht den Eindruck, als betrete hier ein Suchender ein neues, unbekanntes Gebiet. Vielmehr ergreift hier ein durch jahrzehntelange Selbstreflexion christlicher Frömmigkeit, ich möchte sagen: ein durch Jahrzehnte des christlichen Philosophierens, und durch wenigstens ein Jahrzehnt an Erfahrungen mit der selbständigen Führung des kirchlichen Amtes zu gründlichen Einsichten in das Wesen von wissenschaftlicher Theologie und in ihre Aufgabe und zu umfassenden Plänen für ihre aufgabengerechte Gestalt gereifter Enddreißiger die ihm endlich gebotene Gelegenheit, diese Einsichten und Pläne umzusetzen. Muss man also sagen: Bei der Übernahme der Hallenser Professur sei Schleiermacher als christlicher Theologe bereits „fertig“ gewesen? Das sei ferne! Zwar hatte Schleiermacher die für ihn gültige Lösung des epochalen Problems, ob und wie religiöse Gewissheit, also Glaube, und Vernunft zusammen bestehen können, bereits in den frühen 90er Jahren erreicht. Das steht fest.⁷² In Halle geht es nicht mehr um das Problem, ob die Widerspruchslosigkeit von Glaube und Vernunft denkbar ist, sondern nur noch darum, klar darzulegen, dass,warum und wie das möglich ist.⁷³ Aber das schloss nicht aus, dass wichtige Grundfragen sowohl in den philosophischen Fragebereichen, die für die Selbstverständigung des Glaubens über sein gewordenes und im Werden stehendes Wesen unvermeidbar sind, als auch im Bereich der Dogmatik und Exegese der weiteren Bearbeitung und Klärung harrten. Drei solche Themenbereiche sind in den Dokumenten der Hallenser Zeit identifizierbar: Da ist zunächst die intensive Auseinandersetzung mit dem Frömmigkeitszeugnis des Paulus zu nennen, als dessen Zentralpunkt Schleiermacher – faktisch ganz auf der Linie der Reformatoren – den Gegensatz des Lebens im Geist zum Leben im Fleisch erfasst und die mit der Dominanz des ersteren über das letztere, die aus der Christuserfahrung entspringt, erreichte Versöhnung. Da sind zweitens die formalen Ungeschicklichkeiten und sachlichen Uneindeutigkeiten in der ersten Auflage der Reden zu nennen, die bei der Umarbeitung

den neueren Zeiten ist die Ursache mehr in der fehlerhaften Organisation des ganzen und besonders des geistlichen Standes zu suchen“.  Hierzu vgl. Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen F. Schleiermacher und D.F. Strauß, Gütersloh 1975.  Oben Anm. 21.  Vgl. KGA V/9, Nr. 2211,49 ff.: „Indeß hoffe ich daß in diesen Vorlesungen das Verhältniß des religiösen zum wissenschaftlichen so klar dargestellt wird als nur irgend möglich ist“.

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der ersten Auflage zur zweiten, die sich von September 1805 bis Herbst 1806⁷⁴ hinzieht, zu beseitigen waren. Und da ist drittens die Vertiefung der Auffassung von Christi Person,Werk und weltgeschichtlicher Stellung zu nennen, die nun auf der Linie des Johannesevangeliums in dem Dialog „Die Weihnachtsfeier“ aus dem Winter 1805/06 vorgenommen wird.⁷⁵ Dass eine Lebenskrise, wie Schleiermacher sie durch den endgültigen Bruch der Beziehung zu Eleonore Grunow im Oktober 1805 durchlitt,⁷⁶ eine bildende Einwirkung auf die Frömmigkeit besitzt, liegt in der Natur der Sache. In der Natur der Sache liegt aber auch, daß solche Erschütterungen sich innerhalb der Kontinuitäten von Lebensgefühl und reflektierter Einsicht der jeweils betroffenen Person bewegen und daß ihre Folgen für das gereifte Lebensgefühl und die vertiefte Einsicht der Person durch deren schon zuvor etablierten Gewissheiten und Einsichten bedingt sind.⁷⁷ Wie die Fortschritte in den drei genannten Bereichen über das schon in den vorausliegenden Jahren Gewisse und Geklärte aufgrund der Arbeiten und Erfahrungen der beiden Hallenser Jahre hinausführen, das ist eine Frage, die nach Vorliegen des gesamten Quellenmaterials nun in der Erwartung guter Erfolge der Einzelforschung übergeben werden kann.

 KGA V/8, Nr. 2031,89 f.; KGA V/9, Nr. 2211,43 ff.; Nr. 2213,23 ff.  KGA I/5, 43 – 98.  Vgl. Schleiermachers Selbstzeugnis KGA V/8, Nr. 2061,32– 42; 2081,27– 37.  Bei Emanuel Hirsch, Schleiermachers Christusglaube, Gütersloh 1968, scheint mir eine Überbetonung der Bedeutung dieser Lebenskrise für die theologische Entwicklung Schleiermachers vorzuliegen.

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„… mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen“. Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit Das in Halle erscheinende „Journal für Prediger“ meldete rechtzeitig vor Beginn der Vorlesungen des Wintersemesters 1804/05 als Neuigkeit: „Der bisherige Hofprediger zu Stolpe, Hr. Schleiermacher, ist zum außerordentlichen Professor der Theologie und Philosophie bei eben dieser Universität, und zugleich zum Universitätsprediger berufen, und hat den Ruf auch angenommen.“¹ Die Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle) nannte den interessierten Studenten am 25. September 1804 die Vorlesungsthemen: „Die Haupt- und Fundamentallehren des theologischen Systems“, „Enzyklopädie und Methodologie“, „Die christliche Sittenlehre“.² Was hatte den Hofprediger aus dem abgelegenen Stolpe für eine solche interessante Fächerkombination empfohlen, wie kam er gerade auf diese KollegThemen, die seine akademische Lebensthematik präludieren, und wie entwickelte sich in den folgenden Lehr-Jahren seine theologische Autorschaft? Diesen Fragen widmet sich die folgende Darstellung. Die Vorgeschichte dieser Berufung eines reformierten Theologen an die lutherische Fakultät ist einigermaßen aufgeklärt und als religionspolitischer Wille des Preußischen Königs zur Förderung seines Kirchenunionsplanes zu deuten – es korrespondierte die Einsetzung eines lutherischen Theologen in die reformierte Fakultät in Frankfurt/Oder –, und dennoch ist dieser Schritt in mancher Hinsicht rätselhaft. Man kann sich den Sprung eines Provinzpredigers in die akademische Welt einer Universitätsstadt, die er zuletzt als Student erlebt hatte, gar nicht groß genug vorstellen. Wofür war Schleiermacher qualifiziert? Er besaß keinerlei aka Journal für Prediger, Band 47, Stück 4, 1804, 429. Vgl. für die folgenden Belege meine Darstellung in KGA I/5, VIII–XXVIII sowie den Artikel „Halle und Zeit der Unsicherheit (1804– 1809): Lebens- und Wirkungskreise“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg.v. Martin Ohst (im Druck), schließlich Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 147– 163. An unverzichtbaren Quelleneditionen sind hinzugekommen KGA V/7 (Briefwechsel 1803 – 1804) (2005), KGA V/8 (Briefwechsel 1804– 1806) (2008) sowie KGA V/9 (Briefwechsel 1806 – 1807) (2011).  Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle) 1804, Intelligenzblatt. Nr. 155, den 25. September, Sp. 1249. Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 11), 300.

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demische Titel, also weder den Magister- noch den Doktorgrad, er hatte auch keine kirchliche, ihn qualifizierende Karriere hinter sich. Kein Wunder, dass die Fakultät, die durchaus eine Verjüngung vertragen konnte, dem 35-jährigen Implantat aus königlicher Protektion mit Zurückhaltung begegnete. Sie konnte nicht ahnen, dass ihr der begabteste Theologe des Jahrhunderts beigeordnet worden war, der bald auch ein Anziehungspunkt für die Studenten der gesamten Universität werden sollte. Was konnte ihn qualifiziert haben? Am ehesten wird man an die erste Sammlung seiner Predigten denken, die er 1801 veröffentlicht hatte und die ihn für das Amt des Universitätspredigers als höchst geeignet erscheinen lassen musste. Dieses dritte Buch war, anders als die vorausgehenden „Reden“ über die Religion und die „Monologen“, direkt an ein kirchliches Publikum gerichtet und nicht an die aufgeklärten Religionsverächter oder die geistigen Freunde innerlicher Selbstbetrachtung. Es war auch nicht, wie diese, anonym erschienen. Dieses Amt war im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts eingeschlafen;³ Schleiermacher erinnert sich ungenau, es während seines Studiums noch als von Hermann August Niemeyer vertreten erlebt zu haben.⁴ Friedrich Wilhelm III. wollte dieses Amt wieder zum Leben erwecken, was nur in Übereinstimmung mit der Theologischen Fakultät zu bewerkstelligen war. Ein ausgewiesener akademischer Gelehrter war dazu sichtlich nicht vonnöten. Für einen Universitätsprediger konnte der publizierende Dorfpastor durchgehen. Es war ja vielleicht auch noch nicht vergessen, dass er Predigten aus dem Englischen übersetzt hatte. Die Fakultät brauchte ihn als Praktischen Theologen nicht, da Niemeyer Homiletik und Religionspädagogik vertrat. Am ehesten schien er für die Philosophie durch seine Monographie „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ qualifiziert, die 1803 erschienen war,weniger durch den ersten Band der Platon-Übersetzung, denn dieser lag bei dem Gedanken an seine Berufung noch nicht vor, und Übersetzen galt nicht als wissenschaftliche Tätigkeit. Der Lehrauftrag für Philosophie, der in den Berufungsakten nicht vorkommt, scheint auf Schleiermachers eigenen Wunsch während der Berufungsverhandlungen zurückzugehen, sollte aber auch vielleicht die lutherische Fakultät beschwichtigen.Was die Fachphilosophen, also etwa sein Lehrer Johann August Eberhard, dazu sagten, ist unbekannt. Die Grenzen der Fakultäten waren damals freilich fließend, so dass die doppelte außerordentliche Professur nicht so aufregend war, wie sie heute erscheint. Jedenfalls gab sie

 Vgl. Wichmann von Meding, „Schleiermachers theologische Promotion“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 87 (1990), 299 – 322, hier 306 f. sowie 310 (Niemeyers eigene Darstellung). Schleiermacher hat sichtlich Niemeyer als Prediger gehört.  Vgl. Schleiermacher an H.E.G. Paulus, 11. Januar 1804 (KGA V/7, 189 – 191, hier 190; Nr. 1634).

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Schleiermacher das Recht, von Anfang an philosophische Vorlesungen zu halten. Dann bleibt die Frage nach dem Lehrauftrag in der Theologie. Was hatte ihn dazu qualifiziert? Ein theologisches Werk im akademischen Sinne hatte er nicht publiziert. Man darf auch nicht übersehen, dass seine Schriften durchweg ohne Autorangabe erschienen waren, auch wenn sich das Versteckspiel nicht auf die Dauer durchhalten ließ. Auf eine akademische Karriere hin schien das nicht gezielt. Dass Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, der bekannte Neologe, ihn zu Anfang des Jahres 1804 (nach der Absage Karl Daubs) als Theologie-Professor nach Würzburg haben wollte, war – vielleicht auf Hinweis Friedrich Schlegels während seiner Jenaer Zeit – mit einiger Sicherheit der Lektüre der „Reden“ geschuldet und bekundet eine bestimmte Deutung dieser Schrift. Paulus scheint in Schleiermacher einen Bruder im Geiste gesehen und gesucht zu haben. Er muss, wie dem Antwortbrief Schleiermachers abzulesen ist, diesen als „unsektierisch“ bezeichnet und gelobt haben.⁵ Das hieß – der damaligen Wortbedeutung nach –: Schleiermacher schien ihm keiner theologischen Partei oder einengenden kirchlichen Richtung anzugehören. Paulus, der Exeget und Orientalist war, erwartete also durch eine solche selbständige Persönlichkeit auf den von ihm nicht vertretenen Gebieten der Theologie ergänzt zu werden. Damit zeigt sich zugleich, dass man zeitgenössisch den Begriff „Theologie“ nicht eng sehen darf. Da die „Reden“ ganz natürlich und geradezu exklusiv die christliche Religion im Blick hatten und auch nur so gelesen wurden, kann nur dieses Werk als seinen Autor für einen theologischen Lehrstuhl qualifizierend angesehen worden sein. Und das, obwohl der Autor – wenn ich recht sehe – das Wort „Theologie“ in den „Reden“ vollständig vermieden hatte und von „Theologen“ lediglich denunzierend als von „Buchstabentheologen“ zu schreiben wusste.⁶ Eine nachvollziehbare Bewerbung für eine Universitätskarriere war das gewiss nicht. Paulus hatte sich daran nicht gestört und auf eine fruchtbare Zusammenarbeit gehofft. Da Schleiermacher – und das ist, wie dann in Halle (und Berlin), charakteristisch für ihn – auf einem gleichzeitigen Predigtamt bestanden hatte, wurde er vorläufig auf eine „Professur der theologischen Sittenlehre und der damit verbundenen praktischen Studien nebst einem Theil der Vormittagspredigten in der protestantischen Kirche

 Schleiermacher an H. E. G. Paulus, 29. Februar 1804 (KGA V/7, 253, Nr. 1674): „Was also das Unsektierische betrifft sollen Sie gewiß die Wahrheit von mir geredet haben“. – Da Schleiermacher seine Korrespondenz sorgfältig aufzuheben pflegte, besonders auch was den wissenschaftlichen Briefwechsel angeht, ist das Fehlen der Briefe von Paulus auffällig.  Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, S.29 (KGA I/2, 201).

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zu Würzburg“ berufen.⁷ Das war die Qualifikation, die den Ruf nach Halle begründete. Denn nun konnte der König von Preußen nicht unter das Niveau dieser Berufung gehen. Schleiermacher hat das so nicht voraussehen können. Aber er hat den Monarchen bzw. seinen Minister Wilhelm von Thulemeyer, der Chef des reformierten geistlichen Departments war, in raffinierten devot-rhetorischen Briefen geradezu genötigt, ihm den Abgang ins Ausland nicht zu genehmigen und ihn in Preußen an einem anderen ehrenvollen Ort zu beschäftigen. Der Vorschlag „Halle“ scheint im Kabinett aufgekommen und ihm von Karl Friedrich von Beyme übermittelt worden zu sein, worauf der grundsätzlich erfreute Schleiermacher lediglich auf das Hindernis des „lästige[n] Confessionsunterschied[s]“ aufmerksam machen konnte.⁸ Jetzt konnten auch die bereits im Februar erschienenen „Zwei unvorgreifliche[n] Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat“ zur Wirkung kommen, die zwar wie üblich anonym veröffentlicht, aber Beyme „schon früh“ von Schleiermachers Freund Georg Ludwig Spalding zugespielt worden waren, und zwar schon ehe Schleiermacher selbst auf diese Idee gekommen war.⁹ War die Behörde einmal soweit gebracht, konnte der königliche Wille zur künftigen Kirchenreform mit Schleiermachers Person verbunden werden. Und natürlich war die Fakultät in Halle dem Wunsch des Königs „auf eine rühmliche Weise“ entgegengekommen.¹⁰ Finanziert wurde die neue Stelle durch eine eingesparte Stelle am Reformierten Gymnasium.¹¹ In Halle musste Schleiermacher zu dem akademischen Theologen werden, zu dem er berufen worden war. Dass er das wurde, zeigte sich auf der Stelle an der Thematik seiner Vorlesungen, die in seine wissenschaftliche Zukunft wiesen.

 Schleiermacher an Paulus (indirekt an den zuständigen Grafen von Thürheim), 29. Februar 1804 (KGA V/7, 251, Nr. 1673).  Schleiermacher an K. von Beyme, 25. April 1804 (KGA V/7, 318, Nr. 1724). Nach seinem Brief vom gleichen Tag an J.E.Th. von Willich war Schleiermacher der Vorschlag, ihn auf ähnliche Art wie in Würzburg in Halle anzustellen, von ungenannter Seite zu Ohren gekommen (ebd., 321). Den Brief an Beyme, der Geheimer Kabinettsrat war, kann man wohl nur so erklären, dass dieser ihm diesen vorläufigen Plan gemeldet und ihn zu einer Stellungnahme aufgefordert hatte. (Der zu postulierende Brief Beymes fehlt.)  Vgl. G. A. Reimer an Schleiermacher, 17. Mai 1804 (KGA V/7, 342, Nr. 1744). Spalding berichtet dies ausführlich in seinem Brief vom 18. Mai 1804, ohne weitere Zeitangabe, aber doch sichtlich zu einem Zeitpunkt, als die Berufung nach Würzburg noch eine Neuigkeit war (ebd., 345). Zu Schleiermachers Plan, die „Gutachten“ dem Staatsminister von Massow, Beyme und Niemeyer „in die Hände [zu] spielen“, siehe seinen Brief vom 12. Mai 1804 an Reimer (ebd., 334).  Kabinettsordre vom 10. Mai 1804 (KGA V/7, 356 f., Anm., Nr. 1753; KGA I/5, IX).  Vgl. KGA V/7, 374, Anm.

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Sofort zeigte sich sein „Systemwille“ (Nowak),¹² der ihn den Systemdenkern seiner Zeit beigesellt, sofort auch verbunden mit dem Plan zu eigenen Lehrbüchern – mit dem Vorrecht der jungen Generation: Siehe, es wird alles neu! Zwar wurde die Sittenlehre, die für Würzburg als eine theologische angekündigt war – wie er dem Freunde Joachim Christian Gaß schrieb – „wol überlegt philosophisch“,¹³ das hatte systematische Gründe und entsprach zugleich seinem philosophischen Lehrauftrag; die weiteren Vorlesungen der Hallenser Semester formulieren die Themen, die sein akademisches Lebensprogramm sein werden. Deren Thematik lässt sich – das ist die erste These meines Vortrags – biographisch aus der der Zeit in Halle unmittelbar vorhergehenden Schelling-Rezension ableiten, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Sie ist im Blick auf eine bevorstehende akademische Lehrtätigkeit geschrieben. Zu diesen zentralen Kollegs gehören ab dem zweiten Semester die Vorlesungen über das Neue Testament, die er 42 Semester lang halten wird. Man kann, ohne zu übertreiben, sagen, dass Schleiermacher in Halle „eigentlich“ Neutestamentler wurde – und zwar einer der wichtigsten seiner Zeit, denn er ist schlichtweg mit allen seinen Monographien und Aufsätzen in die Forschungsgeschichte eingegangen¹⁴ –, aber man wird sich natürlich dabei die Freiheit nehmen müssen anzuerkennen, dass er auch sonst noch „eigentlich“ vieles Andere war. In dem Fach des Neuen Testamentes jedenfalls verfasste er in der Hallenser Zeit die einzige Monographie, die man im engeren Sinn eine theologische nennen kann: „Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos“, die im Mai 1807 erschien. Mit ihr wollte er, wie er selbst sagte, seine „eigentliche theologische Laufbahn eröffnen“.¹⁵ Mit dieser Formulierung gestand Schleiermacher selbst ein, dass es solche theologischen Werke vorher nicht gegeben hat. Der moderne Leser wird das nicht durchgehen lassen, denn er wird für einen Autor wie Schleiermacher die Eingrenzung auf akademische Monographien nicht gelten lassen wollen. War die genannte Schrift das im strengen Sinne einzige theologische Werk der Hallenser Zeit, so zeugte die akademische Vertretung der „eigentlichen“ Theologie doch genügend Spuren in den Nebenwerken, die als ebenso wichtig zu gelten haben und die auch stets als zentral angesehen wurden. Das sind die Rezensionen, die Schleiermacher für die neu gegründete Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung anfertigte, die „Weihnachtsfeier“ und vor allem die zweite Ausgabe der Religions-

 Nowak, Schleiermacher, a.a.O. (Anm. 1), 151.  Schleiermacher an J.C. Gaß, 13. November 1804 (KGA V/8, 25, Nr. 1851).  Vgl. meinen Artikel „Schleiermachers Berliner Exegetik“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg.v. Martin Ohst (im Druck).  Schleiermacher an Reimer, nach Mitte November 1806 (KGA V/9, 206, Nr. 2322).

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schrift.¹⁶ Hier entwickelt sich das, was als die besondere Hallenser Theologie, als die Theologie des mittleren Alters Schleiermachers bezeichnet werden kann. Diese Schiften sollen im Folgenden gemustert werden, ehe abschließend die neutestamentliche Monographie in ihrem eigenen Programm historisch-hermeneutischer Vorgehensweise vorgestellt wird. In seinem Brief vom 17. Dezember 1804 an Gaß formulierte Schleiermacher sein akademisches Programm, das nicht zufällig in einer ausführlichen Skizze seiner neutestamentlichen Pläne mündet. Diesem Brief ist der Titel meines Vortrages entnommen: „Es freut mich daß Sie auch gern und mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen. Ich bin darin ganz in gleichem Falle mit Ihnen, und wünsche daß wir uns recht fleißig über diesen Gegenstand unterhalten mögen. Vorläufig habe ich mir nun einen Plan zu meinen Arbeiten im theologischen Theil meines Amtes gemacht. Lassen Sie ihn Sich vorlegen und stehn Sie mir mit Ihrem Rathe und Ihren Bemerkungen bei. Auf Kirchengeschichte werde ich mich vor der Hand gar nicht einlassen, sondern nur auf Exegese, praktische Theologie und kritische Behandlung der Dogmatik. Besonders was die Exegese betrifft möchte ich gern Ihre Meinung über meine Ansicht hören.“¹⁷ In der Folge gibt Schleiermacher seiner Überzeugung Ausdruck, dass die bisherigen Kurse seiner Kollegen über das Neue Testament die Studenten nicht zu Interpreten ausbilde, sondern dass diese vielmehr in einer kursorischen Lektüre die hermeneutischen Grundregeln lernen müssten, um nicht „Alles aufs Wort glauben [zu] müssen“. Das müsste dann auch Auswirkung auf die Darstellung und den Nachvollzug der Dogmatik haben. Exegese und Hermeneutik sind für Schleiermacher sein Leben lang nicht zu trennen. Das hat in seinen Werken zu historischen Ergebnissen geführt, die seine wissenschaftliche Mitwelt aufhören ließen. Man muss diesen umfassenden systematischen Ansatz seiner theologischen Pläne spiegeln mit der Tatsache, dass er noch im Juni in einem Brief seines alten Mentors Friedrich Samuel Gottlieb Sack lesen musste, dass sich dieser angesichts der „Reden“ und „Monologen“ von dem neuen Professor theologische Vorlesungen „bloß in den Grenzen des Geschichtlichen“ vorstellen konnte.¹⁸

 Vgl. die tabellarische Übersicht der literarischen Schriften und Manuskripte in KGA I/5, CXXVIII.  Schleiermacher an Gaß, 17. Dezember 1804 (KGA V/8, 67, Nr. 1881).  F.S.G. Sack an Schleiermacher, Juni 1804 (KGA V/7, 375, Nr. 1770). Den Randnotizen des Briefes nach hat Schleiermacher in seinem Antwortbrief seine „Grundsäze“ verteidigt (ebd., 417, 417, Nr. 1795). Der Briefwechsel brach dann ab. Schleiermachers Rezension von Sacks „Ein Wort der Ermunterung an meine Mitbürger“ (1807) (KGA I/5, 245 – 248) war als erneutes Kontaktangebot vor der Rückkehr nach Berlin gedacht, wurde aber erst 1813 gedruckt (vgl. ebd., CXXV).

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1 Die Rezensionen Der Neuansatz und die umfassenden systematischen Interessen des Theologieprofessors äußerten sich zuerst und nebenher in den Rezensionen, die zwar in keinem Fall theologische Rezensionen im engeren Sinne waren, die aber doch verraten, welche Themen Schleiermacher aufgrund seiner universitären Aufgaben bewegten. Es ergibt sich ein kleines Patchwork an Ideen, die kennzeichnend sind und öffentlich aussprachen, was noch nicht zu eigener umfänglicher Gestaltung gedeihen konnte und sollte. Das beginnt mit der umfänglichen Rezension von Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium[s]“, die im März 1804 beendet wurde, als der Ruf nach Würzburg angenommen und die Versetzung nach Halle noch eine bloße Möglichkeit war. Schleiermachers Gedanken kreisten um das, was er lehren wollte, und er fühlte sich bemüßigt, das Thema der Theologie dort zu reflektieren, wo es in der philosophischen Darstellung Schellings eine Rolle spielte.¹⁹ Hier philosophierte er mit Schelling mit den Mitteln der Schellingschen Philosophie. Daher unterscheidet sich diese Rezension von den beiden im Übermaß ironischen Fichte-Verrissen dadurch, dass er den Autor in jeder Hinsicht ernst nahm. Die erste Überraschung besteht darin, dass er das Anliegen Schellings einer Darstellung des Systems aller Erkenntnisse und ihres Zusammenhanges im Umriss mit dem Stichwort „Enzyklopädie“ anreicherte. Angesichts der Idee eines Ganzen der Wissenschaften und ihrer Ordnung nach rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten beklagt er, dass „unsere bisherigen sogenannten Encyklopädien, ohne von einer solchen Idee geleitet zu seyn, sich immer nur empirisch über das Einzelne verbreitet haben.“²⁰ Dieser Satz erklärt, wieso Schleiermacher gleich im ersten Semester über „Encyclopaediam et Methodologiam studii theologici“ lesen wird. Der sogleich gefasste Plan eines Lehrbuches²¹ wird dann erst 1811 mit dem Titel „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“ verwirklicht – auch dieses, wenn man es genau nimmt, ein Hallenser Werk! Und auch die dritte Vorlesung über die „Haupt- und Fundamentallehren des theologischen Systems“ kündigt sich in der Schelling-Rezension an. Da, wo Schelling sich „Ueber die historische Construktion des Christenthums“ (Achte Vorlesung) und „Ueber das Studium der Theologie“ (Neunte Vorlesung) äußert, will Schleiermacher den Autor besser verstehen als dieser sich selbst verstand, d. h. er fordert ihn auf, die Theologie (so

 Vgl. Andreas Arndts kurze Kommentar-Bemerkungen in: Friedrich Schleiermacher, Schriften, Frankfurt/Main 1996 (Bibliothek der Philosophie. Bibliothek Deutscher Klassiker 134), 1172– 1177.  KGA I/4, 463 – 484, hier 464.  Schleiermacher an G.A. Reimer, 4. November 1804 (KGA V/8, 18, Nr. 1844), vgl. Gaß an Schleiermacher, 20. Juli 1805 (ebd., 254, Nr. 1994), ders., 1. September 1805 (ebd., 301, Nr. 2024).

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Schelling) nicht „überhaupt die höchste Synthese des philosophischen und historischen Wissens“ sein zu lassen²² und ihr die Aufgabe zuzuschreiben, sich „als Indifferenzpunct der realen Wissenschaften […] von der einen Seite in die Historie, von der andern in die Naturwissenschaft“ zu zerlegen, „deren jede ihren Gegenstand getrennt von dem andern und eben damit auch von der obersten Einheit betrachtet.“²³ Das Verhältnis der Theologie als der Wissenschaft des absoluten göttlichen Wesens zur Philosophie scheint ihm nicht klar genug entwickelt, auch wenn er gern „Verzicht darauf thun (wollte), die Theologie unter den realen Wissenschaften ihren Geschlechtsbeweis führen zu sehen“,²⁴ also als reine Vernunftwissenschaft wie Philosophie und Mathematik anzusehen, aber dazu scheint ihm der zu Beginn des Buches ausgeführte Philosophie-Typus geeigneter, der vom „Urwissen“ ausgeht und daraus die realen Wissenschaften ableitet. Hierbei ließe sich zur „Klarheit“ bringen, dass die Schleiermacher wichtige Unterscheidung zwischen der Theologie als „Wissenschaft des absoluten und göttlichen Wesens“ und der Religion als „Anschauung des Unendlichen im Endlichen oder umgekehrt“ – Schelling hatte hier Schleiermachers Terminologie aus den „Reden“ übernommen – keinesfalls „gleichsam mit Gewalt und ohne weiteres“ aufgehoben werden müsste.²⁵ Schleiermacher ringt, wie nicht weiter dargestellt werden kann, mit Schelling um eine tragfähige, philosophisch verantwortbare Stellung der Theologie im Kanon der universitären Wissenschaften. Man versteht, warum er in seinem ersten Semester sogleich über die „Fundamentallehren“ der christlichen Theologie lesen will. Keines seiner Kollegthemen ist zufällig gewählt, sondern hatte einen längeren denkerischen Vorlauf. Dass er im Blick auf seine Ethik-Vorlesung den Philosophen auffordert, die angekündigte „Moral“ auch wirklich auszuarbeiten, sie aber aus der Kenntnis dieser Philosophie schon kritisiert, ehe sie geschrieben ist,²⁶

 F.W.J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, Tübingen 1803, 167.  Ebd., 213.  KGA I/4, 471.  Ebd., 473. Schleiermacher referiert und zitiert hier die Siebente Vorlesung: „Ueber einige äußre Gegensätze der Philosophie, vornämlich den der positiven Wissenschaften“ (Schelling, Vorlesungen, a.a.O., Anm. 22, 145 – 164, insbesondere 148 und 160). Hier wurden Schleiermachers „Reden“ indirekt gelobt (150).  Ebd. 478 f. Es ist ein alter Vorwurf Schleiermachers, dass Schelling zu keiner Ethik kommen könne; er hat diesen Mangel öffentlich in seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) am Schluss angedeutet: „Denn von den beiden Darstellungen desselben [sc. des siegreichen dynamischen Idealismus] […] hat die eine [i.e. Fichte] zwar eine Ethik aufgebaut, dagegen aber die Möglichkeit einer Naturwissenschaft bald troziger bald verzagter abgeläugnet,

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sei nur noch erwähnt. Als die Vorlesungen angelaufen sind, ohne vorbereitete Kollegmanuskripte, aber nach langer innerer Reflexion, kann er schon im November 1804 zufrieden resümieren: „[N]icht nur die Ethik macht mir Freude, sondern auch in das theologische komme ich immer besser hinein, und ich kann mir schon recht gut denken, wie ich exegetische und dogmatische Vorlesungen halten werde.“²⁷ Mustert man die übrigen Rezensionen, die dann in Halle geschrieben wurden – spätere Rezensionen gibt es nicht mehr –, so finden sich weitere, wenn auch nicht so fundamentale Bemerkungen, die Schleiermachers theologische Fortbildung bekunden und in die Zukunft weisen. In der Zöllner-Rezension aus dem Frühjahr 1805, in der ihn das Schlagwort „Nationalerziehung“ fasziniert, äußert er sich an einer Stelle zur Religionspädagogik. Einer Gesinnungserziehung in den öffentlichen Lehranstalten steht er skeptisch gegenüber. Auch einen eigenen Religionsunterricht brauche es eigentlich nicht: „Eigentlich sollte aber wohl auch ohne besonderen Religionsunterricht dennoch durch die vielfältige Einwirkung der Theologen ein religiöser Geist in die Anstalten des öffentlichen Unterrichts kommen, welcher dann mehr werth wäre, als der nur immer speculative Unterricht.“²⁸ Dieser Verzicht setzt natürlich die „gewiß im Ganzen heilsame() Oberaufsicht der Geistlichen auf das Schulwesen“²⁹ voraus. Aufregend ist der emphatische Einspruch gegen die Einführung einer Schulbibel: „Nichts, gar nichts in der Bibel, als wenige abgerissene Sequenzen, ist den Kindern in seinem wahren Sinn und Zusammenhang verständlich; und was man ihnen dem Bibelsinne gemäß zu sagen hat, kann man ihnen gewiß weit leichter ohne die Bibel sagen. Warum soll man absichtlich dem natürlichen Resultat aller jetzigen Krisen in der Theologie entgegenwirken, dem nämlich, daß wir suchen müssen, das Christenthum, wie es anfangs ohne die Urkunden bestanden hat, auch wieder von ihnen unabhängig zu machen, und über sie zu erheben?“³⁰ Offensichtlich soll man das. Hier spricht der Herrnhuter; in Herrnhut gab es nur einen marginalen Religionsunterricht³¹ und keine Schulbibel – das ganze Leben der Gemeine war Religion. Schleiermacher meint natürlich nicht die wisund die andere [i.e. Schelling] dagegen die Naturwissenschaft zwar hingestellt, für die Ethik aber keinen Plaz finden können auf dem Gesammtgebiete der Wissenschaften.“ (KGA I/4, 356).  Schleiermacher an J.E.Th. und H. von Willich, 21. November 1804 (KGA V/8, 43, Nr. 1863).  KGA I/5, 3 – 25, hier 19.  Ebd., 18.  Ebd., 19. Gaß stimmte Schleiermacher an diesem Punkt zögernd zu (Brief vom 2. März 1805, KGA V/8, 155 f., Nr. 1933).  Vgl. Ernst Rudolph Meyer, Schleiermachers und C.G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine, Leipzig 1905, 88 (nur eine Unterrichtsstunde Religion gegenüber z. B. zehn Stunden Latein!).

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senschaftliche Rekonstruktion des Urchristentums vor der Fixierung der neutestamentlichen Schriften, welches bekanntlich eine streng wissenschaftliche und damit unendliche Aufgabe stellt und die ohne diese Schriften gar nicht geleistet werden könnte. An dieser Rekonstruktion hat er sich selber in zunehmendem Maße beteiligt. Die Lehre eines solchen historisch gewonnenen vorschriftlichen Christentums wäre freilich „immer speculativer Unterricht“, d. h. für die bäuerliche Kinderschule, an die Schleiermacher hier denkt, nicht geeignet. Eine Kinderbibel schlösse das aber nicht grundsätzlich aus. Die ausgesprochen emphatische Ablehnung erklärt sich aus der romantischen Auffassung der „Reden“, dass religiöse Urkunden Mausoleen seien, die kein Leben mehr enthielten, und man sich seine heiligen Schriften eigentlich selber „machen“ müsste.³² „Anschauung des Universums“ würde durch eine gedruckte Quelle nur gestört. Im Abstand der Zeiten wird man sagen müssen, dass ein bibelfreies Christentum im Bereich des Protestantismus eine Chimäre ist, die jedenfalls die „jetzigen Krisen der Theologie“ nicht zu heilen vermöchte. Wir werden eine solche christliche Gemeinde freilich in der „Weihnachtsfeier“ kennen lernen. Die Spalding-Rezension aus dem Dezember 1804 war eine Freundesgabe für den Sohn Georg Ludwig Spalding und wird als eine Art Epitaph keine grundsätzlichen Äußerungen erwarten lassen. Dennoch nutzt Schleiermacher die Gelegenheit, angesichts der Person des altersmilden theologischen Aufklärers zwei Frömmigkeitstypen voneinander zu unterscheiden und schließlich auch noch eine kleine ethische Theorie des Todes zu entwickeln. Der eine Frömmigkeitstyp, den er dem verehrten Patriarchen zuschreibt, ist – man staune – der der Herrnhuter Brüdergemeine. Spaldings Religiosität sei diejenige gewesen, „welche die Richtung ganz nach innen nimmt, und alles im Gemüth in Übereinstimmung zu bringen sucht, nicht aber selbstthätig schaffend vom Mittelpunkt immer weiter nach außen geht.“³³ Den anderen Typus verbindet er mit dem Namen Herder, mit dem Spalding im Streit gestanden hatte. Hier findet er den „Charakter der entgegengesetzten Gestalt der Religiosität, welche ihre Richtung mehr nach außen nimmt, welcher die Selbstbildung nur als ein Theil der Weltbildung erscheint, und welche mehr Weltanschauung und Fantasie erzeugt, als Gefühl und Selbstbetrachtung.“³⁴ Angesichts der „Monologen“ wird man annehmen können, dass Schleiermacher sich selbst dem ersten Typus zugehörig gefühlt hat. Neben dieser

 Reden 1799, 121 f. (KGA I/2, 242). Zum romantischen Bibel-Projekt vgl. meine Darstellung „Friedrich Schlegels ‘Philosophie der Philologie‘ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), 434– 472, hier 453 f.  KGA I/5, 29 – 38, hier 31.  Ebd., 31.

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Frömmigkeitstypologie ist überraschend auch die philosophisch-theologische Betrachtung des Todes. Er sieht in Spalding „das sittlichste Bild des hohen Alters und des natürlichsten Sterbens.“ Durch die stellvertretende „aneignende Anschauung“ der Familie seien die Kräfte des Greises „nicht verringert, sondern nur verlegt, in diejenigen, die er selbst vorher gebildet hat“, und das sei „schon der Vorgenuß dieser Seite der Unsterblichkeit“. „Zieht sich dann auch der Geist selbst immer mehr zurück aus dem Besonderen und Sinnlichen in das Allgemeine und die Ideen: so löset sich das Band des Innern und Äußern von selbst, und der Tod ist nichts anderes, als ein fast selbstthätiges Hinausschwingen aus der einer solchen Erhebung nicht mehr angemessenen Persönlichkeit.“³⁵ Diese Thanatologie, die auf jegliche christlich-biblische Terminologie verzichtet, erwuchs, wie Schleiermacher in einem Brief an Gaß berichtet, aus der Vorlesung über (Philosophische) Sittenlehre; seine Ansicht vom Tod sei ihm die „Blüthe“ seiner ganzen Behandlung der Persönlichkeit und hänge untrennbar mit seiner ganzen Ansicht der Sittlichkeit zusammen.³⁶ So deutlich ist der Zusammenhang zwischen seinen Vorlesungen und seinen öffentlichen Äußerungen sonst nirgends ausgesprochen; die kurze Bemerkung muss das verloren gegangene Manuskript ersetzen. Was die Sack-Rezension angeht, die eine versuchte Wiederannäherung an den früheren Mentor bei der erzwungenen Rückkehr nach Berlin darstellt, so ist lediglich der Spaß zu erwähnen, dass Schleiermacher dessen gedrucktes „Wort der Ermunterung“ mit dem kirchengeschichtlichen Begriff des „Hirtenbriefes“ versieht.³⁷ In der Fichte-Rezension ist wegen der rhetorischen Form Schleiermachers eigene Auffassung einer Geschichtsphilosophie bzw. -theologie nicht erschließbar, jedenfalls nicht in einem präzisen Zitat. Der Abschied von Fichte ist grundsätzlich und unheilbar,³⁸ einen Einfluss auf seine Theologie wird Schleiermacher nicht zugeben wollen. Anders steht es mit der Jenisch-Rezension aus dem April 1806. Jenisch³⁹ hatte in seiner „Kritik des dogmatischen, idealistischen und hyperidealistischen Religions- und Moral-Systems“ (1804) Schleiermacher, ohne ihn zu nennen, übel mitgespielt, weshalb der Rezensent seine Besprechung entgegen der Regel der

 Ebd., 36 f.  Schleiermacher an Gaß, 6. September 1805 (KGA V/8, 306 f., Nr. 2026).  Zu diesem spaßhaften Begriff vgl. KGA I/5, 245 – 248, hier 245.  Hermann Patsch, „‚Das gewiß herrliche Werk‘. Die rhetorische Form der Auseinandersetzung Schleiermachers mit Fichtes Geschichtsphilosophie“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verb. mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991 (Theologische Bibliothek Töpelmann 51), 441– 454.  Vgl. meinen Artikel „Jenisch, Daniel“, in: Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 24, Nordhausen 2005, Sp. 121– 132.

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Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung mit seinem Namen versah. Sein Urteil ist, bei aller notwendigen Schärfe, vornehm und fair, schließlich musste ihm das Anliegen, „Religion und Moral von philosophischen Systemen unabhängig zu begründen, und zugleich die Theologen aus der Dienstbarkeit zu befreyen, in welche sie sich seit langer Zeit an die Philosophen verkauft hatten“ (so der Untertitel), nicht unsympathisch sein.⁴⁰ Am Ende ergreift Schleiermacher die Gelegenheit, auf die zweite Ausgabe der „Reden“ hinzuweisen und ihr zu testieren, indirekt das ihrige dazu beizutragen, das Verhältnis von Religion und Philosophie zu klären.⁴¹ In wenigen Sätzen entwickelt er die Grundüberzeugung seines denkerischen theologisch-philosophischen Lebens: „Die Philosophie […] ist ihrer Natur nach schlechthin religiös, wenn sie nur wirklich lebendige Anschauung ist; denn es ist nicht möglich, daß, wer das Erkennen als Anschauung hat, es nicht auch als Gefühl haben sollte. Darum wird auch der Philosoph immer die Religion anerkennen, wenn er auch für die Mythologie oder Dogmatik, die sich aus ihr gebildet hat, nicht dasselbe thun kann. Dagegen ist es nicht nothwendig, daß dem Gefühl auch die Anschauung in wissenschaftlicher Gestalt zur Seite gehe; darum ist es gar wohl möglich, daß der Religiöse an der Möglichkeit der Philosophie zweifelt, und sie für eine sträfliche Anmaßung hält. Aber sehr bestimmt wird sich immer der hieraus entstehende Mißverstand des Religiösen, der doch die Differenz des Ursprünglichen und Abgeleiteten in der Religion im Gefühl hat, von der widrigen Verworrenheit und dem losen Spiel derer unterscheiden, die Religion und Philosophie nur aus der zweyten Hand kennen, und nur reflectirend einander gegenüber stellen. […] Die endliche Anerkennung des reinen Verhältnisses zwischen Religion und Philosophie muß durch die Philosophie selbst bewirkt werden.“⁴² Schlagartig wird die Wichtigkeit des doppelten Lehrauftrages – für Theologie und Philosophie – für Schleiermacher deutlich, der dieses Programm als Philosoph selber einzulösen verspricht. Das heißt dann aber: Die „Reden“ – zumindest in ihrer zweiten Darstellung – sind als philosophisches Werk zu betrachten, die das reine Verhältnis zwischen Religion und Philosophie erarbeiten sollen. Die rhetorische Frage schließlich „Sollte man aber nicht auch von Seiten der Religion der Sache noch näher treten können durch eine gründliche Behandlung der christlichen Glaubenslehre, welche unmittelbar die Entstehung der Dogmen aus dem religiösen Gefühl zeigte, und sie dann mit den Aussprüchen der

 KGA I/5, 103 – 117, mit der Titelangabe 103.  „Indirect hat auch Rec. durch jenes von unserem Vf. so übel mitgenommene Buch, welches jetzt eben zum zweyten Mal dem Publicum vorgelegt wird, das Seinige dazu beyzutragen gesucht, und, wie es scheint, nicht ganz ohne Nutzen.“ (Ebd., 116 f.)  Ebd., 116.

