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German Pages 448 [449] Year 2022
Kohlhammer Studienbücher Theologie Herausgegeben von Christian Frevel Gisela Muschiol Ulrich Riegel Dorothea Sattler Hans-Ulrich Weidemann Band 5
Markus Tiwald
Frühjudentum und beginnendes Christentum Gemeinsame Wurzeln und das Parting of the Ways
Verlag W. Kohlhammer
Günter Stemberger in Dankbarkeit gewidmet
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042072-4 E-Book-Format: pdf: 978-3-17-042073-1 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ........................................................................................................................
11
Einführung ...................................................................................................................
13
„Schon viele haben es unternommen …“ Intention des Bandes.........................
13
„… alles der Reihe nach aufzuschreiben“ Gliederung des Bandes ......................
15
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“ .....................................................
17
1.
Frühjudentum .....................................................................................................
17
1.1 1.2 1.3
Der Begriff „Frühjudentum“ ............................................................ Zeitlicher Rahmen des Frühjudentums.......................................... Frühjüdische Pluriformität ..............................................................
17 19 20
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum .............................................
26
2.1 2.2 2.3 2.4
Terminologische Klärungen zu den Begriffen .............................. „Parting of the Ways“ ....................................................................... Beginn und Ende des „Frühchristentums“ .................................... Frühchristentum oder „Frühchristentümer“? .............................
26 28 51 53
II.
Geschichte des Frühjudentums .......................................................................
55
1.
Babylonische Zeit ...............................................................................................
55
2.
Persische Zeit ......................................................................................................
56
3.
4.
Hellenistische Zeit.............................................................................................
57
3.1 3.2 3.3 3.4
Die Zeit unter Alexander dem Großen ........................................... Die Diadochenkämpfe (322–301 v. Chr.) ......................................... Ptolemäische Herrschaft in Palästina (301–200 v. Chr.) .............. Seleukidische Herrschaft in Palästina (200–135 v. Chr.) .............
57 59 60 61
Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer ........................................................
65
4.1 4.2
65 70
Die Makkabäer .................................................................................... Die Hasmonäer ...................................................................................
6
5.
Inhalt
Römische Zeit ..................................................................................................... 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
6.
Politische Rahmenbedingungen...................................................... 75 Das herodianische Zeitalter ............................................................. 76 Die Zeit nach Herodes ....................................................................... 85 Judäa unter römischer Herrschaft (6–41 n. Chr) .......................... 93 Die Ära von Agrippa I. bis Agrippa II. ............................................. 100 Römische Herrschaft in Judäa von 44–66 n. Chr........................... 103
Vom Jüdischen Krieg bis zum Bar Kochba-Aufstand ................................... 107 6.1 6.2
7.
75
Der Erste Jüdische Krieg (66–70 n. Chr.)......................................... 107 Zwischen den Kriegen (70–132 n. Chr.) .......................................... 112
Die Zeit ab dem Bar Kochba-Aufstand ............................................................ 115 7.1 7.2 7.3
Der Bar Kochba-Aufstand (132–135 n. Chr.) .................................. 115 Uscha, Bet Schearim, Sepphoris ...................................................... 117 Das Rabbinische Judentum ............................................................... 118
III. Gruppierungen des Frühjudentums ............................................................... 121 1.
Die Entstehung der Sadduzäer, Essener, Pharisäer ...................................... 121 1.1 1.2
2.
Hasidäer als Vorläufer von Pharisäern und Essenern? ............... 121 Zeitliche Verortung der Anfänge dieser Gruppierungen............ 123
Sadduzäer und Pharisäer .................................................................................. 127 2.1 2.2 2.3 2.4
Quellenlage.......................................................................................... Namensgebung ................................................................................... Gesellschaftliche Verortung ............................................................ Theologie .............................................................................................
127 132 133 135
3.
Herodianer .......................................................................................................... 136
4.
Essener ................................................................................................................. 137 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
5.
Archäologische Eckdaten zu Ḥirbet Qumran ................................ Theorien zu Ḥirbet Qumran ............................................................. Die Essener in der Darstellung des Josephus ................................. Das Zeugnis des Philon über die Essener ....................................... Die Frage der Ehelosigkeit in Qumran ............................................ Der „Lehrer der Gerechtigkeit“ ....................................................... Schlachtopfer in Qumran? ...............................................................
137 139 147 150 151 155 158
Zeloten ................................................................................................................. 160 5.1 5.2 5.3 5.4
Herkunft .............................................................................................. Zielsetzung der Zeloten .................................................................... Zeloten und „Räuber“ ....................................................................... Sikarier.................................................................................................
160 162 164 165
Inhalt
6.
Die vier Gruppierungen im damaligen Judentum ........................................ 167 6.1 6.2
7.
Eckdaten .............................................................................................. Septuaginta und Aristeasbrief ......................................................... Philon von Alexandria....................................................................... Terminologische Klärungen............................................................. Politische Rahmenbedingungen...................................................... Synagogen ...........................................................................................
170 175 181 184 186 191
Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen ..................................... 197 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
9.
Die Gruppierungen und „popular Judaism“ .................................. 167 „Popular Judaism“ ohne Wohlstand und Bildung ........................ 168
Das Frühjudentum in der Diaspora ................................................................. 170 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
8.
7
Flavius Josephus ................................................................................. Apokryphes und pseudepigraphes Schrifttum ............................. Apokalyptische Schriften ................................................................. Frühjüdische Apokrypha, Pseudepigrapha, Apokalypsen .......... Qumrantexte ....................................................................................... Das erste und zweite Makkabäerbuch ............................................ Rabbinische Schriften als Quellen zum Frühjudentum? ............. Christliche Quellen zum Frühjudentum......................................... Archäologie als Quelle zum Frühjudentum ...................................
198 202 203 207 212 214 215 217 217
Samaritaner......................................................................................................... 218 9.1 9.2
(Vor-)Geschichte des samaritanischen Schismas ......................... 218 Überlieferungen der Samaritaner ................................................... 222
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum .............. 223 10.1 10.2 10.3 10.4
Johannes der Täufer .......................................................................... Jesus von Nazaret ............................................................................... Die Jesusbewegung in Palästina und Syrien .................................. Von Antiochia nach Rom ..................................................................
223 225 236 239
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums ..................................... 253 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Die Sadduzäer und die Jesusbewegung .......................................... Die Pharisäer und die Jesusbewegung ............................................ Die Essener und die Jesusbewegung ............................................... Die Zeloten und die Jesusbewegung ............................................... Die Apokalyptik und die Jesusbewegung ....................................... Die Samaritaner und die Jesusbewegung .......................................
254 254 255 259 263 263
8
Inhalt
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas ............................................................................................................. 265 1.
Soziale Entwurzelung zur Zeit Jesu? ............................................................... 265 1.1 1.2 1.3
2.
Sozialbanditen und Zeichenpropheten .......................................................... 274 2.1 2.2
3.
Die These von G. Theißen ................................................................. 265 Kritik an der These von G. Theißen ................................................ 266 Ein cultural split innerhalb der jüdischen Gesellschaft .............. 268 Sozialbanditen .................................................................................... 274 Zeichenpropheten ............................................................................. 278
Soziale Spannungen in der Geschichte Israels .............................................. 280 3.1 3.2
Soziopolitische Hintergründe .......................................................... 280 Niederschlag sozialer Spannungen in der Literatur .................... 282
V.
„Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum ................................................................................................ 285
1.
Terminologie „Tora“ ......................................................................................... 286
2.
Die „Tora“ im Frühjudentum ........................................................................... 287 2.1 2.2 2.3
3.
Fragen zum biblischen Text ............................................................................. 295 3.1 3.2
4.
Der protologisch-eschatologische Vorbehalt ............................... 302 Der Tempel als Machtfaktor............................................................. 302 Theologische Ansätze zum Tempelkult ......................................... 304
Jesus und die „Tora“ .......................................................................................... 307 5.1 5.2 5.3 5.4
6.
„Kanon“ und „Kanongrenzen“ ........................................................ 295 Textvarianten ..................................................................................... 301
Der Tempel im Frühjudentum ......................................................................... 302 4.1 4.2 4.3
5.
Unterschiedliche Tora-Theologien in Palästina ........................... 287 Gesetz im griechischsprachigen Frühjudentum ........................... 294 Abschließende Wertung ................................................................... 295
Status quaestionis .............................................................................. Jesus als Ausleger der „Tora“ ........................................................... Jesus und der Sabbat.......................................................................... Abschließende Wertung: Jesus und die „Tora“.............................
307 308 317 320
Jesus und der Tempel ........................................................................................ 320 6.1 6.2 6.3
Jesu positives Verhältnis zum Tempel ........................................... 320 Protologie und Eschatologie im Tempelverständnis Jesu ........... 321 Jesu Tempelaktion und Tempelwort .............................................. 322
Inhalt
7.
Von Jesus zu Christus ........................................................................................ 323 7.1 7.2 7.3 7.4
8.
Messias ................................................................................................. Sohn Gottes ......................................................................................... Menschensohn ................................................................................... Jesus als „Weisheit“ und „Logos“ ....................................................
325 331 336 343
Die „Hellenisten“................................................................................................ 347 8.1 8.2
9.
9
Der Stephanuskreis und die „Hellenisten“ .................................... 347 Frühjüdisch-liberale Positionen und das Frühchristentum ....... 351
Paulus ................................................................................................................... 358 9.1 9.2
Biographie ........................................................................................... 358 Theologie ............................................................................................. 360
10. Logienquelle ........................................................................................................ 371 11. Markusevangelium ............................................................................................ 373 12. Matthäusevangelium ......................................................................................... 380 13. Lukanisches Doppelwerk .................................................................................. 382 14. Johannesevangelium ......................................................................................... 384 Ein Schlusswort zu identity markers.......................................................................... 389 Anhang.......................................................................................................................... 393 Zeittafel ........................................................................................................................ 393 Spektrum Frühjudentum und beginnendes Christentum ................................... 395 Herrschaftsverhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu ............................................... 396 Das Haus der Hasmonäer ........................................................................................... 397 Das Haus des Herodes................................................................................................. 398 Register ......................................................................................................................... 399 Sachregister ................................................................................................................. 399 Stellenregister (in Auswahl) ..................................................................................... 403 Abkürzungen und Zitationsmodus .......................................................................... 409 Literatur ....................................................................................................................... 411
Vorwort
Dieses Buch stellt einerseits die Zweitauflage des Bandes Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums (BWANT 208) dar, tritt allerdings mit neuem Titel, stark erweitert und völlig überarbeitet, die Nachfolge des Bandes von H. Frankemölle, Frühjudentum und Urchristentum (KStTh 5) an. Noch stärker ruht der Fokus nun auf der Frage des „Parting of the Ways“, der vielfachen und lange dauernden Trennungsprozesse zwischen Judentum und Christentum. Obwohl es zu dieser Thematik in den letzten Jahren eine Fülle an Publikationen gab (s. Einführung und I.2.2), existiert m.W. dazu noch keine andere Monographie. Die hier vertretene Sichtweise, alle Stränge des beginnenden Christentums in ihrer Entstehung an das Frühjudentum rückzubinden, hat schon bei der Erstauflage viel Zustimmung gefunden und wurde konsequent ausgebaut: Auch MkEv und JohEv wurden in die Untersuchung mit eingebunden, der Überblick zu frühjüdischen Schriften ausgeweitet und ein eigenes Kapitel Von Jesus zu Christus erstellt, in dem die Entwicklung der Christologie als Weiterführung frühjüdischer Theologumena gedeutet wird. Auch wenn die Wege später – nicht zuletzt an diesen Deutungen – auseinandergingen, so werden hier doch die unaufgebbaren jüdischen Wurzeln des Christentums klar sichtbar. Für diese Zweitauflage gilt mein Dank besonders Kollegen H.-U. Weidemann und Herrn Dr. Weigert (sowie dem ganzen Team von Kohlhammer), die als Herausgeber und Verlagsleiter den Band für die Studienbuchreihe Kohlhammer vorgeschlagen haben, Kollegen R. von Bendemann und M. Gielen, die als Herausgeber der Erstauflage den Band für diese Neuauflage freigaben, und nicht zuletzt H. Frankemölle, in dessen Fußstapfen ich steigen durfte. Ebenso danke ich meinem Team an der Uni Wien: H. Mehring, E. Puschautz, K. Rötzer, C. Belitsch und M. Richter. Mein besonderer Dank aber gilt Herrn Kollegen G. Stemberger, der mich schon seit meiner Habilitation mit seinem Rat begleitet, bei der Erstauflage dieses Buches wertvolle Hilfestellung geleistet hat und für die Zweitauflage sponte sua angeboten hat, den Band korrekturzulesen. Ihm sei dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet. Wien, im Juni 2022
Markus Tiwald
Einführung
„Schon viele haben es unternommen …“ Intention des Bandes „Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen“ (Lk 1,1) – wenn ich hier der Versuchung nachgebe, einmal mehr die oft zitierten Worte des auctor ad Theophilum auch meinem Werk voranzustellen, dann nur, weil in der Tat schon etliche Publikationen existieren, die sich der einschlägigen Thematik widmen. So erfordert es die methodische Redlichkeit, die Frage nach dem cui bono eines solchen Bandes aufzuwerfen. Der Leser kann vorliegendes Buch dann leichter in den Reigen einschlägiger Literatur einsortieren und erfährt gleich zu Beginn, wo dieser Band auch aliquid novi, neue Erkenntnisse über die bereits bekannten hinaus, bieten möchte. Gerade durch die immer stärker sichtbar werdende Verwobenheit von Frühjudentum und beginnendem Christentum, wie auch durch die Hinzuziehung soziologischer und archäologischer Methoden, hat der wissenschaftliche Fortschritt in letzter Zeit etliche Neubestimmungen notwendig gemacht. Gerade deswegen ist dieser Band dem „Parting of the Ways“ (zu dem Ausdruck, s.u. I.2.2) gewidmet, der Frage, wann sich die Wege von Judentum und Christentum schieden und wie sehr sich die Entwicklung des gesamten Christentums dem Frühjudentum verdankt. Tatsächlich ist der Name der hierzu schon geschriebenen Bücher „Legion“, allen voran der umfassende Band von H. Frankemölle, Frühjudentum und Urchristentum, 2006, ebenso vom selben Autor Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube, 2009. Es ist die Stärke beider Monographien, auf die theologischen Entwicklungslinien zwischen Frühjudentum und beginnendem Christentum zu fokussieren. Auch wenn Frankemölle das „Parting of the Ways“ thematisiert, so ist es doch nicht der Hauptaspekt seines Bandes. Vorliegendes Buch hingegen intendiert eine grundsätzliche Beschreibung des sozio-religiösen, sozio-politischen und sozioökonomischen Umfelds, um die Frage des „Parting of the Ways“ in dieses Gesamtbild einzupassen. Als ein Proprium dieses Bandes kann die vermehrte Einbindung archäologischer Befunde in die Rekonstruktion gewertet werden. Seit der Erstauflage ist auch eine Fülle an Literatur zur Frage des „Parting of the Ways“ erschienen. So hat die Zeitschrift Evangelische Theologie 2020 das Themenheft: Parting of the Ways. Die Trennung der Wege von Juden und Christen in der neueren Forschung
14
Einführung
publiziert. In Berlin wurde 2019 eine Tagung zum Parting of the Ways gehalten, deren Sammelband von J. Schröter, B.A. Edsall, und J. Verheyden als Jews and Christians – Parting Ways in the First Two Centuries CE? Reflections on the Gains and Losses of a Model (BZNW 253), Berlin 2021 herausgebracht wurde. Ein weiterer Sammelband wurde von L. Baron, J. Hicks-Keeton und M. Thiessen als The Ways That Often Parted. Essays in Honor of Joel Marcus (ECIL SBLECL 24), Atlanta 2018 publiziert. Ein für Februar 2022 von M. Öhler und M. Tiwald geplanter Kongress Parting of the Ways: The Variegated Ways of Separation between Jews and Christians and its Consequences for Modern Jewish-Christian Dialogue musste aufgrund der Corona-Restriktionen auf September verschoben werden. Bei diesem Kongress sollen neben dem Erwägen der historischen Dimension auch praktische Konsequenzen für den modernen jüdisch-christlichen Dialog und eine christliche Theologie im Angesicht Israels gezogen werden. An älterer Literatur ist zu nennen: J. D. G. Dunn, The Partings of the Ways. Between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, 1991; E. K. Broadhead, Jewish Ways of Following Jesus. Redrawing the Religious Map of Antiquity, 2010; D. Boyarin, Als Christen noch Juden waren. Überlegungen zu den jüdisch-christlichen Ursprüngen, 2001; D. C. Harlow, Early Judaism and Early Christianity, 2010; u.a.m. An einer zu optimistischen Sicht vom „Parting of the Ways“ wurde auch Kritik geübt, so etwa S. J. D. Cohen The Ways That Parted: Jews, Christians, and Jewish-Christians, ca. 100–150 CE, 2018, und U. Schnelle Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen. Religionspolitik im 1. Jahrhundert n. Chr., 2019. So weit als möglich soll versucht werden, all diese Quellen auszuwerten und einen Pfad durch den Dschungel der Literatur zu finden. Neben den Werken zum „Parting of the Ways“ ist die große Fülle an Geschichten des frühen Christentums zu nennen, zuletzt M. Öhler, Geschichte des frühen Christentums, 2018; U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums, 30–130 n. Chr., 22016; D.-A. Koch, Geschichte des Urchristentums, 2013. Wie für eine Geschichte des frühen Christentums üblich, fokussieren diese Bände eher auf die Entwicklung ab Ostern (Schnelle setzt erst nach dem historischen Jesus an), während vorliegendes Buch klarerweise viel früher beginnt und damit auf die starke Vernetztheit frühjüdischer Theologie mit dem späteren Christentum abhebt. Erwähnenswert ist auch die große Zahl an Einführungen in die Umwelt des NT. An jüngerer Literatur wäre B. Kollmann, Einführung in die Neutestamentliche Zeitgeschichte, 2006/22011 zu nennen, oder die zahlreichen Publikationen zur Geschichte Israel und des Frühjudentums, wie etwa P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, 1983/22010, oder C. Frevel, Geschichte Israels, 2016/22018 weiters B. Schmitz, Geschichte Israels, 22015 und W. Oswald/M. Tilly, Geschichte Israels, 2016. In Weiterführung all dieser Ansätze hat sich vorliegender Band das Ziel gesetzt, insbesondere auf Fragen der Entstehung des beginnenden Christentums aus dem Frühjudentum zu fokussieren. Letztendlich war die Trennung zwischen Juden und Christen ein langer und keineswegs monolinear ablaufender Prozess, der
Einführung
15
an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablief und von den Protagonisten keinesfalls bewusst gesteuert wurde – geschweige denn intendiert war. Im Endeffekt waren es eben jene sozio-kulturellen, sozio-politischen, sozio-ökonomischen und sozio-religiösen Rahmenbedingungen, die letztlich zu jenem fait accompli führten, dass Juden und Christen irgendwann zwei getrennte Religionen darstellten. Wahrscheinlich bestehen der Reiz und auch das „Neue“, das vorliegende Monographie für den wissenschaftlichen Diskurs beitragen möchte, in der Verschränkung der unterschiedlichen Disziplinen. Erst im Ineinander-Blenden von politischen, soziologischen, ökonomischen und religiösen Mustern lässt sich verstehen, wie eng das frühe Christentum mit dem Judentum verbunden war, warum sich die Wege irgendwann trotzdem trennten, und warum die jüdischen Wurzeln für das Christentum unaufgebbar bleiben. Dieser Band ist ein Studienbuch und enthält ausführliche Fußnoten: Damit bleibt der Haupttext für ein breites Publikum lesbar, doch wird in den Fußnoten die Möglichkeit geboten, die jeweilige Thematik zu vertiefen (beides sind m.E. Desiderate eines „Studienbuchs“). Die Fußnoten verstehen sich damit als eine Art „Materialsammlung“, die Studierenden die Möglichkeit bietet, zu allen Themen weiterführende Literatur zu finden und der Komplexität gerecht zu werden.
„… alles der Reihe nach aufzuschreiben“ Gliederung des Bandes Am Anfang empfiehlt es sich, einen Überblick zu Aufbau und Gliederung des Buches zu geben. Durch die Fünf-Teilung des Bandes kommt es zu gewissen Redundanzen. Diese sind allerdings nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern bewusst intendiert, da einzelne Ereignisse so unter fünf verschiedenen Gesichtspunkten erörtert und verstanden werden können. Teil I: „Frühjudentum“ und „Frühchristentum“ ist ein grundlegendes Überblickskapitel, das den Hauptfragepunkt nach dem „Parting of the Ways“ in großen Linien umreißt. Den Anfang stellt die Frage, was unter „Frühjudentum“ und „Frühchristentum“ zu verstehen ist. Beide Termini lassen sich zu Recht problematisieren – nicht nur in Bezug auf terminologische Unschärfen, sondern auch hinsichtlich der historischen Eckdaten, die diesen Begriffen zugewiesen wurden. Danach wird das „Parting of the Ways“ in großen Linien nachgezeichnet. Teil II: Geschichte des Frühjudentums liefert nun – sozusagen nachgereicht – die historischen Vorbedingungen des „Parting of the Ways“, das sich nur aus der Geschichte des Frühjudentums heraus verstehen lässt. Dabei sollen nicht historische Daten „nacherzählt“, sondern ein Bewusstein geschaffen werden, wie komplex die Wechselwirkungen politischer, soziologischer, ökonomischer und religiöser Fakten waren und was dies für das „Parting of the Ways“ bedeutet.
16
Einführung
Teil III: Gruppierungen des Frühjudentums geht nun einen Schritt weiter: Nachdem Teil II den historischen Gesamtüberblick geboten hat, werden in dieses Gerüst die einzelnen Gruppierungen des Frühjudentums eingezeichnet, zunächst in Palästina, dann in der Diaspora und letztlich wird auch das beginnende Christentum als ein Phänomen des Frühjudentums verstanden. Es ist ein erklärtes Ziel dieses Buches, die neueren Erkenntnisse der Judaistik (etwa zu Sadduzäern, Pharisäern, Essenern und Zeloten) oder der Archäologie auch im Blick auf die neutestamentliche Theologie anzuwenden. Schriftsteller, Schriften und Quellen des Frühjudentums werden thematisiert, um die Breite frühjüdischen Denkens zu beleuchten und damit die Quellen des späteren Christentums zu verdeutlichen. Ein weiterer Punkt fokussiert auf die Geschichte der Samaritaner und ihr „Parting of the Ways“ mit dem Judentum. Teil IV: Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas stellt einen soziologisch-religiösen Exkurs dar. Er versucht die Entstehungsdynamik des beginnenden Christentums nicht nur theologisch, sondern auch soziologisch nachvollziehen zu können. Will man ein umfassendes Bild von „Frühjudentum und beginnendem Christentum“ erstellen, muss es gelingen, Jesus von Nazaret und seine Nachfolger auch im sozio-politischen Habitat des damaligen Judentums zu verorten und theologische Positionen als Folge sozio-ökonomischer Realitäten zu verstehen. Erst so werden Jesus und das beginnende Christentum in ihrer frühjüdischen „Kontextplausibilität“ abgebildet. Teil V: „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und beginnendem Christentum ist der am stärksten „theologisch“ orientierte Abschnitt des Buches. Vor dem Hintergrund historischer Eckdaten (Teil II), religiöser Gruppierungen (Teil III) und soziologischer Gegebenheiten (Teil IV) kann nun die daraus resultierende Theologie untersucht werden. Ein besonderer Schwerpunkt ruht dabei auf der starken Pluriformität im damaligen Judentum – gerade in der Interpretation des jüdischen Gesetzes und in Bezug auf die Tempelfrömmigkeit. Auch wenn es inzwischen ein Gemeinplatz unter Neutestamentlern ist, auf diese Pluriformität abzuheben, so wurden die ausgesprochen weitreichenden Konsequenzen dieser Thematik noch immer nicht voll in ihrer Bedeutung für die neutestamentliche Theologie erfasst. Es ist meine feste Überzeugung, dass das gesamte beginnende Christentum ursprünglich nichts anderes war als eine bestimmte Lesart des Frühjudentums. Eliminiert man diese Herkunft, bleibt das tiefere Verständnis verschlossen. Selbst die Tatsache, dass die Geschichte später doch auf eine Trennung zwischen Juden und Christen hinauslief, kann nur aus frühjüdischer Theologie verstanden werden. Damit aber schließt sich der Kreis zu Teil I, dem „Parting of the Ways“ und der Einsicht, dass wir Christen bleibend auf das Judentum verwiesen sind. Schließlich gilt das Wort des Paulus noch immer: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18).
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
1.
Frühjudentum
1.1
Der Begriff „Frühjudentum“
Der Terminus „Frühjudentum“1 wird in der wissenschaftlichen Literatur ausgesprochen unterschiedlich verwendet, schließlich ersetzt der Begriff zunächst nur „den sachlich irreführenden und theologisch abwertenden Begriff Spätjudentum.“2 Der Ausdruck „Spätjudentum“ gibt einen (gewollt oder ungewollt) abwertenden Zug aus christlicher Perspektive wieder, das (christlich verwertbare) alttestamentliche Judentum wird damit vom negativ gesehenen „späteren Judentum“ abgegrenzt;3 in der nachexilischen Zeit habe – so die früher weit verbreitete Meinung – ein kasuistisches Gesetzesverständnis immer mehr Oberhand gewonnen.4 Für eine solche Sichtweise gibt es keinerlei wissenschaftliche Grundlage, zumal der Ausdruck „Spätjudentum“ impliziert, dass hier das Ende des Judentums erreicht wäre (in christlichen „Geschichten Israels“ endet die Darstellung daher traditionell mit dem Bar Kochba-Aufstand). Der Ausdruck „Frühjudentum“ ist zunächst also nur eine Verlegenheitslösung, um den vorbelasteten Ausdruck „Spätjudentum“ abzulösen; man war bemüht, sich „der verbrauchten Metapher vom ‚Spätjudentum‘ zu entschlagen und stattdessen mit größerer Entschiedenheit und mit mehr Überzeugung vom Frühjudentum zu sprechen.“5 Somit sind die Bedenken von Boccaccini gegenüber dem Ausdruck „early Judaism“ gut verständlich, sodass er den Terminus „middle Judaism“ vorschlägt. „The nomenclature [sc. early Judaism] suggests that between ‚early Judaism‘ and (rabbinic) Judaism there is the same ideological continuity as between ‚early Christianity‘ to Christianity. 1 2 3 4
5
Vgl. den Forschungsüberblick bei Collins, Judaism, 1–6, und Tiwald, Hebräer, 28–30. Schmidt, Art. Frühjudentum, 688. Vgl. Mußner, Toraleben, 34, und Boccaccini, Judaism, 19. Vgl. auch die Kritik an solchen Positionen bei Lichtenberger, Ich, 124, weiter bei Niebuhr, Rechtfertigungslehre, 116–118, und bei Stegemann, Jude, 128, der hier vor allem auf die Ansätze von W. Bousset († 1920) verweist: „Vollends durch Dekadenz und Epigonalität ist für Bousset jedoch das Jesus zeitgenössische Judentum gekennzeichnet, das als Verfallserscheinung denn auch Spätjudentum heißt.“ Müller, Verhältnis, 257.
18
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
However, not all the Jewish movements active between the third century B.C.E. and the second century C.E. can be ... placed in a direct line of continuity with rabbinic Judaism.“6 Da sich allerdings der Ausdruck „Frühjudentum“ in der wissenschaftlichen Literatur schon fest etabliert hat, und darüber hinaus auch das Missverständnis von einer geradlinigen Entwicklung des Frühjudentums hin zum rabbinischen Judentum nicht zwangsweise mit dem Ausdruck „Frühjudentum“ verbunden sein muss, kann man auch weiterhin an diesem Ausdruck festhalten. Auch weil man „middle Judaism“ mit dem Mittelalter verwechseln könnte, erscheint „Frühjudentum“ bzw. „early Judaism“ als „the least problematic label available.“7 Vermeiden sollte man hingegen den Begriff „intertestamentarisch“: In unschöner Weise insinuiert dieser Ausdruck – ob gewollt oder ungewollt – die Vorstellung, dass diese Phase des Judentums nur eine „functionally intermediate phase“8 im Übergang zum Christentum gewesen wäre, was den historischen Fakten klarerweise widerspricht. „Intertestamental is a misnomer. The texts are all Jewish but composed in the period between the two testaments of the Christian Bible.“9 Auch der Ausdruck „nachbiblisches Judentum“ sollte nicht verwendet werden, da der jüdische „Kanon“ der heiligen Schriften erst in rabbinischer Zeit seinen definitiven Abschluss fand, wobei der Ausdruck „Kanon“ eine christliche Wortprägung ist und auf die jüdischen Heiligen Schriften gar nicht angewendet werden sollte (s.u. V.3.1, dort auch weitere terminologische Klärungen zu den heiligen Schriften von Juden und Christen). Suboptimal ist sodann der Ausdruck „Second Temple Judaism“/„Judentum (zur Zeit) des Zweiten Tempels“.10 Zunächst wurde der Zweite Tempel schon in Persischer Zeit errichtet (s.u. II.2) und umfasst damit einen Zeitrahmen, der weit vor der hellenistischen Zeit ansetzt. Andererseits greift diese Bezeichnung auch wieder zu kurz, da etliche frühjüdische Autoren erst nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. aktiv waren (wie Flavius Josephus, 4. Esrabuch, u.a.). Allerdings könnte man die „Zeit des Zweiten Tempels“ auch erst nach dem Scheitern des Bar Kochba-Aufstands enden lassen, da erst hier klar wurde, dass es über einen längeren Zeitraum keinen Neubau des Tempels geben würde.
6 7 8 9 10
Boccaccini, Judaism, 22. Ebenso Boccaccini, Interpreters, 217. Collins, Judaism, 2. Boccaccini, Judaism, 21. Fitzmyer, Paul, 601. Vgl. dazu im Folgenden Collins, Judaism, 2.
1. Frühjudentum
1.2
19
Zeitlicher Rahmen des Frühjudentums
Die terminologische Unsicherheit des Begriffs „Frühjudentum“ schlägt auch in der zeitlich sehr verschiedenartig vorgenommenen Begrenzung dieser Periode zu Buche und hängt meistens vom gewählten Untersuchungsschwerpunkt des Betrachters ab. So grenzt Müller etwa das Frühjudentum ein als „die Geschichte und Religion Israels von der Perserzeit bis 100 n. Chr.“11 Grabbe hingegen setzt die Zeitspanne des Frühjudentums mit der Exilszeit am Anfang und der Zeit von Javne am Ende an,12 verweist aber darauf, dass manche den Beginn des Frühjudentums erst mit dem Anbruch der hellenistischen Zeit im Nahen Osten fixieren. Als weitere Möglichkeiten für einen terminus post quem wären die Reformen Esras und Nehemias oder erst die Zeit der Makkabäerkriege zu nennen.13 Auch für den Endpunkt des Frühjudentums gibt es unterschiedliche Datierungen: Neben den Jahren 70 n. Chr. (Zerstörung des Tempels) oder 135 n. Chr. (Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstands) werden bisweilen der Abschluss der Mischna (um 200) oder gar das Jahr 279 n. Chr. (das traditionelle Todesjahr des Jochanan bar Nappacha aus der zweiten Generation der Amoräer) genannt. Eine Definition erscheint deswegen so problematisch, weil die von Schmidt genannten „internen Entwicklungen: alleiniges Überleben der Pharisäer und ihrer Lehren, Abschluss des Kanons, Synagoge und Lehrhaus als Mittelpunkt des jüdischen Lebens“14 in der heutigen Forschung allesamt strittig geworden sind. Auch die Begrenzung auf das „Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels“ kann nicht gut weiterhelfen – nach den oben bereits genannten Kriterien muss man konzedieren: „Die Zeit des ‚Zweiten Tempels‘ (von seiner Errichtung und Weihe nach der Zerstörung durch die Babylonier im Jahr 515 v. Chr. bis zu seiner erneuten Zerstörung durch die Römer im Jahr 70 n. Chr.) wird folgerichtig in eine nachexilische und eine frühjüdische Epoche unterteilt, wobei letztere in der Regel die beiden Jahrhunderte vor und das erste nach Christus umfasst.“15 Es scheint sinnvoll, den Beginn des Frühjudentums mit der immer stärkeren Hellenisierung Palästinas und Jerusalems mit Anfang des 3. Jh. v. Chr. anzusetzen. Als Endpunkt des Frühjudentums empfiehlt es sich, den Beginn der rabbinischen Zeit anzunehmen. Dafür allerdings kann keinesfalls schon das Jahr 70 n. Chr. (der Fall Jerusalems und die Zerstörung des Tempels) geltend gemacht werden, da das rabbinische Judentum nicht geradlinig aus dem pharisäischen Judentum hervorgegangen ist (s.u. I.1.3.1) und mit längeren Übergängen zu rechnen ist. Darüber hinaus gilt zu bedenken: In der Zeit von Javne „fühlte man noch gar keinen Bruch 11 12 13 14 15
Müller, Verhältnis, 257. Vgl. Grabbe, Religion, 5. Vgl. Schmidt, Art. Frühjudentum, 688. Schmidt, Art. Frühjudentum, 689. Niebuhr, Rechtfertigungslehre, 118.
20
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
mit der Zeit vor 70. Dessen wurde man sich vielmehr erst in Uscha bewußt, als klar war, daß es in absehbarer Zeit keinen Tempel und keine Restauration früherer Zustände geben werde ...“,16 also etwa ab 140 n. Chr. Am sinnvollsten erscheint die Position von Boccaccini, der hier den Zeitraum des dritten Jahrhunderts v. Chr. bis zum zweiten Jahrhundert n. Chr. veranschlagt (also 300 v. Chr. bis 200 n. Chr.)17
1.3
Frühjüdische Pluriformität
1.3.1
„Normatives Judentum“/„pharisäisch-rabbinische Prägung“?
Kennzeichnend für die frühjüdische Zeit ist eine starke Pluriformität. Die noch immer anzutreffende Rede vom „pharisäisch-rabbinischen Judentum“,18 das es bereits um die Zeitenwende gegeben habe und das dann gerne als „normatives Judentum“ betrachtet wird, ist anachronistisch. Zum Teil geht diese Vorstellung auf die rabbinische Historiographie selbst zurück:19 Die späteren Rabbinen datierten ihre Idealvorstellungen in die Zeit von Esra (vgl. Neh 8,1–8) zurück, so wie ja auch im Christentum spätere Entwicklungen und Institutionalisierungsprozesse gerne in die Zeit Jesu zurückprojiziert wurden. Allerdings entwickelte sich das rabbinische Judentum erst lange nach dem Jahr 70 – wohl nicht vor der Mitte des 2. Jh. n. Chr. –, und auch dabei waren die Rabbinen keineswegs die direkten Erben der Pharisäer. Eine „pharisäisch-rabbinische“ Kontinuität hat es nie gegeben.20 Stattdessen lässt sich beweisen, „daß das palästinische Judentum der Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung alles andere als eine mehr oder weniger uniforme Größe gewesen ist“ und „daß es nicht geringe Gegensätze zwischen den palästinischen Religionsparteien jener Epoche gegeben hat.“21 Dabei beziehen sich die Unterschiede „vornehmlich auf die Auslegung des mosaischen Gesetzes, betreffen aber nicht weniger das Maß und die Intensität, in der man mit einem baldigen und endgültigen Eingriff Gottes in die Geschichte seines Volkes und der Welt rechnete.“22 Besonders durch die Qumranfunde – aber keineswegs nur aufgrund dieser23 – hat sich eine gänzlich neue Bewertung des Frühjudentums durchge16 17
18 19 20 21 22 23
Stemberger, Einleitung, 15. Vgl. Boccaccini, Judaism, 20, und Boccaccini, Interpreters, 219, auch wenn man – anders als Boccaccini – hier doch von „Frühjudentum“ und nicht von „middle Judaism“ spricht. Vgl. die Kritik bei Stemberger, Pharisäer, 129; rezent ders., Pharisees, 240–254. Chilton, Targum, XXf. Vgl. Stemberger, Umformung, 85; rezent ders., Pharisees, 240–254. Van der Woude, Fakten, 263. Van der Woude, Fakten, 263. Bei Sterling, Place, 25–28, etwa wird die Konzeption eines frühjüdischen „normative Judaism“ in Auseinandersetzung mit Philon in Frage gestellt.
1. Frühjudentum
21
setzt: „Umwälzend sind die Qumran-Funde nicht für das Neue Testament, sondern für das bisherige Bild des antiken Judentums.“24 Dazu G. Stemberger:25 Das rabb. Judentum hat wohl nie die einzige Ausprägung jüdischen Lebens dargestellt; und es ist auch erst durch eine Entwicklung von Jahrhunderten zum „normativen“ Judentum geworden, als das man es gern für die ganze Periode angesehen hat ... Die Quellen für die Darstellung der rabb. Zeit sind so einseitig, daß das aus ihnen gewonnene Geschichtsbild weithin ungesichert bleibt – die Vorstellung vom „normativen“ Judentum geht z.B. auf diese Quellenlage zurück.
1.3.2
„Mainstream Judaism“ vs. „Sectarian Judaism“?
Wenn es damals ein „normatives Judentum“ gar nicht gab, wird die Frage umso drängender, ob man für das Frühjudentum einen „common denominator“26 – also eine Art „gemeinsamen Nenner“ – finden kann, und ob sich davon nicht doch eine Art „mainstream Judaism“ ableiten lässt. So etwa versucht E. P. Sanders unter dem Schlagwort „‚normal‘ or ‚common‘ Judaism“ zu definieren, „what the [sc. Jewish] priests and the people agreed on.“27 So auch L. V. Rutgers:28 Arguing against the view that holds that Judaism in first century Palestine was divided into a variety of parties, ... according to Sanders’ definition, the term „common Judaism“ is a convenient concept to indicate that in first century Palestine (and probably in the Greek-speaking Diaspora during this period) most Jews agreed what were the most fundamental characteristics of their religion.
Gerade im Rückblick auf das Frühjudentum ist es allerdings sehr schwer, eine Norm zu finden, mit der man das „typisch Jüdische“ ausdefinieren könnte; solche Definitionen sind, wie Neusner anmerkt, „either too general to mean much (monotheism) or too abstract to form an intelligible statement.“29 Natürlich könnte man für das Frühjudentum die Definition einer auf heiligen Texten („Bibel“, s.u. V.3.1.1) basierenden Gruppierung bemühen, doch selbst hier war der anerkannte Fundus heiliger Texte von Gruppe zu Gruppe verschieden, denn: „Nothing separated the individual currents of Judaism more than the common Bible.“30 Gleiche Bedenken gelten für die Verortung eines gemeinsamen Nenners etwa im Tempelkult (dieser wurde im Frühjudentum sehr unterschiedlich gesehen, s.u. V.4) oder dem Synagogeninstitut (als Gebäude gab es dieses im Frühjudentum nicht in jeder jüdischen Ortschaft, s.u. III.7.6). Die Annahme eines gemeinsamen Fundamentes 24 25 26 27 28 29
30
Stegemann, Essener, 361. Stemberger, Einleitung, 15. Vgl. auch Neusner, Formation, 42. Stemberger, Mainstream, 205. Sanders, Judaism, 47. Rutgers, Jews, 208. Neusner, Literature, 119. Vgl. auch Stegemann, Essener, 361–364, und die Kritik von Hezser, Torah, 134f., am Konzept von Sanders „common Judaism“. Stemberger, Mainstream, 203.
22
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
in jüdischen Grundüberzeugungen, wie „monotheism, God’s active presence in history, the election of Israel as people and country, elementary ethical principles, etc.“31 bedürfte hingegen einer genaueren Definition, um nicht als zu vage auszuscheiden. Auch der Verweis auf den Ausdruck „Sekten“ im damaligen Judentum sollte mit Vorsicht genossen werden. Wenn Flavius Josephus in A.J. 13,171–173 die unterschiedlichen Gruppierungen im Judentum seiner Zeit mit dem Wort αἱρέσεις umschreibt, was man am besten mit „Parteiungen“ wiedergeben kann, obwohl das Wort ansonsten auch „Sekte“ (davon abgeleitet αἱρετικός „häretisch“) bedeuten kann, so trägt dies keine pejorative Wertung in sich. Dies zeigt sich schon allein darin, dass Josephus alle von ihm genannten Gruppierungen im damaligen Judentum mit diesem Ausdruck bezeichnet. Darüber hinaus bemerkt er in Vita 191, dass die „Sekte“ der Pharisäer in der Gesetzesbeobachtung alle anderen Gruppierungen im Judentum an Akribie übertroffen habe. Das Wort ist hier also in positivster Weise konnotiert.32 Dies hat natürlich Konsequenzen für die Beurteilung der frühjüdischen Gruppierungen. Wenn etwa die Texte von Qumran als Ausfluss eines „sectarian Judaism“33 bezeichnet wurden, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass diese Texte nicht mit dem „mainstream Judaism“ konform gingen, so ist diese Abqualifizierung nicht zu rechtfertigen. Auch die Leute hinter den Qumrantexten waren eine jüdische Gruppierung unter anderen, und keine aus dem Rahmen fallende Splittergruppe.34 Gerade essenisches und sadduzäisches Material überlebte noch lange Zeit: „Allein das Auftreten der Karäer im 8. Jh., deren Positionen zum Teil essenischen oder sadduzäischen Vorstellungen verwandt sind, stört die Idylle völliger Harmonie unter rabbinischer Führung. Kann man diese Parallelen ohne historische Abhängigkeit erklären, sind sie zumindest zum Teil literarisch vermittelt (frühe Qumran-Funde), oder deuten sie auf einen über die Jahrhunderte fortschwelenden Widerstand gegen rabbinische Auffassungen, der sich erst in der islamischen Umwelt deutlicher artikulieren konnte?“35 Auch Stegemann kommt zum Schluss: „Die für das heutige Judentum autoritativen Überlieferungen der Rabbinen waren sicherlich viel umfassender von den Essenern mitbestimmt, als die bis heute üblichen Betrachtungsweisen es wahrzunehmen fähig sind ...“36 Umgekehrter Weise waren auch den Pharisäern
31 32
33 34 35 36
Stemberger, Mainstream, 203. Ähnlich rückt sich Josephus in Vita 12 selbst in die Nähe der Pharisäer, indem er behauptet: ἐννεακαιδέκατον δ᾽ ἔτος ἔχων ἠρξάμην τε πολιτεύεσθαι τῇ Φαρισαίων αἱρέσει κατακολουθῶν („Als ich aber 19 Jahre alt war, begann ich mich politisch zu engagieren, indem ich der Sekte der Pharisäer nachfolgte“; Ü.MT), auch hier im positiven Sinne. Vgl. dazu Lim, Qumran, 146. Vgl. Lim, Qumran, 155. Stemberger, Pharisäer, 129f. Vgl. auch Stegemann, Essener, 362. Stegemann, Essener, 362.
1. Frühjudentum
23
„sektiererische Frontstellungen“ und eine gewisse „Sonderexistenz“37 zu eigen, was sich nicht zuletzt im Namen „Pharisäer“ („die Abgesonderten“, s.u. III.2.2.2) niederschlägt. Daher sollte man Ausdrücke wie „mainstream Judaism“, „sectarian Judaism“, „orthodoxes“ oder „heterodoxes“ Judentum am besten beiseitelassen. 1.3.3
Die Frage nach einer gemeinsamen frühjüdischen Identität
Trotz der soeben referierten Vorbehalte bleibt die Frage nach einer gemeinsamen Identität des Frühjudentums legitim, denn das Verbindende zwischen den Gruppierungen war trotz allem noch stärker als das Trennende, wie G. Stemberger angesichts des Jüdischen Krieges betont: „Daß aber im Aufstand Pharisäer und Sadduzäer, Essener und Zeloten sich zu einer, wenn auch noch so brüchigen Aktionsgemeinschaft bereit fanden, zeigt jedenfalls, daß man sich über Schulgrenzen hinweg noch immer als das eine Israel empfand.“38 Auch wenn es sich als Ding der Unmöglichkeit erweist, dieses Verbindende in einem präzise ausdefinierten Katalog zusammenzustellen, so sollte man doch das Verbindende über das Trennende stellen. Die starke Betonung frühjüdischer Pluriformität hat zuletzt sogar „zu einer Sprachregelung geführt, die von ‚dem Judentum‘ im Singular gar nicht mehr reden will, sondern von ‚Judentümern‘ im Plural …“,39 wie Niebuhr zu Recht bedauernd anmerkt. So etwa Frankemölle:40 Der innerjüdischen Vielfalt steht eine innerchristliche Vielfalt (sofern man zur Zeit des NT dezidiert von ‚christlich‘ sprechen kann) gegenüber … Wie es beim Begriff „Christentum“ keine monolithische Einheit gibt, so auch nicht beim „Judentum“. Für die Zeit des NT dürften beide Bezeichnungen im Singular anachronistisch sein.
So sehr die Betonung der innerjüdischen und innerchristlichen Pluralität ihre verdiente Berechtigung hat, ist diese Terminologie doch irreführend, „weil sie die verbindenden Elemente zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen, die sie eben erkennbar von allen nichtjüdischen Gruppierungen separierten, außer Acht lässt oder zumindest in ihrer Bedeutung zu gering veranschlagt“41 (zur frühchristlichen Pluralität s.u. I.2.4). Tatsächlich referieren alle frühjüdischen Gruppierungen auf die Tora als unaufgebbare Grundlage – auch wenn die Interpretation derselben von Gruppe zu Gruppe doch beträchtlich abweichen konnte, bleibt diese doch ein gemeinsames Zentrum einer gemeinsamen Religion.
37 38 39 40
41
Neusner/Thoma, Pharisäer, 216. Stemberger, Pharisäer, 128. Niebuhr, Jesus, 329. Frankemölle, Frühjudentum, 28; vgl. auch Nicklas, Jews, 12. Siehe dazu auch den Forschungsbericht bei Boccaccini, Interpreters, 207–217. Niebuhr, Jesus, 329. Vgl. auch Collins, Judaism, 6.
24
I.
1.3.4
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Ioudaioi: „Juden“ oder „Judäer“
In letzter Zeit ist die Frage virulent geworden, ob der Ausdruck Ἰουδαῖοι, Ioudaioi als „Juden“ oder als „Judäer“ übersetzt werden soll.42 Mit dem Ausdruck „Judäer“ wäre keine Religion, sondern ein Volk mit seiner eigenen Lebenskultur gemeint. Demzufolge müsste man auch den Ausdruck Ἰουδαϊσμός, Ioudaismos nicht mit „Judentum“ im Sinne einer Religionsgemeinschaft, sondern als Orientierung an der Lebenskultur des Volkes der Judäer übersetzen. Auch wenn eine Übersetzung mit „Judäer“ in etlichen Fällen möglich und berechtigt ist, muss man doch eine einseitige Wiedergabe mit „Judäer“ zurückweisen. Zu Recht ist darauf verwiesen worden, dass seit der Makkabäerzeit mit dem Begriff Ioudaioi sowohl eine Volksgemeinschaft wie auch eine Religion verstanden wurde. So etwa kann man zum „Juden“ konvertieren (2Makk 9,17) oder von der jüdischen Glaubenspraxis abfallen (2Makk 6,1–9). In Josephus, A.J. 20,38–43 wird berichtet, dass Helena, die Königin von Adiabene und ihr Sohn, der Thronerbe Izates († 55 n. Chr.), zum Judentum konvertieren wollen.43 Dabei stellt Izates die Frage, was er tun müsse, um εἶναι βεβαίως Ἰουδαῖος, „ein richtiger Jude zu sein“ (Text und Diskussion s.u. V.8.1.4). Die Frage zielt darauf ab, was verpflichtend ist, um τοῖς Ἰουδαίων ἔθεσιν, „den Bräuchen der Juden“ verbunden zu sein. Hier wird das Brauchtum einer Volksgemeinschaft bereits zum identity marker einer Religionsgemeinschaft. Es wäre fatal, die Beschneidung in A.J. 20,38–43 und 2Makk 6,1–9 lediglich als folkloristische Tradition misszuverstehen, zumal an beiden Stellen das Bekenntnis zu jüdischen Werten massive Repressionen zur Folge hatte. Auch wenn in einigen Fällen eine Übersetzung mit „Judäer“ möglich ist, stellt eine ausschließliche Übersetzung in diesem Sinne eine Verkürzung dar.44 So zu Recht J. Frey:45 Natürlich ist die Wiedergabe von Ἰουδαῖοι durch „Judäer“ an vielen Stellen möglich, wo der Terminus tatsächlich Menschen in oder aus Judäa bezeichnet, aber die Verwendung des Terminus für Idumäer und Galiläer, für Mitglieder der Diasporasynagoge oder Proselyten ist jedenfalls philologisch schwer zu begründen, umgekehrt werden nichtjüdische Personen aus Judäa nirgendwo Ἰουδαῖοι genannt, und der Bezug von Ἰουδαῖος auf eine religiöse Identität ist schon seit den Makkabäerbüchern gegeben.
42
43 44
45
Vgl. Problemanzeige und Diskussion: Öhler, Geschichte, 14f., mit Blick auf das JohEv: Frey, Juden, 339–377; Reinhartz, Gospel, 467; Schröter/Edsall/Verheyden, Introduction, 2. Für eine Übersetzung mit „Judäer“ hat sich besonders Mason in seinem 2007 erschienenen Artikel Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism: Problems of Categorization in Ancient History eingesetzt. Zu den Ausdrücken Ioudaismos/„Judentum“ und Christianismos/„Christentum“ vgl. Bremmer, Ioudaismos, 57–87. Vgl. dazu Broer, Konversion, 133–162. Vgl. dazu Reinhartz: https://themarginaliareview.com/vanishing-jews-antiquity-adelereinhartz/ (26.12.2021). Frey, Juden, 345.
1. Frühjudentum
1.3.5
25
„Palästina“ – „Israel“ – „Judäa“
Der (nicht biblische) Begriff „Palästina“46 leitet sich vom aramäischen pelištāʾīn ab, in dem das hebräische פְ לִ ְש ִתּים, pelischtim als Bezeichnung für die „Philister“ nachklingt. Schon Herodot († um 430 v. Chr.) bezeichnete das Siedlungsgebiet der Philister in der Küstenebene von Jafo bis Gaza als Συρία ἡ Παλαιστίνη, Syria hē Palaistinē (das philistäische Syrien; Hist. I,105; III,5.91; VII,89). Nach dem gescheiterten Bar Kochba Aufstand 135 n. Chr. benannte Kaiser Hadrian die römische Provinz westlich des Jordans syria palaestina. Durch die völkerrechtlich umstrittene Unabhängigkeitserklärung des Staates Palästina 1988 ist der Begriff „Palästina“ problematisch geworden, allerdings kann man zwischen palästinisch (historische Region) und palästinensisch (modern-politisch) unterscheiden. Die Bezeichnung „Israel“ ist ebenfalls mehrdeutig, da nach der Reichsteilung (1Kön 11; 926 v. Chr.) nur mehr das Nordreich diesen Namen trug. Das Südreich wurde „Juda“ genannt. Nach dem Untergang des Nordreichs 722/20 v. Chr. wurde allerdings auch in biblischen Texten das verbleibende Südreich (mit den 2½ Stämmen Juda, Benjamin und den dort ansässigen Leviten) als „Israel“ bezeichnet. Unter den Hasmonäern gibt es schließlich wieder einen König „Israels“, aber ab der römischen Zeit (63 v. Chr.) stellten Galiläa und Judäa nicht immer eine politische Einheit dar, auch wenn sich beide Teile ihrer Identität als „Israel“ bewusst sind. Dabei ist „Israel“ damals meist keine geographische, sondern eine nationale und religiöse Größe. Auch der Diasporajude Paulus kann sich als „Israelit“ (Röm 11,1) bezeichnen, und im Pentateuch werden „Israel“ (Gen 46,1; Ex 4,22; 5,22 u.ö.) und „Israelit*in“ (Lev 24,10; Num 1,52; 25,14; 32;18; 36,7.9; u.ö.) auch für Volk und Angehörige des Volkes außerhalb des Landes (in Ägypten und der Wüstenwanderung) verwendet. Noch unzutreffender ist der Ausdruck „Judäa“, da damit Galiläa und andere Teile des „Heiligen Landes“ ausgeschlossen bleiben. Auch der Ausdruck „Heiliges Land“ bleibt geographisch vage und ist biblisch nur in Sach 2,16; Weish 12,3; 2Makk 1,7 (vgl. Ps 78,54) zu finden. Der in jüngerer Zeit verwendete Begriff „südliche Levante“ ist ebenfalls ungenügend, da er die Unterschiede zwischen in „Palästina“ lebenden Juden (in 2Kor 11,22; Phil 3,5; Apg 6,1 als „Hebräer“ bezeichnet) und jenen der Diaspora (Apg 6,1: „Hellenisten“) verwischt. – Faute de mieux verwendet dieser Band daher den Ausdruck Palästina als geographisch-historische Große bar politischer Konnotationen.
46
Im Folgenden: Frevel, Geschichte, 28–31; Frankemölle, Frühjudentum, 85–87; Heyden, Orientierung, bes. 1–15 und 335–356; Eck, Aufstand, 263.
26
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
2.
Frühchristentum und beginnendes Christentum
2.1
Terminologische Klärungen zu den Begriffen
2.1.1
„Urchristentum“ – „Frühchristentum“ – „beginnendes Christentum“
Mit dem Begriff „Urchristentum“ wurde in der Aufklärung die der orthodoxen Kirchenlehre zuwiderlaufende, vermeintlich ursprüngliche Lehre Jesu und seiner Jünger bezeichnet. „Der Begriff konnotiert qua seines Präfixes Ur- eine ungetrübte … Originalität, den unbedingten Anspruch auf Normativität …“47 Die Sichtweise eines reinen, unverfälschten Urzustandes, demgegenüber die spätere Entwicklung als Verfallsgeschichte angesehen werden muss, ist ein Anachronismus. Gleiches gilt für den Ausdruck „Apostolische Zeit“ als Bezeichnung für die erste christliche Generation:48 Der Aposteltitel wurde im beginnenden Christentum weder einheitlich gebraucht, noch geht er auf den historischen Jesus selbst zurück.49 Daher insinuiert der Begriff „apostolische Zeit“ fälschlich eine monolineare und normative „apostolische“ Urzeit der Kirche, obwohl mit wesentlich komplexeren Entwicklungslinien zu rechnen ist. Allerdings sollte man der Phase des beginnenden Christentums nicht jegliche Normativität absprechen: Tatsächlich war die Zeit bis etwa 150 n. Chr. von einmaliger Prägekraft für die späteren Entwicklungen, sodass man dieser Periode – nicht zuletzt durch die bis dahin erfolgte Abfassung der Schriften des neutestamentlichen Kanons – zu Recht auch eine gewisse Normativität zusprechen muss.50 Will man den Begriff „Urchristentum“ vermei-
47
48 49
50
Alkier, Urchristentum, 261. Gleicherweise Schnelle, Jahre, 25–28. Zur Geschichte des Begriffs vgl. Alkier, Urchristentum, 161–254, und Koch, Geschichte, 23. Zur detaillierten Diskussion vgl. Koch, Geschichte, 22. Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Entwicklungslinien, 101–128. Der Ausdruck „Apostel“ entwickelte sich von einem Abgesandten (Joh 13,16; Phil 2,25; 2Kor 8,23) zum missionarisch-pneumatischen Aposteltitel (1Kor 12,28; 2Kor 12,12) hin zum Erscheinungsapostolat, der den Titel nun nur mehr auf die Zeugen einer Christophanie des Auferstandenen einschränkte und die Zeit der Apostel damit zu einer historisch einmaligen Epoche der ersten Generation werden ließ (1Kor 9,1; 1Kor 15,8). Das lukanische Doppelwerk belegt dann die noch spätere Einschränkung des Aposteltitels nur mehr auf den Zwölferkreis (Lk 6,13; Apg 1,21f.). Auch das dreigliedrige Weiheamt (Bischof, Priester und Diakon) hatte eine längere Entwicklungslinie und begegnet erst in den pseudepigraphen Ignatiusbriefen – und selbst dort scheint die Darstellung erst ein intentionales Ziel, jedenfalls noch keine allgemeine Gemeinderealität wiederzugeben (vgl. Niederwimmer, Theologie, 400). So Weidemann, Jesus, 43; Schnelle, Jahre, 26: „Ein normatives Element schwingt ebenfalls mit, denn dem Anfang wurde zu allen Zeiten des Christentums eine besondere Bedeutung beigemessen.“ Koch, Geschichte, 24: „Die Einsicht in die gar nicht so ‚idealen‘ Abläufe in der Anfangsphase des Christentums verbietet es keineswegs, den Begriff ‚Urchristentum‘ zu
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
27
den, bieten sich stattdessen „frühes Christentum“ oder „Frühchristentum“51 an. Beide Begriffe werden jedoch auch für die Kirchengeschichte bis zur Konstantinischen Wende verwendet. Vielleicht ist das aber nicht schlimm, denn selbst wenn die Zeit bis zur Mitte des 2. Jh. eine gewisse Normativität besitzt, so war in dieser Zeit weder das „Parting of the Ways“ noch die dogmatische Entwicklung so abgeschlossen, dass man von einer realen Zäsur reden könnte. Obendrein hat „Frühchristentum“ den Charme einer semantischen Parallele zum „Frühjudentum“ und auch zur englischen Bezeichnung „early Christianity“. Dennoch sollte man pragmatisch sein: So wäre statt „Jerusalemer Urgemeinde“ der Begriff „die christusglaubenden Juden in Jerusalem“52 die korrekteste Bezeichnung. Allerdings waren auch die Anhänger Bar Kochbas christusglaubende Juden, da sie in ihrem Anführer den Messias sahen (s.u. II.7.1). Anzumerken wäre obendrein, dass die Urgemeinde anfangs zwar jesusgläubig doch noch nicht christusgläubig war, da der Messias-Titel zunächst einen politischen Erlöser meinte (s.u. V.7.1) und das griechische christos für Jesus eine spiritualisierte Verwendung im hellenistischen Judenchristentum nahelegt (in der palästinischen Logienquelle fehlt der Christus-Titel). Letztlich wird man einsehen müssen, dass alle Begriffe eine Verkürzung darstellen, zumal fraglich ist, ob man die ersten Jünger und Jüngerinnen Jesu schon „Christen“ nennen darf (s.u. I.2.3) – sie selbst haben sich jedenfalls noch nicht so bezeichnet (s.u. I.2.1.2). Im Folgenden verwendet dieser Band den Ausdruck „Frühchristentum“ oder – wenn es gilt, die erste Phase (bis 150 n. Chr.) vom weiteren Frühchristentum abzuheben – „beginnendes Christentum“. Mit „beginnendem Christentum“ wird nicht eine frühe Phase des „Christentums“ bezeichnet, sondern vielmehr die Anfänge dessen, was später das „Christentum“ werden sollte, wie wir im Folgenden sehen werden. 2.1.2
Die ersten „Christen“
Der Begriff „Christ(en)“ (Χριστιανός/Χριστιανοί) begegnet im gesamten NT nur dreimal (Apg 11,26; 26,28; 1Petr 4,16).53 Apg 11,26 bringt die Entstehung des Begriffes mit Antiochia in Verbindung: „In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen.“ Bemerkenswert dabei ist, dass der Ausdruck zunächst keine Selbstbezeichnung, sondern eine Außendefiniton war. Wahrscheinlich wurde diese Fremdbezeichnung auch nicht von jüdischer Seite geprägt, da der Titel
51
52 53
verwenden, sofern damit nicht die Vergangenheit idealisiert, sondern zum Ausdruck gebracht werden soll, dass in dieser Anfangsphase grundsätzliche Weichenstellungen erfolgten, die für alle späteren Epochen des Christentums von erheblicher Folgewirkung waren.“ Alkier, Urchristentum, 265, schlägt den Begriff „Frühchristentum“ vor, Schnelle, Jahre, 25, hingegen den Begriff „frühes Christentum“. Zur Problematik: Weidemann, Jesus, 43. Vgl. dazu im Folgenden Wengst, Ursprünge, 11.
28
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Χριστός, christos (also die griechische Form für den jüdischen Titel „Messias“), hier schon wie ein Eigenname betrachtet wird.54 Für einen Juden hingegen hätte die Bezeichnung Χριστιανοί, christianoi, lediglich zu verstehen gegeben, dass es sich hier um eine messianische Bewegung handelt. Deren allerdings gab es im damaligen Judentum viele (s.u. IV.2.2). In jüdischem Munde hätte der Begriff also wenig Präzision aufzubieten gehabt. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass bereits 111/112 n. Chr. der Statthalter Plinius d. J. den Namen „Christen“ kennt (s.u. III.10.4.10), so legt sich dies umso mehr nahe. Wenn der Name „Christen“ also zunächst eine Fremdbezeichnung war, so nannten sich die ersten Nachfolger Jesu selber wohl eher „Jünger/Jüngerin Jesu“ (μαθητής; z.B. Apg 9,1055) und ihren Glauben bezeichneten sie als „der Weg“ (ὁδός; Apg 19,9.23; 22,4; 24,14.22; vgl. auch Joh 14,6 und Hebr 10,20). In diesen Bezeichnungen schwingt schon mit, dass weder Jesus noch seine ersten Nachfolger eine eigene Religion abseits vom Judentum gründen wollten, sondern sich als eine bestimmte Lesart – einen bestimmten „Weg“ – des Judentums verstanden. Die Frage nach dem Beginn des Christentums ist daher auch mit der Frage verknüpft, wann sich die Wege zwischen Juden und Christen schieden.