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reinen Speculation zusammenstellte?“⁴³ kündigt zum ersten Mal den eigenen Entwurf einer „Glaubenslehre“ öffentlich an. Die Rezensionen Schleiermachers aus den Jahren in Halle sind über ihren jeweiligen Anlass hinaus ein bedeutsamer Beleg für den Stand der denkerischen Entwicklung des neuen Professors, der auf seine Weise die „eigentliche“ Theologie zu erarbeiten und zu vertreten genötigt war.

2 Die Weihnachtsfeier Schleiermachers Dialognovelle, bei einem Kunstgenuss „empfangen“,⁴⁴ ist ein Kunstwerk und keine theologische Monographie, d. h. sie darf nicht als eine solche befragt werden. Der Autor reihte sich ein in die Prosaik der romantischen Freunde, er hat – wie ich andernorts zu begründen versucht habe – damit Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie“ aus dem letzten Jahrgang des „Athenaeums“ aufnehmen und übertreffen wollen, nach dem Ende der frühromantischen „Schule“.⁴⁵ Aber dieses „Gespräch“ über Weihnachten hat ein theologisches Thema, und so hat es intelligente Deuter wie etwa Wilhelm Dilthey, Karl Barth, Emanuel Hirsch und andere immer wieder gelockt, aus den Reden der Männer auf Schleiermachers Christologie zu schließen. Schleiermacher stellt drei Typen dar (vereinfachend gesagt: einen historisch-kritischen, einen spekulativen, einen religionsphänomenologischen Deuter) und lässt nicht erkennen, mit welcher er sympathisieren möchte; man darf nicht übersehen, dass er zuletzt mit der herrnhuterischen Gestalt des Josef ⁴⁶ einen von außen kommenden Gast der Weihnachtsgesellschaft einführt, der kein weiteres „Gespräch“ über die Weihnachtsfeier führen will, sondern auffordert: „Laßt uns heiter sein und etwas

 Ebd., 117.  In seinem Brief an Reimer vom 10. Februar 1806 spricht Schleiermacher von einer „Empfängniß“ (KGA V/8, 466, Nr. 2142).  Hermann Patsch, „Verspätete Frühromantik. Friedrich Schleiermachers ,Weihnachtsfeier‘“, in: Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe, hg.v. G. Meckenstock, Göttingen 2006 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen I. Philologisch-historische Klasse Jg. 2006, Nr. 4), 221– 229.  Hermann Patsch, „Die esoterische Kommunikationsstruktur der ‚Weihnachtsfeier‘. Über Anspielungen und Zitate“, in: Schleiermacher in Context, ed. by R.D. Richardson, Lewiston u. a. 1991 (Schleiermacher: Studies-and-Translations 6), 132– 156. Es ist gut denkbar, dass Schleiermacher an den Brüderbischof „Bruder Joseph“ August Gottlieb Spangenberg (1704– 1792) dachte, dessen Lebensbeschreibung er bei seinem Osterbesuch in Barby 1805 erstanden und also im Entstehungsjahr der „Weihnachtsfeier“ gelesen hatte.

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Frommes und Fröhliches singen.“⁴⁷ Der Sinn von Weihnachten ist die Feier, nicht die Erzählung oder die Rede. So wie es sich bei Friedrich Schlegel „von der Poesie als nur in Poesie“⁴⁸ reden lässt, so kann man bei Schleiermacher über Weihnachten nur reden, indem man das Fest feiert. Ich will auf einen anderen,wenig beachteten Aspekt aufmerksam machen: Die Geisttaufe zu Weihnachten in der Erzählung der Agnes.⁴⁹ In dieser Novelette wird Schleiermachers Theorie der Geselligkeit – wie in der gesamten Novelle – auf die christliche Weihnachtsgesellschaft angewandt, und zwar so, dass sie sich in eine Taufgemeinde verwandelt, die das Geistsakrament selbst erzeugt. Wie in der Rahmenerzählung, so bezeugt sich auch in dieser Anekdote der jungen Frau die klassische Situation bürgerlicher Religiosität, in der die christlichen Feste und Riten privatisiert, ja geradezu verhäuslicht werden. Agnes, die selbst guter Hoffnung ist, erzählt von ihrer Schwägerin, einer Pfarrfrau, die kürzlich einen Sohn geboren hatte. Freunde und Freundinnen feiern mit der jungen Familie gemeinsam den Heiligen Abend. Es herrschen Heiterkeit und Liebe, bis man unter Scherzen entdeckt, dass niemand dem Neugeborenen etwas geschenkt hat. Die der Lebenssituation angepassten praktischen Gaben interessieren das Kind noch nicht; das gilt auch für die nachgereichten Geschenke mit Bezug auf das spätere Leben, bis zu Schulzeit und Hochzeitstag. Der Vater, Ferdinand, hat etwas Besonderes vor: „Ich will ihn gleich taufen, ich wüßte keinen schöneren Augenblikk dazu als diesen; besorget das Nöthige, ich will auch wieder da sein, wenn unsere Freunde zurükkehren.“⁵⁰ Das Geschenk einer Bibel leitet die folgende Handlung ein: „Alle waren […] nicht wenig verwundert, als Ferdinand in voller Amtskleidung hereintrat, und zugleich der Tisch mit dem Wasser gebracht wurde. Wundert Euch nicht zu sehr, lieben Freunde, sagte er. Bei Agnesens Bemerkung vorher, fiel mir sehr natürlich der Gedanke ein, den Knaben noch heute zu taufen. Ihr sollt sämmtlich Zeugen dabei sein, und auch dadurch Euch aufs neue als theilnehmende Freunde seines Lebens unterzeichnen. Ihr habt ihm Gaben dargebracht, fuhr er fort, nachdem er das Einzelne unter mancherlei fröhlichen Bemerkungen betrachtet hatte, die auf ein Leben hindeuten, wovon er noch nichts weiß, wie Christo Gaben dargebracht wurden, die auf eine Herrlichkeit hindeuteten, wovon das Kind noch nichts wußte. Laßt uns ihm nun auch das Schönste, Christum selbst, zueignen,wiewol es ihm

 KGA I/5, 43 – 98, hier 98.  Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Dritter Band, Berlin 1800, 58 – 128, 169 – 187, hier 60 (KFSA 2, 284– 351, hier 285).  KGA I/5, 75 – 79. Ich greife hier auf meinen Aufsatz „Taufe in Schleiermachers ‚Weihnachtsfeier‘“ zurück (in: CA – Confessio Augustana. Das lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur IV, 2001, 64– 66), der aber von den Herausgebern ohne meine Zustimmung redigiert, d. h. entschärft wurde.  KGA I/5, 76.

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izt noch keinen Genuß noch Freude gewähren kann. Nicht in der Mutter allein oder in mir wohnt jezt noch sein religiöses Gefühl, das in ihm noch nicht sein kann, sondern in uns Allen, und aus uns Allen muß er es sich dereinst zueignen. So versammelte er uns um sich und fast unmittelbar aus dem Gespräch ging er zu der heiligen Handlung über. Mit einer leisen Anspielung auf die Worte: ‚Wer mag wehren, daß diese getauft werden‘, ergoß er sich darüber, wie eben dieß, daß ein christliches Kind von Liebe und Freude empfangen werde und immer umgeben bleibe, die Bürgschaft leiste, daß der Geist Gottes in ihm wohnen werde, wie das Geburtstagsfest der neuen Welt ein Tag der Liebe und Freude sein müsse, und wie beides vereinigt recht dazu auserlesen sei, ein Kind der Liebe auch zur höheren Geburt des göttlichen Lebens einzuweihen. Als wir nun Alle dem Kinde die Hände auflegten, nach der dortigen guten alten Sitte, so war es als ob die Strahlen der himmlischen Liebe und Lust sich auf dem Haupt und Herzen des Kindes als einem neuen Brennpunkt vereinigten, und es war gewiß das gemeinschaftliche Gefühl, daß sie dort ein neues Leben entzünden, und so wiederum nach allen Seiten ausstrahlen würden.“⁵¹

Diese Taufhandlung am Christabend mit den Konnotationen der Geschichte von Bethlehem muss man sich genau anschauen. Schleiermacher hat sehr bewusst formuliert, und deshalb darf man die Worte ernst nehmen. Zunächst erwächst der Parallelismus zwischen der heiligen und der bürgerlichen Familiensituation daraus, dass weder das Jesuskind noch der Täufling die dargebrachten Gaben in ihrer Zukunftsbedeutung wissen können. Für den Täufling ist die Taufe das „Schönste“ in der Reihe der Geschenke, nämlich Christus selbst. Inwiefern die Taufe Christus „zueignet“, wird nicht gesagt. Es geht dann auch nicht um Glauben, sondern – bedeutungsgleich – um das „religiöse Gefühl“,⁵² das das Kind noch nicht haben kann, das aber in allen versammelten Christen vorhanden ist und das dann dem Heranwachsenden sozusagen aus dem allgemeinen Pool zugeeignet werden muss. Dieses „Gefühl“ wird also nicht geschenkt, sondern dem Allgemeingefühl entnommen. Alle Christen sind darin gemeinsam, dass sie dieses Gefühl als existentielle Grundgabe haben. Wozu braucht es dann die Taufe? Die Anspielung auf die Bibelstelle (Apostelgeschichte 10, 47) leistet lediglich eine indirekte Begründung: Man kann nichts gegen diese heilige Handlung einwenden – die im Übrigen selbst mit keiner Silbe geschildert wird. Die theologische Verknüpfung geht wieder vom Menschen aus: Die christliche Familie empfängt und bewahrt das christliche Kind in „Liebe und Freude“ und leistet (aktiv!) darin die Bürgschaft, dass der Geist Gottes in ihm wohnen werde. Nun gelingt der Schritt zum Weihnachtsfest: Das Christgeburtsfest ist ein ebenso gestimmter Tag der „Liebe und Freude“ wie der Tag der Geburt des Kindes, und deshalb ist es be-

 Ebd., 77 f.  In der zweiten Auflage von 1826 heißt es an dieser Stelle „die Kraft des höheren Lebens“ (ebd., 77, Anm.).

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sonders dazu geeignet („auserlesen“), das christliche Kind der Liebe „zur höheren Geburt des göttlichen Lebens einzuweihen“. Und wie geschieht das? Durch die Handauflegung aller, also nicht nur des Geistlichen, und es geschieht auch nichts Übernatürliches, denn die „Strahlen der himmlischen Liebe und Lust“, die sich brennpunktartig im Haupt und Herzen des Kindes vereinigen, tun das im Modus des „als ob“, im Bild. Und wieder folgt der Rückschluss auf das gemeinschaftliche Gefühl, in dem das „neue Leben“ vorweggenommen und als später selbst ausstrahlend gespürt wird. Also nicht der Tauf-Akt als solcher – Taufbad, Bekenntnis, Gebet –, sondern die gemeinsame Religiosität der versammelten Hausgemeinde wirkt das „neue“, das „göttliche Leben“. Schleiermacher hat in dieser Darstellung die Sprache seiner theologischen Tradition, also der reformierten Kirche, vollständig vermieden. In der doppelten Verhüllung einer Erzählung innerhalb einer Rahmenhandlung nimmt der Leser – beachtet man das Schweigen über die eigentliche Taufhandlung – in Wahrheit an einer Geisttaufe teil. Die Fügung „Geist Gottes“ steht ja auch ganz bewusst da. Da das Kind noch nicht erwachsen, mündig ist, muss dieser Geist durch die religiöse Gemeinschaft verbürgt werden. So und nur so – also nicht als außerhalb der selbstschaffenden Möglichkeit des Menschen stehendes Ereignis – kann durch die Taufe die Geburt des Menschen zur „höheren Geburt des göttlichen Lebens“ werden. In der Rahmenhandlung gibt es noch ein Nachspiel. Der Spott, der Täufling sei „nur gleichsam ein umgekehrtes negatives Christkindlein, in welches der Heiligenschein einströmt, nicht aus“,⁵³ wird von Agnes dadurch gekontert und entschärft, dass er bejaht wird. Jede Mutter sei eben eine Prophetin wie Maria, deren Liebe „den ganzen Menschen“ im Kinde sehe, „und diese Liebe ist es eben, die ihr den englischen Ruf zuruft“ (vgl. Lukas 1,28 ff.) und die auch bereits jetzt den „himmlischen Glanz“ aus ihm ausströmen sieht. Die religiöse Zukunft des Kindes wird in das Gefühlsleben der Mutter verlegt, aus der alles stammt. Das gilt dann, wenn wahr ist, was Agnes abschließend betont: „[I]ch weiß mit Worten nicht zu beschreiben, wie tief und innig ich damals fühlte, dass jede heitere Freude Religion ist, dass Liebe, Lust und Andacht Töne aus Einer vollkommnen Harmonie sind, die auf jede Weise einander folgen und zusammenschlagen können.“⁵⁴ Jede Mutter, heißt es in der Rahmenhandlung, „ist […] eine Maria. Jede hat ein ewiges göttliches Kind, und sucht andächtig darin die Bewegungen des höheren Geistes.“⁵⁵ Die Äußerungen des höheren Geistes sind wahrnehmbar. Religion ist

 Ebd., 78.  Ebd., 78.  Ebd., 66.

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Freude, ist vollkommene Harmonie. Für Schleiermacher, den Novellisten, ist Religion der vorreflexive, nicht durch Worte ausdrückbare Zustand des Menschen, der durch die fromme Gemeinschaft erzeugt wird, nicht zuletzt durch die Mutter. Insoweit sind Weihnachtsfest und Tauffest analogisierbar. In der Taufe nimmt die fromme, gebildete Gemeinschaft – hier in Form der Hauskirche – in einem symbolischen Ritus das Kind in ihr eigenes „höheres“ Bewusstsein auf, das sie als Wohnort des Geistes Gottes deutet. (In der „Glaubenslehre“ – also in wissenschaftlicher, nicht poetischer Darstellung – wird Schleiermacher dann immer noch von den „einzelnen Momenten der Vereinigung des göttlichen Wesens mit dem Einzelnen unter der Form des Gemeingeistes“ reden, diesen „Willensact der Kirche“ aber deutlicher an den Taufbefehl Christi gebunden sein lassen.)⁵⁶ Mit den Mitteln der Kunst hat der Hallenser Professor den Zusammenhang von Poesie und Religion beschworen,⁵⁷ den er dann in der zweiten Ausgabe der „Reden“ mit dem Namen Novalis verbinden wird.

3 Die zweite Ausgabe der Reden Es waren erst sieben Jahre seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe vergangen, aber Schleiermacher wähnte sich schon in einem neuen Zeitalter. In der Widmung an Gustaf von Brinkmann – dem einzigen Text, den man nach der gänzlich misslungenen Edition in der KGA zitieren kann – spricht er von einem „ganz anderen Geschlecht von Lesern und Denkern“.⁵⁸ Das war zeitgeschichtlich über-

 Der christliche Glaube (1821/1822), § 154 (KGA I/7, 2, 246 f.). Die Stelle ist in der zweiten, umgearbeiteten Ausgabe (1830/1831), § 136.1, stark verändert, etwa indem dort von der „Vereinigung (des höchsten Wesens) mit der menschlichen Natur unter der Form des Gemeingeistes“ die Rede ist (KGA I/13, 2, 353).  Diese bürgerlich-häusliche und ihm darum zu wenig kirchliche Darstellung hat der deutsche Lyriker und Romanautor Jochen Klepper (1903 – 1942) in seiner Bearbeitung der Dialog-Novelle unter dem Titel „Weihnachten“ in der pseudonym herausgegebenen Anthologie „Deutsche Gespräche von ewigen Dingen“ (Berlin-Steglitz 1936) mit allen Erzählungen der Frauen herausgekürzt. Klepper ging es lediglich um die – gleichfalls beschnittenen – Gespräche der Männer. Vgl. Hermann Patsch, „‚Ein großes Schicksal geht unschlüssig auf und ab in unserer Nähe …‘. Jochen Kleppers biographische und literarische Adaptation von Friedrich Schleiermachers ‚Weihnachtsfeier‘“, in: Romantik und Exil. Festschrift für Konrad Feilchenfeldt, hg.v. C. Christophersen u. a., Würzburg 2002, 434– 445.  Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zweite Ausgabe, Berlin 1806, IV (KGA I/12, 5). (In der KGA muss man sich die Zweite Ausgabe der „Reden“ aus dem Apparat der Vierten Ausgabe rekonstruieren. Damit wird der Zweiten Ausgabe, trotz der sehr instruktiven Analyse Günter Meckenstocks, ebd. XIX–XXIII, ihre selbständige Bedeutung ge-

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deutet, es war vielmehr der subjektive Eindruck eines wissenschaftlichen Theologen, der wahrnahm, dass er sich verändert hatte. Dieses neue Denken versuchte er, mit dem genialen Gedankenstrom seines Erstlingswerks zu vermitteln. Das erweist sich schon in der ersten Rede, besonders aber in der Überarbeitung der zweiten und fünften Rede und dem beigegebenen „Zusaz“ am Ende des Buches. Friedrich Wilhelm Graf hat gezeigt, dass – entgegen den Selbstauskünften des Autors – sich in der späteren Ausgabe der „Reden“ eine Änderung der Religionsauffassung und damit seiner Theorie des Selbstbewusstseins kund tut.⁵⁹ Das kann hier nicht ausführlich dargelegt werden. Ich beschränke mich auf einige markante Beispiele, und zwar solche, bei denen Schleiermacher in der ersten Ausgabe besonders prägnante, geradezu definitorische Aussagen gemacht hatte. Es ist bekannt, dass Schleiermacher in der zweiten Rede „Über das Wesen der Religion“, die fast zur Hälfte neu formuliert ist, die programmatische Beschreibung der Religion als Anschauung des Universums begrifflich zurückgedrängt und den Begriff des Gefühls stark gemacht hat – vielleicht weil Schelling ihm den Anschauungs-Begriff entrungen hatte und weil der Universums-Begriff spinozistisch klang. Dort ist der „schneidende Gegensaz“ nicht mehr der von „Religion gegen Moral und Metaphysik“, sondern von „Glaube gegen Eure Moral und Metaphysik“, und hinzugefügt wird: „und die Frömmigkeit gegen das was Ihr Sittlichkeit zu nennen pflegt“.⁶⁰ Die Sprache ist mit den Begriffen „Glaube“ und „Frömmigkeit“ kirchlicher und also weniger anfechtbar geworden. Die berühmte Formulierung: „Ihr [der Religion] Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen.“⁶¹ ist einer längeren respektvollen Beschreibung des philosophischen Wissens gewichen, mit dem Ergebnis, dass die Religion mit dem Wissen gar nichts zu tun habe. „Denn das Maaß des Wissens ist nicht das Maaß der Frömmigkeit; sondern diese kann sich herrlich offenbaren und eigenthümlich auch in dem, der jenes Wissen nicht ursprünglich in sich selbst hat“.⁶² Statt von Anschauung und Gefühl ist von „Betrachtung“ und „unmittelbarer Wahrnehmung“ bzw. von „un-

nommen. Die Änderungen gegenüber der ersten Ausgabe kommen überhaupt nicht in den Blick.)  Friedrich Wilhelm Graf, „Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten. Zur Modifikation des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen von Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 75, 1978, 148 – 186.  Reden 1806, 57 f. gegenüber Reden 1799, 50 (KGA I/2, 211).  Reden 1799, 50 (KGA I/2, 211).  Reden 1806, 59.

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mittelbarem Gefühl“ die Rede: Die Religion „ist nur die unmittelbare Wahrnehmung von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige. Dieses suchen und finden in allem was lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Thun und Leiden und das Leben selbst nur haben und kennen im unmittelbaren Gefühl als dieses Sein, das ist Religion.“⁶³ Auch der Begriff des Handelns wird neu bestimmt. Von der philosophischen Sittenlehre weiß der Fromme nichts. „Er betrachtet ja freilich das menschliche Handeln, aber seine Betrachtung ist gar nicht die aus welcher jenes System entsteht, sondern er sucht und sieht nur in allem dasselbige, nemlich das Handeln aus Gott, die Wirksamkeit Gottes in den Menschen.“⁶⁴ Ob Schleiermacher es ernst meint mit dem Beispiel der Frauen, denen die Philosophen ja auch nicht anmuteten, die Sittenlehre als Wissenschaft zu verstehen, sei hier dahingestellt. Was in der ersten Ausgabe von der Religion gesagt wird, wird nun – fast wörtlich – von der Frömmigkeit behauptet, im Gegenüber zu Wissenschaft und bürgerlicher Praxis: „Sie zeigt sich Euch als das nothwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstük, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von jenen ihr wollt.“⁶⁵ Die Unentbehrlichkeit der Religion bzw. Frömmigkeit wird in beiden Ausgaben festgehalten. Aber nicht mehr der unheilige Frevler Prometheus wird als abschreckendes Beispiel angeführt, sondern im Gegenteil das positive Exempel des (frommen) Sokrates.⁶⁶ Das prägnante „Praxis ist Kunst, Spekulazion ist Wißenschaft, Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche“⁶⁷ lautet schließlich so: „Wahre Wissenschaft ist vollendete Anschauung; wahre Praxis ist selbsterzeugte Bildung und Kunst; wahre Religion ist Empfindung und Geschmakk für das Unendliche. Eine von jenen haben zu wollen ohne diese, oder sich dünken zu lassen man habe sie so, das ist eine verwegene übermüthige Täuschung, ein frevelnder Irrthum“.⁶⁸ Die hinzugefügten Adjektive erklären, aber sie sollen auch überreden. Schleiermacher möchte nicht missverstanden werden. Diese Tendenz freilich bezieht sich nicht mehr nur auf die gebildeten Verächter der Religion, sondern auf die christlichen Leser, die Hörer seiner Vorlesungen, die die „wahre“ Religion schon haben. Der (in sich weite und schillernde) Begriff der Anschauung

 Ebd., 60.  Ebd., 61.  Ebd., 63 im Vergleich mit Reden 1799, 52 (KGA I/2, 212).  Vgl. Reden 1806, S.64 mit Reden 1799, 52 (KGA I/2, 212).  Reden 1799, 52 f. (KGA I/2, 212).  Reden 1806, 65. Übrigens wird in der dritten Ausgabe aus „Empfindung und Geschmakk“ das frühere „Sinn und Geschmack“ zurückgewonnen (KGA I/12, 56).

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wird als „vollendete“ hier nicht mehr der Religion zugeschrieben, sondern der Wissenschaft – man kann sich an die berühmte Formulierung bei Kant erinnert fühlen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“⁶⁹ Dann bleibt für die Frömmigkeit nur das Gefühl, das dann ja auch nicht leer und blind bleiben darf. Die Triade von Wissen, Handeln, Frömmigkeit ist als unmittelbare Einheit zu sehen und zu leben, der Mensch kann nur in dieser „unmittelbaren Einheit der Anschauung und des Gefühls Eins […] mit dem Universum“ bleiben.⁷⁰ Das klingt wie der Wortschatz der ersten Ausgabe, gibt der Anschauung als philosophischem Vermögen des Selbstbewusstseins aber ein größeres Gewicht. Es bleibt dabei, dass die Einheit des Selbstbewusstseins ohne Religion nicht zu haben ist, ja dass ohne diese ein solches nicht garantiert werden kann. Es sei noch erwähnt, dass der Redner der Darstellung des „vollendeten gerundeten Idealismus“, also Fichtes, gleichfalls ohne Namensnennung Kants praktische Philosophie vorschaltet, der „das höchste menschliche Leben in einer einzigen todten Formel zu begreifen meint“, sprich in dem kategorischen Imperativ.⁷¹ Damit ist klar, dass Schleiermacher auf dem Hintergrund der allerneuesten transzendentalphilosophischen Konstruktion der Bewusstseinseinheit argumentiert.⁷² Beide philosophischen Entwürfe geben die negative Folie ab für das positive Lob, das Spinoza und Novalis gilt und das Wissenschaft und Kunst in Vergangenheit und vorweggenommener Zukunft zusammenbindet. Der emphatische und viele Kritiker provozierende Panegyrikus auf Spinoza kann bestehen bleiben, weil für den gottsuchenden Philosophen dass gleiche gilt wie für den „zu früh entschlafenen göttlichen Jüngling“: „An ihm schauet die Kraft der Begeisterung und der Besonnenheit eines frommen Gemüths, und bekennt wenn die Philosophen werden religiös sein und Gott suchen wie Spinoza, und die Künstler fromm sein und Christum lieben wie Novalis, dann wird die große Auferstehung gefeiert werden für beide Welten.“⁷³ Das steht noch aus, obwohl es schon begonnen hat – und die „Reden“ sollen beitragen zur kommenden Verwirklichung. Das Thema „Kunst und Religion“, genauer der „Einheit der Wissenschaft, der

 KrV B, 75. – Vgl. Graf, „Ursprüngliches Gefühl“, a.a.O. (Anm. 59), 170. Zur Geschichte des philosophischen Begriffes der Anschauung, jeweils ohne Berücksichtigung Schleiermachers, siehe den Artikel von F. Kaulbach bzw. U. Dierse und R. Kuhlen in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg.v. J. Ritter, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp.340 – 347, 349 – 351.  Reden 1806, 67.  Reden 1806, 66 f. im Vergleich mit Reden 1799, 54 (KGA I/2, 213).  So mit Recht Graf, „Ursprüngliches Gefühl“, a.a.O. (Anm. 59), 174.  Reden 1806, 68 f. im Vergleich mit Reden 1799, 54 f. (KGA I/2, 213).

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Religion und der Kunst und […] ihrer Verschiedenheit zugleich“,⁷⁴ ist ein Erbe der Romantik, der sich Schleiermacher noch immer zugehörig fühlt.Vielleicht versteht man dadurch besser den Zorn des „Zusatzes“ – mehr noch der „Vorrede“ zur dritten Ausgabe –, dass der Trend der romantischen Kunst sich allmählich dem Katholizismus zuzuneigen schien.⁷⁵ Eine einzelne Stelle soll noch kurz betrachtet werden, nämlich – einhundert Druckseiten später – die berühmten Gedanken zu Tod und Unsterblichkeit. Der vielzitierte Schlusssatz „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen, und ewig sein in jedem Augenblikk, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ ist geblieben.⁷⁶ Aber die scharfen, dahin führenden Formulierungen sind abgemildert bzw. deutlicher ausgedrückt. Das gilt vor allem für den kühnen Satz „Gott ist nicht Alles in der Religion sondern Eins, und das Universum ist mehr“.⁷⁷ Das klang häretisch und eines Theologieprofessors nicht mehr angemessen. Der Gottesbegriff musste gegen Missverständnisse geschützt werden: „Gott, wie er gewöhnlich gedacht wird, als ein einzelnes Wesen außer der Welt und hinter der Welt, ist nicht das Eins und Alles in der Religion, sondern nur eine zufällige und unzureichende Art sie auszusprechen; und einen solchen besonderen Gott glaubt wer ihn glaubt nicht willkührlich, oder weil er ihn brauchen will zu Trost und Hülfe, sondern irgendwie durch seine Art zu denken genöthiget.“⁷⁸ Es ist also ererbtes falsches Denken, was diese Gottesvorstellung erzwingt. Schleiermacher geht mit dieser Destruktion nicht über die Theologie der Aufklärung hinaus; er hat keineswegs eine dogmatische Korrektur im Sinne der Orthodoxie vorgenommen. Seine Lösung ist die Erklärung der Unsterblichkeit als weltimmanente und zeitlose Aufgabe: „Das wahre Wesen der Religion aber ist vielmehr die Gottheit in der Welt, die Eins ist und Alles zugleich; und der Charakter eines religiösen Lebens ist die Unsterblichkeit, nicht wie Ihr sie Euch wünschet außer der Zeit und hinter der Zeit, sondern wie wir sie unmittelbar haben, wie sie eine Aufgabe ist, die wir immerfort lösen.“⁷⁹ In der dritten Ausgabe von 1819 wird auch diese noch sehr thetische Aussage auf „das unmittelbare Bewußtsein der Gottheit, wie wir sie finden, eben so sehr in uns selbst als in der Welt“⁸⁰ zurückgeführt, womit der Schritt zur

 Reden 1806, 69.  „Zusaz“: Reden 1806, 363 – 372 (entsprechend KGA I/12, 313 – 318, mit der Überschrift „Nachrede“); „Vorrede zur dritten Ausgabe“ (KGA I/12, 10 – 12).  Reden 1799, 133 (KGA I/2, 247); Reden 1806, 177.  Reden 1799, 132 f. (KGA I/2, 246 f.).  Reden 1806, 176 f.  Reden 1806, 177.  Reden 1819, 174 (KGA I/12, 128).

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„Glaubenslehre“ getan wäre. Aber dieses Werk richtet sich nicht mehr an die gebildeten Verächter der Religion. In diesem Sinne sind die „Reden“ von 1806 ein Übergangswerk.

4 Die Timotheos-Schrift Es war Schleiermacher klar, dass er den akademischen Bräuchen in Bezug auf eine wissenschaftliche Monographie noch nicht entsprochen hatte. Er war inzwischen (im Februar 1806) Ordentlicher Professor geworden und wurde durch die fortschreitende Plato-Übersetzung allmählich berühmt, aber ein eindeutiger Beweis aus der „eigentlichen“ Theologie fehlte noch. In seinen exegetischen Vorlesungen hatte er sich in die Briefe des Paulus vertieft, mit dem kennzeichnenden Ergebnis: „Den Apostel Paulus hoffe ich nun bald so gut zu verstehen als den Plato selbst.“⁸¹ Diesen Hinweis auf Plato darf man nicht überlesen, denn bei der Plato-Übersetzung waren ihm, überkommen aus den frühromantischen Anfängen mit Friedrich Schlegel, die Fragen nach Authentizität und historischer Einreihung geläufig geworden. Bei den Vorbereitungen zu der geplanten Vorlesung über die kleineren Briefe des Paulus für das WS 1806/07 muss ihm der 1. Timotheus-Brief fragwürdig geworden sein. In der wissenschaftlichen Literatur war bis dahin die mögliche Pseudepigraphie dieses Briefes noch niemals ernsthaft bedacht worden; er hatte für eine solche Hypothese keinerlei Vorbild. Die erzwungene Pause nach der Schließung der Universität im Gefolge der napoleonischen Eroberung Halles gab ihm die Gelegenheit, seine an Plato geübte philologische und hermeneutische Virtuosität an der neutestamentlichen Briefliteratur zu erproben. Gleichzeitig mit der Erarbeitung von Band II/2 der Plato-Übersetzung (und der Fichte-Rezension) wollte er mit dieser im engeren Sinne fachtheologischen exegetischen Arbeit, wie er seinem Verleger schreibt, seine „eigentliche theologische Laufbahn eröffnen.“⁸² Das schreibt er, nachdem er bereits zwei Jahre Theologie gelehrt hatte! Aber die Form dieses Werkes, an dem er ein knappes halbes Jahr arbeiten wird, zeigt doch ein gehöriges Maß an romantischer Ironie. Schleiermacher spielt, bei aller Ernsthaftigkeit der philologisch-historischen Argumentation, mit dem Genus der exegetischen Monographie: Ein „Sendschreiben“ an einen Consistorialassessor und Feldprediger, ein sich über 239 Seiten hinziehender Brief, ein fast ungegliederter Fließtext, der mit „Sie erinnern Sich, mein werthester Freund“

 Schleiermacher an Gaß, Ende Juni/Anfang Juli 1806 (KGA V/9, 58, Nr. 2211).  Schleiermacher an Reimer, nach Mitte November 1806 (wie Anm. 15).

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beginnt und mit „Leben Sie wohl“ endet,⁸³ unter prononciertem Verzicht auf das gelehrte Latein! So etwas hatte es vorher und hat es nachher in der Bibelwissenschaft nie wieder gegeben. Aber unter dieser Maske argumentiert Schleiermacher in strenger Logik und nach allen Regeln der historisch-philologischen Kunst. Es lässt sich genau zeigen, welche Textgrundlagen, Lexica und Konkordanzen und welche Sekundärliteratur er benutzt hat.⁸⁴ Das entsprach der Göttinger grammatisch-historischen Schule. Originell ist vielleicht, dass er auch das Gespräch mit den native speakers, den Kirchenvätern, suchte. Entscheidend sind die linguistischen und epistolographischen Gattungsanalysen. Unpaulinische Wendungen und eine Fülle von Hapaxlegomena sind das entscheidende Indiz gegen die paulinische Verfasserschaft, wozu noch der unzusammenhängende, sprunghafte Gedankengang kommt. Schleiermacher schließt daraus, dass es sich bei dem Brief um eine Kompilation aus dem Titus-Brief und dem 2. TimotheusBrief handeln müsse. Den Sinn der pseudepigraphischen Schöpfung, die er in den Ausgang des 1. Jahrhunderts datiert, sieht er unter anderem in der Stärkung des Diakonissen-Amtes. Bei dieser Arbeitsweise kann man den Einfluss der Plato-Studien deutlich erkennen. In der Sprache seiner frühen Hermeneutik ausgedrückt: Schleiermacher hat nicht nur die grammatische, sondern auch die psychologische Interpretation angewandt. Er suchte, wie bei Plato, nach der Persönlichkeit des Paulus, und die fand er bei dem Verfasser des 1. Timotheus-Briefes im Vergleich mit den anderen Paulinen nicht. Solche Entscheidungen musste er bei den Werken der Plato-Tradition gleichfalls treffen und begründen. So schloss er auf einen sehr viel später schreibenden Autor, der ein solches theologisches Profil nicht hatte – und wehrte sich dann heftig dagegen, dass damit auch ein für die kirchliche Predigt abfälliges Urteil gefällt worden sei. Für eine solche Sichtweise bekam er nur von der jüngeren Theologengeneration Zustimmung.⁸⁵ Aber Schleiermacher war ein politischer Mensch, und so gewann er dem anscheinend zeitenthobenen Thema auch eine politische Seite ab. In der Begründung des Gebrauchs der deutschen Sprache statt des gelehrten Lateins kann er seinen durch die napoleonische Unterdrückung gewachsenen Nationalismus auf witzige Weise einbringen. Freiheit der Rede gilt ihm über die theologischhistorische Debatte hinaus, wie in dem abschließenden „Wahlspruch“ des Briefschreibers deutlich wird: „[D]aß doch Jeder, der sich, weil ihn das deutsche Blut in

 KGA I/5, 157– 242, hier 157, 242.  Ebd., XCIV–C.  Vgl. Hermann Patsch, „Die Angst vor dem Deuteropaulinismus. Die Rezeption des ‚kritischen Sendschreibens‘ Friedrich Schleiermachers über den 1. Timotheusbrief im ersten Jahrfünft“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 88 (1991), 451– 477 sowie KGA I/5, C–CXXIII.

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seinen Adern sticht, auf vielfache Weise gestört gequält und gepeinigt findet, sich ja pflegen und sich alles steifen und einengenden, vorzüglich aber jeglichen Zwanges der Rede entschlagen, und Jeder wie ihm seine Sprache gewachsen ist an der deutschen Zunge Gediegenheit Gründlichkeit und natürlicher Freiheit festhalten möge.“⁸⁶ Die „eigentliche“ Theologie ist für den Hallenser Professor – wie auch später – von den menschlichen, und d. h. auch politischen Verhältnissen nicht zu trennen, sie kann niemals nur akademisch sein und sich in bloß gelehrten Werken äußern. In der jetzigen Lage war Schleiermacher, obgleich er kein Einkommen aus staatlicher Quelle mehr hatte, nicht gewillt, um des Lehrstuhls willen sich zu beugen wie ein Hund und zu seinem Herrn – also dem jetzt nicht mehr preußischen, sondern französischen Staat – zurückgekrochen zu kommen.⁸⁷ Er war bereit zum Übergang nach Berlin. Sein Gastgeschenk waren die gleichfalls noch in Halle konzipierten „Gedanken über deutsche Universitäten“ – versteht sich: in der preußischen Hauptstadt.

 KGA I/5, 241 f.  Vgl. Hermann Patsch, „Ein Gelehrter ist kein Hund. Schleiermachers Absage an Halle“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985 (Schleiermacher-Archiv 1), 127– 137. Der Text jetzt in KGA I/14, 95.

Andreas Arndt

Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen (1) Friedrich Schleiermachers erste Schriften und Entwürfe von 1787– 1796, die seinen Publikationen vorausliegen und zum Teil noch in die Studentenzeit zurückreichen, sind philosophischen Themen gewidmet: der aristotelischen Ethik, der kantischen praktischen Philosophie und der Philosophie Spinozas, die Schleiermacher – wie die meisten seiner Zeitgenossen – in der Darstellung Friedrich Heinrich Jacobis studierte. Die Grundposition, die Schleiermacher im Ergebnis dieser Studien entwickelte – eine Kombination aus Kantianismus und Spinozismus – führte ihn auf eine Ebene mit der Avantgarde der nachkantischen Philosophie; so konnte er Friedrich Schlegel, als er ihn 1796 kennen lernte und sich mit ihm befreundete, auch philosophisch auf Augenhöhe begegnen. Bemerkenswert ist, dass Schleiermacher diese Entwicklung größtenteils im wahrsten Sinne des Wortes als „Selbstdenker“ in der Abgeschiedenheit Drossens in der Neumark vollzog, wo er bei seinem Onkel Stubenrauch wohnte und allein über Rezensionsorgane und den Briefwechsel mit seinem Studienfreund Karl Gustav v. Brinckmann, der in Kontakt zu Reinhold stand, an den philosophischen Debatten Anteil nehmen konnte. Die Begegnung mit Friedrich Schlegel trug entscheidend dazu bei, Schleiermachers literarische Produktivität freizusetzen, lenkte sie aber nicht in Richtung auf die Ausarbeitung einer systematisch gerichteten Philosophie. Kritische Projekte – wie die „Kritik der Moral“, die Schleiermacher erst im Stolper „Exil“ 1803 vollenden sollte – und rhetorisch-poetische Annäherungen an das Unendliche – wie in den Reden über die Religion (1799) und den Monologen (1800) – bestimmten die philosophischen Bemühungen. Über deren Gravitationszentrum gibt Schleiermacher in seinen Briefen Auskunft. So heißt es in einem geradezu programmatischen Brief vom März 1801 an Friedrich Heinrich Christian Schwarz: „Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen“;¹ hierfür beruft Schleiermacher sich ausdrücklich auf die Übereinstimmung seiner Auffassungen mit denen Friedrich Schlegels. Und noch einen zweiten Punkt nennt Schleiermacher in seinem Brief, diesmal in dezidierter Abgrenzung zu Fichte und impliziter Übereinstimmung mit Friedrich Heinrich Jacobi: die Nichtanerkennung einer Trennung von Philosophie

 An F.H.C. Schwarz, 28. 3.1801, KGA V/5, 73.

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und Leben.² Jacobi, dem er ja später noch die erste Auflage der Glaubenslehre (1821/22) widmen wollte, war für Schleiermacher überhaupt ein wesentlicher Bezugspunkt seines Philosophierens; ihm hätte er noch Ende 1803 zugetraut, als der „olympische Jupiter“ in der Philosophie die Rolle zu spielen, die Goethe in der Literatur hatte.³ Was das Verhältnis von Philosophie und Leben betrifft, so steht das Leben für Schleiermacher höher als Philosophie und auch Poesie, denn das Leben besteht gerade darin, alle Gegensätze überwinden zu wollen; sein Träger ist die „lebendige Persönlichkeit“, weshalb das „Ausgehn von der Individualität“ der „höchste Standpunct“ ist, „da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt. Ist denn die ganze Welt etwas anders als Individuation des Identischen?“⁴ Als Schleiermacher sich zu solcher Position einer Begrenzung der Philosophie durch Poesie und Leben und zur Perspektive der Individualität bekannte, hatte er zugleich in den 1803 erschienenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre erstmals eine philosophisch begründete Systematik des Wissens und der Wissenschaften ins Auge gefasst, nämlich – in deutlicher Anspielung an Fichte – eine „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften“; diese dürfe jedoch „selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen“. Sie sei vielmehr „als ein Ganzes“ denken, „in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht […], und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann.“⁵ Schleiermachers Grundforderung an eine solche Wissenschaftslehre bestand darin, dass sie Physik (Naturphilosophie) und Ethik gleichermaßen ermöglichen und beide in ein Gleichgewicht setzen müsse.Während Fichte, so heißt es in den Grundlinien, „die Möglichkeit einer Naturwissenschaft bald troziger bald verzagter abgeläugnet“ habe, habe Schelling umgekehrt für die Ethik „keinen Platz finden können auf dem Gesammtgebiete der Wissenschaften.“⁶ Ausdrück-

 Vgl. ebd., 76. – Vgl. auch schon an Brinckmann, Ende 1799; KGA V/3, 313 f.  Vgl. an Brinckmann, 26.11.1803, KGA V/7, 122. – Zum Verhältnis Schleiermacher–Jacobi vgl. Andreas Arndt, „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg.v. B. Sandkaulen und W. Jaeschke, Hamburg 2004, 126 – 141.  An Brinckmann, 14.12.1803, KGA V/7, 158.  KGA I/4, 48.  Ebd., 356; vgl. auch die Notiz 149 in dem Heft „Gedanken V“ (KGA I/3, 320): „Aus dem Idealismus sind Zwei verschiedne Theorien ausgegangen. Die Fichtesche welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die Schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die

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lich verweist Schleiermacher darauf, dass der Streit um die Prinzipien der Philosophie noch nicht entschieden sei;⁷ er selbst war sich dabei offenbar nicht im klaren darüber, ob die ins Auge gefasste „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang der Wissenschaften“ selbständig hervortreten oder in die Disziplinen der Physik und Ethik integriert werden müsse. Die Rede vom „Ganzen“ der Wissenschaften legt letzteres nahe; auch die ebenfalls 1803 erschienene Rezension zu Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums geben hier keine eindeutige Auskunft, denn sie berühren die Grundlegung des Systems im Ganzen nur am Rande.⁸ (2) Damit ist die Ausgangslage für Schleiermachers Überlegungen zur Grundlegung der Philosophie in seiner Hallenser Zeit bezeichnet. Schleiermacher war dort Professor der Theologie und der Philosophie und dadurch auch genötigt, der Kritik vorliegender Systeme eine systematisch gerichtete positive Darstellung seiner eigenen philosophischen Auffassungen folgen zu lassen, die er bisher vermieden hatte. Gewissermaßen im Anschluss an die Grundlinien trat Schleiermacher dabei in seinem ersten Semester (1804/05) – wohl nach anfänglichem Zögern (angekündigt hatte er eine Christliche Sittenlehre) – zunächst mit seiner philosophischen Ethik hervor. Über diese erste Vorlesung wissen wir wenig. Studentische Nachschriften sind bisher nicht bekannt und von einem Entwurf, der unter Schleiermachers Freunden zirkulierte und von ihnen kopiert wurde, hat sich leider nur der mittlere, auf die Güterlehre folgende Teil, die Tugendlehre, erhalten.⁹ Nach einem Brief seines Freundes Joachim Christian Gaß’ an Schleiermacher vom 20.7.1805 enthielt dieser Entwurf auch eine ausführliche Darstellung „transzendentaler Postulate“, in denen vor allem die Eigenständigkeit der Schleiermacherschen Position gegenüber Schelling deutlich hervortrat: „Die transcendentalen Postulate werden Sie schwerlich abkürzen können, ich dächte eher erweitern, auf allen Fall aber populärer machen müssen, für den mündlichen Vortrag nemlich. Bartholdy bemerkte besonders mit Wohlgefallen Ihre Abweichung von Schelling, deßen erste Vorlesung über das akademische Studium wir dabei zur Hand nahmen, und wünscht daß Sie sich demselben hierin nie mehr nähern mögten.“¹⁰ Nach Kant

Ethik des ersten schlecht und leer sein muß, ohnerachtet der Bewunderswürdigkeit der Zurüstungen.“  Vgl. KGA I/4, 30.  Vgl. KGA I/4, 463 f.  Es handelt sich um die Tugendlehre von 1804/05; vgl. Friedrich Schleiermacher, Werke, Bd. 2, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg.v. O. Braun, Leipzig 1913, 35 – 74.  KGA V/8, 255.