2.2
„Parting of the Ways“
Wann die Wege zwischen Judentum und Christentum auseinandergingen, ist derzeit eine der meistdiskutierten Fragen neutestamentlicher Wissenschaft und wird unter der catchphrase „Parting of the Ways“ abgehandelt.56 Der Ausdruck geht zurück auf J. Dunn The Partings of the Ways, 1991, bewusst im Plural („partings“) gehalten, um deutlich zu machen, dass die Trennungsprozesse von Juden und Christen kein singuläres Ereignis waren, sondern das Resultat aus verschiedensten Faktoren. Auch wenn die Metaphorik von zwei sich trennenden Wegen als unglücklich anzusehen ist – schließlich waren „Judentum“ und „Christentum“ noch keine 54 55
56
Vgl. Koch, Geschichte, 26f. In Apg 9,36 wird zum einzigen Mal im NT auch die weibliche Form μαθήτρια („Schülerin/Jüngerin“) gebraucht, da hier explizit von einer Frau die Rede ist. Es empfiehlt sich also, die Möglichkeit inklusiver Redeweise mitzubedenken, sodass hier auch „Jüngerinnen“ inkludiert sein könnten. Zu jüngeren Entwicklungen auf diesem Feld s.o. Einführung und den Überblick bei Schröter/Edsall/Verheyden, Introduction, 1–10. Hier einige Streiflichter aus der Literatur: Dunn, Partings, 230–259; Boyarin, Christen, 112–129; Broadhead, Ways, 354–391 (mit dem launigen Stichwort: „Parting with ‚The Parting of the Ways‘“; a.a.O. 389); Harlow, Judaism, 257–278 (275: „There can be no denying that the borderlines between Judaism and Christianity were not clear-cut everywhere in the early centuries of the Common Era, or that the separation between them was uneven and complex“); oder Frankemölle, Frühjudentum, 437. Zuletzt auch Nicklas, Jews.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
29
fix umrissenen Größen (s.o. I.2), so ist der Begriff im Singular als „Parting of the Ways“ doch erhalten geblieben.57 Während Dunn die „partings“ bereits zwischen 70–135 verorten will, lässt sich dies heute nicht mehr halten, wie folgender tour d’horizon zu zeigen vermag. 2.2.1
Jesus
In der modernen Bibelwissenschaft ist es unstrittig, dass Jesus selbst keine eigene Religion abseits vom Judentum gründen wollte. Das Gottesvolk, an das sich Jesus wendet, sind nur die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (Mt 10,6). Sein Ziel der endzeitlichen Sammlung von ganz Israel wird auch in der symbolischen Einsetzung des Zwölferkreises verdeutlicht, der die für die Endzeit erwartete Wiederherstellung der zwölf Stämme Israels (vgl. Jes 60,4) präfiguriert.58 Erst über das endzeitlich wiederhergestellte Israel sollen dann in einem zweiten Schritt auch die Heiden gemäß den Verheißungen der „Völkerwallfahrt zum Zion“ (Jes 2,2–5; 60,3; Mi 4,2f.) Anteil an der Erlösung erhalten. Diesen Zweischritt belegen auch noch Röm 1,16 und Apg 3,26; 13,46. Für den historischen Jesus selbst kann man diese Konzeption in Q 13,28f., an den „von Osten und Westen“ zum Heils-Mahl mit Israels Patriarchen Kommenden, festmachen (s.u. III.10.2.5). Wenn man Jesus später theologisch als Gründergestalt des Christentums interpretierte, dann als konsequente Weiterführung der Deutung Jesu als „Urheber“ (ἀρχηγός, Apg 3,15; 5,31; Hebr 2,10; 12,2) und „(Ur-)Grund ewigen Heiles“ (αἴτιος σωτηρίας αἰωνίου, Hebr 5,9). In der Tat sah nämlich auch der historische Jesus seine Verkündigung als die eschatologisch bindende und ausschließlich heilsrelevante Interpretation des Gotteswillens an (s.u. V.5.2). Die Gewinnung des endzeitlichen Heils ist für Jesus an die unabdingbare Annahme seiner Botschaft vom unmittelbar bevorstehenden Gottesreich geknüpft.59 Dieses Selbstbewusstsein legte neben dem Osterereignis
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Bessere Metaphern wären „a criss-crossing of muddy tracks” (Lieu, Parting, 31–49) oder „a multi-lane highway“ (Reinhartz, Fork, 280–295), oder eine Art „Tanz“ (Nicklas, Parting, 37f.). Schröter/Edsall/Verheyden, Introduction, 5, kommen zum Schluss: „While the metaphor of ,parting waysʻ can be questioned, then, it is also seen to be useful in helping to describe the historical processes of the formation of Rabbinic Judaism and Christianity.“ Siehe auch Markschies, Way, 11–32. Auf der Suche nach einer besseren Metapher kommt Konradt, Matthew, 145, zum Schluss: „Maybe, for the time being, we should work without a new metaphor because of its inherent tendency to reduce complexity and just try to describe the complex processes, developments and multi-faceted relations as differentiated and nuanced as possible.“ Vgl. Merklein, Gottesherrschaft, 42; Gnilka, Christen, 182; Theobald, Kirche, 377–408. Die Tatsache, dass Jesus zeit seines Lebens Jude war und blieb, ist auch für die jüdischen „LebenJesu-Forschung“ von Abraham Geiger bis in die Gegenwart bedeutsam. Dazu: Homolka, Jesus, 63–72. Vgl. Merklein, Gottesherrschaft, 102; Gnilka, Christen, 165.
30
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
zweifelsohne den Grundstein dazu, dass man Jesus später mit seiner Botschaft identifizieren und den Verkündiger zum Verkündigten machen konnte. Jesu theologisches Anliegen passt bestens in den Kontext des damaligen Judentums. Sein Ziel war es, dem Reich Gottes, das in eschatologisch motivierten Kreisen des Frühjudentums als unmittelbar bevorstehend erwartet wurde, den Weg zu bereiten. Jesu Judesein lässt sich kontextplausibel perfekt in vergleichbare frühjüdische Strömungen einpassen. Auch die dabei von ihm gesetzten individuellen Akzente in seiner Interpretation der Tora und seiner besonderen Zuwendung zu Sündern, Armen, Kranken und Marginalisierten sprengt den Rahmen dessen nicht, was im damaligen Judentum möglich war.60 2.2.2
Die ersten Jünger und Jüngerinnen Jesu
Die ersten Jünger sahen sich als treue Schüler ihres Meisters und intendierten keinen Bruch mit dem Judentum. So ist es noch der späteren Apostelgeschichte wichtig, die weitere Eingebundenheit der ersten Osterzeugen in das kultische Leben des Judentums zu unterstreichen: Die Jünger beten täglich im Tempel (Apg 2,46; 5,42), benützen diesen nach Apg 3,1; 5,20; 21,26 als Hauptstätte der Verkündigung und halten die Ritualvorschriften (Apg 10,14). Auch der jüdische Kalender wird in der Apg weiterhin benützt und jüdische Feste gehalten:61 das jüdische Pfingstfest („Schawuot“, 2,1), Pessach (12,3f.), das Fest der Ungesäuerten Brote (20,6), das Jom-Kippur-Fasten (27,962). Dies dürfte nicht nur der Textpragmatik des dritten Evangelisten geschuldet sein, sondern in Grundzügen auch die historischen Sachverhalte abbilden. Auch Paulus erwähnt das jüdische Pfingstfest in 1Kor 16,8 und zählt die Bundesschlüsse zwischen Gott und Israel, die Gabe der Tora, den Tempelkult und die Heilsverheißungen an Israel (Röm 9,4) zu den unwiderruflichen Heilsvorzügen des erwählten Volkes. Im Übrigen haben wir noch bis ins 4./5. Jahrhundert Belege, dass im syrisch-palästinischen Raum Christen weiterhin den jüdischen Versöhnungstag (Jom-Kippur) feierten (s.u. I.2.2.5). Auch Paulus erwähnt, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat (Röm 11,1f.), denn „unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes“ (Röm 11,29; zum Tora-Verständnis des Paulus s.u. V.9.2). Daher steht Paulus auch nicht an, zu sagen: „Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin“ (Röm 11,1), sowie einer „aus Israels Geschlecht, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern“ (Phil 3,5; vgl. 2Kor 11,22). Auch die Logienquelle und das spätere Matthäusevangelium halten mit den Worten, dass nicht ein einziges 60
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Zum Kriterium jüdischer Kontextplausibilität vgl. Theißen/Winter, Kriterienfrage, 209– 212.216f.; auch Theißen/Merz, Jesus, 119. Vgl. Stökl Ben Ezra, Impact, 108 und 214f. Der Ausdruck ἡ νηστεία („das Fasten“) ist der stehende Terminus bei Philon für den Jom Kippur-Feiertag (vgl. Stökl Ben Ezra, Impact, 108 und 214f.).
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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Jota oder Häkchen des Gesetzes verloren gehen wird (Q 16,17; Mt 5,18), an der ungebrochenen Gültigkeit der Tora fest (s.u. V.10 und 12). 2.2.3
„Synode von Javne“ – birkat ha-minim – Synagogenausschluss
Häufig wird vertreten, dass es unter Gamaliel II. (s.u. II.6.2.4) zwischen 80 und 90 n. Chr. eine „Synode von Javne“ (auch Jabne oder Jamnia) gegeben habe. Historisch fassbar ist jedoch lediglich, dass Jochanan ben Zakkai nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) in Javne (einer Stadt am Mittelmeer knapp 30 Kilometer südlich von Tel Aviv) an einer religiösen Erneuerung des Judentums interessierte Kenner der heiligen Schriften und Traditionen um sich sammelte und die frühe rabbinische Bewegung bis zum Bar Kochba-Aufstand dort ihr Zentrum hatte. Der späteren rabbinischen Überlieferung galt Jochanan ben Zakkai damit als Begründer des rabbinischen Judentums. Das Bemühen von Javne ist oft überschätzt worden. So etwa, wenn man von einer „Synode von Javne“ liest, welche den biblischen „Kanon“ des Judentums abgeschlossen und mit der birkat ha-minim (dem „Ketzersegen“) eine Abgrenzung vom Christentum bewirkt habe. Diese vermeintliche „Synode“ ist eine Konstruktion von H. Graetz im 19. Jahrhundert und lässt sich nicht belegen.63 Auch hat es dort keinen endgültigen Abschluss des jüdischen „Kanons“ gegeben (s.u. V.3.1). Ebenso problematisch ist die Annahme, dass die birkat ha-minim zur Trennung von Juden und Christen geführt habe.64 Der „Ketzersegen“ ist eine Verfluchung von Glaubensabweichlern (minim), die in das Achtzehnbittengebet (hebr. שמנה עשרה, schmone ‘esre) eingefügt wurde. Zunächst wissen wir nicht einmal, wann diese Einfügung erfolgte. Die Zuschreibung an Gamaliel II. ist eine spätere Tradition, die ausgesprochen unsicher bleibt.65 Genauso wenig wissen wir, wer die minim waren, gegen die sich der Text richtete. In der Version der Kairoer Geniza werden neben den minim auch die nozrim („Nazarener“, also Christen) genannt, doch ist diese Textfassung spät zu datieren und kommt für unsere Überlegungen nicht in Betracht.66 Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren mit den minim damals noch nicht die Christen gemeint67 – wie viele Judenchristen hätte es denn damals in Palästina überhaupt geben können, dass man diese von jüdischer Seite als Be-
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Vgl. Stemberger, Judentum, 19; ders. Jabne, 163. Vgl. dazu im Folgenden Stemberger, birkat, 75–88. Vgl. Stemberger, birkat, 76–83. Vgl. auch Harlow, Judaism, 275. Vgl. Broadhead, Ways, 293. So Stemberger, birkat, 83–86. Vgl. auch Harlow, Judaism, 275, und Broadhead, Ways, 295. Letzterer sieht die birkat ha-minim eher gegen Zielgruppen gerichtet wie „Sadducees, Jews who collaborate with Rome, Jews who adapt Hellenistic culture, Jews drawn to Gnosticism, Jews who resist rabbinic authority.“
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
drohung empfunden hätte? Hätten sich Judenchristen von solch einer Verfluchung betroffen gefühlt und eingestanden, minim zu sein – oder hätten sie sich nicht eher als das „wahre Israel“ und der „heilige Rest“ (vgl. Röm 9,6; 11,7; Joh 1,47) verstanden? Obendrein hatten die damaligen Lehrer in Javne auch nicht den Einfluss, solche Ausschlüsse mit bindender Verpflichtung durchzusetzen. Man kann feststellen, dass der Einfluss dieser Kreise auf die gewöhnliche jüdische Bevölkerung gering war. Daher war der Text weniger ein probates Mittel, um Abweichler auszuschließen, sondern eher ein Akt der Selbstbestätigung im eigenen Glauben. Daher sollte man auch den in Joh 9,22; 12,42; 16,2 verwendeten Ausdruck ἀποσυνάγωγος (aposynagōgos, „synagogen-ausgeschlossen“, in den Phrasen „synagogen-ausgeschlossen werden/machen“) nicht als formelles Ausschlussverfahren gegen Judenchristen werten: Erstens war damals der Ausdruck „Synagoge“ mehrdeutig und muss noch nicht die religiöse „Synagogengemeinschaft“ bezeichnen (s.u. III.7.6.1). Zweitens fehlt der Ausdruck aposynagōgos in der gesamten damaligen Literatur.68 Es handelt sich damit nicht um einen terminus technicus für einen formalen „Synagogenausschluss“, sondern um eine ad-hoc-Bildung des vierten Evangelisten. Drittens war dieser „Ausschluss“ nur eine lokal begrenzte Maßnahme:69 Eine allumfassende Exkommunikation aller Christen durch alle Juden wäre eine anachronistische Annahme, da eine allgemein anerkannte Zentralinstanz im damaligen Judentum nicht existierte. 2.2.4
„Jüdische Christenverfolgungen“ aufgrund des „Christusglaubens“?
Ebenfalls problematisch ist es, den „Christusglauben“ für die Scheidung zwischen Juden und Christen verantwortlich zu machen. Vollends anachronistisch wird es jedoch, wenn man von „jüdischen Christenverfolgungen“ aufgrund des Christusbekenntnisses liest. Hier ein Text aus der „Kleinen Kirchengeschichte“:70 Besonders der Christusglaube führte den offenen Konflikt [sc. zwischen Juden und Christen] herbei, der sich in zwei stoßartigen Verfolgungen Luft machte: Die erste Welle führte zur Steinigung des Stephanus, zur Vertreibung der hellenistischen Judenchristen aus Jerusalem und zur weiteren Verfolgung durch Saulus, der dann vor Damaskus seine Bekehrung erlebte und als Paulus bald ein „auserwähltes Werkzeug“ der christlichen Verkündigung werden sollte (Apg 9,15). Die zweite Verfolgungswelle, die
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Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 467.575f. Vgl. Theobald, Johannes, 649. Die „Kleine Kirchengeschichte“ von A. Franzen wurde hier pars pro multis gewählt, da das Werk 2014 mittlerweile in der 27. Auflage erschien (durchgesehen von B. Steimer und erweitert bis in die Gegenwart von R. Fröhlich; 3. ergänzte Auflage der Neuausgabe von 2006; Erstausgabe des Gesamtwerks 1965) und sich somit größtmöglicher Verbreitung erfreut. Der hier zitierte Text: a.a.O. 28.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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Herodes Agrippa I. (37–44) entfachte, führte im Jahre 42/43 zum Martertod des Apostels Jakobus’ des Älteren und zur Gefangennahme des Petrus, der wunderbar aus dem Gefängnis gerettet wurde (Apg 12,1ff).
Im Judentum gab es immer wieder Messiasprätendenten, denen ein mehr oder weniger großer Anteil der Bevölkerung Glauben schenkte. Am bekanntesten ist Schimon Ben Kosiba, der nach jTaan 4,8, fol. 68d von Rabbi Aqiva als Messias proklamiert wurde.71 Dabei bediente sich Aqiva der Prophezeiung aus Num 24,17 („Ein Stern geht in Jakob auf“), um den Namen Ben Kosiba in Bar Kochba, „Sternensohn“, zu ändern. Mit den gleichen Worten aus Num 24,17 erwartete man in Qumran (CD VII,18–21) den eschatologisch-authentischen Gesetzeslehrer und nach Mt 2,2 den „neugeborenen König der Juden“. Andere Zeichenpropheten mit mehr oder weniger messianischen Anklängen werden von Flavius Josephus erwähnt (s.u. IV.2.2):72 ein samaritanischer Prophet, ein gewisser Theudas, der während der Zeit des Cuspius Fadus (nach 44 n. Chr.) auftrat und zur Zeit des Prokurators Felix (52–60 n. Chr.) ein nicht namentlich genannter „Ägypter“ (Josephus A.J. 20,169–172/B.J. 2,262f.). In jüngerer Zeit wurde Menachem Mendel Schneerson (der „Lubavitcher Rebbe“, † 1994), das langjährige Oberhaupt der chassidischen Chabad-Bewegung, von vielen seiner Anhänger als Messias gedeutet. Bis heute gibt es zu seiner Person starke Meinungsverschiedenheiten im Judentum. Alle diese Belege können bezeugen, dass trotz aller daraus resultierenden Spannungen die Annahme, Jesus sei der „Messias“, der „Christus“ gewesen, noch nicht ausreichend war, eine Trennung zwischen Juden und Christen zu bewerkstelligen. Die Rede von „jüdischen Christenverfolgungen“ erweist sich dann als noch problematischer.73 Im oben angeführten Zitat wird nämlich ein weiterer Anachronismus deutlich: Die Spannungen mit den hellenistischen Judenchristen („Hellenisten“) bestanden nicht in einem Streit zwischen „Juden“ und „Christen“, sondern hatten ihren Anfang nach Apg 6,1 in Kontroversen der Jesusanhänger untereinander („Hebräer“ gegen „Hellenisten“). Obendrein sollte man weder die Steinigung des Stephanus noch die Hinrichtung Jakobus’ des Älteren (des Zebedaiden Jakobus) als organisierte „Verfolgungswellen“ bezeichnen (auch nicht, wenn Apg 8,1 und 11,19 so etwas nahezulegen scheinen). Die Steinigung des Stephanus (32 n.
71 72 73
Vgl. im Folgenden Schäfer, Geschichte, 177–181. Vgl. dazu Theißen/Merz, Jesus, 142. Die Problematik besteht zunächst in der anachronistischen Darstellungsweise, z.B.: „Der wachsende Hass [sc. der Juden gegen die Christen!] führte um 100 zur offiziellen Verfluchung der Christen durch die Synagoge“ (Franzen, Kirchengeschichte, 29), verbunden mit der Erwähnung von „zwei stoßartigen Verfolgungswellen“ (s. Text oben). Solche historisch falschen Annahmen könnten in einem weiteren Schritt dazu führen, sich als Christ gegenüber dem Antijudaismus exkulpieren zu wollen – frei nach dem Motto: „Ihr habt zuerst angefangen!“ Hier ruht auf den Darstellungen eine hohe Beweislast.
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Chr.) lässt sich als spontane Lynchjustiz, resultierend aus innerjüdischen Gruppenstreitigkeiten zwischen einer liberaleren und einer konservativeren Lesart des jüdischen Gesetzes, beurteilen (s.u. III.7.4 und V.8). Die Tatsache, dass nur die „Hellenisten“ aus Jerusalem vertrieben wurden, doch die „Hebräer“ in der Stadt verblieben,74 macht klar, dass hier nicht „Juden“ gegen „Christen“ standen, sondern der Riss entlang unterschiedlich strenger Lesarten des jüdischen Gesetzes verlief. Dieser Riss wird auch in den von Gal 2,12 referierten Konflikten zwischen Paulus und den „Leuten von Jakobus“ deutlich, oder in Apg 21,18–24, wo die konservativen Jerusalemer Judenchristen die Kollektenannahme vom liberalen Paulus torpedieren (s.u. III.10.4.7). Dazu passt nun die in Apg 5,34; 15,5; 21,20 („sie alle sind Eiferer für das Gesetz“); 23,9 behauptete Nähe zwischen den Pharisäern und der Jerusalemer Urgemeinde, die indirekt gerade bei der Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus (A.J. 20,200) bestätigt wird: Als der Präfekt Festus 62 n. Chr. plötzlich verstarb und sich sein Nachfolger Albinus noch auf dem Weg nach Palästina befand, nutzte der sadduzäische Hohepriester Ananos II. das Machtvakuum, um den Herrenbruder hinrichten zu lassen. Nach A.J. 20,201 protestierten allerdings die περὶ τοὺς νόμους ἀκριβεῖς („die gemäß dem Gesetze Allergewissenhaftesten“) – also die Pharisäer – dagegen. Das zeigt, dass auch noch 62 n. Chr. keine klarere Trennung zwischen Juden und Christen gegeben war und sogar streng gesetzestreue Juden bereit waren, für Jakobus in die Bresche zu springen.75 Die Ressentiments – sowohl der Jerusalemer Juden wie auch der Jerusalemer Judenchristen – 74
75
Die Darstellung in Apg 8,1b ist in sich unstimmig: Lk prägt bereits das Narrativ einer „schweren Verfolgung“ (διωγμὸς μέγας) gegen die Jesusanhänger, die „alle … außer den Aposteln“ (πάντες … πλὴν τῶν ἀποστόλων) aus Jerusalem vertrieben habe. In Gal 1,18f. und 2,9 wird – ebenso wie in Apg 15 – der Herrenbruder Jakobus als Mitglied der Jerusalemer Gemeinde gezeichnet. Nach der engen Definition des Lk, der den Aposteltitel nur für den Zwölferkreis reserviert (Apg 1,21–26), war der Herrenbruder kein Apostel aber trotzdem in Jerusalem verblieben! Es ist also wahrscheinlicher, dass bei der in Apg 8,1 genannten Verfolgung nur die liberalen hellenistischen Judenchristen aus Jerusalem vertrieben wurden, während die konservativen hebräischen Jesusanhänger in der Stadt verblieben. In diesem Sinne auch Schnelle, Wege, 48–54, der aber 55 trotzdem befindet: „Es gibt keinen einzigen Beleg für eine positive Reaktion jüdischer Autoritäten oder jüdischer Gruppen auf die neue Bewegung der Christusgläubigen.“ Gerade der von ihm selbst genannte starke Erfolg der Stephanusmission in hellenistischen Synagogen sowie der Einsatz der Pharisäer für den Herrenbruder Jakobus (s.u.) geben aber ein anderes Zeugnis. Anders aber Schnelle, Jahre, 68, der vermutet: „Die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus … durch konservative sadduzäische Kreise dürfte damit zu tun haben, dass die Jerusalemer Gemeinde wegen ihrer Verbindung mit den Christen aus griechisch-römischer Tradition nicht mehr als Bestandteil des Judentums angesehen wurde.“ Der Befund bei Josephus widerspricht dieser Sichtweise: Warum sollte der jüdische Hohepriester eine nicht mehr als „Juden“ angesehene Gruppierung mit dem Vorwurf der Gesetzesübertretung (ὡς παρανομησάντων κατηγορίαν ποιησάμενος, A.J. 20,200) belangen? Die Sympathien des Josephus liegen hier nicht beim Hohepriester, dessen Vorwurf der Gesetzesübertretung
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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richteten sich gemeinsam gegen eine als zu liberal empfundene Lesart des jüdischen Gesetzes. Die Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus durch Herodes Agrippa I. (41–44 n. Chr.) hingegen erscheint als eine populistische Maßnahme aus politischem Kalkül, um sich bei den Sadduzäern beliebt zu machen. Diese Gruppierung der Tempelaristokratie war schon seit der Tempelkritik Jesu und durch christlichen Auferstehungsglauben den Jesusanhängern feindlich gesonnen.76 Ähnliche Hostilitäten hegten Sadduzäer aber auch gegen die Pharisäer, die ja ebenfalls an die Auferstehung glaubten und die Reinheitsvorschriften der Tempelpriester „demokratisierten“ (s.u. III.2.4.2 und III.11.1; vgl. dazu Apg 23,6–9). Die Konfliktlinie lief also nicht längs des „Christusbekenntnisses“, sondern entlang unterschiedlichen Lesarten des jüdischen Glaubens. Wie aber verhält es sich mit den in 1Thess 2,14f. und der Logienquelle genannten Verfolgungen in Palästina?77 1Thess 2,14 Denn, Brüder und Schwestern, ihr seid dem Beispiel der Gemeinden Gottes in Judäa gefolgt, die in Christus Jesus sind. Ihr habt von euren Mitbürgern das Gleiche erlitten wie jene von den Juden. 15 Diese haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Q 11,47 Wehe euch [sc. Pharisäer und Gesetzeslehrer], denn ihr baut die Grabdenkmäler für die Propheten, eure Väter aber haben sie getötet. 48 So stellt ihr euch selbst das Zeugnis aus, dass ihr Söhne eurer Väter seid. 49 Darum sagte auch die Weisheit: Ich werde zu ihnen Propheten und Weise senden, und einige von ihnen werden sie töten und verfolgen, 50 damit das Blut aller Propheten, das von Anfang der Welt vergossen wurde, von dieser Generation eingefordert wird, 51 vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der zwischen dem Altar und dem Tempel umgekommen ist. Ja, ich sage euch, von dieser Generation wird es eingefordert werden.
Beide Texte – 1Thess wie die Logienquelle – spielen hier unabhängig voneinander auf das Theologumenon vom gewaltsamen Prophetengeschick an:78 Immer wieder
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78
durch den Protest der „gemäß dem Gesetze Allergewissenhaftesten“ konterkariert wird und damit implizit auch die Jesusanhänger als gesetzestreu ausgewiesen werden. Vgl. ebenso Schnelle, Jahre, 193; ders., Wege, 45–48 und 55–57. Vgl. dazu Schnelle, Einleitung, 250: „Die Logienquelle setzt Verfolgungen der jungen Gemeinde durch Juden in Palästina voraus (vgl. Lk 6,22fQ; 11,49–51Q; 12,4fQ; 12,11fQ). In 1Thess 2,14–16 erwähnt Paulus um 50 n. Chr. Bereits zurückliegende Christenverfolgungen in Judäa.“ Ebenso Schnelle, Wege, 57. In der Literatur wird dieser Topos seit O. H. Steck als „deuteronomistisches Prophetengeschick“ bezeichnet (Steck, Geschick). Bereits in 2Kön 17,7–20 begegnet der Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen dem Ungehorsam Israels gegen die Worte der Propheten und der darauffolgenden Strafe als generelles Deutemuster, ähnlich in den dtr geprägten Schichten des Jeremiabuches (Steck, Geschick, 72; Backhaus/Meyer, Jeremia, 420f.). Von einem gewaltsamen Geschick der Propheten bis hin zu deren Tötung ist in dtr Theologie allerdings noch nicht die Rede, das Motiv einer gewaltsamen Verfolgung der Propheten bis zu deren Ermordung tritt
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
hat Israel den Mahnungen der Propheten getrotzt und diese sogar gewaltsam verfolgt. Diese Motivik war im Frühjudentum weit verbreitet, zu nennen wären (über den Tanach hinaus): Sir 49,7; 1Hen 89,51 – 90,19; Jub 1,7–26; 1QpHab I–V; Josephus, A.J. 9,265–267; 10,38–41.79 In der Logienquelle wird diese Vorstellung zum tragenden Deutemuster (Q 6,22f.; 11,47–51; 13,34f.) und wird von dort durch Mt und Lk übernommen. Die Topik hat auch in anderen Texten des NT ihren Niederschlag gefunden: 1Thess 2,15; Mk 12,1–9; Mt 21,33–46; 22,6; Apg 7,51f.; ähnlich Röm 11,3; Hebr 11,32–37. Wahrscheinlich hat M. Konradt Recht, wenn er davon spricht, dass „in Q und 1Thess 2,15f. jeweils ein im frühen Christentum verbreiteter Traditionszusammenhang rezipiert wurde.“80 1Thess greift hier auf ein frühjüdisches und auch schon frühchristliches Klischee zurück – das wird schon allein am Faktum klar, dass eben nicht „die Juden“ Jesus töteten, sondern die Römer (s.u. II.5.4.3; V.9.2.6)! Ein stehendes Interpretationsmuster wird von Paulus auf die eigene Situation umgemünzt. Ähnliches gilt für die Logienquelle: Wenn Q hier vom „Blut aller Propheten“ spricht, kennt sie in den eigenen Reihen doch keinen einzigen (!) Blutzeugen – der Text muss vielmehr auf Abel und Zacharias zurückgreifen, die gewiss keine Zeitgenossen der Logienquelle sind. An dieser Stelle gebraucht Q klarerweise literarische Topoi. Wahrscheinlich waren es doch eher der Spott von Kindern am Marktplatz (vgl. Q 7,32), das Desinteresse der Menschen (Q 10,10; 11,16–32) sowie Schmähungen „um des Menschensohnes willen“ (Q 6,22), die den Q-Missionaren zu schaffen machten, aber noch keine blutigen Verfolgungen.81 Das Trauma der Zurückweisung der eigenen Botschaft wird im gewaltsamen Prophetengeschick sublimiert und in Q 6,22 in das Gegenteil verkehrt: Die Ablehnung wird nun zum Zeichen der prophetischen Legitimation schlechthin, über die man sich sogar „freuen“ kann. Gesondert sollte man allerdings noch einmal die soziopolitische Brisanz der paulinischen Mission für jüdische Diasporagemeinden betrachten: Allzu aggressive Missionsmethoden wurden als Störung des eingespielten status quo wahrgenommen und gefährdeten das fragile Gleichgewicht zwischen jüdischem Politeuma und der jeweiligen Polis.82 Solches belegen das Claudiusedikt in Rom (49 n. Chr., s.u. III.10.4.6), der Vorfall vor Gallio in Korinth (51 n. Chr.) oder der Aufstand in der Silberschmiede von Ephesus (55 n. Chr., s.u. III.10.4.5): Für das Claudiusedikt
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erst mit Neh 9,26 ins Bild, einem nicht mehr zur dtr Theologie zählenden Text. Es empfiehlt sich also nicht, vom „deuteronomistischen“ Prophetengeschick zu sprechen. Vgl. dazu auch Konradt, Gericht, 80 und Tiwald, Logienquelle, 104–110. Konradt, Gericht, 81. Vgl. Tiwald, Logienquelle, 109f. Rollens Persecution, hat für die Logienquelle überzeugend die gruppenpsychologische Dynamik herausgearbeitet, die Verfolgungs- und MärtyrerNarrative zu identitätsstiftenden Gemeinschaftsüberlieferungen werden lässt. In diesem Sinne auch Schnelle, Wege, 64: Paulus gefährdete durch seine aggressive Mission „das sensible Verhältnis zum römischen Staat.“
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werden die Christen noch ganz klar unter dem Judentum subsumiert („Iudaeos impulsore Chresto …“),83 ebenso für Gallio („Streitet ihr jedoch über … euer Gesetz“, Apg 18,15). Gleiches gilt für den Streit mit den Silberschmieden von Ephesus,84 wo die Juden mit Alexander ihren eigenen Sprecher vorschicken (Apg 19,33f.), da sich der Tumult gegen das ephesinische Judentum, als deren Untergruppe die ersten Christen gesehen wurden, richtete. Ein über Generationen mühsam aufgebautes Vertrauensverhältnis läuft durch Paulus Gefahr, im Handumdrehen zerstört zu werden. So kann man verstehen, dass diese Juden für Paulus wenig Sympathie hegten und ihm nach Apg 20,3 nach dem Leben trachteten. Ganz auf dieser Linie muss man den Konflikt in Thessalonich verstehen. Nach Apg 17,5–10 kooperierte die Synagogenleitung mit dem Stadtpräfekten und der paganen Stadtverwaltung, um einen Aufruhr zu verhindern. Auch wenn diese Vorfälle Paulus zu einer hässlichen Suada in 1Thess 2,14–16 verleiteten – wie begründet die Ängste der thessalonischen Juden waren, erkennt man aus den späteren Vorfällen in Ephesus. Summa summarum: In erster Linie war es nicht das Christusbekenntnis, das „Juden“ und „Christen“ entfremdete, sondern starke innerjüdische Spannungen in der Frage um die rechte Gesetzesauslegung – verbunden mit handfesten politischen Interessen.85 Spannungen im pluriformen Frühjudentum (s.o. I.1.3) sind reichlich belegt, man denke nur an die Polemik der Qumrantexte gegen Pharisäer (s.u. III.4.2.6) und Sadduzäer (s.u. III.4.2.4). Die politischen Implikationen einer zu offensiven Mission in Diasporagemeinden sollen noch später beleuchtet werden (s.u. III.7.5).
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85
Vgl. Frey, Juden, 368, und Lampe, Christen, 169. Vgl. Tiwald, Ephesus, 135f. Ob die lk Geschichtsdarstellung vertrauenswürdig ist, kann hier nicht erörtert werden (dazu Witetschek, Artemis). Allerdings passt der generelle Sachverhalt gut ins Bild, die Stelle führt paradigmatisch vor Augen, wie die Interaktion zwischen Judentum und Frühchristentum abgelaufen sein mag. Lukas, der sein Doppelwerk evtl. in Kleinasien schrieb, verfügte hier sicherlich über entsprechendes Wissen. Wenn Schnelle, Wege, 69 (ebenso 181, 189), betont, dass es „keinen einzigen positiven Beleg für eine Akzeptanz des Christentums durch eine jüdische Gruppe oder Personlichkeit gibt, schon gar nicht als Teil eines gemeinsamen Judentums“, so stimmt das für das 1. Jh. Nicht, da wir in der Fürsprache der Pharisäer für den Herrenbruder (s.o.), in judenchristlichen Kreisen der Logienquelle (s.u. V.10), des Matthäusevangeliums (s.u. V.12) und des Johannesevangeliums (V.14) tatsächlich solche Gruppen vorfinden. Recht hat Schnelle, Wege, 46, dass die Verehrung eines Gekreuzigten (vgl. Dtn 21,23; 1Kor 1,23) als Messias problematisch erschien, doch ist das etwas anderes als das Christusbekenntnis per se. Tatsächlich wurden etliche jüdische Widerstandskämpfer gekreuzigt und waren trotzdem im einfachen Volk angesehen (s.u. IV.2.1), wenn auch nicht als „Messias“.
38
I.
2.2.5
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Die Entwicklung in patristischer Zeit
Bis zur Durchsetzung des rabbinischen Judentums (ab 200 n. Chr. – die völlige Durchsetzung ist sicher erst ab dem Islam gegeben) waren das pluriforme Frühjudentum und das sich erst langsam zur eigenständigen Religion strukturierende Frühchristentum einander wesentlich näher als früher zumeist angenommen.86 Manche Autoren vertreten sogar die Ansicht, dass das „Parting of the Ways“ zunächst lediglich das ideologisch-identitätsstiftende Werk „orthodoxer“ christlicher Häresiologen und „orthodoxer“ jüdischer Rabbis gewesen sei – während die einfachen Gläubigen die Sache wesentlich entspannter sahen.87 Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang allerdings besser, nur von „proto-orthodox“ zu reden, wie T. Nicklas das in Weiterführung von W. Bauer tut – die eigentliche „Orthodoxie“ setzte erst mit konstantinischer Zeit (4. Jh. n. Chr.) ein.88 Von christlicher Seite lassen sich solche Tendenzen bei etlichen Kirchenvätern nachweisen.89 Justin der Märtyrer († 165) ist in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon (Dial 47,1– 3) noch recht gemäßigt:90 1 Tryphon fragte: „Wird jedoch einer das Heil erlangen, wenn er den dargelegten Sachverhalt kennt, weiß, daß Jesus der Christus ist, das ist an Christus glaubt und ihm folgt, aber daneben noch die genannten Gebote beobachten will?“ Ich antwortete: „Nach meiner Meinung, Tryphon, wird er das Heil erlangen, wenn er nicht seine Mitmenschen, das sind die Heiden, welche Christus beschnitten und vom Irrtum befreit hat, auf jede Art zur Beobachtung der gleichen Vorschriften zu bewegen sucht, welche er selbst einhält ... 2 … Wenn jene Menschen in ihrer geistigen Beschränktheit mit der Hoffnung auf unseren Christus und mit der Beachtung der ewigen und im Naturgesetz begründeten Rechtssatzungen und religiösen Vorschriften auch, soweit es jetzt noch möglich ist, alle jene mosaischen Bräuche verbinden wollten, welche nach unserer Ansicht wegen der Hartherzigkeit des Volkes erlassen sind, wenn sie (aber) sich entschließen, mit den Christusgläubigen zusammen zu leben, ohne – wie gesagt – sie zur Beschneidung, zur Sabbatfeier oder dergleichen zu überreden, dann muß man doch – meine ich – sie annehmen und in allem mit ihnen wie mit Blutsverwandten und Brüdern verkehren. 3 Wenn dagegen, o Tryphon“, fuhr ich fort, „eure Landsleute, welche behaupten, an unseren Christus zu glauben, die Heiden-Christen auf alle Weise zum Leben nach dem mosaischen Gesetz zwingen oder sich weigern, mit ihnen gemeinschaftlich zu verkehren, in diesem Falle erkenne in gleicher Weise auch ich sie nicht an.
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Zur neueren Forschung vgl. den Überblick Kampling/Leonhard, Ansätze, 268–286. Vgl. Broadhead, Ways, 372; Boyarin, Christen, 124. Vgl. Nicklas, Jews, 13; auch Ebner, Stadt, 290. Vgl. Broadhead, Ways, 191–203; Nicklas, Jews, 64–115; Tiwald, Archäologie, 79f. Vgl. Dazu Edsall, Justin, 249–272, bes. 269: „Rather than a ,parting of the ways,ʻ Justin describes neither a ,partingʻ nor two ,ways.ʻ Instead, the ambiguity and messiness of his account bears witness to the ambiguous and messy reality of Jewish and Christian relations in his period.“ Siehe auch Vogel, Jüdisch, 418–431.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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Für Justin ist es legitim, wenn Judenchristen auch weiterhin Beschneidung, Sabbatfeier und jüdische Reinheitsvorschriften einhalten – sie dürfen lediglich die Heidenchristen nicht zwingen, diese Vorschriften auch zu leben. Damit bewegt sich Justin noch ganz auf dem Boden der Beschlüsse des „Apostelkonvents“ (vgl. Gal 2,2–10 und Apg 15,5–29; s.u. III.10.4.2). Allerdings haben sich die Mehrheitsverhältnisse zwischenzeitlich geändert: Jetzt sind die Judenchristen der Ausnahmefall, denen man Rechte konzediert, und nicht mehr die Heidenchristen, denen man am Apostelkonvent entgegenkam. Irenäus von Lyon († Ende 2. Jh.) geht in AdvHaer 1,26,1 schon einen Schritt weiter: Die sogenannten Ebionäer stimmen (uns) zwar darin zu, daß die Welt vom wahrhaftigen Gott gemacht ist, aber über den Kyrios reden sie genau wie Kerinth und Karpokrates. Sie verwenden nur das Evangelium nach Matthäus, und den Apostel Paulus lehnen sie ab, weil sie in ihm einen Apostaten vom Gesetz sehen. Sie bemühen sich übereifrig um die Auslegung der prophetischen Schriften. Sie praktizieren die Beschneidung und behalten diese Gewohnheiten, die vom Gesetz verlangt sind, bei, auch die jüdischen Lebensformen, so daß sie Jerusalem als Wohnstätte Gottes verehren.
In AdvHaer 1,26,1 hatte Irenäus vor der Häresie des Kerinth gewarnt, um im Anschluss mit den Ebioniten91 fortzufahren. Referenzpunkt ist dabei die von Kerinth und Ebioniten gleicherweise vertretene Annahme, Jesus sei nicht von einer Jungfrau geboren worden, sondern von Josef gezeugt. Grund dafür ist die bei den Ebioniten übliche Lesart „junge Frau“ in Jes 7,14; AdvHaer 3,21,1: Gott ist also Mensch geworden, und der Herr selbst hat uns gerettet (vgl. Jes 63,9); er gab das Zeichen der Jungfrau. Folglich ist die Übersetzung bestimmter Leute nicht richtig, die die (fragliche) Schriftstelle jetzt folgendermaßen zu übersetzen wagen: „Siehe, das Mädchen wird schwanger sein und einen Sohn gebären“ (Jes 7,14). So übersetzen das auch Theodotion von Ephesus und Aquila aus Pontus, beide jüdische Proselyten. Die Ebionäer haben sich ihnen angeschlossen und lassen ihn (sc. Christus) von Josef gezeugt sein. Damit zerstören sie für ihren Teil den großartigen Heilsplan Gottes und nehmen dem Zeugnis der Propheten, das Gott gewirkt hat, seinen Sinn. Die Prophezeiungen … wurden lange vor der Zeit der Ankunft unseres Herrn von den Juden selbst ins Griechische übersetzt. … Hätten sie allerdings gewußt, daß wir einmal kämen und unseren Gebrauch von den Zeugnissen aus den Schriften machen würden, hätten sie keinen Augenblick gezögert, ihre Schriften eigenhändig zu verbrennen, aus denen
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In den folgenden Quellentexten begegnet das Wort „Ebionäer“. Da sich im Deutschen allerdings das Wort „Ebioniten“ durchgesetzt hat, soll dieses auch im Fließtext verwendet werden. Ἐβιωναῖοι, Ebiōnaioi (vom hebräischen אביונים, ebjonim, „Arme“) war eine ehrenvolle Selbstbezeichnung (abgeleitet von Ps 69,34). Auch die Qumrangemeinde bezeichnete sich so (1QpHab XII,3.6.10), weiters Jesu Seligpreisung an die „Armen“ (Q 6,20). Als Bezeichnung für judenchristliche Gruppierungen wird der Begriff erstmals bei Irenäus greifbar und taucht dann bei den Kirchenvätern immer wieder auf. Zu Ebioniten Broadhead, Ways, 193. Zur „Armenfrömmigkeit“ Merklein, Gottesherrschaft, 46–48.
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
klar hervorgeht, daß … diejenigen, die sich rühmen, das Haus Jakob und das Volk Israel zu sein, von der Gnade Gottes enterbt sind.
Die Argumentation bei Irenäus verrät bereits eine gewisse Plattheit, da sie nur nach rein äußerlichen Kriterien (Ablehnung der Jungfrauengeburt) völlig unterschiedliche theologische Positionen (Kerinth und Ebioniten) vermengt – anfangshaft zeichnet sich hier schon die holzschnittartige Eindimensionalität späterer „Ketzerlisten“ ab. Während Justin den Judenchristen noch zugesteht, in ihrem Glauben gerettet zu werden, unterstreicht Irenäus, dass „das Haus Jakob und das Volk Israel … von der Gnade Gottes enterbt sind.“ Auch die Kenntnis des hebräischen Urtextes bzgl. Jes 7,14 (dem die griechischen Übersetzungen durch Theodotion und Aquila allerdings näher liegen als die Übersetzung „Jungfrau“ in der LXX92) ist in weiter Ferne – die Autorität des Alten Testaments fand sich für die Kirchenväter in der LXX und nicht in der hebraica veritas.93 Tertullian († nach 220) ist der erste, der die Ebioniten auf einen vermeintlichen Ebion als historische Gründerfigur zurückführen möchte, „die Häresie des Ebion“ (DePraescr 33,5; vergessend, dass der Name eine ehrende Selbstbezeichnung von Judenchristen war: ebjonim, „die Armen“). Tertullian kritisiert die Einhaltung von Gesetzesvorschriften und Beschneidung durch die Ebioniten (DePraescr 33,5) und den mangelnden Glauben an die Jungfrauengeburt: „… von ihr [sc. der Gottesmutter] steht eindeutig fest, dass sie noch unberührt war, wenn auch die Ebioniten dies bestreiten“ (DeVirgVel 6,1). Origenes († um 254) setzt sich mit dem Vorwurf des Kelsos auseinander, dass die Christen dem Judentum gegenüber keine einheitliche Linie vertreten (ContCel 5,61): Im Anschluss daran sagt Celsus: „Man soll nicht glauben, ich wüsste nicht, dass die einen von ihnen darin übereinstimmen werden, dass sie denselben Gott haben wie die Juden, die anderen, dass sie einen anderen haben, dem der erstgenannte entgegengesetzt ist, und dass von diesem der Sohn gekommen ist.
Origenes entgegnet darauf, dass auch in der Philosophie und der Medizin unter den verschiedenen Schulen Uneinigkeit herrsche. Hiermit gesteht er ein, dass es auch in seiner Zeit keine einhellig akzeptierte christliche Doktrin dem Judentum gegen-
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Vgl. Segal, Christianity, 341; Broadhead, Ways, 192. Zur Autorität der LXX bei den Kirchenvätern und der Frage nach der hebraica veritas: Markschies, Hieronymus, 131–181. Bzgl. Der LXX fuhr übrigens auch Hieronymus einen eigentümlichen „Schlingerkurs“ (a.a.O. 177). Die von ihm vertretene hebraica veritas sieht der Kirchenvater lediglich als Philologe, nicht als Theologe. Er möchte die Inspiriertheit der LXX gar nicht in Frage stellen (a.a.O. 174f.), kommt aber philologisch nicht um die bessere Übersetzung aus dem Hebräischen herum (a.a.O. 177).
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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über gab. Mangels einer allseits anerkannten Zentralautorität im damaligen Christentum ist für diese Zeit freilich auch nicht zu erwarten, dass es eine „lehramtliche“ Meinung dazu geben könnte. Origenes verweist im Folgenden lediglich auf Paulus, der angeblich „von den Juden zum Christentum übergetreten ist“ (ἀπὸ Ἰουδαίων προσελθόντα χριστιανισμῷ). Die anachronistische Darstellung zeigt die voranschreitende Geschichtsklitterung der eigenen Wurzeln. Dann aber konzediert Origenes (die Zitate referieren dabei die Vorwürfe des Kelsos): Es mag auch „einige“ (τινες) geben, „die Jesus annehmen“ und sich deswegen rühmen, Christen zu sein, „die aber trotzdem noch nach dem Gesetz der Juden wie die Masse der Juden leben wollen“: Hier handelt es sich um die zwei Gruppen von Ebioniten, von denen die einen so wie wir bekennen, Jesus sei aus der Jungfrau geboren, die anderen, er sei nicht auf diese Weise, sondern so wie die übrigen Menschen geboren.
Origenes muss Kelsos zugestehen, dass es tatsächlich „einige“ (τινες) Christen gibt, welche die jüdischen Reinheits- und Kultvorschriften noch immer einhalten. Wir erfahren, dass auch in dieser Gruppe verschiedene theologische Positionen möglich sind, die Annahme der Jungfrauengeburt und die Ablehnung derselben. Auch Eusebius von Caesarea († 340) vermag von zwei verschiedenen Richtungen der Ebioniten (im Text unten „Ebinoäer“) zu berichten, wenn er in HE 3,27 schreibt: Da der böse Dämon die Lehre von der Gottheit Christi nicht untergraben konnte, ersann er neue Mittel und gewann damit noch andere für sich. Die Alten nannten sie, da sie armselig und niedrig über Christus lehrten, Ebionäer. Diese hielten Christus für einen gewöhnlichen Menschen, der nur kraft seines hervorragenden sittlichen Lebenswandels gerecht geworden, und glaubten, er wäre durch die Gemeinschaft eines Mannes mit Maria erzeugt worden. Die Beobachtung des Gesetzes erachten sie für durchaus notwendig, gerade als ob sie nicht allein durch den Glauben an Christus und auf Grund eines glaubensgemäßen Lebens selig würden. Eine andere Richtung unter den Ebionäern vermied zwar den erwähnten seltsamen Unsinn, sofern sie die Geburt des Herrn aus der Jungfrau und dem Heiligen Geiste nicht leugnete; allein auch sie wollte nicht zugeben, daß er als Gott, Logos und Weisheit präexistierte, wodurch sie gleich jenen in Gottlosigkeit verfiel, zumal auch sie für die fleischliche Gesetzesbeobachtung eintrat. Sie meinte, man müsse die Briefe des Apostels [sc. Paulus] von dem sie erklärte, er sei vom Gesetze abgefallen, vollständig verwerfen. Nur das sog. Hebräerevangelium benützte sie, den übrigen Schriften aber legte sie geringen Wert bei. Den Sabbat und die sonstigen jüdischen Bräuche beobachtete diese Richtung gleich dem anderen, doch feierte sie auch gleich uns den Tag des Herrn zur Erinnerung an die Auferstehung des Erlösers.
Eusebius ist bekannt, dass der Name Ebioniten von ebjonim, „die Armen“ stammt. Doch deutet er diese Selbstbezeichnung polemisch „da sie armselig und niedrig über Christus lehrten“. Dabei nehmen sich die Glaubensstreitigkeiten, ob Jesus jungfräulich gezeugt und der inkarnierte präexistente Logos sei, weniger „häretisch“ aus, wenn man bedenkt, dass auch die „Großkirche“ die Fragen der Wesenheit Jesu und der daraus zu folgernden Schlüsse für die Heilsökonomie erst
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
schrittweise auf den Konzilien des 4. und 5. Jh. klären musste. Das hier genannte Hebräerevangelium wird auch schon von Clemens von Alexandrien und Origenes erwähnt.94 Interessant ist, dass diese Gruppe sowohl den Sabbat als auch den Sonntag feierte und an den jüdischen Reinheits- und Kultvorschriften festhielt. Kyrill von Jerusalem († 386) warnt in seiner vierten Taufkatechese, 37, die Katechumenen vor der Versuchung, jüdische Speise- und Sabbatvorschriften zu befolgen. Fliehe jedes teuflische Werk und höre nicht auf den abtrünnigen Drachen …! Halte nichts auf Sterndeuterei, auf Vogelflug, auf Vorzeichen, auf fabelhafte Wahrsagungen der Götzen! Von Giftmischerei, Zauberei, den abscheulichen Totenbeschwörungen sollst du nicht einmal etwas hören wollen. Lasse ab von Ausschweifungen jeder Art! Fröne nicht der Völlerei, ergib dich nicht der Wollust! Sei erhaben über Habsucht jeder Art und Wucher! Gehe nicht in heidnische Schauspiele! … Meide all den Schmutz der Wirtshäuser! Falle nicht in Samaritanismus oder Judaismus! Denn für immer hat dich Jesus Christus davon befreit. Halte dich keineswegs mehr an die Beobachtung der Sabbate und nenne nicht mehr diese oder jene indifferente Speise gemein und unrein! Vor allem hasse alle Zusammenkünfte der gottlosen Häretiker! Auf jede Weise stelle deine Seele sicher durch Fasten, Beten Almosengeben und durch Lesungen göttlicher Aussprüche …
Zunächst ist auffallend, dass Kyrill die „Versuchung“, in „Samaritanismus oder Judaismus“ zu verfallen, mitten in einen Lasterkatalog einbaut. Unter allen genannten Übeln (Sterndeuterei, Giftmischerei, Völlerei, Wollust, Habsucht etc.) wird das Leben nach jüdischen Bräuchen als besonders schlimm qualifizierte Sünde aufgezählt – kurz vor den „Zusammenkünften der gottlosen Häretiker“, die hier die negative Klimax bilden. Im Umkehrschluss lässt sich erkennen, dass die Beobachtung der Sabbate und das Einhalten der Speisevorschriften für viele Christen eine größere „Versuchung“ darstellte als „Völlerei“ und „Wollust“. Johannes Chrysostomus († 407) stellt mit seinen acht adversus Iudaeos Homilien, die er in seiner Heimatstadt Antiochia hielt, einen traurigen Höhepunkt der antijüdischen Polemik dar.95 Erste Rede, 1,5: Was ist es denn für eine Krankheit? Die Feste der unseligen, unglücklichen Juden sind im Kommen, die anhaltend eines nach dem anderen stattfinden, die 94 95
Vgl. dazu Klauck, Evangelien, 53–62. Vgl. dazu Lewy, Art. Chrysostom, 161f.; Markschies, Way, 11–32. Cohen, Ways, 337, setzt das „Parting of the Ways“ zu Beginn des 2. Jh. an und befindet zu Johannes Chrysostomos: „The Christian community did not include Jews, and the Jewish community did not include Christians, even if some Christians wandered over to the synagogue from time to time. The accusation of ,Judaizingʻ is not evidence for the un-parting of the ways. “ Dabei bleibt fraglich, ob es tatsächlich eine fest definierte „Christian community“ oder „Jewish community“ gab – offensichtlich war gerade das nicht der Fall!
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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Schofarhörner, die Laubhütten, die Fastentage. Und von den vielen aus unseren Reihen, die behaupten, unsere Gesinnungsgenossen zu sein, gehen die einen hin, bei den Festfeiern zuzuschauen, die anderen feiern sogar mit und nehmen an den Festen teil. Diese schlechte Gewohnheit will ich also jetzt von der Kirche wegjagen … (Jetzt aber geht es um) diejenigen, die sich durch ihre Sympathien für das Judentum als krank erweisen … 8,1: Wenn einer von euch … hingeht, um die Schofarhörner zu sehen, oder um zur Synagoge zu gehen oder … beim Fasten mitmacht oder an der Sabbatfeier teilnimmt oder bei einer anderen kleineren oder großen Feier der Juden mitfeiert, rein bin ich vom Blut von euch allen. Vierte Rede, 4,1: … Wenn ihr der Meinung seid, der jüdische Glaube sei die Wahrheit, weswegen belästigt ihr (dann) die Kirche? Wenn hingegen der christliche Glaube wahr ist, wie er es ja auch ist, bleibt (bei ihm) und folgt ihm. Sechste Rede, 7,9: Denn wenn einer auch abertausend Goldstücke zahlte, tut er nichts ähnliches, wie derjenige, der eine Seele rettet, sie vom Irrglauben wegführt und an seiner Hand zum Glauben führt. Wer einem Armen etwas gab, hat ihn vom Hunger befreit, wer den judaisierenden (Bruder) auf den rechten Weg bringt, hat die Gottlosigkeit vernichtet; jener hat Armut gemildert, dieser gesetzloses Tun verhindert, jener hat für einen Leib Linderung der Qual gefunden, dieser eine Seele der Hölle entwunden. Achte Rede, 4,7: Da hört einer von dir, wie du sagtest, „viele haben gefastet mit den Juden“, und ohne es nachzuprüfen, erzählte er es einem anderen, der wiederum machte nicht viel Aufhebens und berichtete es wieder einem anderen; ... Wenn sie also auch in geringer Zahl sind, so machen wir sie durch viel Erzählen zu vielen, machen die Standhaften schwächer und die fast Fallenden stoßen wir um. Denn der Bruder wird, wenn er hört, daß es viele sind, die gefastet haben, leichtsinniger werden. Und der Schwache wiederum, wenn er das hört, wird zur Menge der Gefallenen laufen. Aber wir wollen uns weder über diese noch über eine andere Missetat freuen, auch wenn sie zahlreich sind, die Sünder, und wollen ihr Tun nicht ausposaunen und sagen: „Es sind viele“; sondern wir wollen lieber den Mund halten und uns zusammennehmen.
Zur Zeit des Johannes Chrysostomus scheint es in Antiochia selbstverständlich gewesen zu sein, dass viele Christen („Es sind viele“) an den jüdischen Festen, am Synagogenbesuch und an jüdischen Fastenzeiten festhielten. Auch wenn er in der achten Rede die Zahl klein reden möchte, kommt er doch nicht umhin, die enorme Mundpropaganda zugunsten eines judaisierenden Lebensstils zur Kenntnis zu nehmen. Diese Praxis ist für ihn allerdings eine „Krankheit“, wie er in seiner ersten Rede ausführt. Denn: „… wer den judaisierenden (Bruder) auf den rechten Weg bringt, hat die Gottlosigkeit vernichtet … eine Seele der Hölle entwunden.“ Epiphanius von Salamis († 403) erwähnt in Pan. 29 die Nazoräer, welche das mosaische Gesetz, den Sabbat und die Beschneidung einhalten, aber trotzdem an Christus glauben (Pan. 29,5,4; 29,7,5). Für Epiphanius ist schon allein dies eine Häresie, schließlich habe Jesus Sabbat und Beschneidung abgeschafft (Pan. 29,8,1–5; 30,33,4). Ähnlich argumentiert er bzgl. der Ebioniten, denen er Pan. 30 widmet.
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Ebion, den auch er für eine historische Person hält, wäre aus den Nazoräern hervorgegangen (Pan. 30,2,1) und habe vertreten, dass Jesus leiblich von Josef gezeugt worden sei (Pan. 30,2,2). Auch legten die Ebioniten strengere rituelle Reinheitsvorschriften an den Tag als die Nazoräer (Pan. 30,2,3–5). Der Tonfall bei Epiphanius ist polemisch, wenn etwa Ebion als πολύμορφον τεράστιον („vielgestaltige Monstrosität“, Pan. 30,1,1, vgl. 30,14,6) vor Augen geführt wird, der mit seinen „Tricksereien“ (κυβεία, 30,14,6) Menschen in die Irre führt. Bei Hieronymus († 420) lesen wir im 112. Brief, gerichtet an Augustinus: 13 Der Kernpunkt des ganzen Problems oder richtiger Deiner Deutung ist folgender: Handeln die gläubig gewordenen Juden nach der Verkündigung des Evangeliums Christi richtig, wenn sie die Vorschriften des Gesetzes beobachten, d.h. wenn sie Opfer darbringen, wie es Paulus getan hat, wenn sie ihre Kinder beschneiden wie Paulus den Timotheus, wenn sie den Sabbat beobachten, wie alle Juden es getan haben? Wenn dies richtig ist, dann gleiten wir in die Irrlehre des Kerinth und des Ebion hinein, die an Christus glaubten und von den Vätern nur deshalb verurteilt wurden, weil sie die Gesetzesbräuche mit dem Evangelium Christi vermengten. Sie haben sich zum Neuen bekannt, ohne das Alte preiszugeben. Was soll ich von den Ebioniten sagen, welche sich den Anschein geben, Christen zu sein? Noch heute besteht in allen Synagogen des Orients die jüdische Sekte der Minäer, besser bekannt unter dem Namen Nazaräer, welche von den Pharisäern bis zur Stunde verurteilt wird. Sie glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus Maria der Jungfrau. Er ist für sie derselbe, der unter Pontius Pilatus gelitten hat und von den Toten auferstanden ist, an den wir ja auch glauben. Aber da sie zugleich Juden und Christen sein wollen, sind sie weder Juden noch Christen. … Sind wir nämlich verpflichtet, die Juden mit ihren Gesetzen aufzunehmen, und erlauben wir ihnen die Beobachtung der Gebräuche, die sie in den Synagogen des Satans übten, in den Kirchen Christi, dann werden sie – ich rede, wie ich es meine – keine Christen werden, wohl aber uns zu Juden machen.
Hieronymus treibt die Frage um, ob Christen auch noch weiterhin jüdische Bräuche befolgen dürfen. Dabei unterscheidet er zwischen Ebioniten und Nazoräern (auch: Nazaräer), wobei sich letztere weiter vom Judentum entfernt hatten. Trotzdem verurteilt Hieronymus beide Gruppierungen. Er fordert eine Entscheidung, ein „judenchristlicher“ Weg ist für ihn nicht mehr möglich: „… da sie zugleich Juden und Christen sein wollen, sind sie weder Juden noch Christen.“ Auswertung: Die Warnungen der Kirchenväter erlauben den Umkehrschluss, dass es noch bis ins fünfte Jahrhundert hinein Christen gab, die ihren Glauben mit der Einhaltung jüdischer Vorschriften, wie Beschneidung, Sabbatheiligung und Reinheitsgesetze, verbanden. Fraglich bleibt bei diesen Nennungen zwar, wieweit die Kirchenväter tatsächliche, zeitgenössische Zustände schildern, oder ob sie einfach nur altes Traditionsgut („Ketzerlisten“) zitieren. Bei Justin, Origenes, Johannes Chrysostomus und Hieronymus wird man davon ausgehen dürfen, dass sie
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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tatsächliche Kenntnisse von solchen Gruppierungen hatten.96 Gerade „die Predigten des Johannes Chrysostomus in Antiochien machen deutlich, welche Attraktion jüdisches Überlieferungsgut in der christlichen Gemeinde gehabt haben muss.“97 Mancherorts gab es noch eine offene Grenze zwischen Judentum und Christentum. Nicht nur einige, sondern viele Christen (Johannes Chrysostomus AdvJud 8,4,7f.) partizipierten ganz selbstverständlich am jüdischen Leben, hielten jüdische Fest- und Fasttage, gingen in die Synagoge und akzeptierten Beschneidung und Speisevorschriften. 2.2.6
Judenchristen oder Judaizanten? – Das Ende judenchristlicher Präsenz in Palästina
Mit dem Wissen, dass Christen noch bis ins 5. Jh. hinein jüdische Bräuche praktizierten, sind keineswegs alle Fragen gelöst. Zu klären bleibt, ob diese Christen jüdischer Abstammung waren oder einfach nur Heidenchristen, die jüdische Bräuche und Gesetze hielten, ohne selbst von Juden abzustammen (sogenannte „Judaizanten“). Dabei kommt der Frage große Bedeutung zu, ob sich irgendwo Judenchristen jüdischer Abstammung in kontinuierlicher Traditionslinie seit der Zeit Jesu erhalten haben. Am ehesten könnte das in Palästina der Fall sein, wobei auch hier das Quellenmaterial dürftig ist. „An einer frühen und wohl judenchristlichen Gemeinde in Kafarnaum dürfte jedoch wohl nicht zu zweifeln sein.“98 Allerdings belegen die aramäischen und syrischen Graffiti, die neben griechischsprachigen Fragmenten in den Verputzresten des „Hauses Petri“ gefunden wurden, keine ungebrochene judenchristliche Präsenz bis ins 4. Jh., wie ursprünglich von den Ausgräbern insinuiert.99 Broadhead kommt zum Schluss, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Authentizität des Petrushauses spricht.100 Er vermutet zu Recht eine judenchristliche Gemeinde dort, deren Präsenz sicherlich nicht mit der ersten Generation endete. Das allerdings beweist noch keineswegs „an unbroken line of Jewish Christians and influence in Capernaum up to the time of Constantine.“101 Ähnliches gilt auch für die Frage nach judenchristlichen Spuren in Nazaret. Die Hoffnung der Ausgräber, dort Reste alter, judenchristlicher Traditionen gefunden zu haben, hat sich nicht erfüllt.102 Wahrscheinlich gelang es der Jesus-
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Vgl. Harlow, Judaism, 276. Stemberger, Juden, 71. Stemberger, Juden, 70. Zur Frage nach „Judaizanten“ vgl. Markschies, Way, 25–29. Ein Forschungsüberblick zu den umstrittenen Inschriften findet sich bei Broadhead, Ways, 334–341, und Zangenberg, Silence, 104–107; Taylor, Christians, 268–294. Mehr zu Kapharnaum s.u. III.10.2.3., vgl. auch: Becker, Capernaum, 113–139. Vgl. Broadhead, Ways, 340. Broadhead, Ways, 341. Vgl. Strange, Nazareth, 127–180.
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I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
bewegung nicht, nach dem ersten Jüdischen Krieg in Galiläa bleibend Fuß zu fassen.103 Für Jerusalem hingegen haben wir Belege bei Eusebius (HE 3,5,3), Josephus (B.J.5,422), Epiphanius (Pan 29,7,7–8; 30,2,7; DeMens 15) und Lk 21,20f, dass die Christen im Zuge des ersten Jüdischen Krieges nach Pella flohen (s.u. II.6.1.5).104 Weitere Zeugnisse für solche Absetzungsbewegungen gibt es auch in Gestalt von Johannes, dem Verfasser der Offenbarung, einem aus Palästina stammenden Judenchristen, der sich in den Wirren des Krieges nach Ephesus abgesetzt hatte.105 In ähnlicher Weise rechnen manche Forscher mit einer Übersiedlung der johanneischen Gemeinden vom Ostjordanland nach Ephesus106 und auch die „Täuferjünger“ in Apg 19,3 belegen Kontakte zwischen Palästina und Ephesus. Fraglich aber bleibt, ob sich alle Judenchristen aus Jerusalem zurückzogen und auch, ob sie permanent die Stadt verließen oder nach dem Krieg wieder zurückkehrten. Immerhin belegen altkirchliche Zeugnisse für die Zeit nach dem Jüdischen Krieg wieder eine christliche Gemeinde in Jerusalem. Allerdings ist anzunehmen, dass nach dem gescheiterten Bar Kochba Aufstand mit der Gründung von Aelia Capitolina und dem Verbot für Juden, die Stadt zu betreten, auch das Ende der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem gekommen war. Mit dem Ende einer signifikanten Präsenz von Judenchristen in Palästina, hatten diese ihren geographischen Anker verloren. Wahrscheinlich war der Verlust von Jerusalem als Mitte des Judenchristentums on the long run einer der Gründe, dass sich die judenchristliche Lesart der Jesus-Nachfolge irgendwann im immer größer werdenden Strom des Heidenchristentums verlor. Wenn sich schon eine durchgehende Linie judenchristlicher Existenz von den Anfängen bis in nachkonstantinische Zeit in Palästina nicht feststellen lässt, so scheint ein Nachweis in der Diaspora noch viel schwieriger zu sein. In Frage käme hier Antiochia aufgrund der großen jüdischen Diasporagemeinde (Josephus, B.J. 2,479) und der dort zu verankernden frühchristlichen Traditionen (s.u. III.10.4.1), verbunden mit den späteren Polemiken des Johannes Chrysostomus (s.o. I.2.2.5). Ob und wie lange sich dort aber Judenchristen halten konnten, bleibt im Dunkeln. Allerdings: Selbst wenn es sich in Antiochia und anderen Orten nur um Judaizanten handeln sollte, so belegt doch die starke Anziehungskraft, die das Judentum auch auf Heidenchristen auszuüben vermochte, nur umso mehr, wie sehr selbst von Nichtjuden die starke Verwandtschaft des Christentums mit dem Judentum
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Ein Überblick zur intensiven Diskussion: Tiwald, Logienquelle, 83–89. Von den meisten Forschern wird angenommen, dass die Logienquelle noch vor dem Jüdischen Krieg in Galiläa schriftlich abgefasst wurde, danach jedoch verlieren sich die Spuren judenchristlicher Existenz dort. Vgl. Zangenberg, Silence, 94; Taylor, Christians, 43f. Zum Geschichtswert der Pella-Notiz: Frenschkowski, Galiläa, 551f.; Bourgel, Move, 107–138. Vgl. Stowasser, Nikolaiten, 223. Ebenso Backhaus, Vision, 17. Vgl. Klauck, Gemeinde, 199–203.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
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wahrgenommen wurde. Die Beharrlichkeit, mit der sich Beschneidung, Sabbatheiligung, Festzeiten und Speisevorschriften im Christentum hielten, belegt, für wie unaufgebbar ein großer Teil der Christen die jüdischen Wurzeln auch weiterhin einschätzte. Die fließenden Übergänge haben auch in der Literatur ihren Niederschlag gefunden, wie der folgende Punkt belegt. 2.2.7
Pseudepigrapha im jüdisch-christlichen Grenzbereich
T. Nicklas hat darauf verwiesen, dass viele der sogenannten „alttestamentlichen Pseudepigrapha“ (besser: jüdische Apokryphen aus hellenistisch-römischer Zeit)107 zwar einen jüdischen Entstehungshintergrund haben, aber dann christlich überarbeitet in christlichen Kreisen zirkulierten. Zu nennen wären hier etwa Texte wie die Testamente der zwölf Patriarchen, die Apokalypse des Elija oder die Vita Adae et Evae. Auch wenn es momentan ausgesprochen umstritten ist, wieweit man bei den einzelnen Texten eine jüdische Grundschrift postulieren darf, so belegt die intensive Aneignung jüdischer Traditionen im Christentum doch in jedem Fall, dass die jüdischen Wurzeln im frühen Christentum auch noch weiterhin als identitätsstiftend empfunden wurden. Darüber hinaus kann man zumindest bei einigen dieser Werke tatsächlich eine jüdische Grundschrift ausfindig machen (s.u. III.8.2–4). Damit wird klar, dass diese Texte „somewhere ‚between‘ what we usually would call ‚Judaism‘ and ‚Christianity‘“108 anzusiedeln sind. Die Schnittmenge zwischen „jüdischen“ und „christlichen“ Traditionen ist auch hier größer als zumeist vermutet. Bei manchen Schriften können wir bis heute nicht präzise trennen, wo die Linie zwischen „jüdisch“ und „christlich“ verläuft. Wahrscheinlich gab es eine solche klar gezogene Trennlinie in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung auch gar nicht. 2.2.8
Der fiscus Iudaicus
Ein bislang häufig vernachlässigter Punkt in der Frage nach dem „Parting of the Ways“ ist der fiscus Iudaicus. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. mussten alle Juden im Reich zugunsten der paganen Gottheit Iupiter Capitolinus eine Steuer
107
108
Vgl. die Edition der „Old Testament Pseudepigrapha“ durch J. H. Charlesworth oder die Serie der „Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit“ (JSHRZ, Gütersloher Verlagshaus), auf die Nicklas, Jews, 107, verweist. Dazu auch die Edition von R. Bauckham/J. R. Davila/A. Panayotov „Old Testament Pseudepigrapha. More Noncanonical Scriptures“, und die intensive Diskussion dieser Thematik bei Davila, Provenance. – Die Bezeichnung „alttestamentlichen Pseudepigrapha“ gibt den christlichen Blickwinkel wieder, doch sind diese Schriften ursprünglich im jüdischen Raum entstanden. Dazu s.u. III.8.2. Nicklas, Jews, 112.
48
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
von zwei Drachmen bezahlen (B.J. 7,218).109 Diese Steuer wandelte die alte Steuer für den Tempel in Jerusalem in eine Zwangssteuer für einen heidnischen Tempel in Rom um. „Die Frage, wer als Jude galt, war nun nicht mehr allein eine Frage der jeweiligen Zuordnung zur jüdischen Gemeinde, sondern eine Frage der fiskalischen Verwaltung und Rechtspraxis.“110 Vor allem unter Domitian gab es hier eine einschneidende Verschärfung. Suetonius berichtet davon in DeVitCaes/Domitianus 2,2: Besonders hart wurde die Judensteuer eingetrieben (Iudaicus fiscus acerbissime actus est). Zu ihrer Zahlung wurden diejenigen herangezogen, die entweder wie Juden lebten, ohne sich dazu zu bekennen (improfessi Iudaicam viverent vitam) oder jene, welche die ihrem Volke auferlegten Zahlungen nicht geleistet hatten, da sie ihre Herkunft verheimlichten (dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent). Ich erinnere mich, daß ich als ganz junger Mann dabei war, als von einem Prokurator und seinen zahlreichen versammelten Ratgebern bei einem 90-jährigen nachgeprüft wurde, ob er beschnitten sei.
Das Eintreiben der Judensteuer acerbissime – „in besonders harter Weise“ – kann verschieden interpretiert werden. Nach Heemstra könnten mit improfessi Iudaicam viverent vitam Gottesfürchtige und mit den Juden sympathisierende Heidenchristen, mit dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent jüdische Steuerflüchtige, abgefallene Juden, Proselyten, beschnittene Nicht-Juden und Judenchristen gemeint sein.111 Domitian wollte bzgl. der Frage, wer denn nun Jude ist, Klarheit schaffen. Ähnliche Bestrebungen, klar zu definieren, wer als „Christ“ zu bezeichnen ist, sind uns ja auch aus der Plinius-Trajan Korrespondenz (s.u. III.10.4.10) einige Jahre später bekannt. Daraus lässt sich ein Zweifaches schließen: 1) Bis zu Domitian gab es offensichtlich keine klare Zuordnung oder Trennlinie zwischen „jüdisch“ und „nicht-jüdisch“. 2) Auch Domitian scheiterte mit seinen Bemühungen, denn seine Verordnungen wurden unter seinem Nachfolger Nerva sofort zurückgenommen. Auch wenn unter Kaiser Nerva zwar nicht die grundsätzliche Zahlung des fiscus Iudaicus abgeschafft wurde, so ließ er doch 96 n. Chr. die unbeliebten Verschärfungen seines Vorgängers Domitian bei der Einhebung der Steuer (acerbissime) zurücknehmen (vgl. die von Suetonius berichtete Begebenheit, wie ein Neunzigjähriger vor Gericht entblößt wurde, um die Tatsache seiner Beschneidung festzustellen). Die Streitigkeiten darum, wer Jude sei und wer nicht, scheinen größere Bevölkerungskreise betroffen zu haben, immerhin ließ Nerva auf den Revers seiner Sesterze die Worte FISCI IVDAICI CALVMNIA 109
110
111
Vgl. die Untersuchung von Heemstra, Fiscus, dort den Überblick zu epigraphischen und literarischen Zeugnissen, die über diese Steuer berichten (epigraphische Quellen aus Ägypten, Josephus, Suetonius, Cassius Dio). Ebenso Günther, Fiscus, 175–189. Frey, Paulus, 272. Konradt, Matthew, 129, vermutet hinter Mt 17,24–27 bereits einen Appell an die judenchristlichen Gemeindemitglieder, den fiscus zu zahlen. Vgl. Heemstra, Fiscus, 64. Ebenso Frey, Juden, 369; Goodman, Nerva, 41.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
49
SVBLATA („die hinweggenommene falsche Anklage durch den fiscus Iudaicus“) schlagen,112 eine propagandistische Eigenwerbung für eine damals offensichtlich allgemein als lobenswert empfundene Handlung. Die Konsequenz der Gesetzeserleichterung durch Nerva dürfte darin bestanden haben, dass nur mehr diejenigen den fiscus Iudaicus zu bezahlen hatten, die sich öffentlich zum Judesein bekannten, also die professi. In erster Linie dürfte die Erleichterung ihr Judentum nicht mehr praktizierende Juden im Blick gehabt haben, wie etwa Tiberius Alexander, den Neffen Philons von Alexandria, der sich vom Judentum losgesagt und in römischen Diensten Karriere gemacht hatte, den cursus honorum durchlief und 46–48 n. Chr. Präfekt im Verwaltungsbezirk Judäa war (s.u. II.5.6). Solche Leute waren zwar beschnitten, aber es wurde trotzdem als calumnia („Verleumdung“/„falsche Anklage“) empfunden, wenn man sie als gläubige Juden bezeichnet hätte. Damit galten für Juden ähnliche Kriterien, wie sie Plinius der Jüngere später als Statthalter in der Provinz Pontus und Bithynien für die Christen anlegte (s.u. III.10.4.10): Erst wenn sich jemand öffentlich zu seiner Religion bekennt, wird dies als Glaubenszugehörigkeit gewertet.113 Die bloße Existenz der Beschneidung ist somit nicht mehr das entscheidende Indiz. Interessant ist es nun, ob und inwieweit die Einhebung des fiscus Iudaicus das „Parting of the Ways“ beschleunigte:114 Zahlten Judenchristen, wie etwa die Judenchristen Palästinas oder Ebioniten und Nazoräer auch noch weiterhin den fiscus Iudaicus und standen sie somit auch als professi zu ihrem jüdischen Lebensstil? Wir wissen es nicht. Vielleicht aber maß man auch der äußeren Steuer keine solche Bedeutung für die innere (also „gefühlte“) Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft bei. Wahrscheinlich veranschlagt Frey die auf dem fiscus Iudaicus ruhende Beweislast doch etwas zu hoch, wenn er schließt: „Die neue Rechtssituation förderte insofern massiv die Distanzierung zwischen Juden und Christen.“115 Man könnte den Sachverhalt nämlich auch von der Gegenseite lesen: Die Tatsache, dass Domitian mit seinen harten Maßnahmen klare Linien schaffen wollte, belegt, dass es eine breite Grauzone jener gab, die improfessi Iudaicam viverent vitam, also ohne Zahlung des fiscus Iudaicus ein jüdisches Leben führten. Wenn 112
113 114
115
Abbildungen und Analysen von Heemstra, Fiscus, 68f. Wie das Wort calumnia zu interpretieren ist, vgl. den Überblick a.a.O. 71–74. Vgl. Goodman, Nerva, 44. Dazu ebenso Frey, Paulus, 274. Hier ist Heemstra, Fiscus, 105–158, doch etwas zu phantasievoll, wenn er in der Johannesoffenbarung 2,9.14; 3,9 und im Hebräerbrief 10,32–34 Hinweise auf die Einhebung des fiscus Iudaicus und die damit verbundene Abgrenzung der Christen von den Juden erkennen möchte. Frey, Paulus, 274. Günther, Fiscus, 189, hält die aus dem fiscus Iudaicus für das Verhältnis von Juden und Christen gezogenen Konklusionen für „a kind of over-interpretation“. Vielleicht ist Mt 17,24–27 eine Aufforderung, den fiscus Iudaicus zu zahlen. Auch wenn im Text von der „Tempelsteuer“ die Rede ist, so ist das MtEv doch nach der Tempelzerstörung geschrieben und hielt an den jüdischen Wurzeln fest (s.u. V.12).
50
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Nerva die unpopulären Maßnahmen wieder zurücknahm, dann nicht, weil jetzt alle Unklarheiten beseitigt waren, sondern weil der aggressive Erhebungsmodus als schikanös empfunden wurde. Mit der Rücknahme der Verfügungen zieht die alte Unsicherheit wieder ein – diejenigen, welche improfessi Iudaicam viverent vitam oder dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent, sind wohl nicht weniger geworden! Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings die Notiz des Eusebius, dass nach dem Bar Kochba-Aufstand Juden das Betreten von Jerusalem verboten war und damit auch die judenchristliche Jerusalemer Urgemeinde ein Ende fand (Eusebius zufolge waren bis zum Bar Kochba-Aufstand alle Jerusalemer Bischöfe Judenchristen, danach Heidenchristen, s.u. II.7.1). Das bedeutet, dass für die Römer auch damals noch die Jerusalemer Judenchristen als Juden angesehen wurden und daher auch den fiscus Iudaicus entrichten mussten. 2.2.9
Wann also schieden sich die Wege?
Das „Parting of the Ways“ – so viel dürfte klar geworden sein – war nicht die Angelegenheit eines bestimmten Moments der Geschichte, sondern ein sehr lange dauernder Prozess. Wahrscheinlich lief das „Parting of the Ways“ auch nicht in allen Gemeinden zu derselben Zeit und in derselben Weise ab. Zu Recht fordert Broadhead: „ … any reference to a parting of the ways between Judaism and Christianity must further specify who parted, when they parted, and where this separation occurred.“116 Daher hat Dunn auch im Plural von den „Partings of the Ways“gesprochen, Broadhead gar die launige catchphrase „Parting with ‚The Parting of the Ways‘“aufgebracht und Becker/Reed die programmatische Ansage „The Ways that Never Parted.“117 Oftmals lag die Frage nach „jüdisch“ und „christlich“ wohl einfach im Auge des Betrachters, „the borderlines between ‚Jewish‘, ‚Christian‘ or ‚not Jewish‘ … could be drawn in very different ways.“118 Mit Frankemölle könnte man schließen: „Setzt man eine einigermaßen entwickelte kirchliche Organisation und ein ebenso entwickeltes theologisches Lehrsystem voraus, wäre das 3./4. Jh. auch die Zeit in den langen Prozessen zwischen Christentum und Judentum, in denen die Trennung politisch, aber auch theologiegeschichtlich zu fixieren ist.“119 Davor aber gab es keine klar gezogene Grenzlinie zwischen den beiden Religionen. Und dort wo es eine Trennung gab, war sie unscharf und die Umstände komplex. Heute allerdings sind Juden und Christen zwei getrennte Weltreligionen, und man ist christlicherseits gut beraten, dies zur Kenntnis zu nehmen: Allzu leicht
116 117 118 119
Broadhead, Ways, 389. Dunn, Partings; Broadhead, Ways, 389; Becker/Reed, Ways. Nicklas, Jews, 52. Frankemölle, Frühjudentum, 437.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
51
könnte eine christliche Umklammerung des Judentums von jüdischer Seite als hegemonial und übergriffig empfunden werden. Tatsache ist, dass das Judentum als eigenständige Religion das Christentum nicht unbedingt benötigt. Umgekehrt gilt das allerdings nicht: Ein Christentum ohne seine jüdischen Wurzeln hätte einen zentralen Teil seines Wesenskerns eingebüßt! Das Wort des Paulus aus Röm 11,18 hat ungebrochene Gültigkeit: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“
2.3
Beginn und Ende des „Frühchristentums“
Nach den oben angestellten Überlegungen (s.o. I.2.1.1) kann man sich darauf einigen, die erste Phase des Christentums um die Mitte des 2. Jh. enden zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt waren all jene Schriften, die der späteren Kirche als kanonisch galten, abgefasst und man kann auch von gewissen festen Organisationsformen der christlichen Gemeinden ausgehen.120 Natürlich ist auch 150 n. Chr. nur eine willkürliche Grenzziehung, da der Kanon der christlichen Schriften als verbindliches Verzeichnis heiliger Schriften erst viel später festgelegt wurde,121 die Trennung vom Judentum noch nicht völlig vollzogen und auch die dogmatische Entwicklung noch im Fluss war. Komplizierter aber ist, wann das Christentum begann. Dazu K. Wengst:122 Begann das Christentum mit „Ostern“ oder wenigstens „Pfingsten“? Das ist fraglich, denn hatte etwa Simon Petrus, als er … zur Überzeugung kam, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, die Meinung: Also bin ich ab jetzt kein Jude mehr, sondern Christ? Die Frage stellen heißt, sie verneinen. Er und die anderen waren jüdische Menschen, die … Jesus für den Messias hielten. Auch Paulus war als Jude kein „Christenverfolger“ und als Verkündiger des Evangeliums von Jesus Christus kein „Christ“. … Seine Berufungserfahrung führte auch bei ihm nicht dazu, dass er meinte: Jetzt bin ich kein Jude mehr, sondern Christ. Natürlich hatte er einen Wechsel erfahren, aber das war ein Wechsel von einem pharisäisch bestimmten Juden zu einem messiasgläubigen Juden.
120
121
122
Vgl. Koch, Geschichte, 26 und 156, der das „Urchristentum“ „zwischen 30 und 150 n. Chr.“ Festsetzt. Ein wenig früher, um 130 n. Chr. Wird von Schnelle, Jahre, 27, diese Phase für beendet erklärt. Schnelle führt als weiteres Argument auch das Auftreten der frühen Apologeten ins Feld und das Ende des Bar-Kochba-Aufstandes (135 n. Chr.). Vgl. dazu Broer/Weidemann, Einleitung, 700–711. „Zu einer gewissen Entscheidung ist es durch den 39. Osterfestbrief des Athanasius (ca. 295–373), des Bischofs von Alexandrien, aus dem Jahre 367 gekommen, der ein Verzeichnis der kanonischen – die Bezeichnung Kanon für die kirchlich anerkannten Schriften stammt von ihm – Schriften des Alten und Neuen Testaments enthält und die Zahl der neutestamentlichen Schriften mit 27 angibt“ (706). Wengst, Ursprünge, 11.
52
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Wengst ist vollkommen Recht zu geben, dass die ersten Jünger Jesu sich nicht als „Christen“ bezeichneten. Die Bezeichnung „Christ/en“ war ja ursprünglich auch eine Fremdbezeichnung, wie wir schon in Apg 11,26 gesehen haben (s.o. I.2.1.2). Als Eigenbezeichnung findet sich Χριστιανός, christianos, „Christ“, allerdings bereits in Apg 26,28 (zwar im Munde des Agrippa, aber doch aus dem Blickwinkel des Lk) und 1Petr 4,16. Der Ausdruck „Christentum“ (Χριστιανισμός) begegnet hingegen erst in den (pseudepigraphen) Ignatiusbriefen in polemischer Frontstellung gegen das „Judentum“ (Ἰουδαϊσμός). Die beschneidungsfreie Heidenmission in Apg 11,12 und die Loslösung vom Judentum scheinen somit zu Grundlagen des Christentums als eigener Religion werden. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Zu Recht hat K.-W. Niebuhr darauf hingewiesen: „‚Judentum‘ bei Paulus [sc. Gal 1,13f.] ebenso wie ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ bei Ignatius bezeichnen nicht Religionsgemeinschaften oder Glaubenssysteme, sondern Lebensweisen.“123 Die Annahme, hier bereits zwei fest voneinander abgegrenzte „Religionen“ vorliegen zu haben, ist anachronistisch (s.o. I.1.3.4). Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche identity markers, die hier ins Spiel gebracht werden. Aus diesen entwickelten sich dann allerdings im Laufe der kommenden Jahrhunderte tatsächlich zwei verschiedene Religionen. Somit müsste man mit Wengst zu Recht bedauern, dass „die Geburt des Christentums“ am „Geburtsfehler“ der antijüdischen Positionierung oder mindestens der Loslösung von jüdischen identity markers krankt.124 Das bringt auch G. Boccaccini treffend auf den Punkt: Wenn das Christentum sich aus der Grenzziehung zum Judentum definieren möchte, dann müsste man schließen: „[W]here Christianity is, Judaism is not.“125 Solch eine Position aber würde die jüdischen Wurzeln des Christentums kappen, was nicht nur theologisch fatal, sondern vor allem auch historisch falsch wäre. Historisch steht zweifelsfrei fest, dass das Christentum am Anfang Teil des Judentums war, die Frage wandelt sich also zu: „When and why did Christianity cease to be a Jewish phenomenon?“126 Wir kehren also zur bereits erörterten Frage zurück, wann sich denn das Christentum vom Judentum trennte. Da aber das „Parting of the Ways“ an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten stattfand (s.o. I.2.2.9), wird man auch mit der Antwort auf diese Frage keine präzise Definition finden können. Auch Wengst beantwortet die von ihm gestellte Frage nicht, sein Beitrag versteht sich lediglich 123
124 125 126
Niebuhr, Judentum, 232. Zum „Parting of the Ways“ in den pseudepigraphen Ignatiusbriefen: Vogel, Jüdisch, 418–431. Zu den Ausdrücken Ioudaismos/„Judentum“ und Christianismos/„Christentum“: Bremmer, Ioudaismos, 57–87, der annimmt, dass die Ignatianen die Fronststellung Ioudaismos vs. Christianismos von Markion übernommen habe. Zu den Belegen in den Ignatianen: Christianismos: Ign.Magn. 10,1.3 (2x); Ign.Röm. 3,3; Ign.Phld. 5,6. Ioudaismos: Ign.Magn. 10,2 (2x), Ign.Röm. 5,6 (2x). Vgl. Wengst, Ursprünge, 15. Boccaccini, Interpreters, 221. Boccaccini, Interpreters, 221.
2. Frühchristentum und beginnendes Christentum
53
als Problemanzeige. So scheint es in diesem Punkt doch sinnvoll, einen Schritt weiter zu gehen und die Bezeichnung „Christ“ nicht an die Selbstbezeichnung der ersten Christen rückzubinden, sondern – wenn auch nur aus dem Blickwinkel des ex post argumentierenden Historikers – eine eigene Definition vorzunehmen. Hier scheint es legitim, ab dem Moment von „Christen“ zu sprechen, da Jesus als der von Gott durch das Osterereignis legitimierte Messias („Christos“) angesehen wird. Das allerdings impliziert, dass einige der ersten Christen – etwa die von Wengst genannten Petrus und Paulus – zugleich „Christ“ wie auch weiterhin „Jude“ sein konnten. Eine Selbstbezeichnung von Petrus oder Paulus als „Christ“ ist natürlich anachronistisch, doch umgeht diese Definition den „Geburtsfehler“ des Antijudaismus, den Wengst diagnostiziert. Die bereits getroffene Definition zum Begriff „Frühchristentum“ (s.o. I.2.1.1) scheint also auch angesichts des „Parting of the Ways“ sinnvoll: Der Ausdruck „Frühchristentum“ gibt das Kontinuum von den ersten Jesusjüngern bis hin ins 4. Jh. wieder, also der Zeit der Konzilien, in der die christologischen Titel aus ihrer metaphorischen Fluidität (s.u V.7) in dogmatische Fixierung geführt wurden und damit das „Parting of the Ways“ vollendet wurde (für einen Juden ist klarerweise nicht akzeptabel, dass Jesus als zweite göttliche Person gesehen wird). Der Ausdruck „beginnendes Christentum“ hebt innerhalb des „Frühchristentums“ die erste Phase (bis 150 n. Chr.) als Zeit besonderer Normativität ab. Doch meint „beginnendes Christentum“ nicht eine erste Phase des „Christentums“, sondern vielmehr die Anfänge dessen, was später das „Christentum“ werden sollte.
2.4
Frühchristentum oder „Frühchristentümer“?
Analog zur Pluralität im Frühjudentum wird auch bzgl. des Frühchristentums gerne im Plural gesprochen, so etwa bei H. Frankemölle:127 Der innerjüdischen Vielfalt steht eine innerchristliche Vielfalt (sofern man zur Zeit des NT dezidiert von ‚christlich‘ sprechen kann) gegenüber … Wie es beim Begriff „Christentum“ keine monolithische Einheit gibt, so auch nicht beim „Judentum“. Für die Zeit des NT dürften beide Bezeichnungen im Singular anachronistisch sein.
Die Betonung der Pluralität des Frühchristentums ist ohne Zweifel nötig. P. Trebilco hat in Bezug auf die Gemeinde von Ephesus aufgezeigt, wie viele Traditionsstränge des beginnenden Christentums in dort beheimatet waren und wie distanziert sich diese Gruppierungen gegenüberstanden.128 Doch gibt dies nur die halbe 127
128
Frankemölle, Frühjudentum, 28 (auch 222f.). Vgl. auch Nicklas, Jews, 12: „… one is even inclined to speak about ‚Judaisms‘ and ‚Christianities‘.“ Vgl. Trebilco, Ephesus, 712–717; Tiwald, Pluralität, 128–145. Zu nennen wäre hier Paulus und die Paulusschule, die Gemeinden des Johannesevangeliums, die Gemeinden des Verfassers der Offenbarung und letztlich noch die Adressaten der Ignatiusbriefe.
54
I.
„Frühjudentum“ und „Frühchristentum“
Wahrheit wieder. Wir haben (s.o. I.1.3.3) mit Blick auf das Frühjudentum befunden, dass eine Rede von „Frühjudentümern“ der Sache nicht gerecht wird, da das Verbindende stärker war als das Trennende. In gleicher Weise ist das auch vom Frühchristentum zu sagen. P. Trebilco kommt bzgl. Ephesus, das für ihn zu einem Prüfstein für Einheit oder Disparatheit des Frühchristentums wird, zum Schluss: Thus in Ephesus … there was a drawing of lines by some Christians in order to exclude others who regarded themselves as Christians. This is a clear tendency of our documents – the Pastorals, the Johannine Letters, Rev [sc. Revelation] and Ignatius. Thus, one continuing element in the life of Christians in Ephesus was conflict between Christians, and the presence of differing stands of Christian faith. … However, we should not think solely in terms of the opposition of one group to another. … We cannot call this “unity” – they clearly retained the distinct identity of their separate groups. We can perhaps speak of commonality – that, whilst preserving their distinctive identity, we can suggest that they would have been willing to acknowledge the validity of each other’s claim to be part of the wider movement we call early Christianity.129
Das Frühchristentum verband – trotz aller fehlenden Einigkeit („unity“) – eine gewisse Gemeinsamkeit („commonality“), das Wissen, einer gemeinsamen religiösen Grundanschauung zugehörig zu sein. Auch hier war das Verbindende stärker als das Trennende.
129
Trebilco, Ephesus, 716f. Auch Vouga, Problem, 514: „faktische Einheit der Christentümer“.
II.
Geschichte des Frühjudentums
Das Frühjudentum begann mit der hellenistischen Zeit (s.o. I.1.2). Allerdings ist auch diese Zeit ein Resultat der vorangegangenen Epoche(n), sodass ein Rückblick auf die Babylonische und Persische Zeit sinnvoll erscheint.
1.
Babylonische Zeit
Die erste babylonische Deportation: Mit der Schlacht bei Karkemisch (Syrien), in der 605 v. Chr. der babylonische Kronprinz und spätere Regent Nebukadnezar II. (605– 562 v. Chr.) die Ägypter vernichtend schlug, wurden die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten neu abgesteckt. Ab diesem Moment gehörte die syrisch-palästinische Landbrücke zum uneingeschränkten Einflussgebiet der Babylonier. Auch das zweimalige Eingreifen in Juda und Jerusalem (598/7 und 587/6) war für die Babylonier nicht mehr als eine militärische Petitesse. Als König Jojakim (608–598 v. Chr.) in krasser Verkennung der Situation gegen die Babylonier rebellierte, kam es 598 v. Chr. zur Belagerung Jerusalems (2Kön 24,10–17). Die Rechnung hatte allerdings sein Sohn Jojachin zu begleichen, der erst während der Belagerung (vermutlich nach dem Tod des Vaters) die Regentschaft übernahm. Obwohl er nach Regierungsantritt 597 v. Chr. die Kapitulation der Stadt anordnete (und damit eine Brandschatzung verhinderte), wurden er und zahlreiche Angehörige der Oberschicht (darunter auch der Prophet Ezechiel; Ez 1,1–3) nach Babylon deportiert. Tempelzerstörung: Die verbleibende Unterschicht im Rumpfstaat um Jerusalem wurde nun von Zidkija (597–587, vgl. 2Kön 24,17) regiert. Trotz der eindringlichen Warnungen des Propheten Jeremia (Jer 37–38) verfiel dieser – angestachelt von Ägypten – auf die wahnwitzige Idee, einen Aufstand gegen die Babylonier anzustrengen. Das Strafgericht war furchtbar: 587 nahmen die Truppen von Nebukadnezar II. die Stadt Jerusalem ein und zerstörten diese vollkommen. Der salomonische Tempel wurde niedergebrannt, in den Flammen ging wahrscheinlich auch die Bundeslade zugrunde (Jer 39). Als nach dem Exil der Zweite Tempel errichtet wurde, stand das Allerheiligste im Tempel leer. Eine spätere Tradition, wie sie in
56
II. Geschichte des Frühjudentums
2Makk 2,4–8 greifbar wird, rechnete damit, dass der Prophet Jeremia die Bundeslade gerettet und an einem unauffindbaren Platz verborgen habe. Dort würde die Lade verbleiben, „bis Gott sein Volk wieder sammelt“ (2Makk 2,7). Die Hoffnungen einer eschatologischen Restauration von Volk und Tempel blieben auch im Frühjudentum intakt, wie etliche Texte belegen (s.u. V.4.1). Nach Röm 3,25 wird Jesus sogar als ἱλαστήριον, hilastērion (die Sühneplatte auf der Bundeslade), bezeichnet (s.u. V.8.1.3; V.9.2). Zweite Deportation und Exilszeit: Mit der zweiten Deportation wurde der Rest der Führungsschicht ins Exil verbracht. Die zurückbleibende Restbevölkerung war weitestgehend aktionsunfähig (2Kön 24,14; 25,12). Politisch wurde Juda der Provinz Samarien zugeschlagen. Damit endete die Existenz des Südstaates Juda. Im Exil genossen die Juden relative Bewegungsfreiheit und einen gewissen Grad an Selbstverwaltung. Der starke Wunsch, ihre kulturelle und religiöse Identität zu bewahren und nicht im fremden Volk aufzugehen (wie die zehn Stämme des Nordreichs), führte zu einer besonderen Betonung von Beschneidung und Sabbatruhe als Zeichen des Bundes (Ez 20,12; 22,8.26; 23,38). Neben den Textsammlungen im Buch Ezechiel sind auch die in der Spätzeit des Exils entstandenen deuterojesajanischen Texte (Jes 40–55) Früchte der theologischen Neubesinnung, die hier im Exil Platz griff. Die Erwartung einer Sammlung ganz Israels aus der Diaspora (Jes 43,5–8), die Hoffnung der Bekehrung der Heiden zum Glauben an Israels Gott und die damit verbundene Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 49,23), aber auch die Rede vom heilsbringenden Sühneleiden des Gottesknechtes (Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12)1 sind auch im späteren Frühjudentum präsent.
2.
Persische Zeit
„Kyrosedikt“: Als der Perserkönig Kyros II. (559–530 v. Chr.) im Jahre 539 v. Chr. im eroberten Babylon einzog, hatte dies tiefgreifende Konsequenzen für die nach Babylon deportierten Juden. Die Ankündigung von Kyros, die deportierten Völker samt ihren Gottheiten wieder in ihre jeweiligen Heimatorte zurückkehren zu lassen, läutete eine neue Form der Politik ein: „Es handelte sich nicht um Toleranz aus Gesinnung, sondern aus Kalkül: aus der Einsicht, daß sich das Weltreich so würde besser und dauerhafter beherrschen lassen.“2 Im Gegenzug forderten die neuen Herrscher Loyalität und Einpassung in das neue Gefüge. In diesem Sinne wurde auch das Reichsaramäische zur neuen Staatssprache erhoben, zu dem das Bibelaramäische einen Unterzweig darstellt. Für das Judentum bedeutete diese 1 2
Vgl. dazu Jüngling, Jesaja, 381–404. Donner, Geschichte, 394.
3. Hellenistische Zeit
57
Entwicklung die Heimkehr aus dem Babylonischen Exil. Ob es allerdings ein eigenes „Kyrosedikt“, wie es uns Esr 6,3–5 (aramäische Fassung) und 1,1–4 (hebräische Proklamation) berichten, wirklich gab, bleibt fraglich; in persischen Quellen lässt sich solch ein Dekret nicht finden. Möglicherweise wurden Prozesse, die von Kyros angestoßen wurden, erst später unter Dareios (522–486) wirksam.3 Bau des Zweiten Tempels: Trotz der Unsicherheiten um das „Kyrosedikt“ lässt sich der Wiederaufbau des Tempels dann übereinstimmend (Esr 5,1–2; 6,16; Hag 1–2) für das Jahr 520 v. Chr. unter dem persischen Sonderbevollmächtigten, dem Davididen Serubbabel (nach 1Chr 3,19 ein Enkel Jojachins), festmachen. Die beiden Propheten Haggai und Sacharja riefen die noch zögerlichen Juden zur Unterstützung des Tempelbaus auf – besonders gegen den Widerstand der Landbevölkerung, dem ‘( ﬠַם־הָ אָ ֶרץam ha-᾿arez, „Volk des Landes“, Esr 4,4), also der nicht deportierten, im Land verbliebenen Unterschicht. Die Spannungen sind mehr als verständlich, schließlich hatten die aus Babylon Heimgekehrten eine theologische Entwicklung durchlaufen, die von den im Land Gebliebenen nicht mitgetragen wurde: „Den Exilierten war der Monotheismus selbstverständliche Grundhaltung und die Beschneidung, die Einhaltung des Sabbats sowie die Speise- und Reinheitsgebote zum praktizierten Alltag geworden. Die Daheimgebliebenen hingegen haben ihre traditionellen vorexilischen theologischen Überzeugungen … fortgeführt.“4 Der Ausdruck ‘am ha-᾿arez wurde im späteren rabbinischen Judentum zu einer stehenden Wendung für das ungebildete, der Tora unkundige Volk (z.B. bPes 49a–b; bBer 47b, bSota 22a). Aufgrund dieser Spannungen sollte es bis 515 v. Chr. dauern, dass der Zweite Tempel eingeweiht werden konnte. Zu dem aus dem Tempelbau resultierenden Widerstand der Samaritaner und dem daraus resultierenden Schisma s.u. III.9.1.
3.
Hellenistische Zeit
3.1
Die Zeit unter Alexander dem Großen
Der Siegeszug Alexanders des Großen eröffnete ein neues Kapitel in der Geschichte des Vorderen Orients. In der berühmten Schlacht von Issos (333 v. Chr.) errang der erst 23-Jährige einen Sieg über den Perserkönig Dareios III. Kodamannos. Im Jahre 332 v. Chr. zog Alexander dann von Norden kommend die phönikische Küste entlang Richtung Ägypten. Berühmt wurde dabei die siebenmonatige
3 4
Vgl. dazu Schmitz, Geschichte, 52f. Schmitz, Geschichte, 57f.
58
II. Geschichte des Frühjudentums
Belagerung von Tyros. Gegen die auf einer Insel liegende Stadt ließ Alexander einen Damm aufschütten, um die Stadt einzunehmen. 331 v. Chr. zog es den Makedonier in das Herz des Perserreiches. In der Ebene von Gaugamela (heute: Nordirak) nahe der Stadt Arbela schlug Alexander die Perser vernichtend. Nach der Ermordung des flüchtigen Dareios durch einen seiner Satrapen, bestieg Alexander den Perserthron. Nach seinem Indienfeldzug machte Alexander Babylon zum neuen Zentrum seines Großreiches. Als er mit nicht einmal 33 Jahren 323 v. Chr. an Sumpffieber starb, hatte er politisch und kulturell völlig neue Realitäten geschaffen. Jerusalem unter Alexander dem Großen: Politisch waren die Auswirkungen der Feldzüge Alexanders in Juda und Jerusalem zunächst nur marginal zu spüren. Alexander hatte die Einteilung des Reiches in Satrapien von den Persern übernommen. So blieb auch Juda weiterhin eigenständige Verwaltungseinheit in der Satrapie Transeuphrat-Syrien. Sowohl Josephus (A.J. 11,329f.) als auch talmudische Quellen berichten, dass Alexander den Tempel in Jerusalem aufgesucht hätte, um dort ein Opfer zu bringen. Diese Darstellung gehört in das Reich religionspolitischer Apologetik. Jerusalem und sein Tempel waren für die damalige Zeit zu unbedeutend, als dass Alexander Zeit dafür verwendet hätte. Die kulturelle Bedeutung Alexanders – der Hellenismus: Auch wenn sich politisch zunächst für Jerusalem unter Alexander nicht viel änderte, so kann der Einfluss, den die hellenistische Kultur im Kielwasser der Eroberungen des Makedoniers mit sich brachte, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zwar hatte es auch schon vor Alexander einen gewissen Einfluss hellenistischer Kultur im östlichen Mittelmeerraum gegeben (etwa in den phönikischen Küstenstädten), doch setzte sich nun der Hellenismus als eine die ganze – soziopolitische, sozioökonomische und sozioreligiöse – Lebenswirklichkeit bestimmende Mischkultur durch. Die Verschmelzung von griechischer und orientalischer Kultur schuf einen gemeinsamen Kulturraum, der in den kommenden Jahrhunderten bis weit in die römische Zeit hinein dominant blieb. Trotz aller Spannungen, die diese Kultur auch für das Judentum mit sich brachte, sind alle späteren jüdischen – wie auch christlichen – Entwicklungen überhaupt erst auf dem Hintergrund dieser Kultur zu verstehen. Der alles durchdringende Einfluss des Hellenismus führte auch bald in Palästina zu erkennbaren Spannungen, aber auch zu einer immer stärkeren Annahme des hellenistischen way of life. Ab diesem Moment wurde auch Griechisch die lingua franca des neuen Kulturraumes. Nur an einer Tatsache mag man pars pro toto erkennen, wie stark der Hellenismus auch das spätere Christentum prägte, nämlich daran, dass dessen heilige Schriften – die Septuaginta für das „Alte Testament“ und die Schriften des „Neuen Testaments“ (zur Terminologie s.u. V.3.1.1) – als „Wort Gottes“ allesamt in griechischer Sprache abgefasst sind, dem sogenannten
3. Hellenistische Zeit
59
Koine-Griechisch (von κοινή, koinē, „die Gemeinsame“), der damals allgemein üblichen Verwaltungssprache. Über die gemeinsame Sprache hinaus schuf der Hellenismus aber auch eine gemeinsame Kultur und Geisteshaltung, überhaupt einen kulturell, wirtschaftlich und größtenteils auch politisch homogenen Raum, der es überhaupt erst möglich machte, jüdische Kultur in der Diaspora und später die christliche Botschaft im gesamten östlichen Mittelmeerraum zu verbreiten.
3.2
Die Diadochenkämpfe (322–301 v. Chr.)
Der plötzliche Tod Alexanders 323 v. Chr. traf das Reich unvorbereitet und stürzte das Gebiet in zwei Jahrzehnte andauernde Machtkämpfe zwischen seinen Generälen, die sogenannten Diadochenkämpfe. In Ägypten setzte sich schon von Anfang an (ab Ende 322 v. Chr.) der tatkräftige Ptolemaios durch, der spätere Begründer der Dynastie der Ptolemäer. In Babylon herrschte der Satrap Seleukos, der später die Dynastie der Seleukiden begründete. Dazwischen hatte sich Antigonos Monophtalmos („der Einäugige“) im kleinasiatischen Raum etabliert. Gerade die syrisch-palästinische Landbrücke wurde zum Zankapfel der angrenzenden Nachbarn. Erst als Antigonos 301 v. Chr. von seinen Gegnern besiegt und getötet wurde, kehrte eine gewisse Stabilität ein, sodass jetzt nur mehr zwei Machtblöcke um Palästina stritten. Fürs Erste war es Ptolemaios, der die Herrschaft über dieses Gebiet erringen konnte, doch kam es zwischen 274 und 168 v. Chr. zwischen Ptolemäern und Seleukiden zu sechs Syrischen Kriegen (s.u. II.3.3), an dessen Ende die Seleukiden als Sieger standen. Die Lage in Palästina zur Zeit der Diadochenkämpfe: Aus der Zeit der Diadochenkämpfe besitzen wir nur wenige Informationen zum Stand der Dinge in Jerusalem. Tatsächlich war die Stadt zu marginal, um für weltpolitische Entscheidungen als Bühne zu dienen. Der bittere Nachgeschmack, nur ein Spielball der Mächtigen zu sein, prägte das jüdische Empfinden in soziopolitischer und sozioreligiöser Weise; ein Affekt, der noch bis in die Zeit Jesu hinein bestimmend blieb und auch in dem um 120 v. Chr. geschriebenen 1. Makkabäerbuch seinen Niederschlag fand (1,7–9): 7 Zwölf Jahre hatte Alexander regiert, als er starb. 8 Seine Offiziere übernahmen die Regierung, jeder in seinem Bereich. 9 Nach seinem Tod setzten sich alle das Königsdiadem auf; ebenso hielten es ihre Nachkommen lange Zeit hindurch. Sie brachten großes Unglück über die Erde.
60
3.3
II. Geschichte des Frühjudentums
Ptolemäische Herrschaft in Palästina (301–200 v. Chr.)
Mit der Herrschaft der Ptolemäer brach eine fast hundert Jahre andauernde Zeit des relativen Friedens in Palästina an. Palästina war politisch, wirtschaftlich und sozial fest in das ptolemäisch-ägyptische System eingebunden. Getrübt wurde diese scheinbare Harmonie allerdings durch die Tatsache, dass nach dem Tod der ersten Diadochengeneration (Ptolemaios I. starb 283, Seleukos I. 281 v. Chr.) der alte Zank zwischen Ptolemäern und Seleukiden um die syrisch-palästinische Landbrücke wieder aufbrach; es war dies die Zeit der sechs Syrischen Kriege. Obendrein presste die verwaltungstechnisch perfekt getaktete ptolemäische Steuerpolitik das Maximum an Abgaben aus den Provinzen. Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse Palästinas unter Ptolemaios II. bieten die Zenon-Papyri. Dieses Archiv wurde 1915 in Fayyum/Ägypten gefunden. Zenon, nach dem das Archiv benannt ist, war ein Inspektor, der im Auftrag der Ptolemäer durch Syropalästina reiste. Dabei traf er auch auf den jüdischen Lokalfürsten Tobias, den Begründer der Tobiadendynastie. Diese ursprünglich im Ostjordanland ansässige Familie griff immer entschiedener in die Jerusalemer Politik ein und machte sich als Parteigänger der Ptolemäer stark. Dies traf auf den Widerstand des Hohepriesters Onias II. in Jerusalem, den Schwager des Tobias, der einen proseleukidischen Kurs fuhr und daher die Tributzahlungen an Ptolemaios III. verweigerte (vgl. A.J. 12,156–159). Dies wiederum rief den Sohn des Tobias und Neffen des Onias, Joseph, auf den Plan, der sich nun zum Sprecher der Opposition gegen den Hohepriester und zum Vertreter der ptolemäischen Partei machte (vgl. A.J. 12,160). Tatsächlich erhielt Joseph die Zusage, als „Generalsteuerpächter“ für die gesamte Provinz Syrien/Phönikien eingesetzt zu werden, nebst Kommando über 2000 Soldaten, gegen das Versprechen, aus der Provinz das Doppelte an Steuern herauszupressen. Anders als in Ägypten (wo die Steuerpächter wohl überwiegend zur griechischen Bourgeoisie gehörten) schob sich zwischen die Landbevölkerung und den Staatsapparat eine einheimische Oberschicht aus aristokratischen Großgrundbesitzern und Priesteradel, die aufgrund gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen in der Ausbeutung des Volkes mit den Ptolemäern kollaborierte. Während also vor allem die Oberschicht an den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten partizipierte, wurde die einfache Landbevölkerung noch stärker ausgebeutet als zuvor – ein Muster, das sich auch in späterer Zeit häufiger wiederholen sollte und auch zur Zeit Jesu noch immer intakt war (s.u. IV.1.3). Mit dem Aufstieg der Tobiaden verschärften sich tatsächlich auch die sozialen Spannungen in Palästina. „Ohne Zweifel entstand bereits in ptolemäischer Zeit die verhängnisvolle Gleichsetzung von ‚arm‘ und ‚fromm‘ sowie von ‚reich‘ und ‚hellenisiert‘, die sich in der Folgezeit zu
3. Hellenistische Zeit
61
einem gefährlichen sozial-religiösen Gemisch entwickeln sollte.“5 Die sozio-religiöse Gemengelage schlug theologisch in der Ausprägung apokalyptischen Gedankengutes (s.u. III.8.3) zu Buche, während die sozio-ökologischen Konsequenzen zu einem immer stärkeren Auseinanderdriften zwischen einer reichen Oberschicht in den Städten und der armen Bevölkerung am Land führten. Die ägyptische Diaspora: Unter Ptolemaios I. war eine beträchtliche Zahl von Juden nach der Eroberung Palästinas zwangsweise in Ägypten angesiedelt worden. Dort etablierte sich das Judentum rasch und wurde zu einer sozial geachteten und gut integrierten Größe. Damit hatte sich – neben Babylon – ein zweiter Schwerpunkt jüdischer Diaspora gebildet. Eines der jüdischen Zentren war Alexandria, eine blühende und kosmopolitische Stadt. In der folgenden Zeit setzten die ptolemäischen Herrscher das Judentum oft bewusst zur Stärkung ihrer eigenen Macht ein und begünstigten dieses im wirtschaftlich-administrativen wie auch im militärischen Bereich. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der Aristeasbrief, in dem die Übersetzung der Tora aus dem Hebräischen ins Griechische beschrieben wird (s.u. III.7.2), dort entstand.
3.4
Seleukidische Herrschaft in Palästina (200–135 v. Chr.)
3.4.1
Antiochos III., der Große
Als in Ägypten 205 v. Chr. mit dem erst fünfjährigen Ptolemaios V. Epiphanes ein Kind den Thron bestieg, sah der überaus fähige Seleukide Antiochos III. („der Große“, 223–187 v. Chr.) die Stunde gekommen, Palästina im fünften Syrischen Krieg (201–200 v. Chr.) an sich zu reißen. Dieses Unterfangen war von bleibendem Erfolg gekrönt (A.J. 12,132f.) und fand in der Schlacht bei Paneion (200 v. Chr.) mit dem Sieg Antiochos’ den Abschluss. Hohepriester war zu diesem Zeitpunkt Simon II. „der Gerechte“, der Sohn Onias’ II. Nach dem Tod des Simon brach die Feindschaft zwischen Tobiaden und Oniaden offen aus – mit häufigen und unwürdigen Wechseln im Hohepriesteramt. In die Zeit dieser Machtkämpfe fällt auch die „Heliodoraffäre“, die in 2Makk 3 legendarisch ausgestattet berichtet wird. Deutlich wird hier das immer stärkere Auseinanderklaffen zwischen Hierokratie und Laienaristokratie, die beide um die Macht wetteiferten.
5
Schäfer, Geschichte, 26.
62
II. Geschichte des Frühjudentums
3.4.2
Die Entwicklungen unter Jason
Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) erhielt im jüdisch-traditionellen Geschichtsbild den Platz eines Erzbösewichts. Dabei wird gerne vergessen, dass die Ereignisse ihre Brisanz erst durch die starken Rivalitäten innerhalb des Judentums erhielten.6 Als Antiochos die Regierung übernahm, war in Jerusalem Onias III. Hohepriester, der einen besonders konservativen Kurs fuhr. Er wurde von seinem Bruder Jason aus dem Amt gedrängt, der mit dem Versprechen, höhere Steuern einzunehmen und die Hellenisierung in Jerusalem voranzutreiben, die Gunst des Herrschers für sich errang. Schon alleine die Absetzung eines amtierenden Hohepriesters war in den Augen frommer Juden ein Sakrileg, noch mehr die nun anschließenden Hellenisierungsbestrebungen Jasons (vgl. 2Makk 4,7–18). Jason ließ ein Gymnasion unmittelbar am Tempelberg errichten; nach 2Makk 4,14 waren die Priester fürderhin weniger am Altardienst, als an Kampfspielen im Gymnasion interessiert. Da die Kampfspiele nackt ausgetragen wurden, entschieden sich manche Epheben zum Epispasmos, der operativen oder mechanischen Wiederherstellung der Vorhaut (1Makk 1,15; Josephus A.J. 12,241).7 Der Epispasmos war nötig geworden, da nach griechischen Wertvorstellungen zwar Nacktheit beim Sport üblich war, aber die Denudation der glans penis als ehrenrührig und unsittlich galt.8 Für 1Makk 1,15 wurde im ἐποίησαν ἑαυτοῖς ἀκροβυστίας, „sie machten sich Vorhäute“, ein klarer Abfall vom jüdischen Gesetz gesehen.9 Schwerer allerdings wog die Tatsache, dass Jason und seine Anhänger die Zulassung zu Gymnasion und Ephebeion durch Mitgliederlisten reglementierten – toratreue Juden blieben von diesen Institutionen ausgeschlossen. In dem Maße wie Jerusalem immer mehr zur hellenistischen Polis wurde, blieben die – hauptsächlich am Land ansässigen – ärmeren und nicht-hellenisierten Schichten von griechischer Bildung und politischer Einflussnahme ausgeschlossen. 3.4.3
Die Krise unter Antiochos IV. Epiphanes
Jasons Zeit als Hohepriester endete so, wie sie begonnen hatte. Drei Jahre nach seiner Ernennung wurde er mit dem gleichen Trick aus dem Amt gedrängt, wie er dies bei Onias gemacht hatte: Ein gewisser Menelaos, hinter dem nach A.J. 12,239f. der einst proptolemäisch, jetzt aber proseleukidisch agierende Tobiaden-Clan
6 7 8
9
Dazu Atkinson, Art. Maccabees, 301–305; Tiwald, Gymnasion, 9–27. Zu den Möglichkeiten einer Wiederherstellung der Vorhaut: Schipper, Gymnasium, 116f. Vgl. Schipper, Gymnasium, 116, 119–121. Griechische Sportler trugen eine Kynodesme, ein um die Vorhaut geschlungenes Band, das die Peinlichkeit einer Denudation der glans penis vermeiden ließ (118f.; mit reichem Bildmaterial von griechischen Vasen: 123–126). Nach Schipper, Gymnasium, 121, handelt es sich in 1Makk 1,15 nicht um eine operative Wiederherstellung, sondern um ein Dehnen der Vorhaut durch Anlegen einer Kynodesme.
3. Hellenistische Zeit
63
steckte, versprach noch höhere Tributzahlungen und wurde daraufhin zum Hohepriester bestellt. Die Auswirkungen waren fatal: Zunächst war das Amt des Hohepriesters endgültig zur kaufbaren Ware geworden. Schlimmer noch wurde die Tatsache empfunden, dass mit Menelaos nun ein Nicht-Zadokide an die Macht kam (immerhin war Jason als Bruder des Onias wenigstens aus dem Geschlecht der Zadokiden gekommen).10 Dazu gesellte sich ganz nebenbei der immer stärker werdende ökonomische Druck auf die rechtlose und ausgebeutete Unterschicht. Mit der Zeit wurden die Hellenisierungsbestrebungen von der Mehrheit der Juden als eine politische Machination der Tobiaden (und des von ihnen gestützten Menelaos) zum Ausbau der eigenen Machtposition und zur skrupellosen Ausbeutung gesehen. Als Menelaos – wohl um die horrenden Tributzahlungen an den König zu entrichten – schließlich auch den Tempelschatz plünderte, riefen die nun proptolemäischen Oniaden zum Aufstand. Daraufhin eroberte Antiochos IV. Jerusalem im Herbst 169 v. Chr. und plünderte den Tempelschatz (hierbei tatkräftig unterstützt von Menelaos, wie 2Makk 5,15 berichtet). Als Antiochos dann 168 v. Chr. auf seinem zweiten Ägyptenfeldzug ausgesprochen siegreich bis Alexandria vordrang, setzten ihm die Römer in demütigender Weise das Ultimatum, den Krieg unverzüglich abzubrechen, da ihnen an einer einseitigen Verschiebung des Kräftegleichgewichtes nicht gelegen war (Dan 11,29f.; die „Kittäer“ sind die Römer). Dummerweise hatte der abgesetzte Jason, der von liberalen wie konservativen Kräften mittlerweile im Vergleich zu Menelaos als geringeres Übel angesehen wurde, zwischenzeitlich wieder einen Aufstand gegen Antiochos angezettelt. Der auf der Rückkehr befindliche Antiochos konnte sich – nach erlittener Demütigung durch die Römer – nicht auch diesen Affront gefallen lassen und statuierte 167 v. Chr. an Jerusalem ein Exempel. Die freie Ausübung der jüdischen Religion wurde unterdrückt, 1Makk 1,41–50 fasst die Situation zusammen: 41 Damals schrieb der König seinem ganzen Reich vor, alle sollen zu einem einzigen Volk werden, 42 und jeder solle seine Eigenart aufgeben. Alle Völker fügten sich dem Erlass des Königs. 43 Auch vielen Männern aus Israel gefiel seine Art des Gottesdienstes; sie opferten den Götterbildern und entweihten den Sabbat. 44 Der König schickte Boten nach Jerusalem und in die Städte von Juda mit der schriftlichen Anordnung, man solle eine Lebensform übernehmen, die dem Land fremd war. 45 Brand-, Schlachtund Trankopfer im Heiligtum seien einzustellen, Sabbate und Feste zu entweihen, 46 das Heiligtum und die Heiligen zu schänden. 47 Man solle stattdessen Altäre, Heiligtümer und Tempel für die fremden Götter errichten sowie Schweine und andere unreine Tiere opfern. 48 Ihre Söhne dürften sie nicht mehr beschneiden, vielmehr sollten sie sich mit jeder denkbaren Unreinheit und Entweihung beflecken. 49 So sollte das Gesetz
10
In Josephus A.J. 12,238f. wird Menelaos als Bruder Jasons bezeichnet. Wahrscheinlicher ist die Überlieferung in 2Makk 4,23, dass Menelaos ein Sohn des in der Heliodor-Affäre aktiven proseleukidischen Tempelvorstehers Simeon war – und damit kein Zadokide. Vgl. Atkinson, Art. Maccabees, 301–305; Frevel, Geschichte, 387f. und 383–385.
64
II. Geschichte des Frühjudentums in Vergessenheit geraten und alle seine Satzungen sollten hinfällig werden. 50 Wer aber des Königs Anordnung nicht befolge, müsse sterben.
Ziel war es, die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit der Juden zu brechen. Grund dieser Maßnahmen war weniger religiöse Intoleranz als die Machtstreitigkeiten im Judentum selber (schon 2Makk 13,4 bezeichnet Menelaos als „an allem Unglück schuld“).11 Immerhin liefen in Samarien die Dinge ganz anders. Dort durfte man der Mosetora und den damit verbundenen Riten und Traditionen weiterhin treu bleiben, während diese in Jerusalem verboten waren. Jedenfalls erreichten die seleukidischen Maßnahmen am 6. Dezember 167 v. Chr. ihren Höhepunkt, wie 1Makk 1,54–64 (vgl. 2Makk 6,1–5) berichtet: 54 Am fünfzehnten Kislew des Jahres 145 ließ der König auf dem Altar den Gräuel der Verwüstung errichten; auch in den Städten Judäas ringsum errichtete man Altäre. 55 Vor den Haustüren und auf den Plätzen brachten sie Rauchopfer dar. 56 Alle Buchrollen des Gesetzes, die man fand, wurden zerrissen und verbrannt. 57 Wer im Besitz einer Bundesrolle angetroffen wurde oder zum Gesetz hielt, wurde aufgrund der königlichen Anordnung zum Tod verurteilt. 58 Sie ließen Israel ihre Macht fühlen und gingen mit Gewalt gegen alle vor, die sie Monat für Monat in den Städten aufspürten. 59 Am fünfundzwanzigsten dieses Monats brachten sie auf dem Altar, den sie über dem Brandopferaltar errichtet hatten, ein Opfer dar. 60 Frauen, die ihre Kinder hatten beschneiden lassen, wurden auf Befehl des Königs hingerichtet; 61 dabei hängte man die Säuglinge an den Hals ihrer Mütter. Auch ihre Familien brachte man um samt denen, die die Beschneidung vorgenommen hatten. 62 Dennoch blieben viele aus Israel fest und stark; sie aßen nichts, was unrein war. 63 Lieber wollten sie sterben, als sich durch die Speisen unrein machen und den heiligen Bund entweihen. So starben sie. 64 Ein gewaltiger Zorn lag auf Israel.
Die Religionsmaßnahmen Antiochos’ hatten bleibende Auswirkungen auf das jüdische Selbstbewusstsein. Auch im Danielbuch (Dan 9,27; 11,31; 12,11) wird der „Gräuel“ (vgl. 1Makk 1,54; 1Makk 6,7) erwähnt; gemeint ist ein Altar des olympischen Zeus im Jerusalemer Tempel. Dieses Trauma hat das Judentum bleibend geprägt und das Signal zum Makkabäeraufstand gesetzt. Das Danielbuch wurde noch zu Lebzeiten Antiochos’ IV. geschrieben, als Trostbuch, das fiktiv am Hof des Babylonierkönigs Nebukadnezar spielt und Daniel als vaticinium ex eventu die Ereignisse vorhersehen lässt und das Ende der Bedrängnis ankündigt.
11
Zur Diskussion der Religionsgesetze von Antiochos IV.: Schäfer, Geschichte, 52–56.
4. Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer
4.
Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer
4.1
Die Makkabäer
4.1.1
Soziale Vorbedingungen des Aufstands
65
Allein aufgrund der starken ökonomischen Last, welche die Seleukiden der einfachen Bevölkerung in Form von Abgaben aufbürdeten, wird man davon ausgehen dürfen, dass das Gros der Juden den seleukidischen Herren mit großer Distanz und passivem Widerstand gegenüberstand – auch wenn die Berichte des heldenhaften Martyriums des greisen Eleasar (2Makk 6,18–20) und der Mutter mit ihren sieben Kindern der Propaganda geschuldet sind (2Makk 7,20–41). Die soziale Ungerechtigkeit, die Kollaborateure belohnte und die einfache Landbevölkerung ausschloss, darf als revolutionäres Agens nicht zu gering eingeschätzt werden. Somit bedurfte es nur eines Funkens, um den Aufstand zu entzünden. 4.1.2
Der Beginn des Aufstands unter Mattathias
In der kleinen Ortschaft Modeïn lebte der Priester Mattathias aus dem Geschlecht des Hasmon (A.J. 12,265; B.J. 1,36; daher „Hasmonäer“) mit seinen fünf Söhnen Johannes, Simon, Judas, Eleasar und Jonatan. Dieser weigerte sich, auf Befehl der seleukidischen Obrigkeit heidnische Opfer darzubringen und erschlug einen Juden, der dies tun wollte, sowie den Abgesandten des Königs (1Makk 2,1–28). Danach setzte er sich mit seinen Söhnen in die Wüste Juda ab und begann von dort aus einen Guerillakrieg gegen die seleukidischen Truppen (1Makk 2,27–48). 4.1.3
Der Befreiungskampf des Judas Makkabaios
In diesen Kämpfen scheint sich besonders Mattathias’ Sohn Judas verdient gemacht zu haben, der bald den Beinamen „Makkabaios“ (vom aramäischen maqqaba, „Hammer“, 1Makk 2,4) als nom de guerre erhielt. Als Mattathias noch im Jahr 166 v. Chr. starb, wurde Judas Makkabaios das Haupt des Aufstands, der nach ihm „Makkabäeraufstand“ benannt wurde. Judas entschied 166/165 v. Chr. drei Schlachten gegen die seleukidische Militärmacht für sich. 164 v. Chr. zog er dann gegen Jerusalem, das er mit Ausnahme der Akra, der Zitadelle der Seleukiden, eroberte. Das Kriegsglück des Judas war nicht nur dessen militärischem Ingenium geschuldet, sondern der Tatsache, dass die Seleukiden durch die Angriffe der Parther ihre militärische Hauptmacht im Osten des Reiches konzentrierten und den Aufstand der Makkabäer sträflich unterschätzten. Nach dem Einzug in Jerusalem stellte Judas am 25. Kislew des Jahres 148 (also dem 14. Dezember 164 v. Chr.) den traditionellen Tempelkult wieder her. Dieses Fest der neuerlichen
66
II. Geschichte des Frühjudentums
Tempelweihe nach der Profanierung durch die Seleukiden lebt im heutigen Judentum als Chanukka-Fest (חנוכה, chanukka, „Einweihung“) fort. Der Legende zufolge wurde im entweihten Tempel nur mehr ein einziges Fass kultisch reinen Öls gefunden, das für acht Tage Licht spendete (daher auch der achttägige Festzyklus und die acht Lichter auf dem Chanukka-Leuchter). Als Antiochos IV. Ende 164 v. Chr. starb, folgte ihm der noch unmündige Antiochos V. Eupator (164–162 v. Chr.) auf den Thron, für den allerdings Vizekönig Lysias die Regierungsgeschäfte führte. Diese machtpolitische Unsicherheit spielte den Makkabäern in die Karten. Judas konnte 163 v. Chr. erfolgreiche Feldzüge nach Galiläa, ins Ostjordanland, nach Idumäa und in die Küstenebene führen. Als er aber die Akra, die seleukidische Zitadelle in Jerusalem, attackierte, musste Lysias handeln und schickte eine starke Heeresmacht mit Kriegselefanten, die bei Bet-Sacharja einen Sieg über Judas errang (1Makk 6,17–54). Innerseleukidische Thronstreitigkeiten aber zwangen Lysias zur Rückkehr und zu einem Friedensangebot nebst Zusage der freien Religionsausübung an Judas (1Makk 6,55–63). In einem in 2Makk 11,22–26 zitierten Brief von Antiochos V. an Lysias heißt es dazu:12 22 Im Brief des Königs stand dies: König Antiochus grüßt seinen Bruder Lysias. 23 Nachdem unser Vater zu den Göttern hinübergegangen ist, wollen wir, dass die Untertanen des Reichs ungestört ihren Beschäftigungen nachgehen können. 24 Andererseits haben wir erfahren, dass die Juden mit der von meinem Vater gewünschten Übernahme griechischer Sitten nicht einverstanden sind, es vielmehr vorziehen, auf ihre eigene Art zu leben, und verlangen, dass man ihnen wieder gestattet, ihren Gewohnheiten zu folgen. 25 Wir beschließen darum, dass auch dieses Volk ungestört bleibt, und verfügen, dass man ihnen ihr Heiligtum zurückgibt, und dass sie ihr Leben so einrichten können, wie es schon zur Zeit ihrer Vorfahren Brauch war. 26 Du wirst nun am besten zu ihnen Gesandte schicken und ihnen die Hand zum Frieden reichen, damit sie die Grundlinien unserer Politik erkennen, Vertrauen fassen und ihre Angelegenheiten zu ihrer Zufriedenheit regeln können.
Aus der hellenistischen Polis war wieder ein Tempelstaat geworden. Der Hohepriester Menelaos wurde von den Seleukiden abgezogen und hingerichtet und stattdessen Jakim (Alkimos) zum Hohepriester bestellt. Dieser vertrat zwar auch seleukidische Interessen, stammte jedoch wenigstens aus aaronitischem Geschlecht (1Makk 7,14). Als aber Alkimos sechzig Hasidäer (hebr. חסידים, chas(s)idim, „Fromme“), die den Widerstand gegen die seleukidischen Religionsgesetze getragen hatten, umbringen ließ (1Makk 7,16), vertrieb ihn Judas aus Jerusalem. Als daraufhin die Seleukiden ein Heer unter Nikanor nach Judäa schickten, kam es 161 v. Chr. bei Adasa zur Entscheidungsschlacht, in der Nikanor fiel. Bis heute wird der Nikanor-Tag von den Juden alljährlich festlich begangen (2Makk 15,36). 12
Der Brief ist in 2Makk zeitlich falsch eingeordnet. Er stammt nicht von Antiochos IV., dessen Tod ja vorausgesetzt wird („nachdem unser Vater zu den Göttern hinübergegangen ist“), sondern von Antiochos V., nachdem dessen Vater Antiochos IV. gerade gestorben war.
4. Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer
4.1.4
67
Tod des Judas
Um seine eigene Position abzusichern, hatte Judas eine Gesandtschaft an die neu aufstrebende Großmacht Rom gesendet. Den Römern konnte an einem steigenden Einfluss in Syrien-Palästina nur gelegen sein. Deswegen kam es tatsächlich zu einem Freundschaftsbündnis. Die Seleukiden allerdings antworteten auf diese Provokation mit einem neuerlichen Feldzug gegen die Juden und schickten den Heerführer Bakchides. 160 v. Chr. verlor Judas Makkabaios in einer Schlacht bei Jerusalem sein Leben und wurde in Modeïn begraben. Die Römer aber intervenierten nicht zu seinen Gunsten. In Jerusalem wurde wiederum Alkimos als Hohepriester eingesetzt. Mit dem Machtwechsel erfolgte auch die Rückkehr der Hellenistenpartei nach Jerusalem, was auch ökonomische Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung hatte, vgl. 1Makk 9,23–27: 23 Nach dem Tod des Judas erhoben die Abtrünnigen in allen Teilen Israels wiederum ihr Haupt, und alle Übeltäter wagten sich wieder ans Licht. 24 In jenen Tagen gab es eine furchtbare Hungersnot; Daher lief das Land zu den Abtrünnigen über. 25 Bakchides wählte die gottlosen Männer aus und machte sie zu Herren des Landes. 26 Diese spürten die Anhänger des Judas auf, verhörten sie und brachten sie zu Bakchides. Er nahm Rache an ihnen und gab sie der Lächerlichkeit preis. 27 Große Bedrängnis herrschte in Israel, wie noch keine geherrscht hat seit den Tagen, da die Propheten nicht mehr auftraten.