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sind Postulate praktisch begründete theoretische Sätze, die angenommen werden sollen, ohne bewiesen werden zu können;¹¹ sie erfüllen damit genau das, was Schleiermacher in den Grundlinien von einer Wissenschaftslehre forderte. Was aber diese Postulate genau bezeichneten, lässt sich nur erahnen. Vermutlich bezogen sie sich auf die Einheit des Idealen und Realen, welche die Grundlage des von Schleiermacher in der Ethik verfolgten Programms einer „Beseelung der Natur durch die Vernunft“ bildet. Entsprechend seiner Kritik an Schelling und Fichte musste Schleiermacher bei seinem Unternehmen auch die Beziehung zur Naturphilosophie herstellen, die er selbst nicht vortrug und auch später niemals vortragen sollte. Wenn Physik und Ethik dabei nicht in einer gesondert hervortretenden Wissenschaftslehre verankert, sondern aus ihnen selbst heraus aufeinander bezogen werden sollten, war die Beschränkung auf die Ethik jedoch riskant, was vielleicht auch das anfängliche Zögern im Blick auf die philosophische Ethik erklärt. Schleiermacher musste damit rechnen können, dass eine für ihn anschlussfähige Naturphilosophie grundsätzlich möglich war. Tatsächlich fand Schleiermacher diese – Sarah Schmidt hat darüber ausführlich gehandelt – in den Vorlesungen seines Kollegen Henrich Steffens, mit dem er sich rasch anfreundete;¹² schon bald wurden die Vorträge Steffens’ und Schleiermachers von allen Beteiligten als Einheit angesehen.¹³ In Schleiermachers Manuskript zur zweiten Hallenser Ethik-Vorlesung 1805/ 06, dem sogenannten Brouillon zur Ethik, bestimmt Schleiermacher die Ethik als „die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern als positiv aufnehmen […]. Sonach theilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten.“¹⁴ Auf die „Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll“, schließt Schleiermacher eine „Behandlung in Grundsäzen und Säzen“ ausdrücklich aus und verweist auf eine „ursprüngliche Anschauung“, welche man „nicht in einem Saz zusammenfassen“ könne, weshalb man „also unmittelbar in

 KpV 220.  Vgl. an Reimer, 4.11.1804, KGA V/8, 18.  Vgl. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, Bd. 2, Berlin 1871, 334, wo es über Steffens’ Vorlesungen heißt, sie zeigten „ihren höchsten Werth erst dann, wenn man sie mit den Schleiermacher’schen gleichsam in ein Ganzes verflocht […] und beide Männer in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich gern in diese Gemeinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so daß die Theologen auch Steffens hörten, und die Naturbeflissenen sich Schleiermacher’n anschlossen.“  Schleiermacher, Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 9), 79 f.

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der Anschauung haften bleiben“ müsse.¹⁵ Diese „sittliche Anschauung sezt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen“¹⁶, d. h. sie bezieht sich auf den Schnitt- bzw. Indifferenzpunkt von Physik und Ethik. Dabei legt Schleiermacher besonderen Wert darauf, dass die ursprüngliche Anschauung nicht als ein abstrakt-allgemeines transzendentales Prinzip verstanden wird. Vielmehr müsse „die Idee des objectiven Wissens selbst als eines irdischen individuell aufgefaßt“ werden, „als Identität eines Allgemeinen und eines Besonderen.“¹⁷ Und er fügt hinzu: „Hievon weichen gänzlich ab die gewöhnlichen Formeln der Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissens abstrahirt von aller Individualität sezen will, aber auf diese Art nur eine gehaltlose und unbestimmte Form erhalten kann“.¹⁸ Offenbar war Schleiermacher der Auffassung, dass die Philosophie sich aus den Realwissenschaften heraus – also der Naturphilosophie und der Ethik – über ihre Grundlagen zu verständigen habe und diese nicht in einer gesonderten Darstellung voranschicken dürfe, um die von ihm gerügte Abstraktion zu vermeiden. Dies entspricht seiner späteren, bis in die letzten Fassungen der „Dialektik“ hinein verfolgten Linie, das reale Wissen zum Ausgangspunkt der Verständigung über die Prinzipien des Wissens zu machen. Gleichwohl erschien es ihm noch 1805/06 undenkbar, dass eine gesonderte Disziplin – wie seit 1811 die „Dialektik“ – diese Aufgabe übernehmen könnte. Von dem Gedanken einer obersten Wissenschaft, wie er in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre formuliert worden war, führt offenbar kein direkter Weg zu einer gesonderten Darstellung dieser Wissenschaft. (3) Während für die erste Hallenser Ethik außer dem bereits erwähnten Manuskript zur Tugendlehre keine weiteren Zeugnisse zum Inhalt und Verlauf der Vorlesung vorliegen, ist die zweite Vorlesung von 1805/06 gut dokumentiert. Zusätzlich zu Schleiermachers Manuskript, dem Brouillon zur Ethik, sind zur Zeit vier studentische Nachschriften bekannt, die im Zusammenhang mit dem Akademienvorhaben „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bearbeitet werden. Die erste, sehr ausführliche, befindet sich im Schleiermacher-Nachlass der BBAW und stammt aus der Feder des späteren Altphilologen August Boeckh (1785 – 1867). Eine zweite, nicht minder    

Ebd., 82 Ebd. Ebd., 175 Ebd.

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ausführliche, in manchen Details genauere Nachschrift wurde von Friedrich Karl Köpke (1785 – 1865) gefertigt, der später als Germanist und Gymnasialprofessor in Berlin wirkte; sie liegt in der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Eine dritte, mehr zusammenfassende Nachschrift stammt von dem aus Bremen gebürtigen, früh verstorbenen Mediziner Adolph Müller (1784– 1811). Und schließlich ist in Lübeck, im Archiv der dortigen reformierten Kirche, eine anonyme, sehr ausführliche Nachschrift vorhanden, die 440 Seiten umfasst. Diese Nachschriften erlauben eine viel präzisere Bestimmung der Schleiermacherschen Position als das Brouillon. Im Folgenden stütze ich mich auf die Nachschriften Boeckh, Köpke und Müller. Schleiermacher wendet sich mit äußerster Schärfe gegen die Auffassung, die Ethik oder die Philosophie überhaupt könnten auf einem obersten Grundsatz beruhen. Dabei ist jedoch die Frage nach Prinzipien nicht von der Hand zu weisen, denn, so heißt es in der Nachschrift Köpke, „es soll ja doch die Wissenschaft eine nothwendige Folge, Consequenz und Demonstration aus Prinzipien seyn. Diesem zu Folge pflegt man denn auch in der Ethik nach Grundprincipien und einem ersten Satz zu fragen, in dem gleichsam die übrigen eingeschachtelt seyn sollen. Einen solchen Satz pflegt man denn gewöhnlich einen apodiktischen zu nennen. […] Mit einem Worte, sie wollen sagen, der Satz solle nicht bewiesen sondern angeschaut werden.“¹⁹ Es ist unverkennbar, dass sich Schleiermacher hier auf die Diskussionen der nachkantischen Philosophie über die mögliche Grundlegung des Wissens und Handelns in einem Akt der Letztbegründung bezieht. Karl Leonhard Reinhold hatte versucht, das nicht nur von ihm angenommene Begründungsdefizit der Kantischen Philosophie durch eine Fundamentalphilosophie zu beheben, welche auf einem evidenten obersten Grundsatz als eines fundamentum inconcussum aufbauen sollte. Fichte sollte ihm in seiner ersten Fassung der Wissenschaftslehre hierin folgen. Dagegen hatte Friedrich Heinrich Jacobi Kant vorgeworfen, mit dem Scheitern der Vernunft, sich eines Unbedingten zu vergewissern, sei alles Wissen und Tun haltlos geworden und eine „durchgängige[] absolute[] Unwissenheit“²⁰ sei an seine Stelle getreten; Gewissheit sei nur unmittelbar durch einen Sprung in den – philosophisch verstandenen – Glauben zu gewinnen. Schleiermacher begibt sich ohne Zweifel in die Nähe Jacobis, wenn er – wiederum in den Worten der Nachschrift Köpke – feststellt: „Jener ihr erster Grundsatz ist auf jeden Fall in die Luft hinein gebaut, denn er ist ja demnach doch  Köpke, Bl. 6 recto f.  Friedrich Heinrich Jacobi, „Ueber den Transcendentalen Idealismus“, Beilage zu „David Hume über den Glauben“ (1787), in: Schriften zum Transzendentalen Idealismus, Hamburg 2004 (Werke 2, 1), 112.

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nicht selbst genug, nicht in sich vollendet, sondern er wird ja so nothwendig auf eine frühere Autorisation bezogen, und bekommt erst von ihr seine Vollkommenheit und Gültigkeit. Ist es nun mit diesem Satze so beschaffen, dann steht es mit den übrigen nicht besser,welche sie ja aus diesem alle herausschachteln. Auch sie schweben jämmerlich in der Luft! Es ist überhaupt in der Welt nichts leerer wie dieser traurige Streit über den ersten Grundsatz.“²¹ Warum das so ist, erläutert die Nachschrift Boeckh: „Wovon soll aber nun die Ethik ausgehen? Gewöhnlich sagt man, die Wissenschaft müße von einem Principium ausgehen: worunter man einen Satz versteht, von dem alle übrigen sollen abgeleitete seyn; indem man die Wissenschaft nennt eine Reihe von Sätzen, die auf dem Wege der Demonstration auf einander folgen: so daß alle Sätze demonstrativ sind, den 1ten ausgenommen, dessen Gewißheit eine apodiktische seyn soll. Wahrlich wunderlich. Denn die den Nahmen des Apodiktischen dieser Wahrheit gaben, müßen wahrlich eine ganz andere Idee damit verbunden haben: indem ἀποδεικτικὸς nichts Anderes ist, als apodiktisch, und apodiktisch also nichts heißt als demonstrativ. Ieder Begriff ist wieder in neue Begriffe zerlegbar: darauf beruht die Deductionsfähigkeit überhaupt. Folglich wird auch der erste Grundsatz wieder in andere Begriffe zerlegbar seyn sowohl seinem Subiect als Prädicat nach. Allein, wenn man so verfahren wollte, so gäbe es ein ewiges Spiel mit Begriffen, womit man nie zu Ende kommen könnte.“²² Tatsächlich geht es hierbei nicht um die Bedeutung von ἀποδεικτικὸς, sondern darum, dass ein Satz, also ein aus Subjekt- und Prädikatbegriff bestehendes Urteil an die Spitze gestellt werden soll. In der Nachschrift Müller können wir hierzu folgendes lesen: „Jeder Satz besteht aus 2 verschiednen Begriffen in Verschmelzung: aus Subjekt und Prädikat. Ein Satz soll aus einem frühern abgeleitet werden: heißt, es soll gezeigt werden daß diese Begriffe in einen aufgehen, daß der abgeleitete Satz in dem früheren gelegen habe. Eine solche Auflösung aber führt nicht auf einen Grundsatz sondern geht ins Unendliche, daher muß eine andere Autorisation der Begriffe vorausgehen“.²³ Nun ist diese Kritik keineswegs aus sich selbst heraus plausibel. Formal gesehen handelt es sich ja bloß darum, dass ein erster Satz als Obersatz eines Schlusses fungiert, der nicht wiederum selbst als Schlusssatz durch einen anderen Syllogismus vermittelt ist. Er ist unvermittelt (ámeson) im Sinne der zweiten Analytik des Aristoteles, wo gesagt wird (Anal. post. I, 2. 72a 7), dass ein oberster Grundsatz der unvermittelte Vordersatz eines Beweises sei, dem kein anderer Satz vorausgehe. In bezug auf die von Kant vorgegebene Problematik einer Begrün-

 Köpke, Bl. 7 recto.  Boeckh, Bl. 4 verso / 5 recto.  Müller, S. 4.

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dung der rationalen Vermögen insgesamt in einem Unbedingten oder Absoluten greift diese aristotelische Figur jedoch nicht, denn es geht hierbei nicht um Bedingungen für irgendwelche Teilbereiche des Erkennens, sondern um die Totalität der Bedingungen überhaupt, also in der Konsequenz um einen einzigen Satz, an dem alle anderen Sätze hängen. Es geht darum, eine absolute Bedingung alles Erkennens und Tuns in der begrifflichen Struktur eines Urteils zu verankern, dessen Begriffe selbst nicht wieder von anderen Begriffen abhängen. Aus Kantischer Perspektive scheitert dies deshalb, weil das Unbedingte begrifflich nicht bestimmt werden kann, da es sich eben um keinen Gegenstand der Erfahrung handelt. Es handelt sich also um eine Grenze des Begriffs überhaupt, die hier in Rede steht, nicht um das Verhältnis vermittelter und unvermittelter Strukturen auf dem Feld des begrifflichen Erkennens. Jacobi hat dies in der zweiten Auflage (1789) seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza auf den Punkt gebracht: „wenn alles, was auf eine uns begreifliche Weise entstehen und vorhanden seyn soll, auf eine bedingte Weise entstehen und vorhanden seyn muß; so bleiben wir, so lange wir begreifen, in einer Kette bedingter Bedingungen. Wo diese Kette aufhört, da hören wir auf zu begreifen“.²⁴ Schleiermacher, der diese Schrift gut kannte, schließt sich dieser Position weitgehend an. In der Nachschrift Boeckh heißt es: „Will man diß vermeiden, so muß man den Grund des Begriffs immer gleich in einer Anschauung suchen, womit man auf ein Mahl diesem Begriffsspiel ein Ende gemacht, und die Begriffe bis auf ihre Wurzel zurückgebracht hat. Die Anschauung läßt sich nun freylich in einen Grundsatz fassen, und daraus läßt sich die übrige Wissenschaft dialektisch deduciren: der Grundsatz selbst aber kann ohne diese Anschauung keine Realität haben.“²⁵ Der Unterschied besteht darin, dass Jacobi das Prinzip in „Offenbarung“²⁶ und Glauben setzt, während Schleiermacher auf eine Anschauung rekurriert, die dem unendlichen Regress des Begründens – der Kette bedingter Begriffe – ein Ende setzt. Um einen Sprung handelt es sich aber auch hier: „Denken und Anschauen bleiben gegeneinander irrational. Die Begriffe sind nichts als Repräsentanten des Anschauens. Muß man am Ende damit aufhören, daß Princip auf eine Anschauung zu beziehen, so kann dies nicht als Fundament der Wissenschaft angesehen werden, da es der Anschauung gehört“.²⁷ Es versteht sich, dass die Anschauung nicht die Anschauung von Gegenständen der Erfahrung im Kantischen Sinne ist, sondern eine eher intellektuelle Anschauung der Totalität im Sinne der    

Friedrich Heinrich Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, Hamburg 1998 (Werke 1, 1), 260 f. Boeckh, Bl. 5 recto. Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, 125. Müller, S. 4.

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Anschauung des Universums in den Reden über die Religion von 1799. Irrational im Verhältnis zum (begrifflichen) Denken ist die ursprüngliche Anschauung deshalb, weil sie dem Begriff nicht zugänglich ist, wobei sie, als etwas Nichtbegriffliches, das begriffliche Erkennen allererst begründen soll. Bereits in den Reden war ja deutlich gesagt, dass der Begriff die ursprüngliche Anschauung nur unzureichend wiedergeben könne.²⁸ Diese „Irrationalität“ verhindert jedoch nicht, dass es die Anschauung ist, welche die wissenschaftlichen Verfahrensweisen begründet, denn die Anschauung ist objektiv gerichtet, während das Gefühl – das ja in den Reden als subjektives Innewerden des Angeschauten der Anschauung zur Seite steht – ganz der Subjektivität angehört. In den Worten der Nachschrift Adolph Müllers: das unmittelbare „Gefühl kann keiner Wissenschaft zur Stütze dienen, da es auf dem Gebiet liegt, wo sich einer nicht mit dem andern verständigen kann, auf dem innersten Grund der Persönlichkeit. – Da es kein wissenschaftliches Produciren ist – wenn ein solches Princip aufzustellen, möglich ist – wäre es doch nicht rathsam es aufzustellen. Die Ethik soll sich unmittelbar und überall an die Anschauung halten wie das menschliche Handeln sich zeige, so daß von jedem Punkt aus, das Ganze könne konstruirt werden.“²⁹ Dies entspricht nicht nur der Forderung, dass die Ethik, wie es bereits in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) heißt, objektiv verfahren müsse, es entspricht im übrigen auch der Verschiebung im Verhältnis von Anschauung und Gefühl, die in der zweiten Auflage der Reden über die Religion (1806) vorgenommen wird, wonach die Religion in erster Linie dem Gefühl und damit der Subjektivität zugeordnet wird, während die Anschauung das objektiv gerichtete Erkennen begründet.³⁰ Diese Anschauung bestimmt Schleiermacher, da sie nicht durch das begriffliche Erkennen vermittelt ist, sondern ihm voraus- und zugrunde liegt, als unmittelbar. Es ist aber, und hier kommt nun das Individualitätsprinzip zur Geltung, keine Anschauung des Universums, also der Totalität schlechthin, sondern eine Anschauung der Totalität des Menschen. Der Nachschrift Köpke zufolge gehen wir aus „von der unmittelbaren Anschauung des gesamten Menschen. Wir erhalten ihn von der theoretischen Philosophie oder besser von der Naturphilosophie welche sich bestrebt von einzelnen ausgehend zur Anschauung des Universums

 Im Blick auf die ursprüngliche Anschauung des Universums und das Gefühl heißt es dort: „vergönnt mir […] einen Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann […]. Aber eine nothwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen“ (KGA I/2, 220)  Müller, S. 4 f.  Vgl. Hermann Süskind, Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, 149 ff.

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fortzuschreiten und wiederum von dieser aus das Einzelne in allen seinen Modifikationen und tausendfachen Beziehungen anzuschaun.“³¹ Innerhalb dieser Bewegung vom Teil zum Ganzen und zurück, in der das Individuelle und das Allgemeine vermittelt werden, ist für Schleiermacher die Perspektive des individuellen Allgemeinen, eben des ganzen Menschen leitend. Hierin liegt, trotz allen Insistierens auf Objektivität, die subjektivitätstheoretische Pointe der Schleiermacherschen Ethik. In diesem Sinne heißt es bei Köpke: „Zwar könnte man denken das vollkomne Erkennen und Anschaun des Universums stehe höher, aber der Mensch ist doch die höchste, vollkomenste Organisazion in jenem und als solche betrachtet das Ziel des Erkennens.“³² Die unmittelbare Anschauung ist als Anschauung des ganzen Menschen auch Anschauung der unmittelbaren Einheit von Natur und Vernunft, des Realen und des Idealen und – sofern die Naturphilosophie als theoretisch qualifiziert wird – des Theoretischen und des Praktischen. „Erst die Ethik“, so heißt es nach Köpke weiter, „welche den Menschen als Organ, Produkt der Natur aus den Händen der Naturwissenschaft erhält, beseelt ihn. Hier erst wird er durch etwas weit höheres, was über Organisazion weit hinaus ist, belebt, nemlich durch das Höchste, Vernunft und Freyheit. Dieses ist schlechthin nicht durch Organisazion.“³³ Die Anschauung dieser Einheit kann jedoch nicht nur deshalb nicht adäquat in Begriffe umgesetzt werden, weil sie sich irrational zum Denken in Begriffen verhält, sondern auch deshalb, weil die Einheit nicht als bereits vollzogen angeschaut werden kann, sondern nur in einem fortschreitenden Prozess der Einigung. Nicht nur Anschauung und Begriff, auch Natur und Vernunft verhalten sich insoweit irrational zueinander, als sie nicht vollständig miteinander vermittelt sind. Dies hat nach Schleiermacher zur Konsequenz, dass auch Naturphilosophie und Ethik defizitär bleiben und als Wissenschaften im Werden begriffen sind. Ich zitiere wiederum aus Köpke: „Es ist schon oben gesagt worden, daß zwischen Naturwissenschaft und Ethik eine Wechselwirkung statt findet und daß eine Wissenschaft die andre ergenzt. Ist jene Wissenschaft noch nicht bis in ihre kleinste Theile wissenschaftlich construirt, so wird es auch die Ethik nicht seyn. Sind in jener noch unerkannte Größen, so wird es auch in dieser der Fall seyn und das Problem wird nothwendig zur Zeit noch nicht vollkomen können gelößt werden.“³⁴

   

Köpke, Bl. 8 recto. Ebd., Bl. 5 verso / 6 recto. Ebd., Bl. 8 recto / verso. Ebd., Bl. 5 verso.

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(4) Ich muss den Werkstattbericht aus der laufenden Editionsarbeit hier beenden. Deutlich wird, dass Schleiermacher in Anlehnung an die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre eine Auffassung der philosophischen Wissenschaften im Ganzen entwickelt, in denen, wie es dort hieß, „alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht“. Von einer selbständig hervortretenden Prinzipienlehre, wie sie dann ab 1811 in der Dialektik vorliegt, ist Schleiermacher hier noch weit entfernt. Undenkbar wäre auch ein Unternehmen wie die „Deduction der Ethik aus der Dialektik“, die Schleiermacher 1812/13 skizzierte.³⁵ In seiner dritten Ethik-Vorlesung, die er 1807/08 in Berlin hielt, hat Schleiermacher dagegen die „erste“ oder „reine“ Philosophie der Hallenser Position entsprechend noch in die Wechselseitigkeit von Naturphilosophie und Ethik gesetzt: „Die reine Philosophie muß aber zwischen Physik und Ethik im vollkommensten Gleichgewicht stehn, ihr Beruf ist die Identität zwischen Sein und Erkennen zu zeigen, diesen muß sie nun in physischen Formen oder ethischen üben, jetzt vorzüglich in physischen, vielleicht bald mehr in ethischen.“³⁶ Und noch eine Abweichung gegenüber den Positionen in den späteren Entwürfen muss hervorgehoben werden. Die Gegenüberstellung der Subjektivität des Gefühls und der Objektivität der Anschauung hat zur Folge, dass das Selbstbewusstsein für das Begründungsverfahren der Philosophie keine entscheidende Rolle spielt – anders als es in der Dialektik seit 1822 der Fall ist, wo das unmittelbare Selbstbewusstsein qua Gefühl letztlich erst die Anschauung prinzipiiert. 1805/06 hingegen ist das Selbstbewusstsein – wie übrigens auch in den ersten Entwürfen zur Dialektik – wesentlich als reflektiert bestimmt; es ist sozusagen Effekt der objektiven Anschauung. In der Nachschrift Boeckh findet sich hierzu eine prägnante Formulierung: „Das Selbstbewußtseyn entsteht aber eigentlich durch das Herausgehen aus sich selbst und Anschauen seiner selbst in dem Universum und der allgemeinen Vernunft.“³⁷ Die Entwicklungsgeschichte des Schleiermacherschen philosophischen Denkens, das zeigt sich schon jetzt, wird sich zuverlässig erst auf der Basis dessen schreiben lassen, was Gegenstand unseres Neuvorhabens ist.

 Schleiermacher, Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 9), 247 ff.  Andreas Arndt, „Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme“, in: Archivio di Filosofia (1984), 109; das Zitat stammt aus einer Nachschrift Varnhagen von Enses.  Boeckh, Bl. 68 recto.

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interpretari necesse est. Über die Wurzeln von Schleiermachers „Hermeneutik und Kritik“ Schleiermacher hat Theologie und Philosophie in Halle und später in Berlin unterrichtet; dabei spielt die Hermeneutik-Vorlesung eine wichtige Rolle, er hat sie von 1805 bis 1832/33 immerhin neunmal vorgetragen, zunächst nur als Hermeneutik, seit 1826 in erweiterter Form als Hermeneutik und Kritik. Was ist diese Hermeneutik und wozu ist sie gut? Gemeint ist etwas ganz banales, das uns allen vertraut ist, die Interpretation, und insbesondere die Kunst des Verstehens, die dann zur Interpretation hinführt. Dazu gehört alles, mit dem wir alle ohnehin vertraut sind: die Person des Autors, die historischen Umstände, die literarische Tradition, die Sprache, der Stil usf., – kurz, alles was zum Verständnis hilfreich ist. Die Hermeneutik versucht, all diese Elemente in einer geordneten, systematischen Form darzubieten. Gegenstände der Hermeneutik oder der Interpretation sind zunächst klassische Texte wie Homer oder das Neue Testament, aber auch neuere Texte, überhaupt alles, was von einem Autor hervorgebracht ist, es mag schriftlich oder mündlich sein. Das bedeutet aber, dass anonyme Produktionen (Nibelungenlied, Volkslieder, Sagen, Märchen) weniger im Blickfeld sind; man könnte also sagen, Schleiermacher sei autorfixiert, und etwa eine psychologische oder gar psychoanalytische Interpretation von Märchen wäre außerhalb seiner Vorstellungen. Innerhalb dieser Autorfixierung versteht Schleiermacher die Texte auf zweierlei Weise: 1) als Ausdruck der Persönlichkeit des Autors und 2) als Mitteilung an ein Publikum. Interpretationen können ja ausarten in fantastische Auslegungen, das war schon in der Antike so (besonders in der Homer-Interpretation) und es ist noch heute so (besonders bei Kafka). Hier ist für Schleiermacher immer der Autor das Regulativ; und darum ist sein Ziel stets die Rekonstruktion dessen, was der Autor ausdrücken wollte, und die modernen (soziologischen, rezeptionsästhetischen usf.) Interpretationsansätze des 20. Jahrhunderts wären ihm gewiss ein Graus. Oft wissen wir freilich vom Autor nichts als den Namen (Homer, Shakespeare), aber dies stört Schleiermacher nicht ernsthaft, da wir ja aus dem Werk eine ungefähre Vorstellung von seiner Person gewinnen können. Dies gilt auch von den Evangelisten und den Aposteln, besonders aber von Paulus, dessen Briefe er darum in einer eignen Edition vorlegen wollte.

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In den Vorlesungen hat Schleiermacher seine hermeneutischen Überlegungen zunächst auf das Neue Testament angewendet, das ja in vieler Hinsicht ein böses Kuddelmuddel ist und dessen Lektüre eines Leitfadens durchaus bedarf. Er hat aber immer deutlich gemacht, dass Hermeneutik überall notwendig ist, auch im alltäglichen Gespräch, weil überall Missverständnisse möglich sind. Den Kern seiner Überlegungen bildet dabei weniger das Verstehen als das Missverstehen, vor dem man auf der Hut sein und das man zu vermeiden suchen muss. – Das betrifft auch unsre eigne editorische Arbeit, und aus diesem Gebiet möchte ich Ihnen nun einen Fall vorlegen, der uns dann auch zu den Wurzeln von Schleiermachers Hermeneutik führen soll. *** Am 24.1.1801 schreibt Schleiermacher an seinen Freund Friedrich Schlegel: „Ich lese jetzt alle Woche zwei Abende Plato mit Heindorf wobei die pünktlichste Kritik sehr heilig getrieben wird“ (KGA V/5, 37,31 f.). In diesem Satz ist zunächst kein Problem erkennbar; der Wortlaut ist unzweifelhaft und der Text ist gut verständlich; man kann allenfalls erläutern, dass Ludwig Heindorf, ein Schüler Friedrich August Wolfs, inzwischen als Gymnasialprofessor in Berlin ansässig war; vermutlich durch Schlegels Vermittlung haben sich diese wöchentlichen doppelten Treffen ergeben, die zu einer engen Freundschaft zwischen den beiden Gräzisten führten, wobei Schleiermacher mit seinem bloßen Schul-Griechisch sich offenbar wacker schlug. Das ist ja eine schöne Sache, es gab noch kein Kino, kein Fernsehen, und so haben die beiden also abends den Platon gelesen, ‚nischt dajejen‘, könnten wir gut berlinisch sagen und allenfalls viel Freude wünschen. Auch die Kritik passt sehr gut dazu; z. B. in der Politeia kann man ja sehr vieles,wie die Kindererziehung, die Rolle der Frauen oder den Ausschluss der Poeten aus dem Staat sehr kritisch sehen. Tatsächlich aber geht es um etwas ganz anderes, das seinerzeit bei der Edition des Briefs (1999) noch nicht erkannt wurde und erst jetzt aufgeklärt werden soll. Bei andern Fällen, wo man gar nichts versteht, ist man gezwungen zur Nachforschung, und meist kann man dann die nötige Aufklärung im Apparat bieten. Wirklich gefährlich sind die scheinbar verständlichen Passagen, wo es am konkreten und benennbaren Anfangsverdacht fehlt. Briefe sind eine tückische Textgattung; der Privatbrief ist grundsätzlich an einen bestimmten Adressaten gerichtet (auch wenn es unendlich viele Ausnahmen gibt), am besten kann er also von diesem Adressaten verstanden werden, und manchmal nur von diesem und keinem andern, also auch nicht vom Herausgeber. Ein solcher (glücklicherweise seltener, aber doch immer möglicher) Fall liegt hier vor.

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Der Brief ist, wie gesagt, an Friedrich Schlegel gerichtet, und der kannte die näheren Umstände, er wusste Bescheid und hat den Satz ohne weiteres verstanden. Der Schleiermacher-Forscher aber hat null Ahnung, weil die Sache, um die es in Wahrheit geht, in der gesamten Literatur nicht vorkommt und erst hier bekannt gemacht werden kann. Das versteckte hermeneutische Problem liegt zunächst in dem Wort „lese“; gemeint ist nämlich nicht etwa ein rezeptives Lesen, wie es uns allen vertraut ist, sondern ein produktives Lesen, das den Platon-Text überhaupt erst herstellt. Hierzu ist nun eine Erläuterung erforderlich. Der damals gebräuchliche Platon-Text war im 16. Jh. konstituiert und im späten 18. Jh. nochmals in der 11bändigen Zweibrücker Ausgabe (der ‚Bipontina‘) abgedruckt worden, doch nun mit dem neuen Jahrhundert begann auch die Epoche der modernen Platon-Edition; schon seit langem hatte Heindorfs Lehrer, der berühmte Friedrich August Wolf, eine solche Ausgabe geplant, aber nie etwas davon realisiert, so dass nun der Schüler die Sache in die Hand nahm (vermutlich zu Wolfs Verdruss und Verbitterung). Heindorf selbst, stets kränklich, plante allerdings zunächst nur eine kleine Ausgabe ausgewählter Dialoge, genau genommen vorerst nur einen Band, und schon bei diesem war er auf mehrere Mitarbeiter angewiesen (von denen keiner auf dem Titelblatt genannt ist): auf Philipp Buttmann, Ludwig Spalding und auf andere, die wir noch nicht nachweisen können, in besonderm Maße aber auf Schleiermacher, der, wie Spalding in seinem Vorwort sagt, die Hauptlast trug: „plurimum opis tulit Schleiermacherus“. Dies ist nun wiederum ein hermeneutisches Problem, man könnte es (und besonders den vieldeutigen Superlativ) als neulateinisches übertriebenes Wortgepränge auffassen, aber die Überprüfung zeigt, dass es durchaus wörtlich gemeint ist und auch von den Zeitgenossen so verstanden wurde. Der wichtigste und fleißigste Mitarbeiter Heindorfs war also Schleiermacher, der die Hauptlast trug. In dessen Biografie findet sich bisher für das Jahr 1801 ein große Lücke, indem er außer seinem Amt als reformierter Geistlicher der Charité (das ihn keineswegs ausfüllte) gleichsam nichts zu tun hatte; Friedrich Schlegel, sein faszinierender Mitbewohner und Gesprächspartner, war ja längst ausgezogen. Und nun können wir uns aufgrund jener Briefstelle ein vorläufiges Bild von der glücklichen Kooperation der beiden Platonisten machen. Vermutlich hat jeder in seinen Mußestunden zu dem jeweils verabredeten Dialog sich mancherlei Notizen gemacht, und dann haben sie sich abends zusammengesetzt und bei der Lektüre des Grundtexts zugleich den zu druckenden kritischen Text hergestellt. Erst wenn wir diese Beobachtungen hinzunehmen, können wir die zitierte Briefstelle und insbesondere auch den scheinbar harmlosen Nebensatz verstehen: „Ich lese jetzt alle Woche zwei Abende Plato mit Heindorf wobei die pünktlichste Kritik sehr heilig getrieben wird“. Kritik meint also keineswegs Kritik an Platons Ideen oder gar den

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emphatischen philosophischen Kritik-Begriff der Epoche, sondern schlicht und einfach Textkritik. Genauer musste Schleiermacher hier nicht werden, denn Schlegel kannte ja das als Teamwork angelegte Projekt und sollte hier nur über seinen Fortgang unterrichtet werden.¹ Die Information für Schlegel liegt also nicht in „lese“ oder in „Plato“ oder in „Kritik“, sondern in der Häufigkeit der Arbeitstreffen („alle Woche zwei Abende“) und in der Versicherung der Ernsthaftigkeit („pünktlichste“ und „heilig“). Ich will nun nicht sagen, dass man alle Briefe immer derart abtasten und kommentieren müsse, die meisten sind damals wie heute für jedermann verständlich, oder die Unverständlichkeit liegt doch offen zutage und mag etwa durch den fehlenden Gegenbrief begründet sein. Die Besonderheit unsres Falls liegt nicht nur im Kontrast zwischen dem oberflächlichen, scheinbar sinnvollen und doch falschen Verständnis einerseits und der nunmehr ermittelten korrekten Bedeutung, sondern auch in dem großen Gewicht dieser Aufhellung. Das korrekte Verständnis der Briefstelle ist nicht nur eine erfreuliche Bereicherung unserer Kenntnisse, sondern (1) füllt zugleich ein Jahr (1801) oder mehr in Schleiermachers Biografie, (2) klärt die Frühgeschichte der modernen Platon-Edition auf und (3) lässt uns die eine, nämlich die praktische Wurzel von Schleiermachers ‚Hermeneutik und Kritik‘ erkennen. Der Band übrigens erschien (unter dem Titel ‚Platonis Dialogi quattuor‘) 1802 bei Nauck in Berlin, ist F.A.Wolf gewidmet und wurde im Lauf der Jahre durch drei weitere Bände ergänzt. Schleiermachers Tätigkeit als Bearbeiter des Platon-Textes ist bislang völlig unbekannt geblieben; seine Arbeit an einer (im Manuskript steckengebliebenen) kritischen Edition der Paulusbriefe ist ebenfalls noch in den Archiven verborgen und soll in absehbarer Zeit detailliert bekanntgemacht werden.² Hier ist nur wissenswert, dass er nicht nur am ersten (und auch am zweiten) Band der ersten modernen Platon-Ausgabe als Hauptmitarbeiter beteiligt war, sondern sich auch über viele Jahre um die kritische Edition des Neuen Testaments bemüht hat. Wir

 Ein Briefwechsel zwischen Schlegel und Heindorf ist offenbar nicht erhalten. – Der Unterschied zwischen Kritik (Textedition) und Hermeneutik wird hier schlagend deutlich: Der Text des Briefs ist aufgrund der Handschrift korrekt ediert, im Kommentar ist sogar die entscheidende Passage aus Spaldings Vorwort wiedergegeben, und dennoch ist die Stelle nicht wirklich verstanden worden und konnte darum nicht erschöpfend erläutert werden.  Sein Anteil an der Bearbeitung und Herausgabe des Berliner Gesangbuchs von 1829 ist inzwischen durch eine gründliche Dissertation geklärt worden (Bernhard Schmidt, Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedich Schleiermachers, Berlin 2002. – Vgl. auch Ilsabe Seibt, Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 2000).

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müssen also unser Schleiermacherbild erweitern, indem er nicht nur ein ‚Herrnhuter höherer Ordnung‘ oder ein ‚Kirchenvater des 19. Jahrhunderts‘ u. dgl. war, sondern eben auch ein kundiger und erfahrener Editor altgriechischer Texte. *** Im Jahre 1801 war also Schleiermacher zur Hauptsache (im Verein mit Heindorf, Spalding, Buttmann und anderen) mit der revolutionären Platon-Edition befasst. Für uns ist nun entscheidend, wie Schleiermacher und Heindorf bei ihrer Arbeit vorgingen. Unmittelbare Quellen dazu fehlen uns, denn beide waren ja in Berlin und ein Briefwechsel fehlt darum. Anders ist es beim folgenden (zweiten) Band, an dem wiederum Schleiermacher intensiv mitgearbeitet hat; inzwischen war er aber in seinem Exil in Stolp, so dass die Kommunikation postalisch erfolgte. Entscheidend ist nun, dass die Edition nicht in erster Linie (wie Wolf das eigentlich geplant hatte) auf die handschriftliche Überlieferung sich stützte (also das was Schleiermacher die ‚urkundliche Kritik‘ nennt), sondern weitgehend auf bloße Überlegung und Interpretation, mithin Konjekturen (also die ‚divinatorische Kritik‘). Heindorf schreibt am 26. 8.1802: „Das beste ist, wir bringen erst soviel als möglich ohne Codices heraus, […] und dann sehen wir uns nach Codices um.“ (Brief 1320, 94– 98). Später schreibt er etwa: „Im Parmenides können Handschriften doch nichts weiter thun, als unsre Verbesserungen bestätigen“ (Brief 1939, 64– 66).³ Ein solches divinatorisches Vorgehen, also das Sammeln von Konjekturen, ist aber die denkbar innigste Verbindung von Hermeneutik (d.i. gedankliche Verarbeitung und sprachliche Analyse) und Kritik (d.i. Textherstellung). Auch wenn es keine Video-Aufnahmen von diesen abendlichen Sitzungen gibt, kann man sich doch ungefähr vorstellen, wie das ablief. Da sagt vielleicht Schleiermacher, diese Stelle im Phaedrus hab ich gestern lange studiert, sie gefällt mir nicht recht, hier scheint mir ein alter Abschreibfehler vorzuliegen, könnte es nicht im Original so und so gelautet haben, und Heindorf bedenkt die Sache und sagt: freilich, freilich, ich bin ganz deiner Meinung, trag das sofort in unsern Text ein! Und dann macht wieder Heindorf einen Vorschlag, usw. Unzweifelhaft basieren solche Konjekturen auf hermeneutischen Überlegungen: es geht darum, den mehr oder minder sinnvoll scheinenden Text auf mögliche Textverderbnisse hin abzutasten; dazu hatte Heindorf schon 1798 auf 36

 Zeitweise hat Heindorf auch mit einer großen und weitgehend auf Handschriften gestützten Gesamtausgabe des Platon in Quartformat geliebäugelt, zu der es freilich wegen seines frühen Todes nicht mehr kam. Dieses Projekt hat vielmehr Immanuel Bekker im Auftrag der Akademie und mit Schleiermachers Unterstützung 1816 – 18 zuwege gebracht, wobei die Kommentarbände wesentlich später erschienen.

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Druckseiten ein ‚Specimen coniecturarum in Platonem‘ publiziert; es musste also jedesmal ein Anfangsverdacht bestehen, bevor dann die Textbesserung oder ‚Konjektur‘ konstituiert werden konnte. Dass Schleiermacher dabei im Kopf mancherlei allgemeine Beobachtungen zur Verstehenslehre, zur Hermeneutik angestellt hat, dürfen wir ohne weiteres annehmen, – Aufzeichnungen hat er aber offenbar nicht gemacht, zumindest ist nichts davon erhalten; und auch auch von seiner Textkritik, also der eigentlich editorischen Arbeit des Jahres 1801 ist alles, soweit überhaupt aufgezeichnet, an Heindorf übergeben worden und in den (ersten) Platon-Band eingeflossen. *** Als Schleiermacher im Wintersemester 1804/05 seine Lehrtätigkeit in Halle beginnt, plant er für den folgenden Winter eine „Hermeneutica sacra“ als Beginn eines exegetischen Cursus; tatsächlich trägt er sie dann doch schon in seinem 2. Semester, im Sommer 1805 vor; im Briefwechsel mit seinem Freund Joachim Christian Gaß bittet er um Literaturhinweise, und tatsächlich beginnt er sein ‚Heft‘ von 1805 mit kritischen Notizen zu den Hermeneutiken von Ernesti und Morus. Dabei ist unverkennbar, dass er schon längst eine eigne Position hat, und man wird fragen: woher kommt die? Wo sind die Wurzeln seiner Auffassungen? Ich denke, es sind neben den praktischen, die wir schon kennen gelernt haben, auch theoretische. – Hier können wir nicht auf eine Lehrmeinung zurückgreifen, weil diese Frage bislang nicht eigentlich erörtert worden ist. Man hat in den letzten Jahrzehnten – und das ist ein großartiger Erfolg der Forschung – die Frühgeschichte der Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert aufgearbeitet und dabei gesehen, dass das, was vormals als Besonderheit von Schleiermachers Hermeneutik galt, in Wahrheit sehr viel älter ist; dennoch gewinnt man den Eindruck, dass Schleiermacher selbst das alles wohl gar nicht kannte. Schon auf dem ersten Schleiermacher-Kongress von 1984 wurde die Frage aufgeworfen, ob denn Schleiermacher während seines Hallenser Studiums nicht die Hermeneutik-Vorlesung des überragenden Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler gehört haben könnte;⁴ jedenfalls hatte Semler für den Sommer 1788 eine hermeneutische Vorlesung angekündigt: „Hermeneuticas Regulas pro discrimine librorum N. T. pertractabit Semler“.⁵ Die Forschung hat diese Anregung nicht aufgegriffen, und vor wenigen Jahren hat Ulrich Barth sogar erklärt, Schleiermacher habe in Halle gar nicht Theologie studiert, sondern nur Philo Gottfried Hornig, „Schleiermacher und Semler“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin 1985, 875 – 97.  Praelectiones Academiae Fridericianae per aestatem anni mdcclxxxviii inde a die xxviii Aprilis indicuntur; dort als erste Vorlesung.