Ein Teil des Widerstandes, der den Hellenisierungsbestrebungen entgegengebracht wurde, hatte also auch ökonomische Gründe (s.u. IV.3). 4.1.5
Jonatan
Nach dem Tod Judas’ übernahm Jonatan (160–142 v. Chr.) die Aufstandsbewegung. Ihm spielten abermalige Thronwirren in Antiochia in die Karten, da sich Alexander Balas zum Gegenkönig aufgeschwungen hatte. Jonatan wusste geschickt zwischen den beiden Rivalen zu lavieren und den Machtkampf für seine Zwecke auszunützen. Nach Darstellung des Josephus (A.J. 20,237, vgl. 1Makk 10,18–21) ließ sich Jonatan zum Laubhüttenfest des Jahres 153 v. Chr. als Hohepriester in Jerusalem einsetzen: Alkimos war bereits 160 v. Chr. gestorben (1Makk 9,56), nach A.J. 20,237 gab es danach eine siebenjährige Sedisvakanz, die erst die Ernennung Jonatans beendet hätte. Dies allerdings ist historisch fraglich, da für den toragemäßen Kultbetrieb (vor allem für den Versöhnungstag) ein Hohepriester nötig war. Aber auch die anderslautende Darstellung in A.J. 12,414 ist unrichtig, dass bereits Judas Makkabaios nach dem Tode Alkimos’ Hohepriester geworden sei.13 Immerhin starb Judas nach der Chronologie des 1. Makkabäerbuches bereits vor Alkimos. 13
Zur Diskussion vgl. Babota, Institution, 117f. und 121–139; ebenso Stökl Ben Ezra, Qumran, 67f.; Bernhard, Judas, 237f.
68
II. Geschichte des Frühjudentums
Die Übernahme des Hohepriesteramtes durch den Nicht-Zadokiden Jonatan (die Makkabäer entstammten nur der niederen Priesterschaft) wurde von traditionsverbundenen Gruppierungen in Jerusalem nicht gerne gesehen, bereits Menelaos war ja nicht-zadokidischer Hohepriester gewesen (s.o. II.3.4.3). Es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, dass eine akut endzeitlich eingestellte zadokidische Gruppierung zu dieser Zeit unter dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ jene Gemeinschaft gründete, die als „Essener“ bekannt wurde (s.u. III.4.6),14 und deren Schriften im heutigen Ḥirbet Qumran gefunden wurden (s.u. III.4.2.3). Sie betrachteten den Tempel in Jerusalem als rituell verunreinigt, Jonatan wurde als „Frevelpriester“ bezeichnet. Bisweilen wird von Forschern überlegt, ob nicht der zadokidische „Lehrer der Gerechtigkeit“ vor Jonatan legitimer Hohepriester gewesen sei – und zwar in jener Zeit, die A.J. 20,237 als siebenjährige Sedisvakanz nach dem Tod Alkimos’ zeichnet (anders aber A.J. 12,414). Jonatan hätte dann den „Lehrer der Gerechtigkeit“ aus dem Amt gedrängt, so wie das Jason mit Onias III. gemacht hatte (s.o. II.3.4.2). Da allerdings der „Lehrer der Gerechtigkeit“ in den Qumranschriften nie als Hohepriester tituliert wird, ist diese Theorie weniger wahrscheinlich,15 vermutlich hat die Usurpation des Hohepriesteramtes durch Jonatan zur Abspaltung der Essener geführt. In den Qumrantexten wird das in 1QpHab XII,6–10 (Auslegung zu Hab 2,17) erwähnt: … Und wenn es heißt: wegen Bluttaten an … Stadt 7 und Gewalttat am Land, so ist seine Deutung: Die Stadt, das ist Jerusalem, 8 worin der Frevelpriester abscheuliche Taten begeht und er verunreinigt hat das 9 Heiligtum Gottes. Und Gewalttat am Land, das sind die Städte Judas, wo 10 er Besitz von Armen geraubt hat. …
Offensichtlich begann bereits unter Jonatan eine Entwicklung, in der die neuen Herrscher in Jerusalem nicht nur gegen die Seleukiden und ihre hellenisierten jüdischen Anhänger zu kämpfen hatten, sondern sich auch einer wachsenden Opposition von frommen Juden gegenübersahen. Außenpolitisch taktierte Jonatan ausgesprochen klug und überstand alle politischen Machtwechsel in der Region. Als sich nämlich Alexander Balas gegen Demetrios durchsetzen (153–145 v. Chr.) und sogar die Hand der Tochter Ptolemaios’ VI. erringen konnte, befand sich Jonatan auf der Siegerseite. Und als Alexander Balas’ Stern im Sinken war, hatte 14
15
So Maier, Geschichte, 40f., ebenso Schäfer, Geschichte, 68; Kollmann, Einführung, 38, 41f. Frevel, Geschichte, 395, weist darauf hin, dass die Niederlassung von Qumran erst wesentlich später entstand (so auch in diesem Band vertreten, s.u. III.4.1.2) und dass daher die Identifikation Jonatans mit dem Frevelpriester unwahrscheinlich wäre, „wenn auch priesterlich dominierte Absetzbewegungen der Zadokiden im 2. Jh. V.Chr., die z.T. mit der später entstandenen Qumrangemeinschaft … vielleicht in Verbindung gebracht werden können, plausibel bleiben …“ Da allerdings in Qumran auch Manuskripte aus der Zeit vor der Gründung der Niederlassung aufbewahrt wurden, spricht nichts dagegen, dass Jonatan und seine Nachfolger mit dem Frevelpriester gemeint waren; s.u. III.1.2.2. Vgl. dazu die Diskussion bei Stökl Ben Ezra, Qumran, 273f.
4. Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer
69
Jonatan schon so viel politisches Gewicht gewonnen, dass ihm auch Demetrios II. (145–138 v. Chr.), der Alexander Balas besiegt hatte, nicht mehr schaden konnte. Demetrios musste Jonatan sogar weitreichende Zugeständnisse machen, um sein Wohlwollen zu erreichen: 1Makk 11,30–37: 30 König Demetrius grüßt seinen Bruder Jonatan und das Volk der Juden. 31 Wir haben euretwegen unserem Verwandten Lasthenes einen Brief geschrieben, dessen Abschrift wir auch euch, damit ihr Kenntnis davon erhaltet, zukommen lassen: 32 König Demetrius grüßt Vater Lasthenes. 33 Das mit uns befreundete jüdische Volk ist seinen Verpflichtungen uns gegenüber nachgekommen. Darum haben wir beschlossen, ihnen ihre Freundschaft zu vergelten. 34 Wir bestätigen ihnen den Besitz von Judäa und den drei Bezirken Efraim, Lod und Ramatajim. Diese sind mit allem, was zu ihnen gehört, von Samarien abgetrennt und zu Judäa geschlagen worden. Für alle, die in Jerusalem opfern, gelte das als Ersatz für die königlichen Steuern, die der König bei ihnen bisher jährlich von den Erträgen der Felder und Bäume erhoben hat. 35 Wir überlassen ihnen auch alle unsere anderen Einkünfte, den Zehnten und die Steuern, die uns von jetzt an zustehen, ferner die Abgaben aus den Salzteichen und die Kränze, auf die wir Anspruch haben. 36 Nichts davon soll je rückgängig gemacht werden. 37 Lasst euch nun eine Abschrift machen; sie soll Jonatan übergeben und auf dem heiligen Berg an einem Ort, der allen zugänglich ist, aufgestellt werden.
Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Ausweitung des jüdischen Herrschaftsgebietes auf die drei südlichen Bezirke Samarias (Efraim, Lod und Ramatajim), die Jonatan offensichtlich erobert hatte und deren Zugehörigkeit zu Jonatans Reich nun sanktioniert wurde. Dafür hatte Jonatan offensichtlich Demetrios Gefolgschaft geloben müssen. Als aber der seleukidische Feldherr Trypho sich gegen Demetrios auf die Seite Antiochos’ VI., den Sohn Alexander Balas’ schlug und Jonatan noch bessere Konditionen bot, wurde diesem der Machthunger zum Verhängnis. Denn auch Trypho wurde Jonatan langsam zu mächtig. Er legte diesem einen Hinterhalt bei Akko, setzte ihn gefangen und ließ ihn 142 v. Chr. ermorden. Nun ergriff Simon Makkabaios in Jerusalem die Macht. 4.1.6
Simon
Simon (142–135 v. Chr.) trat nicht nur die politische Nachfolge seines Bruders an, sondern folgte ihm auch schon 142 v. Chr. ins Amt des Hohepriesters. Simon gelang es, die von Jonatan grundgelegte Macht noch weiter auszubauen. Die seleukidischen Thronstreitigkeiten erwiesen sich dabei für ihn als ausgesprochen günstig. 141 v. Chr. gelang es ihm sogar, die bisher uneinnehmbare Akra, das letzte seleukidische Bollwerk in Jerusalem, zu erstürmen. Als ihm 140 v. Chr. die Jerusalemer Volksversammlung die Würden und Ämter als Fürst (ethnarchēs), Hohepriester (archiereus) und Heerführer (stratēgos) auf Lebenszeit zubilligte (der Titel „König“/basileus wurde tunlichst vermieden), hatte er den Höhepunkt seiner Macht erklommen. Nach 1Makk 14,41 wurde Simon auch das Amt des Hohepriesters zugebilligt, allerdings nur als Interimslösung, „bis ein wahrer Prophet auf-
70
II. Geschichte des Frühjudentums
trete.“16 Doch Simon wurde 135 v. Chr. bei einem Bankett in Dok bei Jericho von seinem Schwiegersohn Ptolemaios ermordet. Dieser konnte die Macht nicht erobern, da Simons Sohn Johannes gewarnt worden war und sich nun als Nachfolger seines Vaters durchsetzte. Damit endet die Zeit der Makkabäer, es beginnt die Zeit der Hasmonäer.17
4.2
Die Hasmonäer
4.2.1
Johannes Hyrkanos
Johannes Hyrkanos (135–104 v. Chr.) übernahm sämtliche Titel seines Vaters, doch er trat kein leichtes Erbe an. Antiochos VII. Sidetes (138–129 v. Chr.) belagerte Jerusalem, Johannes musste kapitulieren und Antiochos Treue geloben. Einmal mehr half die verworrene politische Großwetterlage den Juden: Antiochos erlitt 129 v. Chr. ein militärisches Fiasko auf seinem Feldzug gegen die Parther und fand den Tod. Der ihm nachfolgende Demetrios II., der aus der Haft entlassen worden war und seine zweite Amtszeit antrat (129–125 v. Chr.), wurde 125 ermordet. Das syrische Thronkarussell drehte sich immer schneller, unterschiedliche Herrscher wechselten in kurzer Folge. Damit war Jerusalem eine gewisse Autonomie möglich. Diesen Spielraum nutzte Johannes für ausgedehnte Eroberungszüge, unter anderem gegen die Idumäer, die er zwangsbeschneiden ließ (A.J. 13,257). Es stimmt allerdings nicht, dass Johannes gleich nach dem Tod von Antiochos VII. Sidetes, also um 129 v. Chr., zur Eroberung Samariens ansetzte, wie Josephus in A.J. 13,254–257 und B.J. 1,62 berichtet. Der archäologische Befund macht deutlich, dass der Tempel am Garizim erst um 110 v. Chr. zerstört wurde.18 In jedem Fall aber sind Versuche des Johannes Hyrkanos unübersehbar, „ein religionspolitisches Programm einer Wiederherstellung des alten Israel (d.h. der Sammlung aller in Palästina wohnenden Juden in einem politisch unabhängigen Staat)“19 durchzuziehen. Flavius Josephus bringt das Aufkommen der Pharisäer mit der Regierungszeit von Johannes Hyrkanos I. in Verbindung (A.J. 13,288–296). Besser aber passt die von Josephus beschriebene Szene in die Zeit von Alexander Jannaios
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19
Vgl. dazu Theißen, Sadduzäismus, 226. Zur Frage des Amtes eines „wahren Propheten“ oder eines „Propheten wie Mose“: Maier, Torah, 48–52. Diese Funktion war ein festes Amt, das seit Antiochos IV. Epiphanes nicht mehr nachbesetzt worden war (s.u. III.4.6.2). Vgl. Donner, Geschichte, 451. Von Josephus wird der Name „Hasmonäer“ aber gleichbedeutend mit „Makkabäer“ gebraucht (vgl. Schäfer, Geschichte, 77). Vgl. Magen, Art. Gerizim, 1742. Ebenso Pummer, Art. Samaritanism, 1188. Knoppers, Samaritans, 212, gibt den Zeitslot „112–111 BCE“ an. Theißen, Sadduzäismus, 227.
4. Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer
71
(mehr dazu s.u. III.1.2.1).20 Johannes Hyrkanos war der erste Hasmonäer, der eigene Münzen schlagen ließ – die Münzinschrift lässt erkennen, dass er besonders die hohepriesterliche Würde hervorkehrte.21 Eine Neukonzeption der Befestigung Jerusalems war schon unter Simon begonnen worden und wurde nun von Johannes fertiggestellt:22 Der Westhügel, der zwar schon unter Hiskija mit einer Stadtmauer umgeben, seit dem Exil aber unbefestigt war, wurde nun in die Stadtmauern inkludiert; es entstand die sogenannte „Erste Mauer“, oder „Alte Mauer“ welche nun Davidstadt und Westhügel umfasste (B.J. 5,142–146) und damit dem alten Mauerverlauf aus der Zeit Hiskijas folgte.23 Der höher als die Davidstadt gelegene Westhügel entwickelte sich in Folge als „Oberstadt“ zum neuen „Nobelviertel“ Jerusalems (B.J. 2,422.428f.). Dort siedelten auch in späterer Zeit – etwa zur Zeit Jesu – Aristokraten und hohe Priesterfamilien, wie eindrucksvolle Funde belegen.24 Als Johannes 104 v. Chr. im Sterben lag, bestimmte er seine Frau zur Regentin, während er seinen erstgeborenen Sohn Aristobulos als Hohepriester vorsah. 4.2.2
Aristobulos I.
Aristobulos, der mit jüdischem Namen Jehuda hieß, riss nach dem Tod des Vaters die Macht an sich, ließ seine Mutter, die von Johannes Hyrkanos zur Regentin bestimmt war, gefangensetzen und im Kerker verhungern. Seine Regierungszeit (104–103 v. Chr.) wurde schon nach einem Jahr durch Krankheit und Tod beendet. Dennoch ist seine Regentschaft einschneidend für die weitere Geschichte, da sich Aristobulos als erster Hasmonäer den Titel „König“ (basileus; Josephus A.J. 13,301; B.J. 1,70) zulegte. A.J. 13,318 berichtet, dass ihm die Eroberung Ituräas gelang, wobei die unklare Notiz bei Josephus wahrscheinlich das nördliche Gebiet Galiläas meint. Die dort lebende Bevölkerung war überwiegend nichtjüdisch, da sie nach der Zerstörung des Nordreiches von den Assyrern angesiedelt worden war (Jes 8,23; Mt 4,15); die jüdische Minderheit Galiläas hatte bereits Judas Makkabaios nach Judäa übersiedelt. Diese nichtjüdische Bevölkerung wurde zwangsjudaisiert.
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21 22 23
24
Vgl. Stemberger, Pharisäer, 98–105. Anders aber Kollmann, Einführung, 47f.; Schäfer, Geschichte, 85; Theißen, Sadduzäismus, 227. Vgl. Maier, Geschichte, 49. Vgl. Avigad, Art. Jerusalem, 719. Vgl. Geva, Art. Jerusalem, 729, und Viehweger, Ausgrabungen, 90–99. Erst gegen Ende der Hasmonäerzeit (der genaue Zeitpunkt ist ungewiss) wurde die „Zweite Mauer“ errichtet (Josephus B.J. 5,146). Die „Dritte Mauer“ (B.J. 5,147–152) wurde unter Agrippa I. begonnen und erst kurz vor dem Ausbruch des Ersten Jüdischen Krieges durch die Aufständischen fertiggestellt. Vgl. Avigad, Art. Jerusalem, 729–736; Bieberstein/Bloedhorn, Jerusalem I, 116f. Die Häuser waren mehrheitlich zweigeschossig, mit farbigen Mosaiken und Wandmalereien (wobei auf bildliche Darstellungen verzichtet wurde), Stuckverzierungen und Miqwaot.
72
II. Geschichte des Frühjudentums
4.2.3
Alexander Jannaios
Als Aristobulos 103 v. Chr. starb, veranlasste seine Witwe Salome Alexandra die Befreiung der drei inhaftierten Brüder Aristobulos’. Den ältesten davon, Alexander Jannaios, setzte sie zum König ein und vermählte sich mit ihm. Alexander Jannaios sollte fast dreißig Jahre herrschen (103–76 v. Chr.). Er ist der erste Hasmonäer, der Münzen mit dem Königstitel prägen ließ. Außenpolitisch hatte Alexander Jannaios ein sehr wechselvolles Kriegsgeschick. Trotz vieler Rückschläge konnte er schließlich ganz Palästina unter seine Kontrolle bringen, einschließlich weiter Teile des Ostjordanlandes und der Küstenebene. Diese Erfolge brachten ihn in Konflikt mit den Nabatäern, den östlichen Nachbarn der Juden, mit ihrer Hauptstadt Petra. Infolge der seleukidischen Schwäche hatten auch die Nabatäer mit einer eigenen Expansionspolitik begonnen und rivalisierten mit den Juden. Innenpolitisch herrschten in Palästina stellenweise bürgerkriegsähnliche Zustände. Schon unter den Makkabäern war der Konflikt mit den Hasidäern, den „Frommen“, aufgebrochen, die sich gegen die rein machtpolitischen Interessen der Herrscher und deren Hellenisierungspolitik wandten (s.u. III.1.1). Inwieweit sich aus diesen Hasidäern die späteren Pharisäer entwickelten, bleibt Gegenstand der Diskussion, ebenso, ob die Pharisäer bereits unter Johannes Hyrkanos oder erst unter Alexander Jannaios in eine geschichtlich fassbare Oppositionsrolle eingetreten sind (s.u. III.1.2.1). In jedem Fall eskalierte der Konflikt beim Laubhüttenfest, wo die Volksmenge – vermutlich aufgestachelt von den Pharisäern – den König beim Opfern mit den Zitronen des Feststraußes bewarf (etrog und lulav, Zitrone und Palmenzweig, sind Teil des Feststraußes beim Laubhüttenfest, Lev 23,40). Seit Jonatan hatten ja auch seine Nachfolger das Amt des Hohepriesters übernommen, was ihnen als Nicht-Zadokiden gar nicht zustand. So ist anzunehmen, dass Alexander Jannaios wegen dieser Anmaßung vom Volk geschmäht wurde.25 Daraufhin ließ Alexander 6000 Juden durch seine Söldner niedermetzeln, so berichtet es zumindest Josephus in A.J. 13,374. Als Alexander vor dem Nabatäerkönig Obedas fliehen musste, kam es zur offenen Rebellion, die in sechs Jahre Bürgerkrieg mündete. Wahrscheinlich waren es dann auch die Pharisäer, die den Seleukidenkönig Demetrios III. Eukairos gegen Alexander zu Hilfe riefen. Josephus nennt die Pharisäer in A.J. 13,376 zwar nicht, aber hier kommt uns eine Passage aus 4Q169 I,7, dem Nachum-Pescher, zu Hilfe. Wenn Josephus in A.J. 13,380 davon berichtet, dass Alexander nach der Niederschlagung des Bürgerkriegs 800 seiner Gegner kreuzigen ließ, dann scheint 4Q169 1,7 genau auf diese Begebenheit anzuspielen. Dort wird berichtet, dass der „Löwe des Zornes“ als „Racheakte an denen, die glatte Anweisungen geben … Menschen lebendig aufhängen läßt“. Mit den „Auslegern 25
Dass ein Hohepriester beim Laubhüttenfest am Altar mit Zitronen beschossen wird, wird auch in mSuk 4,9 erwähnt (hier wird allerdings nicht die Abstammung, sondern der falsch durchgeführte Ritus zum Stein des Anstoßes); vgl. Stemberger, Pharisäer, 102.
4. Die Zeit der Makkabäer und Hasmonäer
73
von glatten Dingen“ (דורשי החלקות, dorsche ha-ḥalaqot) dürften die Pharisäer gemeint sein,26 die auch in anderen Qumrantexten (4Q169 I,2 und II,2 sowie CD I,18; mehr zu den „Auslegern von glatten Dingen, s.u. III.4.2.6) mit diesem Spottnamen bedacht wurden.27 Mit dem „Löwen des Zornes“ dürfte Alexander Jannaios gemeint sein, der Rache dafür nimmt, dass die Pharisäer Demetrios III. gegen ihn zu Hilfe gerufen hatten.28 Alexander war so grausam, dass er, während die 800 Insurgenten am Kreuz hingen, deren Frauen und Kinder vor ihren Augen abschlachten ließ. Unterdessen tafelte er im Kreis seiner Konkubinen (A.J. 13,380). Dieses blutige Spektakel ist der einzige bekannte Fall, dass die Kreuzesstrafe von Juden angewandt wurde. Alexander konnte dem Nabatäerkönig Aretas zwischen 83 und 80 v. Chr. die Städte Pella, Dium, Gerasa, Gaulana, Seleukia und Gamala abtrotzen. 76 v. Chr. starb er nach dreijähriger Krankheit und seiner Trunksucht (wie A.J. 13,398 erklärt). 4.2.4
Salome Alexandra
Nach dem Tod Alexander Jannaios’ gelang es seiner Witwe, sich gegen ihre beiden Söhne als Thronerbin durchzusetzen und von 76–67 v. Chr. zu regieren. Neben Atalja (2Kön 11) handelt es sich um die einzige allein regierende Königin in der Geschichte Israels. Josephus berichtet, dass noch Alexander Jannaios am Sterbebett seiner Frau geraten habe, sich mit den Pharisäern – die er selbst ja verfolgt hatte – zu arrangieren (A.J. 13,399–404). Salome Alexandra setzte auf die Aussöhnung mit den Pharisäern und gewann deren Unterstützung (A.J. 13,408f./B.J. 1,110–113). Spätestens hier treten die Pharisäer als eine einflussreiche Gruppierung auf, die vor allem im einfachen Volk Sympathien verzeichnete. Salome, die als Frau nicht Hohepriesterin werden konnte, setzte in dieses Amt ihren älteren Sohn Hyrkanos II. ein. Ihren jüngeren Sohn, den wesentlich entschlussfreudigeren Aristobulos II., hielt sie zu ihren Lebzeiten in Schach. Als die Pharisäer immer mächtiger wurden, formierte sich der Widerstand der alten Eliten, an dessen Spitze sich Aristobulos setzte (A.J. 13,411). Ob man hinter dieser antipharisäischen Partei bereits die Gruppierung der Sadduzäer sehen kann, lässt sich nicht beweisen.
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Auch der Talmud erwähnt mehrfach, dass Alexander Jannaios fast alle „Rabbinen“ habe töten lassen (so Qid 66a; Ber 48a u.ö.); vgl. Stemberger, Pharisäer, 102. Vgl. VanderKam/Flint, Meaning, 276–280; ebenso VanderKam, Pharisees, 225–236. Siehe auch Tiwald, Hebräer, 375–377, und Stökl Ben Ezra, Qumran, 267f. Vgl. dazu Maier, Nachumpescher 244f.; ebenso Stemberger, Pharisäer, 228–233; Schäfer, Geschichte, 91; Kollmann, Einführung, 56. Auch Müller, Wissenschaft, 56f., interpretiert in diesem Sinne und weist zu Recht darauf hin, dass im Nachum-Pescher die Sympathien bei Alexander Jannaios liegen und nicht bei den Pharisäern, die ja als „Ausleger von glatten Dingen“ diffamiert werden. Ebenso Stökl Ben Ezra, Qumran, 266f.
74
II. Geschichte des Frühjudentums
4.2.5 Aristobulos II. – ein Bruderzwist im Hause Hasmon
Als Salome Alexandra 67 v. Chr. starb, brach – wie zu erwarten – der Bruderzwist zwischen Aristobulos und Hyrkanos offen aus. Die oft vertretene Behauptung, dass Aristobulos dabei die Partei der Sadduzäer und Hyrkanos die Gruppe der Pharisäer vertreten habe, lässt sich nicht beweisen.29 Im Bruderkrieg konnte sich Aristobulos II. (67–63 v. Chr.) durchsetzen, der Hyrkanos bei Jericho vernichtend schlug. Dieser musste auf die hohepriesterliche Würde verzichten, die nun Aristobulos übernahm. Da aber schaltete sich der Idumäer Antipatros, der Vater des späteren Königs Herodes, in den Zwist ein und überredete Hyrkanos, sich an den Nabatäerkönig Aretas III. mit der Bitte um Unterstützung zu wenden. Dieser zog auch tatsächlich gegen Aristobulos, den er besiegte und in Jerusalem einschloss. Bei diesen Kampfhandlungen fand Choni der Kreiszieher, der durch ein Regenwunder berühmt geworden war (A.J. 14,22–24; vgl. mTaan 3,8 und bTaan 23a), durch Gefolgsleute von Hyrkanos den Tod. Der Bruderzwist rief schließlich die Römer auf den Plan, die sich schon seit dem Sieg über den armenischen König Tigranes (69 v. Chr.) in der Region festgesetzt hatten. Geschickt nutzte C. Pompeius die Situation für sich aus, indem er die beiden Brüder gegeneinander ausspielte. Im Jahr 64 v. Chr. beseitigte er die Reste des Seleukidenreichs. Nun warben gleich drei jüdische Gesandtschaften um seine Gunst, neben Aristobulos und Hyrkanos auch Abgesandte des Volkes: A.J. 14,41: Hier hörte er auch die Juden und deren Häupter an, die im Streit lagen. Es waren nämlich nicht bloß Hyrkan und Aristobul untereinander entzweit, sondern das Volk wollte von beiden nichts wissen. Die Vertreter desselben behaupteten, in ihrem Lande bestehe die Einrichtung, dass sie nur den Priestern des bei ihnen verehrten Gottes zu gehorchen brauchten; jene beiden Abkömmlinge der Priester aber suchten dem Volke eine andere Regierungsform aufzudrängen, um sie zu Sklaven zu machen.
Der Vorwurf der Versklavung des Volkes, der in diesem Text begegnet, belegt viel von den Spannungen, die es im damaligen Palästina gab. Hauptfokus der Kritik ist dabei die seit Aristobulos I. eingeführte – und unter Alexander Jannaios ausgebaute – Königsherrschaft. Die Einführung des Königstitels war vor dem Hintergrund alter antimonarchisch-egalitärer Deutemuster (vgl. die „Jotamfabel“, Ri 9,8–15) für das Judentum ein Affront. Die Hasmonäer hatten sich damit endgültig von einer Befreiungsbewegung zu einer auf den eigenen Machterhalt bedachten Herrscherdynastie entwickelt. Ohne Zweifel kostete die Expansionspolitik der Hasmonäer auch einen hohen wirtschaftlichen Preis, den die einfache Bevölkerung zu entrichten hatte. Ohne dieses Ineinander-Verrinnen von sozio-politischen, sozio-religiösen und sozio-ökonomischen Aspekten kann man viele theo29
Vgl. Stemberger, Geschichte, 107: „Auch hier erweist sich eine Reduktion jüdischer Geschichte auf eine Polarität von Pharisäern und Sadduzäern als grobe Vereinfachung.“ Dazu auch Noam, Images, 157–185.
5. Römische Zeit
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logische Entwicklungen des Frühjudentums – und darüber hinaus auch die Entstehung der Jesusbewegung – nicht erklären (s.u. IV). In diesen Zwistigkeiten hatte Pompeius zunächst Sympathien für Aristobulos. Doch als dieser zu eigenmächtig handelte, änderte Pompeius seine Pläne und besetzte 63 v. Chr. Judäa. In Verkennung der Situation kapitulierte Aristobulos nicht, sondern verschanzte sich am Tempelberg in Jerusalem. Selbst als die Tore der heiligen Stadt von den Anhängern Hyrkanos’ geöffnet wurden, leistete Aristobulos in der Tempelfestung noch immer Widerstand. Dies erzürnte die Römer so, dass sie den Tempel nach der Darstellung des Josephus ausgerechnet am Jom Kippur-Tag des Jahres 63 v. Chr. erstürmten und dabei unter den Priestern, die im Tempel Dienst taten, ein Blutbad anrichteten (A.J. 14,66). Pompeius selbst betrat das Heiligtum. Dieser Frevel hat in Psalmen Salomos 2 seinen Niederschlag gefunden.
5.
Römische Zeit
5.1
Politische Rahmenbedingungen
5.1.1
Der Beginn der römischen Herrschaft in Judäa
Nachdem Pompeius Jerusalem eingenommen hatte, bedachte er Hyrkanos II. mit der hohepriesterlichen Würde. Diesem blieb nun aber der Königstitel versagt, allerdings restituierte Pompeius auch nicht die alte Theokratie, sondern verfolgte seine eigenen Ziele, indem er den politischen Status Judas grundlegend änderte. Die bisherigen Eroberungen der Hasmonäer wurden der jüdischen Verwaltung entzogen und direkt Scaurus (63–57 v. Chr.), dem ersten Statthalter der neu errichteten römischen Provinz Syrien, unterstellt. Der verbleibende Reststaat Judäa wurde vom schwachen Hyrkanos, der als Marionette der Römer fungierte, geleitet.30 Damit war Judäa zwar noch nicht in das römische Provinzsystem eingegliedert, aber machtpolitisch am Gängelband der Römer. Offiziell war Hyrkanos nicht dem Statthalter von Syrien unterstellt, doch bezog sich seine Jurisdiktion nur auf innere Angelegenheiten. Judäa wurde mit diesen Entwicklungen gegenüber Rom steuerpflichtig. Ähnlich wie vorher auch schon unter Seleukiden und Ptolemäern, wurden diese Steuern von Steuerpächter-Gesellschaften (societates publicanorum) eingetrieben, die das Recht von den Römern gepachtet hatten. Damit war der kurze Moment in der Geschichte, in dem Judäa unter den Hasmonäern eigene Souveränität besessen hatte, verstrichen und die damit verbundenen Chancen durch das Intrigenspiel rivalisierender innerjüdischer Gruppierungen verspielt. Im Unterschied zur ptolemäischen und seleukidischen Steuerpacht konnten nun aber 30
Vgl. dazu und im Folgenden Eck, Rom, 9f., und Eck, Herodes, 16–30.
76
II. Geschichte des Frühjudentums
nur römische Bürger Steuerpächter (publicani) werden. Anders als zuvor, war die autochthone Aristokratie von den Schaltstellen des Systems ausgeschlossen, was aber nicht hieß, dass diese nicht auch als Kollaborateure und Gefolgsleute des römischen Systems an der Steuereintreibung beteiligt werden konnte. Das System war aus jüdischer Perspektive noch unbefriedigender geworden. 5.1.2
Der römische Bürgerkrieg
Pompeius, Caesar und Crassus gründeten als die drei mächtigsten Männer Roms 60 v. Chr. ein Triumvirat, das später als „Erstes Triumvirat“ in die Geschichte eingehen sollte. Nachdem Crassus 55 v. Chr. die Provinz Syrien erhalten hatte, raubte er den Tempelschatz in Jerusalem und begann einen Kriegszug gegen die Parther, in dem er 53 v. Chr. sein Leben verlor. Nun standen sich Pompeius und Caesar als Rivalen gegenüber. Als 49 v. Chr. Caesar den Rubikon überschritt, ohne seine Truppen an diesem Grenzfluss zwischen der römischen Provinz Gallia cisalpina und dem römischen Kernland aufzulösen, war dies eine Kriegserklärung an den römischen Senat. Pompeius, von der Initiative Caesars überrascht, flüchtete nach Griechenland, wo ihm Caesar in der Schlacht von Pharsalos am 9. August 48 v. Chr. eine vernichtende Niederlage zufügte. Pompeius floh weiter nach Ägypten, dort herrschte der erst dreizehnjährige Ptolemaios XIII., dem Pompeius gegen seine Schwester Kleopatra VII. zum Thron verholfen hatte. Dennoch ließen die Berater des Ptolemaios Pompeius ermorden. Der starke Mann war nun Julius Caesar.
5.2
Das herodianische Zeitalter
5.2.1
Hyrkanos II. (63–40 v. Chr.)
Nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius war Hyrkanos statt seines Bruders mit der Würde des Hohepriesteramtes bekleidet worden und durfte sich mit Gunst der Römer als „Ethnarch“ bezeichnen. Dennoch war diese schwache Gestalt nicht fähig, seinem Land einen gewissen Frieden zu sichern. Wiederholt empörten sich Aristobulos und seine beiden Söhne, die aus römischer Gefangenschaft fliehen konnten. Zu diesen innerjüdischen Streitigkeiten gesellten sich nun auch die innerrömischen Machtkämpfe zwischen den Parteigängern des Pompeius und jenen Caesars. 5.2.2
Antipatros
Der schwache Hyrkanos lehnte sich in diesen unsicheren Zeiten immer stärker an den Idumäer Antipatros an, der mit einer Nabatäerin verheiratet war und gute Beziehungen zum nabatäischen König Aretas III. hatte. Antipatros (nach A.J. 14,10
5. Römische Zeit
77
auch Antipas genannt oder latinisiert Antipater) war stratēgos (militärischer Befehlshaber) von Idumäa, dem unter Johannes Hyrkanos eroberten und zwangsjudaisierten Gebiet südlich von Jerusalem. Nach dem Tod des Pompeius (48 v. Chr.) buhlten nun auch Hyrkanos und sein Verbündeter Antipatros um die Gunst Caesars. Dieser hatte nach der Ermordung des Pompeius wider Erwarten keinen leichten Stand in Ägypten, da er sich etwas zu großspurig verhalten hatte und obendrein zugunsten der entmachteten Kleopatra gegen Ptolemaios XIII. in die Thronstreitigkeiten eingriff (die oft beschworene liaison amoureuse zwischen Caesar und Kleopatra mag dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben). Caesar wurde jedenfalls von den Truppen Ptolemaios’ in Alexandria eingeschlossen und kam in Bedrängnis. Aus dieser Situation rettete ihn Antipatros, der mit dreitausend jüdischen Soldaten in den Krieg eingriff und die Entscheidung zugunsten Caesars herbeiführte. Ptolemaios XIII. fiel im Kampf, Kleopatra wurde die Regierungsvollmacht als von Rom abhängiger Königin übertragen. Den Juden aber dankte Caesar seine Errettung und räumte ihnen eine Reihe von Privilegien ein, darunter das Recht auf freie Religionsausübung oder die Befreiung vom Militärdienst. Diese von Philon und Josephus erwähnten Privilegien meinten aber nicht – wie häufig behauptet –, dass Caesar dem Judentum den Status einer religio licita zugebilligt hätte. Es handelt sich vielmehr um ad hoc gewährte Privilegien, die jederzeit widerrufen werden konnten (s.u. III.7.5). Antipatros wurde von Caesar zum Prokurator Judäas eingesetzt, Hyrkan blieb weiterhin Hohepriester und Ethnarch – letzteres in diesem Fall ein titulus sine re, da Antipatros die militärische Verfügungsgewalt innehatte. 5.2.3
Die Söhne des Antipatros: Phasael und Herodes
Antipatros hievte seine beiden Söhne, Phasael und Herodes, in wichtige Positionen. Phasael wurde zum stratēgos von Jerusalem, Herodes zum stratēgos von Galiläa. Herodes aber stieg in der Gunst der Römer immer weiter auf und wurde bald auch mit der Militärgewalt über Koilesyrien und Samaria betraut. Als sich Caesar 44 v. Chr. zum Diktator auf Lebenszeit erheben ließ, bedeutete dies einen mit der alten Staatsidee unvereinbaren Anschlag auf die römische Republik. Der sich nicht nur bei alten Pompeianern formierende Widerstand führte zur Verschwörung und Ermordung Caesars. Dies allerdings traf nicht die Zustimmung der breiten Massen, da Caesar großzügiger gegenüber dem einfachen Volk agiert hatte als die alteingesessenen Oligarchen. Gegen die Attentäter bildeten Marcus Antonius, Gaius Octavius (auch Octavianus, der spätere Kaiser Augustus) und Lepidus 43 v. Chr. das „Zweite Triumvirat“. C. Cassius, einer der Caesarmörder, war nach Syrien geflohen und versuchte sich dort eine Machtbasis aufzubauen. Antipatros war inzwischen im Jahre 43 v. Chr. einer Verschwörung zum Opfer gefallen und ermordet worden – man sieht, wie stark der innerjüdische Widerstand gegen den
78
II. Geschichte des Frühjudentums
idumäischen Parvenü war. Herodes und Phasael wurden nun zu willigen Vollzugsgehilfen des Cassius, der sie anwies, enorme Summen aus dem von ihnen verwalteten Land zu pressen. Doch auch diese Maßnahmen nützten nichts: Die Caesarmörder Cassius und Brutus wurden von Antonius und Octavianus 42 v. Chr. vernichtend geschlagen; Herodes und Phasael wussten ihr Pferd im Sprung zu wenden und setzten nun auf die neuen Machthaber. Interessanterweise hatten sie damit auch Erfolg, beide wurden zu Tetrarchen eingesetzt, während Hyrkanos II. noch immer nominell Ethnarch und Hohepriester blieb. 5.2.4
Mattathias Antigonos, letzter Hasmonäerkönig (40–37 v. Chr.)
Als im Jahre 40 v. Chr. die Parther, die ständigen Gegner Roms an der Ostgrenze des Reiches, in den Vorderen Orient einfielen und die ganze Region überrannten, bedeutete das für die alte hasmonäische Widerstandsbewegung die Möglichkeit, noch einmal an die Macht zu kommen. Gegen Zahlung eines enormen Tributs wurde Antigonos, der zweite Sohn des Aristobulos II., durch die Parther auf den Thron gehievt und nahm den Königstitel an. Hyrkanos und Phasael wurden gefangen genommen, Herodes gelang die Flucht nach Rom. Antigonos ließ Hyrkanos die Ohren abschneiden, um ihn damit als Hohepriester untauglich zu machen, Verstümmelte sind nach Lev 21,18 körperlich Versehrte und nicht zum Priesterdienst zugelassen. Phasael kam seiner Hinrichtung zuvor und nahm sich das Leben. Herodes hatte vor seiner Flucht nach Rom vergeblich gehofft, der Nabatäerkönig würde ihm zu Hilfe eilen. Ein Angebot von Kleopatra auf einen hohen Posten im ptolemäischen Heer schlug er aus und setzte alles auf eine Karte. Trotz eines Schiffsbruchs vor Kleinasien kam er nach Rom, wo er sowohl Antonius wie auch Octavianus überzeugen konnte, der richtige Mann im Kampf gegen die Parther zu sein. In einer Senatssitzung des Jahres 40 v. Chr. wurde er feierlich zum König von Judäa ernannt. 5.2.5
Herrschaftsantritt von Herodes
Herodes31 war nun zwar zum König von Judäa ernannt, sein Königreich musste er sich allerdings erst erobern. Die jüdische Bevölkerung stand nämlich auf Seiten des Antigonos, während die Anhänger des Herodes eher in der fremdstämmigen Bevölkerung Samariens und Idumäas bestanden. Die Gründe für die Ablehnung des Herodes fasst Flavius Josephus in A.J. 14,403f. im Munde des Antigonos so zusammen: 403 Antigonus dagegen ließ Silo und der römischen Heeresabteilung zurufen, sie würden ihre eigene Gerechtigkeitsliebe verleugnen, wenn sie das Reich des Herodes kommen ließen, der ein Privatmann und als Idumäer nur ein halber Jude sei, während die 31
Zu Herodes d. Gr. Im Folgenden auch Zangenberg, König, 8–15.
5. Römische Zeit
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Herrschaft nach den Bräuchen des Landes nur den Mitgliedern der königlichen Familie zukomme. 404 Wenn sie ihm auch jetzt zürnten und ihm die Herrschaft abnehmen wollten, weil er selbe von den Parthern erhalten, so wären doch noch Männer genug aus seinem Geschlechte da, die nur mit schreiendem Unrecht übergangen werden könnten, indem sie sich nicht nur niemals gegen die Römer verfehlt hätten, sondern auch dem Priesterstande angehörten.
Herodes wird hier nur als ἰδιώτης (idiōtēs), also als „Privatmann“ vor Augen geführt, als ein Parvenü, der aus keiner königlichen Dynastie stammt. Zusätzlich wird neben dem Defizit der nicht dynastisch erworbenen Königswürde – diese fiel Herodes ja nur durch die Gunst der Römer zu – auch bemängelt, dass Herodes nicht aus priesterlicher Familie stammt (die Hasmonäer regierten das Land ja zumeist in der Doppelfunktion von weltlichem Herrscher und Hohepriester zugleich). Zwar stand auch den Hasmonäern dieses Amt ursprünglich nicht zu, da diese ja nicht aus dem Geschlechte Zadoq stammten, doch hatte seit dem Makkabäer Jonatan (also seit ca. 120 Jahren) diese Dynastie auch zugleich das Hohepriesteramt innegehabt. Obendrein verweist Antigonos auch noch darauf, dass Herodes als Idumäer ja eigentlich nur „Halbjude“ (ἡμιιουδαῖος, hēmiioudaios)32 ist. Die Idumäer, ein Volk im Süden von Judäa, waren ja erst von Johannes Hyrkanos zwangsjudaisiert worden (A.J. 13,257f.). Wenn Dtn 17,15 fordert: „Nur aus der Mitte deiner Brüder darfst du einen König über dich einsetzen. Einen Ausländer darfst du nicht über dich einsetzen, weil er nicht dein Bruder ist“, so war Herodes als König für fromme Juden nicht tragbar. Daran änderte auch die von Nikolaos von Damaskus geschriebene Universalgeschichte nichts, in der Herodes angedichtet wurde, sein Vater Antipatros stamme von den ersten Juden ab, die aus dem babylonischen Exil nach Judäa zurückgekehrt waren – schließlich stand Nikolaos in Brot und Sold bei Herodes. Wie sehr Herodes unter diesem Ungenügen litt, zeigt sich auch daran, dass er nach der Eroberung Galiläas doch noch vor der Einnahme Jerusalems mit Mariamme eine Enkelin von Johannes Hyrkanos ehelichte und somit zumindest in die hasmonäische Dynastie einheiratete. Herodes begann mit der Eroberung seines zukünftigen Herrschaftsgebiets im Norden, in Galiläa. Dort hatte sich der Widerstand etlicher „Räuberbanden“ formiert, besonders ein gewisser Ezekias war hier federführend (A.J. 17,271). Wahrscheinlich ist mit dem hier verwendeten Ausdruck λῃστής (lēstēs) eine Mischung aus Räuber und Widerstandkämpfer, ein „Sozialbandit“ (s.u. III.5.3) gemeint. Nach der Unterwerfung Galiläas kam es bei Bet-El zur Entscheidungsschlacht zwischen Herodes und Antigonos, die Herodes zu seinen Gunsten entschied. Antigonos musste sich in Jerusalem verschanzen. Herodes konnte die Stadt 37 v. Chr. einnehmen, Antigonos wurde auf Wunsch des Herodes von den Römern hingerichtet. Damit hatte
32
Hier begegnet dieser später so verhängnisvolle Begriff zum ersten Mal in der Geschichte (vgl. Schäfer, Geschichte, 104).
80
II. Geschichte des Frühjudentums
Herodes endgültig die Macht übernommen und regierte bis zu seinem Tod 4 v. Chr. 5.2.6
Herodes’ Stabilisierung der Macht nach außen
Bei seinem Herrschaftsantritt war Marcus Antonius der unumschränkte Herrscher im Osten des römischen Reiches. Im Vertrag von Brundisium hatte er mit Octavianus alle Streitigkeiten beigelegt und die Herrschaft aufgeteilt, Antonius war der Osten, Octavianus der Westen zugefallen. Geschickt verstand es Kleopatra nun, nach J. Caesar auch M. Antonius in eine Liebesbeziehung zu verstricken und damit ihre eigene Macht auszubauen. Kleopatra strebte eine Wiederherstellung des ptolemäischen Großreiches an, dem auch Judäa einverleibt werden sollte. Die Spannungen zwischen Octavianus und Antonius flammten allerdings bald wieder auf, nicht zuletzt, weil Antonius aufgrund seiner Liaison mit Kleopatra Octavia, die Schwester des Octavianus, als Ehefrau verstoßen hatte. Dies gipfelte letztlich in der Seeschlacht bei Aktion (lat. Actium), in der Antonius 31 v. Chr. geschlagen wurde. Antonius und Kleopatra gelang zwar die Flucht nach Alexandria, aber nachdem dieses im Jahr darauf von Octavianus eingenommen wurde, begingen Antonius und Kleopatra Selbstmord. Octavianus war zum Alleinherrscher des Reiches geworden. Unmittelbar nach der Schlacht bei Actium wechselte Herodes die Seiten und begab sich in das Lager des Octavianus nach Griechenland. Den über achtzigjährigen Hyrkanos II. ließ Herodes vorher noch hinrichten, um möglichen Aufständen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Octavianus’ Politik war es ohnehin, die meisten Klientelkönige im Amt zu belassen, wenn sie ihm nur die Treue gelobten – was Herodes auch tat. Gestärkt in seiner Herrschaft und ohne den außenpolitischen Druck, den die ambitionierte Kleopatra auf Palästina ausgeübt hatte, kehrte er nach Jerusalem zurück. 5.2.7
Herodes’ Stabilisierung der Macht nach innen
Herodes hatte durch seine Heirat mit Mariamme in Kauf genommen, dass die verbliebenen Mitglieder des hasmonäischen Hauses mit seiner Gemahlin am Königshof Einzug hielten. Dies führte zu einer spannungsreichen Gemengelage und befeuerte das Misstrauen des Herodes, der in Folge etliche Mitglieder seiner eigenen Familie hinrichten ließ. Verschärfend kam hinzu, dass Herodes aus den oben genannten Gründen das Amt des Hohepriesters nicht selbst übernehmen konnte, was für ihn die Gefahr der Aufteilung der Macht mit sich brachte. Somit ernannte er zunächst nur einen gewissen Chanael aus unbekannter Priesterfamilie zum Hohepriester und überging damit bewusst die Rechte des Hasmonäers Aristobulos, des jüngeren Bruders seiner Frau Mariamme. Alexandra, die Mutter von Aristobulos und Mariamme wollte dies nicht hinnehmen und setzte Herodes unter Druck, sodass nun doch Aristobulos III. zum Hohepriester ernannt wurde. Nachdem aber
5. Römische Zeit
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das Volk in allzu offensichtlicher Weise am Laubhüttenfest (wohl 36 oder 35 v. Chr.) Sympathien für Aristobulos zum Ausdruck brachte, ließ Herodes diesen im Schwimmbad ertränken. Die Amtsgewänder des Hohepriesters nahm Herodes daraufhin in seinen Gewahrsam und annullierte Lebenslänglichkeit und Erblichkeit des Amtes. Den Brauch, die Verfügungsgewalt über die hohepriesterlichen Gewänder nicht dem Hohepriester selbst zu überlassen, übernahmen später die Römer von Herodes. Einen traurigen Höhepunkt der Brutalität Herodes’ stellt zweifellos die von ihm angeordnete Ermordung seiner Frau Mariamme dar. Gerade hier blitzen Züge von Wahnsinn in der Persönlichkeitsstruktur des Herrschers auf. Herodes hatte wiederholt angeordnet, dass im Falle seines Todes auch seine Frau ermordet werden solle (A.J. 15,65 und 204), ein zweifelhafter Liebesbeweis dieses krankhaft possessiven und misstrauischen Herrschers. Als nun ein Gerücht – geschürt durch Mutter und Schwester des Herodes – die Runde machte, Mariamme habe mit einem gewissen Soaimos ein Liebesverhältnis und Umsturzpläne gegen Herodes erstellt, ließ Herodes kurzerhand beide hinrichten. Herodes fiel nach der Hinrichtung seiner Gemahlin in Depressionen, ließ ihren Leichnam konservieren und auf Masada bestatten. Er selbst aber stürzte sich in Ausschweifungen. Ein weiteres Opfer von Herodes’ Wüten wurde im Jahr 28 v. Chr. Alexandra, die Mutter seiner ermordeten Frau Mariamme. Als dann seine beiden eigenen Söhne, Alexander und Aristobulos, die Mariamme Herodes geboren hatte, aus Rom, wo sie erzogen wurden, nach Jerusalem zurückkehrten, zogen diese als letzte Hasmonäerprinzen ebenfalls den Argwohn des Königs auf sich. Ab 13 v. Chr. schwelte der Konflikt, beschäftigte 12 v. Chr. sogar Augustus in Rom, und führte 7 v. Chr. zur Hinrichtung der Prinzen. Längere Zeit genoss dann Antipatros, der Sohn der Idumäerin Doris, Herodesʼ Vertrauen, bis auch dieser 4 v. Chr., knapp vor dem Tod des Herodes selbst, mit Billigung des Augustus exekutiert wurde. Angesichts dieser Blutexzesse hat uns der um 400 n. Chr. schreibende Macrobius das launige Wort des Augustus überliefert, es sei besser, des Herodes Schwein (ὗς, hys) zu sein als dessen Sohn (υἱός, hyios).33 Herodes war also jede Bluttat zuzutrauen, die zum Erhalt seiner Königswürde diente. Die nicht historische Erzählung vom betlehemitischen Kindermord (Mt 2,16–18)34 wurde von damaligen Lesern wohl kaum als zu phantasievoll bewertet. Schließlich hatte Herodes vor seinem Tod befohlen, die angesehensten Männer im Hippodrom von Jericho einzuschließen und im Moment seines Todes hinzumetzeln, damit sein Tod in angemessener Weise betrauert würde (A.J. 17,178) – ein Befehl, der durch Salome, die Schwester des Herodes, letztlich vereitelt wurde (A.J. 17,193). 33
34
Saturn II 4,11. Vgl. Kollmann, Einführung, 80. Ob Macrobius hier auf eine verlässliche Quelle zurückgreifen kann? Immerhin, se non vero, ben trovato! Die Erzählung findet sich nur bei Matthäus, die anderen Evangelien oder auch Josephus wissen davon nichts. Hier wird Jesus in der für Matthäus typischen Weise als neuer Mose gezeichnet, der ebenso wie Mose durch Gottes Fügung einen Kindermord überlebt.
82
II. Geschichte des Frühjudentums
5.2.8
Herodes’ Bautätigkeit
So grausam sich die innenpolitischen Kabalen zur Zeit des Herodes auch ausnehmen mögen, wirtschaftlich war die Zeit des Herrschers eine Periode der Ruhe und Prosperität. Die rege Bautätigkeit des Herodes setzte viele seiner Untertanen in Brot und Sold. Die alten Hasmonäerburgen Hyrkania, Alexandreion, Machairos und Masada ließ Herodes zu prunkvollen Palästen ausbauen.35 Damit verfügte er nicht nur über staunenswerte Paläste, sondern auch über eine Reihe von Fluchtburgen, die den Verfolgungswahn des Herrschers vor Augen führen. Südlich von Jerusalem errichtete er das Herodeion als Prunkschloss und Mausoleum,36 in Jericho Palast- und Gartenanlagen. Die alte phönizische Siedlung Stratonsturm baute er zur Hafenstadt Caesarea Maritima37 aus, die für Seereisende zur Eingangspforte und Visitenkarte seines Reiches wurde und Palästina an den Fernhandel anband. Das imposante Aquädukt, das die Stadt mit Wasser versorgte, ist noch heute zu bewundern. Das von Johannes Hyrkanos zerstörte Samaria wurde als hellenistische Stadt neu erbaut und zu Ehren des Augustus in Sebaste (der griechischen Form für Augusta) umbenannt. In Jerusalem errichtete Herodes ein Theater, ein Amphitheater und ein Hippodrom. Das Westtor von Jerusalem (heute Jaffator) ließ er mit drei massiven Verteidigungstürmen (genannt Hippikos, Phasael und Mariamme) besonders befestigen. Heute sind die Reste davon in der sogenannten Zitadelle zu bestaunen und Teil des David’s Tower.38 Gleich südlich angrenzend an diese Befestigung errichtete er seinen eigenen Palast. All diese Bauten wurden aber durch den Neubau des Tempels in den Schatten gestellt. Nachdem der salomonische Tempel 586 v. Chr. durch die Babylonier zerstört worden war, kam es nach dem Exil 515 v. Chr. unter Serubbabel zur Neueinweihung des Zweiten Tempels. Dieser allerdings war eher schlicht gebaut und wurde erst langsam von den Hasmonäern prachtvoller ausgestattet. Als Herodes 20 v. Chr. mit den Baumaßnahmen zu einer völligen Neugestaltung begann, stellte er sich damit in die Tradition Salomos – und löschte nebenher auch die sichtbaren Hinweise auf die hasmonäische Präsenz am Tempel aus. Dabei weitete Herodes das Tempelareal fast auf das Doppelte des Vorgängerbaus aus und schuf damit eine Kultanlange, die mit den größten vergleichbaren Kultstätten der Antike konkurrieren konnte. Im Zuge der Vergrößerung entstand mit dem Vorhof der Heiden ein Gelände, das 35
36
37 38
Zu den von Herodes ausgebauten Hasmonäerburgen: Vörös, Machärus, 83f.: „… Teil eines feinmaschigen Netzwerks zur Verteidigung Jerusalems war, das vor Angriffen aus dem Osten, vor allem durch die mit den Hasmonäern in Konkurrenz stehenden arabischen Nabatäer, schützen sollte.“ Vgl. dazu Netzer, Art. Herodium, 1778–1780, und ders., Architecture. Anders als Netzer stellen allerdings Patrich/Arubas, Revisiting, 299–315, die Lokalisierung des Grabes durch Netzer in Frage. Zur Diskussion Magness, Herod, 258–287. Zu Caesarea Maritima vgl. Patrich, Caesarea, 70–79. Vgl. Geva, Art. Jerusalem, 727.
5. Römische Zeit
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als äußerer Bezirk die ganze Anlage umgab und auch als Markt für Opfertiere und Standort der Geldwechsler dienen konnte (vgl. Mk 11,15–17). Für die Entrichtung der Tempelsteuer wurden nur tyrische Schekel akzeptiert. Obwohl diese Münze auf der Vorderseite den heidnischen Stadtgott von Tyros, Melkart, zeigte, wurde das Geldstück aufgrund seines hohen Silbergehalts (etwa 95 Prozent) und der damit verbundenen Wertbeständigkeit zur offiziellen Tempelwährung.39 Durch das Fehlen einer eigenen Agora wurde der Vorhof der Heiden für ganz Jerusalem zum Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Grundsätzlich hielt sich Herodes bei der Neuerrichtung des Tempels an das Bilderverbot, wie er dies auch bei seinen anderen Bauten und seinen Münzprägungen tat. Dennoch ließ er gegen Ende seines Lebens über einem Tor der Tempelanlage einen goldenen Adler anbringen. Zwei Pharisäer, Judas und Matthias, forderten nun ihre Schüler auf, den Adler herunterzureißen und zu zerstören (Josephus A.J. 17,149–155), was zu einer heftigen Reaktion des Herodes führte. In der Nordwestecke des Tempelareals hatte Herodes noch zu Zeiten des Marcus Antonius eine Festung errichten lassen, von der aus der ganze Tempelberg kontrolliert werden konnte. Zu Ehren des Antonius hatte er diese Festung mit dem Namen Antonia bedacht. In späterer Zeit war dort unter den römischen Präfekten stets eine Kohorte römischer Soldaten stationiert. 5.2.9
Die sozialen Verhältnisse zur Zeit des Herodes
Einerseits stifteten die regen Baumaßnahmen des Herodes für die zahlreichen Handwerker einen bescheidenen Wohlstand, andererseits mussten diese Gelder über Steuern von der Bevölkerung eingenommen werden. Ungünstige Steuerlastverteilung, Landfluchterscheinungen, die teils durch die Städtegründungen bewirkt, teils Folge der Einrichtung großer Landgüter (nicht zuletzt im königlichen Besitz) waren, ließen gewisse Teile der Bevölkerung weiter verarmen, während andere davon profitierten.40 Es war wohl weniger sozialer Sinn, sondern politisches Kalkül, wenn Herodes in Zeiten der Not aus königlicher Kasse den Armen half (etwa 25 v. Chr. in einer Hungersnot) oder 20 und 14 v. Chr. die Steuern verringern ließ. Nach A.J. 15,382f. spricht Herodes sogar: 382 „Ich halte es, liebe Volksgenossen, für unnötig, von den Werken zu euch zu reden, die ich seit dem Antritt meiner Regierung ausgeführt habe; obgleich sie alle der Art sind, dass sie mehr euch zur Sicherheit, als mir selbst zum Ruhme gereichen, 383 denn auch unter den schwierigsten Umständen habe ich nichts unterlassen, das euch in euren Nöten Beistand gewähren konnte, und bei Ausführung meiner Bauwerke habe ich
39
40
Vgl. Kollmann, Einführung, 76; Ebner, Stadt, 115: „Diese heidnischen Symbole wurden offensichtlich nur deswegen hingenommen, weil der tyrische Schekel wegen seiner erstaunlichen Wertbeständigkeit so etwas wie der ‚Dollar der Antike‘ war.“ Zu den Münzen, die im Neuen Testament erwähnt werden, vgl. Reiser, Numismatik, 457–488. Vgl. Maier, Geschichte, 70.
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II. Geschichte des Frühjudentums nicht so sehr mich als euch vor aller Gefahr sicher zu stellen gesucht. Daher kann ich mir mit der Hoffnung schmeicheln, dass ich nach dem Willen Gottes das jüdische Volk zu einer Stufe von Glück und Wohlstand erhoben habe, die es früher noch nie eingenommen hat.
All diese Segnungen dürften allerdings nur einen Teil der Bevölkerung getroffen haben. Gerade die Landbevölkerung verarmte immer mehr. Beim Tod des Herodes brachen in den ruralen Teilen Galiläas Aufstände aus, die von „radikal sozial-messianischen Gruppen“ getragen waren und starken Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung hatten (s.u. IV.1–2).41 Diese Gemengelage war der Mutterboden, in dem die Jesusbewegung ihren Ursprung fand. 5.2.10
Herodes’ Frauen, Söhne und Erben
Herodes hatte insgesamt zehn Frauen und mit diesen zahlreiche Söhne (s. Anhang): Die erste Frau Doris war Idumäerin, ihr Sohn Antipatros wurde 4 v. Chr. von Herodes exekutiert. Die zweite Frau Mariamme war die Enkelin von Johannes Hyrkanos, sie ließ Herodes 29 v. Chr. hinrichten. Ihre beiden Söhne Alexander und Aristobulos wurden 7 v. Chr. von Herodes exekutiert. Die dritte Frau Mariamme (namensgleich mit der zweiten Frau) war eine Tochter eines Priesters aus Alexandria, den Herodes zum Hohepriester machte. Ihr Sohn war Herodes Boethos. Die vierte Frau Malthake war eine Samaritanerin. Ihre Söhne waren Archelaos und Herodes Antipas, beide folgten Herodes als Thronerben nach. Die fünfte Frau Kleopatra stammte aus Jerusalem. Auch ihr Sohn Philippos wurde einer der Thronerben Herodes’. Ursprünglich wollte Herodes seine beiden Söhne Alexander und Aristobulos, die ihm die Hasmonäerin Mariamme geboren hatte, als Thronerben aufbauen. 18 oder 17 v. Chr. ließ er sie von Rom, wo sie ausgebildet wurden, nach Jerusalem holen, um sie auf die Thronnachfolge vorzubereiten. Doch Herodes’ Schwester Salome schürte die hasmonäisch-idumäische Rivalität und ließ Herodes glauben, dass seine Söhne den Tod der Mutter rächen würden. Nach längeren Wirren und einem gescheiterten Vermittlungsversuch durch Augustus ließ Herodes beide 7 v. Chr. hinrichten. Nun positionierte Herodes Antipatros, den Sohn seiner ersten Frau Doris als Thronerben, doch dieser konspirierte gegen den Vater. Herodes ließ Antipatros daraufhin gefangensetzen. Als er selbst im Sterben lag, gab er fünf Tage vor seinem Tod die Order, ihn zu exekutieren (4 v. Chr.). In seinem letzten Testament hatte Herodes verfügt, dass sein Sohn Archelaos den Königstitel erben und dessen jüngerer Bruder Herodes Antipas Tetrarch von Galiläa und Peräa werden sollte. Philippos hingegen war als Tetrarch von Gaulanitis, Trachonitis, Batanäa und Paneas vorgesehen. Als Herodes schließlich knapp vor dem Paschafest 4 v. Chr. starb, brach nach seiner Beisetzung im Herodeion unter den Brüdern der 41
So Schäfer, Geschichte, 121f. Anders Kollmann, Einführung, 82: „Herodes bescherte dem Land Frieden und Wohlstand, wie es ihn seit den Tagen Salomos nicht mehr erlebt hatte.“
5. Römische Zeit
85
Streit um das Erbe los, während das ganze Land von Aufständen erschüttert wurde. Diese Periode der Unruhen zog sich letztlich hin bis zum 1. Jüdischen Krieg.
5.3
Die Zeit nach Herodes
5.3.1
Die Nachfolge des Herodes
Archelaos war von Herodes als Nachfolger in der Königswürde bestellt worden. Daher reiste er nach dem Tod des Vaters nach Rom, um sich diesen Titel von Augustus bestätigen zu lassen. Doch eine jüdische Gesandtschaft votierte dafür, lieber der Provinz Syrien eingegliedert zu werden und unter römischer Herrschaft nach den jüdischen Gesetzen leben zu können.42 Die Legation der Juden erklärt sich daraus, dass Archelaos brutal gegen einen von Pharisäern getragenen Aufstand am Paschafest vorgegangen war. Auslöser des Aufstands war die Weigerung Archelaos’, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, die nach der Zerstörung des goldenen Adlers am Tempeltor die Hinrichtung des Judas und Matthias betrieben hatten (s.o. II.5.2.8). Bald nach Archelaos traf auch sein Halbbruder Philippos in Rom ein und kurz danach sprach auch Herodes Antipas beim Kaiser vor und reklamierte das ganze Erbe für sich allein. Verschärft wurde diese Situation durch die heftigen Aufstände, die in Palästina ausbrachen. In Galiläa wurden diese Aufstände durch einen gewissen Judas angefacht. Er war der Sohn jenes Aufständischen Ezekias, den Herodes d. Gr. hatte hinrichten lassen (s.o. II.5.2.5; A.J. 17,271f.). Schließlich entschied Augustus, das Testament des Herodes grosso modo umzusetzen, wenngleich auch der Königstitel an keinen der Söhne mehr verliehen wurde: Archelaos durfte den Titel „Ethnarch“ tragen und erhielt Judäa, Samaria und Idumäa. Herodes Antipas erhielt den Titel „Tetrarch“43 und die Gebiete Galiläa und Peräa – so wurde er zum Landesherrn Jesu. Philippos wurden die Gebiete Batanäa, Trachonitis, Auranitis und Gaulanitis zugesprochen; auch er durfte sich „Tetrarch“ nennen. 5.3.2
Archelaos (4 v. Chr.–6 n. Chr.)
Archelaos war von Augustus in Aussicht gestellt worden, durch eine umsichtige Regierung den Königstitel erringen zu können. Davon allerdings konnte keine 42
43
Vgl. Kollmann, Einführung, 83. Vermutlich spielt das Gleichnis von den anvertrauten Minen in Lk 19,12–15 beiläufig auf diesen Sachverhalt an. Der Titel „Tetrarch“ meint einen „Kleinfürsten“ (wörtlich: „Viertel-Herrscher“, also Herrscher eines Teilgebietes), während der Titel „Ethnarch“ („Völker-Herrscher“, also etwa „Großfürst“) den wesentlich höheren Rang darstellte. Allerdings rangierte auch der „Ethnarch“ unter dem Königstitel.
86
II. Geschichte des Frühjudentums
Rede sein; er muss als der unfähigste und brutalste aller Herodessöhne gelten (diese Reputation spiegelt auch Mt 2,22 wider). Schon 6 n. Chr. begab sich eine Delegation jüdischer und samaritanischer Aristokraten nach Rom, um seine Absetzung zu betreiben (vgl. Lk 19,14). Die Delegation hatte Erfolg, Archelaos wurde nach Vienna in Gallien (heute Vienne südl. von Lyon) verbannt. Was genau die Gründe für die Absetzung waren, wissen wir nicht. Allerdings müssen es gravierende Anschuldigungen gewesen sein, sonst hätte Augustus nicht so gehandelt. Sein Gebiet wurde der direkten Herrschaft der Römer unterstellt. 5.3.3
Philippos (4 v. Chr.–33/34 n. Chr.)
Das Territorium des Philippos lag nicht im jüdischen Kerngebiet, sondern war von Syrern und Griechen dominiert. Dadurch blieben Philippos wohl auch viele der sozio-religiösen Spannungen erspart, seine Regierungszeit verlief größtenteils harmonisch. Unter seiner Herrschaft wurden die Städte Paneas als Caesarea Philippi und Betsaida als Julias (zu Ehren der Tochter des Augustus) massiv ausgebaut. Nach Mk 8,27–30 sind die Dörfer um Caesarea Philippi (εἰς τὰς κώμας Καισαρείας τῆς Φιλίππου) der Ort des Petrusbekenntnisses. Betsaida hingegen war nach Joh 1,44 der Heimatort der Jesusjünger Petrus, Andreas und Philippus (anders aber Mk 1,29: Kafarnaum), nach Mk 8,22–26 heilte Jesus dort auch einen Blinden. Tatsächlich hat man in Betsaida Scherben von Steingefäßen gefunden. Da diese nach jüdischer Halacha nicht kultisch unrein werden können, gelten solche Funde für die Zeit des Zweiten Tempels als „jüdische Leitfossilien“.44 Nach dem Tod des Tetrarchen wurde das Gebiet der römischen Provinz Syrien zugeschlagen, kam aber 37 n. Chr. wieder unter die Herrschaft eines Herodianers, nämlich Agrippa, den Sohn des 7 v. Chr. hingerichteten Aristobulos. 5.3.4
Herodes Antipas (4 v. Chr.–39 n. Chr.)
Herodes Antipas war wohl die markanteste Gestalt unter den Herodessöhnen, nicht nur wegen seiner langen Herrschaft, sondern auch, weil er die typischen Wesenszüge seines Vaters geerbt hatte (schlau, ambitiös, prunksüchtig); in Lk 13,32 wird er als „Fuchs“ bezeichnet. Herausragend ist ähnlich wie bei seinem Vaִ ִ צZippori; ter die Bautätigkeit. Zunächst ließ er die Stadt Sepphoris (hebräisch פּוֹרי griechisch Σέπφωρις, in römischer Zeit Diocaesarea) neu aufbauen und machte sie zum Zentrum seiner Tetrarchie. Die Stadt befindet sich nur fünf Kilometer von Nazaret, dem Heimatort Jesu, entfernt.45 Wenn dieser sich – ähnlich wie Josef nach 44
45
Vgl. zu Betsaida Arav, Art. Bethsaida, 1615. Zu den „jüdischen Leitfossilien“ zählt Zangenberg, Jesus, 27, Ossuare, Miqwaot und Steingefäße. So sieht auch Arav für Betsaida „evidence of a Jewish presence“ in hellenistisch-römischer Zeit (a.a.O. 1615). Vgl. Weiss, Art. Sepphoris I, 1324; Chancey, Milieu, 127–145.
5. Römische Zeit
87
Mk 6,3 (vgl. Mt 13,55) – auch als τέκτων (tektōn, Bauhandwerker) verdingte, so ist anzunehmen, dass er beim Ausbau der Stadt (wohl als ungelernter Hilfsarbeiter) mitarbeitete.46 Von Josephus wird Sepphoris in A.J. 18,27 als πρόσχημα τοῦ Γαλιλαίου παντός, als „Zierde ganz Galiläas“ genannt. 19 n. Chr. allerdings bestimmte Herodes Antipas seine Neugründung Tiberias zur Hauptstadt, benannt zu Ehren Kaisers Tiberius. Tiberias (hebräisch טְ בֶ ְריָה, Tverja) war von Herodes Antipas zwar städtebaulich klug angelegt (pittoresk am Ufer des Sees von Galiläa gelegen und in der Nähe der warmen Quellen von Hammat Tiberias), doch auf einem alten Gräberfeld situiert.47 Dies war ein Schlag ins Gesicht für alle toratreuen Juden, da nach Num 19,16 jede Berührung mit Gräbern kultisch verunreinigt. Demzufolge musste er die Stadt auch zwangsbesiedeln, da niemand dort wohnen wollte, wie A.J. 18,36–38 berichtet: Da Herodes der Tetrarch mit Tiberius sehr befreundet war, erbaute er eine Stadt am See Gennesaret im schönsten Teile von Galiläa, die er Tiberias nannte. … Tiberias war übrigens von zusammengelaufenem Volk (σύγκλυδες δὲ ᾤκισαν) bewohnt, worunter sich auch viele Galiläer und gezwungene Ankömmlinge befanden, die mit Gewalt dort angesiedelt wurden, obwohl sie zum Teil den besseren Ständen angehörten. Auch die Bettler, die im ganzen Lande aufgefangen wurden, sowie viele, von denen es noch nicht einmal feststand, ob sie Freie waren, erhielten hier Wohnungen angewiesen und bekamen mancherlei Vorrechte. Um sie an die Stadt zu fesseln, ließ Herodes ihnen Häuser bauen und Ländereien zuteilen, da es ihm wohlbekannt war, daß ihnen nach jüdischen Vorschriften das Wohnen daselbst nicht gestattet war. Es waren nämlich zwecks Erbauung von Tiberias viele dort befindliche Grabdenkmäler entfernt worden, und unser Gesetz erklärt die Bewohner solcher Orte für unrein auf die Dauer von sieben Tagen (Ü.MT).
Außenpolitisch wurde Herodes Antipas seine Frau Herodias zum Verhängnis. Aus politischem Kalkül hatte er zuvor die Tochter des Nabatäerkönigs Aretas IV.48 geheiratet, um das Reich gegen Osten abzusichern. Dann allerdings verliebte er sich in Herodias, die ehrgeizige und ambitionierte Frau seines Halbbruders Herodes Boethos, der er die Ehe versprach (A.J. 18,109–114). Die Nabatäerprinzessin kam ihrer Verstoßung zuvor und floh zu ihrem Vater. Dies führte 36 n. Chr. zum Krieg, der mit einer Niederlage des Herodes Antipas endete. Doch damit nicht genug: Als
46
47 48
Vgl. Kollmann, Einführung, 94. Wann das Theater von Sepphoris erbaut wurde, ist nach wie vor nicht klar. Während Weiss in früheren Publikationen das frühe erste Jh. n. Chr. als Bauzeit annahm (Weiss, Art. Sepphoris I, 1325, Herodes Antipas), optiert er in rezenteren Untersuchungen für das frühe zweite Jh. n. Chr. (Weiss, Art. Sepphoris II, 2031). Vgl. den Forschungsüberblick bei Frankemölle, Frühjudentum, 90f. und Chancey, Milieu, 135f. Josephus erwähnt das Theater in Sepphoris nicht. Zur Frage, was man sich unter einem τέκτων (tektōn) vorzustellen hat, vgl. Frenschkowski, Artisans, 191–222. Vgl. Hirschfeld, Art. Tiberias, 1464. Dieser Aretas ließ später in Damaskus dem Apostel Paulus nachstellen, wie wir aus 2Kor 11,32 erfahren.
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II. Geschichte des Frühjudentums
Caligula 37 n. Chr. an die Regierung kam, übertrug er Agrippa, dem Sohn des 7 v. Chr. hingerichteten Aristobulos (und somit Bruder der Herodias) die Tetrarchie des Philippos und verlieh ihm obendrein den Königstitel. Die ehrgeizige Herodias stachelte ihren Mann nun an, sich ebenfalls von Caligula den Königstitel zu erbitten (A.J. 18,242–247; B.J. 2,181–183). Das allerdings beschwor die Rivalität Agrippas herauf, der daraufhin gegen Herodes Antipas bei Caligula intervenierte. Dieser setzte Herodes ab und verbannte ihn 39 n. Chr. nach Lugdunum in Gallien (heute Lyon; A.J. 18,250–255; B.J. 2,181–183 spricht von einer Verbannung nach Spanien). Seine Tetrarchie (Galiläa und Peräa) fiel an Agrippa. 5.3.5
Johannes der Täufer
Im Zusammenhang mit Herodias erwähnt das Neue Testament auch die Hinrichtung von Johannes dem Täufer. Nach den Angaben in Lk 3,1 trat der Täufer „im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius“ auf. Leider bleibt diese scheinbar präzise Angabe unklar,49 da Tiberius ab 12 n. Chr. als Mitregent des Augustus fungierte (Suetonius, DeVitCaes/Tiberius 21,1) und die Alleinherrschaft nach dem Tod des Augustus im September 14 n. Chr. antrat. Von den meisten Forschern wird daher das Jahr 28 n. Chr. für das Auftreten des Täufers veranschlagt, wobei jedoch auch das Jahr 26 n. Chr. möglich wäre. Wenn man mit einem mehr als ein Jahr dauernden öffentlichen Wirken Jesu rechnen möchte (s.u. III.10.2.3) und annimmt, dass Jesus eine gewisse Zeit Schüler des Täufers war (s.u. III.10.2.1), liegt wohl das Jahr 26 n. Chr. näher.50 Weiteres zum Täufer s.u. III.10.1. Über den Konflikt zwischen Herodes Antipas und Johannes gibt es unterschiedliche Berichte. Josephus erwähnt in A.J. 18,116–119: 116 Manche aus den Juden erkannten indessen in dem Untergange von Herodesʼ Heer die Fügung des Herrn, der von Herodes für Johannes den Täufer die gerechte Strafe forderte. 117 Diesen hatte Herodes hinrichten lassen, obwohl er ein gerechter Mann war und die Juden anhielt, der Tugend nachzustreben, gegen ihre Nächsten Gerechtigkeit und gegen Gott Frömmigkeit zu üben und so zur Taufe zu kommen; … 118 Da man nun von allen Seiten ihm zuströmte, weil jeder sich durch solche Reden gehoben fühlte, fing Herodes an zu fürchten, der Einfluss eines solchen Mannes, von dessen Rate sich alles leiten ließ, könne einen Aufruhr herbeiführen, und hielt es daher für geratener, ihn vor Ausbruch einer solchen Gefahr unschädlich zu machen ... 119 Auf diesen Verdacht des Herodes hin wurde Johannes in Ketten geworfen, nach der Feste Machärus geschickt, … und dort enthauptet [eigentlich: κτίννυται, hingerichtet]; sein Tod war aber nach der Überzeugung der Juden die Ursache, warum Herodesʼ Heer dem Zorne Gottes zum Opfer gefallen war.
Die empfindliche Niederlage, die Herodes Antipas 36 n. Chr. gegen den Nabatäerkönig Aretas IV. erlitten hatte, wurde vom Volk als Strafe für die Hinrichtung des 49 50
Vgl. dazu Finegan, Chronology, 259–273, Theißen/Merz, Jesus, 151, und Bovon, Lukas I, 168. Vgl. Finegan, Chronology, 301.
5. Römische Zeit
89
Johannes interpretiert. Herodes Antipas hatte Johannes aus Angst vor dessen Einfluss im Volk exekutieren lassen. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die religiösen Erneuerungsbewegungen im Frühjudentum auch immer soziale Kritik und machtverändernden Sprengstoff in sich trugen: „Das Auftreten Johannes’ des Täufers und Jesu gehört sicher in den Kontext der sozialen und politischen Umwälzungen zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr.“51 Das Neue Testament erzählt hier allerdings eine schwülstigere Geschichte. Ganz nach dem Prinzip cherchez la femme bieten die Synoptiker (Mk 6,17–29; Mt 14,3–12; Lk 3,19f.; 9,9) eine sex and crime Geschichte, die hinter der Hinrichtung des Täufers die Machenschaften einer dämonischen Frau wittert. Historischer Haftpunkt sind ohne Zweifel das Intrigenspiel und die Machtgelüste der Herodias. Wenn dabei Herodes Antipas mit sympathischen Zügen als Cunctator vor Augen geführt wird (vgl. Mk 6,20.26; Mt 14,9), dann ist dies wohl nicht nur dramatische Ingredienz, sondern eine bewusste Weiterführung der Elija-Typologie, dem ja Isebel, die intrigante Frau des zögerlichen Ahab, nach dem Leben trachtete (1Kön 19,1f.). Der Tanz der Salome gehört dann vollends ins Reich der Legende. Möglich aber ist, dass Johannes Herodes Antipas wegen der Verstoßung seiner Ehefrau und der Heirat der Herodias tatsächlich kritisierte. Auch der Johannesschüler Jesus wird später die Verstoßung der Ehefrau als unmoralisch anprangern (Mk 10,5–12; Mt 5,32; 19,3f.; Lk 16,18; 1Kor 7,10). Es könnte auch gut sein, dass das Wort vom schwankenden Schilfrohr im Wind (Mt 11,7) spöttisch Bezug nimmt auf die politische Rückgratlosigkeit des Herodes Antipas.52 Die Nachricht des Josephus, dass Johannes in der Feste Machairos,53 also im Ostjordanland, festgesetzt und hingerichtet wurde, scheint zutreffend, da Johannes dort auch gewirkt hatte (s.u. III.10.1). 5.3.6
Jesus von Nazaret
Jesus von Nazaret wird bei Josephus im sogenannten Testimonium Flavianum, A.J. 18,63f., erwähnt: 63 Um diese Zeit lebte Jesus, ein Mensch voll Weisheit, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er tat nämlich ganz unglaubliche Dinge und war der Lehrer derjenigen Menschen, welche gern die Wahrheit aufnahmen; so zog er viele Juden und viele aus dem Heidentum an sich. Er war der Christus. 64 Auf Anraten der Vornehmen bei uns verurteilte ihn Pilatus zwar zum Kreuzestode, gleichwohl wurden die, welche ihn früher geliebt hatten, auch jetzt ihm nicht untreu. Er erschien ihnen nämlich am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten neben tausend anderen
51 52
53
Schäfer, Geschichte, 124f. Vgl. Theißen, Lokalkolorit, 26–44. Herodes Antipas ließ die Blüte des Schilfrohrs auf den Avers jener Münzen prägen, die zur Gründung der Stadt Tiberias ausgegeben wurden (ca. 19 n. Chr.). Zu Machairos: Vörös, Machärus, 80–89. Dazu Josephus B.J. 7,165–170 und A.J. 18,109–119.
90
II. Geschichte des Frühjudentums wunderbaren Dingen von ihm verkündet hatten. Noch bis jetzt hat das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, nicht aufgehört.
Diese Aussage ist klarerweise eine christliche Interpolation. Wahrscheinlich ist aber nicht der ganze Text interpoliert, sondern nur aus christlicher Sicht „überarbeitet“ worden. Denn in A.J. 20,200 wird die Steinigung des Jakobus erwähnt, der hier als „Bruder des Jesus, des sogenannten Christus“ bezeichnet wird. Damit wird klar, dass Josephus schon zuvor Jesus erwähnt haben muss, da er die Kenntnis des „Jesus, des sogenannten Christus“ voraussetzt. Obendrein berichtet Origenes (Matth 1,17 und ContCel 1,47), dass Josephus Jesus nicht als Messias anerkannt habe. Das heißt, Origenes hatte wohl eine Version des Testimonium Flavianum vor sich, die noch nicht christlich interpoliert war.54 Shlomo Pines veröffentlichte 1971 eine bis dahin unbeachtete arabische Fassung des Josephustextes, die Bischof Agapius von Hierapolis in seiner christlichen Universalgeschichte im 10. Jahrhundert zitiert. Der Text darin lautet:55 Zu dieser Zeit gab es einen weisen Mann, der Jesus genannt wurde. Und sein Lebenswandel war gut und er war bekannt als tugendhaft. Und viele Leute aus den Juden und anderer Nationen wurden seine Jünger. Pilatus verurteilte ihn zur Kreuzigung und zum Tod. Aber diese, die seine Jünger geworden waren, gaben ihre Jüngerschaft nicht auf. Sie berichteten, dass er ihnen drei Tage nach seiner Kreuzigung erschienen sei und lebe; demgemäß wäre er vielleicht der Messias, über den die Propheten Wunderbares gesagt haben.56
Diese Variante könnte dem ursprünglichen Josephustext nahekommen,57 es fehlt die Aussage „Dieser war der Christus“, und auch der Glaube der Jünger, dass Jesus „vielleicht der Messias“ war, wird nur als deren Meinung referiert. Wenn es stimmt, dass Jesus noch unter Herodes dem Großen († 4 v. Chr.) geboren wurde (Mt 2,1; Lk 1,5), dann muss Jesu Geburt noch „vor Christi Geburt“ (wie man launig sagen könnte) angesetzt werden. Die Kindheitsevangelien bei Mt und Lk warten größtenteils mit narrativer Theologie auf, die gleich der Ouvertüre einer Wagneroper dem Werk die wichtigsten Leitmotive voranstellen. Das Motiv der Davidsohnschaft und Messianität Jesu führt Mt und Lk dazu, Jesus in Betlehem das Licht der Welt erblicken zu lassen. Während Lk die Volkszählung in Anspruch nimmt, um den Transfer von Nazaret zu gewährleisten, rechnet Mt 2,11 damit, 54
55 56 57
Vgl. Pines, Version, 65f. Nachdem Origenes zweimal so ausdrücklich darauf verweist, dass Josephus Jesus nicht als Messias anerkannt habe, ist wohl anzunehmen, dass dies nicht nur ein argumentum e silentio war. Vgl. Pines, Version, 5f. Eigene Übersetzung aus dem Englischen nach Pines, Version, 16. Zur Beurteilung dieses Textzeugen vgl. Horn, Testimonium, 117–136; Theißen/Merz, Jesus, 81. Wahrscheinlich gibt auch dieser hier zitierte Text nicht das ursprüngliche Testimonium Flavianum wieder, aber faute de mieux sei dieser Text als eine mögliche Rekonstruktion hier zitiert.
5. Römische Zeit
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dass die heilige Familie in Betlehem ein Haus (οἰκία) hatte – die Tradition einer Geburt im Stall kennt Mt nicht. Erst der Kindermord veranlasst die heilige Familie nach Ägypten zu fliehen und sich danach in Nazaret niederzulassen. Die beiden Geburtsgeschichten sind als historische Notizen nicht miteinander vereinbar und daher als theologische Deutungen zu lesen. Obendrein weiß Joh 1,46 nichts von einer Geburt in Betlehem angesichts der Frage Natanaëls, ob aus Nazaret denn etwas Gutes kommen könne. Doch kennt auch der vierte Evangelist in 7,41f. die Tradition, dass der Messias aus Betlehem und nicht aus Galiläa stammt (Mi 5,1). Eine Geburt in Nazaret hat damit historisch die besseren Karten.58 Die Darstellung der Geburt Jesu in Betlehem ist theologisch motiviert, und trägt in Mt 2,6 mit der aktualisierenden Anwendung des Micha-Zitats (Mi 5,1.3) Züge midraschartiger Bibelauslegung.59 Auch die Genealogien Jesu, die uns Mt 1,1–17 und Lk 3,23–38 überliefern, haben zwar theologischen, doch keinen historischen Wert: Schon alleine der Name des Vaters Josefs divergiert in der Darstellung bei Mt („Jakob“) und Lk („Eli“). Wertvolle Hinweise bietet allerdings der sogenannte lukanische Synchronismus in Lk 3,1–3: 1 Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; 2 Hohepriester waren Hannas und Kajaphas. Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. 3 Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden.
58
59
Zu den Ausgrabungen unter der Verkündigungskirche in Nazaret vgl. Bagatti, Art. Nazareth, 1103–1105; Broadhead, Ways, 334; Zangenberg, Silence, 101–104; Tzaferis, Art. Nazareth, 1103; Taylor, Christians, 221–267. Das älteste dort nachweisbare christliche Heiligtum datiert frühestens ins 3. Jh. n. Chr. Christliche Graffiti, etwa ein XE MAPIA („Ave Maria“), Kreuze oder die Buchstaben IH (als Abkürzung des Jesusnamens), wurden in Verputzresten unter dem Boden der byzantinischen Basilika bzw. des byzantinischen Klosters gefunden. Ungewiss aber bleibt, inwieweit diese Stätte noch ältere Traditionen – etwa aus der Zeit Jesu oder des Frühchristentums – bewahrt hat. Die Vermutung der Ausgräber, dort Reste judenchristlicher Traditionen gefunden zu haben (Bagatti, Art. Nazareth, 1104: „The structure was probably an early church dating before the time of Constantine and was built on the plan of a synagogue“), wird heute kritisch beurteilt. In jedem Fall aber liegen rings um die „Verkündigungsgrotte“ (traditionell das „Haus der Gottesmutter“) auch andere Höhlen, die als Wohn- und Vorratsräume benutzt wurden und die in dem an die Kirche angrenzenden Museum der Franziskaner eingesehen werden können. Interessant ist der arme Lebensstandard, den diese Höhlenbehausungen bezeugen. Auch wenn diese Funde nicht in die Zeit Jesu zurückreichen, so wird doch klar, dass Nazraret nie eine Stadt mit besonderem Renommee war (vgl. Joh 1,46). Aktualisierende Anwendungen biblischer Traditionen werden heute als „Geschichtsklitterung“ empfunden, waren damals aber gängiger Bestandteil der Bibelauslegung, vgl. die Pescher-Methode von Qumran oder die frühjüdische „Rewritten Scripture“. Zum Geburtsort Jesus vgl. den Forschungsüberblick Heil, Jesus, 241–263.
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II. Geschichte des Frühjudentums
Das „fünfzehnte Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius“ meint wohl das Jahr 26 n. Chr. (s.o. II.5.3.5). Pilatus amtierte von 26–36/37 n. Chr. Hannas als Hohepriester von 6–15 n. Chr., Kajaphas hingegen von 18–36. Joh 18,13 lässt durchblicken, dass Hannas als Schwiegervater und Vorgänger des Kajaphas offensichtlich noch immer den größeren Einfluss besaß und daher auch das Verhör Jesu leitete. Daher bezeichnet Apg 4,6 auch irrtümlich Hannas als Hohepriester, anders als Joh 11,49; 18,13.60 Als Todesdatum Jesu ist die johanneische Chronologie zu bevorzugen, die – anders als die Synoptiker – den Tod Jesu schon am Tag vor dem Paschafest (14. Nisan, also der Tag an dessen Abend das Paschalamm gegessen wurde) festsetzt (Joh 18,28; 19,31).61 Die von allen Evangelien bezeugte Paschaamnestie macht nur Sinn, wenn der Freigelassene das Paschamahl noch mitfeiern konnte. Auch scheint sich in Mk 14,1f. ein Rest der alten Chronologie erhalten zu haben, wenn berichtet wird, dass die Hohepriester Jesus noch vor dem Fest ergreifen wollten, um einen Aufruhr unter den Festpilgern zu vermeiden. Eine Hinrichtung am Paschatag selbst ist unwahrscheinlich. Somit starb Jesus am 14. Nisan vor Sonnenuntergang. Dieser Tag war nach Darstellung aller Evangelien ein Freitag. Der 14. Nisan fiel in den Jahren 30 und 33 n. Chr. auf diesen Tag. Da das Jahr 33 für die paulinische Chronologie zu spät wäre, kann man annehmen, dass Jesus am 14. Nisan (7. April) des Jahres 30 gestorben ist. Die Verurteilung Jesu erfolgte im Prätorium (πραιτώριον, vgl. Mk 15,16; Joh 18,28). Der in Joh 19,13 genannte λιθόστρωτος (lithostrōtos, „Steinpflaster“) meint nicht den am Beginn der heutigen Via Dolorosa in Jerusalem gezeigten Platz unter dem sogenannten „Ecce Homo Bogen“. Dieses Steinpflaster wurde erst unter Hadrian als Forum und Marktplatz der über den Ruinen des zerstörten Jerusalems 135 n. Chr. neugegründeten Stadt Aelia Capitolina errichtet.62 Obendrein residierte der Präfekt bei seinen Besuchen in Jerusalem nicht in der Burg Antonia, sondern in dem von Herodes errichteten Palast, dem Gebiet der heutigen „Zitadelle“ am Jaffator. Üblicherweise hatten die Präfekten ihren Sitz in Caesarea Maritima und kamen nur zu hohen Feiertagen nach Jerusalem, um bei allfälligen Unruhen sofort einschreiten zu können. Mit dem lithostrōtos ist auch kein normaler Steinboden gemeint (solche gab es in Jerusalem überall), sondern ein schönes Mosaik in einem der Prunkhöfe des Herodespalasts, in dem der Prokurator Gericht hielt.63 Die 60
61 62 63
Vgl. Bovon, Lukas I, 169. Im Jahr 1990 wurde im südlich von Jerusalem gelegenen Vorort Talpiot eine Familiengrabstätte aus dem 1. Jh. n. Chr. gefunden, die aufgrund der Inschriften mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als Familiengrab des Hohepriesters Kajaphas betrachtet wird (dazu Bieberstein/Bloedhorn, Jerusalem I, 129). Vgl. Theißen/Merz, Jesus, 152. Vgl. Geva, Art. Jerusalem, 764. BJ 2,301: Präfekt Florus habe in Jerusalem ἐν τοῖς βασιλείοις αὐλίζεται, im königlichen Palast logiert und vor dem Palast (πρὸ αὐτῶν) sein βῆμα, den erhöhten Richtstuhl aufgestellt. Joh
5. Römische Zeit
93
Hinrichtung Jesu erfolgte am Golgota, einem etwa fünf Meter hohen Felsenkegel, der knapp außerhalb der „Zweiten Mauer“ in unmittelbarer Nähe zum Herodespalast lag,64 nach Mk 15,29 an einer der Ausfallsstraßen der Stadt Jerusalem.
5.4
Judäa unter römischer Herrschaft (6–41 n. Chr)
5.4.1
Der Status Judäas 6–41 n. Chr.
Das Herrschaftsgebiet des Archelaos wurde 6 n. Chr. der direkten Herrschaft Roms unterstellt. Zumeist liest man, dass die Römer damit eine eigene „Provinz Judaea“ errichtet hätten, doch ist dies nicht zutreffend.65 Judäa und Samaria wurden vielmehr als eigener Verwaltungsbezirk mit dem Namen „Iudaea“ der römischen Provinz Syrien (Hauptstadt Antiochia) zugeschlagen. Allerdings ist die Terminologie, die Josephus und Tacitus verwenden, oft irreführend und widersprüchlich, was damit zu tun haben mag, dass diese Autoren nach dem Jüdischen Krieg schrieben, als sich der Status von Judäa bereits geändert hatte, vielleicht aber auch, weil hier die präzise Terminologie durcheinanderpurzelt. So erwähnt Josephus, B.J. 2,117, dass das Gebiet des Archelaos εἰς ἐπαρχίαν, in eine Provinz, verwandelt worden wäre, regiert vom ἐπίτροπος, also Prokurator, namens Coponius, der ritterlichem Adel entstammte. Ganz anders aber heißt es in A.J. 18,2, dass nach der Ablöse des Archelaus Judäa in eine προσθήκην τῆς Συρίας, einen Annex Syriens, umgewandelt wurde, während Coponius nur als Gehilfe des in senatorischem Rang stehenden Quirinius dargestellt wird. Der Titel, den Coponius und seine Nachfolger bis 41 n. Chr. (Beginn der Herrschaft von Agrippa I.) trugen, lautete im Lateinischen praefectus Iudaeae, wie wir dem Pilatusstein entnehmen können. Die Bezeichnung
64
65
19,13: Γαββαθα, Gabbata gibt das aramäische גבתא, gabbeta, Erhöhung wieder, was auf βῆμα verweist. Auch nach Joh 19,13 steht der Richtstuhl im Freien vor dem Prätorium. Vgl. Geva, Art. Jerusalem, 781. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist jener Felskegel, der in der heutigen Grabeskirche unter dem Golgota-Altar gezeigt wird, der authentische Ort der Hinrichtung Jesu. Da Hinrichtungen und Bestattungen bei den Römern extra muros erfolgten, lastet auf der Rekonstruktion des Verlaufs der „Zweiten Mauer“ hoher Beweisdruck. Mit Sicherheit lässt sich zwar nicht beweisen, dass der Golgota außerhalb dieser Mauer lag, doch war das „Gelände des Māristān noch in herodianischer Zeit unbebaut …, was eine Rekonstruktion der Zweiten Mauer östlich … etwa auf der Achse des Sūq al-Laḥḥāmīn nahelegt“ (Bieberstein/Bloedhorn, Jerusalem I, 104). Somit lag der Golgota unmittelbar westlich vor der Stadtmauer. Auch das traditionelle „Grab Jesu“ in der Grabeskirche ist „in herodianische Zeit zu datieren“ (Bieberstein/Bloedhorn, Jerusalem II, 183). Die neben dem „Grab Jesu“ gelegene „Grabanlage mit Schiebegräbern zeigt, daß das Gelände in hasmonäischer und vielleicht auch noch in herodianischer Zeit außerhalb der Stadtmauern lag und erst relativ spät in den Mauerring einbezogen wurde“ (ebd.). Zu Grabungen in Bezug auf die Lokalisierung des Golgota: Viehweger, Ausgrabungen, 90–99. Vgl. im Folgenden: Eck, Rom, 24–51, und Schröter/Zangenberg, Texte, 66.
94
II. Geschichte des Frühjudentums
ἐπίτροπος/procurator, wie wir sie von Josephus und Tacitus kennen, ist damit wohl unrichtig. Wahrscheinlich gab es in der Großprovinz Syrien mehrere solcher, dem syrischen Statthalter untergeordnete Präfekte: So wird auf Inschriften ein eigener Präfekt für die Dekapolis greifbar, der – ebenfalls aus ritterlichem Rang stammend – dem in konsularischem Rang stehenden Statthalter Syriens unterstellt war. Die Dekapolis wurde 4 v. Chr. vom Gebiet des Archelaos getrennt und als Annex Syrien zugeschlagen (A.J. 17,320: προσθήκη). Dieser praefectus Iudaeae besaß – wie auch ansonsten bei Überführung in unmittelbare römische Kontrolle – die Kapitalgerichtsbarkeit. Die Liste der Präfekten dieser Zeit ist:66 1. Coponius (6–9 n. Chr.) 2. Marcus Ambibulus (9–12 n. Chr.) 3. Annius Rufus (12–15 n. Chr.) 4. Valerius Gratus (15–26 n. Chr.) 5. Pontius Pilatus (26–36/37 n. Chr.) 6. Marcellus (36/37–37 n. Chr.) 7. Marullus (37–41 n. Chr.) Von diesen Präfekten wissen wir relativ wenig, einzig von Pontius Pilatus haben wir detailliertere Kenntnisse – und das nicht nur, weil unter seiner Regierung und Verantwortung Jesus von Nazaret hingerichtet wurde. 5.4.2
Der Zensus des Quirinius
Für den Einzug von Steuern und Abgaben war der Statthalter von Syrien zuständig. Das deckt sich auch mit unserem Wissen, dass die Steuerschätzung (census), die durch die Eingliederung Judäas in das Steuersystem der Provinz Syrien nötig geworden war, von P. Sulpicius Quirinius, dem Statthalter von Syrien, durchgeführt wurde (A.J. 18,1–3, vgl. Lk 2,1). Dieser census wurde wahrscheinlich gleich 6 n. Chr. angesetzt, vermutlich nicht nur in Judäa, sondern in der ganzen Provinz Syrien.67 Es handelt sich hierbei um den census, den Lk 2,2 mit der Geburt Jesu in Verbindung bringt, was historisch falsch ist: Lk hat sich um mehr als zehn Jahre geirrt, oder den census in bewusster Weise genützt, um die Polarität zwischen dem Friedensfürst Jesus und dem Gewaltherrscher Augustus vor Augen zu führen. Immerhin hatte der Zensus in Palästina den Aufstand des Judas Galilaios ausgelöst. Steuern wurden in Palästina natürlich auch unter den Hasmonäern, unter Herodes d. Gr. und unter seinen Söhnen eingehoben, doch der Akt der gesamtsyrischen 66 67
Vgl. Schäfer, Geschichte, 130f. Eck, Rom, 38, nennt einen Beleg für den Zensus unter Quirinius aus der syrischen Stadt Apameia. Ein ἀπογράφεσθαι πᾶσαν τὴν οἰκουμένην, also eine reichsweite Steuerschätzung wie sie Lk 2,1 insinuiert, ist allerdings nicht zu belegen.
5. Römische Zeit
95
Steuerschätzung unterstrich in demütigender Weise den Verlust der Unabhängigkeit. Obendrein war die Thematik religiös sensibel: König David hatte es nach 2Sam 24,9–17 (vgl. 1Chr 21,1–30) gewagt, eine Volkszählung durchzuführen und war dafür von Gott gestraft worden. Somit rief der census Unruhen im Volk hervor. Zur Demütigung, dem Kaiser eine Kopfsteuer (tributum capitis) zahlen zu müssen, kam natürlich auch die ökonomische Last der Abgabe. Tacitus berichtet in den Annalen 2,42,5: „… auch baten die Provinzen Syrien und Judäa, erschöpft durch ihre Belastung, um Herabsetzung des Tributs“ (et provinciae Syria atque Iudaea fessae oneribus deminutionem tributi orabant). Hauptkritikpunkt aber blieb die mit der Bezahlung der kaiserlichen Steuer ipso facto vollzogene Anerkennung der kaiserlichen Macht. Schon allein das den Münzen aufgeprägte Kaiserbild macht deutlich, dass das Zahlen der Kaisersteuer von frommen Juden als Götzendienst empfunden wurde. Die Anfrage an Jesus betreffs der kaiserlichen Steuer in Mk 12,14, und die Antwort Jesu in V 17 belegen diesen Sachverhalt. Mit der Antwort Jesu („So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“) wird zwar eine Steuerzahlung möglich gemacht, allerdings ohne den Anspruch des Kaisers auf göttliche Verehrung anzuerkennen (s.u. III.11.4.1).68 Mit dem im Jahre 6 n. Chr. erfolgten census verbindet Flavius Josephus die erste Erwähnung der zunächst noch namenlos bleibenden Religionspartei der Zeloten. Ihr Begründer, Judas Galilaios, dürfte der Sohn jenes Bandenführers Ezekias sein, der zuvor unter Herodes d. Gr. schwere Unruhen hervorgerufen hatte (s.o. II.5.2.5). Die von Josephus immer wieder erwähnten „Räuberbanden“ dürften den Typus des „Sozialbanditen“ (s.u. III.5.3) widerspiegeln, der hier verwendete Ausdruck λῃστής (lēstēs) meint eine Mischung aus Räuber und Widerstandskämpfer. 5.4.3
Pontius Pilatus (26–36/37 n. Chr.)
Weitgehend Einigkeit herrscht in der Annahme, dass Pilatus69 26 n. Chr. seinen Dienst antrat.70 Unklar bleibt das Datum der Absetzung des Präfekten:71 Nach 68 69
70
71
Vgl. zu dieser Problematik Förster, Jesus, 144–225. Zu Pilatus gibt es zwei epigraphische Belege: Der Pilatusstein war wahrscheinlich eine Inschrift für den Leuchtturm bei der Hafeneinfahrt von Caesarea (so überzeugend rekonstruiert von: Alföldy, Pilato, 140–142; Eck, Rom, 16; Herzer, Pilatus, 32). Weiters ein aus billiger Kupferlegierung bestehender Siegelring mit der Inschrift ΠIΛATO[Y], „des Pilatus“, mit dem wohl ein Beamter des Präfekten Dokumente siegelt (vgl. Amorai-Stark u.a., Ring, 212). Anders Herzer, Pilatus, 56–61, der Pilatus von 19–36 n. Chr. im Amt sieht (mit einer kürzeren Amtszeit des Gratus) basierend auf einer bereits von Eisler, Messiah, 13–20 und Schwartz, Josephus, 26–45, vorgebrachten Konjektur verschiedenster Angaben bei Josephus (zur Kritik daran: Bond, Pilate, 1). Die Hypothese einer 18-jährigen Amtszeit des Pilatus widerspricht Josephus A.J. 18,89, der explizit zehn Jahre nennt. Vgl. dazu Smallwood, Pilate, 12–21; Schürer/Vermes/Millar, History, 383, 387f.; Krieger, Amtszeit, 27–32.
96
II. Geschichte des Frühjudentums
Josephus A.J. 18,89 verlässt Pilatus Judäa auf Intervention des syrischen Legaten Vitellius um sich in Rom vor Tiberius für ein Massaker an Samaritanern zu rechtfertigen. Als er in Rom eintrifft, ist Tiberius († 15. März 37 n. Chr.) aber schon tot. Die Schiffsreise von Caesarea nach Rom konnte je nach Witterung zwischen einem und drei Monaten (Josephus B.J. 2,203) dauern,72 zwischen November und März noch länger.73 Wahrscheinlich verließ Pilatus Caesarea noch Ende 3674 und wurde durch Marcellus ersetzt. Allerdings endete damit noch nicht Pilatusʼ Amtszeit: „Vitellius did not … deprive Pilate of his office …. He merely sent Pilate home to report to Tiberius and put Marcellus temporarily in charge of Juda as acting governor. The actual deposition of Pilate and the appointment of his successor lay with the emperor.“75 A.J. 18,237 berichtet, dass Caligula kurz nach seiner Ernennung zum Kaiser Marullus zum Nachfolger für Pilatus ernannte. Damit bestätigt er den von Vitellius interimistisch eingesetzten Marcellus (nach A.J. 18,89 ein Günstling des Vitellius) nicht, doch war Pilatus damit abgesetzt.76 Übereinstimmend doch unabhängig voneinander berichten Philon und Josephus, dass Pilatus dem jüdischen Volk gegenüber negativ eingestellt war: Philon, Legat.: 301 Er [Pilatus] war nämlich von Natur aus unbeugsam, eigenwillig und unnachgiebig. … 302 … Dabei könnte man seine Bestechlichkeit, seine Gewalttätigkeit, seine Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, fortgesetzten Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren sowie seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit vortragen. 303 Als boshafter und unversöhnlicher Mensch geriet er in Verlegenheit. …
72
73
74
75 76
Vgl. die Berechnungen bei Rapske, Travel, 35f.; Fellmeth, Mobilität, 135f.; Schuol, Paulus, 150. Durch die im östlichen Mittelmeer vorherrschenden Nord-West-Winde war eine Reise von Caesarea Maritima nach Rom doppelt so lange, wie in die umgekehrte Richtung. Aufgrund der Winterstürme sprach vom mare clausum, dem „geschlossenen Meer“, wenngleich Seereisen auch nicht verboten waren (Rapske, Travel, 22–29). Josephus ist hier problematisch: Nach Pilatusʼ Abreise begab sich Vitellius nach Jerusalem zum Paschafest (A.J. 18,90). A.J. 18,121–124 berichtet von einem zweiten Jerusalembesuch des Vitellius, bei dem er vom Tod des Tiberius erfährt (auch bezeugt bei Philo Legat. 231). Der erste Besuch müsste das Paschafest 36 gewesen sein, der zweite Besuch im Jahr 37. Dann wäre Pilatus schon vor dem Paschafest 36 nach Rom abgefahren und erst nach dem 15. März 37 in Rom angekommen, was selbst für den Landweg eine zu lange Reisedauer wäre (zumal A.J. 18,89 schreibt, dass Pilatus nach Rom „eilte“ ἠπείγετο). Smallwood, Pilate, 19 (gefolgt von Schürer/Vermes/Millar, History, 383, 387f.) nimmt an, dass der erste Jerusalembesuch des Vitellius nicht an einem Paschafest erfolgte. Krieger, Problematik, 63–83, löst den Widerspruch, indem er die beiden Jerusalembesuche als einen wertet, der von Josephus in zwei unterschiedlichen Versionen berichtet wird, dies wäre dann das Paschafest 37. Wahrscheinlicher ist die Annahme von Smallwood, denn Vitellius ersetzte bei seinem ersten Besuch den Hohepriester Kajaphas durch Jonatan ben Ananos (A.J. 18,95) und bei seinem zweiten Besuch Jonatan durch dessen Bruder Theophilos (A.J. 18,123). Smallwood, Pilate, 12. Smallwood, Pilate, 12. In diesem Sinne auch Bond, Pilate, 1.
5. Römische Zeit
97
Josephus, A.J. 18,55: Pilatus habe gehandelt, ἐπὶ καταλύσει τῶν νομίμων τῶν Ἰουδαϊκῶν, „um die jüdischen Gesetzesvorschriften aufzulösen“.
In der Nachfolge von E. Stauffer wurde Pilatus daher häufig eine antijüdische „Provokationspolitik“ nachgesagt, die dieser im Auftrag von L. Aelius Seianus ausgeführt habe.77 Allerdings bezeichnet einzig Philon in Legat. 159f. und Flacc. 1 Seianus als antijüdischen Aktanten, was – ebenso wie die antijüdische Verzeichnung des Pilatus – auf die politische Intention in Legat. zurückzuführen ist (s.u. II.5.5.2): Dort entwirft Philon ein negatives Gegenbild zum „guten“ Tiberius, das er Kaiser Caligula vor Augen stellt. Seianus, der 31 n. Chr. gestürzte Präfekt der Prätorianergarde, war als Negativfolie genauso geeignet, wie der ebenfalls abgesetzte Pilatus.78 Gleiches gilt für Josephus, wo Pilatus als dunkles Pendant zu Vitellius dient. Die schriftstellerische Tendenz des Josephus ist hinlänglich bekannt,79 senatorische Legaten wie Vitellius (diese hatten als Senatoren bleibenden Einfluss in Rom) in Schutz zu nehmen und die Schuld am Ausbruch des Jüdischen Kriegs auf die Präfekte Judäas zu schieben (diese entstammten nur ritterlichem Adel und besaßen keinen Einfluss in Rom). Nach Abzug der Überzeichnungen bei Philon und Josephus kann Pilatus nicht mehr vorgeworfen werden, vorsätzlich antijüdisch gehandelt zu haben. Allerdings war er auch nicht so diplomatisch wie sein Vorgänger Gratus und wie die nach ihm amtierenden Cuspius Fadus und Tiberius Alexander, die Josephus positiv beschreibt. Pilatus war in vielen Punkten unsensibel gegenüber der heiklen sozio-religiösen Gemengelage in Judäa und provozierte die jüdische Bevölkerung auch dort, wo es seine Vorgänger vermieden hatten.80 So berichtet B.J. 2,169–174/A.J. 18,55–59, dass Pilatus seine Soldaten mitsamt ihren Standarten (signa) in die Stadt Jerusalem einziehen ließ.81 Frühere Präfekten hatten dies unterlassen, da auf den Standarten das Bild des Kaisers zu 77
78
79 80
81
Stauffer, Jerusalem, 16–18. Ebenso: Stauffer, Christus, 129: „Pilatus ist Antisemit, genau wie sein Auftraggeber und Schutzpatron Sejan, nur auf eine plumpere Manier.“ Zur neuen Deutung des Seianus: Hennig, Seianus, 160–179; Schwartz, Josephus, 35f.; Krieger, Pilatusbiographie, 63–83; Bond, Pilate, 22. Das negative Urteil von Eusebius über Seianus in HE 2,5,5 lässt sich auf die Aussagen bei Philo zurückführen. Suetonius (Tib. 36.1), Tacitus (Ann. 2.85.5) und Dio Cassius (157.18.5a) berichten bei der Ausweisung von Juden aus Rom im Jahr 19 n. Chr. nicht, dass Seianus der Drahtzieher gewesen wäre. Obendrein besitzen wir auch in der Darstellung des Philo keinen einzigen Hinweis darauf, dass Seianus Pilatus in irgendeiner Weise gestützt habe (vgl. Schwartz, Josephus, 36). Dazu: Eck, Judäa, 171–175, und Bond, Pilate, 49–93. Vgl. Taylor, Pilate, 582: „Pontius Pilate does not in fact need to have been purposely vindictive to Jews in this regard or even necessarily concerned to flatter Tiberius, but he does seem to have been purposively determined to maintain, if not advance, the Roman imperial cult in Judaea.“ Ähnlich Bond, Pilate, 25: „Therefore, whilst Philo’s account of Pilate doubtlessly contains a core of historical fact, his description of Pilate’s character and intentions has very likely been influenced by his rhetorical objectives.“ Vgl. dazu Eck, Rom, 55f.
98
II. Geschichte des Frühjudentums
sehen ist und das als Verstoß gegen das Bilderverbot gewertet wurde. Durch den gewaltfreien Widerstand der Juden, die ihren Nacken entblößten, um sich lieber enthaupten zu lassen, als ihren Protest aufzugeben, ließ sich Pilatus zum Einlenken bewegen. Etwas differenzierter sollte der Bau eines Aquädukts nach Jerusalem gewertet werden, wofür Pilatus Gelder aus dem Tempelschatz entnahm (B.J. 2,175–177/A.J. 18, 60–62). Der Tempelschatz durfte für die Bedürfnisse der Stadt Jerusalem und des Tempels verwendet werden. Die Wasserleitung diente diesem Zweck, sodass der Griff in die Tempelkasse nicht als Sakrileg anzusehen ist. Auch ist schwer vorstellbar, dass der Hohe Rat einer solchen Maßnahme nicht vorher zugestimmt hätte. Wahrscheinlich stand Pilatus sogar in bestem Einvernehmen mit dem Hohepriester Kajaphas.82 Dieser amtierte von 18–36 n. Chr., war also schon vor Pilatus im Amt und wurde von diesem nicht abgesetzt, was dem Präfekten möglich gewesen wäre (nach A.J. 18,34 setzte Valerius Gratus die drei Vorgänger des Kajaphas – darunter auch Hannas, dessen Schwiegervater – in kurzer Folge ab). Bemerkenswert ist, dass Vitellius nach der Absetzung des Pilatus auch den Hohepriester Kajaphas seines Amtes enthob (A.J. 18,95). Pilatus und Kajaphas scheinen also eng kooperiert zu haben, wie das auch im Prozess Jesu sichtbar wird. Undiplomatisches und hartes Durchgreifen des Pilatus wird allerdings auch en passant in Lk 13,1 erwähnt: Pilatus habe Galiläer beim Opfern töten lassen, sodass sich „deren Blut … mit dem ihrer Opfertiere vermischt hatte“. Galiläer galten seit dem Aufstand des Judas Galilaios als renitent und zu Aufständen neigend. Pilatus meinte wohl, Unruhen im Keim ersticken zu müssen. Analogieschlüsse zum Galiläer Jesus von Nazaret, der der Unruhestiftung am Tempelberg beschuldigt wurde, lassen sich ziehen. Auch das Ende der Karriere des Pilatus ist mangelnder Sensibilität geschuldet. Als ein samaritanischer Zeichenprophet verkündet, am Garizim die heiligen Geräte, die Mose der Tradition nach dort verborgen hatte, finden zu wollen, und damit eine große Menschenmasse mobilisiert, entsendet Pilatus seine Reiterei und lässt ein Gemetzel veranstalten (A.J. 18,87–89). Daraufhin führt eine samaritanische Gesandtschaft Klage gegen Pilatus beim syrischen Legaten Vitellius. Allerdings vermutet J. Herzer zu Recht hinter der Absetzung des Pilatus „eine offensichtliche politische Intrige [sc. durch Vitellius], um kurzerhand seinen Freund und Günstling Marcellus in Judäa zu installieren.“83 Vitellius war erst seit 35 n. Chr. Legat in Syrien und wollte die Verhältnisse in seinem Sinne gestalten. Das eingespielte Team Pilatus (regierend ab 26 n. Chr.) und Kajaphas (im Amt seit 82
83
Im Jahre 1990 wurde bei Talpiot ein Ossuar entdeckt, das die Inschrift „Josef, Sohn des Kajaphas“ trägt. Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Sohn des im Neuen Testament erwähnten Kajaphas. Vgl. dazu Geva, Jerusalem, 756. Herzer, Pilatus, 41f. und 85. Ähnlich Krieger, Pilatusbiographie, 82: „… daß die Beschwerde samaritanischer Nobiles als Vorwand benutzt wurde, um Pilatus abzuberufen. … Vitellius … ersetzte Pilatus durch einen seiner Vertrauten …“
5. Römische Zeit
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18 n. Chr.) war ihm offensichtlich nicht geheuer, er nützt die Vorwürfe der Samaritaner, um „seinen Freund Marcellus“ (Josephus A.J. 18,89) anstatt Pilatus zu installieren und setzt Kajaphas gleich mit ab. Im Übrigen erfahren wir nirgends, dass Pilatus in Rom bestraft worden sei. Der Bericht des Eusebius, HE 2,7 vom Selbstmord des Pilatus ist legendarisch.84 Auch der Prozess Jesu vor Pilatus, wie er in den kanonischen Evangelien überliefert ist, muss mit historischen Vorbehalten gelesen werden. Schließlich ist hier eine immer stärker werdende Tendenz zu verzeichnen, Pilatus zu exkulpieren und die Schuld für Jesu Tod auf die Juden zu wälzen. Dies zeigt sich in den unhistorischen Erzählungen von der Handwaschung des Pilatus (Mt 27,24), vom Traum der Frau des Pilatus (Mt 27,19) und in der historisch ebenfalls völlig unwahrscheinlichen Miteinbeziehung des Herodes Antipas in den Prozess Jesu (Lk 23,7–12). Trotz dieser Tendenzen bleibt das Faktum bestehen, dass einzig Pilatus das Recht auf Kapitalgerichtsbarkeit ausüben konnte, wie Joh 18,31 richtig wiedergibt („Uns ist es nicht gestattet, jemand hinzurichten“), und auch Josephus B.J. 2,117 vermerkt, dass der praefectus Iudaeae „die Gewalt bis zum Töten“, μέχρι τοῦ κτείνειν … ἐξουσίαν besaß. Daher trägt Pilatus allein die Letztverantwortung für Jesu Tod. Den Einfluss des Hohen Rats, hebräisch Sanhedrin (סנהדרין, vom griechischen συνέδριον synedrion „Versammlung“, „Rat“, daher auch Synhedrion) sollte man nicht zu hoch ansetzen.85 In römischer Zeit stand diese Gruppierung ganz unter der Dominanz des Präfekten, der Hohepriester frei ein- und absetzen konnte. Der Rat bestand aus siebzig Mitgliedern, den Hohepriester nicht eingerechnet. Auch im Prozess gegen Jesus machte sich das Gremium zum Handlanger der Römer. In vorauseilendem Gehorsam wird Jesus nach seiner Tempelaktion aus dem Verkehr gezogen, noch bevor ein Aufstand entsteht. Joh 11,47–50 fängt diesen Sachverhalt gut ein und fasst die politischen Überlegungen zutreffend zusammen: 47 Da beriefen die Hohepriester und die Pharisäer eine Versammlung des Hohen Rates ein. Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. 48 Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen. 49 Einer von ihnen, Kajaphas, der Hohepriester jenes Jahres, sagte zu ihnen: Ihr versteht nichts. 50 Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.
Auch wenn mit einer engen Zusammenarbeit zwischen Hohem Rat und Pilatus zu rechnen ist, wurde Jesus doch von einem Römer – und nicht von „den Juden“ (vgl. 1Thess 2,14f., s.o. I.2.2.4; s.u. V.9.2.6) – zum Tode verurteilt und von römischen Soldaten einer römischen Hinrichtung, der Kreuzigung, unterworfen.
84 85
Vgl. Krieger, Pilatusbiographie, 79 und 82. Dass der Sanhedrin im gesamten Frühjudentum die oberste religiöse, jurisdiktionelle und politische Instanz dargestellt habe, lässt sich nicht halten: Goodblatt, Principle, 77–130.
100
II. Geschichte des Frühjudentums
5.5
Die Ära von Agrippa I. bis Agrippa II.
5.5.1
Agrippa I. (37–44 n. Chr.)
Agrippa war der Enkel von Herodes d. Gr. und der Sohn des 7 v. Chr. von diesem hingerichteten Aristobulos. Agrippa war in Rom aufgewachsen und ein Jugendfreund des späteren Kaisers Claudius. Es gelang ihm noch unter Tiberius, die Gunst des Caligula zu erringen, dem er den Aufstieg zum Kaiser wünschte. Dies führte zu Verstimmungen mit Tiberius, der ihn in Haft setzen ließ. Als 37 n. Chr. Caligula tatsächlich Kaiser wurde, leitete dies den Aufstieg Agrippas ein (A.J. 18,236f.): Die Tetrarchie des Philippos war nach dessen Tod 34 n. Chr. zunächst vom Prokonsul von Syrien verwaltet worden, 37 n. Chr. wurde Agrippa mit diesem Gebiet betraut und durfte sogar den Königstitel tragen. Damit wurde er zum letzten jüdischen König. Nach der Verbannung des Herodes Antipas fiel 39 n. Chr. auch dessen Tetrarchie (Galiläa und Peräa) an Agrippa (A.J. 18,250–255; B.J. 2,181– 183) und zuletzt der Verwaltungsbezirk Iudaea, der 37–41 n. Chr. noch vom Präfekten Marullus verwaltet worden war. 5.5.2
Die Caligulakrise
Caligula forcierte einen starken Kaiserkult, der gerade mit Blick auf das Judentum zur Krise führte. Die Spannungen entluden sich zunächst in Alexandria, das eines der Zentren des Kaiserkultes darstellte, aber auch eine große jüdische Diasporagemeinde beheimatete. Drahtzieher der antijüdischen Seite war unter anderem der Rhetor Apion, mit dem sich Josephus in seiner Schrift Contra Apionem auseinandersetzt. Dabei ging es nicht ausschließlich um den Kaiserkult, sondern um das Ringen nach politischer Gleichberechtigung des dortigen Judentums. 38 n. Chr. stattete Agrippa von Rom kommend auf dem Weg nach Caesarea Maritima Alexandria eine Visite ab, wohl im Wunsch, die Position des dortigen Judentums zu stärken. Jahre zuvor hatte der Bruder des jüdischen Religionsphilosophen Philon von Alexandria († um 50 n. Chr.), Alexander, der Vorsteher der alexandrinischen Judengemeinde, Agrippa mit einem Kredit aus einer misslichen Lage geholfen. Die Unterstützung Agrippas führte zu heftigen Reaktionen seitens der alexandrinisch-griechischen Oberschicht, die den einfachen Mob gegen die Juden hetzte. Es kam zu Plünderungen jüdischer Stadtbezirke und zur Entweihung von Synagogen. Dies führte 40 n. Chr. zu einer jüdischen Gesandtschaft an Caligula unter der Leitung Philons, die in dessen Schrift Legatio ad Gaium (gemeint ist Gaius Caligula) beschrieben wird und auch in A.J. 18,259 Erwähnung findet. Der jüdischen Delegation war kein Erfolg beschert, zumal eine gegnerische Delegation unter Leitung des Apion die Juden diskreditierte. Obendrein weitete sich die Krise nun auch auf Jerusalem aus, nachdem Caligula 39/40 n. Chr. befohlen hatte, seine Statue im Tempel von Jerusalem aufzustellen. Nur die kluge Hinhaltetaktik des syrischen
5. Römische Zeit
101
Statthalters Petronius und die Intervention Agrippas I. verhinderten diese Freveltat. Petronius wurde daraufhin von Caligula der Selbstmord befohlen, doch kam der Ausführung 41 n. Chr. das tödliche Attentat der Prätorianergarde auf Caligula zuvor. 5.5.3
Der weitere Aufstieg Agrippas unter Claudius
Nachdem Claudius, ein Jugendfreund des Agrippa, den Kaiserthron bestiegen hatte, leitete das den weiteren Aufstieg Agrippas ein. Dieser besaß ja schon seit 37 v. Chr. die Tetrarchie des Philippos (verbunden mit dem Königstitel) und seit der Absetzung des Herodes Antipas 39 n. Chr. auch dessen Tetrarchie. Im Jahr 41 n. Chr. schließlich betraute ihn Claudius auch mit dem Verwaltungsbezirk Judäa. Damit zog sich Rom als direkte Ordnungsmacht aus Judäa wieder zurück.86 Dieser Wechsel war nicht weitreichendem diplomatischem Kalkül geschuldet, sondern der persönlichen Dankbarkeit gegenüber Agrippa, der Claudius bei dessen Machtübernahme nach der Ermordung Caligulas wertvolle Dienste geleistet hatte. Damit war unter Agrippa I. noch einmal das Reich seines Großvaters Herodes d. Gr. unter einem Zepter vereinigt. Agrippas I. Herrschaft wird in den späteren rabbinischen Quellen ausgesprochen positiv beurteilt, so in mSot 7,8 a–b: a) … Am Ausgang des ersten Festtages des (Laubhütten)festes, im achten (Jahr), im Jahr nach dem Sabbatjahr, machte man ihm, (dem König,) im Vorhof eine hölzerne Tribüne, und er saß darauf ... Der Synagogendiener brachte das Torabuch und gab es dem Synagogenvorsteher, und der Synagogenvorsteher gab es dem Priestervorsteher, und der Priestervorsteher gab es dem Hohepriester, und der Hohepriester gab es dem König … b) Der König Agrippa … empfing es stehend und las stehend, und die Gelehrten lobten ihn. Und als er zu (der Stelle) kam: „Du darfst über dich keinen fremden Mann einsetzen, der ein Nichtjude ist“ (Dtn 17,15), gingen seine Augen über vor Tränen; (weil er ein Edomiter war). Sie sagten zu ihm: „Fürchte dich nicht, Agrippa, du bist unser Bruder, du bist unser Bruder!“ (Ed. Correns)
Nach außen hin trat Agrippa als weltgewandter, liberaler Hellenist auf, nach innen hin allerdings verstand er sich als Anwalt jüdischer Interessen zu verkaufen, wie der Text mSot belegt. Energisch förderte er den Tempelkult und zeigte besonderen Eifer in der Befolgung der jüdischen Gesetze (A.J. 19,331).87 5.5.4
Weitere Taten und Ende des Agrippa
Agrippa versuchte auch, die Stadtmauern Jerusalems auszubauen. Die heute als „Dritte Mauer“ bezeichnete Fortifikation wurde von ihm begonnen, musste aber
86 87
Dazu: Eck, Rom, 43. Damit wird klar, dass Agrippa I. nicht nur die Pharisäer, sondern auch die Sadduzäer förderte. So zu Recht Kollmann, Einführung, 102.
102
II. Geschichte des Frühjudentums
auf Druck des syrischen Legaten abgebrochen werden, der solche Emanzipationstendenzen nicht gerne sah. Agrippa starb 44 n. Chr. plötzlich in Caesarea. Apg 12,19–23 und A.J. 19,343–352 stimmen darin überein, dass sich Agrippa in Caesarea von der Bevölkerung als Gott huldigen ließ: Apg 12,19 … Dann zog Herodes [Agrippa] von Judäa nach Cäsarea hinab und blieb dort. … 21 Am festgesetzten Tag nahm Herodes im Königsgewand auf der Tribüne Platz und hielt vor ihnen eine feierliche Ansprache. 22 Das Volk aber schrie: Die Stimme eines Gottes, nicht eines Menschen! 23 Im selben Augenblick schlug ihn ein Engel des Herrn, weil er nicht Gott die Ehre gegeben hatte. Und von Würmern zerfressen, starb er. A.J. 19,343 Drei Jahre waren ihm jetzt im Besitze von ganz Judäa verflossen, als er sich nach Cäsarea begab … Hier gab er zu Ehren des Kaisers Schauspiele … 344 Am zweiten Tage begab er sich mit Anbruch des Morgens in einem Kleide, das mit wunderbarer Kunst ganz aus Silber gewirkt war, zum Theater. Hier erschien das Silber, das von den ersten Strahlen der Sonne getroffen wurde, in wundervollem Glanze, so dass das Auge sich geblendet und erschauert zurückwenden musste. 345 Sogleich riefen seine Schmeichler von allen Seiten ihm zu, nannten ihn Gott und sagten: „Sei uns gnädig! Wenn wir auch bisher dich als Menschen geachtet haben, so wollen wir doch von nun an etwas Höheres als ein sterbliches Wesen in dir verehren.“ 346 Der König machte ihnen daraus keinen Vorwurf und wies ihre gotteslästerliche Schmeichelei nicht zurück … Nicht lange jedoch, so wurden seine Eingeweide von furchtbaren Schmerzen zerrissen, die gleich mit unerhörter Heftigkeit begannen. 347 Er sprang also auf und sagte zu seinen Freunden: „Seht, euer Gott muss jetzt das Leben lassen, und die Vorsehung macht all eure trügerischen Worte in einem Augenblick zu Schanden. Ihr nanntet mich unsterblich, und schon eile ich dem Tod in die Arme …“ … 350 Nachdem er noch fünf Tage die Qual in seinen Eingeweiden ertragen, verschied er endlich im vierundfünfzigsten Jahre seines Lebens und im siebenten seiner Regierung.
Hier wird deutlich, dass die „Frömmigkeit“ des Agrippa politischem Kalkül geschuldet war, da er sich in hellenistischem Umfeld paganer Huldigungsformen bediente.88 Ob das übereinstimmend bei Josephus und Lukas genannte ZerfressenWerden in den Eingeweiden auf ein Giftattentat hindeutet – etwa der Römer, denen die nationalpolitischen Ambitionen des Agrippa ein Dorn im Auge waren89 – muss dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich hätten die Römer auch andere Druckmittel gehabt, einen zu ambitionierten König in die Schranken zu weisen. 5.5.5
Agrippa II. (50–93 n. Chr.)
Als Agrippa I. 44 n. Chr. starb, überließ Kaiser Claudius das Gebiet nicht seinem erst siebzehnjährigen Sohn Agrippa II. (dem Urenkel Herodes d. Gr.), sondern restituierte den Verwaltungsbezirk Judäa, nun aber um jene Territorien erweitert, 88
89
Vgl. Kollmann, Einführung, 102. Anders Schäfer, Geschichte, 138, der zur persönlichen Integrität der „Frömmigkeit“ des Agrippa kein Urteil fällen möchte. Zur göttlichen Verehrung lebender Herrscher im Osten des Reiches vgl. Ebner, Stadt, 145. So die Vermutung von Schäfer, Geschichte, 138.
5. Römische Zeit
103
die Agrippa I. hinzugewonnen hatte. Agrippa II. erhielt als Entschädigung 49 n. Chr. zunächst das kleine Königreich Chalkis im Südlibanon und das Recht, die Oberaufsicht über den Jerusalemer Tempel zu führen und Hohepriester einzusetzen.90 Ab 53 n. Chr. reorganisierte Claudius die politischen Verhältnisse in der Levante (Josephus, B.J. 2,247/A.J. 20,137f.) und betraute Agrippa II. mit Arca, Abila und Philipposʼ ehemaliger Tetrarchie. Nero schließlich erweiterte Agrippas Reich um die Städte Julias in Peräa (Betsaida), Taricheae (Magdala) und Tiberias samt deren Umland (Josephus, A.J. 20,159; B.J. 2,252; Vita 37f.). Seine Herrschaft endete mit dem ersten Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.), danach lebte er bis zu seinem Tod (93 n. Chr.) in Rom. Im Neuen Testament wird Agrippa II. in Apg 25,13–26,32 erwähnt, wo der Präfekt Festus („Du bist von Sinnen, Paulus! Das viele Schriftstudium treibt dich zum Wahnsinn“; 26,24) Paulus vor Agrippa führen lässt. Nach der ausgesprochen wohlwollenden Interpretation des Lukas wäre es Paulus fast gelungen, Agrippa von seiner Sache zu überzeugen („Darauf sagte Agrippa zu Paulus: Bald überredest du mich und machst mich zum Christen“, 26,28). Lukas geht es darum, vor der gesamten Römischen Welt die politische Harmlosigkeit des Christentums in der Gestalt des Paulus durch Agrippa vor Augen zu führen. Dessen Schlusssatz lautet dann auch: „Dieser Mann tut nichts, was Tod oder Haft verdient. … Der Mann könnte freigelassen werden, wenn er nicht an den Kaiser appelliert hätte“ (Apg 26,31f.). Die in Apg 25–26 genannte Berenike war die leibliche Schwester des Agrippa, mit der er liiert war.