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sophie. „Der viersemestrige Aufenthalt in der Saalestadt galt nahezu ausschließlich dem Studium der Philosophie.“⁶ Belege für diese Auffassung finden sich reichlich im Briefwechsel, in dem tatsächlich vom theologischen Studium nicht die Rede ist, mit großer Begeisterung aber von den philosophischen Fragen gesprochen wird, die im engen Kontakt mit Johann August Eberhard aufgeworfen wurden. Nun stehen wir allerdings wiederum vor einem hermeneutischen Problem: die Quellen sprechen sehr deutlich, aber Schleiermachers Hermeneutik lehrt uns, dass ein Missverstand immer möglich ist und vermieden werden sollte. Ulrich Barth mag also durchaus Recht haben mit seiner Deutung, ein möglicher Missverstand sollte dennoch ins Auge gefasst werden. So wie im Sport die Kür im Vordergrund der Berichterstattung stehen mag, während die Pflicht vielleicht vernachlässigt wird, so mag auch Schleiermacher seine theologischen Studien für selbstverständlich und nicht weiter erwähnenswert gehalten haben; hinzu kommt natürlich die Zufälligkeit der Überlieferung der Dokumente. Es gibt – jedenfalls bislang – kein positives Zeugnis dafür, dass Schleiermacher Semlers HermeneutikVorlesung von 1788 gehört hätte. Es gibt auch keine Nachschrift der Vorlesung im Nachlass; allerdings gibt es überhaupt keinerlei dergleichen Zeugnisse aus der Studienzeit. Dennoch scheint mir seine Teilnahme durchaus plausibel, zumal ja gerade die Hermeneutik eine unübersehbare philosophische Komponente hat. Es kommt hinzu, dass Schleiermacher auch Semlers Publikation zur Hermeneutik besaß⁷ und diese möglicherweise parallel zum Kolleg studiert hat, vielleicht aber auch als Ersatz für den lebendigen Vortrag nutzte; jedenfalls war er ganz offenkundig mit den aufklärerischen Positionen vertraut, denn diese sind unzweifelhaft das Fundament seiner eignen späteren Vorlesungen. In der Forschung ist dem oft zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet; ich kann das illustrieren durch eine Anekdote. Als Günter Meckenstock 2001 seinen nützlichen Überblick über die Thesen und Grundsätze von Schleiermachers Hermeneutik publizieren wollte, da war ihm offenbar der Setzer auf den Fersen, und so hat er eine kurze und missglückte Zusammenfassung vorangestellt, die nun unglücklicherweise so klingt, als habe erst Schleiermacher die Aufklärung erfunden oder ihr doch endlich zur Geltung verholfen: „Durch die Verabschiedung der Lehre von der Verbalinspiration der biblischen Schriften und die Bejahung bibelkritischer Untersuchungen brachte

 Ulrich Barth, „Schleiermachers Gang durch die Herrnhuter Frömmigkeit und die Hallesche Spätaufklärung“, in: Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe, hg.v. G. Meckenstock, Göttingen 2006 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse, 4/2006), 45 – 50 (211– 216), hier 47.  Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, Bd. 1, Halle 1769 (SB 1823).

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Schleiermacher auch in der Bibelhermeneutik den Geist wissenschaftlicher Forschung zu Geltung.“⁸ Zurück zum theologischen Studium: dass er dieses völlig vernachlässigt haben sollte, will mir nicht einleuchten, und auch sein Onkel, der Professor Stubenrauch, bei dem er wohnte, hätte das gewiss nicht akzeptiert, denn er vertrat Vaterstelle. Übrigens sind auch die beiden Examina von 1790 und 1794 durchaus erfreulich und lassen keineswegs den Verdacht einer Vernachlässigung der theologischen Studien zu; 1790 heißt es, sein ‚Studium überhaupt‘ sei „sehr gut“, während das der beiden auf demselben Blatt bewerteten Examinanden nur als ‚mittelmäßig‘ bzw. ‚in etwas vernachlässiget‘ bewertet wurde. Nun kann man natürlich fragen, ob auch nur die Hauptthesen einer vor 20 Jahren (vielleicht) gehörten Vorlesung dem nunmehrigen Hallenser Dozenten noch immer gegenwärtig sein konnten. Hier sind ein paar grundsätzliche Beobachtungen von Nutzen. Schleiermacher hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, geradezu ein Elefantengedächtnis. Niesky und Barby darf man sich ja nicht nur als eine Art Priesterseminar vorstellen (das war es auch), sondern zugleich als Orte, wo die Naturwissenschaften gediehen, und zwar besonders die Mineralogie und die Biologie. Beide Disziplinen hat Schleiermacher lebenslang nicht nur geliebt, sondern auch weiter ausgebildet. Als er darum 1808 und 1809 in Berlin und auf Rügen seine Spaziergänge auch botanisch nutzen wollte, vermochte er ohne weiteres, die Ausbeute in einem wissenschaftlich fundierten ‚botanischen Journal‘ zu verzeichnen; die damaligen Notizen sind inzwischen in der KGA (wenn auch unvollkommen) publiziert. Vielleicht schon in Niesky, gewiss aber in Barby hat er die ‚Flora Barbiensis‘ seines Lehrers Friedrich Adam Scholler studiert und sein (1775 gedrucktes) Exemplar lebenslang aufbewahrt (SB 1750). Schleiermacher hat das Altgriechische in den Ausbildungsstätten der Brüdergemeine (in Niesky und Barby) eingeübt. Ohne Altphilologie studiert zu haben, wurde er dennoch von den jüngeren Gräzisten des 19. Jh. (Heindorf, Spalding, Buttmann, wohl auch Lachmann) als ihr Meister verehrt. Es ist nicht erst die Platon-Übersetzung, die ihm diesen Ruf eingebracht hat, sondern schon zuvor die entscheidende, den Zeitgenossen bekannte (und erst später in Vergessenheit geratene) Arbeit an der Grundlegung der modernen Platon-Edition. ***

 Günter Meckenstock, „Schleiermachers Bibelhermeneutik“, in: Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik, hg.v. J. Schröder, Stuttgart 2001, 249 – 263.

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Über die Frage, warum er nicht schon 1805 in Halle ‚Hermeneutik und Kritik‘ vorgetragen habe, da er doch in beidem qualifiziert war, sondern erst 1826, kann man nur spekulieren. Eine solche Verknüpfung mochte mehr für die Altphilologie angemessen scheinen (und wurde auch von Wolf wie von Ast nahegelegt); dass ihm etwa seine Erfahrung in der Platon-Philologie einstweilen noch nicht hinreichend schien ohne eine ebensolche in der Philologie des NT, und erst als er sich hier aufgrund eigner Praxis sicherer fühlen konnte, den Schritt zur Doppelvorlesung wagte. In jedem Fall können wir sagen, dass der Idee nach beides von Beginn an zusammengehörte; darum ist es sinnvoll, nun noch einen kurzen Blick auf diese weniger populäre Vorlesung über ‚Kritik‘ zu werfen. Ihr Thema ist keine wie immer geartete philosophische Kritik, sondern vielmehr die Textkritik, wie sie unerlässlich ist beim Umgang mit den alten Texten, und die Vorlesung ist also nichts weniger als die Anweisung zur Herstellung einer kritischen Ausgabe. Dabei geht es um die klassische Antike und das Neue Testament; beidemal liegen uns nicht originale Manuskripte, sondern nur Abschriften von Abschriften von Abschriften vor. Für die Schleiermacherforschung (und für ähnliche Editionsvorhaben) scheint all dies zunächst irrelevant, doch beim genaueren Studium erweist sich, dass gerade auch bei der Edition des Vorlesungstextes immer wieder dieselben Probleme wie die von Schleiermacher behandelten sich stellten, denn gerade die studentischen Nachschriften bieten vergleichbare Probleme, indem alle Arten von Hörfehlern, Verständnisfehlern und Abschreibfehlern (aber auch mehrdeutigen oder unverständlichen Kürzeln) zusammentreffen, denn die Nachschriften beruhen oft auf kürzeren, möglicherweise noch im Hörsaal festgehaltenen Notizen, oder sie sind gar selbst Abschriften fremder Nachschriften. Hier ist also ein weites Feld für textkritische Bemühungen, bei denen Schleiermachers sehr breit angelegte Überlegungen oft hilfreich sein können. Ja es ist oft geradezu lachhaft, wie genau und klar Schleiermacher editorische Probleme erörtert, die auch uns bei der Edition der Vorlesung gerade so begegnen. Es geht aber in der Vorlesung nicht nur um alte, handschriftliche Texte, sondern auch um die Edition neuerer, gedruckter Literatur, und ich will das an einem Beispiel anschaulich machen. Schleiermacher hat z. B. völlig richtig beobachtet, dass beim zeitgenössischen Druckverfahren es möglich ist, falls ein Korrektor oder sonst Beteiligter in einem soeben ausgedruckten Bogen einen gravierenden Fehler sieht, den Druck zu unterbrechen, einzelne Worte oder Sätze im Bleisatz auszuwechseln und anschließend mit dem Druckvorgang fortzufahren. Dabei entstehen also genau genommen 2 Teilauflagen, eine unkorrigierte und eine korrigierte. Den Wieland- und Goethe-Editoren ist das Problem bewusst und sie haben darauf noch geachtet; viele andre Editionen (auch Schleiermacher) wissen nichts mehr davon und glauben, es sei ausreichend, ein zufälliges Exemplar eines Drucks wiederzugeben; auf den mühsamen Vergleich weiterer Ex-

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emplare verzichten sie also. Ich habe ein einziges Schleiermacher-Buch geprüft (die ‚Gutachten‘ von 1804) und habe auf den ersten Blick Varianten gefunden, die dann noch in den Apparat des KGA-Bandes aufgenommen werden konnten. Schleiermacher also hat das Problem beschrieben und vor leichtsinnigem Umgang damit gewarnt. *** Dabei sind seine Vorstellungen von einer sinnvollen kritischen Ausgabe durchaus zukunftsweisend, weniger 19. als vielmehr 20. Jahrhundert, und, wie ich glaube, auch heute noch immer lehrreich und nützlich. Bei den heutigen Editionen (etwa der Goethezeit) ist es ja so, dass im Grunde jedes Vorhaben nach eignen, oft sehr komplizierten Grundsätzen verfährt, und der Benutzer muss immer zuerst diese Grundsätze aufsuchen und studieren und sodann ständig gegenwärtig haben (oft finden sie sich im ersten Band, oft auch nur in einem späteren oder gar in einer losen Beilage, die längst verschwunden ist). Vielleicht ist es unmöglich, eine Vereinheitlichung herbeizuführen, – bei den Überlegungen dazu können jedenfalls Schleiermachers Hinweise von großem Nutzen sein.

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Die anfängliche Ausbildung des Kulturbegriffs in Schleiermachers Hallenser Ethik In beiden Hallenser Wintersemestern hat Schleiermacher die Ethik gelesen. Von derjenigen aus dem Wintersemester 1804/05 ist uns nur das in der Braunschen Ausgabe edierte Manuskript Schleiermachers zur Tugendlehre überliefert.¹ Die Ethik-Vorlesung aus dem Wintersemester 1805/06 war hingegen schon durch Schleiermachers handschriftliche Notizen zur gesamten Vorlesung recht gut dokumentiert. Zu diesem als „Brouillon zur Ethik 1805/06“ in der Braunschen Ausgabe enthaltenen Text² aus Schleiermachers Feder liegen zudem Vorlesungsnachschriften transkribiert vor, von denen im Folgenden die Nachschriften von August Boeckh und Friedrich Carl Köpke mit herangezogen werden. Auffällig war schon im Brouillon zur Ethik von 1805/06, dass Schleiermacher sein Ethik-Programm auch mit der „in den neueren Zeiten“ aufgekommenen „Idee einer vollkommenen Kultur“³ in näheren Zusammenhang bringen konnte. Die nun zugänglichen Nachschriften zeigen jedoch, wie ausführlich Schleiermacher offensichtlich in seiner Hallenser Vorlesung auf den Kulturbegriff eingegangen ist, wie genau er ihn zu bestimmen und von naheliegenden Missverständnissen abzugrenzen unternommen hat. Dem will ich im Folgenden nachgehen, indem ich in einem ersten Abschnitt Schleiermachers Bestimmung des Kulturbegriffs in der Hallenser Ethik-Vorlesung erläutere und in einem zweiten Abschnitt eine begriffsgeschichtliche Einordnung von Schleiermachers Kulturbegriff vornehme.⁴

 Vgl. Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun, Leipzig ²1927 (Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2), Neudruck Aalen 1967, 33 – 74.  Brouillon zur Ethik 1805/06, ebd., 75 – 240.  Ebd., 92.  Ich beschränke mich hier aber auch darauf, herauszuarbeiten, wie Schleiermacher den Kulturbegriff in seinen ersten Entwürfen zu einer als Güterlehre gefassten, materialen Ethik verstanden hat. Zugleich verstehe ich diese Präzisierung von Schleiermachers Verständnis des Kulturbegriffs allerdings als weiteren Beitrag zu einer kulturtheoretischen Lesart von Schleiermachers Philosophischer Ethik wie sie inzwischen in der Schleiermacherforschung favorisiert wird. Vgl. den die neuere Forschung aufnehmenden und die kulturtheoretische Interpretation von Schleiermachers Ethik selbst stützenden Beitrag von Sarah Schmidt, „Kulturkritik als geschichtliches Verstehen in Friedrich Schleiermachers Ethik“, in: Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüberschreitende Disziplin? hg.v. A. Allerkamp und G. Raulet, Münster 2010, 39 – 55.

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1 Schleiermachers Bestimmung des Kulturbegriffs in der Hallenser Ethik-Vorlesung von 1805/06 Schleiermacher erwähnt in seinem Brouillon, den handschriftlichen Notizen zur Ethikvorlesung von 1805/06, an zwei Stellen, keineswegs nur beiläufig, sondern geradezu programmatisch, die „Idee der Kultur“.⁵ Er spielt darauf an, dass die Sache, um die es ihm mit dem Konzept seiner Ethik geht, eine „Ansicht“ von der Sittlichkeit zu entfalten beabsichtigt, die „in den neueren Zeiten“ „wiedergekommen“ sei, aber nicht unter dem Begriff der Sittlichkeit oder der Ethik, sondern „unter der Idee einer vollkommenen Kultur“.⁶ Noch suchte er ja den rechten Begriff für das, worauf er mit seiner Ethik hinauswollte, weil ihm der Begriff der Ethik für sein konkretes Vorhaben gar nicht mehr angemessen erscheinen wollte. Recht eigentlich, so sagt er gleich zu Beginn „ist die Ethik Wissenschaft der Geschichte“.⁷ Dabei wird man aus den ‚Reden über die Religion‘ ergänzen dürfen, dass der Begriff der Geschichte auf die Anschauung bzw. die Theorie der Menschheit in ihrem Werden zielt.⁸ Soll die Ethik alles dasjenige zu ihrem Thema machen, was die Menschheit in ihrer Geschichte hervorgebracht hat, dann muss sie einen sehr viel weiteren „Umfang“⁹ als es sonst üblich ist, gewinnen. „Alle socialen Verhältnisse“¹⁰ müssen in ihr zur Darstellung kommen.¹¹ Die Nähe zu

 In der 11. Stunde (Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O., Anm. 1, 92) spricht er von der „Idee einer vollkommenen Kultur“ (Boeckh, Bl. 97 verso; Köpke, Bl. 16 verso8) und in der 20. Stunde von der „Idee der Kultur“ (Sittenlehre, 106) (Boeckh, Bl. 93 verso; Köpke, Bl. 41 verso – 44 recto).  Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 1), 92.  Ebd.  „Die verschiedenen Momente der Menschheit aneinander zu knüpfen, und aus ihrer Folge den Geist in dem das Ganze geleitet wird errathen, das ist ihr höchstes Geschäft. Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr – denn Weißagung ist in ihren Augen auch Geschichte und beides gar nicht von einander zu unterscheiden – und alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zwek gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen. In ihrem Gebiet liegen dann auch die höchsten und erhabensten Anschauungen der Religion.“ (KGA I/2, 232 f.)  Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 1),79.  Ebd.  Dass Schleiermachers Kulturbegriff diese große Nähe zum Geschichtsbegriff hat, Geschichte wiederum das Ganze der von Menschen hervorgebrachten und gestalteten Wirklichkeit meint, die die Ethik sowohl in ihrer strukturell-funktionalen Differenzierung wie impliziten religiösen Fundierung zu verstehen versucht, habe ich ausgeführt in: Wilhelm Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980.

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Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“¹² ist offensichtlich.¹³ Sie ist es auf der Basis der Vorlesungsnachschriften nun aber nicht nur deshalb, weil Schleiermacher seine Ethik mit diesem weitreichenden Anspruch einer umfassenden Konstruktion der geschichtlichen Welt des Menschen versehen hat. Schleiermacher kommt Herder auch deshalb nah, weil er offensichtlich in seine Konstruktion der Menschengeschichte den die Differenz zur Naturgeschichte allererst markierenden Kulturbegriff einstellen und damit die Ausführung der Ethik in Gestalt einer die Prinzipien der Hervorbringungen menschlichen, vernunftgeleiteten Handelns explizierenden Kulturphilosophie in Aussicht stellen konnte. Sah es im ‚Brouillon zur Ethik‘ noch wie eine beiläufige Nebenbemerkung aus, so zeigen nun die Hallenser Vorlesungsnachschriften zur Ethik, dass Schleiermacher der Überlegung, ob und inwiefern der Kulturbegriff sich zur Beschreibung seines ganzen Vorhabens besser als der Geschichtsbegriff eignen könnte, recht weitläufige Ausführungen gewidmet hat. Er unternahm es jedenfalls, vermutlich eben durch Herder inspiriert, die Totalität der durch vernunftbestimmtes menschliches Handeln hervorgebrachten Lebensverhältnisse dem Kulturbegriff zuzuordnen. Wie in Herders „Ideen“ wäre damit auch in Schleiermachers Hallenser Ethik die Geschichte der Menschheit, im Unterschied zu der ebenfalls eine Geschichte habenden Natur, gleichbedeutend mit der fortschreitenden Entwicklung der Kultur. Die Kultur müsste dann aber auch alle vom Menschen gestaltete und angeeignete Natur umfassen. Kultur wäre auch für Schleiermacher,was sie für Herder war, das Insgesamt der von der menschlichen Vernunft geformten und durchprägten Natur. Besonders klar lassen die jetzt transkribierten Vorlesungsnachschriften hervortreten, dass dieser Kulturbegriff auf die Qualifizierung der Menschengeschichte

 Vgl. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Werke, Bd. 3, hg.v. Wolfgang Proß, München 2002  In seinem Hallenser Kirchengeschichtskolleg macht Schleiermacher deutlich, wobei Herders Einfluss unverkennbar ist, dass „Geschichte“ das Ganze der von uns Menschen gewussten Wirklichkeit umgreift, auch die Natur. Im Manuskript zum Hallenser Kirchengeschichtskolleg von 1806 heißt es: „Die Geschichte ist alles das was die Wissenschaft enthält in der Zeit angeschaut. Also die Organisation der Natur als ein Werdendes, Naturgeschichte; die Organisation des Geistes als ein Werdendes, Sittengeschichte; die Identität von beiden als Werdendes Weltgeschichte. Ihr Wesen ist das Aufgehn der Zeit in der Idee. Also in ihr aller Gegensaz zwischen Empirie und Speculation aufgehoben und volle Beruhigung überall nur in der historischen Ansicht“ (KGA II/2, 10). – Weil zur Geschichte auch die Naturgeschichte gehört, legte es sich dann dem Hallenser Schleiermacher, in Entsprechung zu Herder, nahe, die von Menschen hervorgebrachte und gestaltete Wirklichkeit im Unterscheid zur „Natur“ unter den Begriff der „Kultur“ zu bringen.

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zielt, also keineswegs sich zum Geschichtsbegriff ausschließend verhält. Im Gegenteil, Schleiermachers Hallenser Ethikvorlesung zeigt, wie er darum bemüht ist, was er in seinen Berliner Ethikvorlesungen so jedoch nicht fortgesetzt hat, dem Kulturbegriff diejenige Weite zu sichern, die ihn dafür geeignet erscheinen lässt, das Spezifische der von der Naturgeschichte unterschiedenen Menschengeschichte zu beschreiben. Was für die späteren Vorlesungen nicht mehr zutrifft, scheint Schleiermacher in seiner Hallenser Vorlesung gerade erwogen zu haben, nämlich am Leitfaden des Kulturbegriffs das Profil seiner Ethik zu schärfen, somit dann auch diese Ethik explizit als eine Philosophie der Kultur zur Geltung bringen zu wollen. Von dieser Absicht geleitet, wollte er dem Kulturbegriff diese größere Reichweite geben, sodass alles als Kultur sollte gelten können, was Menschen in der Verfolgung ihrer vernünftigen Lebenszwecke hervorgebracht haben und hervorbringen. Herder hat begonnen, den Kulturbegriff derart weit zu gebrauchen. Aber, so wohl Schleiermachers Eindruck, keineswegs alle stimmen dieser ebenso elementaren wie universalen Bedeutung des Kulturbegriffs zu. Rousseau insbesondere, so meinte es Schleiermacher sehen zu müssen, hatte wirkungsmächtig ein enges und pejoratives Verständnis von Kultur favorisiert.¹⁴ Versteht man unter Kultur einen Luxus, den sich die Gebildeten und Vornehmen leisten können, somit gerade nicht das, was den Menschen überhaupt ihre Überlebensbedingungen sichert, dann so Schleiermacher, ist dieser Begriff zur Bezeichnung seines EthikProgramm ungeeignet.¹⁵ Von diesem engen, nur auf höhere Geistesbildung, Wissenschaft und Kunst bezogenen Kulturbegriff grenzte Schleiermacher sich in seiner Hallenser Vorlesung energisch ab. In seiner engen, elitären und schöngeistigen Version musste ihm der Kulturbegriff aber auch für sein Projekt einer „alle socialen Verhältnisse“¹⁶ umfassenden Ethik unbrauchbar erscheinen. Nur den weiten, von Herder favorisierten Kulturbegriff konnte Schleiermacher in seiner Hallenser Ethikvorlesung 1805/06 positiv aufnehmen. Dass er ihn in seinen späteren Berliner Vorlesungen wieder hat fallen lassen, könnte deshalb – diese Vermutung wenigstens sei hier geäußert – damit zusammenhängen, dass der weite, alle menschlichen Lebensverhältnisse umgreifende Kulturbegriff sich in den zeitgenössischen Diskursen doch nicht durchgesetzt hat. Im gemeinen Sprachgebrauch ist dies ja auch bis heute nicht der Fall ist. Den „in den neueren Zeiten“¹⁷ aufgekommenen, weiten Kulturbegriff konnte Schleiermacher in der Hallenser Vorlesung jedoch – probeweise gewissermaßen –    

Boeckh, Bl. 93 recto; Köpke, Bl. 41 verso / 42 recto. Ebd. Vgl. Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 1), 79. Ebd., 92.

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aufnehmen, um die Zielsetzung seiner Ethikkonzeption zu kennzeichnen, wie er dies zuvor schon mit dem Geschichtsbegriff getan hatte. In seinem weiten Verständnis, so offensichtlich seine in der Hallenser Vorlesung erwogene Meinung, gibt der Kulturbegriff der Ethik die Chance, die ganze von der Menschheit gestaltete Wirklichkeit mit Rücksicht auf ihre der Vernunft gemäße Bestimmung zu thematisieren. Dass der bisherige Zuschnitt der Ethik diese Reichweite nicht gewinnen konnte, das zu zeigen, war Schleiermachers Intention schon in seiner „Kritik der bisherigen Sittenlehre“.¹⁸ Ebenso wie in der „Kritik aller bisherigen Sittenlehre“ bemängelt er in der Einleitung zur Hallenser Vorlesung zudem, dass sie lediglich auf die Entscheidungssituation des einzelnen Menschen ausgeht, gleichgültig, ob dieser nach dem kategorischen Imperativ oder dem eudämonistischen Prinzip der Glückseligkeit verfahre. Immer, so Schleiermacher, liege eine Beschränkung auf Prinzipien menschlichen Handelns vor, wobei auf die konkreten Bedingungen seiner Realisierung, die in den allgemeinen Konstitutionsbedingungen menschlichen Handelns überhaupt liegen müssten, nicht eingegangen würde. Die Ethik müsse aber von den mit der vernünftigen Natur des Menschen gegebenen Potentialen zur Hervorbringung der sittlichen Welt ausgehen. Sie brauche eine anthropologische Begründung, um sodann die Menschheit insgesamt, nicht den einzelnen Menschen zum Subjekt der Schaffung einer Welt zu erklären, die der Menschheit das Überleben sichert und die Verwirklichung all ihrer vernünftigen Lebenszwecke ermöglicht. Nicht der einzelne Mensch, die individuelle Persönlichkeit und deren ethische Entscheidungssituation sei der Gegenstand der Ethik, sondern die Menschheit, bzw. der Mensch als Exemplar der Gattung. Von der Natur des Menschen als einer vernunftbestimmten ausgehend, habe die Ethik diejenige Wirklichkeit zu konstruieren, die das Resultat eines sich selbst recht verstehenden menschlichen Handelns sei. Das wäre dann die Realisierung des höchsten Gutes, oder eben – wie Schleiermacher im Brouillon zur Hallenser Ethik auch notieren konnte, die Verwirklichung der „Idee einer vollkommenen Kultur“.¹⁹ Schleiermacher hat dieses Programm seiner in einer Güterlehre gipfelnden Ethik unmittelbar vor der Subsumierung derselben unter die „Idee einer vollkommenen Kultur“ zugespitzt. Er betonte, dass die Ethik die Konstitutionsprinzipien und Zielgedanken alles vernunftgeleiteten menschlichen Handelns zu

 Vgl. Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (KGA I/4, 136): „Offenbar richtig aber ist der Grundsaz, daß Ethik als Wissenschaft nicht bestehen kann, wenn sie nicht das Recht sowohl als die Pflicht hat, das Ganze des menschlichen Handelns zu umfassen, und daß in einem, als vollständig gedachten sittlichen Leben alles Thun sich in ein sittliches, und folglich ethisch zu beurtheilendes verwandeln“ müsse.  Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 1), 92.

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beschreiben hat. Das vernunftgeleitete menschliche Handeln wiederum ist, so macht er im Zusammenhang der Einführung des Kulturbegriffs deutlich, ein solches, das die „Herrschaft des Menschen über die Erde“ erstrebt.²⁰ Die Herrschaft über die Erde zu gewinnen, bedeutet, dass der Mensch die Erde seinen Handlungszwecken dienstbar macht. Er macht die Natur zum Organon, zum Werkzeug der Vernunft. Den griechischen Begriff des Organons, somit des Werkzeugs, erhob Schleiermacher ebenfalls zu einer zentralen Kategorie seiner Ethik: „Der Ethik Aufgabe ists das organische Wesen des Menschen, welches sie vom Gebiete der Physiologie erhält zum Organ der Vernunft zu machen.“²¹ Den ganzen Menschen in seiner psycho-physischen Konstitution, seinem geistig-leiblichen Dasein, so erläuterte Schleiermacher in der Nachschrift Köpke, gilt es in der Ethik als Organ der Vernunft aufzufassen: „Es ist zunächst für den Menschen sein eigner Leib das unmittelbarste Organ, aber er geht von hier aus und macht ausser ihm gelegne Dinge ebenfalls zu seinem Organ sey es nun unmittelbar zu Organen des Erkennens oder als Ergänzungen seines physischen Daseins.“²² Auf das Ganze dessen, was die Ethik zum Gegenstand hat, indem sie die Konstitutionsprinzipien und Zielgedanken der Formung bzw. Bildung der Natur, sei es die des Menschen selbst oder derjenigen, in der er sich vorfindet, zum Organ und Werkzeug des Vernunft, ihrer Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit hat, kann Schleiermacher somit „Kultur“ nennen: „Das Resultat von allem diesen bisher über die Anbildung der Organe für die Vernunft gesagten nennen wir Kultur.“²³ Auch aus der Nachschrift Boeckh geht hervor, dass Schleiermacher in der Hallenser Vorlesung von der „neuere[n] Idee von der Aufrichtung einer allgemeinen Cultur“²⁴ sprechen konnte und er den Kulturbegriff dabei auf das Ganze des „Bildens und Ausprägens der Welt unter der Form der Ideen“²⁵ bzw. der Herrschaft der Vernunft über die Natur, damit wiederum deren Umformung zum Organ der Vernunft bezogen wissen wollte: „Herrschen heißt aber wenn man es recht betrachtet nicht[s] anderes als zu seinem Organ machen: daher auch dem Aristoteles ein Sclave ein lebendiges Organ oder Werkzeug ist“.²⁶ Die nach den allgemeinen Vernunftprinzipien, also nicht nur nach persönlichen Interessen geschaffene Welt des Menschen, das ist die Welt der Kultur.

      

Ebd. Köpke, Bl. 39 recto. Ebd., 39 verso. Ebd., Bl. 41 verso. Boeckh, Bl. 97 verso. Ebd. Ebd.

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Schleiermacher hat den, wie er sagt, neuerdings aufgekommenen Kulturbegriff strikt in diesem Sinn verstanden wissen wollen, als alles dasjenige umfassend, was „zur Realisierung des höchsten Gutes gehört“,²⁷ das Ganze der nach Vernunftzwecken vom Menschen gestalteten und von ihm erkannten Natur. So beschreibt der Kulturbegriff die Ausrichtung wie die Resultate dessen, was durch das vernünftige, zielorientierte menschliche Handeln aus der diesem Handeln vorgegebenen bzw. mitgegebenen Natur gemacht wird. Das ist zuvörderst die Natur des Menschen selbst, sein Leib. Das sind die menschlichen Organe vermittels derer er auf die ihn umgebende Natur einwirken, sie in ihren Funktionszusammenhängen erkennen und seinen Handlungszwecken entsprechend gestalten kann. Mit der Bildung der ihm eigenen Natur zum Zwecke der Naturerkenntnis und Naturbearbeitung, der Qualifizierung seines theoretisch-kognitiven und technisch-operativen Handelns wird der vernunftbegabte Mensch fähig, die ihn umgebende Natur, wie die ihm zugängliche Welt insgesamt zum Organ seiner von vernünftigen Zwecken geleiteten Naturerkenntnis und -bearbeitung zu machen. Es kennzeichnet den Menschen als Kulturwesen, dass er Werkzeuge sowohl zum Zweck einer zielorientierten Naturerkenntnis wie einer an vernünftigen Prinzipien orientierten Naturbearbeitung schafft. Als Kulturwesen entwickelt er somit auch Wissenschaft und Technik. Diese gehören genauso zu seiner Kulturwelt wie die Organisation der ökonomischen, politischen, ästhetischen und religiösen Lebensvollzüge. Die Gleichung zwischen dem Begriff des höchsten Gutes und dem der Kultur, so wird aus den Vorlesungsnachschriften sehr schön deutlich, trägt dann allerdings auch eine ethisch-normative Bestimmung in den so konzipierten Kulturbegriff ein.²⁸ Als Kultur kommen nur diejenigen Leistungen in der Naturbearbeitung zu stehen, die der Allgemeinheit des von der Vernunft bestimmten menschlichen Handelns zuzuschreiben sind. Ihr sittlicher Gehalt bemisst sich am Grad ihrer Universalisierbarkeit, ihrer sozialen und kommunalen Verbindlichkeit wie sie mit Staat und Volk gegeben sind. Was seine Abzweckung nur auf den Einzelnen hat, nur der Bildung der Persönlichkeit, der Steigerung privater Lebensinteressen und dem Lebensgenuss des Individuums dient, kann keinen Anspruch auf Kultur erheben. Kultur sind die Produkte menschlichen Handelns nur

 Ebd.  Darauf, dass Schleiermachers Ethik in ihrer kulturphilosophischen Ausrichtung gleichwohl als Ethik verstanden werden will, hat zuletzt vor allem Brent Sockness hingewiesen. Vgl. Brent Sockness, „Cultural Theory as Ethics“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg.v. A. Arndt, U. Barth und W. Gräb, Berlin und New York, 517– 526.

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dann, wenn dieses Handeln ein von der Vernunft bestimmtes und somit an den Interessen der Allgemeinheit orientiertes menschliches Handeln ist.²⁹ Die Ausrichtung auf die Allgemeinheit und das Soziale der Kultur war Schleiermacher offensichtlich ebenso wichtig wie der Tatbestand, dass grundsätzlich alle menschlichen Lebensverhältnisse, sofern sie nur von einem an vernünftigen Zwecken orientierten menschlichen Handeln hervorgebracht werden, als „Kultur“ zu stehen kommen. Nicht nur die höhere Bildung, die Wissenschaften und die Künste, sondern auch die Werkzeuge materialer Lebensbewältigung, Handwerk und Technik in einem weiten, alle zweckorientierte Naturbearbeitung umfassenden Sinn sollten als „Kultur“ gelten können: „Denn es ist unmöglich, ohne persönliche Organe andere zu erhalten; ohne Kleidung, Wohnung pp. kann man keine höhere Cultur sich denken. Man trenne also nicht, sondern lasse das Ganze ganz: Das Ganze ist nehmlich die Cultur.“³⁰ Alles, was durch die Einwirkung der Vernunft auf die Natur hervorgebracht wird, alle Umbildung der Natur für die Lebenszwecke der Menschen, alles, was Menschenhand berührt, um es zu erkennen oder um es zum Zwecke der Erhaltung und Fortbildung der menschlichen Gattung ihren Zwecken gemäß zu gestalten, ist Kultur. Und da gehören die elementaren, materiellen Dinge des täglichen Lebens entscheidend dazu. Nicht erst die höhere Bildung und Wissenschaft, die religiöse Sinnbildung und die Pflege der Kunst und der Künste, sondern alle menschlichen Schöpfungen, sofern sie der Realisierung seiner allgemeinen, vernünftigen Lebenszwecke dienen, sind Kultur. Ein Kultur hervorbringendes Wesen zu sein, ist das, was den Menschen ausmacht. Kultur ist dann das Ganze der von der menschlichen Vernunft zielbestimmt gestaltete und erkannte, organisierte und symbolisierte Natur, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, ebenso wie Geselligkeit, Kunst und Religion. Umgekehrt bedeutet das, nur was als Produkt vernunftbestimmten menschlichen Handelns angesehen werden kann, hat ein Anrecht darauf, als ein Beitrag zur Kultur anerkannt zu werden.

 „Die neuere Idee von der Aufrichtung einer allgemeinen Cultur, so bald sie nur nicht auf die Persönlichkeit, sondern auf die Vernunft berechnet ist, ist ebenfalls die Realisierung des höchsten Gutes, und zwar von Seiten des Bildens und Ausprägens der Welt unter der Form der Ideen.“ (Boeckh, Bl. 97 verso)  Boeckh, Bl. 93 recto.

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2 Die begriffsgeschichtliche Einordnung von Schleiermachers Kulturbegriff Schleiermacher setzt den Kulturbegriff in seiner Hallenser Ethik-Vorlesung prominent ein, schrieb ihm zugleich aber auch eine enorme, das Soziale überhaupt umgreifende Reichweite zu. Nur dann eben schien ihm der Kulturbegriff für seine anthropologisch fundierte und auf eine umfassende Güterlehre abzielende Ethik brauchbar, wenn dieser das Ganze der menschlichen Lebensverhältnisse, somit auch die Wirtschaft und das Politische, die Technik, die Rechtverhältnisse und die Religion in sich einbezieht. Schleiermacher gab, wie die Vorlesungsnachschriften verraten, aber ebenso deutlich zu verstehen, dass er mit der Aufnahme dieses weiten Kulturbegriffs wissenschaftliches Neuland betritt, insofern gravierende Missverständnisse mit seiner Verwendung verbunden sein dürften. Die Gefahr, die er sah, lag für ihn darin, dass selbst im wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit der Kulturbegriff immer noch lediglich dasjenige bezeichnet, was durch höhere Bildung, Wissenschaft und Kunst erworben wird, Kultur eigentlich nur denjenigen zugeschrieben wird, die zu dergleichen zu gelangen, das soziale Privileg haben. Emanuel Hirsch hat denn auch darauf hingewiesen,³¹ dass der umfassende, auf das Ganze des Sozialen ausgehende Kulturbegriff, den wir in Schleiermachers Hallenser Ethik, probeweise gewissermaßen, aufgenommen finden, sich erst gegen Ende des 18. Jahrhundert, befördert vor allem durch Herder, allmählich durchzusetzen begonnen hat, obwohl er sich bereits bei dem Naturrechtslehrer und Frühaufklärer Samuel Pufendorf (1632– 1694) findet. Pufendorf war, wie Hirsch zeigen konnte, der erste, der den Begriff der Kultur auf die sozialen Lebensverhältnisse eines Staates bzw.Volkes insgesamt angewandt hat, freilich ohne dass er sich damit durchsetzen konnte. Weiterhin wurde auch in der Frühaufklärung der Aufklärungsbegriff in Entsprechung zu seiner lateinischen Herkunft verstanden. Er ist ja als ein Lehnwort des lateinischen „cultura“ von dem Verb „colere“ (hegen, pflegen und bebauen) abgeleitet, und war ursprünglich lediglich auf den Ackerbau und die Bearbeitung des Bodens bezogen. Und auch als seine metaphorische Verwendung sich durchsetzte, wurde „Kultur“ immer in Verbindung mit einem Genetiv gebraucht, im Sinne der Pflege bzw. Kultivierung von etwas schon Vorhandenem, nicht – wie es bei Pufendorf sich dann zum ersten Mal andeutete – als Hervorbringung von etwas Neuem, das kraft des schöpferischen Leistens, zu dem der Mensch aufgrund seiner Vernunft fähig ist, in die Welt kommt. Die Verbindung mit einem Genetiv lag ebenso in der übertragenen Be-

 Emanuel Hirsch, „Der Kulturbegriff. Eine Lesefrucht“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (1925), 298.

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deutung vor, die Cicero auf höchst folgenreiche Weise dem Kulturbegriff gegeben hat, indem er von der „cultura animi“ sprach (Tusculus disputationes, 2. Buch, 5. Kapitel). In Analogie zur Pflege des Bodens sollte in der Folge Ciceros von der Pflege des Geistes die Rede sein können, wofür im klassischen lateinischen Sprachgebrauch dann auch „cultus animi“ gesagt werden konnte.³² In Verbindung mit einem Genetiv und in seiner metaphorischen Bedeutung gewann der Begriff der „cultura“ bzw. des „cultus“ bei den spätantiken christlichen Schriftstellern seine dann bis in die Moderne reichende enge, ästhetisch-religiöse Bedeutung.³³ Pufendorf hat demgegenüber, wie Hirsch nachwies, ein Verständnis von Kultur aufgebracht, wonach Kultur nicht mehr nur die Bebauung des Ackerbodens, aber auch nicht allein die Pflege bzw. Bildung des menschlichen Geistes oder die sorgsame Ausübung der Religion meint, sondern das Insgesamt der schöpferischen Leistungen der menschlichen Arbeit. Pufendorf hat nach Hirsch den Kulturbegriff außerdem von der Ausrichtung auf das Individuum gelöst und auf die menschliche Gattung bzw. auf menschliche Kollektive bezogen. Die Menschheit wird zum Subjekt der Hervorbringung von Kultur und Kultur ist alles, was die Menschheit bzw. die Völker und Nationen den vernünftigen Zwecken gemäß gestaltet. Pufendorf hat „Kultur“ in einer sozial-anthropologisch konstitutiven Bedeutung verstanden. An das weite und sozial-anthropologisch fundamentale Verständnis von Kultur, das Pufendorf zur Anzeige gebracht hat, knüpfte dann, fast 100 Jahre später, Herder in den „Ideen zur Philosophie der Menschheit“ (1784– 1791) wieder an.³⁴ Für Herder ist der Mensch ursprünglich ein Kulturwesen. Auch in seinem Urzustand ist er nur als sozial handelnd denkbar, immer schon auf andere Menschen angewiesen und in seiner Entwicklung von Erziehung und Bildung abhängig. Es gab für Herder zwar Völker mit mehr oder weniger Kultur, aber kein Volk ohne jede Kultur. Im Blick auf den Menschen machte es für ihn daher gar keinen Sinn, zwischen einem Natur- und einem Kulturzustand zu unterscheiden. Was der Mensch ist, erklärte Herder dadurch, dass er ihn vom Tier unterscheidet. Und was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist genau dies, dass er Kultur entwickelt. Dass er Kultur entwickelt, bedeutet wiederum, dass er Geschichte hat, Traditionen aufbaut, eine zweite sprachliche konstituierte Welt errichtet, in die die

 Vgl. Franz Rauhut, „Die Herkunft der Worte und Begriffe ‚Kultur‘, ‚Civilisation‘ und ‚Bildung‘“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 34 (1953), 81– 91, hier 82.  Vgl. Wilhelm Perpeet, „Zur Wortbedeutung von ‚Kultur‘“, in: Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg.v. H. Brackert und F. Wefelmeyer, Frankfurt /Main 1984, 1– 26.  Vgl. Bernhard Kopp, Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes Kultur, Meisenheim am Glan 1974 (Monographien zur philosophischen Forschung 128), 4– 26.

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jeweils nachwachsende Generation durch Lehren und Lernen, die Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, durch die Übernahme von Sitten und Gebräuchen hineinfindet, die sie zugleich durch eigenen Vernunftgebrauch weiterentwickeln muss. So war für Herder die Kultur das Insgesamt der gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Lebensformen bzw. Institutionen eines Volkes. Sie ist das Soziale, das, was die Menschen zum Zweck ihrer Selbsterhaltung hervorbringen, eben indem sie eine verständigungsorientierte, sprachlich fundierte Welt des Sozialen aufbauen, in Sozialbeziehungen miteinander kooperieren, eine den vernunftbestimmten menschlichen Lebenszwecken dienliche, geschichtlichen Fortschritt realisierende, schließlich zur allgemeinen Glückseligkeit führende Kulturwelt schaffen.³⁵ Den Namen Herder erwähnte Schleiermacher in seiner Hallenser Ethik-Vorlesung offensichtlich nicht. Aber dass er sich implizit auf Herder bezogen hat, indem er dort den Kulturbegriff mit seiner „in den neueren Zeiten“³⁶ aufgekommenen Bedeutungserweiterung aufnimmt, ist m. E. offensichtlich. Wie intensiv Schleiermacher Herders „Ideen“ rezipiert hat, zeigt sein nur ein Jahr nach deren Erscheinen niedergeschriebener Text „Über den Wert des Lebens“ (1792/93).³⁷ Dort nimmt er – wenn ich recht sehe – zwar auch nicht direkt auf Herder Bezug. Aber in dieser Schrift, die neben der „Über die Freiheit“ (zwischen 1790 und 1792)³⁸ bereits die Grundlinien seiner auf eine materiale Güterethik zielenden Ethikkonzeption entwickelt, kommt der Kulturbegriff doch an entscheidenden Stellen vor. Und Schleiermacher spricht dort, wie Herder es tat, von „Bildung und Kultur“ als demjenigen, das „in allen Ständen, und unter allen Völkern möglich seyn (sollte)“.³⁹ Schleiermacher machte in der Schrift „Vom Wert des Lebens“ zudem, Herder folgend, geltend, dass der Mensch als das mit Vernunft begabte Wesen keinen Naturzustand kennt, sondern er immer schon, in allen Völkern und Zeiten, Kultur hervor gebracht hat und hervorbringt. Es gibt, so betonte er, keine Menschheit ohne Kultur. Worin die Völker und Nationen sich nur unterscheiden, das betrifft die Art und den Grad ihrer Kultur. Zur Auffassung der Kultur gehört daher, so Schleiermacher, die Einsicht in ihre Geschichtlichkeit. Zu kritisieren sind daher diejenigen unter den gebildeten, sich für aufgeklärt haltenden Zeitgenossen, die ein enges, elitäres Verständnis von Kultur vertreten, dabei zudem nur die eigene Lebensart zu deren Kriterium erklärend: „Es ist eine flache Einseitigkeit

 Vgl. Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg 2005, 27– 47.  Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O. (Anm. 1), 92.  Vgl. Schleiermacher, Über den Wert des Lebens (1792/93), KGA I/1, 391– 472.  Ebd., 217– 356.  Ebd., 449.

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und ein kindischer Stolz, wenn wir das was Kultur des Geistes hiebei (sc. der allgemeinen Beförderung der Glückseligkeit) nothwendig thun muß, immer nur da finden wollen, wo unsere Art der Kultur herrschend ist: ärger als die Griechen, denen alles ungriechische barbarisch war ist uns alles ungebildet was nicht unsere Manieren unsren Anstrich unsern Firniß hat.“⁴⁰ Kultur ist für Schleiermacher in dieser frühen Schrift bereits alles, was die Menschheit der Erfüllung ihres vernünftigen Zwecks, eben der Realisierung des höchsten Gutes bzw. der allgemeinen Glückseligkeit entgegenführt. Es ist für ihn, ebenso wie für den Herder der „Ideen“, gar keine Menschheit denkbar, die nicht bereits in einem gewissen Zustande der Kultur und damit der Humanität, also der vernunftbestimmten und zweckgeleiteten Bearbeitung der Natur und einer entsprechenden Gestaltung der geschichtlich vermittelten Lebenszustände eingetreten wäre.Wer daran zweifelte,weil er auf so viele Zustände des Jammers und der Rohheit in der Menschheit blickt, dem rief der junge Schleiermacher zu: „Zerstreue ein wenig den Nebel vor Deinen Augen, und Du wirst unter allen Nationen theure und wolthätige Spuren der Humanität entdecken.“⁴¹ Es scheint mir offensichtlich, dass Schleiermacher in seiner Hallenser EthikVorlesung an diesen weiten, mit dem Begriff der Humanität zusammenfließenden Kulturbegriff, den er – doch wohl in Anlehnung an Herder – in seinen Jugendschriften bereits favorisiert hat, wieder anknüpfen wollte. Zugleich aber empfand er aber die Schwierigkeit, dass mit diesem Begriff Konnotationen verbunden sind, die seinem ganzen Unternehmen wenig zuträglich sein dürften. Beide Nachschriften zeigen jedenfalls, dass Schleiermacher offensichtlich Rousseau erwähnt hat, um sich von dessen negativer und enger Ansicht über die Kultur abzugrenzen. Rousseau hatte, ganz im Sinne der Aufklärung, unter Kultur etwas Elitäres verstanden, höhere Bildung, Wissenschaft und Kunst. Anders als die Protagonisten der Aufklärung konnte Rousseau in dieser Kultur aber nichts Positives entdecken. Kultur und damit die höhere Bildung, die Wissenschaften und die Künste, galten ihm als kontingente Produkte eines eigennützigen Luxus. Kultur war für Rousseau jedenfalls nichts, was konstitutiv zum Menschsein gehören sollte.⁴² Um zu zeigen, was das Menschsein ausmacht und auf welcher Basis die Menschheit sich im Laufe ihrer Geschichte zu entwickeln hat, konstruierte

 Ebd. 456.  Ebd. 457.  Vgl. Jean Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes / Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Kritische Ausgabe des integralen Textes mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von H. Meier, Paderborn 62008.

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Rousseau den Naturzustand. An der Natur des Menschen sollte gewissermaßen abgelesen werden können, was ihm gemäß ist, worin seine Fähigkeiten liegen, wozu er sich deshalb auf der Basis seiner Anlagen auch aus sich selbst zu entwickeln vermag. Im Grunde wollte dies Schleiermacher mit seiner im Sinne einer als strukturformale Geschichts- und Kulturphilosophie angelegten Ethik ja auch tun, nur dass er die menschliche Natur gar nicht ohne ihre Einheit mit der Vernunft denken konnte. Da er aber offensichtlich fürchtete, der Kulturbegriff könnte der Klarheit dieser sozial-anthropologischen Grundeinsicht seiner Ethik einerseits, deren geschichtsphilosophischer Weite andererseits abträglich sein, hat er, so vermute ich, dem Kulturbegriff in seinen späteren Berliner Ethik-Vorlesungen keine zentrale Bedeutung mehr gegeben.

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Analogie versus Wechselwirkung – Zur „Symphilosophie“ zwischen Schleiermacher und Steffens 1 Wissenschaftlich-freundschaftliche Emphase „Liebster Freund! Nach nichts sehne ich mich so sehr“, schreibt der Naturphilosoph Heinrich Steffens in einem Brief an Friedrich Schleiermacher im Frühjahr 1807, noch im Sie, das er kurz darauf in ein Du umwandelt „wie nach Ihnen, und nach Wiederherstellung des stillen, bedeutungsvollen, geräuschlosen Lebens.“¹ Eine Reihe emphatischer Freundschaftsbekundungen und Beschwörungen des verlorenen gemeinsamen Wirkungskreises in Halle und die wechselseitige Anteilnahme an der wissenschaftlichen Produktion bestimmen den Ton der Briefe nach Steffens‘ Weggang aus Halle.² Das „stille, bedeutungsvolle, geräuschlose Leben“, auf das Steffens im Zitat anspielt, ist der den äußeren Umständen Napoleonischer Besetzung Halles verschuldete gemeinsame Haushalt. Das gemeinsame, sehr beengte Wohnen und Wirtschaften vom Oktober 1806 bis zum Frühjahr 1807 beginnt unmittelbar nach dem Verlust der Schlacht bei Halle am 17. Oktober 1806, den die beiden Freunde zunächst noch wie Kriegstouristen oder „Schlachtenbummler“³ von einem erhöhten Punkte aus beobachten – so zumindest schildert es Steffens in seiner Autobiographie und Schleiermacher in Briefen – um sich dann gemeinsam in einigen dramatischen Momenten durch die Kriegswirren der Straßen von Steffens Wohnung in die Schleiermachersche zu

 Brief Steffens’ an Schleiermacher vom 21.4.1807, KGA V/9, 417.  Vgl. auch folgende Briefe – 22.6.1807, KGA V/9, 469: „Wenn ich nur genau wüsste, wie du, liebster Freund Dich befindest? Was Du treibst? Wie Deine Aussichten beschaffen sind? Und ob wir bald hoffen dürfen vereinigt zu wirken, wie vormals?“; 2.11.1807, KGA V/9, 564 f.: „Dass unser gemeinschaftliche Wirkungskreis auf immer gestöhrt ist – das ist also gewiss – Wen ich Dir sagen könnte, wie trübseelig mir war, als das erste Zeichen der schönern verflossenen Zeit – Varnhagen – hier in meiner Stube eintrat“; 2.11.1807, KGA V/9, 566: „O! dass ich Dich sehen, sprechen umarmen könnte – nichts erquickenderes könnte ich mir denken als die gemeinsame Ermunterung“.  Der Begriff „Schlachtenbummler“ entspricht dem damaligen Wortschatz und bringt den Ereignischarakter der Schlacht zum Ausdruck, die im wahrsten Sinne des Wortes auf einem „Kriegsschauplatz“ stattfand, und – in vermeintlich sicherer Entfernung – wie ein Schauspiel mit Kind, Kegel und Picknickkorb beobachtet wurde.

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retten.⁴ Das Gehalt bleibt aus, Rücklagen sind insbesondere bei Steffens nicht vorhanden, und aus pragmatischen Gründen legen sie ihre Haushalte in Steffens‘ Wohnung zusammen, Steffens und Schleiermacher schlafen in einer Kammer, Schleiermachers Halbschwester Nanny und Steffens‘ junge Frau Hanne mit dem Kind in einer anderen. So widrig die Umstände, so verklärt erscheint diese Zeit im Briefwechsel zwischen Schleiermacher, dem „liebste(r)n unter meinen Freunden, den ich immer gehörte“⁵ und dem Ehepaar Steffens in den Jahren 1807– 1810. Steffens versuchte in diesen Jahren nach der Schließung der Hallenser Universität vergeblich – zunächst in Dänemark, dann in Deutschland – wieder als Professor Fuß zu fassen und lebte unter prekären Verhältnissen mit Frau und Kindern wechselweise bei Verwandten und Freunden; Schleiermacher ging 1807 bereits nach Berlin und las privat im Vorfeld der Universitätsgründung. Retrospektiv erscheinen die ersten Jahre gemeinsamer Lehre, gemeinsamen geselligen Lebens und auch die beengte Lage gemeinsamer Wirtschaft als einer der Höhepunkt in der Freundschaft der beiden Professoren, ja als gemeinsame Arbeits- und Lebensidylle. Als Professor der Theologie und Professor für Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie kurz nacheinander 1804 nach Halle berufen, erkannten sich Schleiermacher und Steffens – beide auf ihre Weise Außenseiter – in einem konservativen und feindlichen Kollegen-Klima sofort als ihresgleichen.⁶ Beide

 Vgl. Heinrich Steffens, Was ich erlebte, Bd. 5, Breslau 1842, 191 ff. und Schleiermacher KGA V/ 91, 181, Nr. 1203, Brief an Reimer vom 4.11.1806: „Bei dem Gefecht selbst wären wir fast in Gefahr gerathen. Steffens kam den Morgen uns abrufen wenn wir ein Gefecht mit ansehn wollten in seine Wohnung zu kommen. Wir sahen auch dort den Angriff auf die Brükke sehr gut. Als ich aber merkte, daß die preußischen Kanonen demontirt wurden und die Position verloren gehn würde | beredete ich Steffens zu mir zu kommen weil sein Haus (Du erinnerst Dich vielleicht daß er jezt am Paradeplaz unweit der Bibliothek wohnt) zu sehr exponirt wäre. Wir sputeten uns auch möglichst allein ich hatte mit Hanne noch nicht unsere Straße erreicht als schon hinter uns in der Stadt geschossen wurde, und Steffens wäre mit dem Kinde auf dem Arm beinahe in das Gedränge der retirirenden Preußen und vordringenden Franzosen gerathen.“  In diesem Brief vom 8. Mai 1807 geht Steffens zum „Du“ über: „Also, du liebster unter meinen Freunden, den ich immer gehörte, ewig anzuhören verdiene werde, ich beschwöre Dich den frischen Muth nicht zu verlieren, nicht in trüben Zweifel zu verfallen, und möchte dich um Verzeihung bitten, indem ich es schreibe, da ich es doch nur aus dem Ton in Deinem Brief geschlossen habe.“ (KGA V/9, 433 f.).  Steffens polemisiert in einem Brief an Schelling vom Januar 1808 retrospektiv: „Du weißt, wie fatal mir Halle ist. […] Du kennst kaum die saubere Gesellschaft. Alte, halbverfaulte Kantianer, die die Naturphilosophie wie die Pest hassen. Reil hat mich gewarnt. Ich habe sie nie beleidigt, nie einmal auf ihre plumpen Anfälle in Vorlesungen geachtet.“ (F.W.J. Schelling, Briefe und Dokumente, Bd. 1 (1775 – 809), hg. v. H. Fuhrmans, Bonn 1962, 401).

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Denker treffen bereits mit einem ausgebildeten romantischen Ideengut aufeinander, das Sie um die Jahrhundertwende entwickelt haben: Steffens auf seiner Bildungsreise bzw. seinem vom dänischen Staat finanzierten Reisestipendium nach Deutschland 1789 – 1801, auf der er Schelling, Goethe, Schiller, Novalis, Tieck, die Brüder Schlegel und auch Schleiermacher kennen lernte, bei Schelling hörte, an Schellings Zeitschrift für spekulative Physik mitarbeitete und daraufhin das romantische Ideengut in legendären Vorlesungen in Kopenhagen 1802/03 und 1803/04 nach Dänemark importierte. Diese Vorlesungen, insbesondere die 1803 gedruckte und erst 2012 zum ersten Mal ins Deutsche übersetzte Vorlesung Einleitung in die philosophische Vorlesungen (‚Indledning til philosophiske Forelaesninger‘) gelten als Auftakt der Romantik in Dänemark.⁷ Schleiermacher seinerseits entwickelte sein romantisches Ideengut insbesondere in seiner zweijährigen symphilosophischen Wohngemeinschaft mit Schlegel in Berlin, einen schriftlichen Niederschlag findet sich in den Monologen und natürlich den Reden sowie in seiner Mitarbeit an den Athenäumsfragmenten. Grundlegend für den gefühlten Gleichklang beider Denker, der die gemeinsame philosophische Grundlage ihres frühromantisches Ideengutes bildet, ist der Ausgang von Spinoza, wie Heinrich Steffens in seinen Memoiren ausdrücklich unterstreicht.⁸ Zu den Dokumenten, die uns zur Verfügung stehen, um Selbst- und Fremdurteile über das Verhältnis beider Denker zu bestimmen, gehören neben der zehnbändigen Autobiographie von Heinrich Steffens Was ich erlebte der Briefwechsel beider Philosophen, Lebenszeugnissen der Schüler, wie beispielsweise Varnhagen von Enses Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens,⁹ oder Twestens Er Der 2012 von Heiko Uecker vorgenommenen ersten Übersetzung (Henrich Steffens, Einleitung in philosophische Vorlesungen, Frankfurt/Main 2012) folgt in diesem Jahr gleich eine zweite Übersetzung von Bernd Henningsen und Helge Høibraaten (Henrich Steffens, Einführung in die Naturphilosophie (1802/03), Freiburg 2013.  „Wir schlossen uns“, schreibt Steffens in seiner Autobiographie über die Hallenser Zeit, „ganz und unbedingt aneinander, und ich habe es nie auf eine entschiedenere Weise erfahren, daß eine unbedingte Hingabe die Selbständigkeit fördert, nicht unterdrückt. […] Was man seinen [Schleiermachers, S.S.] Spinozismus zu nennen beliebte, war eben dasjenige, was mich am meisten anzog, weil er nicht in der Form einer Naturnothwendigkeit, vielmehr als die lebendige Quelle der unbedingten Freiheit erschien.“ (Heinrich Steffens, Was ich erlebte, a.a.O., Anm. 4, 143)  Vgl. Varnhagen van Ense, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, Frankfurt am Main 1987, 355 f: „[…] sie [die Vorlesungen von H. Steffens, S.S.] zeigten aber ihren höchsten Wert erst dann, wenn man sie mit den Schleiermacher’schen gleichsam in ein Ganzes verflocht; diese Besonnenheit und jene Begeisterung schienen sich wechselseitig zu vervollständigen, und beide Männer in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich gern in diese Gemeinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so

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innerungen¹⁰ sowie einzelne Bemerkungen in den Vorlesungen und Werken von Steffens und Schleiermacher. Diesen erhaltenen Selbst- und Fremdurteilen zufolge verbanden Steffens und Schleiermacher nicht nur eine enge Freundschaft und eine gemeinsame philosophische Grundüberzeugung, sondern sie verstanden sich auch als das jeweilige wissenschaftlich Pendant ihrer Lehr- und Forschungsarbeit: Schleiermacher als Ethiker und Theologe, Steffens als Naturphilosoph und Naturwissenschaftler, der genau jene Seite der „Realwissenschaften“ ausfüllen könnte, die in Schleiermachers eigener Durchführung seines in den Einleitungen der Ethikvorlesungen entwickelten Systems der Wissenschaften fehlte. „Seine ethischen Vorträge und meine philosophischen“, schreibt Steffens retrospektiv, „schienen den Zuhörern aufs innigste verbunden, sie ergänzten sich. Aber auch wir tauschten, was wir wussten, wechselseitig ein, und wenn Schleiermacher meine physikalischen Vorträge hörte so schloß er mir die griechische Philosophie auf, und durch ihn lernte ich Plato kennen.“¹¹ Seinerseits bekundet Schleiermacher in einem Brief an seine Vertraute Henriette Herz vom 27. 3.1805, der eine ausführliche begeisterte Beschreibung des geliebten Kollegen enthält, eine „Harmonie“ beider Denker: „Es ist auch zwischen Steffens und mir eine wunderbare Harmonie, die mir große Freude macht und mir gleichsam eine neue Bürgschaft giebt für mich selbst. Wenn er im Gespräch sittliche Ideen äußert so sind es immer die meinigen, und was ich von der Natur verstehe, und von mir gebe fällt immer in sein System. Auch unsre Zuhörer bemerken es wie wir uns von ganz verschiedenen Seiten ausgehend, also daß es nichts anders sein kann, als die reine innere Harmonie, immer im Mittelpunkt vereinigen und einander in die Hände arbeiten.“¹² Nimmt man diese biographischen Dokumente, Selbstzeugnisse und wechselseitigen Verweise genauer unter die Lupe, so fällt jedoch die Vagheit auf, in der diese systematische Zusammengehörigkeit zwar emphatisch konstatiert, in ihrer Systematik jedoch nicht ausgeführt wird. So enthält der Briefwechsel, soweit er uns über die Briefe des Ehepaares Steffens erhalten ist,¹³ kaum eine längere daß die Theologen auch Steffens hörten und die Naturbeflissenen sich Schleiermacher’n anschlossen.“  C.F. Georg Henrici, Detlev August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889.  Vgl. Steffens, Was ich erlebte, a.a.O. (Anm. 4), 144. Dass Schleiermacher in Steffens’ Vorlesung(en) saß, belegt ein Brief an den Verleger und Freund Reimer von Anfang September 1806, vgl. Schleiermacher KGA V/9, 123, Nr. 2257.  Schleiermacher KGA V/8, 171 f., Nr. 1941.  Es sind keine Briefe Schleiermachers an das Ehepaar Steffens erhalten; sie lassen sich lediglich aus den Steffensschen Briefen sowie aus Schleiermachers Tagebucheinträgen nach dem Datum und nur sehr begrenzt in ihrem Inhalt rekonstruieren. Eine ähnlich einseitige Dokumentenlage liegt auch im Briefwechsel Steffens-Schelling vor und ist sicherlich auch dem

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wissenschaftliche Auseinandersetzung. Auch eine wechselseitige Rezension ihrer Schriften findet nicht statt, was dem Umstand geschuldet sein könnte, dass sie sich zwar als Pendant, nicht aber als kompetente Kollegen im jeweiligen Fach des anderen verstanden. Auch Steffens’ durchaus philosophisch angelegte Autobiographie enthält zwar eine eingehende Beschreibung Schleiermachers als Person,¹⁴ aber nur einen sehr kurzen und vagen Umriss des Theologen Schleiermacher. Die Hinweise der systematischen Entsprechung in ihren Werken und Vorlesungen sind ebenfalls ausgesprochen dünn und stehen im Kontrast zu der großen Bedeutung, die sie sich wechselseitig zusprechen.¹⁵ Wie stichhaltig ist diese Selbsteinschätzung, worin besteht die Entsprechung, und wie genau finden die als zwei Teile eines Ganzen propagierten Teile – die Steffenssche Naturphilosophie und seine Physik (Naturwissenschaft) auf der einen Seite und die Schleiermachersche Ethik auf der anderen Seite – zusammen? Wendet man sich der Sekundärliteratur zu, so ist das ‚Duo Steffens – Schleiermacher‘ in der Schleiermacher-Forschung zwar präsent, eine Untersuchung des philosophischen Verhältnisses beider Denker ist jedoch ein Forschungsdesiderat ebenso wie die philosophische Forschung zu Steffens selbst. Monografien, Lexikaeinträge, Sammelbände und Artikel über Steffens zusammengenommen sind kaum höher in der Zahl als die Publikationstitel des umfangreichen Werkes des Autors Steffens, der als Naturwissenschaftler, Naturphilosoph und Religionsphilosoph hervortrat, der eine Anthropologie, viele gesellschaftskritische Schriften, zahlreiche Novellen und die bereits mehrfach erwähnte zehnbändigen Au-

Umstand geschuldet, dass Steffens in den Jahren 1806 – 1808 quasi ein nomadisches Leben führte und nicht nur der Haushalt, sondern auch viele persönliche Dokumente dabei verloren gingen. Allerdings fehlt bis dato eine historisch-kritische Ausgabe des Steffensschen Werkes, in deren Kontext entsprechende, ergänzende Funde nicht auszuschließen sind. Der Briefwechsel zwischen den Freunden, der freilich erst nach dem Weggang Steffens aus Halle einsetzt und mit Unterbrechung und zum Teil jahrelanger Funkstille bis zum Tod Schleiermachers fortgeführt wird, enthält – anders beispielsweise als der Briefwechsel zwischen Steffens und Schelling, zwischen Steffens und Goethe oder zwischen Schleiermacher und Schlegel – zwar Ankündigungen und Berichte über den Arbeitsstand der wissenschaftliche Arbeiten, aber keine wissenschaftliche Auseinandersetzung und kaum eine philosophische Stellungnahme gegenüber dem Freund.  Vgl. Steffens, Was ich erlebte, a.a.O. (Anm. 4), 141 ff.  Schleiermacher verweist in der Dialektikvorlesung 1811 auf Steffens Verwendung des Begriffs „Wissenschaft der Ideen“ (vgl. KGA II/10, 1, 8) und erwähnt nach Twestens Bericht in den Ethikvorlesungen die Einleitung der Grundzüge „als diejenige Darstellung des höchsten Wissens […], mit der er am meisten einverstanden sey“ (A. Twesten, Vorrede zu: F. Schleiermacher: Grundzüge der philosophischen Ethik, Berlin 1841, XCVII). Ein kurzer Verweis auf Schleiermacher findet sich in Steffens Grundzügen. Vgl. Henrich Steffens, Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806, XXII.

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tobiographie schrieb. Die Sekundärliteratur zu Steffens lässt sich in wenigen Sätzen skizzieren: Finden sich zu Lebzeiten und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zahlreiche Hinweise auf Steffens in Lexika und Handbüchern, in denen er unisono als wichtigster Schüler Schellings geführt wird,¹⁶ so verschwindet er im Anschluss weitgehend als Lexikon- und Handbucheintrag. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehen einige Dissertationen über Steffens als Pädagoge, Schriftsteller und Religionsphilosoph sowie zu seiner Beziehung zur Frühromantik.¹⁷ Steffens patriotischer Gesinnung während der Napoleonischen Besetzung Preußens ebenso wie seiner rassenorientierten Anthropologie geschuldet, widmen sich ihm auch im Fahrwasser nationalsozialistischer Ideologie einige Studien in den 1930er und 1940er Jahren zum Rassenbegriff, zur Volksseele und zum Deutschtum.¹⁸ sogar ein Roman über dem „nordischen Preußen-Patrioten“¹⁹ erscheint. Aus philosophischer Perspektive sind in der deutschen Sprache die biographisch detailreichen Aufsätze von Engelhardt zu erwähnen, die ebenfalls sehr biographisch orientierte philosophische Habilitation von Fritz Paul,²⁰ die jedoch vor der Hallenser Zeit endet; ein Sammelband zur SteffensTagung 1989, herausgegeben von Otto Lorenz,²¹ sowie Tobias Leibolds umfang-

 Steffens selbst bekundet diese Schülerschaft emphatisch in einem Brief an Schelling vom 1.9.1800: „Ich bin ihr Schüler, durchaus ihr Schüler, alles was ich leisten werde, gehört ihnen ursprünglich zu – Es ist keine vorübergehende Empfindung, es ist feste Übersetzung, dass es so ist, und ich schaetze mich desshalb nicht geringer. Ich weiss, dass ich etwas ausrichten werde an meinem Fach – Die innige Überzeugung, die ich habe, giebt mir die Gewisheit, dass ich überzeugen werde. Dann – wenn ein wahrhaft grosses Product da ist, dass ich mein nennen möchte, wenn es anerkannt ist, werde ich öffentlich auftreten – mit der Waerme der Begeisterung mein Lehrer nennen, und den errungenen Lorbeerkranz ihnen reichen!“ (F.W.J. Schelling, HistorischKritische Ausgabe, Stuttgart 1976 ff., Abt. 3, Bd. 2, 1, 225).  Else Huesmann, Henrich Steffens in seinen Beziehungen zur deutschen Frühromantik unter besonderer Berücksichtigung seiner Naturphilosophie, Kiel 1929; Reinhard Bruck, Henrich Steffens: Ein Beitrag zur Philosophie der Romantik, Diss. Erlangen 1906, Borna und Leipzig 1906; Fritz Henrik Karsen, Steffens Romane. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Romans, Leipzig 1908; Wilhelm Rudolff, Henrik Steffens’ pädagogische Anschauungen. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik, Phil. Diss. Jena 1913, Langensalza 1914.  Martin Meißner, Henrik Steffens als Religionsphilosoph, Phil. Diss. Breslau 1936; Viktor Waschnitius, Henrik Steffens und Norwegen, Hamburg 1937; Elisabeth Achterberg, Heinrich Steffens und die Idee des Volkes, Würzburg 1938 (zugl. Phil. Diss. Berlin); Viktor Waschnitius, Henrich Steffens. Ein Beitrag zur nordischen und deutschen Geistesgeschichte, Bd. 1: Erbe und Anfänge, Neumünster 1939.  Paul Burg, Volk in Flammen. Die Geschichte des Patrioten Henrich Steffens, Leipzig 1933.  Fritz Paul, Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik, München 1973.  Henrik Steffens – Vermittler zwischen Natur und Geist, hg.v. O. Lorenz und B. Henningsen, Berlin 1999.

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reiche Studie zur Anthropologie im frühen 19. Jahrhundert, in der neben Schubert auch Steffens ein zentraler Platz zukommt. Insgesamt gibt es Studien zu Steffens‘ kirchenpolitischer und gesellschaftspolitischer Position, Studien zu Steffens als als Naturphilosoph, als Schriftsteller, als Pädagoge, als Religionsphilosoph, als Romantiker, als Schriftsteller,²² als Kunstkritiker (Runge), als Anthropologe und einiges zu seiner Autobiographie. Unter diesen wenigen Studien werden genuin philosophische Perspektiven kaum eingenommen, einzelne mehr oder weniger ausführliche Hinweise auf Steffens finden sich in Studien zur Naturphilosophie und romantischen Naturwissenschaft, darunter auch die einzige mir bekannte philosophische Untersuchung zum Verhältnis von Steffens und Schleiermacher von Johannes Dittmer.²³ Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage kann der folgende Versuch, beide Philosophen auf die von ihnen selbst propagierte systematische Entsprechung hin zu befragen, nur als ein erster Schritt angesehen werden.²⁴

 Vgl. die bisher nicht gedruckte Dissertation von Joana Smereka am Institut für Germanistik an der Universität Wroclaw, die dem Einfluss des theoretischen Werkes auf das literarische bei H. Steffens nachgeht.  Vgl. u. a. Fritz Paul a.a.O. (Anm. 20), Uwe Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen: historische und Kritische Studien, Tübingen 1986 ( insbesondere Kapitel 3: „Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘“), Johannes Michael Dittmer, Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. Triadizität im Werden, Berlin und New York 2001, 209 – 233, Hartmut Fröschle, Goethes Verhältnis zur Romantik, Würzburg 2002, 91– 97, Klaus Stein, Naturphilosophie der Frühromantik, München 2004, 14 ff., 55 – 58 oder die Einleitung von Manfred Durner in: Schelling, Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. 1, Hamburg 2001, IX–XXXIX.  Ein Vergleich zwischen beiden Autoren steht auch in anderer Perspektive noch aus, denn er könnte an verschiedensten Themenstellungen ansetzen. Er ließe sich, wie bei Slenczka begonnen, auf die theologischen und kirchenpolitischen Positionen beziehen (Notger Slenczka, „‚Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben‘. Religionsphilosophie und Zeitdiagnose bei Henrich Steffens im freundschaftlichen Widerspruch gegen Schleiermacher“, in: Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, hg.v. W. Gräb und N. Slenczka, Leipzig 2011, 203 – 223) oder könnte bei den universitätspolitischen Schriften ansetzen. Denn im Vorfeld der Berliner Universitätsgründung schrieb neben Schleiermacher, Schelling, Fichte und Humboldt auch Steffens eine Reflexion über Anlage und Struktur einer neu zu gründenden Reformuniversität, die grundlegende Aussagen über Philosophie und das System der Wissenschaften enthält und insofern über eine universitätspolitische Schrift weit hinausgehend Gedanken zum System der Wissenschaften enthält (vgl. Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher und Henrich Steffens: Über das Wesen der Universität, hg.v. E. Spranger, Leipzig 1919). Interessant wäre auch eine vergleichende Untersuchung der sehr fragwürdigen Anthropologie Steffens’ und den Psychologievorlesungen Schleiermachers, die Schleiermacher ab 1818 beginnt und über deren Genese und philosophische Bedeutung gegenwärtig kaum Sekundärliteratur existiert; vgl. Andreas Arndt, „‚Spekulative

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Als Textgrundlage für meine Untersuchung dienen im Folgenden die während der gemeinsamen Hallenser Zeit 1806 erschienenen Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft von Steffens, die insbesondere in den ersten Kapiteln eine komprimierte Darstellung seiner Naturphilosophie enthalten. Ihr gegenübergestellt werden Schleiermachers in Halle 1804/05 begonnenen und 1805/06 wiederholten Vorlesungen zur philosophischen Ethik, von denen uns nur Mitschriften und Schleiermacher Notizen zu den Vorlesungen 1805/06 vorliegen (Brouillon zur Ethik), die jedoch bereits einen umfassenden Entwurf der Ethik in Einleitung, Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre enthalten. Dass Steffens und Schleiermacher an der Ausarbeitung der wissenschaftlichen Projekte wechselseitig Anteil nahmen, lässt sich aus dem erhaltenen Briefwechsel Schleiermachers mit dem Verleger Reimer zumindest für die Grundzüge belegen. Offenbar fungierte Schleiermacher als Vermittler zwischen Steffens und Reimer und gab zwischen 1804 – 1806 (quantitativ nicht qualitativ) den Stand der Arbeit an den Grundzügen durch, die sich immer verzögerten wobei der Unmut Reimers über die nicht eingehaltenen Versprechens von Steffens sichtbar stieg.²⁵ Wie sich diese Anteilnahme jedoch inhaltlich gestaltete, ob und wie „symphilosophisch“ gearbeitet wurde, ist den erhaltenen Dokumenten nicht zu entnehmen. Folgt man dem Hinweis von Andreas Arndt in seiner Einleitung zur Ausgabe der Vorlesungen über die Dialektik im Rahmen der Kritischen SchleiermacherGesamtausgabe,²⁶ dann generiert sich der Entschluss Schleiermachers, eine Vorlesung zur Dialektik in Berlin zu halten, eigentlich aus einem Lehrangebotsmangel, denn die Berufung Steffens nach Berlin war gescheitert und einen Verweis auf Fichtes Systemphilosophie konnte sich Schleiermacher nicht vorstellen. Diese Einschätzung kommt insbesondere in einem Brief Schleiermachers an Nicolovius

Blicke auf das geistige Prinzip‘. Friedrich Schleiermachers Psychologie“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg.v. R. Schmücker und D. Burdorf, Paderborn 1998, 147– 161.  Vgl. den Briefwechsel zwischen Schleiermacher und Reimer KGA V/8 und V/9, u. a. Briefe Nr. 1848, 1898, 2023, 2033, 2045 und 2126. In einem Brief vom 19.7.1806 an Schleiermacher zieht Reimer etwas bitter Bilanz: „Ganz anders aber war es mit Steffens, der mir, wer weiß wie viel Termine für die Beendigung seines Buches gesetzt hatte; und sagte er mir nicht bei meiner Anwesenheit in Halle, am Tage ehe ich abreiste, er habe den letzten Aphorism geschrieben, und werde nun die Vorrede noch desselben Tages in die Druckerei geben. Bei so gewaltiger Unsicherheit sehe ich gar keinen Haltpunkt; oder kann wer Bürgschaft leisten für die Erfüllung des letztgegebenen Versprechens, nachdem alle frühern vergeblich waren. So gut aber wie die Zeit ein Maaßstab ist für solcher Art Verträge, so gut ist es auch nie unzeitig verdrüßlich zu werden; und ich konnte mich dessen über Steffens wahrhaftig nicht erwehren, so herzlich gut ich ihm auch bin, und so wenig ihm dies von meiner Achtung entzieht.“ (KGA V/9, 70, Nr. 2222).  Vgl. KGA II/10, 1, IXf.

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vom März oder April 1810 zum Ausdruck, in dem sich Schleiermacher noch einmal für die Anstellung Steffens‘ an der Berliner Universität verwendet und in dem er unter anderem die große Bedeutung der (natur)philosophischen Grundlegung für Schleiermachers Ethikvorlesungen hervorhebt.²⁷ Aus diesem Grunde sind für den Vergleich zwischen Schleiermacher und Steffens auch die erst in Berlin begonnene Vorlesungen über die Dialektik interessant, und zwar in Hinblick auf die Frage, ob Schleiermacher die vormals von Steffens abgedeckte allgemeine oder höhere Philosophie hier nochmals in eigenen Worten entfaltet, oder ob Schleiermacher mit seiner Dialektikvorlesung einen in vielen Punkten von Steffens abweichenden Entwurf vorlegte.

2 Frühromantische Grundpositionen in Steffens „Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft“ (1806) und Schleiermachers Ethikvorlesungen Wie schon die 1801 erschienenen und Goethe zugeeigneten Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde bestehen die Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft von 1806 aus einer Sammlung von Gedankengängen. Sie sind in lediglich mit Nummern versehene Kapitel strukturiert und nehmen sich auf den ersten Blick wie eine naturwissenschaftlich-naturphilosophische Aphorismen-

 Vgl. Manuskript des Briefes im Schleiermacher-Nachlass (Archiv der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, SN 758, Bl. 10): „Sollte während meiner Abwesenheit die Berufung des Professor Steffens noch einmal in Anregung kommen: so lege ich für diesen Fall meine Erklärung dahin ab, daß ich sie für äußerst zweckmäßig, ja sogar für dringend nothwendig halte, um theils der Einseitigkeit in der Philosophie, theils auch der bei allen Reichthum nicht abzuleugnenden Einseitigkeit in der Behandlung aller Zweige der Naturwissenschaft ein Gegengewicht zu sezen; ferner, daß eben so dringend als der D.B.R. Reil die Anwesenheit von Steffens wünscht, um dadurch seine eignen naturwissenschaftlichen Vorträge in Verbindung mit den allgemeinsten philosophischen Ansichten zu sezen, eben so dringend auch ich sie wünsche für die Vorlesungen über die ethischen Wissenschaften, welche ich in Zukunft zu halten gesonnen wäre, für welche ich, da ich selbst allgemeine Philosophie nie vortragen werde, keine Haltung finde und sie daher lieber unterlasse; endlich, daß wenn sich seine Berufung nur an dem Mangel eines Gehalts stößt, und die Section geneigt wäre das Anerbieten der Herren Reil und Gräse anzunehmen, wenn sie sich nur für das folgende Jahr sicher wüßte, ich gern von Michaelis 1810 bis dahin 1812 zusammen Tausend Thaler von meinem Gehalt dazu widmen werde.“

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sammlung aus.²⁸ Allerdings gibt es jenseits einer strengen Argumentationsführung einen Gedankengang, der sich über die Miniaturabschnitte und die mitunter wie Notizen oder Hypothesen einzeln isolierten Sätze hinweg entfaltet. Eine für Schelling angefertigte und als Briefeinlage an diesen mitgeschickte nachträgliche Systematisierung und Gliederung dieser Sammlung – aus Steffens Brief geht hervor, dass es Schelling offenbar nach mehr Struktur und Durchsicht durch dieses Werk verlangte – wäre für die Nachvollzug der Gedankenentwicklung in diesem Werk von großer Bedeutung, liegt uns jedoch in der nicht kritischen Briefausgabe für diese Zeit nicht vor.²⁹ Der naturphilosophische Entwurf in den Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft ist thematisch ungemein weit angelegt und steht unter einem universalwissenschaftlichen Anspruch. Die Grundzüge umfassen eine in der Einleitung und den ersten zwei Kapiteln ausgeführte naturphilosophische Grundlegung, sie versuchen Naturgeschichte und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie die einzelnen Wissensgebiete der Naturwissenschaften mit der Mathematik zusammenzuführen und unter dem Diktum einer „Quadruplizitätslehre“ physikalische, chemische, anthropologische, naturhistorische, geologische, geometrische sowie astrologische Kenntnisse der Zeit zu verbinden. Ein Kernstück der „höheren Philosophie“, die sowohl für Ethik als auch für Physik zu gelten hatte und auf die sich Schleiermacher in seinen Verweis auf Steffens zu beziehen schien, könnte man, da Steffens’ Vorlesungen nicht vorliegen, in der Einleitung und den ersten zwei Kapiteln der Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft erkennen.³⁰ In der Einleitung nimmt Steffens zunächst eine Standortbestimmung „moderner“ Wissenschaft vor und konstatiert die Pluralität der Erscheinungsformen der Wissenschaften und des Wissens,³¹ die

 Steffens selbst charakterisierte seine Grundzüge als Aphorismen, vgl. den Brief Reimers an Schleiermacher vom 19.7.1806, a.a.O. (Anm. 25).  Vgl. den Brief vom 29.4.1808 von Steffens an Schelling, in dem Steffens den Verlust eines Märzbriefes beklagt, der „das vollständige tabellarische Schema meiner Grundzüge, das ich mit vieler Mühe entworfen hatte“, enthalten habe (F.W.J. Schelling, Briefe und Dokumente, a.a.O. – Anm. 6 –, 404). Seinen eigenen, in einem Brief an Schelling enthaltenen Kommentar zu den Grundzügen, eine Einlage in dem Brief vom 17. 2.1808 (ebd., 402 f.) bezeichnet Steffens in demselben Brief als „fast undeutlicher wie die Grundzüge“ (ebd., 404).  Auf diesen Umstand verweist auch Dittmer in einer kleinteiligen, ausführlichen Argumentation (Dittmer, Triadizität, a.a.O. – Anm. 23 –, 209 – 233).  Vgl. Henrich Steffens, Grundzüge a.a.O. (Anm. 15), XI: „Indem der Mensch mit der Natur zerfiel, zerfiel er mit sich selbst und die Dinge unter sich. Die Wiedervereinigung dieser Trennung hat die Mannigfaltigkeit der Wissenschaften hervorgerufen, und die Naturwissenschaft ins Besondere ist als eine solche durchaus modern.“; Vgl. auch ebd., XV: „Es haben sich eben in unsern, durch die Entfremdung der höhern Natur so stark bezeichneten, Tagen, lebendige Äu-

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es auf eine ursprüngliche Einheit, das Wesen des Wissens hin zu orientieren gilt.³² Eine solche Sicht auf die Einheit des Wissens, der es eben nicht um eine äußerliche Verbindung – oder, wie Steffens es nennt – um einen „komparatistischen“ Vergleich geht, kann sich nur dem Individuum zuwenden, in dem sich die Einheit anschauen lässt. Dieses der frühromantischen Philosophie entnommene grundlegende, an Spinoza anknüpfende Verhältnis von Universalität und Individualität fasst Steffens im dritten Kapitel³³ in einer aphorismenartigen Formulierung folgendermaßen: „Die wahre Individualität“ heißt es dort, „ist nicht unter den Bedingungen der Zeit und des Raumes, sondern ewig.“³⁴ Als philosophischen Visionär und Anknüpfungspunkt dieser angestrebten Einheit des Wissens, die über die rein äußerliche komparative Verbindung der Wissenschaften hinausgeht, nennt Steffens die Schellingsche Philosophie.³⁵ Ein vorgreifendes Mittel dieser aufgegebenen Einheit ist Steffens die Liebe, und in diesem Kontext verweist Steffens ohne jede systematische Schärfe auf die Religionsauffassung Schleiermachers.³⁶ Im ersten Kapitel erfolgt nun die philosophische Grundlegung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichen, die sich in der Terminologie, aber auch in der deduzierenden Methode eng an die Spinozistische Ethik anlehnt und sich gerade in der Stringenz der Gedankenführung von der losen Gedankenführung der folgenden Kapitel absetzt. Wie später bei Schleiermacher wird hier ein Weg zwi-

ßerungen hervorgethan, die auf die bedeutungsvolle Weise die unergründliche Tiefe des Seyns im Denken, und die Unendlichkeit der Beziehungen des Denkens im Seyn enthalten.“  Vgl. ebd., XII.  Ziel ist die Entwicklung einer einheitlichen Perspektive, die sowohl im Ganzen, wie im Individuellen liegt und die eine rein äußerliche Beziehung zwischen den Wissensgebieten, ein Schein-Wissen, das Steffens auch als komparatives Denken bezeichnet, nicht zu leisten ist (vgl. ebd., XVI). Dargestellt werden soll die Einheit der Wissenschaften, in der „die ewigen Gesetze ihres [der Natur, S.S.] unwandelbaren Seyns Eins werden mit dem Daseyn menschlicher Individualität“ (ebd., XVI).  Ebd., 37.  Vgl. ebd., XVIIIf.: „Das eigentliche Verdienst Schellings ist es […], das Endliche aber, welcher Art es auch sey, als Product einer bloss in der Beziehung existierenden Reflexion, oder als Schein-Realität einer sinnlichen Anschauung, in so fern es als ein An sich ein falsches Leben heucheln will, als ewiges Opfer der Wahrheit zu weihen.“  Vgl. ebd., XXII: „Einem ward es vergönnt, in dem sich selbst wiedergegebenen Gemüthe die Formen des Menschlichen in reiner Eigentümlichkeit zu fassen, alle trübende Beziehungen zu zerstören, auf jedem Punkte des geschichtlichen und bewussten Daseyns alles Aeußere Verunreinigende mich sicherer Hand zu sondern, daß das sorgfältige Getrennte nur mit sich selbst vereinigt sei und mit dem Ganzen; dadurch den Frevel der trennenden Zeit zu zerstören, und die ewige Liebe des Gemüths und der Natur, die Religion, kund zu thun. – Als diesen nenne ich Schleyermacher.“