5.6
Römische Herrschaft in Judäa von 44–66 n. Chr.
Wie der Status Judäas zwischen 44–66 n. Chr. aussah, ist umstritten. Zumeist ist zu lesen, dass Judäa nun als eigenständige Provinz firmierte. Die Terminologie ist bei Josephus und Tacitus ebenso unscharf wie in der Zeit 6–41 n. Chr. (s.o. II.5.4.1).91 Allerdings schreibt Tacitus in den Annalen 12,23,1: Ituraeique et Iudaei defunctis regibus Sohaemo atque Agrippa provinciae Syriae additi („die Ituräer und Juden wurden nach dem Tod ihrer Könige Sohaemus und Agrippa Syrien zugeschlagen“). Somit spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass nach dem Jahr 44 der Status der Zeit 6–41 n. Chr. wiederhergestellt wurde (s.o. II.5.4.1): Damit war Judäa von 44–66 n. Chr. auch weiterhin der Oberaufsicht des syrischen Legaten mit senatorischem Rang (legatus Augusti pro praetore provinciae Syriae) unterstellt und wurde lokal von einem praefectus Iudeae aus ritterlichem Geschlecht verwaltet. Welchen Umfang der Verwaltungsbezirk Judäa nach 44 hatte, bleibt unklar, wahrscheinlich wurde er nun um jene Territorien erweitert, die Agrippa I. hinzugewonnen hatte. Damit aber geriet nun erstmals das notorisch rebellische 90 91
Zu Agrippa II. vgl. Bernett, Zeitrechnung, 25–37. Vgl. im Folgenden Eck, Rom, 45–51, und Schröter/Zangenberg, Texte, 66.
104
II. Geschichte des Frühjudentums
Galiläa, wo die Wurzeln der Widerstandsbewegung lagen, unter direkte römische Herrschaft und Steuerhoheit, was sich als Triebfeder für wachsenden Hass gegen die Römer auswirkte. Die Liste der Präfekte ist:92 1. Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.) 2. Tiberius Alexander (46–48 n. Chr.) 3. Ventidius Cumanus (48–52 n. Chr.) 4. Antonius Felix (52–60 n. Chr.)93 5. Porcius Festus (60–62 n. Chr.) 6. Albinus (62–64 n. Chr.) 7. Gessius Florus (64–66 n. Chr.) Wie man sieht, regierten die Präfekte stets nur zwei bis vier Jahre. Dieser rasche Wechsel war in der politisch brisanten Lage nicht gerade zuträglich. In der Darstellung des Josephus tragen diese Präfekten die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges 66 n. Chr. Josephus zeichnet sie alle als unfähig und auf den eigenen Vorteil bedacht, sodass die zelotische Bewegung wieder auflebte und zu jener inneren Dynamik führte, die zwangsläufig im Aufstand gegen die Römer enden musste. Allerdings wollte Josephus sowohl die führenden Schichten der Juden wie auch das römische Kaisertum exkulpieren: Für ihn war der Aufstand 66 n. Chr. bedingt durch die Misswirtschaft der Präfekten und ausgelöst durch einige verantwortungslose, kriminelle Elemente im Judentum. Die syrischen Legaten aus senatorischem Rang, die eigentlich das Sagen in Judäa hatten, konnte und durfte Josephus nicht belangen. Diese saßen zur Abfassungszeit von Josephus’ Schriften noch immer im römischen Senat und kamen als Sündenböcke nicht in Frage. Diese Gefahr bestand bei den aus ritterlichem Adel stammenden Präfekten nicht, sie waren zu unbedeutend.94 Die folgenden „Portraits“ der Präfekte folgen zwar faute des mieux der Darstellung des Josephus, sind aber stets cum grano salis zu lesen. Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.): Unter Cuspius Fadus trat ein gewisser Theudas auf, der in A.J. 20,97–99 und in Apg 5,36 genannt wird (in Apg chronologisch falsch zugeordnet, nämlich vor Judas Galilaios). Josephus berichtet, Theudas habe sich als „Prophet“ bezeichnet (A.J. 20,97). Hier wird deutlich, dass die Grenze zwischen politischen Revolutionären und religiösen Charismatikern fließend war (s.u. IV.2.2.1). Cuspius Fadus machte mit Theudas und seinen Anhängern kurzen Prozess; er sandte seine Reiterei, die ein Blutbad anrichtete, Theudas wurde enthauptet.
92 93
94
Vgl. Schäfer, Geschichte, 140–144. Zur umstrittenen Frage der Amtszeiten von Felix und Festus vgl. Schürer/Vermes/Millar, History, 460 und 467. Ebenso: Légasse, Paulus, 134–141. Vgl. Eck, Rom, 49.
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In dieser Zeit wollten Helena, die Königin von Adiabene und ihr Sohn, der Thronerbe Izates, zum Judentum konvertieren, eine Begebenheit, der Josephus in A.J. 20,17–96 viel Raum widmet.95 Als Izates 55 n. Chr. und seine Mutter kurz darauf starben, wurden beide in Jerusalem beigesetzt, das Grabmal der Königin Helena von Adiabene existiert noch heute (fälschlicherweise als „Tomb of the Kings“ bezeichnet).96 Tiberius Alexander (46–48 n. Chr.) war der Neffe des jüdischen Philosophen Philon von Alexandria. Er hatte sich vom jüdischen Glauben losgesagt und in römischen Diensten Karriere gemacht. Wahrscheinlich wurde es von Seiten der Juden als Provokation empfunden, dass er nun zum Präfekten eingesetzt wurde. Eine schlimme Hungersnot, die auch in Apg 11,28 genannt wird, verschärfte die ohnehin angespannte politische Situation zusätzlich. Tiberius Alexander gelang es, die beiden Zelotenführer Simon und Jakobus, die Söhne des Judas Galilaios, gefangen zu nehmen und zu kreuzigen (A.J. 20,102). Unter Ventidius Cumanus (48–52 n. Chr.) verschärften sich die Zustände weiter. Ein römischer Soldat, der während der Paschafeierlichkeiten am Tempel Wache stand, entblößte vor den im Tempel versammelten Pilgern sein Gesäß (B.J. 2,223– 227/A.J. 20,108). Im folgenden Aufstand und der Niederschlagung desselben durch die Römer wurden nach Josephus 30.000 Menschen getötet. Eine weitere Eskalation ereignete sich, als bei der Verfolgung von Aufständischen ein römischer Soldat eine Torarolle zerriss und verbrannte (B.J. 2,228–231/A.J. 20,113–117). Als Samaritaner jüdische Festpilger auf dem Weg nach Jerusalem überfielen, weigerte sich Cumanus – von den Samaritanern bestochen – die Mörder zu bestrafen. Dies führte zu weiteren Aufständen und brachte den Zeloten nach B.J. 2,238 enormen Zulauf. Cumanus wurde von Claudius abgesetzt und verbannt (B.J. 2,232–246/A.J. 20,118–136). Antonius Felix (52–60 n. Chr.) gehörte im Gegensatz zu den früheren Präfekten nicht dem Ritterstand an, sondern war ein freigelassener Sklave, der in Judäa mit brutaler Grausamkeit auftrat. Es gelang ihm zwar, des Bandenführers der Aufständischen, Eleazar, Sohn des Dinaios, habhaft zu werden (A.J. 20,161), doch nun entwickelten die Zeloten eine neue Strategie: Mit kurzen Krummdolchen unter dem Gewand verborgen, mischten sich diese unter die Menge und erdolchten ihre Feinde (B.J. 2,254–257/A.J. 20,164). Nach dem kurzen Krummdolch (lat. sica) 95 96
Vgl. dazu Broer, Konversion, 133–162. Vgl. Avigad, Art. Jerusalem, 751; Bieberstein/Bloedhorn, Jerusalem I, 129; dies., Jerusalem II, 153f. Bemerkenswert ist der gut erhaltene Rollstein, der den Eingang zu den Grabkammern verschließt – eine Illustration, wie man sich das Grab Jesu (Mk 15,46; 16,3f.) vorstellen kann.
106
II. Geschichte des Frühjudentums
wurden diese Sikarier genannt. Erstes Opfer wurde der Hohepriester Jonatan, den die Zeloten auf Wunsch von Felix ermordeten. Die jüdischen Widerstandskämpfer sahen also im eigenen Hohepriester einen Verräter, der die längste Zeit – bis ihn Felix fallen ließ – mit den Römern kollaboriert hatte. Unter der Herrschaft des Felix traten auch etliche Zeichenpropheten und Messiasprätendenten auf (s.u. IV.2.2.2). Felix bewertete solche Bewegungen ähnlich wie Aufständische, er ließ sie grausam verfolgen, zumeist endeten solche charismatisch-enthusiastischen Bewegungen in einem Blutbad, das die Römer anrichteten. Daran allerdings zeigt sich, wie eng politischer Widerstand durch Sozialbanditen und religiöser Widerstand durch Zeichenpropheten beisammen lagen (s.u. IV.2). Gegen Ende der Amtszeit des Felix war die Lage so chaotisch, dass sich die führenden jüdischen Familien ihre eigenen Banden zum Schutz zulegten, die sich nun aber untereinander bekriegten und das einfache Volk ausbeuteten. Felix wurde schließlich von Nero abgesetzt. Porcius Festus (60–62 n. Chr.): Unter Festus kam es zu einem denkwürdigen Streit zwischen den Jerusalemer Tempelpriestern und König Agrippa II. (A.J. 20,189– 195). Agrippa gefiel sich darin, von seinem neu errichteten Speisesaal den Priestern beim Opfern im Tempel zuzusehen. Es ist verständlich, dass die Priester diesem kurzweiligen Zeitvertreib nichts abzugewinnen vermochten und daher die Tempelmauer erhöhen ließen. Als Festus 62 n. Chr. plötzlich starb und sein Nachfolger Albinus noch nicht in Judäa eingetroffen war, nutzte der amtierende Hohepriester Ananos II. aus der Partei der Sadduzäer das Machtvakuum in Jerusalem, um im Sanhedrin das Todesurteil durch Steinigung gegen den Herrenbruder Jakobus zu erwirken (A.J. 20,197–200). Jakobus war nach dem Weggang des Petrus zur dominierenden Figur in der Jerusalemer Urgemeinde geworden. Gegen diese Hinrichtung aber protestierten die Pharisäer (die Josephus hier als die „eifrigsten Beobachter des Gesetzes“ kennzeichnet) und sandten dem über Alexandria anrückenden Albinus sogar eine Gesandtschaft entgegen, um gegen die Vorgehensweise des Ananos zu protestieren. Hier wird deutlich, dass der konservativ-gesetzesstrenge Jakobus noch voll und ganz als Mitglied des Judentums gewertet wurde und von seiner Grundhaltung den Pharisäern nahestand (s.o. I.2.2.4). Albinus (62–64 n. Chr.): Als Albinus in Palästina eintraf, ließ er Ananos sofort seines Amtes entheben. Aus der Reaktion des Albinus wird klar, dass sich der Hohepriester das Recht auf Kapitalgerichtsbarkeit nur widerrechtlich angeeignet hatte – dieses Recht lag damals ausschließlich in den Händen der römischen Prokuratoren. Ansonsten ist unter der Amtszeit des Albinus nur das völlige Scheitern der römischen Verwaltung gegenüber den Zeloten zu vermerken.
6. Vom Jüdischen Krieg bis zum Bar Kochba-Aufstand
107
Gessius Florus (64–66 n. Chr.): Waren die letzten Präfekte schon unfähig gewesen, so verschlechterten sich die Zustände unter Florus vollends. Josephus zeichnet ihn in B.J. 2,277 als besonders geldgierig. Als sich Florus allerdings am Tempelschatz vergriff, eskalierte die Lage und es kam zum Ersten Jüdischen Krieg.
6.
Vom Jüdischen Krieg bis zum Bar Kochba-Aufstand
6.1
Der Erste Jüdische Krieg (66–70 n. Chr.)
6.1.1
Vorgeschichte
Im Frühjahr des Jahres 66 n. Chr. (B.J. 2,293; 2,315) entnahm der Präfekt Gessius Florus der Tempelkasse siebzehn Talente. Dies wäre geschehen, weil es der Kaiser so gefordert habe – berichtet Josephus lapidar. Es kann gut sein, dass die aufgrund der desolaten politischen Lage ständig sinkenden Steuereinnahmen solch eine Aktion in den Augen des Florus nötig gemacht hatten. Möglich wäre auch, dass zelotische Kreise die Bevölkerung zu einem Steuerboykott bewegt hatten und sich Florus das Geld auf diese Weise zu holen trachtete. In jedem Fall war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Agrippa II. und seine Schwester Berenike versuchten noch zu vermitteln, doch wurden auch sie von den Ereignissen überrollt. Der Tempelhauptmann Eleazaros, der Sohn des Hohepriesters Ananias, verfügte, dass die Opfer für den Kaiser eingestellt würden, die seit Bestehen des römischen Verwaltungsbezirks Judäa zweimal täglich im Tempel dargebracht wurden (B.J. 2,409f.). Damit war Jerusalem in den Aufstand gegen Rom getreten. 6.1.2
Innerjüdische Richtungskämpfe und der Beginn des Kriegs
Wie vielschichtig die politischen Interessen im damaligen Judentum gelagert waren, kann man an den nun ausbrechenden Spannungen ersehen: Die Friedenspartei, bestehend aus der romtreuen Mehrheit der Aristokratie und des Bürgertums Jerusalems, war gegen den Krieg und wollte den Frieden erhalten. Die priesterlich-aristokratischen Revolutionäre um den Tempelhauptmann Eleazaros befürworteten einen Aufstand gegen Rom. Was genau Eleazaros – im Gegensatz zu seinem Vater, dem Hohepriester Ananias, der die Friedenspartei anführte – zu diesem Schritt bewogen hatte, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich wollte diese Gruppe die eigene Macht ausbauen und sichern. Den Zeloten und ganz besonders der radikalen Zelotenfraktion, den Sikariern, ging es auch um eine Neuordnung der sozialen Verhältnisse im Land. Ichre Motive waren neben religiöser auch sozio-ökonomischer Natur. Das zeigt sich daran, dass diese Gruppe sofort das Haus des Hohepriesters Ananias und den Palast des Agrippa II. plünderte und das Archiv mit den Steuerlisten zerstörte (B.J. 2,427f.).
108
II. Geschichte des Frühjudentums
Zwischenzeitlich hatte Menachem, ein Sohn des Judas Galilaios, das Zeughaus der Feste Masada geplündert und zog nun feierlich in Jerusalem ein. Dass ihm die Bevölkerung dabei wie einem König huldigte (B.J. 2,434), macht klar, dass in der Aufstandsbewegung messianische Ansprüche mitschwangen und „zeigt die Verquickung von religiösen, sozialen und militärischen Faktoren bei den Aufständischen.“97 Als Nächstes eroberte Menachem den Herodespalast, nur die Befestigungstürme Hippikos, Phasael und Mariamme blieben in der Hand der Römer. Als Menachem aber den Vater des Tempelhauptmanns Eleazaros, den Hohepriester Ananias, der die Friedenspartei anführte, ermorden ließ, schlug Eleazaros zurück und ließ nun seinerseits Menachem töten. Die Anhänger Menachems zogen sich daraufhin nach Masada zurück, wo sie erst am Ende des Krieges eine Rolle spielten, unter der Führung von Eleazaros ben Jair, dem Neffen Menachems und Enkel des Judas Galilaios. Erst im Herbst 66 n. Chr. griff Cestius Gallus, der Legat Syriens, in das Geschehen ein. Doch geriet er mit seiner 12. Legion in der Nähe von Bet Horon in einen Hinterhalt und wurde vernichtend geschlagen. Erst nach dieser Niederlage sprangen auch gemäßigte jüdische Gruppen auf den fahrenden Zug und schlossen sich den Aufständischen an. In Jerusalem übernahm Ananos II., jener ehemalige Hohepriester, der für die eigenmächtige Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus abgesetzt worden war, das Kommando. Er ließ die sogenannte „Dritte Mauer“ im Norden Jerusalems fertigstellen, die schon Agrippa I. begonnen hatte. 6.1.3
Flavius Josephus und die Situation in Galiläa
Joseph, Sohn des Matthias (B.J. 1,3/Vita 7), uns heute besser bekannt als Flavius Josephus (s.u. III.8.1), wurde zum Führer des Aufstands in Galiläa ernannt (B.J. 2,568). In und um seine Person brechen einmal mehr die vielschichtigen Motivationen der Aufstandsbewegung und die innerjüdischen Konflikte der damaligen Zeit auf. Josephus als Angehöriger des Jerusalemer Priesteradels kam bei seiner Ankunft in Galiläa in Konflikt mit dem Partisanenführer Johannes von Gischala (B.J. 2,585). Johannes war erstens kein Aristokrat und auch nicht erfreut darüber, dass die Jerusalemer nun in Galiläa die Fäden ziehen wollten. Obendrein hatten Leute des einfachen Volkes – wie Johannes – auch kaum politische Alternativen, während Josephus später ohne größere Bedenken zu den Römern überlaufen konnte. Die Skepsis eines Johannes von Gischala gegen den hellenistisch gebildeten Priestersohn Joseph ist also verständlich. Josephus entging nur mit Mühe den Mordanschlägen, die Johannes gegen ihn verübte. Kennzeichnend für die vielschichtige Situation in Galiläa sind auch die drei Fraktionen, mit denen Josephus in der Stadt Tiberias konfrontiert wurde, wie er in Vita 32–38 berichtet:98
97 98
Schäfer, Geschichte, 146. Dazu: Tiwald, Freedom, 117.
6. Vom Jüdischen Krieg bis zum Bar Kochba-Aufstand
109
32 Drei Parteien gab es in der Stadt. Die erste bestand aus lauter angesehenen Männern mit Julius Capellus an der Spitze. 33 Dieser Capellus und sein Anhang, nämlich Herodes, des Miaros Sohn, Herodes, des Gamalos Sohn, und Kompsos, der Sohn des Kompsos, dessen Bruder Krispos früher einmal Statthalter unter Agrippa gewesen war, jetzt aber auf seinen Gütern jenseits des Jordan weilte, 34 rieten zur Treue gegen die Römer und den König, und nur Pistos ließ sich, da er leicht erregbaren Gemütes war, von seinem Sohne Justus aufhetzen und trat der Meinung jener Männer nicht bei. 35 Die zweite Partei, die sich aus dem niederen Pöbel zusammensetzte, war entschieden für den Krieg. 36 An der Spitze der dritten Partei endlich stand des Pistos Sohn Justus, der sich zwar den Anschein gab, als sei er inbetreff etwaigen kriegerischen Vorgehens noch unschlüssig, gleichwohl aber eine Änderung der bestehenden Verhältnisse herbeiwünschte, weil er bei einem solchen Umsturz seine eigene Macht zu begründen hoffte. 37 In dieser Absicht trat er unter die Volksmenge und suchte derselben begreiflich zu machen, dass ihre Stadt von jeher zu Galiläa gehört habe und zu den Zeiten ihres Gründers, des Tetrarchen Herodes, der Sepphoris unter Tiberias gestellt, die erste Stadt im Lande gewesen sei. Diesen Vorrang habe sie auch unter König Agrippa dem Vater nicht eingebüßt, sei vielmehr im Besitz desselben geblieben bis auf Felix, den Landpfleger von Judaea. 38 Jetzt erst, behauptete er, sei sie ihres Vorzugs verlustig gegangen, seit Nero sie dem jüngeren Agrippa zum Geschenk gemacht habe. Schnell sei nun Sepphoris, nachdem es sich den Römern unterworfen, die Hauptstadt Galiläas geworden, und Tiberias habe den königlichen Hof sowie das Archiv verloren.
In Tiberias gab es also drei Parteien: 1) Die Friedenspartei, getragen von den Reichen, die Angst um den Verlust ihrer Stellung hatten. 2) Die Kriegspartei aus Armen, die nichts mehr zu verlieren hatten. 3) Personen, die zwar einen gewissen Wohlstand und Bildung besaßen, doch die – wie Justus, der Sohn des Pistus – hofften, in den entstehenden Tumulten zu profitieren. Solange Tiberias als Hauptstadt Macht und Geld besaß, waren auch Leute wie Justus mit der Römerherrschaft zufrieden. Erst als 61 n. Chr. Agrippa II. die Hauptstadt nach Caesarea-Philippi (heute: בניאס, Banjas) verlegte,99 regte sich Widerstand. Religion, Politik und soziale Spannungen ergeben hier eine explosive Gemengelage und zeigen, wie fragil der Friede war und wie multifaktoriell Entscheidungen über Kooperation oder Krieg mit den Römern gefällt wurden. Auch die Stadt Sepphoris wies eine ähnliche Schaukelpolitik auf. Nach dem Tod des Herodes war die Stadt ein Zentrum der Aufstände gewesen und von den Römern komplett zerstört worden. Nun entschied man sich, mit den Römern zu kollaborieren und nicht auf Seiten der Aufständischen in den Krieg einzutreten. Das Bemühen, sich den Römern anzudienen, ging so weit, dass man Münzen zu Ehren Vespasians schlug und mit dem Titel εἰρηνοποίος, „Friedensstifter“, versah!100 Die Rivalität zwischen den Städten Sepphoris und Tiberias und das Ringen um die Gunst der Römer (wie es in der Rede des Justus aus Tiberias durchschimmert), mag dabei wohl auch eine Rolle gespielt haben. Als drittes Beispiel kann auch noch die Stadt Gamala genannt 99 100
Vgl. Hirschfeld, Art. Tiberias, 1464. Vgl. Hirschfeld, Art. Tiberias, 1324.
110
II. Geschichte des Frühjudentums
werden. Diese eindeutig jüdische Stadt (vgl. Synagoge und Miqwe, die dort gefunden wurden),101 weigerte sich zunächst, in den Krieg gegen die Römer einzutreten (Vita 46), entschied sich dann aber anders (Vita 177). Auch dies belegt, wie vielschichtig die Situation war. 6.1.4
Vespasian in Galiläa (67 n. Chr.)
Nach der Niederlage des Cestius beauftragte Nero den in militärischen Belangen erfahrenen Vespasian mit der Niederschlagung des Aufstands. Vespasian rückte Anfang 67 n. Chr. mit den in Syrien stationierten Legionen und Hilfstruppen der Vasallenkönige (auch von Agrippa II.) gegen Galiläa vor. Verstärkt wurde er durch die fünfzehnte Legion unter Leitung seines Sohnes Titus. Insgesamt verfügte er über eine sechzigtausend Mann starke Kampftruppe. Nachdem Vespasian Gamala102 und Gischala erobert hatte und Sepphoris sich auf die Seite der Römer geschlagen hatte, fiel der Rest Galiläas fast kampflos in seine Hände. Nur die Festung Jotapata nördlich von Sepphoris leistete unter Führung Josephusʼ längeren Widerstand. Als die Römer schließlich zum finalen Sturmangriff ansetzten, wählte die Mehrzahl der jüdischen Widerstandskämpfer den Freitod, nur Josephus entzog sich dem Selbstmord und wurde von den Römern gefangengesetzt. 6.1.5
Bürgerkrieg in Jerusalem (68–69 n. Chr.)
Johannes von Gischala war die Flucht von Galiläa nach Jerusalem gelungen, wo er einen Bürgerkrieg entfachte und die Macht an sich riss. Dann ging er daran, die prorömische Oberschicht ebenso wie die hohepriesterlichen Familien auszuschalten: das Amt des Hohepriesters wurde nur mehr durch Los zugeteilt (B.J. 4,138– 157). Auch die gemäßigte Partei um den Pharisäer Simon ben Gamaliel (s.u. II.6.2.4) wurde zerschlagen. Vespasian eroberte inzwischen Peräa. Als am 9. Juni 68 n. Chr. Nero starb, ließ er aufgrund der unsicheren Lage in Rom alle umfassenderen Kampfhandlungen ruhen. Im Jahre 69 n. Chr. drang Simon bar Giora in die Stadt Jerusalem ein und entfachte einen neuen Bürgerkrieg, nun gegen Johannes von Gischala gerichtet. Die Anhänger des Simon setzten sich aus Kleinbauern und befreiten Sklaven zusammen, Simon selbst war, wie sein Beiname sagt, Sohn eines Proselyten (aram. giora, „Proselyt“). Damit wird vollends klar, dass bei den Revolten und Bürgerkriegen stets auch starke soziale Faktoren bestimmend waren. Die Unruhen in Jerusalem ermöglichten Vespasian, den Rest des jüdischen Kernlan101 102
Vgl. Gutman, Art. Gamala, 460f. In Gamala kann man die Erstürmung der Stadt durch die Römer gut rekonstruieren. Diese hatten im Hagel aus Ballistenkugeln, Torsionsgeschützen und Pfeilen (die Reste all dieser Waffen wurden in Gamala gefunden) in der Nähe der Synagoge eine Bresche in die Stadtmauer geschlagen und die Stadt erobert. Vgl. Gutman, Art. Gamala, 459–463.
6. Vom Jüdischen Krieg bis zum Bar Kochba-Aufstand
111
des bis auf Jerusalem und die Festungen Herodeion, Masada und Machairos einzunehmen. Vespasian wurde am 1. Juli 69 von den ägyptischen Legionen zum Kaiser ausgerufen. Bis Frühsommer 70 n. Chr. wartete er in Alexandria die unsichere Lage ab, um erst dann nach Rom zu gehen. Ab da führte sein Sohn Titus den Krieg gegen die Juden weiter. In Jerusalem aber standen sich nun die Fraktion des Johannes von Gischala (am Tempelberg verschanzt), jene des Simon bar Giora (in der Oberstadt sitzend) und eine Gruppe um den Tempelhauptmann Eleazaros (im inneren Tempelvorhof eingeschlossen) feindlich gegenüber, wie B.J. 5,22–26 berichtet. In dieser zerfahrenen Situation ist es kein Wunder, dass die Christen nach dem Zeugnis des Eusebius (HE 3,5,3) die Stadt verließen und nach Pella in die Dekapolis flohen (s.o. I.2.2.6). 6.1.6
Die Eroberung Jerusalems (70 n. Chr.)
Die Belagerung Jerusalems begann wenige Tage vor dem Paschafest 70 n. Chr. Titus hatte die 5., 10., 12. und 15. Legion zur Verfügung. Während des Paschafestes ließ Johannes von Gischala den Tempelhauptmann Eleazaros ermorden und einigte sich mit Simon bar Giora auf einen gemeinsamen Abwehrkampf. Am Mount Scopus (hebr. הַ ר הַ צּוֹפִ ים, Har ha-Zofim) nordöstlich von Jerusalem errichtete Titus das Hauptlager, am Ölberg ein Nebenlager. Die Römer setzten für ihren Angriff Belagerungstürme (B.J. 5,292) und schweres Kriegsgerät ein. Der Durchbruch gelang zunächst durch die neu errichtete „Dritte Mauer“, bald fiel auch die „Zweite Mauer“ (s.o. II.4.2.1). Jetzt verblieben nur mehr die separat befestigte Oberstadt, die Unterstadt und der Tempelbezirk samt Festung Antonia. Die römischen Legionen schlossen einen Belagerungsring um die ganze Stadt (vgl. Lk 21,20), in Jerusalem brach eine entsetzliche Hungersnot aus. Angebote zur Kapitulation hatten die Belagerten stets ausgeschlagen, sodass sie bei der Eroberung die ganze Wut der Römer traf. Am 9. Av (= Ende August) 70 n. Chr. wurde der Tempel erstürmt und niedergebrannt.103 Kurz darauf fiel auch die vom Tempel durch das Tyropoiōn-Tal getrennte Oberstadt. Die beiden Führer der Aufständischen wurden für den Triumphzug nach Rom geschickt. 6.1.7
Die Erstürmung Masadas (74 n. Chr.)
Nach der Eroberung Jerusalems kehrte Titus nach Rom zurück, wo er 71 n. Chr. seinen Triumphzug hielt. Am Forum Romanum ist bis heute der Triumphbogen des Titus zu sehen, auf dem die geplünderten Kultgegenstände des Tempels (Me103
Nach B.J. 6,220–270 begann der Sturm auf den Tempel am 8. Av und war am 10. beendet. Rabbinische Tradition machte daraus den 9. Av als Zeitpunkt der Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels. Der Erste Tempel wurde am 7. (2Kön 25,8f.) oder 10. Av (Jer 52,12f. und A.J. 10,135/B.J. 5,250) 586 v. Chr. zerstört. Vgl. Galor/Bloedhorn, Jerusalem, 68 und 269.
112
II. Geschichte des Frühjudentums
nora, Silbertrompeten und Schaubrottisch) dargestellt sind. Offiziell war damit der Krieg abgeschlossen. Die Eroberung der restlichen Festungen überließ Titus dem Statthalter Judäas, Lucius Flavius Silva Nonius Bassus (zumeist Flavius Silva bezeichnet). Herodeion und Machairos ergaben sich bald, doch auf Masada hielten sich die Aufständischen unter dem Zelotenführer Eleazaros ben Jair, einem Enkelsohn des Judas Galilaios, länger. Die römischen Belagerungsbauten (acht Belagerungslager, eine Belagerungsmauer um das Felsmassiv von Masada, eine Rampe zur Erstürmung der Festung) zählen zu den besterhaltenen römischen Belagerungsbauten überhaupt.104 Der Belagerungsring (B.J. 7,304) war 1,5 Meter breit und 4,6 Kilometer lang und vermittelt einen guten Eindruck, was Lk 21,20 über die Belagerung Jerusalems sagt („Wenn ihr aber seht, dass Jerusalem von Heeren eingeschlossen wird …“). Da die Rebellen über sehr reiche Wasser- und Lebensmittelvorräte verfügten (B.J. 7,296–298), entschloss sich Flavius Silva zum Sturmangriff über eine riesige Rampe, die er im Westen der Festung aufschütten ließ (B.J. 7,305f.), und die noch heute zu sehen ist. Nach B.J. 7,308–310 führten die Römer über diese Rampe einen Belagerungsturm und einen Sturmbock herbei, mithilfe derer es gelang, eine Bresche in die Festungsmauer zu brechen. Nach einem dramatischen Kampf, in dem der beständig drehende Wind das durch Brandgeschütze gelegte Feuer wechselweise gegen den Belagerungsturm oder gegen die mit Holz gesicherte Bresche in der Verteidigungsmauer trieb (B.J. 7,315–318), sieht Josephus im Scheitern der Aufständischen göttliche Vorsehung (ἐκ δαιμονίου προνοίας) walten. Die Aufständischen begingen Selbstmord. Ob man der dramatischen Darstellung des Josephus Glauben schenken darf, ist Gegenstand archäologischer Dispute, zuletzt hat sich die Diskussion zugunsten der Glaubwürdigkeit geneigt.105
6.2
Zwischen den Kriegen (70–132 n. Chr.)
6.2.1
Politische und ökonomische Folgen des Krieges
Vor dem Krieg war Judäa ein eigenständiger Verwaltungsbezirk der syrischen Provinz unter der Leitung eines eigenen Präfekten, welcher der Oberaufsicht des Legaten von Syrien unterstellt war. Nun wurde Judäa eine selbständige Provinz unter der Leitung eines Senators als Statthalter in prätorischem Rang, also ein legatus Augusti pro praetore provinciae Iudaeae.106 Hauptstadt der Provinz war nun 104 105
106
Vgl. Arubas/Goldfus, Art. Masada, 1937. Arubas/Goldfus, Art. Masada, 1939, bezweifeln, dass die Sturmrampe solche Belagerungsmaschinen habe tragen können. Anders: Davies/Magness, Recovering, 55–65: „Josephus’ description of the Roman assault on Masada is supported by the archaeological evidence, and offers the simplest and most economical explanation of events“ (a.a.O. 63). Vgl. Eck, Rom 82f. und 109; Schröter/Zangenberg, Texte, 66.
6. Vom Jüdischen Krieg bis zum Bar Kochba-Aufstand
113
Caesarea Maritima. Die neue Entwicklung implizierte, dass eine eigene Legion in Judäa stationiert wurde, die legio X Fretensis, die auch am Krieg teilgenommen hatte, und deren Legionsstempel man auch heute noch allenthalben in Israel sehen kann. Die meisten jüdischen Bauern waren nun zu coloni (Pächtern) geworden, die das Land gegen Pachtzins bewirtschafteten und eine Mittelstellung zwischen Freien und Sklaven einnahmen. Das in mGit 5,6 erwähnte sikarikon-Gesetz verdeutlicht, wie schwierig sich die Verhältnisse infolgedessen gestalteten.107 B.J. 7,218 berichtet von der Einführung des fiscus Iudaicus: Die Tempelsteuer, die früher an den Jerusalemer Tempel abgeliefert wurde, musste nun in Gestalt von zwei Drachmen an den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom abgeführt werden, was besonders demütigend für einen frommen Juden war (s.o. I.2.2.8). 6.2.2
Die Folgen des Krieges für die jüdischen Gruppierungen
Mit der Zerstörung des Tempels ging eine Ära zu Ende. Allerdings war man sich dessen 70 n. Chr. noch gar nicht bewusst. Auch nach der Zerstörung des Ersten Tempels 586 v. Chr. hatte es eine Wiedererrichtung des Tempels gegeben, sodass man im Jahre 70 schwerlich vermuten konnte, dass der zerstörte Tempel nicht mehr aufgebaut würde.108 Oft ist zu lesen, dass nach der Katastrophe des Jahres 70 von den Gruppierungen der Sadduzäer, Pharisäer, Essener und Zeloten nur die Fraktion der Pharisäer übriggeblieben wäre, aus der sich dann die Rabbinen entwickelt hätten.109 Dies allerdings trägt den historischen Entwicklungen zu wenig Rechnung, wie wir bereits gesehen haben (s.o. I.1.3.1). Die Entstehung des Rabbinischen Judentums war kein monolinearer Weg, der direkt von den Pharisäern zu den Rabbinen gelaufen wäre. In das Gedankengut des Rabbinischen Judentums floss auch viel sadduzäisches und essenisches Gedankengut mit ein. 6.2.3
Regruppierung in Javne durch Jochanan ben Zakkai
Rabbinischen Berichten zufolge soll Jochanan ben Zakkai, der ein Anhänger der Friedenspartei war, in den Kriegswirren des Jahres 70 aus Jerusalem entkommen sein. Angeblich stellte er sich tot und ließ sich von zwei Schülern aus dem belagerten Jerusalem tragen. Historisch fassbar ist, dass Jochanan ben Zakkai nach der Zerstörung Jerusalems in Javne (einer Stadt am Mittelmeer) an einer religiösen Erneuerung des Judentums interessierte Kenner der heiligen Schriften und Traditionen um sich sammelte und die frühe rabbinische Bewegung bis zum Bar
107
108 109
Vgl. Schäfer, Geschichte, 158; Stemberger, Judentum, 16; Shahar, Quarter, 191–203; Hengel, Zeloten, 54–56. Vgl. Schäfer, Geschichte, 159. Ebenso Stemberger, Einleitung, 15. So z.B. Schäfer, Geschichte, 160. Anders aber Kollmann, Einführung, 119.
114
II. Geschichte des Frühjudentums
Kochba-Aufstand dort ihr Zentrum hatte.110 Für die spätere rabbinische Überlieferung wurde Jochanan ben Zakkai damit zum Begründer des rabbinischen Judentums, doch liefen die Entwicklungsprozesse wesentlich komplexer. In der Zeit von Javne „fühlte man noch gar keinen Bruch mit der Zeit vor 70. Dessen wurde man sich vielmehr erst in Uscha [sc. nach dem Zweiten Jüdischen Krieg] bewußt, als klar war, daß es in absehbarer Zeit keinen Tempel und keine Restauration früherer Zustände geben werde ...“111 Wie schon oben erörtert (s.o. I.2.2.3), gab es in dieser Zeit weder eine „Synode von Javne“, noch wurde dort der biblische „Kanon“ des Judentums (s.u. V.3.1) abgeschlossen, und genauso wenig mit der birkat ha-minim (dem „Ketzersegen“) eine Abgrenzung vom Christentum bewirkt.112 6.2.4
Gamaliel II.
Nicht ganz klar ist, wie lange Jochanan ben Zakkai der wichtigste Lehrer in Javne war. Wahrscheinlich übernahm zwischen 80 und 90 n. Chr. Gamaliel II. (eigentlich richtig: Gamliel, )גמליאלdie Leitung. Gamaliel II. war Sohn des Simeon ben Gamaliel I., der laut Josephus, Vita 191f. vor 70 ein führender Pharisäer in Jerusalem war. Auch schon der Großvater Gamaliel I. war nach Apg 5,34 Pharisäer, lässt in der Darstellung des Lk Sympathien für die Jesusanhänger erkennen und wird in Apg 22,3 (historisch wohl nicht ganz korrekt) als Lehrer des Paulus gezeichnet.113 Nach dem Tod Gamaliels II. (zwischen 100 und 120) ging die Leitung nicht direkt auf seinen ältesten Sohn Simeon über. Hier waren es Lehrer wie Aqiva (in Bnei Braq bei Tel Aviv) und Jischmael (im Süden Judäas), welche die Führung übernahmen. 6.2.5
Diaspora-Aufstand unter Trajan und die Lage in Judäa
Während Trajans Abwesenheit in Mesopotamien anlässlich einer Kampagne gegen die Parther erhoben sich 115 n. Chr. die Juden in Ägypten und der Kyrenaika, gefolgt von den Juden in Zypern und Mesopotamien.114 Dieser Aufstand (115–117) blieb größtenteils auf die Diaspora beschränkt, wahrscheinlich kam es aber auch in Judäa zu Unruhen. Die Angst, dass die Revolte auch auf Judäa übergreifen könnte, bewog Trajan dazu, dort eine zweite Legion zu stationieren: Die legio X Fretensis wurde von der legio II Traiana verstärkt, die um 127 n. Chr. von der legio
110 111 112 113
114
Vgl. Stemberger, Judentum, 17f.; ders., Pharisees, 243. Stemberger, Einleitung, 15. Gegen Kollmann, Einführung, 121. Dazu s.u. V.9.1.1 und Tiwald, Hebräer, 170–173. Zu Gamaliel I. und II.: Neusner/Thoma, Pharisäer, 198–203; Stemberger, Pharisees, 243. Zu den Diaspora-Aufständen: Eck, Rom, 112–115; Pucci Ben Zeev, Diaspora, bes. 123–257; Hasselhoff, Euseb, 191–202; Maier, Geschichte, 98–106; Schröter/Zangenberg, Texte, 66.
7. Die Zeit ab dem Bar Kochba-Aufstand
115
VI Ferrata abgelöst wurde.115 Für Judäa würde dies bedeuten, dass die Provinz nun nicht mehr von einem prätorianischen, sondern von einem konsularen Statthalter geleitet wurde: Bei zwei Legionen hatte stets ein ehemaliger Konsul, nicht ein ehemaliger Prätor das Kommando.116 Damit standen vor dem Bar Kochba-Aufstand nun rund 20.000 Mann (zwei Legionen mit ihren Hilfstruppen) in Judäa.
7.
Die Zeit ab dem Bar Kochba-Aufstand
7.1
Der Bar Kochba-Aufstand (132–135 n. Chr.)
7.1.1
Die Vorgeschichte
Zunächst brachte die Herrschaft Hadrians (117–138 n. Chr.) nach den Unruhen unter Trajan eine gewisse Konsolidierung der politischen Verhältnisse. Hadrian war auf eine ausgesprochene Friedenspolitik bedacht. Teil dieser Politik waren allerdings auch der Ausbau bzw. die Neugründung von Städten und eine damit verbundene Hellenisierung. Wahrscheinlich wollte Hadrian schon vor dem Krieg Jerusalem als Aelia Capitolina neu errichten lassen, was wohl den Aufstand auslöste.117 Klar wird im Bar Kochba-Aufstand allerdings auch, dass nicht nur politische Überlegungen, sondern messianische Erwartungen federführend waren, welche die Juden zu solch einer chancenlosen Revolte verleiteten. 7.1.2
Bar Kochba und der messianische Anspruch
Zum Namen des Aufstandsführers überliefern die Quellen unterschiedliche Informationen. Auf den von ihm selbst geprägten Münzen erscheint nur der Vorname Schim‘on ()שמעון. Sein Beiname lautet in den von ihm erhalten hebräischen/aramäischen Briefen,118 Ben bzw. Bar Kosiba ()שמעון בן כוסבא, in einem griechischen Papyrus Chōsiba. Bar Kochba ( )בר כוכבאist dann die Umdeutung des Namens in „Sternensohn“, offensichtlich als messianische Anspielung an Num 24,17, wie es in jTaan 4,8, fol. 68d heißt: Rabbi Schim‘on b. Yoḥai lehrte: ‘Aqiva, mein Meister, legte aus: Ein Stern [kokhav] tritt hervor aus Jakob (Num 24,17) – Koziva tritt hervor aus Jakob. Als Rabbi ‘Aqiva bar Koziva sah, sagte er: Das ist der messianische König! Rabbi Yoḥanan ben Torta sagte zu ihm:
115 116 117 118
Vgl. Schäfer, Geschichte, 172.; Eck, Rom, 145. Vgl. Schäfer, Geschichte, 157; Eck, Rom, 113f.; Pucci Ben Zeev, Diaspora, 254–256. So Hasselhoff, Euseb, 191–202; vgl. Eck, Aufstand, 261. In Wadi Murabaat am Toten Meer wurden Dokumente aus dem Umfeld Bar Kochbas gefunden, in Nachal Chever Briefe mit seiner Unterschrift (Stemberger, Judentum, 21).
116
II. Geschichte des Frühjudentums ‘Aqiva! Gras wird aus deinem Kiefer wachsen, und immer noch wird der Sohn Davids nicht kommen.
Die Prophezeiung Num 24,17 wird hier messianisch interpretierte und per Buchstabenvertauschung in den Beinamen Schim‘ons hingelesen. Ähnlich wird auch in der Damaskusschrift der Qumrangemeinde (CD 7,18–21) Num 24,17 messianisch gedeutet und der „Lehrer der Gerechtigkeit“ mit dem „Stern aus Jakob“ gleichgesetzt, sowie das „Zepter“ mit dem messianisch verstandenen „Fürst der ganzen Gemeinde“. Auch Bar Kochba ließ sich auf seinen Münzen als „Fürst“ (נ ִָשׂיא, nasi’) titulieren.119 Später wird auch Eusebius HE 4,6,2 auf die messianische Bedeutung des Beinamens Bar Kochbas verweisen. Nachdem Bar Kochba gescheitert war, deuteten rabbinischen Schriften seinen Beinamen als „Bar Koṣiba“ (בר כוזיבא, Text oben: „Koziva“), „Lügensohn“. Vielleicht lässt das durchblicken, dass schon vor dem Aufstand nicht alle Kreise in Israel mit den messianischen Ansprüchen Schim‘ons einverstanden waren. Justin berichtet in Apol 1,31,6, dass Bar Kochba auch gegen die Christen vorgegangen sei. Dies ist die einzige diesbezügliche Auskunft, die uns erhalten ist. Grund für solch eine Vorgehensweise könnten divergierende messianische Ansprüche sein, die für Christen klarerweise mit Jesus verbunden waren. Sollte die Notiz Justins stimmen, so liegt der Grund dafür also weniger in der religiösen Trennung von „Juden“ und „Christen“, sondern im innerjüdischen Konflikt zwischen unüberbrückbaren messianischen und politischen Anschauungen. Auf den Münzprägungen Bar Kochbas wird auch der Priester El‘azar genannt. Es ist gut möglich, dass neben dem politischen Gesalbten Bar Kochba El‘azar die Funktion des priesterlichen Gesalbten übernahm. Solch eine Aufteilung der Funktionen ist uns auch aus Qumran bekannt (s.u. III.4.6.3). 7.1.3
Der Verlauf der Revolte
Geographisch beschränkte sich die Erhebung auf den Süden der Provinz Judäa, Galiläa war nur peripher betroffen. Aller Wahrscheinlichkeit nach gelang es Bar Kochba nicht, Jerusalem zurückzuerobern. Auf den von ihm geprägten Münzen finden sich zwar dem Tempelkult entlehnte Motive, doch hat man bei Ausgrabungen in Jerusalem nur zwei Bar Kochba-Münzen gefunden (von insgesamt 15.000 ergrabenen Münzen).120 Dies legt nahe, dass Jerusalem nicht Teil des von Bar Kochba eroberten Territoriums war. Schon allein daran wird klar, wie klein und letztlich aussichtslos diese Revolte von Anfang an war. Dennoch gelang es Bar Kochba zunächst, den Statthalter Tineius Rufus zu überrumpeln. Dabei machte sich Bar Kochba Guerillataktik zunutze und versteckte sich nach Überfällen in einem System aus unter-
119 120
Zum Titel nasi’ vgl. Schäfer, Geschichte, 177, 181–186. Vgl. auch Eck, Rom, 116f. Trotzdem verlief der Aufstand zu Beginn erstaunlich erfolgreich – wohl dem Überraschungsmoment geschuldet (Eck, Aufstand, 249–265).
7. Die Zeit ab dem Bar Kochba-Aufstand
117
irdischen Höhlen. Als auch die syrischen Legionen den Aufstand nicht niederschlagen konnten, wurde der erfahrene Feldherr Julius Severus von Britannien nach Judäa beordert, der mit mehreren Legionen gegen die Aufständischen vorging. 134/135 n. Chr. fiel die Festung Bether südwestlich von Jerusalem, wohin sich Bar Kochba zurückgezogen hatte. Bar Kochba fand dabei den Tod. 7.1.4
Die Folgen der Revolte
Etliche Juden waren nach der Revolte auf der Flucht und suchten Zuflucht in den Höhlen in der Nähe des Toten Meeres, etwa die Jüdinnen Babatha und Johanna, die ihr Familienarchiv (Kaufverträge, Steuererklärungen, persönliche Dokumente) mitgenommen hatten. 1961 wurden diese Dokumente in einer Höhle bei En-Gedi entdeckt. Ähnliche Funde mit Gebrauchsgegenständen von Flüchtlingen (aber keine Papyri) wurden in Wadi ed-Daliyeh (bei Jericho) gemacht. Jerusalem wurde nun zur römischen Stadt mit dem Namen Aelia Capitolina (Aelia nach der gens Hadrians: Aelius Hadrianus; Capitolina nach Jupiter Capitolinus). Beschnittenen wurde bei Todesstrafe verboten, die Stadt zu betreten; Jerusalem war zu einer nicht-jüdischen Stadt geworden (Eusebius HE 4,5f. und 5,12; vgl. Justin Dial 16,2). Nach Eusebius galt das Betretungsverbot auch für Judenchristen und bedeutete das Ende der judenchristlichen Jerusalemer Gemeinde (Eusebius zufolge waren bis zum Bar Kochba-Aufstand die Jerusalemer Bischöfe Judenchristen, danach Heidenchristen). Wenn die Notiz von Eusebius stimmt, galten Judenchristen für die Römer auch damals noch als Juden, die somit auch den fiscus Iudaicus zahlen mussten (s.o. I.2.2.8). Wieweit frühere Privilegien des Judentums, wie das Recht auf Beschneidung, Versammlungsfreiheit und Arbeitsfreiheit am Sabbat, unter Hadrian eingeschränkt wurden, ist Gegenstand der Diskussion, jedenfalls wurde R. Aqiva, der Anhänger Bar Kochbas, hingerichtet.121 Das Betreten Jerusalems blieb Juden zwar verboten, doch wurde das Verbot nicht lückenlos kontrolliert.
7.2
Uscha, Bet Schearim, Sepphoris
Ähnlich wie sich das Judentum nach dem Ersten Jüdischen Krieg in Javne regruppiert hatte, kam es nach dem Zweiten Jüdischen Krieg in Uscha in Obergaliläa zu einem Neuanfang. Da Galiläa (anders als das judäische Javne) durch die Revolte
121
Zu den Maßnahmen unter Hadrian: Stemberger, Verfolgung, 255–268. Zu R. Aqiva a.a.O. 258f.: „Nicht einmal vom bekanntesten Märtyrer dieser Zeit, R. Aqiva, kann man sicher sagen, wann innerhalb der Jahre des Aufstands oder danach er hingerichtet wurde und was das Vergehen war, wofür er verurteilt wurde.“ Der einzige vortalmudische Text, tSan 2,8, erwähnt einzig seine Gefangenschaft.
118
II. Geschichte des Frühjudentums
nicht betroffen war, verlagerte sich das Zentrum des jüdischen Lebens dorthin.122 Die Anfänge in Uscha sind legendenhaft überwuchert: Jehuda ben Baba habe fünf Schülern Aqivas die Ordination zum Rabbi erteilt und wäre daraufhin von den Römern hingerichtet worden. Die Vorstellung einer Ordination ist für das damalige Judentum aber anachronistisch.123 Ziel der Geschichte ist es, den Bruch zwischen Javne und Uscha zu überbrücken. Simeon, der Sohn Gamaliels II., war in Uscha zunächst nicht dabei, sondern stieß erst später zu dieser Gruppe, um dann ihr führender Vertreter zu werden. Dessen Sohn wiederum (also der Enkel von Gamaliel II.) war Jehuda ha-Nasi, „Rabbi“ (175–217 n. Chr.).124 Er übersiedelte von Uscha nach Bet Schearim und dann weiter nach Sepphoris, wo man gegen Ende seiner Zeit die Redaktion der Mischna ansetzt. Der Beiname ha-Nasi, der Fürst, zielt auf seine leitende Sonderstellung ab – die Tradition behauptet seine Abstammung aus dem Hause Hillels und damit aus dem Geschlecht Davids. Meist wird er nur als „Rabbi“ – der Rabbi schlechthin – bezeichnet. Die Mischna umfasst sechs große, thematisch strukturierte sedarim (Ordnungen): Zera‘im (Saaten): Verzehntung, Erlassjahr Mo‘ed (Festzeiten): Festtagskalender Naschim (Frauen): Aufgaben der Frauen Neziqin (Schädigungen): Zivil- und Strafrecht Qodaschim (Heiligkeiten): Opfervorschriften Tohorot (Reinheiten): Reinheitsvorschriften
7.3
Das Rabbinische Judentum
Die Entstehung des rabbinischen Judentums war kein monolinearer Übergang von den Pharisäern zu den Rabbinen (s.o. I.1.3.1), ins Rabbinische Judentum ist auch sadduzäisches und essenisches Material eingeflossen.125 Die Entstehungsprozesse dauerten länger als in der früheren Forschung zumeist angenommen. Eine Durchsetzung des Rabbinischen Judentums hat es vor 200 n. Chr. nicht gegeben; dass die Rabbinen die Führung übernahmen, erfolgte überhaupt erst in islamischer Zeit. Oft zitiert wird mAv 1,1 als vermeintlicher Beleg für die Sukzession von Pharisäern zu Rabbinen: Mosche erhielt die Tora vom Sinaj und überlieferte sie Jehoschua‘ weiter, und Jehoschua‘ den Ältesten und die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synagoge. (Ed. Beer/Marti)
122 123 124 125
Vgl. Stemberger, Judentum, 23. Vgl. Stemberger, Judentum, 24. Vgl. Oppenheimer, Rabbi, passim. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 131: „Das priesterliche Material in der Mischna ist sicher viel stärker, als wir das von den Pharisäern erwarten würden.“
7. Die Zeit ab dem Bar Kochba-Aufstand
119
Allerdings: „Auch einzelne Texte wie etwa den Traktat Abot sollte man nicht ungeprüft als zumindest im Kern pharisäische Schrift betrachten. Der Traktat ist in seiner endgültigen Form sehr spät, aber auch in seinen bekanntesten Teilen erst lange nach der Mischna anzusetzen. Eventuelles pharisäisches Erbe ist kaum nachzuweisen“.126 Oft werden in der Literatur die in mAv 1,1 verwendeten Worte „erhalten/empfangen“ und „überliefern/weitergeben“, also „ קבלund מסרals speziell konnotierte Traditionsterminologie“127 beschworen, zumeist in Zusammenhang mit 1Kor 11,23 („Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe“). Dennoch: „… the terminology of מסר/ קיבלis hardly ever used (apart from m. Avot) for the reception and transmission of the Tora or of tradition as such“.128 Auch hinter 1Kor 11,23 steht damit nicht – wie oft vermutet – pharisäische Traditionsterminologie. Ähnliches gilt auch von so bedeutenden Persönlichkeiten wie Hillel und Schammai, von denen uns historisch gesehen nur Legenden mit fraglichem Geschichtswert erhalten blieben. Eine so grundlegende Gestalt wie Hillel wird vor der rabbinischen Literatur gar nicht erwähnt, ebenso Jochanan ben Zakkai.129 Auch wenn in rabbinischer Zeit Jochanan ben Zakkai, der jüdische Lehrer nach 70 in Javne neu sammelte, dadurch als Begründer des rabbinischen Judentums gilt, so entspricht dies nicht der eigentlichen Komplexität. In Javne wurde der Bruch mit der Vergangenheit noch nicht als endgültig gesehen, man rechnete noch immer mit einem Wiederaufbau des Tempels. Obendrein wurde die Zeit in Javne in der früheren Forschung überschätzt (s.o. I.2.2.3). Auch die Anrede „Rabbi“ („mein Lehrer“/„mein Meister“) ist erst aus der Zeit nach 70 n. Chr. belegt, aus dieser Zeit stammen ja auch die Belege der Evangelien. Wenn Jesus dort so tituliert wird, meint das lediglich eine ehrfürchtige Anrede, aber nicht, dass Jesus im Sinne des Rabbinischen Judentums ein „Rabbi“ gewesen wäre. Im Rabbinischen Judentum gibt es eine eigene Periodisierung der Geschichte:130 Beginnend mit Hillel und Schammai bis hin zu Rabbi (Jehuda ha-Nasi) und seinen Söhnen, also bis ins frühe 3. Jh., wird die Zeit der Tannaiten (aram. tanna; hebr. schana: „wiederholen, lehren, lernen“) angesetzt. Von da an bis etwa 500 folgen die Amoräer (amar, „sagen, kommentieren“), die Kommentatoren der tannaitischen Lehren. Im 6. und 7. Jh. bearbeiteten die Saboräer (sabar, „meinen“) den babylonischen Talmud. Vom 8. bis ins 11. Jh. folgen die Geonim (gaon, „erhaben“, als Titel eines Schuloberhaupts).
126 127 128 129 130
Stemberger, Qumran, 210. So Jacobi, Jesusüberlieferung, 275, die hier übersichtlich die Mehrheitsmeinung referiert. Stemberger, Moses, 299; ders., Pharisees, 242. Vgl. dazu Stemberger, Pharisäer, 40; ders., Pharisees, 243. Vgl. Stemberger, Judentum, 17.
III.
Gruppierungen des Frühjudentums
1.
Die Entstehung der Sadduzäer, Essener, Pharisäer
Wann und unter welchen Umständen Pharisäer, Sadduzäer und Essener entstanden, bleibt nach dem neuesten Stand der Forschung größtenteils unsicher.
1.1
Hasidäer als Vorläufer von Pharisäern und Essenern?
Immer wieder ist in der Forschung behauptet worden, dass „die Chasidim oder (H)Asidäer, … die Vorgänger der Pharisäer und nach den meisten Autoren auch der Essener sein sollen.“1 Die Hasidäer (hebr. חסידים, chas(s)idim, „die Frommen“, griech. Ασιδαῖοι, Asidaioi) waren eine Gruppierung, die den jüdischen Widerstand gegen die seleukidischen Religionsgesetze unter Antiochos IV. Epiphanes gemeinsam mit den Makkabäern getragen hatten (s.o. II.4.1). Es ist auffallend, dass 1Makk 2,42 von der συναγωγὴ Ασιδαίων (synagogē Asidaiōn), der „Gemeinschaft der Hasidäer“ spricht. Dabei ist bemerkenswert ist, dass der aus dem Aramäischen übernommene Begriff Asidaioi dem hebräischen chas(s)idim entspricht. Aber warum übersetzt man den Begriff nicht wie in Ps 149,1 qehal chas(s)idim, was die LXX mit ekklesia hosion wiedergibt? Wahrscheinlich hat 1Makk hier eine schon festgeprägte Bezeichnung gesehen.2 Das deckt sich mit 2Makk 14,6. Auch dort wird der Ausdruck Hasidäer als bereits stehender Begriff für gewisse Kreise in Israel verwen1
2
Stemberger, Pharisäer, 92. Diese These, die von Stemberger zu Recht kritisch gesehen wird, fand sich auch in der alten Einheitsübersetzung der Bibel, wo es in einer Anmerkung zu 1Makk 2,42 heißt: „‚Hasidäer‘ (hasidim) bedeutet ‚Fromme‘; eine jüdische Gemeinschaft, die sich später (150 v. Chr.) in Pharisäer und Essener aufspaltete.“ Die neue Einheitsübersetzung hat dies erfreulicher Weise korrigiert. Unentschieden ist die Haltung bei Schäfer, Geschichte, 84: „Man vermutet, daß sie [sc. die Pharisäer] aus der Gruppe der ‚Frommen‘ (chasidim) hervorgegangen sind …“ Jedoch Kollmann, Einführung, 49: „Die Pharisäer erwuchsen wie die Essener aus der ‚Sammelbewegung der Hasidäer‘, die sich gegen die Hellenisierungsbestrebungen unter Antiochos IV. formiert hatte.“ Ähnlich Lohse, Umwelt, 54. Zusammenfassend für die aktuelle Forschung aber Stökl Ben Ezra, Qumran, 77: „Die jüngere Forschung lehnt … in der Mehrzahl die Verbindung zwischen den Chasidäern der makkabäischen Zeit und den Besitzern der in Qumran gefundenen Bibliothek als zu spekulativ ab.“ Vgl. Stemberger, Pharisäer, 92.
122
III. Gruppierungen des Frühjudentums
det: οἱ λεγόμενοι τῶν Ιουδαίων Ασιδαῖοι, „die bei den Juden als Hasidäer bezeichneten Leute“. Die Hasidäer waren also eine fest umrissene Gruppierung zur Zeit der Makkabäer, die deren Widerstand gegen die Seleukiden mittrugen. Als die Makkabäer immer mehr ihre eigenen familienpolitisch-dynastischen Ziele verwirklichten und immer weniger Interesse an religiösen Reformen zeigten, drifteten Hasidäer und Makkabäer (bzw. später Hasmonäer) immer stärker auseinander. Meilensteine dieser Entfremdung waren die Weiterführung der Kampfhandlungen durch Judas Makkabaios trotz des Friedenswunsches der Hasidäer (1Makk 7,13), sowie die Usurpation des Hohepriesteramtes durch den Nicht-Zadokiden Jonatan (s.o. II.4.1.5). Ohne Zweifel können wir annehmen, dass die Hasidäer eine konservativ-religiöse Strömung des Judentums zur Makkabäerzeit waren, der Oberschicht angehörig und nach 1Makk 7,13f. in Verbindung zu den Schriftgelehrten stehend.3 Eine Zeit lang kämpfte diese Gruppe auf der Seite der Makkabäer und den nachfolgenden Hasmonäern, entfremdete sich diesen jedoch in dem Maße, wie das Herrscherhaus die eigenen machtpolitischen Interessen über religiöse Befindlichkeiten stellte. Leider sind die oben genannten Stellen (1Makk 2,42; 7,13; 2Makk 14,6) die einzigen drei Male, an denen die Hasidäer in den Makkabäerbüchern begegnen. Josephus bedient sich dieser Bezeichnung in seiner Nacherzählung der einschlägigen Passagen der Makkabäerbücher (A.J. 12,278.284.396) interessanterweise nicht. Es steht zu vermuten, dass diese Bezeichnung damals schon aus der Mode gekommen war.4 Darf man daraus schon schließen, dass sich die Hasidäer zu Pharisäern und ev. auch Essenern weiterentwickelt hatten, und der Ausdruck daher obsolet geworden war? Oder sollte man mit G. Stemberger annehmen, dass sich „die Hasidäer-These als unbrauchbar erwiesen hat, … um eine Vorgeschichte der Pharisäer, Sadduzäer und Essener zu rekonstruieren“?5 Vermutlich haben sich die Hasidäer nicht völlig in Luft aufgelöst, sondern auch spätere Entwicklungen mitbestimmt. Ob sich allerdings lineare Weiterentwicklungen hin zu den Pharisäern und Essenern behaupten lassen, bleibt tatsächlich fraglich. Am ehesten würde sich eine solche Entwicklung noch für die Essener nahelegen: Diese stammten aus der Oberschicht (während die Pharisäer eher ein Mittelschichtphänomen waren), kamen nach der Usurpation des Hohepriesteramts durch Jonatan mit den Makkabäern über Kreuz und haben auch von ihrer Bezeichnung essaioi eine gewisse Affinität zu den asidaioi.6 Doch auch dies bleibt letztlich eine Vermutung. Noch hypothetischer ist die Annahme, dass sich die hasidäische Widerstandsbewegung in zwei Gruppen aufspaltete, jene um den Lehrer der Gerechtigkeit und jene der Pharisäer.7 Tatsächlich spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit 3 4 5 6 7
Vgl. Stemberger, Pharisäer, 95. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 92. Stemberger, Pharisäer, 96f. Vgl. Waubke, Pharisäer, 118. Vgl. Waubke, Pharisäer, 121.
1. Die Entstehung der Sadduzäer, Essener, Pharisäer
123
dafür, dass in den Qumrantexten mit der Erwähnung des „Frevelpriesters“ gegen den Makkabäer Jonatan (s.u. III.4.2.4) und mit der Nennung des „Lügenmannes“ (1QpHab 5,11) bzw. der „Lügengemeinde“ (10,10) sowie der „Erbauer der (schadhaften) Mauer“ gegen die Pharisäer (s.u. III.4.2.6) polemisiert wird.8 Doch lässt sich das schon linear in Verbindung zu den Hasidäern setzen?9 In jedem Fall ist man gut beraten, mit pluriformen Entwicklungen zu rechnen und monolinearen Herleitungsversuchen eine gesunde Skepsis entgegenzubringen.10 „Eine genauere Vorgeschichte der drei religiösen Schulen läßt sich so ebensowenig rekonstruieren wie ihre direkte Herkunft aus der hasidäischen Bewegung erweisen.“11
1.2
Zeitliche Verortung der Anfänge dieser Gruppierungen
Leider erweist sich auch der üblicherweise vorgezeichnete chronologische Rahmen, der den drei Gruppierungen zumeist zugemessen wird, als wenig belastbar. Josephus will uns in A.J. 13,171 glauben machen, dass Pharisäer, Sadduzäer und Essener bereits in der Zeit des Judas Makkabaios entstanden wären – was sich allerdings mit anderslautenden Angaben bei Josephus schlägt.12 1.2.1
Zeitliche Verortung der Anfänge der Pharisäer
In B.J. treten die Pharisäer nicht vor Salome Alexandra auf, in A.J. hingegen werden die Pharisäer zum ersten Mal – abgesehen von der oben erwähnten Notiz in A.J. 13,171 – in Verbindung mit Johannes Hyrkanos (A.J. 13,288–296) erwähnt. Ein Streit bei einem Gastmahl eskaliert, weil Johannes Hyrkanos von einem Pharisäer vorgeworfen wird, dass seine Mutter einst gefangen war und er als Sohn einer Gefangenen als Hohepriester untragbar sei. Josephus beschreibt den Ausgang des Streites so, dass sich Johannes Hyrkanos fortan von den Pharisäern abgewendet und den Sadduzäern angeschlossen hätte. Der Vorwurf an Johannes Hyrkanos findet eine interessante Parallele in A.J. 13,372, diesmal in Verbindung mit Alexander Jannaios. Beim Laubhüttenfest habe ihn das Volk mit Zitronen beworfen (etrog und lulav, Zitrone und Palmenzweig, nach Lev 23,40 Teil des Feststraußes beim Laubhüttenfest), da er von einer Gefangenen abstamme. Dieser Vorwurf, von 8 9
10
11 12
Vgl. Waubke, Pharisäer, 119 und 121. Ähnlich auch Kollmann, Einführung, 50. Vollends eindimensional ist Waubke, Pharisäer, der bemüht ist, eine direkte Linie von den Hasidäern über die Pharisäer bis hin zu den Chaberim der rabbinischen Zeit zu ziehen. Vgl. Nickelsburg/Stone, Judaism, 22, die eine direkte Herleitung von Pharisäern und Essenern aus den Hasidäern für „implausible“ halten, doch dann zum überzeugenden Schluss kommen: „Nonetheless, it is not unlikely that both of these groups or trends arose variously from a kind of pietistic Judaism whose multiform existence is attested …“ Stemberger, Pharisäer, 98. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 98f.
124
III. Gruppierungen des Frühjudentums
einer Gefangenen abzustammen, begegnet hier allerdings nicht im Munde der Pharisäer, die an dieser Stelle gar nicht erwähnt werden. Wenn im Anschluss daran die Niederschlagung des Bürgerkriegs erwähnt wird, wo Alexander Jannaios 800 seiner Gegner kreuzigen lässt (A.J. 13,380), so ist auch hier nicht von Pharisäern die Rede. Allerdings dürfte es sich bei diesen Gekreuzigten tatsächlich um Pharisäer handeln, das zumindest legt 4Q169 I,7 (Nachum-Pescher) nahe, wo es heißt, dass der „Löwe des Zornes“ als „Racheakte an denen, die glatte Anweisungen geben … Menschen lebendig aufhängen läßt“. Als „Ausleger von glatten Dingen“ (דורשי החלקות, dorsche ha-ḥalaqot) werden nach Überzeugung der meisten Forscher die Pharisäer in den Qumrantexten bezeichnet (vgl. auch 4Q169 I,2 und II,2 sowie CD I,18; mehr zu den „Auslegern von glatten Dingen“ s.u. III.4.2.6).13 Mit dem „Löwen des Zornes“ ist wohl Alexander Jannaios gemeint, der Rache dafür nimmt, dass die Pharisäer Demetrios III. gegen ihn zu Hilfe gerufen hatten (s.o. II.4.2.3).14 Zur Begebenheit, dass ein Hohepriester beim Laubhüttenfest am Altar mit Zitronen beschossen wird, gibt es eine rabbinische Parallele in mSuk IV,9 (wo allerdings nicht die Abstammung, sondern der falsch durchgeführte Ritus zum Stein des Anstoßes wird). Und auch der Talmud erwähnt mehrfach, dass Alexander Jannaios fast alle „Rabbinen“ habe töten lassen (so bQid 66a; bBer 48a u.ö.).15 Somit ist die Erzählung vom Bruch zwischen Johannes Hyrkanos und den Pharisäern historisch fragwürdig; ein Ansatz in der Zeit von Alexander Jannaios ist wahrscheinlicher.16 Das deckt sich mit A.J. 13,399–404, wo Alexander Jannaios am
13
14 15 16
Vgl. VanderKam/Flint, Meaning, 276–280; ebenso VanderKam, Pharisees, 225–236. Siehe auch Tiwald, Hebräer, 375–377. Vgl. dazu Maier, Nachumpescher, 244 f.; ebenso Stemberger, Pharisäer, 228–233. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 102. So Stemberger, Pharisäer, 103, und Noam, Images, 76–116 (bes. 95, mit einem detaillierten Vergleich von A.J. 13,288–296 mit bQid 66a und einem Überblick zur Literatur). Anders Kollmann, Einführung, 47f.; Schäfer, Geschichte, 85; Theißen, Sadduzäismus, 227, welche die Begebenheit lieber unter Johannes Hyrkanos verorten. Die Argumentation bei Theißen, Sadduzäismus, 227, dass Johannes Hyrkanos sich neben dem Hohepriesteramt – das ja ab Jonatan in der Hand der hasmonäischen Herrscher war – auch das Amt des „wahren Propheten“ angeeignet habe (A.J. 13,299/B.J. 1,68) und dass dieser Affront den Protest der Massen ausgelöst hätte, ist nicht zwingend. Der Protest richtet sich gegen die Usurpation des Hohepriesteramtes durch den Herrscher, aber nicht gegen die Übernahme des Prophetenamtes. Zum „wahren Propheten“ (vgl. 1Makk 14,41 und 4,46) s.u. III.4.6.2. Zu den Anweisungen von Alexander Jannaios am Sterbebett an seine Frau vgl. Noam, Images, 137–156, und zur Geschichte der Bewerfung mit Zitronen, a.a.O. 117–136. Noam sieht in den drei Geschichten (Bruch mit Pharisäern – Zitronenbewerfung – Anweisungen am Totenbett) eine Apologie von Pharisäern über deren Beziehung zu Alexander Jannaios und die daraus erfolgende Spaltung im Judentum (a.a.O. 154f.; 191–193: „fragments of apologetic Pharisaic literature, which sought to respond to widespread accusation that the Pharisees were subverting the Hasmonean regime“).
1. Die Entstehung der Sadduzäer, Essener, Pharisäer
125
Sterbebett die Macht seiner Frau Salome Alexandra übergibt und ihr rät, sich mit den Pharisäern zu einigen, da diese beim Volk über Einfluss verfügen: 401 … solle sie in Jerusalem einen glänzenden Einzug halten und den Pharisäern irgendein Vorrecht gewähren [wörtlich: τοῖς Φαρισαίοις ἐξουσίαν τινὰ παρασχεῖν, den Pharisäern eine gewisse Vollmacht einräumen]. Diese würden ihr dann aus Erkenntlichkeit für eine solche Auszeichnung das Volk geneigt machen, indem sie so viel bei den Juden vermöchten; überhaupt könnten diese ihr als Feinde großen Nachteil bringen und als Freunde viel nutzen, weil jedes Wort, das sie gegen jemanden richteten, beim Volk ein williges Gehör fände, …
Dies hat Salome Alexandra nach A.J. 13,408f. tatsächlich befolgt, hier deckt sich der Bericht auch mit B.J. 1,110–112, wo vom großen Einfluss der Pharisäer auf Salome Alexandra berichtet wird: 110 Wachsend nahmen an ihrer Regierung die Pharisäer teil, eine Gruppe von Juden, die in dem Ruf standen, frömmer zu sein als die anderen und die Gesetze gewissenhafter zu beachten. 111 Nach diesen richtete sich Alexandra etwas zu stark in ihrer leidenschaftlichen Sorge um das Göttliche. Sie aber, die sich nach und nach bei der weiblichen Einfalt eingeschmeichelt hatten, wurden schließlich Verwalter des gesamten Staatswesens mit der Möglichkeit, zu vertreiben und zurückzuholen, wen sie wollten, freizulassen und in Fesseln zu legen. …
Erst mit Alexander Jannaios und Salome Alexandra befinden wir uns also auf historisch sicherem Grund in der chronologischen Verortung der Pharisäer. 1.2.2
Zeitliche Verortung der Anfänge der Essener
Nach A.J. 20,238 ließ sich der Makkabäer Jonatan (reg. 160–142 v. Chr.) zum Laubhüttenfest des Jahres 153 v. Chr. als Hohepriester in Jerusalem einsetzen (s.o. II.4.1.5). Da die Makkabäer nur der niederen Priesterschaft entstammten und obendrein nicht dem Geschlechte Zadoqs angehörten, musste die Übernahme des Amtes durch Jonatan von frommen Juden als Freveltat angesehen werden. Es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“, also die autoritative Figur hinter den Qumrantexten, sich – gefolgt von anderen Tempelpriestern – in Opposition zu Jonatan begab (dieses Buch vertritt eine weitergeführte „Groningen-Hypothese“, die in der Niederlassung von Qumran eine besondere Gruppe von Essener erkennt; s.u. III.4.2). So kann Jonatan mit dem in den Qumrantexten wiederholt genannten „Frevelpriester“ identifiziert werden,17 dem etwa 1QpHab XII,6–10 unterstellt, abscheuliche Taten in Jerusalem begangen und das Heiligtum Gottes verunreinigt zu haben. Darüber hinaus ist wahrscheinlich, dass sich der Ausdruck „Frevelpriester“ in essenischen Kreisen perpetuierte und auch die hasmonäischen Nachfolger Jonatans – Simon (142–135 v. Chr.), 17
Vgl. Maier, Geschichte, 40f., ebenso ders., Testamenten, 278. Vgl. ebenso Schäfer, Geschichte, 68; Kollmann, Einführung, 38, 41f. Vgl. die Argumentation s.o. II.4.1.5.
126
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Johannes Hyrkanos I. (135–104 v. Chr.) und Alexander Jannaios (103–76 v. Chr.) – mit diesem Sobriquet belegt wurden.18 Der Ausdruck ( הכהן הרשעha-kohen harascha‘, „Frevelpriester“) ist dabei eine Verballhornung von ( הכהן הראשha-kohen ha-ro’sch, „Hohepriester“, etwa Esra 7,5). Die Ausgrabungen von Qumran legen nahe, dass die dortige Niederlassung frühestens um 100 v. Chr. gegründet wurde.19 Schwächt das eine Identifizierung des „Lehrers der Gerechtigkeit“ als Gegenspieler Jonatans, der wahrscheinlich schon um 138 v. Chr. gestorben war?20 Es könnte gut sein, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“ noch längere Zeit hoffte, den amtierenden Hohepriester von seiner Sichtweise überzeugen zu können. Wahrscheinlich wurde der Bruch zwischen dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ und dem „Frevelpriester“ erst in der langen Regierungszeit des Johannes Hyrkanos endgültig.21 In diesen Zusammenhang kann man wahrscheinlich auch das Schreiben 4QMMT einordnen. Dieses richtet der „Lehrer der Gerechtigkeit“ an den in Jerusalem amtierenden Hohepriester in der Hoffnung, ihn von seiner Gesetzesauslegung überzeugen zu können.22 Es wäre gut möglich, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“ beim Wechsel des Hohepriesteramtes von Jonatan auf Simon oder von Simon auf Johannes Hyrkanos einen Versuch unternahm, sich mit dem neuen Hohepriester auf eine bestimmte Auslegung der Tora zu einigen.23 Hier wird klar, dass nicht nur die Usurpation des Hohepriesteramtes federführend war, sondern auch eine divergierende Kalenderpraxis und Unterschiede in der Gesetzesauslegung.24 Wahrscheinlich wurde mit der Gründung der Niederlassung in Qumran um 100 v. Chr. dann eine Antwort auf den Amtsantritt von Alexander Jannaios (103 v. Chr.) gegeben. Hier dürfte den Nachfolgern des „Lehrers der Gerechtigkeit“ klar geworden sein, dass der Bruch mit den hasmonäischen Hohepriestern nicht mehr zu kitten war. Vielleicht aber
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23
24
Vgl. Maier, Testamenten, 278. Auch die Vertreter der Groningen-Hypothese (s.u. III.4.2.1) rechnen damit, dass mit dem „Frevelpriester“ eine ganze Reihe von hasmonäischen Hohepriestern gemeint ist, beginnend mit Jonatan, über Simon bis hin zu Johannes Hyrkanos und Alexander Jannaios (vgl. García Martínez/van der Woude, Hypothesis, 538f.). Zur Deutung des „Frevelpriester“ vgl. den Überblick bei Stökl Ben Ezra, Qumran, 277–279. Vgl. Magness, Art. Qumran, 714. So auch Maier, Bausymbolik, 101. Maier, Torah, 49, nimmt aufgrund von CD XX,13 (vgl. CD XIX,35) an, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“ „etwa 138 v. Chr.“ gestorben sei. Ebenso Maier, Testamenten, 278. Vgl. García Martínez/van der Woude, Hypothesis, 539. García Martínez, Temple, 444, datiert die Urschrift von 4QMMT durch die Nähe zur Tempelrolle „towards the mid-second century BCE.“ Vgl. dazu auch Stökl Ben Ezra, Qumran, 166–168; Dunn, Works, 160–169. Eine etwas andere Sichtweise vertritt Müller, Wissenschaft, 57, der annimmt, dass der Adressat des Schreibens Alexander Jannaios sein könnte, mit dem die Qumrangemeinde Hoffnungen auf eine gütliche Einigung verbunden habe. Es wäre allerdings möglich, dass zu diesem Zeitpunkt der „Lehrer der Gerechtigkeit“ gar nicht mehr lebte. Vgl. Müller, Wissenschaft, 57, und Stökl Ben Ezra, Qumran, 273f.
2. Sadduzäer und Pharisäer
127
unterstützte Alexander Jannaios die Gründung der Niederlassung sogar, sozusagen als „Kompromissangebot“ (s.u. III.4.2.5). In der Niederlassung von Qumran war demzufolge eine besondere Gruppierung der Essener ansässig (s.u. III.4.2.5). Auch abseits dieser Spekulationen findet man in den Qumrantexten selbst einen festen terminus ante quem für die Existenz der Qumrangemeinde: Auch hier legt sich die Zeit von Alexander Jannaios (reg. 103–76 v. Chr.) nahe, der in 4Q169 I,7, dem Nachum-Pescher, als „Löwe des Zornes“ erwähnt wird. (s.o. II.4.2.3).25
2.
Sadduzäer und Pharisäer
2.1
Quellenlage
2.1.1
Keine Primärtexte erhalten
Kein einziger Text ist uns erhalten geblieben, von dem wir mit Sicherheit sagen können, dass er von einem Sadduzäer oder Pharisäer geschrieben wurde. Sämtliche Versuche, gewisse Texte Sadduzäern zuzuschreiben, sind gescheitert (etwa das 1. Makkabäerbuch, Ben Sirach, Judit, etc.).26 Ähnliches gilt für die Zuschreibung von frühjüdischen Texten an Pharisäer. Dies gilt auch für die authentischen Paulusbriefe, die ja in einer Zeit geschrieben wurden, in der sich Paulus zwar nicht vom Judentum, aber doch von der pharisäischen Toraobservanz abgewandt hatte.27 Auch Flavius Josephus kommt hier nicht als Primärzeuge zum Zug, da auch er kein Pharisäer war (s.u. III.8.1). Ebenso lassen sich die Psalmen Salomos nicht als pharisäische Texte verorten (s.u. III.8.4). Gleiches gilt auch für mAv, einen Traktat, den wir nicht als pharisäische Schrift werten können (s.o. II.7.3).28 Die verbreitete Methode, die Literatur der Zeit des Zweiten Tempels je nach Vorhandensein der Auferstehungsvorstellung entweder Pharisäern oder Sadduzäern zuzuordnen, ist fragwürdig.29 2.1.2
Flavius Josephus
Unsere Hauptquelle über die Sadduzäer und Pharisäer ist Flavius Josephus mit seinen Ausführungen in B.J. 2,119–166; A.J. 13,171–173; 18,11–24: B.J. 2,119: Τρία γὰρ παρὰ Ἰουδαίοις εἴδη φιλοσοφεῖται καὶ τοῦ μὲν αἱρετισταὶ Φαρισαῖοι τοῦ δὲ Σαδδουκαῖοι τρίτον δέ ὃ δὴ καὶ δοκεῖ σεμνότητα ἀσκεῖν Ἐσσηνοὶ καλοῦνται. 25 26 27 28 29
Vgl. Maier, Testamenten, 278. Ebenso Müller, Wissenschaft, 56. Vgl. Stemberger, Art. Sadducees, 1179. Vgl. Wilk, Evangelien, 86. Vgl. Stemberger, Umformung, 90. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 70.
128
III. Gruppierungen des Frühjudentums In dreifacher Weise nämlich wird bei den Juden „Philosophie“ getrieben, die einen sind Anhänger jener, die Pharisäer genannt werden, die anderen jener, die Sadduzäer genannt werden und drittens aber jener, die Essener genannt werden und besondere Gewissenhaftigkeit üben (Ü.MT). A.J. 13,171: Κατὰ δὲ τὸν χρόνον τοῦτον τρεῖς αἱρέσεις τῶν Ἰουδαίων ἦσαν αἳ περὶ τῶν ἀνθρωπίνων πραγμάτων διαφόρως ὑπελάμβανον ὧν ἡ μὲν Φαρισαίων ἐλέγετο ἡ δὲ Σαδδουκαίων ἡ τρίτη δὲ Ἐσσηνῶν. Zu dieser Zeit aber gab es drei „Sekten“ unter den Juden, die bezüglich menschlicher Angelegenheiten unterschiedlich dachten, diese nun waren die einen Pharisäer, die anderen Sadduzäer und drittens die Essener (Ü.MT). A.J. 18,11: Ἰουδαίοις φιλοσοφίαι τρεῖς ἦσαν ἐκ τοῦ πάνυ ἀρχαίου τῶν πατρίων ἥ τε τῶν Ἐσσηνῶν καὶ ἡ τῶν Σαδδουκαίων τρίτην δὲ ἐφιλοσόφουν οἱ Φαρισαῖοι λεγόμενοι. Bei den Juden gab es seit langer Zeit drei verschiedene „Philosophien“ bezüglich der väterlichen Gesetze; die der Essener, dann die der Sadduzäer und drittens aber suchten die „Philosophie“ die als Pharisäer bezeichneten (Ü.MT).
Josephus versucht die unterschiedlichen Parteiungen des Judentums als philosophische Schulen darzustellen, um seinen hellenistischen Lesern im Verständnis entgegenzukommen.30 Wenn dabei die Gruppierungen als τρεῖς αἱρέσεις, also wörtlich als „drei Sekten“, dargestellt werden (A.J. 13,171, vgl. B.J. 2,119: αἱρετισταί), so haftet dem keine „sektenhaft“-negative Konnotation an, immerhin werden alle drei mit diesem Ausdruck bedacht. Der Ausdruck τρεῖς αἱρέσεις ist im weitesten Sinne als „drei Gruppierungen“ zu übersetzen. Wie wir bereits feststellen konnten (s.o. I.1.3.1 und I.1.3.2), ist die Vorstellung eines „normativen Judentums“ oder die Unterscheidung zwischen einem „mainstream Judaism“, der dann gegen ein „sectarian Judaism“ ausgespielt wird, für die damalige Zeit ungeeignet. Daher sollte man grundsätzlich davon Abstand nehmen, eine dieser Gruppierungen als das „authentische“ oder „dominierende“ Judentum der damaligen Zeit veranschlagen zu wollen. Das Urteil des Josephus über die Pharisäer ist nicht einheitlich – bisweilen werden sie sehr positiv dargestellt, wie in A.J. 18,12–15: A.J. 18,12 Die Pharisäer leben streng und versagen sich jede Annehmlichkeit. Was nach vernünftigem Urteil gut erscheint, dem folgen sie und halten es überhaupt für heilige Pflicht, den Vorschriften der Vernunft nachzukommen. … 15 Durch alles dieses besitzen sie beim Volke einen solchen Einfluss, dass sämtliche gottesdienstlichen Verrichtungen, Opfer und Gebete nur mit ihrem Gutdünken dargebracht werden; ein so rühmliches Zeugnis der Vollkommenheit gaben ihnen die Gemeinden, weil man überzeugt war, dass sie in Wort und Tat nur das Edelste suchten.
Andererseits aber werden die Pharisäer bei Josephus auch sehr negativ gezeichnet.31 In A.J. 17,41 wirft er ihnen vor, sich selbst als besonders gewissenhaft in der Auslegung der Überlieferungen und Gesetze einzuschätzen (ἐπ᾽ ἐξακριβώσει μέγα 30 31
Vgl. dazu Weißenberger, Philosophenschulen, passim. Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Valeur, 121f.
2. Sadduzäer und Pharisäer
129
φρονοῦν τοῦ πατρίου καὶ νόμων), doch dabei das Wohlwollen Gottes an diesen Gesetzen nur „vorzutäuschen“ (προσποιουμένων), um damit das „Frauenvolk“ (ἡ γυναικωνῖτις) unter ihren Einfluss zu bringen, sowie zum Kriegführen und zur Gewalttat bereit zu sein (εἰς τὸ πολεμεῖν τε καὶ βλάπτειν ἐπηρμένοι). Besonders negativ werden die Pharisäer in A.J. 13,401–423 gezeichnet: „[S]ie sind gefährliche Unruhestifter mit größtem Einfluß im Volk, Heuchler ohne eigene Meinung, wenn sie nur die Macht erlangen. Diese mißbrauchen sie zur Verfolgung der politischen Gegner …“32 Wahrscheinlich verwendete Josephus unterschiedliche Quellen, gerade in B.J. scheint er viel von Nikolaus von Damaskus übernommen zu haben.33 Sonderbar aber bleibt: „An einem Ausgleich seiner Quellen scheint Josephus eigenartigerweise nicht interessiert.“34 Bisweilen sind es sogar Gemeinplätze, die Josephus wiedergibt: Der Vorwurf der Machtgier und Ehrsucht begegnet auch in den Evangelien (Mt 23,6/Lk 11,43: Pharisäer wollen die Ehrensitze bei Mählern und in Synagogen und lieben ehrerbietiges Grüßen auf den Marktplätzen), wie auch der Vorwurf der Verfolgung politischer Gegner (Mt 23,29–32/Lk 11,47f.). Als authentisch hingegen ist zu bewerten, dass viele Pharisäer den Zeloten nahestanden und auch am Aufstand gegen die Römer maßgeblich beteiligt waren (vgl. Vita 191–197; A.J. 18,23; III.5.1.2).35 Noch schematischer aber bleiben die Sadduzäer, denen Josephus in B.J. keine großen Sympathien schenkt, in A.J. nur im Kontrast zu den Pharisäern beschreibt (A.J. 13,293) und in der Vita nur im Hintergrund gegenüber den Pharisäern zeichnet.36 Auch wenn vieles in der Darstellung des Josephus cum grano salis zu lesen ist, so betreibt er keine „Propaganda zugunsten der Pharisäer“, wie bisweilen zu lesen ist,37 sondern bleibt – all seinen Tendenzen zum Trotz – grosso modo ausgeglichen und damit unsere Hauptquelle.38 2.1.3
Sadduzäer und Pharisäer im NT
In der Logienquelle und im vierten Evangelium kommen die Sadduzäer gar nicht vor. Für den rural-galiläischen Blickwinkel der Logienquelle ist das naheliegend.
32 33 34 35 36 37 38
Stemberger, Pharisäer, 16. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 15 und 17. Stemberger, Pharisäer, 19. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 19, 21, 23. Ebenso: Weißenberger, Philosophenschulen, 525. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 13, 15 und 22. Vgl. die Kritik daran bei Stemberger, Pharisäer, 23. Vgl. Nickelsburg/Stone, Judaism, 21. Vgl. auch Weißenberger, Philosophenschulen, 524f.: Die Tendenzen, Pharisäer, Sadduzäer und Essener als „Philosophenschulen“ darzustellen, führt besonders bei der Darstellung der Essener in B.J. zur Herausstellung einer „an Pazifismus grenzenden Friedfertigkeit“ – was nach dem Jüdischen Krieg klar apologetisch war. In den späteren A.J. ist das Bild aber schon ausgewogener.
130
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Im JohEv aber werden – für die Zeit Jesu anachronistisch – die Pharisäer als führende Kraft im Judentum gezeichnet.39 Damit wird deutlich, dass nach der Zerstörung des Tempels die Pharisäer langsam zur dominierenden Kraft aufgestiegen waren, eine Rolle, die zur Zeit Jesu die Sadduzäer innehatten. Das MkEv nennt die Sadduzäer nur ein einziges Mal, nämlich als Leugner der Auferstehung in Mk 12,18–27. Auch in MtEv und LkEv bleibt das Bild der Sadduzäer holzschnittartig. Die Pharisäer werden im MkEv von Anfang an recht grobkörnig als „Antipoden“ und „Todfeinde“ Jesu gezeichnet.40 Das Bild des MtEv ist hier schon differenzierter. Ähnlich wie in der Logienquelle, zielt auch im MtEv die Kritik nicht auf eine Abrogation der Reinheitsvorschriften oder anderer Gebote der Pharisäer, wie man aus Q 11,39b/Mt 23,25 vorschnell schließen könnte: Q 11,42/Mt 23,23 wehrt diesem Missverständnis ausdrücklich, indem es hinzufügt: ταῦτα δὲ ἔδει ποιῆσαι κἀκεῖνα μὴ ἀφιέναι („dieses aber wäre zu tun und das andere nicht außer Acht zu lassen“). Die Kritik fokussiert also nicht auf pharisäische Bräuche per se, sondern darauf, dass aufgrund dieser Vorschriften „das Recht und die Barmherzigkeit und die Treue“ (11,42) außer Acht gelassen werden.41 Ähnliches kann man für Mt 23,2f. sagen (s.u. V.10 und 12):42 2 … Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. 3 Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen.
Es dominiert nicht die pauschale Verurteilung wie bei Mk, sondern die Anerkennung ihrer Lehren bei anhaltender Kritik ihrer Praxis. Hier schimmert durch, dass sich Frühchristentum und Pharisäer ursprünglich viel näher standen, als zumeist angenommen. Noch differenzierter wird das Bild bei Lk. Der dritte Evangelist ist der einzige, der berichtet, dass Jesus bei Pharisäern zum Essen eingeladen war (7,36–50; 11,37–53; 14,1.12–14).43 In Lk 13,31 wird Jesus von Pharisäern sogar vor Herodes Antipas gewarnt.44 In der Apg „kommt Lk ebenfalls öfter auf die Pharisäer zu sprechen und zwar stets positiv, während die Sadduzäer die Gegner der christlichen Gemeinde sind.“45 In Apg 5,34–39 rät „ein Pharisäer namens Gamaliel [sc. Gamaliel I., der Großvater von Gamaliel II., s.o. II.6.2.4], ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer“, zur Mäßigung gegenüber den ersten Christen. Paulus beruft sich nach Apg 23,6–9 auf die Parallelen, die es zwischen Christen und Pharisäern gibt und bezeichnet sich selbst als Pharisäer. Nach Apg 15,5 sind sogar
39 40 41 42 43 44 45
Vgl. Stemberger, Pharisäer, 26 und 36. Vgl. Wilk, Evangelien, 88, und Stemberger, Pharisäer, 25. Vgl. Tiwald, Gott, 81f.; ders., Kommentar, 119–123. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 29. Vgl. Wilk, Evangelien, 92. Vgl. Wilk, Evangelien, 97. Stemberger, Pharisäer, 33.
2. Sadduzäer und Pharisäer
131
einige Pharisäer der christlichen Gemeinde beigetreten. Historisch korrekt ist an dieser Wahrnehmung, dass „die frühe Gemeinde in Jerusalem von den pharisäischen Führern zumindest wohlwollendes Abwarten erhoffen konnte.“46 Im JohEv werden die Pharisäer als die führende Gruppierung im Volk gezeichnet, Sadduzäer kommen gar nicht vor. Doch auch hier ist das Bild differenziert: Mit Nikodemus (Joh 3,1–21; 7,50; 19,39) wird ein Pharisäer als Sympathisant Jesu ins Bild gehoben. Summierend kann man zum Geschichtswert des NT bezüglich Sadduzäer und Pharisäer festhalten, dass viele Aspekte nur holzschnittartig und aus der späteren Perspektive der Evangelisten berichtet werden. Die durchwegs negative Attitüde, mit der das MkEv Pharisäer und Jesus interagieren lässt, ist hier die gröbste Verzeichnung. Korrekt ist vielmehr, dass eher die „relativ große Nähe Jesu zu den Pharisäern“ zu Abgrenzungsproblemen führte. „Die Pharisäer sind die jüdische Strömung, die dem Christentum am nächsten steht und mit der es sich entsprechend ausführlich befaßt.“47 Daraus ergibt sich als nächste Verzeichnung, dass die Sadduzäer, die nach der Zerstörung des Tempels massiv an Einfluss eingebüßt hatten, in den Evangelien nur mehr klischeehaft als Auferstehungsleugner vorkommen, ohne ihrer historischen Bedeutung wirklich gerecht zu werden. 2.1.4
Rabbinische Quellen
Die verbreitete Ansicht, wonach allein die Pharisäer die Katastrophe des Jahres 70 überlebten und nahtlos in das Rabbinat übergingen und so das „pharisäisch-rabbinische Judentum“ bildeten, ist obsolet (s.o. I.1.3.1), geht aber zum Teil auf die rabbinische Historiographie selbst zurück: Die späteren Rabbinen datierten ihre Idealvorstellungen in die Zeit von Esra (vgl. Neh 8,1–8) zurück. Damit aber ist der Geschichtswert dieser Texte als Makulatur entlarvt. Als „kleinere Lösung“ wird dann häufig darauf hingewiesen, dass zumindest die Ḥaberim der rabbinischen Texte die Nachfolger der früheren Pharisäer gewesen sein könnten,48 was man mit gesunder Skepsis sehen sollte.49 Auch die in den rabbinischen Schriften genannten Peruschim können nicht mit den Pharisäern in Verbindung gebracht werden, das Wort parusch meint einfach „abgesondert“ und kann verschiedene asketische Richtungen umfassen, die mit den Pharisäern nichts gemein haben.50 Einzig in 46 47 48
49
50
Stemberger, Pharisäer, 34. So Stemberger, Pharisäer, 39. So zuletzt wieder Waubke, Pharisäer, 108–132, bes. 130 und 124 („… eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Ḥaberim-Halacha auf die Pharisäer zurückgeht“). Vgl. Schwartz, Pharisees, 135: „however, the Pharisee-ḥaber equation is problematic, if only due to the fact that two separate words are used. … Without the term ḥaberim, which implies special ‚brotherhoods‘, there is little reason to think that insistence upon such food-regulations was characteristic of the Pharisees.“ Vgl. Stemberger, Pharisäer, 42; Waubke, Pharisäer, 128f.; Niebuhr, Jesus, 324.
132
III. Gruppierungen des Frühjudentums
mYad 4,6–8 werden die Pharisäer gemeinsam mit den Sadduzäern erwähnt, nur hier kann der Ausdruck Peruschim gesichert als Pharisäer gedeutet werden.51 Wie lückenhaft das Wissen der rabbinischen Texte über die Pharisäer ist, zeigt schon die Tatsache, dass eine so grundlegende Gestalt wie Hillel in vorrabbinischer Literatur gar nicht erwähnt wird, und auch Jochanan ben Zakkai (s.o. II.6.2.3) nur in der rabbinischen Literatur Erwähnung findet. Allerdings wird Jochanan ben Zakkai – immerhin der Gründer der Schule von Javne – nie als Pharisäer bezeichnet. In mYad 4,6–8 scheint er sich sogar von den Pharisäern zu distanzieren. Wahrscheinlich war in der Zeit von Javne die Erwartung des Wiederaufbaus des Tempels noch verbreitet; es ist gut möglich, dass in dieser Zeit Priesterkreise eine größere Rolle spielten als die Pharisäer. Das würde auch erklären, warum in den Anfängen der mischnaischen Tradition priesterliche Interessen so stark vertreten sind. Es bleibt dabei: „… rabbinische Quellen sind als selbständige Zeugen für die Frühzeit der Pharisäer oder Sadduzäer … i.a. unbrauchbar.“52
2.2
Namensgebung
2.2.1
Der Name Sadduzäer
Nach 2Sam 8,17 betraute David nach der Eroberung Jerusalems einen gewissen Zadoq ( ;צָ דוֹקzumeist als „Zadok“ geschrieben), der dort vermutlich schon als heidnischer Priester tätig war, mit priesterlichen Aufgaben.53 Dieser Zadoq wurde später zum Nachkommen Aarons stilisiert und zum Stammvater der Zadokiden, also der Sadduzäer. Eine weniger gebräuchliche Erklärung leitet den Namen von ( צַ ִדּיקzaddiq, gerecht) ab.54 2.2.2
Der Name Pharisäer
„Der Ausdruck ‚die Pharisäer‘ ist eine Anpassung des griech. hoi Pharisaioi, das seinerseits eine Adaptation des aram. perisha’ya bzw. des hebr. hap-perûshîm/perîshin ist. Parash bedeutet sich absondern, fernhalten, enthaltsam sein.“55 Dabei ist allerdings nicht mehr festzustellen, ob der Name ursprünglich ein Ehren- oder ein Schimpfname war und ob ihn sich die Pharisäer selbst zugelegt hatten. Im Falle einer Selbstbezeichnung würde durch diesen Ausdruck die Trennung der Pharisäer von anderen Glaubensrichtungen im Frühjudentum angedeutet sein, im Falle 51 52 53 54 55
Vgl. im Folgenden Stemberger, Pharisäer, 40, 46 und 132f. Stemberger, Pharisäer, 91. Vgl. Kollmann, Einführung, 32. Vgl. Stemberger, Art. Sadducees, 1179. Neusner/Thoma, Pharisäer, 191; Deines, Art. Pharisees, 1061. Baumgarten, Name, 411–428, hat prš im Sinne von „auslegen“ erwogen: Pharisäer als genaueste Ausleger der Schrift.
2. Sadduzäer und Pharisäer
133
einer Fremdbezeichnung scheinen die Pharisäer als gefährliche Separatisten gegolten zu haben.
2.3
Gesellschaftliche Verortung
2.3.1
Soziale Schicht
Die Sadduzäer waren der Priesteradel, Angehörige der Oberschicht, wie A.J. 13,298 unterstreicht:56 Über diesen Punkt entstanden oft heftige Streitigkeiten und Feindschaften, wobei die Sadduzäer die Reichen, aber nicht das Volk, die Pharisäer dagegen die Menge auf ihrer Seite hatten.
In ärmeren Bevölkerungsschichten hatten die Sadduzäer wohl nur wenige Anhänger. Anders die Pharisäer, bei denen Josephus mehrfach den großen Einfluss in breiteren Volksmassen herausstreicht. Wahrscheinlich waren die Pharisäer in der Regel dem Mittelstand angehörig. Vita 196f. berichtet von einer Gesandtschaft von drei Pharisäern, die als „durch Geburt wie Gelehrsamkeit hervorragende Männer“ charakterisiert werden, wobei zwei davon als δημοτικοί („aus dem einfachen Volk“) und der dritte als Priester vorgestellt werden. Es gab also auch unter den Priestern Pharisäer.57 Ansonsten wird man bei den Pharisäern von einer Art „Bildungsbürgertum“ sprechen können, das mit der Tempelaristokratie, den Sadduzäern, wetteiferte. Paulus, als ein des Lesens und Schreibens Kundiger, der mit seinem Zeltmachergewerbe gewiss nicht zur Unterschicht zählte, war bezüglich seines sozialen Profils für diese Gruppierung durchaus typisch. Die hohe Bildung der Pharisäer wird bei Josephus und im NT übereinstimmend herausgestellt. In B.J. 2,162 (vgl. B.J. 1,110; Vita 191) wird die ἀκρίβεια („Genauigkeit“) der Pharisäer in der Gesetzesauslegung betont. Das korrespondiert mit dem, was Paulus über seine Zeit als Pharisäer in Phil 3,6 sagt: Er sei „untadelig“ (ἄμεμπτος) in seiner Gesetzesobservanz gewesen. Auch Apg 26,5 bezeichnet die Pharisäer als τὴν ἀκριβεστάτην αἵρεσιν, als die „gewissenhafteste Gruppierung“ des Judentums.58 Solch eine „Gewissenhaftigkeit“ und „Untadeligkeit“ in der Auslegung und Befolgung des Gesetzes setzt natürlich einen gewissen Bildungsgrad voraus. Bei den Synoptikern werden die Pharisäer deswegen häufig mit den Schriftgelehrten „im Doppelpack“ genannt. Allerdings stellen die Schriftgelehrten einen Berufsstand dar, die Pharisäer hingegen eine Interessensgruppe.59 Dennoch belegt diese Doppelung, dass Pharisäer häufig auch schriftgelehrt waren. 56 57 58 59
Vgl. Theißen, Sadduzäismus, 233. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 77. Vgl. Berger, Pharisäer, 235. Vgl. Wilk, Evangelien, 100. Zu Schriftgelehrten im Frühjudentum: Hezser, Scribes, 149–172.
134
III. Gruppierungen des Frühjudentums
2.3.2
Habitat
Sadduzäer waren größtenteils in Judäa und natürlich besonders in Jerusalem angesiedelt (vgl. die in Judäa wohnenden Eltern des Täufers nach Lk 1,5.8f.39f., wiewohl von Zacharias natürlich nicht ausgesagt wird, dass er Sadduzäer war). Auch die Pharisäer waren größtenteils in Judäa und Jerusalem beheimatet. Nach Vita 196f. senden sie eine Gesandtschaft von Jerusalem nach Galiläa, um die Gebarungen des Flavius Josephus zu überwachen.60 Hier ist man stark an die Berichte der drei Synoptiker erinnert: Mk 7,1 Die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, versammelten sich bei Jesus. 2 Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. Mt 15,1 Da kamen von Jerusalem Pharisäer und Schriftgelehrte zu Jesus und sagten: 2 Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Alten? Denn sie waschen sich nicht ihre Hände, wenn sie essen. Lk 5,17 Und es geschah eines Tages, als Jesus wieder lehrte, saßen Pharisäer und Gesetzeslehrer dabei; sie waren aus allen Dörfern Galiläas und Judäas und aus Jerusalem gekommen.
Offensichtlich waren die Pharisäer größtenteils nicht in Galiläa beheimatet, dehnten aber ihre Einflusssphäre auch dorthin aus. Noch deutlicher wird dies im JohEv, wo die Pharisäer außerhalb von Judäa gar nicht aufscheinen.61 Wenn Pharisäer hauptsächlich in Judäa und Jerusalem vorkamen, wird man nicht damit rechnen können, dass Pharisäer in der Diaspora vertreten waren. „Die häufig vermuteten ‚Diasporapharisäer‘ mit eigenen ‚hellenistischen‘ Lehrhäusern außerhalb Eretz Israel gab es … nicht. Die strenge Einhaltung der Tora und damit auch ihre exakte ... Erforschung war unmittelbar nur im Heiligen Land möglich …“62 Wie aber verhielt es sich hier mit dem „Diasporapharisäer“63 Paulus? Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass Paulus erst in Jerusalem mit der pharisäischen Bewegung in Kontakt gekommen ist.64 Paulus war also nicht – wie Lk in Apg 23,6 glauben machen will – „Sohn von Pharisäern“, sondern kam wohl erst im Zuge eines Jerusalemaufenthaltes lange vor dem Damaskusereignis zur Gruppe der Pharisäer.65 Das ist umso
60 61 62 63 64 65
Vgl. Neusner/Thoma, Pharisäer, 205, und Wilk, Evangelien, 96f. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 36. Hengel, Stellung, 28. Schnelle, Paulus, 49. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 112, auch Stemberger, Paul, 66f. Vgl. Tiwald, Hebräer, 180–182. Vielleicht sind hier auch Kontakte mit Gamaliel I. möglich, wenngleich dieser Pharisäer nie als Lehrer von Schülern gezeichnet wird. Sollte Paulus tatsächlich „Schüler Gamaliels“ gewesen sein, „we probably have to think of Saul being witness to some of Gamaliel’s public appearances and decisions rather than of a formal discipleship“ (Stemberger, Paul, 69).
2. Sadduzäer und Pharisäer
135
plausibler, als es zwischen Tarsus und Jerusalem exzellente Beziehungen gab.66 Mitgliedschaft bei den Pharisäern und schriftgelehrtes Studium konnte man wohl nur bei einem etwas längeren Aufenthalt im Lande Israel praktizieren.67 Der vermeintliche „Diasporapharisäer“ Paulus passt damit gut in dieses Schema. Indem er sich selbst als „Hebräer“ (2Kor 11,22; Phil 3,5) bezeichnet, unterstreicht er seine engen Beziehungen zu Jerusalem und Palästina.
2.4
Theologie
2.4.1
Theologie der Sadduzäer
Apg 23,8 (vgl. Mk 12,18–27 parr.) und B.J. 2,162–165 stimmen in ihrer Einschätzung der Sadduzäer weitgehend überein:68 Apg 23,8 Die Sadduzäer behaupten nämlich, es gebe weder Auferstehung noch Engel noch Geist, die Pharisäer dagegen bekennen sich zu alldem. B.J. 2,162 Von den … genannten Sekten stehen die Pharisäer in dem Ruf gewissenhafter Gesetzesauslegung … 163 Sie schreiben dem Schicksal und Gott alles zu … Zwar sei die Seele unsterblich, es gehen aber nur die der Guten in einen anderen Leib über, die der Schlechten jedoch würden durch ewige Bestrafung gezüchtigt. 164 Die Sadduzäer, der zweite Verband, streichen das Schicksal vollständig; von Gott aber nehmen sie an, er stehe jenseits davon, etwas Böses zu tun oder auch nur mit anzusehen. 165 Sie behaupten vielmehr, der Wahl der Menschen sei das Gute und das Schlechte anheimgegeben, und nur auf Grund einer von jedem Einzelnen zu treffenden Entscheidung trete der Mensch dem einen wie dem anderen bei. Die Fortdauer der Seele und die Strafen und Belohnungen im Hades lehnen sie ab.
Die Tatsache, dass Sadduzäer nicht an ein Leben nach dem Tod glaubten und Gott auch nicht zutrauten, in den Gang dieser Welt einzugreifen, hat sie in den Ruf „epikureischer Auffassungen“ gebracht und als Vertreter eines „praktischen Atheismus“69 erscheinen lassen. Diese Sichtweise ist ungerechtfertigt, weil sie nach heutigen Maßstäben bemisst und die Parallele zur epikureischen Schule – die Josephus bewusst zieht – überbewertet. Wahrscheinlich steht hinter der Auferstehungsleugnung lediglich die traditionelle, altbiblische Auffassung von dem
66
67 68 69
Vgl. Hengel, Paulus, 191: „Wir besitzen eine ganze Reihe von Hinweisen auf besondere politische, wirtschaftliche und persönliche Verbindungen zwischen Kilikien – hier besonders Tarsus – und dem jüdischen Palästina.“ Man lese nur A.J. 13,374 (kilikische Söldner von Alexander Jannaios angeworben), B.J. 1,428 (Herodes als Wohltäter und Bauherr in Kilikien), A.J. 1,127 und 8,181 (das biblische Tarschisch wird mit Tarsus in Kilikien identifiziert). Vgl. Lohse, Paulus, 21. Vgl. Stemberger, Art. Sadducees, 1180. Vgl. dazu Stemberger, Pharisäer, 67, der diese Vorwürfe kritisch referiert.
136
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Scheol, welche der moderneren Auffassung eines Weiterlebens der Seele entgegenstand.70 Die verbreitete Schilderung der Sadduzäer als einer assimilierten, hellenisierten und primär auf die Realpolitik ausgerichteten Partei ist ein Klischee.71 2.4.2
Theologie der Pharisäer
Wie wir den oben angeführten Zitaten (Apg 23,8 und B.J. 2,162f.) entnehmen können, glaubten die Pharisäer an ein Eingreifen Gottes in diese Welt und an ein Leben nach dem Tod. In gewisser Weise kann man die Pharisäer als eine religiöse Erneuerungsbewegung – im Gegensatz zu den „konservativen“ Sadduzäern – beschreiben. Hinzu kamen Tendenzen, die rituellen Reinheitsgebote des Tempelkultes, die sonst nur für die Tempelpriester galten, nun auch auf das tägliche Leben außerhalb des Tempels umzulegen. Solche Tendenzen, „den Geltungsbereich der Toravorschriften auf das Alltagsleben außerhalb des unmittelbar kultischen Raumes auszuweiten,“72 kennen wir auch aus der Qumrangemeinde aber auch aus weiteren Kreisen des Frühjudentums (s.u. V.8.2.4).73 In gewisser Weise „demokratisierten“ die Pharisäer die Reinheitsvorschriften, die ursprünglich nur für die Priester und den Tempelkult galten. „Die Pharisäer forderten daher für sich selbst und darum in gleicher Weise für alle Juden den Status und die Verpflichtungen der Tempelpriester. Der Tisch im Haus eines jeden Juden ist wie der Tisch des Herrn im Jerusalemer Tempel.“74
3.
Herodianer
Das Neue Testament berichtet wiederholt von den „Herodianern“ (Ἡρῳδιανοί; Mt 22,16; Mk 3,6; 8,15; 12,13). Mit den Herodianern sind die Anhänger (oder auch Mitglieder) des herodianischen Herrscherhauses gemeint. Im Unterschied zu den Sadduzäern, die häufig mit den Römern kooperierten, waren die Herodianer gänzlich mit dem Machtapparat der Römer verbunden.75 Wahrscheinlich waren sie besonders mit der Einhebung der Steuern befasst, sodass Mk 12,13–17 (die Frage nach der kaiserlichen Steuer; par. Mt 22,16–22) eine gewisse historische Bedeutung zukommt.76 Nach A.J. 20,189–195 kam es zu einem Streit zwischen den Tempelpriestern und Agrippa II. Dieser gefiel sich darin, aus purem Zeitvertreib vom 70 71 72 73 74 75 76
Vgl. Stemberger, Pharisäer, 69. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 90. Niebuhr, Jesus, 343. Vgl. Niebuhr, Jesus, 325. Neusner, Judentum, 24f. Vgl. auch Mußner, Toraleben, 38. Vgl. Schäfer, Geschichte, 143. Vgl. Förster, Jesus, 145–152.
4. Essener
137
Fenster seines neu errichteten Speisesaales den Priestern beim Opfern im Tempel zuzusehen. Daraufhin ließen die Priester die Tempelmauer erhöhen. „Diese Episode zeigt, daß nicht nur zwischen dem Priesteradel und den Zeloten, sondern auch zwischen dem Priesteradel und den Herodianern eine erbitterte Feindschaft bestand.“77
4.
Essener
Dieses Buch vertritt – wie im Folgenden noch zu begründen sein wird (s.u. III.4.2) – eine weitergeführte „Groningen-Hypothese“ –, die in der Niederlassung von Qumran eine besondere Gruppe von Essener erkennt. Daher soll sich der Blick zunächst auf die Ausgrabungen von Qumran und die damit verbundenen Theorien richten.
4.1
Archäologische Eckdaten zu Ḥirbet Qumran
Ḥirbet Qumran liegt an der Westküste des Toten Meeres, auf einer Terrasse aus Mergelgestein.78 Im Jahre 1947 wurden in unmittelbarer Nähe der Ruinen (in etwa einem Kilometer Entfernung) in einer Höhle in der Wand der Mergelterrasse alte Manuskripte gefunden. Im Folgenden wurden bis in die 50er Jahre hinein elf Höhlen entdeckt, deren Verbindung zu den Ruinen von Qumran von den ersten Ausgräbern angenommen wurde (dazu mehr s.u. III.4.2.3). 4.1.1 Datierung nach R. de Vaux
R. de Vaux,79 der 1951 bis 1956 in Khirbet Qumran grub, identifizierte bereits in der späten Eisenzeit (8. bis beginnendes 6. Jh. v. Chr.) eine Ansiedlung. Danach war die Anlage verlassen und wurde in der Zeit von Johannes Hyrkanos (135–104 v. Chr.) wieder besiedelt („Phase Ia“) und unter Alexander Jannaios (103–76 v. Chr.) massiv ausgebaut („Phase Ib“). Diese Besiedlungsphase dauerte bis zu dem von Josephus B.J. 1,370–380 genannten Erdbeben im Jahre 31 v. Chr. Die Zerstörungen des Bebens lassen sich archäologisch nachweisen. Nach dieser Zeit – so die These de Vauxs – blieb Qumran unbesiedelt bis zur Neubesiedlung unter Archelaos, also 4 v. Chr. („Phase II“). Diese Besiedelungsphase endete im Jahr 68 n. Chr., als die im Zuge des Jüdischen Krieges vom Norden herannahende 77 78
79
Schäfer, Geschichte, 143. Vgl. dazu im Folgenden de Vaux, Art. Qumran, 1235–1241; Magness, Art. Qumran, 1126– 1131; Frey, Qumran, 3–49. Vgl. de Vaux, Art. Qumran, 1235–1241.
138
III. Gruppierungen des Frühjudentums
legio X fretensis erst Jericho und dann Qumran zerstörte (vgl. den Bericht der Zerstörung Jerichos und den Besuch Vespasians am Toten Meer in B.J. 4,440–489). In „Phase III“ lagerte dort die Römische Armee, später wurde Qumran von den Aufständischen unter Bar Kochba genutzt. Das große Problem bei der Datierung de Vauxs ist, dass es keinen abschließenden Grabungsbericht gab, sondern nur vorläufige Berichte.80 Dies war sicherlich auch der politischen Lage geschuldet; nach dem Sechstagekrieg 1967 wechselte neben Ostjerusalem auch die Gegend von Qumran von jordanischer in israelische Hoheit. In der unsicheren politischen Situation kam die Arbeit an den Funden wie auch die Edition der Texte ins Stocken, 1971 starb de Vaux.81 Die durch diese Verzögerung entstandenen „Verschwörungstheorien“ zur „Verschlusssache Qumran“ entbehren jeglicher Berechtigung.82 4.1.2
Neudatierung nach J. Magness und D. Mizzi
J. Magness hat wertvolle Verbesserungen an de Vauxs Datierungen vorgenommen:83 1) Die von de Vaux veranschlagte „Phase Ia“ hat es nicht gegeben. Die Wiederbesiedelung erfolgte noch nicht unter Johannes Hyrkanos, sondern frühestens 100 v. Chr. unter Alexander Jannaios,84 das zumindest legt der Befund der ergrabenen Tonscherben nahe. 2) De Vaux nahm an, dass zwischen dem Erdbeben 31 v. Chr. und der Zeit des Archelaos 4 n. Chr. Qumran unbesiedelt war. Dem widerspricht Magness mit Verweis auf einen Schatz aus tyrischen Tetradrachmen (jener Münze, mit der die Tempelsteuer bezahlt wurde), der wahrscheinlich in die „Phase II“ und nicht wie von de Vaux veranschlagt noch in das Ende der „Phase Ib“ zu datieren ist.85 Ursprünglich rechnete Magness damit, dass bald nach dem Erdbeben Instandsetzungsarbeiten ergriffen wurden und nach einem „brief period of abandonment“86 die Besiedlung weiterging. In einer rezenteren Publikation gehen D. Mizzi und J. Magness noch einen Schritt weiter und erklären: „… it seems unlikely to us that Qumran was abandoned at the end of the first century BCE. As far as the sectarian occupation is concerned, the only clear evidence for the site’s abandonment relates to the period of the First Revolt.“87 Das bedeutet, 80 81 82
83 84 85 86 87
Vgl. Broshi, Art. Qumran, 1241; Frey, Qumran, 12. Vgl. Frey, Qumran, 12f. Vgl. Frey, Qumran, 13. Nur als Fußnote sei hier auf den romanhaft-reißerischen Bestseller von M. Baigent/R. Leigh, The Dead Sea Scrolls Deception, New York 1991 (auf Deutsch „Verschlusssache Jesus. Die Qumranrollen und die Wahrheit über das frühe Christentum“, München 1991), verwiesen. Vgl. Magness, Art. Qumran, 1126–1131; Magness, Reassessment, 713f. So auch Maier, Bausymbolik, 101. Vgl. Magness, Art. Qumran, 1129. Mizzi/Magness, Abandoned, 302. Mizzi/Magness, Abandoned, 319.
4. Essener
139
„that the sectarian settlement at Qumran probably experienced one long, continuous occupation, beginning in the early first century BCE and ending in 68 CE.“88 Diese neue Datierung stützt indirekt die – auch in diesem Buch vertretene – weitergeführte „Groningen Hypothese“ (s.u. III.4.2). In der wissenschaftlichen Welt sind die neuen Datierungsversuche auf fruchtbaren Boden gefallen und werden auch hier als wahrscheinlichste Lösung zugrundegelegt.89
4.2
Theorien zu Ḥirbet Qumran
4.2.1
„Groningen Hypothesis“
Die profilierteste unter den Theorien zu Qumran ist die sogenannte „Groningen Hypothesis“.90 Sie besagt, dass alle in den Höhlen von Qumran gefundenen Manuskripte in Beziehung zu den Qumraniten stehen. Das heißt nicht, dass alle Manuskripte in Qumran geschrieben wurden. Viele Manuskripte waren von den Qumraniten bereits dorthin mitgebracht worden. Dennoch gingen diese Schriften in den Fundus der Bibliothek der Qumraniten ein. Daher stellen die Texte in den Höhlen auch keine disparate Sammlung unterschiedlicher Elemente dar, sondern eine Einheit – eben Texte der Qumrangruppe. Dafür spricht, dass nur religiöse Texte dort gefunden wurden, keine profanen. Hinter diesen Texten stand eine straff organisierte Gemeinschaft, mit einheitlichen theologischen Ansichten, einem eigenen Kalender und einer besonderen Art der Gesetzesauslegung. In der Fülle all dieser Bücher gibt es keine abweichenden theologischen Positionen. Einige der Texte, auch wenn sie aus unterschiedlichen Höhlen stammten, wurden vom gleichen Schreiber verfasst. Zwischen den Qumraniten und den Essenern kann man noch einmal unterscheiden: Die in Qumran ansässige Gruppierung war eine Untergruppe der Essener, in der sich dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ loyal gesinnte Kreise zu einer eigenen Gemeinschaft zusammenschlossen. Der in etlichen Dokumenten erwähnte „Frevelpriester“ bezeichnete eine Folge von hasmonäischen Hohepriestern – von Jonatan über Simon zu Johannes Hyrkanos, Aristobulos und Alexander Jannaios –, die alle mit der Qumrangemeinde in Konflikt standen.
88 89 90
Mizzi/Magness, Abandoned, 320. Vgl. dazu Diskussion und Überblick bei Stökl Ben Ezra, Qumran, 101–104. Vgl. im Folgenden: García Martínez, Qumran, 113–136; García Martínez/van der Woude, Hypothesis, 521–539; García Martínez, Origins, 113–136.
140
III. Gruppierungen des Frühjudentums
4.2.2
Qumran: Festung, villa rustica, Gehöft, Schriftrollenmanufaktur?
K. H. Rengstorf sowie R. Donceel und P. Donceel-Voûte91 interpretierten die Ruinen von Qumran als landwirtschaftliches Gehöft, das in die lokale Produktion eingebunden war. Y. Hirschfeld wollte in Qumran eine villa rustica sehen, N. Golb hingegen eine normale Festung, H. Stegemann eine Schriftrollenmanufaktur.92 Archäologisch stehen solche Zuordnungen auf wackeligen Beinen.93 Eine Pergamentmanufaktur scheidet aus, da man in Qumran keine Spuren des Gerbstoffs Tannin gefunden hat.94 Gegen eine villa rustica spricht das Fehlen von Mosaikfußböden und Innendekorationen.95 Der Deutung als Festung werden die schwachen Mauern nicht gerecht,96 die Deutung der Friedhöfe als Militärfriedhöfe (so Golb) passt nicht zu den dort gefundenen Skeletten.97 Die These vom landwirtschaftlichen Gehöft ist insofern nicht ganz falsch, als die Gegend um das Tote Meer vor 2000 Jahren wesentlich fruchtbarer war als heute. Ungeklärt bleiben bei der Annahme eines landwirtschaftlichen Gehöfts allerdings die Friedhöfe von Qumran.98 4.2.3
Die Verbindung der Schriftrollen mit Ḥirbet Qumran
Die Frage, welche Leute in Qumran lebten, ist nicht nur von akademischem Interesse. In den Alternativthesen wird vermutet, dass die Handschriften mit der Niederlassung von Ḥirbet Qumran nichts zu tun hätten, sondern Bibliotheken aus Jerusalem (so Golb; Rengstorf: Teil der Tempelbibliothek) entstammten. Dieser Vorwurf kann mittlerweile durch chemische Analysen zur Tinte der Qumran-Manuskripte und Neutronenaktivierungsanalysen zu den Tongefäßen entkräftet werden. I. Rabin, O. Hahn, T. Wolff, A. Masic und G. Weinberg haben in einer aufwändigen Untersuchung für 1QHodayota nachgewiesen, dass dieses Manuskript direkt in der Gegend von Qumran geschrieben wurde.99 Dabei untersuchten sie das Verhältnis der chemischen Elemente Chlor und Brom; eine besonders starke Brom91
92
93
94 95 96 97
98 99
Rengstorf, Qumran; Donceel/Donceel-Voûte, Archaeology, 1–38. Vgl. den Überblick bei Frey, Qumran, 3–49. Hirschfeld, Houses, 161–189; Golb, Problem, 1–24; ders., Scrolls, 68–82; Stegemann, Essener, 77. Vgl. Magness, Reassessment, 712; dies., Art. Qumran, 1130. Vgl. den Überblick Faßbeck, Archäologie, 111–127, weiters Frey, Qumran, 49, und Stökl Ben Ezra, Qumran, 133–148. Vgl. Frey, Qumran, 19. Vgl. Frey, Qumran, 20, und Magness, Reassessment, 712. Vgl. Broshi, Art. Qumran, 1241. Vgl. Frey, Qumran, 22f., und Zias, Cemeteries, 241, der auf das Fehlen von „traumatic injuries“ bei den Skeletten verweist, was bei einem Soldatenfriedhof zu erwarten wäre. Vgl. Frey, Qumran, 27. Vgl. Rabin u.a., Origin, 102. Als interessante weitere Erkenntnis wurde klar, dass die hier verwendete Karbontinte bereits mit etwas Gallus-Extrakt gemischt war – eine Rezeptur, die literarisch erst wesentlich später zu belegen ist.
4. Essener
141
Konzentration ist für das Wasser (sogar für frisches Quellwasser) aus der Gegend um das Tote Meer unverwechselbar.100 Interessanterweise enthält die Tinte eine noch stärkere Bromkonzentration als das beschriebene Pergament, obwohl auch beim Pergament die Konzentration ungewöhnlich hoch war. Wahrscheinlich also wurde die Tinte – die als trockenes Pulver gelagert wurde – erst kurz vor dem Schreiben mit Wasser aus der Qumran-Region angerührt. Im Prozess der Pergamentherstellung hingegen ist wohl Wasser von außerhalb der Qumran-Region zur Anwendung gekommen.101 Die unterschiedlichen Werte in Tinte und Pergament belegen, dass die Bromkonzentration nicht nur auf die späteren Lagerungsbedingungen zurückzuführen ist, da ja Pergament und Tinte seit Abfassung des Manuskripts den gleichen atmosphärischen Bedingungen ausgesetzt waren.102 Das Manuskript 1QHodayota wird der früh- bis mittelherodianischen Zeit (30 v. Chr. – 30 n. Chr.) zugerechnet und belegt, dass dieser Text in dieser Zeit in der Nähe des Toten Meeres – wahrscheinlich in Qumran selbst – geschrieben wurde. In der Anlage von Qumran wurden jedenfalls auch Tintenfässer gefunden, die so einen Befund stützen.103 Ein weiterer Beweis für die Verbindung der Schriftrollen mit Ḥirbet Qumran kann durch eine „Neutron Activation Analysis“104 der Tonwaren in Ḥirbet Qumran wie auch jener aus den Höhlen der Schriftrollen hergestellt wurden. Der schwarze Ton des Toten Meeres unterscheidet sich in seiner Zusammensetzung signifikant von anderswo gewonnener Tonerde. Als Resultat kann man festhalten, dass es keine Differenzen in der chemischen Zusammensetzung zwischen den Tongefäßen aus Ḥirbet Qumran und den Höhlen 1, 3, 7, 8, 11, 28, 29 und 39 gibt.105 Darüber hinaus besitzen 33 Prozent der untersuchten Tonwaren eine direkte chemische Beziehung zum Ort Qumran, während andere aus dem benachbarten Jericho stammten. Nicht alle in den Höhlen und in Ḥirbet Qumran gefundenen Tonwaren wurden in Qumran selbst produziert, aber für einen recht hohen Anteil der in den Höhlen gefundenen Tonkrüge lässt sich eine Herstellung unmittelbar dort nachweisen. Sogar bezüglich Ostraka (beschriebene Tonscherben, wie sie in antiken Bibliotheken gerne als „Notizzettel“ oder zur Katalogisierung verwendet wurden106), die in den Höhlen von Ḥirbet Qumran gefunden wurden, konnte so nachgewiesen werden, dass sie in der Niederlassung Qumran hergestellt wurden.107 Einige der Höhlen (5 und 7–10) dienten auch als Wohnhöhlen, in denen Qumraniten 100 101 102 103 104 105 106 107
Vgl. Rabin u.a., Origin, 97. Vgl. Rabin u.a., Origin, 100. Vgl. Stökl Ben Ezra, Bibliotheken, 328f. Vgl. Frey, Qumran, 31. Vgl. Gunneweg/Balla, Analysis, 3 und 5–7. Vgl. Gunneweg/Balla, Analysis, 24. Vgl. Gunneweg/Balla, Connection, 389. Vgl. Gunneweg/Balla, Connection, 394.
142
III. Gruppierungen des Frühjudentums
lebten, dies zumindest belegt ein Zeltpfahl, der in der Nähe der Höhlen gefunden wurde.108 Fazit: An einer Verbindung der in den Höhlen gefundenen Schriftrollen mit der Niederlassung in Ḥirbet Qumran ist nicht mehr zu rütteln. Die in Qumran lebenden Menschen waren jene Gruppierung, die mit ihrer Lebenspraxis und ihrem Glauben hinter den Texten von Qumran standen. Diese Untersuchungen stützen die „Groningen-Hypothesis“. Abschließend erscheint also eine weitergeführte „Groningen-Hypothesis“ noch immer als plausibelste Lösung.109 Zu den Qumrantexten und weiteren Argumenten für die Einheitlichkeit des Corpus s.u. III.8.5. 4.2.4
Qumran und die Sadduzäer
Die Vorgänger der später (frühestens 100 v. Chr. bis 68 n. Chr.) in Qumran ansässigen Gruppierung hatten sich nach der zum Laubhüttenfest des Jahres 153 v. Chr. erfolgten Usurpation des Hohepriesteramtes durch den Makkabäer Jonatan unter Führung des „Lehrers der Gerechtigkeit“ in eine Oppositionsrolle zum Hohepriester begeben (s.o. II.4.1.5 und III.1.2.2). Vielleicht war der „Lehrer der Gerechtigkeit“ sogar ein Hohepriester, der von Jonatan aus dem Amt gedrängt wurde, wahrscheinlicher aber einfach nur ein Prätendent auf dieses Amt, der sich übergangen fühlte.110 Infolgedessen bezeichnete die Gruppe um den „Lehrer der Gerechtigkeit“ den in ihren Augen illegitim amtierenden Hohepriester mit dem Sobriquet „Frevelpriester“. Der Bruch scheint aber noch keinesfalls endgültig gewesen zu sein, wie 4QMMT beweist. Dieses Schreiben wurde wahrscheinlich anlässlich eines Wechsels des Hohepriesteramtes von Jonatan auf Simon oder von Simon auf Johannes Hyrkanos verfasst, in der Hoffnung, den neuen Hohepriester für eine bestimmte Auslegung der Tora zu gewinnen.111
108 109
110
111
Vgl. Frey, Qumran, 30, und de Vaux, Art. Qumran, 1240. Zu Modifikationen des klassischen Interpretationsmodells vgl. Frey, Qumran, 37–42. Ein nicht-archäologisches, sondern textgestütztes Argument, dass in Qumran eine Sondergruppe lebte, bietet Dimant, Vocabulary, 347–395, aufgrund sprachlicher Merkmale der Qumranschriften („a whole series of new lexical combinations on the basis of wellknown biblical expressions and how they built up a unique terminological system“): diese „constitute indubitable signs of a sectarian character“ (a.a.O. 395). Zur Diskussion vgl. Stökl Ben Ezra, Qumran, 68: Das Dokument 4QMMT „scheint positive Beziehungen zwischen Jachad und den Jerusalemer Machthabern vorauszusetzen und erwähnt halachikhische Probleme, nicht dynastische Streitigkeiten als Hauptpunkte der Auseinandersetzung …“ García Martínez, Temple, 444, datiert die Urschrift von 4QMMT durch die Nähe zur Tempelrolle „towards the mid-second century BCE.“
4. Essener
4.2.5
143
Qumran und die Essener
Warum dann ab frühestens 100 v. Chr. die Anhänger des „Lehrers der Gerechtigkeit“ (der zu dieser Zeit schon gestorben war, s.o. III.1.2.2) in Qumran eine eigene Niederlassung begründeten, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Möglich wäre ein Zusammenhang mit dem Amtsantritt von Alexander Jannaios 103 v. Chr. Vielleicht wurde den Nachfolgern des „Lehrers der Gerechtigkeit“ klar, dass der Bruch mit den hasmonäischen Hohepriestern nicht mehr in unmittelbarer Zukunft zu kitten war. Ziel war es wohl, eine als „Menschenheiligtum“ definierte Gruppierung, die besonders strengen Reinheitsvorschriften unterlag, jene Sühnefunktion übernehmen zu lassen, die ansonsten dem Jerusalemer Tempel zustand. Dies wird klar aus 1QS IX,3–6: 3 Werden diese in Israel nach allen diesen Anordnungen zur Gründung eines heiligmäßigen Geistes für Wahrheit 4 von Ewigkeit, zu sühnen ( )לכפרfür Untreueschuld und Veruntreuungssünde und zum Wohlgefallen für das Land, (und zwar) mehr als Brandopferfleisch und mehr als Fettstücke von Schlachtopfern, und ein Hebopfer 5 von Lippen nach Vorschrift als rechte Beschwichtigung und vollkommener Wandel als wohlgefällige freiwillige Gabe: zur Zeit sondern die Männer 6 der Einung ( )יחדab ein heiliges Haus für Aaron ()בית קודש לאהרון, um sich als Allerheiligstes zu einen ()להוחד קודש קודשים, und ein Einungs-Haus für Israeliten, die in Vollkommenheit wandeln ()ובית יחד לישראל ההולכים בתמים.