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schen Idealismus und Realismus angestrebt, wahres Erkennen kann und soll weder ausgehend vom Objekt (der Mannigfaltigkeit des Seins) noch vom Subjekt des Erkennens (der Einheit des Denkens) entfaltet werden, sondern liegt in der Identität beider.³⁷ Als Ganzes wird terminologisch nicht wie bei Spinoza die Substanz, sondern der Begriff der Vernunft gesetzt. Diese vernünftige Einheit kann nach Steffens weder gesucht und gefunden (bewiesen) noch im Sinne eines philosophischen Grundsatzes postuliert werden, „sie ist vielmehr das ewig daseiende, nicht-gefundene, sondern absolut geschenkte Organ aller lebendigen Untersuchung, alles wahrhaften Erkennens, welches das Ganze des Erkennens zu einem jeden Punkt gleich klar bezeichnet“.³⁸ Da die seiende Vernunft ewig ist, kann das endliche Sein nur als eine spezifische Perspektive auf die unendliche und ewige Vernunft verstanden werden, die im wahren Erkennen aufgehoben ist.³⁹ Der Blick auf das Endliche als das Endliche zeigt dem Spinozistischen Determinismus der natura naturata bei Spinoza entsprechend eine Kette von unendlich wirkenden endlichen Ursachen. Die Rückführung dieser Kette auf die ursprüngliche Identität von Sein und Denken als ewige Vernunft nennt Steffens ‚intellektuale Anschauung‘ und kann, da sie immanente und nicht übergehende Ursache ist, nicht im endlichen Modus erkannt werden.⁴⁰ Raum und Zeit, die als fundamental für die Gesetzmäßigkeiten der empirischen Naturwissenschaften anzusehen sind, sind dabei für Steffens Formen innerhalb einer endlichen Perspektive und an sich ebenso wenig reell wie die einzelnen endlichen Erscheinungen.⁴¹ Das Erkennen trennt sich auf diese Weise in  Vgl. ebd., 1: „Nennen wir das Erkennende ein Subjektives, das Erkannte ein Objektives, so ist das wahre Erkennen, oder das An-sich des Erkennens, weder das eine noch das andere, also weder ein erkennendes Subjekt, noch ein erkanntes Objekt, sondern die absolute Einheit beider.“ Vgl. ebenda, 1 f: „Das Objektive sei und hier das Mannigfaltige des Seyns, das Subjektive die Einheit des Denkens so wird das wahre Erkennen nur da seyn, wo Denken und Seyn identisch ist.“  Vgl. ebd., 3.  Vgl. ebd., 3: „alles endliche Seyn ist also nur als besondere Form des Seyns des Ewigen zu erkennen; da aber das Erkennen als die Form schlechthin gesetzt wird, so müssen alle endlichen Formen mit der absoluten eins werden; diese aber ist mit der des ewigen Wesens alles Seyns identisch“.  Vgl. ebd., 5.  Raum und Zeit werden insbesondere im zweiten Kapitel noch einmal ausführlich dargelegt, sie sind auf der einen Seite Anschauungsformen für das Endliche und sollen in der wahren Erkenntnis zusammenfallen. Auch in Schleiermachers Dialektikvorlesungen werden Raum und Zeit dezidiert entgegen Kant nicht als reine Anschauungsformen begriffen, denn der Möglichkeit einer rein formalen Analyse der Erkenntnisvermögen wird eine Absage erteilt. Die ausführ-

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ein Erkennen des Wesens, der „ewigen Substanz der Dinge“⁴² bzw. Erkennen „in der Potenz des Ewigen“⁴³ als intellektuale Anschauung einerseits und ein Erkennen „Unter der bestimmten Potenz“⁴⁴ als eine sinnlichen Anschauung andererseits, die nur eine Modifikation der höheren oder ewigen Natur anschaut.⁴⁵ Indem jedem Endlichen nur in Hinblick auf sein Teilhaben am Unendlichen Realität zukommt, ist es ein Unendlich-Endliches und ein Endlich-Unendliches,⁴⁶ das eine relative Mischung des in der Vernunft geeint zu denkenden Gegensatzes ist. Je nachdem, ob eine Erkenntnis des Endlichen mehr von der Form (dem Denken) oder der Mannigfaltigkeit (dem Sein) ausgeht, betreiben wir Geschichte – Steffens meint hier Naturgeschichte – oder Physik im Sinne einer umfassenden Bezeichnung für alle Naturwissenschaften. Diese kurze Skizze der ersten zwei Kapitel, die als philosophisches Herzstück der Grundzüge angesehen werden können, spielt in Anschluss an Spinoza und Schelling auf zentrale frühromantische Positionen an, die der Schleiermacherschen Spinoza-Lektüre entsprechen und für Schleiermachers Vorlesung zur philosophischen Ethik grundlegend sind und daher hier noch einmal aufgelistet werden sollen: – Das Verhältnis von Universalität und Individualität, in dem die Individualität nicht das bestimmte oder differente Endliche, sondern das bereits in seiner Teilhabe am Ganzen erkannte und in diesem Sinne auch unendliche oder ewige Individuelle ist,

lichsten Überlegungen Schleiermachers zu Raum und Zeit finden sich in den Vorlesungsmitschriften von 1822. Gemäß seinem Ansatz, reale Formen des Wissens nur in Wechselverhältnissen zu denken, werden Raum und Zeit dort als zwei unterschiedliche Formen der „Stetigkeit“ bezeichnet, also als zwei Formen, das Kontinuum der absoluten Mannigfaltigkeit darzubieten. Alle Wahrnehmungen sind immer Wahrnehmungen in Zeit und in Raum, und zwar so, dass es keine Wahrnehmung des Raumes ohne Zeitwahrnehmung und keine Wahrnehmung der Zeit ohne Raum gibt. Vgl. KGA II/10, 2, 488.  Vgl. Steffens, Grundzüge, a.a.O. (Anm. 15), 9.  Vgl. ebd., 6.  Vgl. ebd., 24.  Vgl. ebd., 16 sowie 6 f.: „In der Vernunft erkennen, heißt daher nicht ein Sinnliches, Endliches, so wie es sich den leiblichen Sinnen entdeckt, als ein Sterbliches oder Vergängliches, sondern, ein jedes Einzelne in seinem Wesen, d. h. in der Potenz des Ewigen, erkennen. Ein jedes wissenschaftliche Bestreben, wenn es sich selbst nicht erkennt, ist, seinem Wesen nach, ein Bestreben, die Dinge, nicht wie sie in der Erscheinung, sondern wie sie, an sich in der Vernunft sind, zu erkennen; denn auch in einer jeden, selbst empirischen, Wissenschaft ist nicht das Besondere für sich, sondern nur die Identität beider das Reelle.“  Diese zweifache Unendlichkeit ist nicht zu verwechseln mit einer linearen Unendlichkeit in der Zeit, vgl. ebd., 8 f.

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das Verständnis des endlichen – oder in Steffens Vokabular: sinnlichen – Wissens als je eigene relative Mischung eines absoluten Gegensatzes der Materie und der Form, die Ableitung der Wissenschaftsarchitektur aus der unterschiedlichen Gewichtung der relativen Gegensätze⁴⁷ und die Vorstellung, dass die einzelnen Wissenschaften noch im Werden sind und dass hinter der Partialität der Wissenschaften und Wissensgebiete,wie sie sich uns in der „Moderne“ – also um 1800 – darstellen, eine Einheit des Wissens und mithin auch eine Einheit oder Universalität der Wissenschaften steht.⁴⁸

Für beide Denker grundlegend ist weiterhin, dass diese Universalität nicht durch Addition im Sinne zweier Teilmengen stattfinden kann, sondern dass jedes Element, jede Partialität dieser Universalwissenschaft für sich genommen am Ende ihrer Entwicklung selbst das Ganze darstellen muss. Dieser Gedanke findet eine besondere systematische Aufmerksamkeit in Schleiermachers Philosophie; er wird dort auf der Ebene des Systems der Wissenschaften als Verhältnis von Ethik und Physik, von Ethik und Geschichtswissenschaft, von Naturgeschichte und Physik untersucht, aber auch auf der Ebene der Binneneinteilungen einzelner Wissenschaften durchdekliniert: So findet die Ethik eine dreifache Darstellung in Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre, wobei jedes der drei Teilgebiete für sich genommen das gesamte Gebiet der Ethik muss erfassen können. Das Gleiche gilt für die zwei Auslegungsarten der Hermeneutik, denn grammatische und psychologische Interpretation sollen, jede für sich genommen, zwar nicht im realen, jedoch im ideal gedachten unendlichen Interpretationsprozess ein vollständiges Verstehen garantieren. Im Schlegelschen Vokabular, wie es insbesondere in den Aphorismen seiner Philosophischen Lehrjahre zu finden ist, wäre dies die Vision einer Universalwissenschaft, einer Universalpoesie oder einer Universalgeschichte, und man könnte

 Im Vergleich zu der von Steffens in seinen Grundzügen gegebenen Trias Naturgeschichte, Physik und (Natur‐) Philosophie stellt Schleiermacher jedoch bereits im frühen Brouillon zur Ethik Ethik und Physik einander gegenüber. Dass Steffens die Ethik nicht ausschließt, sondern hier lediglich eine spezifische naturphilosophische Perspektive verfolgt, mag aus einer kurzen Bemerkung in der Einleitung deutlich werden, in der Steffens die Identität von Denken und Sein zugleich als Identität von Freiheit und Notwendigkeit vorstellt. Steffens Trias ließe sich ohne Probleme in das Wissenschaftssystem, wie es sich in Schleiermachers Dialektik- und philosophischen Ethik-Vorlesungen darstellt, integrieren.  Für eine Ausführung der Spinozistischen Gedanken bei Schleiermacher vgl. Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin und New York 2005, insbesondere Kapitel 1.2.1., 28 – 38.

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mit Blick auf die Naturwissenschaft von einer Universalchemie, einer Universalphysik oder einer Universalgeologie sprechen. Wie Steffens den Grundzügen, so stellt auch Schleiermacher seinen Ethikvorlesungen eine Einleitung voran, die als eine Art philosophische Grundlegung verstanden werden kann. Bereits in der Einleitung des Brouillon zur Ethik von 1805/1806⁴⁹ bestimmt Schleiermacher die Ethik als Wissenschaft von den Handlungen der Vernunft auf die Natur oder Wissenschaft der Geschichte und Physik bzw. Naturwissenschaft als Wissenschaft von den Handlungen der Natur auf die Vernunft.⁵⁰ Anders als Steffens, der in seinen Grundzügen die Ethik außen vorlässt, obgleich sie in seiner Einleitung mitgedacht werden kann, versucht Schleiermacher bereits ab der frühen Vorlesungen von 1805/1806 zumindest eine Skizze des systematischen Verhältnisses dieser beiden „Realwissenschaften“ und somit eine alle Wissenschaften einigende Universalperspektive. Beide Wissenschaften verhalten sich als Realwissenschaften, also als Wissenschaften, die sich nicht mit dem „höchsten“ Wissen, sondern realem Wissen beschäftigen, komplementär zueinander. Dabei markieren sie nur vermeintlich zwei unterschiedliche Gegenstandsbereiche, denn im Prozess des werdenden Wissens, in dem sie sozusagen von zwei unterschiedlichen Seiten aufbrechen, müssen sie in ihrem fiktven Ende zusammenfallen: „Im endlichen Dasein sowol als im endlichen Wissen als Darstellung des Absoluten ist der Gegensaz nur relativ. Also in der Vollendung ist Ethik Physik und Physik Ethik.“⁵¹ Augenfällig im Vergleich der Einleitung der Ethik Schleiermachers mit Steffens Grundzügen ist ebenfalls eine unterschiedliche Argumentationsperspektive. Während Steffens ähnlich wie Spinoza eine „deduktive“ Methode wählt, indem er vom Unendlichen ausgeht, dem eine kompakte Darlegung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichen folgt, so geht es Schleiermacher in seinen Vorlesungen um die Schärfung der genuin menschlichen und mithin endlichen Zugangsweise zu diesem Wissen.  Das frühste erhaltene Schleiermachersche Manuskript zur Ethikvorlesung von 1804/05 umfasst nur die Tugendlehre, eine Nachschrift liegt bis dato nicht vor. Das mit „Brouillon zur Ethik“ betitelte Manuskript zur Vorlesung von 1805/06 enthält jedoch bereits die charakteristische Gliederung der Vorlesung in Einleitung, Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre.  Vgl. F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), hg.v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981, 3 f.: „Die Ethik ist die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. […]“ Sonach teilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten. Darum ist Ethik Wissenschaft der Geschichte d. h. der Intelligenz als Erscheinung.“ Vgl. ebd., 7: „Die „theoretische Philosophie [Naturphilosophie, S.S.] zeigt den Entwicklungsgang des producirens den Naturgesetzen der Erde unterworfen.“  F. Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg.v. H.-J. Birkner, Hamburg 1990, 8.

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Nicht die Einheit von Vernunft und Natur als ad quo und ad quem, sondern der Prozess der sich im Endlichen unendlich realisierenden Vernunft steht im Zentrum; und mit ihm die zentrale Frage, die sich bereits in Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) andeutet, wie sich aus dem Prozess heraus, aus der ihm geschuldeten endlichen Perspektive, der Prozess selbst bereifen, begründen und orientieren lässt. Dementsprechend beginnt auch die Einleitung des Brouillon zur Ethik von 1805/06 mit der Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit, also als Frage nach der Legitimation ihrer Behauptungen und der Suche nach ihrem Wesen, Form und Umfang.⁵² Dieser Ansatz, der im Brouillon nur knapp und streckenweise kryptisch notiert ist, wird in den späteren Ethikvorlesungen von 1812/13 und 1816/17 präzisiert, die mit der Problematik eines nur ausschnitthaften realen Wissens einsetzt.⁵³ Die eigentliche Begründung ihrer Wissenschaftlichkeit erfährt die Ethik jedoch in Schleiermachers Dialektik, die er erst ab 1811 bis 1831 in Berlin zu lesen begann und auf die er ab 1812/13 auch explizit in der Einleitung seiner Ethikvorlesung verweist. Als Wissenschaft vom Wissen oder Wissenschaftslehre angelegt, ist sie der Ort, an dem Schleiermacher systematisch nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Orientierung im Endlichen fragt: Was kann der Mensch, ausgehend von seinem realen Wissen, das sich als ewiges Streitgespräch einander entgegen gesetzter Meinungen darstellt, über das Wissen als Wissen aussagen? Nicht im Postulat Spinozistischer Grundüberzeugungen, sondern ansetzend an einer Analyse den Formen des realen Wissens, entwirft Schleiermacher die Charakteristik der sich im Endlichen unendlich realisierenden Vernunft und trifft dabei inhaltlich mit vielen Aussagen aus Steffens Einleitung der Grundzüge zusammen. Das Ausbleiben einer mit Steffens vergleichbar kompakten philosophischen Darlegung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichen in den Einleitungen von Schleiermachers Ethikvorlesungen verweist also nicht unbedingt nur darauf, dass sich Schleiermacher eine solche Darlegung im mündlichen Rekurs auf Steffens ersparte, sondern darauf, dass eine solche Grundlegung für Schleiermacher methodisch anders zu entwickeln wäre. Indem die Dialektik mit dem Anspruch einer allgemeinen Wissenschaftslehre auftritt, ist sie nicht nur für die Ethik, sondern ebenso für die Physik methodisch maßgebend, sodass sich von Schleiermachers Dialektik aus vermittelt auch Aussagen über die Naturwissenschaft treffen lassen. Die Frage ob diese mit Steffens Ausführungen der Grundli Friedrich Schleiermacher, Brouillon, a.a.O. (Anm. 50), 3 – 11.  Friedrich Schleiermacher, Ethik, a.a.O. (Anm. 51), 5: „1. Die Mitteilung einer einzelnen bestimmten Wissenschaft kann keinen rechten Anfang haben. 2. Die einzelne Wissenschaft kann nicht einen unmittelbar gewissen Saz an ihrer Spitze haben.“

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nien zusammenfinden, soll am Ende dieser Überlegungen noch einmal aufgenommen werden.

3 Quadruplizität: Analogie versus Wechselwirkung Nach der naturphilosophischen Grundlegung wendet sich Steffens in den Kapiteln drei bis neun seiner Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft den naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften zu, deren Einheit und wechselseitige Entsprechung vor dem Hintergrund der naturphilosophischen Grundlegung entwickelt werden soll. Dieser weitaus umfangreichere Teil des Werkes ist aus verschieden Gründen eine schwierige Lektüre, von der ich hier nur einen kurzen Eindruck vermitteln kann, indem ich auf ihre grundsätzliche Problematik verweise. Eine erste Schwierigkeit liegt in der von Steffens praktizierten Methode der Analogie. Denn die Einheit der Wissenschaften soll sich den Prämissen der erste Kapitel folgend ja gerade nicht aus einem komparativen oder äußeren Vergleich ergeben, in dem einzelwissenschaftliche Ergebnisse miteinander abgeglichen werden, so dass sie sich wechselseitig falsifizieren oder verifizieren könnten, sondern sie zielt auf eine den Wissenschaften zugrunde liegende, tiefere Einheit. Was Steffens dem Leser nun darbietet, ist der Versuch einer analogischen Verknüpfung, die sich quer durch alle Naturwissenschaften zieht und Geologie, Planetenkunde, Geometrie, Elektrizitätslehre, Magnetismus, Physiognomie, Chemie und Rassenkunde miteinander verbindet. Das Schema, anhand dessen diese Analogie durchgeführt wird, ist das einer Quadruplizität, die sich gemäß einer Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos im Kleinen wie im Großen findet und in jedem einzelnen Endlichen enthalten sein muss. Eine durchgehende Markierung oder Benennung dieser Quadruplizität sind die vier Himmelsrichtungen Norden, Süden, Westen und Osten, die als allgemeines Vergleichsschema aller anderen Quadruplizitäten eingesetzt werden und zwei Achsen bilden, die als Nord-Süd- und West-Ost-Achsen auch mit Sein und Werden, mit einem magnetischen und einem elektrischen Gegensatz, mit Schwere und Licht, mit Fläche und Linie gleichgesetzt werden. In diese durch die Achsen bestimmten Quadruplizität lassen sich nun beispielsweise die vier Elemente Erde, Wasser, Luft, Feuer, die vier chemischen Elementen Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff, die Grundfarben, einzelne historischer Epochen oder schließlich auch vier Grundtypen der Rassen- und Charakterkunde einsortieren. Das hier gegebene Schema (Abb. 1) ist alles andere als eine Zusammenschau aller Themenbereiche, vermittelt jedoch eine Vorstellung von der Heterogenität derjenigen Themen und Wissensgebiete, die in diesem quadruplizitären Kosmos zusammengebunden werden. Um eine Zusammenschau von Wissensgebieten und

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Abb. 1

wissenschaftlichen Einzelergebnissen vornehmen zu können, die empirisch und theoretisch weit auseinander liegen und/oder ohne jede einsichtige Verbindung untereinander sind, bedient sich Steffens immer wieder einer metaphorischen Sprechweise, von denen die folgenden Zitate einen Eindruck vermitteln sollen: „Die bestimmte Linie eines Planeten ist die Nord-Süd-Linie – ihre physikalische Achse. Die unbestimmte, nie seyende, immer entstehende Linie eines jeden Planeten, ist die OstwestLinie, und weil sie auf einem jeden Punkte entsteht und nirgends ist, so wird sie durch eine Zirkellinie – den Äquator des Planeten bezeichnet. Die Nordsüd-Polarität steht unter der Potenz der Schwere, und verliert sich in der Masse des Planeten, als das Seyende, Gebildete. Die Ostwest-Polarität steht unter der Potenz des Lichtes, verliert sich in das Werden des in Bildung Begriffenen.“⁵⁴ „Wie der Sauerstoff und Wasserstoff die Grade der Abweichung unter der Potenz der Schwere, do deuten die Farben die Grade der Abweichung unter der Potenz des Lichts an, so,

 Vgl. Steffens, Grundzüge, a.a.O. (Anm. 15), 41.

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daß die rothe Seite des prismatischen Bildes die oxydable oder ostlich abweichende, die violette Seite aber die desoxydable oder westlich abweichende Seite zeigt.“⁵⁵ „Das südliche Princip der Erde ist in seiner Freiheit ein ursprünglich westlich abweichendes (von basischer Natur) als ein ursprünglich expandirtes, und als solches das passive indifferente Element der Luft. Alle Aktivitäten in der Luft ist durch das Ost-West-Princip vermittelt, und alle Differenzen als Keime des Individualisirens in dynamischer Verwirrung in einander verflochten.“⁵⁶

Eine analogische oder auch eine metaphorische Sprechweise, in der verschiedene Wissenschaftssprachen ineinander verwoben und durcheinander ersetzt werden, entspricht natürlich durch und durch dem frühromantischen Duktus und ist ein wesentliches Stilmerkmal u. a. der Athenaeum-Fragmente. Allerdings werden dort naturwissenschaftliche Terminologien, Schreibweisen und Modelle als Metaphern für poetologische und philosophische Prozesse verwendet. Steffens, der nicht zuletzt von Schelling, aber auch von Goethe aufgrund seiner profunden naturwissenschaftlichen Kenntnissen als Mitstreiter geschätzt wurde, nimmt diese Maxime der Grenzüberschreitung nun nicht als Einbahnstraße; er überträgt Begriffe wie Individualität und Universalität auf Naturgeschichte und Naturwissenschaft und vermischt – darin liegt eine weitere Schwierigkeit von Steffens‘ Vorgehen – Analogiedenken und naturwissenschaftliche Erklärung. Das Analogiedenken wird nicht als Analogiedenken gekennzeichnet und ist derart mit einer detailreichen Darstellung naturwissenschaftlicher Theorien verknüpft, dass ihm eine naturwissenschaftliche Erklärungsleistung zugesprochen wird. Wie abwegig oder heuristisch wertvoll oder sogar visionär die auf diesem Wege eines quadruplizitären Denkens gewonnenen Einsichten Steffens‘ aus wissenschaftlicher Perspektive sind,⁵⁷ dazu bedarf es profunder wissenschaftshistorischer Kenntnisse, über die ich nicht verfüge; hier besteht ein Forschungsdesiderat, das auch eine zureichende Lektüre der Grundzüge erschwert. Ein fruchtbarer Weg zu einer solchen wissenschaftshistorischen Rekonstruktion des zeitgenössischen Diskurses und Beurteilung der Steffensschen Aphorismen führt sicherlich über die Texte in der von Schelling herausgegebenen Zeitschrift für spekulative Physik. Zu diesen Texten, die in ihrer Brückenstellung zwischen na-

 Vgl. ebd., 53.  Vgl. ebd., 54.  So weist z. B. Klaus Stein (Stein, Naturphilosophie, a.a.O. – Anm. 23 –, 15) darauf hin, dass die Entdeckung der Oxidations- und Desoxidationsprozesse die Aussicht bei den Naturphilosophen nährte, „diese wiederum als Resultat des Zusammenwirkens sie begleitender magnetischer und elektrischer Kräfte zu verstehen und so endlich Verbrennung, Magnetismus und Elektrizität in einem ‚totalen dynamischen Prozeß‘ zu verschmelzen mit dem Ziel einer einheitlichen und universalen Naturtheorie.“

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turwissenschaftlichem Diskurs und spekulativer Philosophie wie eine Art naturwissenschaftlicher Kommentar zu Steffens Aphorismen wirken, gehören Texte von Steffens selbst wie Über den Oxidations- und Desoxydations-Prozeß der Erde. ⁵⁸ Auffällig ist die Nähe von Steffens Grundzügen jedoch zu Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie, ein Text, der 1801 in der Zeitschrift für Spekulative Physik zum Abdruck kam und thematisch Chemie, Magnetismus, Elektrizität, Phylo- und Ontogenese, Geschlechterkunde, Planetenkunde etc. vor dem Hintergrund einer polaren Struktur (plus-minus, männlich-weiblich, Tier-Pflanze etc.) zu einer umfassenden universalen Naturtheorie zusammen denkt. Auch hier finden sich ähnlich gewagte Analogien. So heißt es beispielsweise im § 157: „Das Tier ist in der organischen Natur das Eisen, die Pflanze das Wasser. – Denn jenes fängt von der relativen Trennung (der Geschlechter) an. Dieses endet darin. 1. Das Tier zerlegt das Eisen, die Pflanze das Wasser. 2. Das weibliche und männliche Geschlecht der Pflanze ist der Kohlenstoff und Stickstoff des Wassers (§ 95 Erläuterung 13). Folgt unmittelbar.“⁵⁹ Indem Schelling seinen in 159 Paragraphen strukturierten Text als spekulative Ableitung aus der Identitätsphilosophie anlegt, die zugleich mit Hinweisen auf Experimente und Versuche operiert, mag dieser Text, wie andere Texte aus der Zeitschrift für spekulative Physik eine Schlüsselfunktion zum Verständnis und zur inhaltlichen Beurteilung des quadruplizitären Kosmos‘ der Steffensschen Grundzüge einnehmen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Steffens für die Grundzüge die Methode der Analogie wählt und eben keine Form der spekulativen Ableitung und empirischen Begründung. Diese Methodik des analogischen Denkens provozierte nicht nur die empirisch arbeitenden Naturwissenschaftler (wie die Kollegen in Halle) zu verbalen Entgleisungen und wurde von Hegel bissig kommentiert,⁶⁰ sondern fand auch im Romantikerkreis selbst eine skeptische Beurteilung. In der ihm eigenen salopp-würzigen Art kommentiert F. Schlegel ähnliche Versuche von Novalis in einen Brief an F. Schleiermacher bereits im Juli

 Henrich Steffens, Über den Oxidations- und Desoxydations-Prozeß der Erde, in: Zeitschrift für spekulative Physik, hg.v. F.W.J. Schelling, Bd. 1, Hamburg 2011, 93 – 110.  F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, in: Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. 2, Hamburg 2011, 434.  G.W.F. Hegel polemisiert in einem Aphorismus aus der Jenaer Zeit (zitiert nach: Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen, a.a.O. – Anm. 23 –, 107): „Wie es eine dichterische Geniesprache gegeben hat, so scheint gegenwärtig die philosophische Genieperiode zu sein. Etwas Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff zusammenzukneten, und in ein von Andern mit Polarität usw. beschriebenes Papier gesteckt, mit einem hölzernen Zopf der Eitelkeit usw. Raketen in die Luft geschossen, meinen sie, das Emphyreum darzustellen. So Görres, Wagner u.A. Die roheste Empirie mit Formalismus von Stoffen und Polen, verbrämt mit vernunftlosen Analogien und besoffenen Gedankenblitzen.“

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1798: „Hard.[enberg] ist dran, die Religion und die Physik durch einander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührey werden!“⁶¹ Ein sehr deutlicher Kommentar direkt an Steffens‘ Adresse kam von Goethe, der der durch Schelling vermittelten Naturphilosophie und dem ihr eigenen analogischen Denken zunächst sehr positiv gegen überstand und diese zu einer eigenen wissenschaftlichen Symbolsprache auszubauen versuchte.⁶² Steffens Grundzüge jedoch trieben es in dieser Hinsicht zu wild; sehr offen schreibt er an Steffens im September 1806, dass ihn die Lektüre in einen „bösen Humor“ versetzt habe und er das Ganze für einen „Halbscherz eines geist- und wissreichen Mannes“ halte. Weiter heißt es in direktem Kommentar zur zentralen quadruplizitären Struktur: „Bekenn’ ich es aufrichtig! Anfangs wars mir ein peinlich Gefühl die ganze tausendfach bewegliche Erdennatur, von deren zwar partiellem, doch freyem Anschaun ich soeben zurückkehrte, an dem Kreuz der vier Weltgegenden zappeln zu sehen.“⁶³ Und in einem einen Monat zuvor am 2. August 1806 an Wilhelm von Humboldt gesendeter Brief äußert sich Goethe noch deutlicher: „Die Formeln der Mathematik, der reinen und angewandten, der Stronomie, Cismologie, Geologie, Physik, Chemie, Naturgeschichte, der Sittlichkeit, Religion und Mystik werden [in den Steffensschen Grundzügen, S.S.] alle durcheinander in die Masse der metaphorischen Sprache eingeknetet, oft mit gutem und großen Sinn genutzt; aber das Ansehn bleibt doch immer barbarisch.“⁶⁴ Auch in Schleiermachers Ethikvorlesungen findet sich seit den frühen Notizen zur Ethikvorlesung von 1804/05 sowie in dem Brouillon zur Ethik von 1805/06 eine quadruplizitäre Struktur, die im Laufe der Vorlesungsjahre zu ihrem bestimmenden architektonischen Grundschema ausgebaut wird. Anders als bei Steffens, jedenfalls soweit sich mir der Steffenssche Text erschließt, wird diese quadruplizitäre Struktur in Schleiermachers philosophischen Vorlesungen jedoch in ihrer Herleitung einsichtig und im Gegensatz zu Steffens nicht als Analogieschema verwendet. Die quadruplizitäre Architektur des Schleiermacherschen Ethik, innerhalb derer sich der Prozess sittlicher Wechselwirkung vollzieht, ergibt sich aus der grundlegenden Zweiteilung aller vernünftigen Tätigkeiten in Erkennen und

 KFSA 24, 156.  Zum Verhältnis Goethe Steffens vgl. Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen, a.a.O. (Anm. 23), 106 ff., sowie Fröschle, Goethes Verhältnis, a.a.O. (Anm. 23), 96 f.  Allerdings endet der geheime Rat mit einem versöhnlichen Ton: „Übrigens bleiben Sie überzeugt, daß ich an allem, was Sie lieben und leisten, wahren und lebhaften Antheil nehme und lassen mich Ihrem Andenken empfohlen seyn“ (Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 30, Weimar 1905, 90).  Zitiert nach Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen, a.a.O. (Anm. 23), 108.

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Handeln bzw. Symbolisieren und Organisieren, die – jeweils als ein eher individuelles oder identisches verstanden – sich in ein je individuelles und allgemeines Symbolisieren und Organisieren teilen (siehe Abb. 2). Diese Quadrupelstruktur lässt sich nun auf allen drei Ebenen der Ethik, der Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre untersuchen und findet in der Güterlehre zu einer quadruplizitären Struktur gesellschaftlicher Sphären, die diesen vier vernünftigen Tätigkeiten entsprechen: Staat, Kirche/Kunst, freie Geselligkeit und Akademie.

Abb. 2

Werfen wir noch einmal einen Blick auf Schleiermachers Dialektikvorlesungen. Ähnlich wie Steffens‘ Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft setzt auch Schleiermachers Dialektikvorlesung mit einer Art Bestandsaufnahme einer in sich gespaltenen und differenten Wissenschaftslandschaft ein. Anders als bei Steffens wird diese Bestandsaufnahme jedoch zum methodischen Ausgangspunkt der Dialektik und verfolgt eine Fragestellung, die Steffens in seinen Grundzügen kaum berührt, geschweige denn philosophisch untersucht: Was können wir – ausgehend von einem dem Menschen eigenen endlichen und beschränkten Wissen im ewigen Streit der Meinungen, angesichts in sich zerstrittener Schulen und miteinander konkurrierender Theorien – überhaupt über das Wissen sagen und wie lässt sich der Standpunkt dessen, der über Wissen spricht, selbst rechtfertigen und beschreiben? Konstatiert Steffens in Anschluss an Spinoza zwei Erkenntnismethoden, eine intellektuelle Anschauung und eine sinnliche, endliche Anschauung, so klärt er jedoch weder ihr Verhältnis noch ihre Form und legt keine Rechenschaft über den Standpunkt des eigenen Philosophierens ab, der meines Erachtens beide Erkenntnisformen in der Durchführung der Kapitel drei bis neun miteinander vermischt. Schleiermachers Dialektik hingegen bekennt sich zum endlichen, historischen, bedingten Wissen und fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit,

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diesen Streit der Meinungen in progressiver Annäherung zu schlichten. Sie wird somit zu einer Methodenlehre des Wissens, die dem Anspruch nach für beide Realwissenschaften, Physik und Ethik, gelten muss, und sie schlägt mit diesem Bekenntnis zum Endlichen und der Frage nach einer allgemeinen wissenschaftlichen Methodik einen ganz anderen Weg ein als Steffens. Nicht in der Abstraktion von, sondern in der Hinwendung zu den einzelnen konkreten historischen und kulturell bedingten Erscheinungen des Wissens kann der Weg zu einer universalen Gültigkeit der Wissenschaften gehen; und nicht in einer analogischen Klammer wie bei Steffens, sondern in einem wechselseitigen Abgleich der jeweiligen konkreten Wissensbestände können sich die einzelnen Wissenschaft zu ihrer eigenen Vollkommenheit langsam bilden. Dass es für diese Wechselwirkung der Wissenschaften, der Wissensgebiete und Wissensformen als permanenten Abgleich des Wissens keine mechanischen Regeln zu befolgen gibt, drückt sich darin aus, dass Schleiermacher auf dem Kunstcharakter der Dialektik beharrt, der zwar eine Technik der Gesprächsführung meint, jedoch im konkreten Fall eines divinatorischen Momentes bedarf, das je neu gefunden werden muss. Im Denken von Analogien liegt ein großes divinatorisches oder heuristisches Potential, das zu heben und zu beurteilen im Blick auf Steffens vor allem Wissenschaftshistoriker aufgerufen sind. Mit Schleiermacher Dialektik gegen Steffens argumentierend kann dieses Potential aber wissenschaftlich nur fruchtbar werden, wenn es a) klar als Analogie oder Metapher vorgestellt oder aber b) zu Hypothesen umgeformt und einer strengen komparatistischen Prüfung unterworfen wird, denn jeder heuristische Entwurf muss sich, will er dem wissenschaftlichen Charakter genügen, in einem komparativen Verfahren bewähren.

4 Fazit Steffens kann für die gemeinsame Hallenser Zeit als romantischer Mitstreiter angesehen werden, mit dessen romantisch-Spinozistisch gefärbten Grundeinsichten Schleiermacher übereinstimmte. Steffens‘ Naturphilosophie, wie sie sich auf knappen Raum der Einleitung und der ersten zwei Kapitel der Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft darstellt, mag Schleiermacher als Zusammenfassung jener gemeinsamen romantischen Grundeinsichten gedient haben, an die sich in seinen Ethikvorlesungen anknüpfen ließ. Die scheinbar in beiden Ansätzen zentrale Quadruplizitätsstruktur, die oberflächlich den Eindruck der Entsprechung verstärkt, nimmt meines Erachtens eine ganz unterschiedliche systematische Funktion ein.

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Schleiermachers Dialektikvorlesungen stimmen zwar mit den in den ersten Kapiteln der Grundzüge formulierten Grundeinsichten überein, gehen als Methodenlehre des Wissens jedoch einen neuen, von Steffes nicht beschrittenen Weg und bieten eine Lösung für die in Steffens‘ Grundzügen widersprüchlich und nicht wirklich gelöste Frage danach, wie sich Wissen generieren lässt und wie sich das Wissen einer als ideales Ziel vorgestellten Universalwissenschaft annähern kann. Die innige Freundschaft, die beide verband, ist auch noch in den anstrengenden Jahren existentieller Unsicherheit, die auf die Auflösung der Hallenser Universität folgen, zu spüren. Die Entfremdung, die sich ab den Jahren 1811 auch im Tonfall der seltenen Briefe niederschlägt, und die eng mit Steffens politischer Gesinnung in Kontext der Demagogenverfolgung, seiner kirchenpolitischen Haltung sowie seiner religionsphilosophischen Position im Streit um die Kirchenunion zusammenhängt, mag jedoch bereits früher begonnen haben. Aus den Briefen von Henrich Steffens sowie aus den Briefen seiner Frau Johanna an Schleiermacher geht hervor, wie groß die Erwartungen waren, die Steffens in Schleiermacher setzte, um nach Berlin berufen zu werden, und wie genau er Schleiermachers Karriere und seine wissenschaftliche Reputation mit der seinen verglich. Neben diesen politischen, religionsphilosophischen und theologischen Differenzen werden vom Standpunkt des ausdifferenzierten philosophischen Systems Schleiermachers aus auch die grundlegenden philosophischen Differenzen immer deutlicher sichtbar, die bereits in den Schleiermacherschen Ethikvorlesungen der Hallenser Zeit und Steffens Grundzügen angelegt sind. Eine formelartige vorläufige Bilanz der Beziehung beider Denker könnte lauten: Herzensfreunde: ja; philosophische „Waffenbrüder“, die in grundlegenden romantischen Positionen übereinstimmten: ja; Symphilosophen: nein.

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„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“ Politik, Krieg und Zeitdeutung in Schleiermachers Hallenser Briefwechsel I Am 5. April 1795 machte das Königreich Preußen in Basel seinen Frieden mit der französischen Republik. Die anderen Mächte bekämpften die junge Republik weiter zu Wasser und zu Lande, am Rhein und in Ägypten, in Italien und Süddeutschland; Preußen hielt sich neutral, überließ den Franzosen das linke Rheinufer und kümmerte sich lieber um seine neuen Erwerbungen in Polen. Die Dividende dieser Politik waren ein Jahrzehnt Frieden für Norddeutschland und Preußen und weitere preußische Gebietsgewinne beim Reichsdeputationshauptschluss von 1803.¹ Seit Ende 1804 zeichnet es sich immer mehr ab, dass dieser Zustand nicht ewig währen könne: Eine neue antifranzösische Koalition bildet sich, es ist die dritte, bestehend aus England, Russland, Schweden, Neapel und Österreich. Die Koalition wirbt um den Beitritt Preußens, Preußen aber zeigt sich zu einer klaren, kraftvollen Außenpolitik zusehends unfähig. Rivalität der Minister untereinander, unkoordinierte Geheimdiplomatie hinter deren Rücken, der Wunsch nach dem dauerhaften Besitz des eigentlich englischen Kurfürstentums Hannover, die Entschlusslosigkeit des Königs, all das trägt zur Lähmung bei. Frankreich schafft durch den Sieg bei Austerlitz am 2. Dezember 1805 Fakten, überlässt Preußen im Frieden Hannover und entzweit es damit endgültig mit England. Russland und Schweden sind über Preußen verbittert, England verhängt eine für die Wirtschaft ruinöse Handelsblockade, Frankreich provoziert, Preußen fühlt sich von allen zugleich in seiner Existenz bedroht. Schließlich gewinnt die antifranzösische Partei die Oberhand; Preußen entscheidet sich Ende Juli 1806 zum Krieg gegen Frankreich. Der Krieg fängt Anfang Oktober an und ist schon zwei Wochen später entschieden, zu Ungunsten Preußens.²  Bernd Wunder, Europäische Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution 1789 – 1815, Stuttgart 2001, 87– 101.  Brendan Simms, The Impact of Napoleon, Cambridge 1997, 159 – 318; Wunder, Europäische Geschichte, a.a.O. (Anm. 1), 105 – 109.

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Der Weg Preußens in die Niederlage deckt sich zeitlich mit Friedrich Schleiermachers theologischer Professur in Halle; dass die Professur schon nach zwei Jahren ein Ende hatte, war eine direkte Folge der Niederlage. Auch Schleiermachers Briefpartner waren auf vielfache Weise in die Ereignisse verwickelt. Die Briefe sind ein interessantes Zeitdokument; in ihnen spiegelt sich unmittelbar, oft noch unreflektiert, wie sich die politischen und kriegerischen Umbrüche auf das alltägliche Leben auswirkten, wie sie erlebt und durchlitten wurden, wie sie gedeutet wurden.

II Bis Mitte 1806 taucht die Politik nur vereinzelt in dem Briefwechsel auf, so wie ein Wetterleuchten, das langsam näher kommt: Im Mai 1805 erfährt Schleiermacher, dass sein Studienfreund Carl Gustav von Brinckmann, inzwischen schwedischer Diplomat, wegen der Verstimmungen zwischen Schweden und Preußen aus Berlin abberufen werden solle.³ Im September 1805 berichtet der Freund Joachim Christian Gaß, als Feldprediger in Stettin nahe der Grenze zu Schwedisch-Pommern stationiert, er und seine Frau seien in Unruhe und Verwirrung, sein Regiment werde mobilgemacht, und die Frau stehe kurz vor der Niederkunft. Er selbst könne sich freilich nicht vorstellen, dass es wirklich Krieg gebe, denn so toll die Engländer und Schweden sich auch gebärdeten, einen weiteren Feind könnten sie doch nicht gebrauchen.⁴ Schleiermacher tröstet Gaß, der Krieg werde ja frühestens im nächsten Frühjahr ausbrechen.⁵ Im Herbst 1805 schreibt er den Freunden auf Rügen auf der anderen Seite der Grenze von der trüben Ungewissheit über Krieg und Frieden.⁶ (Von den Hungerunruhen in Halle im Sommer 1805⁷ steht im Briefwechsel übrigens kein Wort.) Im Dezember 1805 rückt der Krieg dann bedrohlich nahe, auch wenn Preußen einstweilen nicht beteiligt ist: Onkel Ernst Stubenrauch berichtet von russischen und preußischen Husaren in Landsberg an der Warthe, die russischen Offiziere hätten auf der Ressource getafelt und getanzt,⁸ und der Reeder Christlieb Ben-

 Brief 1968 (30. 5.1805) an Carl Gustav von Brinckmann (KGA V/8, 213 f.).  Brief 2042 (28.9.1805) von Joachim Christian Gaß (KGA V/8, 328 f.).  Brief 2072 (16.11.1805) an J.Ch. Gaß (KGA V/8, 368).  Brief 2046 (9.10.1805) an Henriette von Willich (KGA V/8, 335).  Vgl. Henrich Steffens, Was ich erlebte, Bd. 5, Breslau 1842, 181 f.; vgl. dazu Simms, The Impact, a.a.O. (Anm. 2), 270 f.  Brief 2074 (20.11.–5.12.1805) von Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch (KGA V/8, 370); vgl. Brief 2112 (23.1.–3. 2.1806) von S.E.T. Stubenrauch (KGA V/8, 425).

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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jamin Hering im hinterpommerschen Stolp schreibt, seine Schiffe transportierten jetzt russische Kanonen und Kosakenpferde.⁹ Aus Oberschlesien bekommt Schleiermacher einen Brief von Fritz Weichart, dem Verlobten seiner Halbschwester und Haushälterin Nanny: Im nahegelegenen Mähren, in der Nähe von Brünn, sei eine schreckliche Schlacht vorgefallen. (Gemeint ist die berühmte DreiKaiser-Schlacht von Austerlitz.) „Den Nachrichten zu Folge sollen 50000 Mann von beiden Theilen geblieben sein; Kaiser Napoleon und wie man sagt General Kosciusko haben die Franzosen, die Rußen und Oestreicher aber, der Kaiser Alexander, Grosfürst Constantin und General Kutusow commandirt, lezteren zählt man unter den Todten, die Schlacht dauerte vom 29ten [November] bis 2ten [Dezember] Abends. Schon wichen die Franzosen aber ein unerwartetes Hülfscorps kam den siegenden Rußen in die Flanke, und dadurch entschied sich der Sieg für Frankreich. Dem Kaiser Alexander soll ein Pferd unter ihm erschoßen worden sein. […] – In Bieliz ist ein immer währender Zug von Flüchtigen, selbst die Kaiserin ist Vorgestern mit 7 Kindern nach Cracau geflüchtet, die Rußen ziehen sich zurük. – Nach heutigen Nachrichten haben 13 Regimenter Oestreicher das Gewehr weggeworfen, darüber ist der RußenKaiser, der selbst verwundet ist, so aufgebracht, daß er einen Waffenstillstand nachgesucht, und keine Hand mehr an den Degen legen will.“¹⁰

Noch im Januar 1806 berichtet Weichart, im österreichischen Schlesien seien Dörfer und Krankenhäuser voll mit Deserteuren und Invaliden, die eingeschleppten Krankheiten hätten viele dahingerafft.¹¹ Die von Napoleon diktierte Neuordnung wird im Januar von dem Berliner Altphilologen Georg Ludwig Spalding bissig kommentiert: Der Emporkömmling und Quasi-Kaiser habe seinen eigenen Dreikönigstag veranstaltet und für Süddeutschland drei neue Könige installiert, und den Badener als den Mohrenkönig habe er passenderweise mit einer kreolischen Negerin verheiratet.¹²

 Brief 2100 (21.12.1805) von Christlieb Benjamin Hering (KGA V/8, 400).  Brief 2090 (9.12.1805) von Fritz Weichart (KGA V/8, 386 f.).  Brief 2131 (29.1.1806) von Weichart (KGA V/8, 450).  Brief 2113 a (7.1.1806) von Georg Ludwig Spalding (KGA V/9, 713). Die Rede ist von Großherzog Karl von Baden und Napoleons Stieftochter, Prinzessin Stéphanie de Beauharnais, deren Mutter Josephine, eine geborene Tascher de la Pagerie, aus den karibischen Besitzungen Frankreichs stammte. Vgl. auch Brief 2112 (23.1.–3. 2.1806) von S.E.T. Stubenrauch (KGA V/8, 425 f.); Brief 2159 (8.–15. 3.1806) von Spalding (KGA V/8, 487). Dort berichtet Spalding auch von einer ergebnislosen dänischen diplomatischen Mission in Berlin.

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III Schleiermacher hat Gaß in Stettin im Januar 1806 noch einmal beruhigt: Die Kriegsgefahr sei jetzt vorüber, und Gaß’ Regiment werde bald heimkehren.¹³ Für die folgenden Semesterferien war eigentlich eine Reise zu den Freunden nach dem damals schwedischen Rügen geplant.¹⁴ Aber dann sagt Schleiermacher die Reise ab: Ihm fehle das Geld, und man sage, eine Okkupation Rügens durch Preußen stehe unmittelbar bevor.¹⁵ Also doch Krieg? Gaß muß im Mai 1806 mit seinem Regiment gegen die Schweden ausrücken, und seine Frau schreibt an Schleiermacher: „Es geht bunt zu in der Welt und scheint mir alles so verwikkelt daß ich mich wohl gar zuweilen unterfange auch Politik zu sprechen, und das Garn zu entwirren strebe, welches die hohen Mächte so schreklich zerzaust haben. Ob es noch wohl einmahl wieder glatt wird und sich wieder in die gewohnte Ordnung schmiegen und tressiren läßt? Ich zweifele gar sehr, und mir wird bange für eine Zeit die vielleicht kommen muß wenn es noch einmahl wieder besser oder vielleicht nur Anders werden soll. Lachen Sie gar nicht über mich, die grossen politischen Angelegenheiten greiffen gar mächtig in die Ruhe und den Frieden meines häuslichen Lebens, und was die gewaltigen Franzosen nicht vermogten haben die Schweden mit leichter Mühe volbracht, meinen Mann beritten gemacht. Ich hoffe zwar es wird eine kurze Trennung sein, denn die eigensinnigen Schweden werden sich hoffentlich nicht gelüsten lassen unsern friedfertigen König im Ernst an zu greiffen, und ich werde meine Kinder wohl nicht gefehrdet sehn in meiner Vaterstadt – aber ich glaube immer dieser kleine Anfang kann sehr bedeutende Fortschritte machen, und ich sehne mich jezt aus Verhältnissen zu kommen die anfangen drükkend für mich zu werden.“¹⁶

Es ist die Zeit, da man sich innerlich auf einen Krieg einstellt; nach einem Besuch in Berlin schreibt Schleiermacher Gaß, die ganze Stadt sei über den schimpflichen Frieden und die allzu große Friedfertigkeit des Königs missvergnügt.¹⁷ Der anvi-

 Brief 2111 (5.1.1806) an J.Ch. Gaß (KGA V/8, 422).  Vgl. Brief 2122 (vor dem 17.1.1806) von Charlotte Schleiermacher (KGA V/8, 435); Brief 2136 (4. 2.1806) an J.Ch. Gaß (KGA V/8, 57 f.); Brief 2142 (10. 2.1806) an Georg Andreas Reimer (KGA V/8, 465); Brief 2150 (vor dem 28. 2.1806) an Ehrenfried von Willich (KGA V/8, 477); Brief 2152 (Februar 1806) an Charlotte Pistorius (KGA V/8, 482); Brief 2165 (15. 3.1806) von G.A. Reimer (KGA V/8, 497).  Brief 2168 (21. 3.1806) an Charlotte von Kathen (KGA V/8, 501); Brief 2170 (24. 3.1806) an E. und H. von Willich (KGA V/8, 503 f.).  Brief 2188 (10. 5.1806) von Wilhelmine Gaß (KGA V/9, 25 f.). Vgl. Brief 2191 (Ende Mai/Anfang Juni 1806) an H. von Willich (KGA V/9, 33 f.), wo Schleiermacher kriegerisches Unglück für Rügen befürchtet.  Brief 2180 (25.4.1806) an J.Ch. Gaß (KGA V/9, 11). Über den Erwerb Hannovers heißt es dort, es tue Halle zum Glück keinen Abbruch, dass auch die Universität Göttingen jetzt preußisch sei.

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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sierte Gegner ist aber nicht Schweden, das den Preußen in Pommern weiter bewaffnet gegenübersteht, oder England mit seinem gegen Preußen verhängten Embargo, sondern Frankreich.¹⁸ Im Juni äußert Schleiermacher zum ersten Mal die Erwartung, es stehe ein allgemeiner Kampf um Deutschland Ehre und Befreiung aus der französischen Sklaverei bevor, ein reinigender Gewitterschlag. An die um die Zukunft besorgte Charlotte von Kathen auf Rügen schreibt er, nicht die Preußen, sondern die Franzosen würden wohl die schöne Insel angreifen. „Und liebe Freundin wenn dann Ihr König den Gedanken einer ernstlichen Vertheidigung faßt dann fassen Sie auch rechten Muth, und geben Sie Alles hin um Alles zu gewinnen, und rechnen Sie Alles was Ihnen erhalten wird für Gewinn. Bedenken Sie daß kein Einzelner bestehen daß kein Einzelner sich retten kann, daß doch unser aller Leben eingewurzelt ist in Deutscher Freiheit und deutscher Gesinung, und diese gilt es. Möchten Sie Sich wol irgend eine Gefahr irgend ein Leiden ersparen für die Gewißheit unser künftiges Geschlecht einer niedrigen Sklaverei Preis gegeben zu sehen, und ihm auf alle Weise gewaltsam eingeimpft zu sehn die niedrige Gesinung eines grundverdorbenen Volkes? Glauben Sie mir es steht bevor früher oder später ein allgemeiner Kampf, dessen Gegenstand unsere Gesinung unsere Religion unsere Geistesbildung nicht weniger sein werden als unsere äußere Freiheit und äu-

 Vgl. Brief 2211 (Ende Juni/Anfang Juli) an J.Ch. Gaß (KGA V/9, 57): „Zurük nach Stettin werden Sie indeß vor dem Herbst schwerlich kommen denn die Unterhandlungen gehen nur langsam. Eine wunderliche Fehde ist dies zwischen den beiden Königen von denen der eine nicht Krieg führen will und der andere nicht kann. Allein so sehr ich Anfangs das großmüthige Verfahren Preussens gegen Schweden lobte so gestehe ich doch ist mir jezt die Friedfertigkeit zu arg. Man läßt unsere Pommerschen und Preußischen Rheder durch die Blokade ruiniren und wir werden am Ende doch ein Uebel erlitten haben ohne Ersaz. Ich glaube nach diesem Schritt von Seiten Schwedens hätte der Kaiser von Rußland selbst es nicht mißbilligen können wenn wir unterdeß, ohne die Unterhandlungen abzubrechen Schwedisch Pommern in Beschlag genommen und in die härteste Contribution gesezt hätten. Die Danziger berechnen ihren Verlust schon auf mehrere Millionen (inclusive des englischen Embargo’s).“ Brief 2245 (23. 8.1806) von J.Chr. Gaß (KGA V/9, 105 f.): „Etwas Entscheidendes ist nun erfolgt, wie es schon seit einigen Monathen zu erwarten war. Der wunderliche Streit mit Schweden darf als beendigt angesehen werden; die hier versammelte Armee zieht sich schon theilweise zurük und auch unser Regiment erwartet stündlich den Befehl zum Aufbruch. Noch will man hier freilich im Ernst nicht an einen Krieg mit Frankreich glauben, man rechnet auf die große Friedensliebe des Königs, auf Unterhandlung und Ausgleichung. Ungerne mögte ich dieser Meinung sein. Die Liebe zum Frieden muß endlich ihre Grenze haben, wo man es mit einem Gegner zu thun hat, der vor der ganzen Welt zeigt, es sei noch immer beßer, ihn zum offenbaren Feinde, als zum Freunde und Protektor zu haben, deßen Forderungen immer weiter gehen, je mehr Nachgiebigkeit er findet und deßen lezte Absicht unverdekt genug daliegt. Ich halte einen Krieg mit Napoleon für unvermeidlich, von unsrer Seite für nothwendig und gerecht und jeden Aufschub für gefährlicher, als das Uebel selbst. Noch haben wir Kraft und Muth zum Wiederstande, noch ist der rechte Zeitpunkt dazu nicht verstrichen, und ich bin kühn genug zu hoffen, Preußen könne der Retter Deutschlands werden, wenn alles auf die rechte Weise angefangen wird und Ieder das seine thut.“

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ßere Güter, ein Kampf der gekämpft werden muß, den die Könige mit ihren gedungenen Heeren nicht kämpfen können, sondern den die Völker mit ihren Königen gemeinschaftlich kämpfen werden, der Volk und Fürsten auf eine schönere Weise als es seit Jahrhunderten der Fall gewesen ist vereinigen wird, und an den sich Jeder, Jeder, wie es die gemeine Sache erfodert anschließen muß. Was Ihnen jezt bevorzustehen schien war freilich so etwas Einzelnes von wenig Interesse für Sie Selbst, daß die Besorgniß für Ihren nächsten Kreis die Oberhand haben mußte. Wenn aber die großen Bewegungen Ihnen nahetreten werden dann wird ihre allgemeine Kraft Muth zu erregen sich auch in Ihnen beweisen und Sie werden auch das Spiel ängstlicher Bilder in Ihrer Fantasie mehr als etwas äußeres ansehn, es mit zu dem Schiksal rechnen gegen das man kämpfen muß. Mir steht schon die Krisis von ganz Deutschland, und Deutschland ist doch der Kern von Europa, eben so vor Augen wie Ihnen jene kleinere[;] ich athme in Gewitterluft und wünsche, daß ein Sturm die Explosion schneller herbeiführe, denn an Vorüberziehen ist, glaube ich, nicht mehr zu denken.“¹⁹

IV Für den Spätsommer 1806 haben Schleiermacher, seine Berliner Freunde, der Verleger Georg Andreas Reimer mit Familie und Henriette Herz, und andere eine gemeinsame Reise nach Dresden geplant. Die Vorbereitungen gestalten sich schwierig, Schleiermacher weiß noch nicht, wann das Sommersemester endet, er ist wieder klamm, und auf ein Gasthaus kann man sich nicht einigen.²⁰ Und dann häufen sich auch noch die bedrohlichen Nachrichten: französische Truppenbewegungen in Sachsen, Auslagerung der Dresdener Kunstschätze, Mobilmachung in Berlin.²¹ Schleiermacher schlägt vor, lieber nach Dessau zu fahren, denn den

 Brief 2196 (20.6.1806) an Charlotte von Kathen (KGA V/9, 40 f.). Vgl. auch Brief 2202 (23.6. 1806) an W. Gaß (KGA V/9, 50): „Gewiß können wir bange sein vor der Zeit die noch kommen wird ehe das Blatt wieder umschlägt: aber wer wollte sich nicht gern für eine Zeitlang in allerlei Kreuz und Elend ergeben für den Preis daß Deutschland wieder frei wird von der fremden Knechtschaft. Gewiß geschieht das, und Sie können für Ihren Heinrich auf eine bessere Zeit hoffen; aber was für Kämpfe noch vorangehn werden, das mag Gott wissen. – Nur jezt mit den Schweden wird es keine große Noth haben, und Sie haben ganz Recht daß Sie dies nur als eine Lustparthie für Gass ansehn.“  Brief 2206 (Juni 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 53); Brief 2213 (6.7.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 61 f.); Brief 2218 (12.7.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 65); Brief 2222 (19.7.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 69 – 71); Brief 2226 (25.7.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 77 f.); Brief 2231 (30.7. 1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 87); Brief 2234 (2. 8.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 91); Brief 2243 (17. 8.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 103).  Brief 2237 (Anfang August 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 96); Brief 2239 (13.8.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 97 f.); Brief 2242 (16. 8.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 102); Brief 2244 (23. 8. 1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 103 f.); Brief 2249 (26. 8.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 116 f.).

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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Wörlitzer Park werde man ja nicht einpacken.²² Dann erzählt er, Offiziere hätten ihm versichert, Kriegsschauplatz würden bloß Westfalen und Franken sein, weiter werde der Franzose auf gar keinen Fall kommen.²³ Schließlich machen alle zusammen eine zweieinhalbwöchige Reise nach Potsdam.²⁴ Bevor man sich dort trifft, meldet Schleiermacher Reimer noch, die Hallenser Regimenter seien abmarschiert, und: „es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank“.²⁵ Die Kirche für den erst im August eröffneten Hallenser Universitätsgottesdienst wird von der preußischen Verpflegungskommission als Magazin requiriert; Schleiermacher protestiert vergeblich dagegen.²⁶ Gaß rückt wieder aus, diesmal freiwillig und diesmal nach Süden gegen die Franzosen. Er schreibt, er hoffe, unterwegs noch bei den Freunden vorbeischauen zu können.²⁷ Auch durch Landsberg marschieren Truppen; Schleiermachers alter Onkel Stubenrauch versteht nicht, was das soll und gegen wen es gehen soll, „wenigstens nach den

 Brief 2248 (vor dem 26. 8.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 115); Brief 2250 (um den 26. 8.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 118).  Brief 2252 (29.8.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 119); Brief 2257 (Anfang September 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 124).  Brief 2251 (nach dem 26.8.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, S 118); Brief 2255 (30. 8.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 120 f.); Brief 2259 (3.9.1806) von G.A. und W. Reimer (KGA V/9, 124– 127); Brief 2260 (5.9.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 128 f.); Brief 2264 (10.9.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 134); Brief 2265 (12.9.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 135); Brief 2267 (14.9.1806) an H. von Willich (KGA V/9, 136); Brief 2286 (11.10.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 165); Brief 2347 (9. 12.1806) an Heinrich Karl Abraham Eichstädt (KGA V/9, 240).  Brief 2265 (12.9.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 135); vgl. Brief 2268 (15.9.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 140): „Vielleicht mußt Du jezt noch mit gegen die Franzosen marschiren – das könnte ich Dir ordentlich beneiden; so freue ich mich auf den nun doch wol unvermeidlichen Krieg gegen den Tyrannen, und habe große Lust an der allgemeinen muthigen Stimmung der Truppen und des Volkes bei uns. Wir haben hier ein ansehnliches ArmeeCorps in der Nähe, der König wird auch erwartet und dann hofft man soll es vorwärts gehen um mit den Franzosen zu schlagen wo man sie findet. Mir ist schon oft so zu Muthe gewesen ein politisches Wort laut zu reden wenn ich nur die Zeit dazu hätte gewinnen können. Auch auf der Kanzel lasse ich dergleichen bisweilen fallen wiewol auf eine ganz andere Art als ich es wol von Anderen höre.“  Hermann Hering, Der akademische Gottesdienst und der Kampf um die Schulkirche in Halle a.S., Bd. 2, Halle 1909, 106 f.; Brief 2268 (15.9.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 138 f.).  Brief 2245 (23. 8.1806) von J.Ch. Gaß (KGA V/9, 106 f.); Brief 2249 (26. 8.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 116); Brief 2261 (8.9.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 129 f.) (hier berichtet Reimer auch, er habe gehört, der Buchhändler Stein sei von den Franzosen erschossen worden, weil er eine Schrift verlegt habe, die gegen die Auflösung des Römisch-Deutschen Reichs protestiert habe); Brief 2263 (10.9.1806) von J.Ch. Gaß (KGA V/9, 133).

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öffentlichen Blättern stehen wir mit Bonaparte und eben so auch mit dem rußischen Kayser Alexander auf einem sehr freundschaftlichen Fuß“.²⁸

V Anfang Oktober, Schleiermacher war gerade aus Potsdam heimgekehrt, schreibt Karl Friedrich Raumer, Student der Mineralogie im sächsischen Freiberg, er sei jetzt in Dresden gewesen, es sei wunderschön gewesen (wie schön, wolle er nicht ausmalen, um Schleiermacher, der nicht dort gewesen sei, nicht neidisch zu machen), auf fünf Dichter sei er getroffen und auf „Leben und Weben von Menschen die der Krieg versammelte, und die fast zur poetischen Prosa gediehen waren“. Dann fährt er fort, ein Eilbote habe soeben gemeldet, dass der Krieg jetzt wirklich erklärt sei.²⁹ Ende Oktober werden wieder Lebenszeichen ausgetauscht. Schleiermacher schreibt Reimer kurz von allgemeiner Auflösung und einem „Abgrund von Niederträchtigkeit und Feigheit, aus welchem nur wenige Einzelne, unter ihnen obenan König und Königin, hervorragen.“³⁰ Kurz darauf berichtet er ausführlicher, wie er am 17. Oktober – man wusste noch nichts von Jena und Auerstedt drei Tage zuvor – mit Gaß, der jetzt tatsächlich in Halle eingetroffen war, und mit seinem Kollegen und Freund Henrich Steffens und dessen Familie auf der Stadtmauer von Halle stand, weil es vor der Stadt eine Schlacht zu sehen gab. Dann beobachteten sie, wie die Preußen ihre Geschütze demontierten und ihre Stellung aufgaben, und merkten, daß es höchste Zeit war, sich in Sicherheit zu bringen. Durch fliehende Preußen und nachrückende Franzosen laufend, erreichten sie Schleiermachers Wohnung. Kurz darauf kamen französische Husaren herein und nahmen Geld, Uhren und Hemden an sich; französisches Militär wurde in den Stuben einquartiert. Am 19. Oktober zog Napoleon selbst in Halle ein, und am 20. folgte der eigentliche Donnerschlag: Die Universität Halle wurde für aufgehoben erklärt.³¹ (Erst später erfährt man den

 Brief 2240 (18. 8.1806) von S.E.T. Stubenrauch (KGA V/9, 101); Brief 2271 (vor dem 17.9.1806) von S.E.T. Stubenrauch (KGA V/9, 145).  Brief 2283 (8.10.1806) von Karl Georg von Raumer (KGA V/9, 157– 159).  Brief 2297 (Ende Oktober 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 175).  Brief 2301 (wohl Anfang November 1806) an H. von Willich (KGA V/9, 178); Brief 2302 (4.11. 1806) an Henriette Herz (KGA V/9, 179); Brief 2303 (4.11.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 180 – 182); Brief 2344 (7.12.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 235); Brief 2356 (16.12.1806) an Heinrich Voß (KGA V/9, 258 f.). Vgl. auch den Bericht in Steffens’ Erinnerungen (Steffens, Was ich erlebte, Bd. 5, a.a.O. – Anm. 7 –, 190 – 213). Steffens erzählt u. a., dass er mit Schleiermacher und anderen die

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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Grund: Sie sei eine Brutstätte des antifranzösischen Geistes.³²) – Am 21. November, seinem Geburtstag, schreibt Schleiermacher an Henriette Herz: „Was für zwei Geburtstage habe ich da gehabt! An dem einen hatte ich kurz vorher von der einen Seite alles verloren [gemeint ist das Ende der Liebesbeziehung zu Eleonore Grunow im Herbst 1805], und nun von der andern! Damals hielt ich mich an meinen Beruf und hatte an ihm eine Ursach und ein Werk des Lebens, nun ist mir auch dieser zerstört, woran soll ich mich nun halten. Zwar ist er nicht so unwiederbringlich verloren wie Eleonore, aber es ist doch Thorheit zu hoffen, daß er wieder aufblühen wird und wenn es nicht mein eifrigster sondern nur mein zweiter Wunsch ist daß es möglich sein mögte in der gemeinen Sache den Tod zu finden so kommt das von einer Anhänglichkeit an die alten Vorsätze und Entwürfe, die ich meistentheils selbst kindisch finde.“³³

Arbeitslos und ohne feste Einkommen, werfen Schleiermacher und Steffens nun ihre Haushalte zusammen, um besser über die Runden zu kommen.³⁴ (Friedrich Schlegel freilich unternimmt noch einen Versuch, Schleiermacher anzupumpen.³⁵) Auch die Freunde hatten ihre Schicksale: Gaß ist es gelungen, sich unter manchen Abenteuern durch französische und preußische Linien nach Stettin durchzuschlagen. Den französischen Kommandanten, den Stettin inzwischen hat, muss er rühmen: Es ist ein Deutscher und Protestant, eigentlich lutherischer Pfarrer in der Rheinpfalz, aber dann politischer Kommissar und Offizier in französischen Diensten. Einer seiner ersten Befehle ist es, daß der Gottesdienst nicht unterbleiben dürfe.³⁶ – Karl Georg von Raumer in Freiberg bangt, ob seine Brüder, die beim Militär sind, noch leben,³⁷ Stralsund und Rügen sind vom Krieg bedroht, aber die Kommunikation ist unterbrochen,³⁸ der Komponist Johann Friedrich Reichardt (Henrich Steffens’ Schwiegervater), ein erklärter Gegner Napoleons, ist

Nacht nach der Einnahme Halles im Haus des Verlegers Schimmelpfennig verbrachte und dass sie dort den Weinkeller des tauben Professors Hofbauer leerten, um ihn vor feindlicher Beschlagnahme in Sicherheit zu bringen.  Brief 2331 (26.11.1806) an J.Ch. Gaß (KGA V/9, 220); Brief 2368 (22.12.1806) an C.G. von Brinckmann (KGA V/9, 280).  Brief 2326 (21.11.1806) an H. Herz (KGA V/9, 210).  Brief 2318 (14.11.1806) an H. Herz (KGA V/9, 120 f.); Brief 2323 (20.11.1806) an W. Gaß (KGA V/ 9, 208); Brief 2356 (16.12.1806) an H. Voß (KGA V/9, 258 f.).  Brief 2330 (25.11.1806) von Friedrich Schlegel (KGA V/9, 217).  Brief 2312 (12.11.1806) von J.Ch. Gaß (KGA V/9, 198 – 200); Brief 2353 (14.12.1806) von J.Ch. Gaß (KGA V/9, 253 f.).  Brief 2306 (8.11.1806) von K.G. von Raumer (KGA V/9, 191); Brief 2333 (29.11.1806) von K.G. von Raumer (KGA V/9, 222).  Brief 2301 (wohl Anfang November 1806) an H. von Willich (KGA V/9, 177); Brief 2326 (21.11. 1806) an H. Herz (KGA V/9, 211); Brief 2360 (um den 18.12.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 263).

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flüchtig, sein Wohnsitz Giebichenstein bei Halle geplündert, aber seine Familie freut sich über den Besuch seines Stiefsohns, der als Offizier in der französischen Armee dient.³⁹ Der Reeder Hering in Hinterpommern klagt, nach dem englischen Embargo komme nun die französische Kontinentalsperre.⁴⁰ Schleiermacher lebt von unregelmäßigen Gehaltsanweisungen und von Zuwendungen Reimers, er macht sich an die Platon-Übersetzung und andere Arbeiten und hofft auf eine baldige Wiedereröffnung Halles.⁴¹ Die Steffens’ verlassen Halle zum Jahresende und gehen nach Norddeutschland. Polen und Ostpreußen werden zum Kriegsschauplatz, Russland greift auf Seiten Preußens ein, dann auch Schweden. Gaß berichtet aus Stettin, sein kleiner Sohn Heinrich sei am Nervenfieber gestorben, und vor den Toren stünden jetzt die Schweden.⁴² Schleiermacher und Reimer verfolgen die Nachrichten und Gerüchte und fachsimpeln über die strategische Lage.⁴³ Als sich abzeichnet, dass Preußen Halle werde abtreten müssen, hält Schleiermacher Ausschau nach einer neuen Wirkungsstätte, einem Ort, wo noch ein Deutscher regiere und wo und ein Protestant leben könne.⁴⁴

 Brief 2239 (25.11.1806) von Luise und Friederike Reichardt (KGA V/9, 214– 216); Brief 2356 (16. 12.1806) an H. Voß (KGA V/9, 258); Brief 2402 (27.1.1807) an G.A. Reimer (KGA V/9, 323); Brief 2408 (Dezember 1806/Januar 1807) von Dorothea Schlegel (KGA V/9, 334).  Brief 2364 (20.12.1806) von Ch.B. Hering (KGA V/9, 271 f.).  Brief 2302 (4.11.1806) an Henriette Herz (KGA V/9, 179 f.); Brief 2307 (4.11.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 191 f.); Brief 2318 (14.11.1806) an H. Herz (KGA V/9, 201 f.); Brief 2320 (17.11.1806) an Karl August Varnhagen von Ense (KGA V/9, 203 f.); Brief 2322 (nach Mitte November 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 205 f.); Brief 2331 (26.11.1806) an J.Ch. Gaß (KGA V/9, 218 – 220); Brief 2239 (4.12.1806) an August Boeckh (KGA V/9, 227– 229); Brief 2344 (7.12.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 235 – 237); Brief 2349 (12.12.1806) an H. Herz (KGA V/9, 244– 246); Brief 2360 (um den 18.12. 1806) an E. von Willich (KGA V/9, 263); Brief 2368 (22.12.1806) an C.G. von Brinckmann (KGA V/9, 280 f.); Brief 2394 (15.1.1807) von G.A. Reimer (KGA V/9, 311); Brief 2439 (30. 3.1807) an A. Boeckh (KGA V/9, 387– 389).  Brief 2458 (13.4.1807) von J.Chr. Gaß (KGA V/9, 407 f.).  Brief 2346 (7.12.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 238 f.); Brief 2350 (12.12.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 248); Brief 2365 (20.12.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 274– 276); Brief 2391 (10.1.1807) an G.A. Reimer (KGA V/9, 308); Brief 2394 (15.1.1807) von G.A. Reimer (KGA V/9, 312); Brief 2402 (27.1.1807) an G.A. Reimer (KGA V/9, 323); Brief 2410 (3. 2.1807) an G.A. Reimer (KGA V/ 9, 337); Brief 2414 (7. 2.1807) an G.A. Reimer (KGA V/9, 341); Brief 2417 (11. 2.1807) von G.A. Reimer (KGA V/9, 346); Brief 2419 (18. 2.1807) von G.A. Reimer (KGA V/9, 351); Brief 2422 (27. 2.1807) an G.A. Reimer (KGA V/9, 356 f.); Brief 2428 (6. 3.1807) von G.A. Reimer (KGA V/9, 367).  Brief 2505 (wohl Anfang Juli 1807) an Ch. von Kathen (KGA V/9, 482).

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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VI Der Sommer 1806 hatte die Politisierung Schleiermachers gebracht, seine Begeisterung für einen Kampf für Deutschlands Freiheit und Ehre.⁴⁵ Im Spätsommer schreibt er Reimer, es jucke ihn in allen Fingern, ein recht derbes politisches Pamphlet zu schreiben.⁴⁶ Unter dem Eindruck der preußischen Katastrophe radikalisiert sich Schleiermacher: Er wünscht, den germanistischen Arbeiten des alten Johann Heinrich Voß eine französische Grammatik an die Seite zu stellen, einen philologischen Beweis für die Gesinnungslosigkeit des Französischen.⁴⁷ Zum Tod von Gaß’ kleinem Sohn schreibt Schleiermacher dem Vater, einen Knaben zu verlieren müsse ihn jetzt doppelt schmerzen, einmal als Vater und dann als Deutschen.⁴⁸ Und die Zeitdeutung wird nun apokalyptisch: Die bessere Zukunft kann erst kommen, wenn das schlechte Alte gründlich zerstört ist, und solche Zeiten der befreienden Destruktion muss das gegenwärtige Geschlecht

 Vgl. auch Brief (1.5.1836) von Varnhagen von Ense an Carl Rosenkranz (Carl Rosenkranz und Karl August Varnhagen von Ense, Briefwechsel, hg.v. A. Warda, Königsberg 1926, 28 – 30): „Im Sommer 1806 traf ich mit Schleiermacher eines Nachmittags auf einsamem Spazirgange bei den Felsen gegenüber von Gibichenstein zusammen, wir setzten uns und sprachen. Ich war nicht heiter gestimmt, ich hatte über Deutschlands Lage nachgedacht, Staat und Volk ließen wenig hoffen, die Litteratur war mir zweifelhaft. Die Trümmer der Schlegel’schen Verwüstung rauchten noch, eine ganze vermeinte Herrlichkeit lag vernichtet; des Stehengebliebenen war wenig, das Neugebaute schien mir schwach begründet; ich nahm die Möglichkeit an, daß wir Alle in einer großen Täuschung lebten, und unsere Sprache, Litteratur und Wissenschaft wohl gar keine wesentliche Rolle in dem Weltgange haben, sondern rasch der Vergänglichkeit heimfallen könnten; selbst Goethe schien mir keine Bürgschaft mehr. Diese Zweifel theilte ich Schleiermacher mit. Er verwies sie mir. ‚Also haben Sie wirklich die feste Überzeugung – fragte ich ihn voll Zutrauen – daß wir Deutsche in der Reihe der Völker litterarisch fortbestehen, daß unsre Geistesblüthe in der Geschichte unvergänglich sein wird, wie es uns jetzt die der Griechen ist?‘ Diese Überzeugung, sagte er, habe ich gewiß; und – fügte er entschlossen hinzu – wenn ich die nicht hätte, so schösse ich mir lieber noch heute eine Kugel durch den Kopf! – Ich war erschrocken, so knallten seine Worte mir in’s Ohr. Die Überzeugung ließ ich mir sehr gern gefallen, und ich nahm sie höchst gewichtig. Seltsam aber dünkte mich der Ausdruck, der in seiner Stärke grade nur Schwäche verrieth, und ich mußte oft darüber denken, wie der Philosoph und der Prediger sein Leben so eitel und stolz an etwas knüpfen mochte, das doch im angenommenen Falle nur ein Götzenbild wäre. Da mußte ich mir selber ja schon einen Vorzug über ihn einräumen, der ich wohl mit Betrübniß die Sache dachte, aber darum noch nicht verzweifelte. Aber so heftig und persönlichen Herrscherwegs bedürftig war damals Schleiermacher, so ungemäßigt und scharf in seinen Worten.“  Brief 2257 (Anfang September 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 124). Vgl. Brief 2268 (15.9.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 140).  Brief 2356 (16.12.1806) an H. Voß (KGA V/9, 260).  Brief 2479 (10. 5.1807) an J.Ch. Gaß (KGA V/9, 435).

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durchleben und durchleiden. Schleiermacher erwartet gar, dass Napoleon noch die Protestanten verfolgen werde.⁴⁹ Damit das Werk der Neuwerdung nicht auf halbem Wege und bei lauen Kompromissen stehenbleibt, darf der Friede nicht zu früh kommen.⁵⁰ Es ist das apokalyptische Geschichtsbild des frühen Judentums und frühen Christentums, wonach dem erlösenden Durchbruch die endzeitlichen Wehen vorangehen müssen, Kriege und kosmische Erschütterungen, sittliche Entartung und Verfolgungen der letzten Treuen und Aufrechten (z. B. Hesekiel 38 f.; Daniel 11 f.; Markus 13,3 – 37; 2 Thessalonicher 2,1– 12). An Reimer schreibt Schleiermacher: „Lieber Freund laß uns so lange bis alles entschieden ist dem Gange der Weltbegebenheiten ruhig zusehn, vor allen Dingen aber nicht Deutschland aufgeben. Es ist der Kern von Europa und sein wahres Wesen kann unmöglich vernichtet werden. Alles politische aber was bis jezt bestand war im Großen und im Ganzen angesehn ein unhaltbares Ding, ein leerer Schein, die Trenung des Einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse viel zu groß als daß Staat und Masse hätten etwas sein können. Dieser Schein muß verschwinden und nur auf seinen Trümmern kann die Wahrheit sich erheben. Eine allgemeine Regeneration ist nothwendig und wird sich aus diesen Begebenheiten entwikkeln. Wie? das kann man jezt noch nicht sehen; aber wir wollen dabei sein, und mit angreifen so bald der Gang der Dinge uns aufruft oder mit sich fortreißt.“⁵¹

Gegenüber Henriette Herz, der er als Frau allerdings kein rechtes Verständnis für diese Einsicht zutraut, deutet Schleiermacher an, daß auch in allem Schlechten der Genius der Menschheitsgeschichte walte:

 Brief 2326 (21.11.1806) an H. Herz (KGA V/9, 210); Brief 2344 (7.12.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 236); Brief 2365 (20.12.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 275). Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 2. Aufl., Berlin 1806, 371 f. (Nachrede; KGA I/12, 317 f.); ders., Ueber die Religion, 3. Aufl., Berlin 1821, 461 (Anm. 4 zur Nachrede; KGA I/12, 321).  Brief 2326 (21.11.1806) an H. Herz (KGA V/9, 211); Brief 2355 (15.12.1806) an Karl Thiel (KGA V/ 9, 256 f.); Brief 2439 (30. 3.1807) an Boeckh (KGA V/9, 388); Brief 2460 (Mitte April 1807) an Brinckmann (KGA V/9, 412). Vgl. auch Varnhagens Erinnerungen an einen gemeinsamen Aufenthalt mit Schleiermacher auf dem marwitzschen Gut Fredersdorf im Juli 1807: Dort sei Schleiermacher wegen des kurz zuvor geschlossenen Friedens von Tilsit oft niedergeschlagen und gereizt gewesen (August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten, 11. Abschnitt, hg.v. Konrad Feilchenfeldt, Bd. 1, Frankfurt/Main 1987, 455 – 458).  Brief 2322 (nach Mitte November 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 205). Vgl. Brief 2297 (Ende Oktober 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 175); Brief 2320 (17.11.1806) an Varnhagen von Ense (KGA V/9, 204); Brief 2326 (21.11.1806) an H. Herz (KGA V/9, 211); Brief 2342 (6.12.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 231); Brief 2344 (7.12.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 236); Brief 2365 (20.12.1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 275 f.); Brief 2460 (Mitte April 1807) an Brinckmann (KGA V/9, 413); Brief 2505 (Anfang Juli 1807) an Ch. von Kathen (KGA V/9, 481 f.).

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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„Die Schicksale der Menschen, liebe Jette, mußt Du etwas im Großen ansehen. Dann wirst Du in der jetzigen Zeit nichts anders finden als was uns die Geschichte überall darbietet, daß auf Erschlaffung Zerstörung und sterbender Kampf folgt, während dessen, wenn auch nur eine Schlechtigkeit gegen die andre streitet die bildenden Kräfte des Guten und die Tüchtigkeit des menschlichen Geistes sich entwickeln.“⁵²

VII Die Freunde sind, was die erwartete Protestantenverfolgung angeht, eher skeptisch.⁵³ Ansonsten ist ihnen die apokalyptische Deutung der Gegenwart aber auch nicht fremd.⁵⁴ Gaß predigt im Spätherbst 1806, am Ende des Kirchenjahres und im Advent, über die obligatorischen Perikopen und schreibt, die Zeit lege diese Texte jetzt selbst aus.⁵⁵ Karl Friedrich Raumer betrachtet wie Schleiermacher das zerstörende Gericht der Geschichte über das Alte für notwendig, damit der bessere Zustand komme; nur gibt er dem einen so scharf antipreußischen Akzent, daß  Brief 2409 (2. 2.1807) an H. Herz (KGA V/9, 336). Vgl. auch Schleiermacher, Über die Religion, 2. Aufl., Berlin 1806, 143 – 145 (KGA I/12, 104 f.): „Wenn hier in dem Ergriffensein von einem allgemeinen Zusammenhange Euer Blick so oft unmittelbar vom kleinsten zum größten und von diesem wiederum zu jenem herumgeführt wird, und sich in lebendigen Schwingungen zwischen beiden bewegt, bis er schwindelnd weder großes noch kleines, weder Ursach noch Wirkung, weder Erhaltung noch Zerstörung weiter unterscheiden kann: dann erscheint Euch die Gestalt eines ewigen Schiksals, dessen Züge ganz das Gepräge dieses Zustandes tragen, ein wunderbares Gemisch von starrem Eigensinn und tiefer Weisheit, von roher fühlloser Gewalt und inniger Liebe, wodurch Euch bald das Eine bald das Andre wechselnd ergreift, und jezt zu ohnmächtigem Troz, jezt zu kindlicher Hingebung einladet. Vergleicht Ihr dann das abgesonderte Streben des Einzelnen, aus diesen entgegengesezten Ansichten entsprungen, mit dem ruhigen und gleichförmigen Gang des Ganzen, so seht Ihr wie der hohe Weltgeist über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend widersezt; ihr seht wie die hehre Nemesis seinen Schritten folgend unermüdet die Erde durchzieht, wie sie Züchtigung und Strafen den Übermüthigen austheilt, welche den Göttern entgegenstreben, und wie sie mit eiserner Hand auch den Wakkersten und Treflichsten abmäht, der sich, vielleicht mit löblicher oder bewunderungswerther Standhaftigkeit, dem sanften Hauch des großen Geistes nicht beugen wollte. Wollt Ihr endlich den eigentlichen Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte der Menschheit ergreifen, so zeigt Euch sicherer als Alles Euer in der Geschichte ruhendes Gefühl, wie die lebendigen Götter nichts hassen als den Tod, wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und lezte Feind der Menschheit.“  Brief 2357 (17.12.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 261); Brief 2408 (Dezember 1806/Januar 1807) von D. Schlegel (KGA V/9, 334).  Brief 2307 (12.11.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 193); Brief 2328 (25.11.1806) von G.A. Reimer (KGA V/9, 212 f.); Brief 2464 (21.4.1807) von H. Steffens (KGA V/9, 416); Brief 2537 (26. 8. 1807) von F. Schlegel (KGA V/9, 521 f.); Brief 2538 (31. 8.1807) von H. Steffens (KGA V/9, 523).  Brief 2353 (14.12.1806) von J.Ch. Gaß (KGA V/9, 252).

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Schleiermacher ernstlich verstimmt ist. Denn für Raumer ist eben die preußische Staatsidee das, was unter den Schlägen der Katastrophe verschwinden soll. „Unsere meisten heutigen Staaten (in Europa) erscheinen mir wie große Handelscompagnien; jeder schlägt sein Privatcapital zu dem öffentlichen, in der Überzeugung daß er es in Gemeinschaft besser verinteressiren [d.h. verzinsen] könne. Sieht er daß es schief geht, die Compagnie einen Banquerott spielt, so zieht er soviel er kann das eigne Vermögen aus der Masse zurück, und frägt den Henker nach der Compagnie. – Ich bitte Sie die Handlungsweise der Meisten bey dem jetzigen Banquerott des Preußischen Staates zu beobachten, und frage ob ich nicht recht habe.“

Und wenn Staaten nur noch Interssenvereinigungen gewinnsüchtiger Privatleute gewesen seien, könne man auch die Kriege zwischen den Staaten nicht als Angelegenheit der Nationen und ihres Geistes ansehen. Höchstens die französische Nation sei in der Gegenwart vielleicht etwas Höheres, nämlich ein Werkzeug zur Zerstörung des Schlechten. „Und wenn wir dies Leben der Staaten überschauen, so kenne ich fast kein ungerechteres, verdammlicheres, als das des Preußischen. Wenige Provinzen ausgenommen ist das Ganze auf das Schändlichste zusammengestohlen, und auf Kosten der alten deutschen Staatsherrlichkeit ist dies LumpenFlickwerk gelungen. – […] Vernichtung der Individualität war ihr [der inneren Verfassung Preußens] vorzüglichstes Streben. Sie nannte sich einen militairischen Staat, und ihre militairische Erziehung gieng auf Ertödtung des kriegerischen Geistes; die absolute Sklaverey sollte zum Siege führen, nicht jene selbstständige Subordination – wie sie bey den Franzosen sich findet. Wenn ich bedenke, daß dies scheusliche Prinzip durch einen Sieg canonisirt worden wäre – wenn ich überhaupt die wahrscheinlichsten Folgen einer Preußischen Superiorität erwäge so könnte ich dem Himmel für die Verwüstung danken.“⁵⁶

Dabei sind sich Schleiermacher und Raumer darin einig, dass Staaten und Kriege nicht mehr Veranstaltungen von Fürstenhäusern und Kabinetten nach ihren jeweiligen Interessenlagen sein dürfen, sondern dass sich in ihnen Wesen und Idee der Völker verwirklichen müssen. Beide wünschen sich, dass aus den Erschütterungen der Gegenwart ein deutscher Nationalstaat erstehe (vgl. Schleiermachers oben in Abschnitt III und VI zitierte Äußerungen). Uneins sind sie sich aber in der Beurteilung Preußens: Nach Schleiermacher ist nicht nur Deutschland, sondern auch Preußen Träger einer solchen Nationalstaatsidee; nach Raumer ist Preußen geradezu die Verneinung des deutschen Nationalstaates und das Paradebeispiel  Brief 2378 (30.12.1806) von K.G. von Raumer (KGA V/9, 294– 298). Vgl. Brief 2338 (3.12.1806) von K.G. von Raumer (KGA V/9, 226 f.); Brief 2393 (12.1.1807) an Friedrich von Raumer (KGA V/9, 309 f.); Brief 2404 (28.1.1807) von K.G. von Raumer (KGA V/9, 324 f.); Brief 2425 (3. 3.1807) von K.G. von Raumer (KGA V/9, 360 – 362).

„… es scheint wirklich Ernst zu werden. Gott sei Dank.“

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für einen Staat, der raffgierig an sich reißt, was er bekommt und was ihm Gewinn bringt, der sich aus Eigennutz über alle nationalen Grenzen und Interessen hinwegsetzt und der sich nur dadurch erhält, dass er den freien Geist des Volkes durch Kadavergehorsam austreibt. Auf den Sommer und Herbst 1806 können wir in Schleiermachers Briefwechsel geradezu einen Paradigmenwechsel in der Deutung des Krieges datieren, den auch Karl Holl in seiner bekannten Studie über die Bedeutung der großen Kriege beschrieben hat. Anfang 1806 hatte noch die alte Deutung überwogen, wonach der Krieg, ähnlich wie Unwetter, Seuchen und Teuerungen, eine Art höheres Verhängnis darstellt, für den Frommen eine Zuchtrute Gottes, unter der er lernen soll, den Glauben in Geduld zu bewähren und sein Herz nicht an die vergänglichen Dinge dieser Welt zu hängen.⁵⁷ Dann aber wird der Krieg eben zu einer Angelegenheit des Volkes, die allgemeine Teilnahme an seinem Erfolg oder Misserfolg heischt, und zu dem Erlebnis, wie sich Einzelne unter Begeisterung und Leiden zu einem Volk und zu einer Gemeinschaft finden und formieren. Im Krieg wird sich eine Nation ihrer selbst bewusst, und im Krieg lässt sich anschauen, wie Gott in der Geschichte waltet und richtet.⁵⁸ Den nächsten Paradigmenwechsel (der den Zenit seiner Überzeugungskraft inzwischen vielleicht auch schon wieder überschritten hat) bedeutete es, als die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam im Sommer 1948 nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges verkündete, Krieg solle nach Gottes Willen nicht sein.⁵⁹

VIII Zurück zu Schleiermacher: Seine radikale Apokalyptik wird im Laufe der Zeit milder; was von ihr bleibt, ist der Vorsatz, „eine Saat zu säen, die vielleicht erst später aufgeht“,⁶⁰ sich also nach dem Zusammenbruch am geistigen Neubau Preußens und Deutschlands zu beteiligen, nicht zuletzt durch den Aufbau der Berliner Universität, einer Universität im deutschen Sinn.

 Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen 1928, 313 f. In diesem Sinne z. B. Philipp Jakob Spener, Pia desideria: Oder Hertzliches Verlangen Nach Gottgefälliger besserung der wahren Evangelischen Kirchen, Frankfurt/Main 1676 (recte 1675), 3 f. (hg. von Beate Köster, Gießen 2005, 20 – 22).  Holl, Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, a.a.O. (Anm. 57), 350.  Die erste Vollversammlung des Oekumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam vom 22. August bis 4. September 1948, Amsterdamer oekumenisches Gespräch 5, Tübingen und Stuttgart 1948, 117.  Brief 2344 (7.12.1806) an E. von Willich (KGA V/9, 236).

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Aber es gibt auch Zeitgenossen, die sich zu einer so kühnen Schau der Ereignisse nicht aufschwingen können. Onkel Stubenrauch in Landsberg findet in der allgemeinen Wirrsal nur noch darin Halt und Trost, dass alles, was aus der Hand des gütigen und weisen himmlischen Vaters kommt, seinen Kindern zum Guten dienen muss.⁶¹ Im Mai 1807 stirbt er an einem Schlaganfall. Die Komponistin Luise Reichardt klagt, was für eine schreckliche Sache der Krieg sei, „es scheint als hätte sich mit Ihm alles schöne selbst die ganze Natur umgewendet.“⁶² Charlotte Cummerow in Vorpommern schreibt von einem jungen schwedischen Offizier, den sie pflege. Als gesunder Mann und Familienvater sei er gelandet; nun sei er zum Krüppel geschossen, und das sei nur ein Glied der großen Kette des Elends. „Ach mein Freund wie sind diese Zubereitungen, von Menschen gemacht, um Menschen durch Menschen zu morden, wie sind sie meinem Herzen so gräßlich. Hat ein Gott darum den Menschen geschaffen, eine Mutter ihn darum unter tausend Schmerzen und tausend Sorgen gebohren und genährt daß er zum Mörder oder selbst gemordet werde? so frag ich mich leise und stille, und mein Herz blutet bey dieser Frage.“⁶³

Schleiermachers große Schwester Charlotte schließlich, die in Schlesien als Lehrerin und Erzieherin im Haus einer verwitweten Freundin lebt, erzählt lebhaft von den französischen Offizieren, die jetzt bei ihnen einquartiert seien: Es seien so reizende junge Leute, spielten mit den Kindern, und man könne endlich einmal eine gepflegte französische Konversation machen.⁶⁴

 Brief 2362 (vor dem 19.12.1806) von E. Stubenrauch (KGA V/9, 270); Brief 2514 (8. 2.1807) von E. Stubenrauch (KGA V/9, 341); Brief 2433 (17. 3.1807) von S.E.T. Stubenrauch (KGA V/9, 374).  Brief 2379 (30.12.1806) von Luise Reichardt (KGA V/9, 299).  Brief 2483 (20. 5.1807) von Charlotte Cummerow (KGA V/9, 442). Die überlieferte Zuweisung des Briefes an Charlotte von Kathen hat sich als falsch erwiesen. Vgl. auch den Bericht über das Besatzungselend auf Rügen (Brief 2556, 12.10.1807, von H. von Willich, KGA V/9, 550).  Brief 2560 (vor dem 19.10.1807) von Ch. Schleiermacher (KGA V/9, 559 – 561).

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Die Harzreise (1806) 1 Adolph Müller, Student der Medizin in Halle und einer aus dem Studentenkreis um Schleiermacher und Henrich Steffens,¹ schrieb am 5. Mai 1806 seinem Vater, dem Pädagogen und Musiker Wilhelm Christian Müller,² nach Bremen: „Für diese Pfingstferien steht mir ein großes Vergnügen bevor, Steffens wird nämlich mit einigen seiner Zuhörer eine naturhistorische Reise in den Harz machen, und der Gesellschaft wird auch Schleiermacher angehören. Außer diesen beiden Herrlichen werden ungefähr acht junge Leute mitgehen. Die Gebirge werden von allen Seiten beklettert, in die tiefen Schachten, wo in dichten Gesteinen Lagen von Erzen verborgen sind, kriechen wir ein. Es ist mir wie ein Traum, mit den beiden trefflichsten Gelehrten, deren Liebenswürdigkeit im Leben nicht minder groß, gleiche Schicksale zu bestehen, von ihnen stets belehrt und bei jedem würdigen Gegenstand durch große Ansichten geregt zu werden.“³

Später teilte Adolph Müller dem Vater die voraussichtliche Reiseroute mit. Der Vater plante selbst, über Pfingsten mit Bekannten den Harz zu bereisen; Adolph hielt es indessen nicht für ratsam, daß sich die Gruppe Steffens, Schleiermacher und den Studenten anschlösse, „da unser unordentliches Leben sich doch gar nicht für einen älteren Mann schickt, der reist, um sich auszuspannen. Dies habe ich (als ein angehender Praktikant) mir sehr wohl überlegt, daß es Dir, der sich von kleinen Uebeln und manigfachen Mühen erholen will, doch gar nicht fruchten kann, um 4 alle Morgen heraus zu sein, auf viele Weise die Gebirge untersuchend, sich zu erhitzen bis 11; dann wird gegessen und geschlafen bis 3 – 4 Nachmittags; dann wieder bis 11– 12 Nachts auf den Beinen zu sein, ohne Unterlaß Berge zu beklettern, und in kalte Gruben einzufahren. Denn unsere Reise ist wahrhaft zum Lernen, und bezieht sich stets auf die im Winter gelesene Werner’sche Geognosie […] Steffens nimmt niemand mit, wer nicht dies Kollegium gehört hat (7 oder 8 junge Leute), und hat es schon vielen abgeschlagen. Daher sage ich ihm auch nicht, daß Ihr zu uns stoßen wollt, sondern, daß Ihr auch den Harz bereiset und uns vielleicht antreffen würdet […] und so ist es auch am Besten, sich gar nicht weiter zu benehmen, sondern wenn man sich trifft lustig mit einander fortzumachen, denn nichts ist gräßlicher auf der Reise als die Weitläufigkeiten der feinen Welt; auch wir werden,

 Über Adolph Müller (1784– 1811) vgl. KGA V/8, XLVI f.  Über Wilhelm Christian Müller (1752– 1831) vgl. KGA V/8, XLVI.  Adolph Müller: Brief (5. 5.1806) an Wilhelm Christian Müller (Adolph Müller, Briefe von der Universität in die Heimath. Aus dem Nachlaß Varnhagen’s hg. von L. Assing, Leipzig 1874, 304).

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wenn schon in gewisser Hinsicht streng wie Pythagoräer, doch in der anderen ganz ungebunden wie Cyniker durcheinander leben.“⁴

Zu der pythagoräisch-kynischen Exkursion hatte Steffens auch den Freiberger Studenten Karl Georg von Raumer eingeladen. Der hatte zu einer Wanderung durch den Harz indessen keine besondere Lust. An Schleiermacher schrieb Raumer: „Steffens hat mich zu einer geognostischen Reise in den Pfingstferien eingeladen. Nun gestehe ich, daß ich viel lieber mit Ihnen im Giebichensteiner Garten botanisirte, allenfalls auch wohl eine geognostische Wasserfahrt auf der Saale mir gefallen ließe – aber zur Erholung im May vom Erzgebirger Gneus auf harzer Grauwacke zu ziehen, will mir gar nicht in den Sinn.“⁵

Raumer hatte in Halle Jura und Kameralistik studiert und dabei auch Steffens’ und Schleiermachers Vorlesungen besucht. Im März 1805 waren Schleiermacher, Steffens und Raumer zusammen nach Merseburg und Weißenfels gewandert. Im selben Jahr legte Raumer sein Examen ab und wechselte an die sächsische Bergakademie in Freiberg; offenbar hatte Steffens in Halle sein Interesse für Naturwissenschaft und Naturphilosophie geweckt.⁶ Wenn Raumer jetzt mehr Neigung zum Botanisieren im Garten von Giebichenstein hatte, dem nahe Halle gelegenen Sitz der auch mit Schleiermacher befreundeten musikalischen Familie Reichardt, als zur Geognosie im Harz, dann wohl nicht nur, weil ihm der Harz zur Lieblichkeit des Mais wenig passend erschien, sondern auch darum, weil er mit einer der Reichardt-Töchter, der 15jährigen Friederike, verlobt war. (Friederike Reichardt war eine jüngere Schwester von Steffens’ Frau Johanna.) Die Reise begann in der Frühe am 22. Mai, dem Donnerstag vor Pfingsten.⁷ Die Route können wir anhand der Briefe Adolph Müllers rekonstruieren: Es ging von Halle westwärts ins Mansfelder Land, erst zu Pferd nach Eisleben, dann nach Sangerhausen und ins Gebirge nach Stolberg, Hangerode (Harzgerode) und Ilfeld. In Ilfeld lag Müller abends krank, konnte aber am nächsten Tag weiterwandern. Weiter ging es nach St. Andreasberg und Oderteich, auf die Achtermannshöhe und

 A. Müller: Brief vom 18.5.1806 an W.C. Müller (Müller, Briefe von der Universität, a.a.O. – Anm. 3 –, 305 – 307).  Brief 2182 (29.4.1806) von Karl Georg von Raumer (KGA V/9, 14).  Über Karl Georg von Raumer (1783 – 1865) vgl. KGA V/9, XLVIIIf. Zur Wanderung 1805 vgl. Brief 1938 (21. 3.1805) an Georg Andreas Reimer (KGA V/8, 163). Dort schriebt Schleiermacher noch: „Wir denken schon fleißig wenn wir auf den hiesigen Felsen herum steigen der Harzreise.“ Das klingt, als wäre die Pfingstwanderung von 1806 ein lange anvisiertes Projekt gewesen.  A. Müller, Brief vom 21.5.1806 an W.C. Müller (Müller, Briefe von der Universität, a.a.O. – Anm. 3 –, 307).

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nach Schierke und dann auf den Brocken. Hier langte die Gesellschaft am Pfingstmontag, dem 26. Mai an und verbrachte „eine schändliche Nacht“. Am nächsten Tag kam man nach Clausthal und fuhr in den Berg ein; danach ging es offenbar nach Goslar weiter. Am Mittwoch, dem 28. Mai nachmittags traf Müller auf dem Brocken seinen Vater und dessen Begleiter, zwei Kaufleute; der Vater hatte ihm nach Clausthal einen Boten geschickt. Die Bremer stiegen am 29. Mai nach Elbingerode hinab; in Blankenberg vereinigte man sich mit den Hallensern. Wann Wilhelm Christian Müller und seine Reisegenossen sich von ihnen wieder trennten, ist ungewiss; jedenfalls war das Wetter nach dem Abschied von den Bremern laut Adolph Müllers Angabe „nicht mehr ganz günstig“. Die Hallenser erreichten am Sonnabend, dem 31. Mai mittags Hettstedt und hatten vor, nach einer kurzen Rast bis Halle weiterzumarschieren. Wider Willen wachte man aber erst abends um sieben Uhr aus einem tiefen Schlummer auf und mußte die Nacht in Hettstedt bleiben; der Sonntagmorgen zeigte den Hallensern die Winzigkeit des Städtchens. Die Gesellschaft kam am Montag, dem 2. Juni nachmittags nach Kröllwitz und ging von dort nach Halle hinein.⁸

2 Schleiermacher war bis weit in seine Berliner Zeit ein wackerer Fußwanderer.⁹ Zur Teilnahme an Steffens’ Studienreise werden ihn aber auch seine naturwissenschaftlichen Interessen bewogen haben: Als Charitéprediger hatte Schleiermacher die damals ganz neuartigen Vorlesungen über Chemie des Berliner Apothekers Martin Heinrich Klaproth besucht;¹⁰ in Halle ging er mit in Steffens’ Kollegien,¹¹ und 1808 saß er in Berlin unter den Hörern der mineralogischen Vorträge Dietrich Ludwig Gustav Karstens. In den uns überlieferten Briefen Schleiermachers wird die Reise nur zweimal erwähnt. Kurz nach dem Ende der Reise beschreibt Schleiermacher in einem Brief an Henriette von Willich in Schwedisch-Pommern (damals die Frau seines

 A. Müller, Brief vom 21.5.1806 an W.C. Müller, ebd., 307 f.; Wilhelm Christian Müller, Brief vom 28./29. 5.1806 nach Hause (ebd., 309 f.); A. Müller, Brief vom 8.6.1806 an W.C. Müller (ebd., 310 – 313). Zum Datum des Besuchs in Clausthal vgl. unten Abschnitt 3.  Vgl. z. B. KGA V/8, XXII f.; Ehrenfried von Willich jr., Aus Schleiermachers Hause, Berlin 1909, 23 – 25.  Vgl. Ursula Klein, „Der Chemiekult der Frühromantik“, in: Wissenschaft und Geselligkeit, hg. v. A. Arndt, Berlin und New York 2009, 67– 92.  Brief 2257 (Anfang September 1806) an G.A. Reimer (KGA V/9, 123).

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Freundes Ehrenfried von Willich, später seine eigene Ehefrau) vor allem seine inneren Befindlichkeiten: „Jezt eben bin ich seit ein Paar Tagen von einer ganz andern Reise zurükgekommen die ich mit Steffens und einigen jungen Leuten, alles gemeinschaftliche Schüler von uns beiden nach dem Harz gemacht habe. Diese giebt wenigstens von meinem Wohlbefinden einen guten Maaßstab[.] Wir haben in 9 Tagen [tatsächlich waren es zwölf] beinahe 50 Meilen zu Fuß gemacht indem wir das Gebirge fast nach allen Seiten zum Theil auf sehr beschwerlichen Wegen durchstrichen sind und ich bin der frischeste gewesen und geblieben unter allen, immer vorauf über und unter der Erde, und habe mich gleich nach unserer Rükkunft wieder mit großem Fleiß in die sich immer mehr anhäufende Arbeit begraben können. Es war eine schöne Reise! Wir waren sehr vom Wetter begünstigt und haben neben unsern wissenschaftlichen Zwekken auch herrlichen Genuß gehabt. Gewiß aber ging es in Keinem innerlich so wunderbar durcheinander als in mir. Die Stille des Wanderns – denn viel pflege ich nicht zu sprechen bei weitem Gehen – ist für mich recht dazu gemacht mich Allem hinzugeben was mich bewegen kann. Und weil ich doch beständig unterbrochen wurde durch die Umgebungen konnte es nie ausgähren sondern mich immer wieder aufs neue ergreifen. Liebes Kind wieviel Trauer wieviel Freude wieviel Wemuth hat mich durchzogen. Wie gern hätte ich in irgend einer von den kleinen Gefahren die wir doch zu bestehen hatten das Ende des Lebens gefunden. Und wie konnte ich wieder mein Leben lieben wenn ich fühlte wie ich in Euch, in allen unsern Freunden und in meinem Beruf lebe. Aber so oft ich dann wieder dachte Jezt wäre sie schon Dein Weib wenn sie nicht unglükseligerweise umgekehrt wäre, und nun bist Du verwaiset und allein auf Lebenszeit. Doch stille Jettchen. Küsse mir dir thränenden Augen wieder klar und laß uns von etwas anderem reden.“¹²

Was auf dieser Reise in Schleiermacher besonders gärte, was ihn mit Wehmut und Trauer erfüllte und gelegentlich gar den Tod herbeisehnen ließ, war die Trennung von seiner langjährigen Geliebten Eleonore Grunow; diese hatte sich kurz vor der schon in die Wege geleiteten Trennung und Scheidung von ihrem ungeliebten Ehemann – die Heirat mit Schleiermacher war für den Frühling 1806 geplant – im Oktober 1805 doch gegen Schleiermacher entschieden.¹³ Später schrieb Schleiermacher an seinen Freund, den Feldprediger Joachim Christian Gaß in Stettin: „Ich habe in Pfingsten 10 Tage zu einer Harzreise mit Steffens und einigen seiner Zuhörer verwendet, alles zu Fuß versteht sich: denn wir gingen auf die Geognosie aus. Viel gelernt habe ich und mich sehr wohl befunden. Auch in den Michaelisferien mache ich gewiß wieder eine kleine Reise wahrscheinlich nach Dresden, welches ich noch gar nicht kenne.Wenn man die Zeit bloß nach der Uhr berechnet so ist das freilich unverantwortlich gegen meine Arbeiten aber ich denke man muß mehr darauf rechnen daß man sich gründlich auffrischt –

 Brief 2191 (Anfang Juni 1806) an Henriette von Willich (KGA V/9, 32 f.).  Vgl. KGA V/8, XXVII–XXIX.

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wiewol ich nicht sagen kann daß ich es schon sehr weit gebracht habe seit meiner Zurükkunft.“¹⁴

Steffens wiederum erwähnt in seinen Erinnerungen, dass er auf der Wanderung (es muß am 26. Mai gewesen sein) das sog. „Brockengespenst“ gesehen habe: „Ich bestieg damals von Schierke aus den Brocken, begleitet von Hallischen Zuhörern und lieben Freunden. Schon oft hatte ich den östlichen Schatten, der sich über das flache Land wirft, wenn die Sonne sich neigt, als eine der großartigsten Erscheinungen von dem Brocken aus bewundert. Fast immer aber entsteht gegen Abend eine Trübe, die Alles verwischt. Dieses Mal blieb die Luft vollkommen heiter. Der mächtige Schatten warf sich über das ganze flache Land nach Osten, reichte weiter als der Horizont und richtete sich hier in die Höhe, so daß der Gipfel des Berges, das Brockenhaus, der Thurm und wir, die verwunderten Zuschauer, als Schatten in der Luft schwebten.“¹⁵

Den wissenschaftlichen Ertrag hat Steffens offenbar in seinen „Geognostischgeologischen Aufsätzen“ verarbeitet, die vier Jahre später erschienen.¹⁶

3 Es gibt noch ein weiteres Dokument zu den geognostischen Erkundungen der Harzwanderung und zu den von Schleiermacher genannten „kleinen Gefahren die wir doch zu bestehen hatten“: das Fremdenbuch der Clausthaler Grube Dorothea für die Jahre 1798 bis 1809. Eva Harten hat in dem Fremdenbuch vor einigen Jahren die Eintragung Schleiermachers entdeckt und in einem Aufsatz beschrieben.¹⁷ –

 Brief 2211 (Ende Juni/Anfang Juli 1806) an Joachim Christian Gaß (KGA V/9, 57 f.). – Über die Vorbereitungen der Dresdenreise im September 1806, die schließlich bloß nach Potsdam führte, vgl. meinen Beitrag „Politik, Krieg und Zeitdeutung in Schleiermachers Hallenser Briefwechsel“ in diesem Band, dort Abschnitt 4.  Henrich Steffens, Was ich erlebte, Bd. 4, Breslau 1841, 11.  Henrich Steffens, Geognostisch-geologische Aufsätze als Vorbereitung einer innern Naturgeschichte der Erde, Hamburg 1810. Hier liegt der Schwerpunkt allerdings auf den Formationen Schleswig-Holsteins und Niedersachsens. Vielleicht sollten die Ergebnisse auch in die Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde eingehen. Deren erster Band war 1801 in Freiberg im Verlag Graz erschienen; Steffens plante eine Neuauflage und einen zweiten Band, die jedoch nie erschienen. Vgl. A. Müller: Brief vom 8.6.1806 an W.C. Müller (Müller, Briefe von der Universität, a.a.O. – Anm. 3 –, 314); Brief 2499 (22.6.1807) von Henrich und Johanna Steffens (KGA V/9, 468 – 470); Brief 2506 (9.7.1807) von H. und J. Steffens (KGA V/9, 483); Brief 2584 (23.11.1807) von H. Steffens (KGA V/9, 593).  Eva Harten, „Hat sich Friedrich Schleiermacher in das Fremdenbuch der Grube Dorothea eingetragen?“, in: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Jahr 2002, 43 – 45.

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Simon Gerber

Bergleute und Besucher der Gruben wurden vor der Einfahrt in den Berg auf Zetteln registriert; aus den Zetteln der Besucher mit den Einträgen und oft kleinen Epigrammen wurden später die Fremdenbücher zusammengebunden. Die Fremdenbücher der Grube Dorothea befinden sich heute in der Bibliothek des LBEG (Landesamtes für Bergbau, Energie und Geologie) in Clausthal. Aus dieser Quelle erfahren wir auch noch die Namen weiterer Teilnehmer an der Fahrt; Steffens, ein häufiger Besucher des Harzes, war laut dem Fremdenbuch auch schon am 9.7.1798 nach Clausthal gekommen (es war auf dem Weg von Kiel nach Jena) und hatte die Gruben Caroline und Dorothea besucht.¹⁸ Der Eintrag der Wandergruppe im Fremdenbuch lautet: „den 27ten Mai Proff. Steffens –– Schleiermacher Doctor Klinger Stud Müller –– Focke senj –– Focke iunior –– Breslau –– Strom“

Diesen Eintrag hat vermutlich der Einfahrer gemacht. Darunter steht in anderer Handschrift, die der Forscher sofort als diejenige Schleiermachers identifiziert: „haben unter der lehrreichen und gefälligen Leitung des Herrn Einfahrer Eichler die Gruben Caroline u Dorothea bis auf die hundert Lachter Stollen befahren d 27“

Schleiermacher hat das offenbar nach dem glücklichen Wiederaufstieg geschrieben. Ein Clausthaler Lachter mißt 1,9238 Meter. Dr. Klinger ist der Arzt und Dichter Franz Xaver Klinger aus Wien (1777– 1810), 1805/06 in Halle im Kreis um Schleiermacher Steffens, danach mit Friedrich Schlegel befreundet und zusammen mit diesem in Paris, später in Wien verstor-

 August Lengemann, „Mittheilungen aus den Fremdenbüchern der Grube Dorothea bei Clausthal“, in: Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im Preussischen Staate 35 (1887), 138 – 153, bes. 138 f. und 145; Harten: „Hat sich Friedrich Schleiermacher“, a.a.O. (Anm. 17), 43. Lengemann schreibt, die beiden miteinander verbundenen Clausthaler Schächte Caroline und Dorothea seien 1886 geschlossen und verfüllt worden, bis dahin aber hätten sie in einer für Erzgruben geradezu einzigartigen Weise nicht nur Fachleute angezogen, sondern auch Touristen; dazu habe der Ruf von der Gediegenheit ihres Ertrages beigetragen, aber mehr noch ihre geringe Teufe (ihr nicht zu starkes Gefälle) und ihre verhältnismäßig bequeme Fahrbarkeit. – Vgl. zu Steffens’ Reise durch den Harz 1798 Steffens, Was ich erlebte, Bd. 4 (Anm. 15), 4– 13.

Die Harzreise (1806)

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ben. – Den Studenten Müller kennen wir bereits. Doch auch die anderen Studenten lassen sich identifizieren. Focke senior und Focke junior werden in Karl August Varnhagen von Enses Denkwürdigkeiten erwähnt: Die beiden Brüder aus Berlin hätten sich in Halle lebhaft in den Kreis um ihn (Varnhagen), Alexander von der Marwitz, Adolph Müller und andere gedrängt, „der ältere mit mehr Eifer als Berechtigung, wie es schien, und daher ohne sonderlichen Erfolg und Dank.“¹⁹ 1808 wäre es in Berlin zwischen Varnhagen und dem älteren Focke fast zu einem Duell gekommen; Focke, dessen Fürsprecher Schleiermacher war, zog sich aber zurück, nachdem er erfahren hatte, daß der Handel mit Pistolen ausgetragen werden müsste.²⁰ – Heinrich von Breslau aus Ansbach (1784– 1851) studierte 1804– 1806 in Halle Medizin; nach der Schließung der Universität setzte er das Studium in Tübingen und Würzburg fort. Breslau nahm als französischer Militärarzt 1812 an Napoleons Russlandfeldzug und 1815 an der Schlacht bei Waterloo teil; im russischen Winter verlor er seine Zehen. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft lebte er als Arzt und Professor der Medizin in München.²¹ – „Strom“ ist vermutlich der Norweger Peter Henrik Strøm (1781– 1865), vielleicht auch dessen jüngerer Bruder Henrik Christian Strøm (1784– 1836). Peter Henrik studierte, nachdem er 1802 in Kopenhagen sein juristisches Examen abgelegt hatte, in Deutschland und Schweden die Bergwissenschaften. Später wurde er Bergmeister im norwegischen Distrikt Søndenfjeld. Nach seiner Pensionierung 1852 ließ er sich in München nieder. Henrik Christian ging nach seinem in Kopenhagen abgelegten Examen als Bergkandidat 1806 ebenfalls nach Deutschland und studierte an der Bergakademie Freiberg. Am Krieg von 1813 nahm er als Freiwilliger im Lützowschen Corps teil. Auch er wurde schließlich Bergmeister in Norwegen.²² Müller schreibt über die Clausthaler Grube: „In Klausthal ist nur Ein Gang, lange nicht so edel [wie die Gänge im Andreasberg], aber bis 12 Lachter mächtig in Grauwacke, die nicht so gut hält, weswegen hier eine sehr kostbare Zimmerung nothwendig ist.“²³

 Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten, hg.v. K. Feilchenfeldt, Bd. 1, Frankfurt/ Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 22), 358 (8. Abschnitt).  Ebd., 510 – 516 (13. Abschnitt).  Neuer Nekrolog der Deutschen 29 (1851), Weimar 1853, Nr. 49.  Jens Braage Halvorsen, Norsk Forfatter-Lexikon, Bd. 5, Kristiania 1901, s.v. – Der von Varnhagen von Ense (Denkwürdigkeiten, hg.v. K. Feilchenfeldt, Bd. 2, Frankfurt/Main 1987, Bibliothek deutscher Klassiker 23, 41 und 44; 21. Abschnitt) erwähnte Strøm ist wohl der jüngere.  A. Müller, Brief vom 8.6.1806 an W.C. Müller (Müller, Briefe von der Universität, a.a.O. – Anm. 3 –, 313).

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Simon Gerber

Nach ihm ist die Gruppe übrigens nicht 100, sondern 120 Lachter tief eingefahren.²⁴

Eintrag im Fremdenbuch der Grube Dorothea (Bibliothek des Landesamtes für Bergbau, Energie und Geologie, Clausthal)

 A. Müller, Brief vom 8.6.1806 an W.C. Müller, ebd., 311.

Siglen Glaubenslehre2 Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31) = KGA I/13 KD Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 1. bzw. 2. Auflage = KGA I/6 KGA Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. In 5 Abteilungen. Hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hermann Fischer u. a., Berlin und New York: de Gruyter 1980 ff.; bisher erschienen sind folgende Bände: KGA I/1: Jugendschriften 1787– 1796, hg.v. Günter Meckenstock, 1983 KGA I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg.v. Günter Meckenstock, 1984 KGA I/3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, hg.v. Günter Meckenstock, 1988. KGA I/4: Schriften aus der Stolper Zeit 1802– 1804, hg.v. Eilert Herms, Günter Meckenstock und Michael Pietsch, 2002 KGA I/5: Schriften aus der Hallenser Zeit 1804– 1807, hg.v. Hermann Patsch, 1995 KGA I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, 1998 KGA I/7, Teilband 1 und 2: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), hg.v. Hermann Peiter, 1980 KGA I/7, Teilband 3: Marginalien und Anhang, hg.v. Ulrich Barth unter Verwendung vorbereitender Arbeiten v. Hayo Gerdes u. Hermann Peiter, 1983 KGA I/8: Exegetische Schriften, hg.v. Hermann Patsch und Dirk Schmid, 2001 KGA I/9: Kirchenpolitische Schriften, hg.v. Günter Meckenstock unter Mitwirkung v. Hans-Friedrich Traulsen, 2000 KGA I/10: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung v. Martin Ohst, 1990 KGA I/11: Akademievorträge, hg.v. Martin Rössler unter Mitwirkung v. Lars Emersleben, 2002 KGA I/12: Über die Religion (2.–)4. Aufl.; Monologen (2.–)4. Aufl.,

140

Siglen

hg.v. Günter Meckenstock, 1995 KGA I/13: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg.v. Rolf Schäfer, 2003 KGA I/14: Kleine Schriften 1786 – 1833, hg.v. Matthias Wolfes und Michael Pietsch, 2003 KGA I/15: Register zur I. Abteilung, erstellt v. Lars Emersleben unter Mitwirkung von Elisabeth Blumrich, Matthias Hoffmann, Stefan Mann und Wilko Teifke; Addenda und Corrigenda zur I. Abteilung; Anhang: Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer (Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage), 2005 KGA II/4:Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg.v.Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann Patsch, 2012 KGA II/6: Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg.v. Simon Gerber, 2006 KGA II/8: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg.v. Walter Jaeschke, 1998 KGA II/10, Teilband 1 und 2: Vorlesungen über die Dialektik, hg.v. Andreas Arndt, 2002 KGA II/16: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, hg.v. Simon Gerber, 2005 KGA III/1: Predigten. Erste bis Vierte Sammlung. Anhang: Kalendarium der überlieferten Predigttermine, hg.v. Günter Meckenstock, 2012 KGA III/4: Predigten 1809 – 1815, hg.v. Patrick Weiland unter Mitwirkung von Simon Paschen, 2011 KGA III/7: Predigten 1822– 1823, hg.v. Kirsten Maria Christine Kunz, 2012 KGA V/1: Briefwechsel 1774– 1796 (Briefe 1– 326), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1985 KGA V/2: Briefwechsel 1796 – 1798 (Briefe 327– 552), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1988 KGA V/3: Briefwechsel 1799 – 1800 (Briefe 553 – 849), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1992 KGA V/4: Briefwechsel 1800 (Briefe 850 – 1004), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1994 KGA V/5: Briefwechsel 1801– 1802 (Briefe 1005 – 1245), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1999

Siglen

KFSA KpV KrV B SB

SW

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KGA V/6: Briefwechsel 1802– 1803 (Briefe 1246 – 1540), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 2005 KGA V/7: Briefwechsel 1803 – 1804 (Briefe 1541– 1830), hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 2005. KGA V/8: Briefwechsel 1804– 1806 (Briefe 1831– 2172), hg.v. Andreas Arndt und Simon Gerber, 2008 KGA V/9: Briefwechsel 1806 – 1807 (Briefe 2173 – 2597), hg.v. Andreas Arndt und Simon Gerber, 2011 Friedrich Schlegel, Werke. Kritische Ausgabe, hg.v. Ernst Behler u. a., Paderborn u. a. 1958 ff. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788) Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage (1787) Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage, in: KGA I/15, 635 – 912 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Sämmtliche Werke. 3 Abteilungen, 30 Bde. in 31, Berlin 1834– 1864

Archivalien Boeckh [August Boeckh: Nachschrift zu Schleiermachers Ethikvorlesung 1805/ 06] 104 Bl. 4°,. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Schleiermacher 585/1 Köpke „Ethik / Nach dem Vortrage / des HE. Prof. Schleiermacher. / Michaelis 1805–Ostern 1806. / Friedrich Carl Köpke.“ Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, 246 Bl. 8°, Ms. Germ. oct. 1215 Müller „Winter 5/6. / Ethik. / Adolf Müller“, 140 S., Stadtbibliothek Bremen, 134738 (Brem. b. 652 Nr. 21) Die Nachschriften werden zitiert nach der archivalischen Foliierung (Bl. mit Angabe Vorderseite = recto bzw. Rückseite = verso) bzw. Paginierung (Seitenzahl). Abkürzungen werden ohne Kennzeichnung ausgeschrieben und Varianten nicht mitgeteilt; Orthographie und Interpunktion sind beibehalten.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Arndt, Andreas, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin; Projekt- und Arbeitsstellenleiter des Akademienvorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834, Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Gerber, Simon, Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Akademienvorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834, Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Gräb, Wilhelm, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und a.o. Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universiteit Stellenbosch, Südafrika. Herms, Eilert, Dr. theol., Professor emeritus für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Patsch, Hermann, Dr. theol., Studiendirektor i.R. (Religion, Deutsch, Philosophie), München. Schmidt, Sarah, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Akademienvorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834, Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Slenczka, Notger, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Virmond, Wolfgang, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Akademienvorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808 – 1834, Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Personenregister Achterberg, E. 96 Aristoteles 55, 61 f., 82 Arndt, A. 26 f., 31, 37, 56, 65, 97 f., 133 Arndt, E.M. 5 Ast, G.A.F. 75 Baden, Karl, Großherzog 117 Barth, K. 43 Barth, U. 72 f. Bartholdy, G.W. 57 Bassenge, J. 1 Beauharnais, S.de 117 Beauharnais, J. de 117 Bekker, I. 71 Beyme, K.F. von 34 Boeckh, A. 59 – 62, 65, 77 f. 80, 82, 84, 124, 126 Breslau, H. von 137 Brinckmann, K.G. von 9, 39, 47, 55 f., 116, 123 f., 126 Bruck, R. 96 Burg, P. 96 Buttmann, P. 69, 71, 74 Christus, J. 19 – 22, 28 – 30, 44 f., 47 Cicero, M.T. 86 Cummerow, C. 130 Daub, C. 33 Dierse, U. 50 Dilthey, W. 1, 43 Dittmer, J.M. 97, 100 Durner, M. 97 Eberhard, J.A. 32, 73 Eichler 136 Eichstädt, H.K.A. 121 Ellsiepen, C. 21 Engelhardt, D. von 96 Ernesti, J.A. 72 Fichte, J.G. 3, 37 f., 41, 50, 52, 55 f., 58, 60, 97 f. Focke, Brüder 136 f.

Frankreich, Napoleon I., Kaiser 1, 9 f., 12 – 14, 26, 52 f., 91, 96, 117, 119, 122 f., 126, 137 Fröschle, H. 97, 111 Gaß, H. 120 Gaß, J.C. 2, 9 f., 25, 28, 35 – 37, 39, 41, 52, 57, 72, 116, 118 f., 120 – 125, 127, 134 f. Gaß, W. 118, 120, 123 Gerber, S. 3 f., 135 Görres, J. 110 Gräb, W. 3, 78 Graf, F.W. 48, 50 Gräse 99 Grove, P. 20 f. Grunow, E. 12, 30, 123, 134 Halvorsen, J.B. 137 Hardenberg, F. von 47, 50, 93, 110 f. Harten, E. 3, 135 f. Hegel, G.W.F. 110 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Franz II., Kaiser 10 Heindorf, L. 68 – 72, 74 Henningsen, B. 93, 96 Henrici, C.F.G. 94 Herder, J.G. 1, 3, 13 f., 40, 79 f., 85 – 88 Hering, C.B. 116 f., 124 Hering, H. 121 Herms, E. 2, 18, 20 Herz, H. 9 f., 12, 14, 94, 120, 122 – 124, 126 f. Hirsch, E. 30, 43, 85 f. Hofbauer 123 Høibraaten, H. 93 Holl, K. 129 Homer 67 Hornig, G. 72 Huesmann, E. 96 Humboldt, W. von 97, 111 Jacobi, F.H. 18 – 20, 55 f., 60, 62 Jenisch, D. 41 Kafka, F. 67

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Personenregister

Kant, I. 50, 55, 57, 60 – 62, 92, 102 Karsen, F.H. 96 Karsten, D.L.G. 133 Kathen, C. von 118 – 120, 124, 126, 130 Kaulbach, F. 50 Klaproth, M.H. 133 Klein, U. 133 Klepper, J. 47 Klinger, F.X. 136 Konopak, C.G. 11 Köpke, F.K. 60 f., 63 f., 77 f., 80, 82 Kopp, B. 86 Kościuszko, T. 117 Kuhlen, R. 50 Kutusow, M.I. 117 Lachmann, K. 74 Lange, D. 29 Leibolds, T. 96 Lengemann, A. 136 Löchte, A. 87 Lorenz, O. 96 Marheineke, P.K. 9 Marwitz, A. von der 126, 137 Massow, E.J.E.W. von 25, 34 Meckenstock, G. 47, 73 f. Meding, W. von 32 Meier, H. 88 Meißner, M. 96 Meyer, E.R. 39 Michaelis 99 Morus, S.F.N. 72 Müller, A. 60 – 63, 131 – 133, 135 – 138 Müller, W.C. 131 – 133, 135 – 138 Nicolovius, G.H.L. 98 Niemeyer, H.A. 32, 34 Novalis -> siehe Hardenberg Nowak, K. 1, 31, 35 Paul, F. 96 f. Patsch, H. 2, 31, 35, 40 f., 43 f., 47, 53 f. Paulus 26, 29, 35, 52 f., 67, 70 Paulus, H.E.G. 24, 32 – 34 Perpeet, W. 86 Pischon, F.A. 25

Pistorius, C. 118 Platon 2, 6, 11, 32, 68 – 72, 74 f., 124 Pörksen, U. 97, 110 f. Preußen, Friedrich Wilhelm III., König 5, 10, 31, 34, 115, 118 f., 121 f. Pufendorf, S. 85 f. Rauhut, F. 86 Raumer, F.L.G. von 14 Raumer, K.G. von 1, 9, 13 f., 122 f., 128, 132 Raumer, K.F. von 122, 127 f. Reichardt, J.F. 123 Reichardt, F. 124, 132 Reichardt, L. 124, 130 Reil, D.B.R. 92, 99 Reimer, G.A. 5, 9, 10 – 12, 34 f., 37, 43, 52, 58, 92, 94, 98, 100, 118, 120 – 122, 124 – 127 Reinhold, K.L. 3, 55, 60 Rosenkranz, C. 125 Rousseau, J.-J. 80, 88 f. Runge, Ph.O. 97 Russland, Alexander I., Kaiser 117, 119 Russland, Constantin, Großfürst und Zarewitsch 117 Russland, Elisabeth Alexejewna, Kaiserin 117 Sack, F.S.G. 36 Schelling, F.W.J. 26, 35, 37 – 39, 48, 56 – 58, 92, 97, 100 f., 103, 109 f. Schiller, F. 49, 93 Schimmelpfennig 123 Schlegel, A.W. 93 Schlegel, D. 9, 124, 127 Schlegel, F. 9, 33, 43 f., 52, 55, 68 – 70, 93, 95, 104, 110, 123, 125, 127, 136 Schleiermacher, C. 9, 14, 118, 130 Schleiermacher, H. 5, 9, 39, 116, 118, 121 – 123, 130, 133, 134 Schleiermacher, N. 10, 92, 117 Schmidt, B. 70 Schmidt, S. 3, 58, 77, 104 Scholler, F.A. 74 Schubert, G.H. von 97 Schwarz, F.H.C. 55 Semler, J.S. 72 f.

Personenregister

Shakespeare, W. 67 Simms, B. 115 f. Slenczka, N. 1, 97 Smereka, J. 97 Sockness, B. 83 Sokrates 49 Spalding, G.L. 34, 40 f., 69 – 71, 74, 117 Spangenberg, A.G. 43 Spener, P.J. 129 Spinoza, B. de 48, 50, 55 f., 93, 101 – 106, 112 f. Steffens, H. 3, 9, 10 f., 26, 58, 91 – 114, 116, 122 – 124, 127, 131 – 136 Steffens, J. 92, 114, 132, 135 Stein 121 Stein, K. 97, 109 Stroh, R. 19 Strøm, H.C. 136 f. Strøm, P.H. 136 f. Stubenrauch, S.E.T. 24, 55, 74, 116 f., 121 f., 130 Süskind, H. 63

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Thiel, K. 126 Thulemeyer, W. von 34 Tieck, L. 93 Twesten, A. 93, 95 Uecker, H. 93 Varnhagen von Ense, K.A. 124 – 126, 137 Virmond, W. 2, 26 f., 31 Voß, J.H. 122 – 125

2, 58, 65, 93,

Wagner, J.J. 110 Waschnitius, V. 96 Weichart, F. 117 Werner, A.G. 131 Werries, H. 19 Willich, E. von 9, 12, 34, 39, 118, 121 – 126, 129, 133 f. Willich, E. von jr. 133 Wolf, F.A. 68 – 71, 75 Wunder, B. 115