Der jaḥad ()יחד, also die „Einung“ als Selbstbezeichnung der Qumrangemeinde,112 sieht sich verpflichtet, die Sühnefunktion („zu sühnen“, )לכפרdes Jerusalemer Tempels zu übernehmen. Wie Maier gezeigt hat, stammt das Kernmaterial der „Sektenregel“ (also 1QS und die Paralleltraditionen) „auf alle Fälle aus der Zeit vor 100 v. Chr., also vor der Gründung der Anlage auf Khirbet Qumran …“113 So kann man J. Frey nur zustimmen, der zum Schluss kommt: „Mit der kürzeren Siedlungschronologie [sc. erst ab frühestens 100 v. Chr.] fällt auch der in der Frühzeit der Forschung oft angenommene direkte Bezug der Gemeinderegel (1QS V,1–IX,26) auf die Anlage von Qumran weg. Die Regeln in 1QS spiegeln nicht einfach die Ordnung der in Qumran ‚ansässigen‘ Gemeinde, vielmehr ist damit zu rechnen, dass diese lange vor der Inbetriebnahme der Anlage von Qumran für Gruppen des yaḥad an verschiedenen Orten des Landes zusammengestellt wurden, was nicht ausschließt, dass dann ein Teil dieser Gruppe auch in Qumran später diesen Bestimmungen folgte ...“114 Auch Josephus berichtet in B.J. 2,124 Ähnliches über die Essener: „Es ist aber nicht eine einzelne Stadt die ihrige, sondern in jeder wohnen viele“, was sich mit dem Befund bei Philon Prob. 76 deckt: „daß sie in Dörfern wohnen und vermeiden, in Städte zu kommen.“ Daher muss die Aussage von einer 112 113 114
Vgl. Maier, Bausymbolik, 101f. Maier, Bausymbolik, 101. Frey, Qumran, 38.
144
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Einung zu einem „heiligen Haus für Aaron“ auch keine baulichen Strukturen meinen, es geht eher um ein „Menschenheiligtum“, wie 4Q174 III,5–7 (= Frg. 1) verdeutlicht: 5 … Und nicht werden wieder Fremde es zerstören, wie sie vordem zerstört haben 6 das Heilig[tum I]sraels durch dessen Versündigung. Und Er sagte an, Ihm zu erbauen ein Menschen-Heiligtum ()מקדש אדם, damit man in ihm Räucherwerk ( )מקטיריםdarbringt für Ihn 7 vor Ihm als Dank-Erweise (מעשי תודה, eigentlich „Werke des Lobpreises“) …
Das Menschenheiligtum wird durch „Werke des Lobpreises“115 Räucheropfer ( )מקטיריםfür Gott darbringen. Es ist hier also nicht an eine Substitution des Tempels in Jerusalem gedacht, aber sehr wohl an eine Substitution gewisser Sühnefunktionen, die man dem verunreinigten Tempel nicht mehr zutraute.116 Aufgrund der Kultzentralisation, die seit Joschija galt, „war es ihnen aber unmöglich, ein eigenständiges Heiligtum zu errichten, so dass sie als Ersatz für den Kult ein System entwickelten, in dem anstelle des Opfers das Gotteslob trat.“117 Dass die Qumraniten den Tempel nicht grundsätzlich ablehnten, wird klar aus A.J. 18,19, wo vom Senden von Weihegaben an den Tempel durch Essener die Rede ist, obwohl diese sich weigerten, am Opferkult im Tempel teilzuhaben.118 Unklar allerdings bleibt weiterhin, wie die Gruppe der Qumraniten mit der Gruppe der Essener interagierte. Jedenfalls war Qumran „nicht das ‚essenische‘ Zentrum“119. So bleibt letztlich unklar, wie sich der in den Qumrantexten (besonders in der „Sektenregel“) angedeutete engere Kreis definierte. „Vieles deutet aber darauf hin, dass in der hinter den Qumrantexten stehenden Richtung, die man von den ‚Essenern‘ nicht einfach trennen kann, ein innerer Kreis die Funktion einer diensthabenden Priesterschaft mit eventueller Laienpräsenz … erfüllen wollte.“120 Somit wird klar, „dass die Siedlung als Ort der höchsten Reinheitsstufe, wie eine bereits gelebte und realisierte Utopie“121 verstanden wurde. Die Niederlassung von Qumran war damit wohl nur eine von vielen Niederlassungen der Essener, wahrscheinlich aber die größte und bedeutendste. Wahrscheinlich drückt sich in der Niederlassung von Qumran das Bedürfnis aus, dass „sich innerhalb der 115
116
117 118 119 120 121
Textkritisch steht hier wohl מעשי תודה, „Werke des Lobpreises“ und nicht מעשי תורה, „Werke der Tora“ (vgl. den akribisch dargestellten Befund bei Kuhn, Bedeutung, 205f.). Vgl. Maier, Bausymbolik, 104: „Nicht der Tempel wird ersetzt, sondern einige seiner Funktionen.“ Ähnlich Paganini, Ezechiel, 415: „Der Tempel wurde von ihnen [sc. den Qumraniten] aber nicht an sich verworfen ..., sondern nur in Zusammenhang mit den damals für den Kult verantwortlichen Personen.“ Paganini, Ezechiel, 415. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 125. Maier, Bausymbolik, 102. Maier, Bausymbolik, 105f. Paganini, Ezechiel, 419.
4. Essener
145
Gruppe eine Anzahl ‚heiliger Männer‘ für diesen Zweck noch eigens absondern musste, in Entsprechung zur diensthabenden Priesterschaft am Heiligtum.“122 Dies könnte gut unter Alexander Jannaios passiert sein, der als „Löwe des Zornes“ im Nachumpescher positiv erwähnt wird (s.o. II.4.2.3) und dieses Bauvorhaben vielleicht sogar begünstigte. Eine solche Gründung konnte nicht ohne Wissen und völlig gegen den Willen des Regenten errichtet werden.123 Vielleicht war die Gründung von Qumran sogar eine Art agreement zwischen Alexander und den Essenern: Wenn der Bruch zum Tempel in Jerusalem schon nicht gekittet werden konnte, dann wurde für die Qumranleute wenigstens eine „Ausweichmöglichkeit“ geschaffen. 4.2.6
Qumran und die Pharisäer
Die positive Erwähnung von Alexander Jannaios im Nachumpescher geschieht im Zusammenhang mit der Erwähnung, dass dieser 800 seiner Gegner als „Racheakt an denen, die glatte Anweisungen geben“ kreuzigen ließ. Alexander Jannaios wird in diesem Zusammenhang als „Löwe des Zornes“ bezeichnet. Mit „denen, die glatte Anweisungen geben“ bzw. den „Auslegern von glatten Dingen“ ( דורשי החלקות, dorsche ha-ḥalaqot) dürften nach Überzeugung der meisten Forscher die Pharisäer gemeint sein, die auch in anderen Qumrantexten (4Q169 I,2 und II,2 sowie CD I,18) mit diesem Spottnamen bedacht werden.124 Im Wortspiel דורשי החלקות („Ausleger von glatten Dingen“) werden die halachot ( )הלכותder Pharisäer, also deren Gesetzesauslegungen, zu ḥalaqot ()חלקות, „glatten Dingen“, verballhornt: Die Qumraniten werfen den Pharisäern vor, sich ihre Gesetzesauslegung bequem glattgeschliffen zu haben. In CD VIII,12f. hingegen werden die Pharisäer als „Tüncheschmierer“, „Windwäger“ und „Lügenprediger“ beschimpft.125 Das erinnert ein wenig an den Vorwurf in Mt 23,27 (vgl. Lk 11,44), wo die Pharisäer als „übertünchte Gräber“ bezeichnet werden. In CD VIII,12f. findet sich auch die Verspottung der Pharisäer als „Erbauer der Mauer“ ()בוני החיץ. Das stellt eine Anspielung auf Ez 13,10 dar, wo die falschen Propheten eine Mauer nur schlecht übertünchen und diese dann einstürzt – auch das ein Bild für falsche, das Volk irreführende
122 123
124
125
Maier, Bausymbolik, 104. Vgl. Maier, Bausymbolik, 101: „Das ganze Gebiet [sc. um Qumran] war zum größten Teil entweder staatlicher (königlicher) oder priesterlicher Besitz. Es ist kaum vorstellbar, dass sich auf Khirbet Qumran eine Gruppe so ohne Weiteres niederlassen konnte, es bedurfte dazu schon der Einwilligung des Herrschers, der in diesem Fall zugleich Hohepriester war und daher die Region wohl völlig unter Kontrolle hatte.“ Vgl. VanderKam/Flint, Meaning, 276–280; ebenso VanderKam, Pharisees, 225–236. Siehe auch Tiwald, Hebräer, 375–377. Maier, Nachumpescher, 239, hat nachgewiesen, dass diese Beleidigungen tatsächlich an die Adresse der Pharisäer gerichtet sind. Vgl. Tiwald, Valeur, 119f.
146
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Lehrer.126 Es ist klar, dass die Sympathien der Essener eher noch bei den Sadduzäern lagen – denen zwar Verunreinigung des Heiligtums vorgeworfen wurde, die aber trotzdem der aristokratischen Priesterklasse angehörten –, als bei den zumeist nicht aristokratisch-priesterlichen Pharisäern. Wenn jemand so stark in den Kategorien von Heiligkeit, Reinheit und Erwähltheit dachte wie die Essener, dann musste er sämtliche Versuche der Pharisäer als „Tüncheschmieren“ und „Windwägerei“ empfinden. 4.2.7
Größe der Qumran-Gemeinde, Lebensunterhalt, Reinheitsriten
Wahrscheinlich konnten etwa 150 Personen gleichzeitig in Qumran leben,127 die auch in den nahegelegenen Höhlen und in Zelten nächtigten und von Landwirtschaft, Schafherden und Dattelpalmen lebten.128 Dass so viele Menschen über einen so langen Zeitraum in Zelten nächtigten, geschah wohl nicht nur faute de mieux, sondern hatte eine theologische Bedeutung: Die Qumraniten verstanden sich gemäß der Tempelrolle als das in Zelten weilende Bundesvolk und Wüstenheiligtum, wie es im Buch Numeri beschrieben wird.129 In Qumran haben wir Hinweise auf eigene Keramikproduktion130 (für 33 Prozent der untersuchten Tonwaren lässt sich eine direkte chemische Beziehung zum Ort Qumran nachweisen131) und Belege, dass etliche der Schriftrollen in Qumran selbst geschrieben wurden.132 Die hohe Anzahl der dort gefundenen Tintenfässer (fünf oder sechs) unterstreicht dies zusätzlich.133 Die zehn gefundenen Ritualbäder134 belegen, dass die Gemeinschaft kultische Reinheit besonders genau nahm. Die Trennschwelle in der Mitte der Treppen macht klar, dass es sich nicht um normale Wasserbassins handelt, sondern um miqwaot. Diese trennte die zur Waschung hinabsteigenden Unreinen von den wieder heraufsteigenden Reinen.135 Solche Bäder wurden auch in Jerusalem in der Nähe des Tempelareals gefunden und belegen Reinheitspraktiken in
126 127
128
129 130 131 132 133 134 135
Vgl. Stemberger, Pharisäer, 117f. Vgl. de Vaux, Art. Qumran, 1240 („some two hundred“); Stökl Ben Ezra, Mystère, 112 („150 personnes en même temps“); Frey, Qumran, 41 („120–150 Personen“). Vgl. de Vaux, Art. Qumran, 1240. Ein Zeltpfahl wurden in der Nähe der Höhlen gefunden (s. ebd.). Vgl. Magness, Sacrifices, 33. Vgl. Frey, Qumran, 41. Vgl. Gunneweg/Balla, Analysis, 24. Vgl. Rabin u.a., Origin, 102. Vgl. Stökl Ben Ezra, Mystère, 111. Vgl. Frey, Qumran, 40. Vgl. Stökl Ben Ezra, Mystère, 111, und ders., Qumran, 111. Vgl. dazu auch die Untersuchung von Galor, Pools, 317, die auf die „concentration of stepped pools“ hinweist, was klar für eine „predominantly Jewish identity of the inhabitants“ spricht und die Deutung als miqwaot nahelegt.
4. Essener
147
priesterlichen Kreisen136. Die peniblen Reinheitsriten der Essener werden von Josephus B.J. 2,147–149 beschrieben: 147 [Am Sabbat wagen sie] nicht einmal auszutreten. 148 An den anderen Tagen aber heben sie eine einen Fuß tiefe Grube aus mit ihrer Hacke – etwas Derartiges ist nämlich die kleine Axt, die von ihnen den neu Eintretenden gegeben wird – hüllen ihren Mantel herum, um die Strahlen Gottes nicht zu beleidigen und verrichten dort ihre Notdurft. 149 Dann scharren sie die aufgeworfene Erde wieder in die Grube; bei diesen Verrichtungen suchen sie entlegenere Plätze aus. Obwohl ja die Ausscheidung der Exkremente etwas Natürliches ist, haben sie den Brauch, sich danach zu waschen, als wenn sie sich verunreinigt hätten.
Dies deckt sich mit den Anweisungen von Dtn 23,9–14, Exkremente zu vergraben.137 Die Anweisungen der Tempelrolle (11Q19 XLVI,13–16) und der Kriegsrolle (1QM 7,6f.) machen allerdings klar, dass man die Vorschrift von Dtn 23 auch mit festen Toiletten erfüllen konnte:138 11Q19 XLVI,13 Und du machst für sie einen Abort außerhalb von der Stadt (vgl. Dtn 23,13), wohin sie hinausgehen sollen 14 … Häuschen und gezimmerte Balken und mit Gruben in ihnen, 15 damit der Kot in sie hinunterfällt und nicht sichtbar ist, mindestens entfernt von der Stadt dreitausend Ellen.
Die Darstellung entspricht den archäologischen Funden in Qumran.139 Allerdings ist die angegebene Distanz so groß, dass sie einen Sabbatweg übersteigt. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Qumraniten am Sabbat tatsächlich Stuhlgang vermieden – so die Deutung von Magness,140 die sich mit dem Befund in B.J. 2,147 (Text s.o.) deckt. Die etwas „rustikale“ Vorschrift vom Vergraben der eigenen Exkremente war bei einer Gemeinschaft mit 150 Personen nicht mehr praktikabel und schon allein deswegen waren feste Latrinen vonnöten.
4.3
Die Essener in der Darstellung des Josephus
4.3.1
Glaube an Vorherbestimmung und Auferstehung
Der Glaube der Essener an göttliche Vorherbestimmung ist in den Qumrantexten vielfach belegt141 und deckt sich mit der Darstellung bei Josephus A.J. 13,172f.: 172 Die Pharisäer behaupten, dass manches, aber nicht alles, nach unabweisbarem Schicksal (εἱμαρμένη, heimarmenē) geschehe, manches dagegen auch aus eigener Kraft entweder geschehe oder unterbleibe. Die Schule der Essener dagegen lehrt, das 136 137 138 139 140 141
Vgl. Frey, Qumran, 40f., und Stemberger, Pharisäer, 73. Vgl. Magness, Toilet, 57. Vgl. Magness, Toilet, 57. Vgl. Magness, Reassessment, 716f. Vgl. Magness, Reassessment, 717. Vgl. Lichtenberger, Studien, v.a. 184–189.
148
III. Gruppierungen des Frühjudentums Schicksal leite alles, und es komme unter Menschen nichts vor, das nicht durch dasselbe herbeigeführt sei. 173 Die Sadduzäer nun bekämpfen die Lehre vom Schicksal durchaus und behaupten, es gebe weder eines, noch würde des Menschen Geschick dadurch bestimmt, sondern alles beruhe auf uns selbst, so dass wir eben sowohl die Ursache unseres eigenen Glücks seien, als durch eigene Unentschlossenheit uns unser Unglück zuzögen. …
Die Essener sind also noch stärker vom Glauben an die göttliche Vorsehung142 geprägt als die Pharisäer, während die Sadduzäer diesen Vorstellungen distanziert gegenüberstehen. Auch in puncto Auferstehungshoffnung stehen die Essener den Pharisäern näher als den Sadduzäern, da auch sie an die Auferstehung glauben, wie A.J. 18,18 und B.J. 2,154–158 deutlich machen. 4.3.2
Sabbatheiligung
Was die Strenge der Gesetzesauslegung betrifft, betont Josephus zwar wiederholt die ἀκρίβεια („Genauigkeit“, B.J. 2,162; vgl. B.J. 1,110) der Pharisäer, doch bei der Sabbatheiligung konzediert er den Essenern, strenger zu sein als alle anderen Gruppen des Judentums (B.J. 2,147). Das deckt sich mit Positionen aus dem Jubiläenbuch (entstanden um 150 v. Chr.), das ebenfalls in Qumran gefunden wurde. Jub 2 etwa propagiert eine „schöpfungstheologische Sabbatbegründung“143: Die gesamte Welterschaffung läuft hier auf den Sabbat zu. Jub 50,12f. verbietet das Kämpfen am Sabbat, eine Regelung, die anfangs auch in 1Makk 2,34–38 und 2Makk 6,11; 8,26–28 vertreten wurde. Dennoch bewilligt 1Makk 2,41 schließlich die Regelung, auch am Sabbat kämpfen zu dürfen, und Josephus konzediert militärische Selbstverteidigung am Sabbat (A.J. 12,277; 14,63; B.J. 1,146), während er den aktiven Angriffskrieg für diesen Tag ablehnt (Vita 159 und 161).144 Wahrscheinlich verbietet CD XI,4 auch, einen Eruv anzulegen, also die Möglichkeit, in abgesteckten Grenzen Erleichterungen für den Sabbat zu ermöglichen.145 Überhaupt sind die Vorschriften zur Sabbatheiligung in CD X,14–11,18 ausgesprochen streng (zu divergierenden Sabbathalachot im damaligen Judentum s.u. V.5.3.1). 4.3.3
Essener in Jerusalem
Nach B.J. 5,145 gab es in Jerusalem ein „Essenertor“ (τὴν Ἐσσηνῶν πύλην), das westlich vom Turm Hippikos (dem heutigen Jaffator) in der Nähe des Βηθσω 142
143 144 145
„Im Hebräischen gibt es kein Wort, das dem griechischen heimarmenē entspricht; offenbar hat Josephus, eventuell schon seine Vorlage (Nikolaus von Damaskus), den Begriff göttlicher Vorsehung und Vorherbestimmung in griechisch-philosophische Begrifflichkeit übersetzt“ (Stemberger, Pharisäer, 66). Doering, Sabbat, 419. Vgl. dazu Doering: Schabbat, 498–502. So Stemberger, Pharisäer, 72, auch wenn die Deutung der Stelle umstritten ist.
4. Essener
149
(bēthsō) genannten Platzes gelegen war. „Wenn man Betso als Transkription des hebräischen Ausdrucks bet tso’a, ‚Latrine‘, verstehen darf, kann man dies mit den Vorschriften der Tempelrolle verbinden, wonach man Jerusalem nicht durch Ausscheidungen verunreinigen darf und daher 3000 Ellen nordwestlich der Stadt eine Latrine anzulegen hat (11QT 46,13–16).“146 Dann könnte es sein, dass man das Essenertor „als einen Hinweis auf eine essenische Gemeinschaft in Jerusalem verstehen [kann], die vermutlich in der Nähe des Tores wohnte und es vielleicht als Ausgang zu den Latrinen benutzte.“147 4.3.4
Josephus – Qumrantexte – archäologische Funde
Josephus berichtet in B.J. 2, dass es beim Eintritt in die Gemeinschaft der Essener eine einjährige Probezeit gibt (B.J. 2,137) und im Anschluss noch einmal eine zwei Jahre dauernde Frist bis zur endgültigen Aufnahme (B.J. 2,138). Das „Noviziatsjahr“ deckt sich mit 1QS VI,17, allerdings wird in 1QS VI,21 noch von einem zweiten Probejahr berichtet. Übereinstimmend ist auch, dass der Neuling noch nicht zum vollen Gemeinschaftsleben zugelassen wird, wie B.J. 2,138 und 1QS VI,20 deutlich machen. In 4Q258 (= 4QSd) Frg. 1 Kol. II,1–7 (vgl. 1QS V,21 – VI,7) heißt es über diejenigen, die in die Gemeinschaft eintreten: 2 … Und sie einzuschreiben in die (Rang-)Ordnung, einen jeden vor seinem Nächsten entsprechend seinem Verstand 3 und seinen Taten in der Torah, damit alle gehorsam seien einer gegenüber dem andern, der Kleine dem Großen, und daß man mustere ihren Geist und ihre Taten 4 in der Torah Jahr für Jahr, um einen jeden höher zu stufen entsprechend [seinem] Ver[stand,] und ihn zurück zu stufen entsprechend seiner Verkehrtheit … 6 … Darin sollen [sie] verfahr[en] an all ihren Aufenthaltsorten bezüglich jeder Sache (im Verhältnis) mit seinem Nächsten, und sie sollen gehorchen, der Kleine 7 dem Großen, in Bezug auf Arbeit und auf [Geld, und gemeinschaftlich sollen sie essen] und gemeinschaftlich sollen sie Benediktionen rezitieren und gemeinschaftlich sollen sie sich bera[ten …].
Auch Josephus berichtet von einer strengen Rangordnung in der Gemeinschaft (B.J. 2,150) und von gemeinsamen Gebets- und Essenszeiten (B.J. 2,128–133). Auch die besondere Betonung des Gehorsams wird bei Josephus herausgestrichen (B.J. 2,134). Die Gütergemeinschaft betont B.J. 2,122–127 genauso wie auch 1QS VI,18– 20, wo es über den Neuaufgenommenen nach dem ersten Probejahr heißt: 18 Hat er ein Jahr innerhalb der Einung verbracht, fragen die Vollmitglieder nach seinen Worten, seinen [sic] Verstand und seine [sic] Taten in der Torah, und wenn für ihn das Los(/die Entscheidung) dahin fällt, 19 der Gemeinschaft der Einung nahe zu kommen gemäß der Weisung der Priester und der Mehrheit der Männer des Bundes, dann 146 147
Stemberger, Pharisäer, 124. In diesem Sinne auch Riesner, Quarter, 210f. Stemberger, Pharisäer, 124. Bzgl. des Essenertors sollte man allerdings Vorsicht walten lassen, da die von B. Pixner durchgeführten Ausgrabungen und Rückschlüsse nicht so eindeutig sind, wie vom Ausgräber gewünscht (vgl. Riesner, Quarter, 212f.).
150
III. Gruppierungen des Frühjudentums bringe er auch seinen Besitz darin ein und seine Arbeit(serträge), (und zwar) zu Händen des 20 Aufsehers über die Arbeit der Vollmitglieder.
Als Strafmaßnahme im Falle des Ungehorsams droht 4Q258 (= 4QSd) Frg. 2 Kol. II,1– 3 (vgl. 1QS VII,18–20) einen Ausschluss für zwei Jahre an. Auch B.J. 2,143 erwähnt die Möglichkeit eines Ausschlusses, wenngleich nicht auf Zeit, sondern endgültig. Josephus berichtet auch von Waschungszeremonien vor den Mahlzeiten und von zeremoniellen Mählern (B.J. 2,129–133), „den Speisesaal aber betreten sie als Reine wie einen heiligen Bezirk“ (αὐτοί τε καθαροὶ καθάπερ εἰς ἅγιόν τι τέμενος παραγίνονται τὸ δειπνητήριον). Die zehn Bäder, die in Qumran gefunden wurden, legen die Verwendung als miqwaot nahe, wie wir schon oben konstatieren konnten. Und der von de Vaux „als Speisesaal gedeutete große Raum locus 77 ist angesichts der enormen Mengen von Essgeschirr, das im Nebenraum gefunden wurde, nach wie vor am besten als Versammlungs- und Speiseraum zu deuten.“148 In B.J. 2,142 und 159 ist die Rede von der Hochachtung, welche die Essener vor den Büchern ihrer Gruppierung bzw. den heiligen Büchern haben, in denen sie eifrig geschult sind. Auch dies steht in Korrespondenz zu den in Qumran gefundenen Schriftrollen.
4.4
Das Zeugnis des Philon über die Essener
In Prob. 75–91 schreibt Philon, dass es auch im Judentum weise und tugendhafte Menschen gibt und zitiert als Beispiel die Essener: 75 … Einige unter ihnen werden Essaier genannt, über viertausend an Zahl. Ihr Name ist meiner Meinung nach – mit einer ungenauen Wortprägung der griechischen Sprache – von hosiotes (Heiligkeit) abgeleitet, da sie im höchsten Maße zu Dienern Gottes wurden, nicht durch Tieropfer, sondern dadurch, daß sie es für ihre Pflicht halten, ihren Geist zu heiligen. 76 Das erste, was an ihnen hervorsticht, ist, daß sie in Dörfern wohnen und vermeiden, in Städte zu kommen wegen der Ruchlosigkeit, die den Bewohnern der Städte zur Gewohnheit wurde. … 77 Sie sind fast die einzigen von allen Menschen, die nicht aus Mangel an Glücksgütern, sondern vielmehr mit Absicht weder Geld noch Land besitzen und dabei doch für sehr reich gehalten werden, weil sie es als ein Übermaß an Reichtum – was es ja auch ist – betrachten, wenig zu bedürfen und genügsam zu sein. 80 … Mit dem Studium der Ethik jedoch befassen sie sich sehr, wobei sie als Lehrmeister ihre väterlichen Gesetze verwenden, welche die menschliche Seele ohne göttliche Inspiration nicht ersonnen haben kann. 81 In diesen Gesetzen werden sie zwar täglich unterrichtet, vornehmlich aber jeweils am siebten Wochentag. Der siebte Wochentag nämlich gilt als heilig. An ihm enthalten sie sich der sonstigen Verrichtungen und begeben sich zu geheiligten Orten, welche Synagogen genannt werden. Dort nehmen die Jüngeren zu Füßen der Älteren Platz; und so sitzen sie dann reihenweise, altersmäßig geordnet, mit dem gebührenden Anstand und sind bereit, die heiligen Worte zu hören. … 85 Zunächst, niemand besitzt ein Haus so zu eigen, daß es nicht auch allen gemeinsam gehörte. Denn abgesehen davon, daß sie in Gemeinschaft 148
Frey, Qumran, 41.
4. Essener
151
zusammen wohnen, steht jedem Gleichgesinnten, der anderswoher zu ihnen kommt, die Tür offen. 86 Sodann haben sie alle nur eine Vorratskammer und allen gemeinsam gehörendes Geld zum Ausgeben; allen gemeinsam gehören auch die Kleider sowie die Speisen, wenn sie gemeinschaftliche Mahlzeiten veranstalten. …
An auffälligen Parallelen zum Befund bei Josephus und den Qumrantexten ist zu nennen: Die Essener bringen keine Schlachtopfer dar. Im „Menschenheiligtum“ werden nur „Opfer des Lobpreises“ (vgl. 4Q174 III,5–7, s.o. III.4.2.5) vor Gott gebracht. Weiter betont Philon die Affinität der Essener zur Reinheit. Auch für Philon leben die Essener aufgeteilt auf unterschiedliche Ortschaften und nicht nur an einem Ort, wie auch Josephus in B.J. 2,124 zu berichten weiß („Es ist aber nicht eine einzelne Stadt die ihrige, sondern in jeder wohnen viele“). Ähnlich wie bei Josephus und den Qumrantexten wird auch hier die Gütergemeinschaft angesprochen. Der Verweis darauf folgt zwar bei Josephus wie auch bei Philon literarischen Topoi (man ist stark an Apg 4,32–37 erinnert),149 dennoch trifft die Sache einen wahren Kern, wie wir den Qumrantexten selbst entnehmen können (s.o. III.4.3.4). Auch, dass von auswärts zureisende Essener gastfreundlich aufgenommen werden, findet sich bei Josephus (B.J. 2,125). Das Studium der Gesetze wird hoch veranschlagt, ebenso wie die Sabbatheiligung, beides ist uns aus den Qumrantexten und aus Josephus bekannt. Ebenso wird auch hier auf die strenge Rangordnung bei den Essenern verwiesen.
4.5
Die Frage der Ehelosigkeit in Qumran
4.5.1
Plinius der Ältere über die Essener
Plinius der Ältere beschreibt in NatHist 5,15,73 Niederlassungen am Toten Meer: Im Westen [sc. des „Asphaltsees“, d.h. des Toten Meeres, so genannt wegen des Bitumens] weichen die Essener von den Küsten zurück, soweit diese ungesund sind, ein einsamer und auf dem ganzen Erdkreis vor allen anderen merkwürdiger Stamm, ohne jede Frau (sine ulla femina), jeder Wollust abhold (omni venere abdicata), ohne Geld (sine pecunia) und nur in Gesellschaft von Palmen. Er erneuert sich gleichmäßig Tag für Tag durch die Menge der Neuankömmlinge, da viele dorthin wandern, die das Schicksal durch seine Stürme als Lebensmüde veranlaßt, ihre Sitten anzunehmen. So besteht ein Stamm, bei dem niemand geboren wird, über Jahrhunderte fort, was unglaublich scheint. So fruchtbar ist für jene der Lebensüberdruß anderer! Unterhalb von ihnen (infra hos) lag die Stadt Engada, die zweite nach Hierosolyma hinsichtlich der Fruchtbarkeit und wegen der Palmenhaine, jetzt ist sie ebenfalls ein Schutthaufen. Darauf folgt die Festung Masada auf einem Felsen, selbst auch nicht weit vom Asphaltsee. Und bis hierher reicht Iudäa.
149
Vgl. dazu Klauck, Gütergemeinschaft, 69–100, der diese Texte vor dem Hintergrund antiker Freundschaftsethik und hellenistischer Sozialutopien liest.
152
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Auch wenn die Bedeutung der Wendung infra hos („unterhalb von ihnen“) umstritten ist, wird sie zumeist im Sinne von „südlich“ gedeutet.150 Das würde dann für Qumran passen. Der Hinweis „ohne Geld“ deckt sich mit den Aussagen über eine Gütergemeinschaft in den Qumrantexten, bei Josephus und Philon. 4.5.2
Ehelosigkeit der Essener bei Plinius, Josephus und Philon
Umstritten ist in den Aussagen des Plinius (s.o.) die Frage der Ehelosigkeit („ohne jede Frau, jeder Wollust abhold“; „ein Stamm, bei dem niemand geboren wird“). Immerhin berichtet Josephus B.J. 2,120: … Und über die Ehe herrscht bei ihnen ein geringschätziges Urteil, die fremden Kinder aber, die sie in einem für die Bildung aufnahmefähigen Alter aufnehmen, schätzen sie als Angehörige und prägen sie nach ihren Sitten; …
Allerdings unterscheidet er davon in B.J. 2,160: Es besteht aber auch ein anderer Verband der Essener, der in Lebensführung, Sitten und Gesetzen mit den übrigen übereinstimmt und sich nur in der Ansicht über die Ehe von ihnen scheidet. Sie glauben nämlich, daß diejenigen, die nicht heiraten, ein wichtiges Stück des Lebens außer Acht lassen …
Das deckt sich wiederum mit Philons Hypothetica 11,14 (= Eusebius PraepEv 8,11,14):151 Darüber hinaus nun, besonders scharfsinnig erkennend, was alleine oder am meisten das Gemeinschaftsleben zu zerstören vermag, lehnen sie die Ehe ab; daher üben sie betreffs dieser auch besondere Enthaltsamkeit. Niemand von den Essenern nämlich (Ἐσσαίων γὰρ οὐδείς) hat eine Frau, da ja die Frau selbstverliebt und eifersüchtig ohne Maß ist, und entsetzlich darin, den Mann aus der Sittenhaftigkeit wegzulocken und ihn beständig durch Betrügereien zu verführen (Ü.MT).
Die Frage, ob die Bewohner von Qumran ehelos lebten oder nicht, hat zu zahlreichen Diskussionen geführt. Dem Ordenspriester R. de Vaux wurde vorgeworfen, seine Vorstellungen von Klosterleben auf die Qumrangemeinde projiziert zu haben: Refektorium, Skriptorium, ora et labora und nicht zuletzt den zölibatären Lebensstil. „Auch wenn diese plakative Kritik sicher zu kurz greift,“152 bleibt doch die Frage nach der rechten Deutung der Texte.
150 151
152
Vgl. dazu Stökl Ben Ezra, Mystère, 113. Die Hypothetica ist nicht eigenständig überliefert, aber in Eusebius’ Praeparatio Evangelica 8,5,11–8,7,20 zitiert, an der sich vorliegender Text (eigene Übersetzung aus dem Griechischen) orientiert. Die Autorenschaft Philons ist nicht unumstritten, doch „the majority of scholars consider it authentic“ (Sterling, Art. Treatises, 1073). Philons Erwähnung der „Therapeuten“ in Contempl. 13 und 18 soll hier nicht thematisiert werden, da es sich wahrscheinlich nicht um Essener handelt (vgl. Lichtenberger, Schöpfung, 285f.). Frey, Qumran, 11. Vgl. ebd. den Überblick über diese „plakative Kritik“.
4. Essener
4.5.3
153
Ehelosigkeit und die Friedhöfe in Ḥirbet Qumran
In der Frage, ob die Qumraniten ehelos lebten oder nicht, wurde oft auf die in Ḥirbet Qumran gefundenen Friedhöfe verwiesen – allerdings bleibt der Befund unbefriedigend. In Ḥirbet Qumran wurden etwa 1200 Gräber gefunden.153 Diese teilen sich auf drei Friedhöfe auf, einen sehr großen mit 1100 Gräbern und zwei kleinere mit gemeinsam 100 Gräbern.154 Im großen Friedhof wurden nur männliche Skelette gefunden, in den kleineren Friedhöfen auch die von Frauen und Kindern.155 Allerdings wurden nur fünfzig (!) der 1100 Gräber des großen Friedhofs geöffnet, und momentan ist es durch den Widerstand jüdisch-orthodoxer Gruppierungen unmöglich, noch mehr Gräber zu öffnen.156 Es ist also schwer zu argumentieren, dass am großen Friedhof nur Männer beigesetzt wurden und daraus auf ein zölibatäres Leben der Qumraniten zu schließen. Umgekehrt ist auch die Schlussfolgerung nicht unproblematisch, wenn man aufgrund der Frauengräber urteilt, dass die Qumraniten verheiratet waren. J. Zias von der Hebrew University hat versucht zu beweisen, dass die Gräber von Frauen und Kindern allesamt von Beduinen „non datable to the second temple period“ stammen,157 bzw. dass die Zuordnung eines Skelettes als weiblich falsch ist.158 Zias sieht mit diesen Resultaten die These von der essenischen Ehelosigkeit als bewiesen an,159 doch sind manche Resultate von Zias selbst wieder in Kritik geraten. Zustimmung gefunden hat Ziasʼ Annahme, dass nur die in Nord-Süd-Achse ausgerichteten Gräber der Zeit des Zweiten Tempels zuzuordnen sind, während die in Ost-West-Achse ausgerichteten Gräber späteren Datums sind.160 Allerdings bleiben zu viele Fragen offen, als dass man den archäologischen Befund zum Beweis der Ehelosigkeit der Qumraniten einsetzen könnte. 4.5.4
Verbot von Geschlechtsverkehr statt „Ehelosigkeit“
Auffallend ist, dass in 1QS Bestimmungen über Frauen ganz fehlen, allerdings gibt es in der Damaskusschrift und in 1QSa Hinweise auf verheiratete Mitglieder.161 Das 153 154 155 156 157
158 159
160 161
Vgl. Stökl Ben Ezra, Mystère, 112, und ders., Qumran, 117–120. Vgl. Broshi, Art. Qumran, 1241. Vgl. Broshi, Art. Qumran, 1241. Vgl. Stökl Ben Ezra, Mystère, 112. Zias, Cemeteries, 228. Dabei stützt sich Zias auf „burial practices and funerary traditions“ (228), wie etwa Grabbeigaben, Ausrichtung der Gräber in Ost-West-Achse, Grabsteine, etc. (229f.). Interessant ist seine Untersuchung zum Abrieb des Zahnschmelzes, der bei Beduinen signifikant höher war als bei „non-desert-dwellers“ (237). Vgl. Zias, Cemeteries, 231f. Vgl. Zias, Cemeteries, 253: „a monastic community of adult males, preferring the company of palm trees to women.“ Vgl. Norton, Reassessment, 122 und 124. Vgl. Frey, Qumran, 10; Stemberger, Pharisäer, 123; Stökl Ben Ezra, Qumran, 262f.
154
III. Gruppierungen des Frühjudentums
deckt sich mit dem Befund bei Josephus, der ja auch verheiratete und ehelos lebende Qumraniten unterschied. Allerdings sind die Angaben bei Josephus und Philon stark von philosophischen Idealen der Enthaltsamkeit, Nüchternheit und Selbstbescheidung geprägt – was wohl kaum den ursprünglichen Befund wiedergibt, sondern hellenistischen Topoi geschuldet ist. Es ist also unabhängig davon nach Motiven der Qumraniten zu suchen, die den Verzicht auf Geschlechtsverkehr nahelegten. Die Vorschrift der völligen Reinheit, wie sie in CD VII,4f. und 1QS VIII–IX gefordert ist, könnte dazu geführt haben, dass man sich in Qumran – zumindest für eine bestimmte Zeit – zur Aufgabe des Geschlechtsverkehrs verpflichtete.162 Nach CD XII,1f. heißt es über Jerusalem: 1 … Niemand schlafe mit einer Frau in der Stadt des Heiligtums, um (so) zu verunreinigen 2 die Stadt des Heiligtums mit ihrer (sexuellen) Unreinheit. …
Hier wird Geschlechtsverkehr in der Stadt des Heiligtums, also in Jerusalem, verboten. Das Verbot wurzelt in der Angst vor Verunreinigung durch Geschlechtsflüssigkeiten, wie das auch in PsSal 8,12 gesehen wird.163 Ziel dieser Regelungen war die Beachtung von „Reinheitsnormen, zu denen auch das Vermeiden von Geschlechtsverkehr gehörte, nicht aber Ehelosigkeit.“164 Auch in der Tempelrolle 11Q19 XLV,7–12 heißt es:165 7 … Und hat e[iner] einen nächtlichen Samenerguß (vgl. Lev 15,15; Dtn 23,11f.), dann komme er nicht zum 8 ganzen Heiligtum, … 11 Und kein Mann komme, wenn er mit Samenerguß mit seiner Frau liegt (vgl. Lev 15,18), zur gesamten Stadt 12 des Heiligtums, …
„There is evidence in the Dead Sea Scrolls for restraint on marital intercourse in Jerusalem and in the yaḥad. The restraint in Jerusalem is one of many laws (of purity) which are special for Jerusalem …“166 Damit wird klar, dass Geschlechtsverkehr für Essener innerhalb Jerusalems und auch innerhalb der Grenzen der Qumrangemeinde (diese substituierte ja Sühnefunktionen des Tempels) verboten war. Für Essener außerhalb Jerusalems und der Qumrangemeinde hingegen war Geschechtsverkehr erlaubt. Ob einige Essener damit lebenslang auf eine Ehe verzichteten, wissen wir nicht. Vielleicht lebte so mancher Qumranit auch nur auf Zeit getrennt von seiner Frau, um danach wieder in das normale Eheleben zurückzukehren. Auch Josephus berichtet in Vita 11f., dass er sich für drei Jahre in die Wüste zum Einsiedler Banus zurückgezogen habe. Dieser habe – ähnlich wie die Qumraniten – häufige Waschungsriten zum Erhalt der Reinheit (ἁγνείαν) praktiziert. Wie viele Essener es in Jerusalem gegeben hat, wissen wir nicht (s.o. 162 163 164 165 166
Vgl. Doering, Marriage, 162. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 78. Maier, Bausymbolik, 106. Vgl. dazu Qimron, Celibacy, 291. Qimron, Celibacy, 194.
4. Essener
155
III.4.3.3). Aber nach Josephus B.J. 2,124 und Philon Prob. 76 lebten die Essener wohl auch häufig außerhalb Jerusalems über das Land verteilt. Daher muss man gemäß B.J. 2,160 auch mit verheirateten Essenern rechnen.
4.6
Der „Lehrer der Gerechtigkeit“
4.6.1
Historischer Hintergrund
Zentrale Lehrautorität war für die Qumraniten der „Lehrer der Gerechtigkeit“ (מורה הצדק, moreh ha-zedeq), der auch als „Ausleger der Tora“ (דורש התורה, doresch ha-torah) bezeichnet wurde (beide sind wohl gleichzusetzen).167 Dieser „messianisch qualifizierte Zadokide (CD 7,18)“168 war der Gegenspieler des „Frevelpriesters“ (s.o. III.4.2.4), die zentrale Gründerpersönlichkeit, auf den sich die Qumrangemeinde berief. „Lehrer der Gerechtigkeit“/„Ausleger der Tora“ unterstreicht, dass diese Person die einzig richtige Toraauslegung garantiert. 4.6.2
Der „Prophet wie Mose“
Hintergrund dieser Konzeption ist, dass es ursprünglich in Israel einen eigenen Torapropheten, einen „Propheten wie Mose“ (vgl. Dtn 18,15.18; Apg 3,22) gab, der „über die Kompetenz [verfügte], Torah im Einzelfall neu zu erteilen bzw. vorhandene (‚offenbarte‘) Torah fortzuschreiben. … Schon Dtn 29,28 setzt voraus, dass es offenbare (niglôt) und verborgene (nisterôt) Torah gibt, also eine vorhandene und daher anzuwendende, und eine noch nicht offenbarte Torah, mit dem dahinterstehenden Konzept einer Gesamttorah als Inbegriff des Gotteswillens. In den Qumrantexten spielt diese Unterscheidung eine gewichtige Rolle. In der Regel versteht man unter nisterôt die gruppenspezifischen Gesetze, aber genauer betrachtet handelt es sich um verborgene Torah, die von der kompetenten Instanz aus der Verborgenheit geholt und der offenbarten Torah zugefügt worden ist …“169 Diese Funktion des „Torapropheten“ wurde in Qumran dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ zugesprochen.170 Somit ist der „Lehrer der Gerechtigkeit“ „der befugte Tora-Erteiler, der aus seinem Tora-Wissen heraus bindende Anweisungen 167
168 169 170
Vgl. Ulrich, Art. Interpreter, 383: „ ... it further seems clear that the Interpreter of CD vi. 7 is to be identified with the Teacher of Righteousness of CD i. 11. The use of the title Interpreter of the Law for the Teacher derives naturally from the context of CD v. 20 – vi. 11, in which the emphasis is on the role of the Teacher as the one whose legal decisions alone are authoritative.“ In anderen Qumrantexten könnte der „Ausleger der Tora“ allerdings auch eine zukünftige messianische Gestalt meinen. Vgl. a.a.O. 384. Fabry, Umgang, 321. Maier, Torah, 47f. Vgl. auch Müller, Wissenschaft, 54. Vgl. Maier, Torah, 48. Vgl. auch Müller, Wissenschaft, 55.
156
III. Gruppierungen des Frühjudentums
erläßt, ja Tora autoritativ erst setzt … Dieser suchte aus ‚der Gesamttora als verborgenem Hintergrund … jeweils das aktuell Erforderliche‘, um es als ‚offenbare‘ Tora zu proklamieren ...“171 Die Funktion eines „wahren Propheten“/„eines Propheten wie Mose““ (vgl. Dtn 18,15.18; 1Makk 4,46; 14,41; Apg 3,22; A.J. 4,218) war ein festes Amt, das seit dem intern-jüdischen Machtkampf im Vorfeld der Herrschaft des Königs Antiochos IV. Epiphanes nicht mehr nachbesetzt worden war. Die Möglichkeit unanfechtbarer Torainterpretation passte „nicht zu den Machtansprüchen der Hasmonäer, die eher auf eine Vereinigung aller drei mosaischen Funktionen (priesterliche und politische Spitzenfunktionen sowie Torahprophetie) in ihrer Hand abzielten.“172 Nachdem die Makkabäer/Hasmonäer die erfolgreiche Revolte gegen die seleukidische Religionspolitik eingeleitet hatten, dachten sie keineswegs daran, die alten Zustände wieder herzustellen, sondern favorisierten ihre eigene Machtpolitik, was nach 1Makk 7,13 zum Bruch mit den Hasidäern (hebr. חסידים, Chas(s)idim, „die Frommen“), führte.173 Zum Laubhüttenfest des Jahres 153 v. Chr. ließ sich Jonatan dann als Hohepriester in Jerusalem einsetzen und hatte so nach der politischen auch die religiöse Herrschaft an sich gerissen. Schon die Übernahme des Hohepriesteramtes durch den Nicht-Zadokiden Jonatan löste innenpolitisch einen tiefen Schock aus und führte zur Kontroverse zwischen dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ und dem „Frevelpriester“ (Jonatan und seine Nachfolger). Als Jonatan sein Bruder Simon im Amt nachfolgte, ließ sich dieser 140 v. Chr. von der Jerusalemer Volksversammlung seine Ämter als Fürst (ethnarchēs) und Hohepriester (archiereus) auf Lebenszeit zubilligen (s.o. II.4.1.6) – allerdings mit der Auflage versehen: „bis ein wahrer Prophet auftrete“ (1Makk 14,41)174 Dieser auch in 1Makk 4,46 erhoffte „Toraprophet“ war ein Amt, an dessen Nachbesetzung grundsätzlich noch immer festgehalten wurde (vgl. auch noch A.J. 4,218!).175 Erst Johannes Hyrkanos ging dann noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass er Münzen schlagen ließ, die seine hohepriesterliche Würde hervorkehrten,176 er maßte sich nach B.J. 1,68/A.J. 13,299 neben der Würde des Ethnarchen und Hohepriesters nun auch das Amt des Torapropheten an (εἶχεν τήν τε ἀρχὴν τοῦ ἔθνους καὶ τὴν ἀρχιερωσύνην καὶ προφητείαν; B.J. 1,68).177
171 172 173 174 175 176 177
Fabry, Umgang, 321, mit einem Zitat von Maier. Maier, Torah, 48. Vgl. Maier, Geschichte, 37. Vgl. dazu Theißen, Sadduzäismus, 226. Vgl. Maier, Torah, 49. Vgl. Maier, Geschichte, 49. Vgl. Theißen, Sadduzäismus, 226.
4. Essener
4.6.3
157
Der „Lehrer der Gerechtigkeit“ als „Prophet wie Mose“
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“ für seine Anhänger diese Funktion des Torapropheten übernommen hatte, so wie ja auch die Qumrangemeinde als Ganze gewisse Sühnefunktionen des Jerusalemer Tempels übernehmen konnte. Maier vermutet, dass nach CD XX,13 (vgl. CD XIX,35) der „Lehrer der Gerechtigkeit“ bereits „etwa 138 v. Chr.“ gestorben ist,178 da dort „vom Tag des Hinschieds des Anweisenden der Einung“ die Rede ist. Offensichtlich besetzte die Qumrangemeinde diese Funktion nun nicht nach, sondern erwartete für die Endzeit – die als unmittelbar imminent gedacht wurde – das Auftreten eines solchen Torapropheten, wie 1QS IX,10f. deutlich macht: 10 … und sie sollen anhand der alten Gesetze gerichtet werden, mit denen die Männer der Einung begonnen hatten, sich zu disziplinieren, 11 bis zum Eintreffen eines Propheten und der Gesalbten Aarons und Israels.
Hier wird klar, dass die Qumrangemeinde noch nach den „alten Gesetzen“ lebte, da es ja keinen aktuellen Torapropheten mehr gab, der „neue“ Torot erlassen könnte oder besser, durch den „Torah aus der Verborgenheit offenbar gemacht und in Geltung gesetzt werden kann.“179 Doch an der Dreiheit des Amtes wird festgehalten, wenn hier auf das „Eintreffen eines Propheten und der Gesalbten Aarons und Israels“ gewartet wird. Gemeint sind neben dem Torapropheten die beiden „Gesalbten“, einen gesalbten Regenten („davidischer Gesalbter“) aus dem Hause David und einen gesalbten Hohepriester („priesterlicher Gesalbter“) aus dem Hause Aaron.180 Daher sollte man bezüglich Qumran besser nicht von einem „davidischen Messias“ und einem „priesterlichen Messias“ reden (wie dies oft geschieht), da der Ausdruck maschiach hier lediglich den „Gesalbten“ meint, ohne dass an dieser Stelle „messianische“ Erwartungen mit dem Titel verbunden wären. Es handelt sich nur um eine Bezeichnung für das gesalbte Laienoberhaupt und das gesalbte Priesteroberhaupt.181 Alle drei Ämter hatte ja Johannes Hyrkanos usurpiert und in seiner Person vereinigt – seitdem warteten die Qumraniten darauf, dass in der Endzeit die drei Ämter wieder getrennt und von würdigen Personen besetzt würden. 4.6.4
„Prophet wie Mose“ und die drei Gruppierungen
Die Entstehung der drei innerjüdischen Gruppierungen – Sadduzäer, Pharisäer und Essener – ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es solch einen 178 179 180 181
Maier, Torah, 49. Maier, Torah, 49. Vgl. Maier, Torah, 49. Vgl. dazu Maier, Messias, 605–612. In 4Q254 Frg. 2 werden die beiden Gesalbten als „die beiden Ölsöhne“ (Sach 4,14) bezeichnet.
158
III. Gruppierungen des Frühjudentums
einheitsstiftenden und normensetzenden Torapropheten seit Antiochos IV. Epiphanes nicht mehr gab (abgesehen davon, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“ dieses Amt für sich reklamierte) und die Makkabäer die Einsetzung eines solchen Propheten zu verhindern wussten (bzw. Johannes Hyrkanos dieses Amt für sich beanspruchte). In jedem Fall gab es seit Antiochos IV. keinen allgemein in Israel anerkannten Tora-Propheten mehr, was dann zu entsprechend unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen führte. Auch wenn man die Entstehung von Pharisäern und Essenern nicht in direkte Kausalität mit den in 1Makk 7,13 genannten Hasidäern bringen kann (s.o. III.1.1), wird doch deutlich, dass es dieselbe Gemengelage war, aus der diese Gruppierungen entstanden.
4.7
Schlachtopfer in Qumran?
Für die Qumraniten war der Tempel in Jerusalem entweiht. Bis zum Anbruch des Eschatons ersetzt die Gemeinde als Ganze gewisse Sühnefunktionen des Tempels durch einen „Tempel aus lebenden Menschen“ ()מקדש אדם, die statt Tieropfern מעשי תודה, „Werke des Lobpreises“, darbringen (4Q174 III,6f.).182 Allerdings hat J. Magness 2016 postuliert, dass in Qumran auch Schlachtopfer dargebracht wurden.183 Dafür verweist sie auf die große Zahl an verbrannten und kalzinierten Knochen, wie sie typischerweise durch Opferbrand entstehen, nicht aber beim kulinarischen Zubereiten von Fleischstücken. Im Gefolge von R. de Vaux wurden diese als Reste ritueller Mähler der Qumraniten gedeutet. Tatsächlich hat man in Qumran keinen Altar gefunden und auch die Vermutung von Magness, dass dieser in locus 130, im Norden der Niederlassung, gestanden habe, bleibt vage. Obendrein: Hätte eine so hyperorthodoxe Gruppierung wie Qumran das Kultzentrierungsgebot in Jerusalem tatsächlich ignoriert? In A.J. 18,19 erwähnt Josephus zwar, dass die Essener ihre eigenen Opfer darbringen (ἐφ᾽ αὑτῶν τὰς θυσίας ἐπιτελοῦσιν), was allerdings auch spirituelle Opfer („Opfer des Lobpreises“) meinen kann. Philon, Prob. 75 hingegen schreibt, dass die Essener „zu Dienern Gottes wurden, nicht durch Tieropfer, sondern dadurch, daß sie es für ihre Pflicht halten, ihren Geist zu heiligen“ (Text s.o. III.4.4). In diese Richtung deutet auch 1QS IX,4–6: 4 … zu sühnen für Untreueschuld und Veruntreuungssünde und zum Wohlgefallen für das Land, (und zwar) mehr als Fettstücke von Schlachtopfern, und ein Hebopfer 5 von Lippen nach Vorschrift als rechte Beschwichtigung und vollkommener Wandel als wohlgefällige Gabe: Zu der Zeit sondern die Männer 6 der Einung ab ein heiliges Haus für Aaron, um sich als Allerheiligstes zu einen, und ein Einigungs-Haus für Israeliten, die in Vollkommenheit wandeln.
182 183
Vgl. Ådna, Tempel, 105; Maier, Bausymbolik, 103–106; Schiffman, Importance, 75–93. Vgl. Magness, Sacrifices, 5–34.
4. Essener
159
Nach diesem Text verstand sich die Qumrangemeinde selbst als Tempel („heiliges Haus für Aaron“, „Allerheiligstes“), weil sie durch das „Hebopfer der Lippen“ (s.o. die „Werke des Lobpreises“) und durch einen von aller Unreinheit abgesonderten Lebensstil und vollkommenen Wandel Sühne erwirkt und damit „Fettstücke von Schlachtopfern“ überflüssig macht. Von Magness zitierte Passagen aus CD XVI,13 und 1QM II,5–6 sind hingegen zu allgemein, als dass man daraus eine Opferpraxis der Qumraniten rekonstruieren könnte. Vielmehr unterstreichen 4QMMT und die Tempelrolle, dass einzig Jerusalem der gültige Ort des Tempels ist. Trotz ihrer heftigen Tempelkritik sandten die Qumraniten nach A.J. 18,19 noch immer Weihegaben dorthin, auch wenn sie im Jerusalemer Tempel nicht mehr opferten. Angesichts eines nicht auffindbaren Altars und der literarischen Zeugnisse sollte man der These von Schlachtopfern in Qumran kritisch gegenüberstehen.184 Vielleicht lassen sich die verbrannten Knochen aber dadurch erklären, dass die Qumraniten Lev 8,31f. nicht nur auf die Reste von Opfermahlzeiten bezogen (diese hatten sie ja nicht mehr), sondern in Ausweitung des Textes auch auf die Reste ihrer Sättigungsmahlzeiten (welche in Qumran ja quasi-sakralen Charakter hatten), die sie rituell verbrannten und dann formell beisetzten. Der sakral-zeichenhafte Charakter von Mählern ist ja auch ein Element, das im Christentum konstitutiv wurde.185
184 185
Vgl. Zangenberg, Zufall, 131–138. Bei den Analogien zwischen den Mählern in Qumran und Jesus bzw. beginnendem Christentum sollte man nicht zu weit gehen, wie Frey, Gemeinschaftsmähler, 101–130, zu Recht einmahnt, z.B. 101: „The closest analogy is that the yahad and the Jesus movement both claimed to live in the end-time (albeit, for different reasons), and that they held their meals according to rules linked with the appearance of the respective Messiah.“ Zu Recht betont er auch (a.a.O. 110), dass die Mähler von Qumran nicht einer „Opferhandlung“ gleichzusetzen sind. Wenn er allerdings auch den sakralen Charakter der Qumran-Mähler in Frage stellt, verkennt er, dass alle Reinheitsriten der Qumraniten als Ausdruck einer allumfassenden kosmischen und gottgewollten Ordnung angesehen wurden. Der ganze Lebensstil (und damit auch die Mähler) war damit quasi-sakral. Dem Urteil des Josephus B.J. 2,129–133 („den Speisesaal aber betreten sie als Reine wie einen heiligen Bezirk“, αὐτοί τε καθαροὶ καθάπερ εἰς ἅγιόν τι τέμενος παραγίνονται τὸ δειπνητήριον), kommt damit eine größere historische Bedeutung zu, als von Frey veranschlagt.
160
III. Gruppierungen des Frühjudentums
5.
Zeloten
5.1
Herkunft
5.1.1
Die „vierte Philosophenschule“
Neben Sadduzäern, Essenern und Pharisäern berichtet Josephus auch noch von einer vierten „Philosophenschule“ (τετάρτῃ τῶν φιλοσοφιῶν) im damaligen Judentum (A.J. 18,23–25): 23 Außer diesen drei Schulen führte jener Galiläer Judas eine vierte ein, deren Anhänger im Übrigen mit den Pharisäern übereinstimmen, dabei aber eine ungebärdete Liebe zur Freiheit haben, Gott allein als Herrn und König anerkennen, auch jeder möglichen Todesart sich unterziehen und den Mord ihrer Freunde und Verwandten für nichts achten, wenn sie nur keinen Menschen als Herrn anzuerkennen brauchten. … 25 Diese Tollkühnheit trieb das Volk zu Unruhen, als Gessius Florus Landpfleger war, der sie durch den Missbrauch seiner Gewalt so in Verzweiflung setzte, dass sie von den Römern abfielen. …
Der Ursprung dieser Bewegung wird von Josephus mit Judas Galilaios in Verbindung gebracht. In B.J. 2,117f. erfahren wir, dass dieser Judas im Jahre 6 n. Chr. im Zusammenhang mit der Überleitung des Herrschaftsgebiets des Archelaos in den römischen Verwaltungsbezirk Iudaea und dem daran anschließenden Zensus des Quirinius zu Unruhen aufgerufen hatte (s.o. II.5.4.2). Schon der Vater des Judas scheint mit jenem Bandenführer Ezekias identisch zu sein, der zuvor unter Herodes d. Gr. schwere Unruhen ausgelöst hatte.186 Die beiden älteren Söhne des Judas, Simon und Jakobus, wurden später von dem römischen Prokurator Tiberius Alexander (46–48 n. Chr.) als Aufrührer gekreuzigt (A.J. 20,102). Menachem, ein weiterer Sohn des Judas, spielte dann eine wichtige Rolle im jüdischen Krieg (B.J. 2,433f.). Er plünderte zu Beginn des Aufstands das Zeughaus der Feste Masada und zog feierlich in Jerusalem ein, wo er sich wie ein König huldigen ließ (zweifellos schwingen in der Aufstandsbewegung auch messianische Ansprüche mit). Der Enkel des Judas und Neffe des Menachem, Eleazaros, der Sohn des Jairos (B.J. 2,447), zog sich hingegen nach dem Fall von Jerusalem mit den „Sikariern“ auf die Feste Masada zurück (B.J. 7,253) und leistete dort den Römern noch lange erbittert Widerstand.187 Zum Ende des Judas Galilaios vermerkt Apg 5,37 lapidar: Nach ihm trat in den Tagen der Volkszählung Judas, der Galiläer, auf; er brachte viel Volk hinter sich und verleitete es zum Aufruhr. Auch er kam um, und alle seine Anhänger wurden zerstreut.
186 187
Vgl. Kollmann, Einführung, 86f. Zum Stammbaum des Judas Galilaios vgl. Schäfer, Geschichte, 137.
5. Zeloten
161
Hier wird die historische Einordnung des Judas „in den Tagen der Volkszählung“ bestätigt, und wir erfahren obendrein von Judas’ gewaltsamem Ende. 5.1.2
Die Aufständischen und die Pharisäer
Wenn Josephus erklärt, dass die Anhänger dieser Schule „im Übrigen mit den Pharisäern übereinstimmen“, so hebt er zunächst auf die Tatsache ab, dass gemeinsam mit Judas Galilaios auch ein Pharisäer namens Zadoq (A.J. 18,4.9) maßgeblich an Aufruhr und Widerstand gegen den Zensus beteiligt war. Wahrscheinlich konnte der Glaube der Pharisäer an Gottes Eingreifen in diese Welt (A.J. 18,12–14), ihre Ablehnung der sadduzäischen Kollaboration mit den Römern und ihr „Eifer für Gott“ (s.u. III.5.2.1) nicht nur religiöse, sondern auch politische Züge annehmen. Die Zeloten können somit als radikaler Flügel der Pharisäer betrachtet werden.188 Interessant ist jedenfalls, dass sich die Zeloten damit nicht nur als politische, sondern auch als religiöse Widerstandsbewegung verstanden. Die archäologischen Funde auf Masada (Synagoge, Miqwe) machen klar, dass man unter den Aufständischen auch großen Wert auf religiöse Aspekte legte.189 Dennoch sollte man den Unterschied zwischen Pharisäern und Zeloten nicht zu stark verwischen, Josephus weiß sehr wohl zwischen den beiden Gruppierungen zu unterschieden. 5.1.3
Der Name „Zeloten“
Das religiöse Interesse der Aufständischen kommt auch in der Namensgebung „Zeloten“ zum Tragen. Der Ausdruck ζηλωταί (zēlōtai) meint „Eiferer“. Auch wenn Josephus diese Bezeichnung für die „vierte Philosophenschule“ hier nicht verwendet, so spricht er in A.J. 18,5.9 doch von ἐρασταί (erastai), „einem Begriff, der dem der ζηλωταί nahe kommt, aber noch stärker der klassischen Gräzität angehört. Möglicherweise könnte diese Umformung zu Lasten des griechischen Stilisten gehen.“190 Vielleicht aber will Josephus dieser Gruppe auch den Ehrennamen „Zeloten“ nicht zubilligen. Der Ausdruck ζηλωταί war wohl eine „ehrenvolle Selbstbezeichnung“191 anhand von alttestamentlichen Vorbildern, wie sie etwa mit Pinhas in Num 25,6–13 oder mit dem Propheten Elias in 1Kön 19,10.14 gegeben sind.192 Josephus als Überläufer zu den Römern ist kein Freund der Zeloten und vermeidet diesen ehrenvollen Namen für eine von ihm diskreditierte Gruppierung.193 Wenn Josephus von den Aufständischen spricht, verwendet er in der
188 189 190 191 192 193
Vgl. Hengel, Zeloten, 91, und Schäfer, Geschichte, 134. Vgl. Hengel, Zeloten, 91f. Hengel, Zeloten, 93. Hengel, Zeloten, 93, und Schäfer, Geschichte, 133. Vgl. dazu Schwemer, Eiferer, 21–80. Vgl. Hengel, Zeloten, 92.
162
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Regel den Ausdruck λῃσταί (lēstai), mit dem bewaffnete Gewaltverbrecher klassifiziert wurden (s.u. III.5.3). Allerdings verwendet er in B.J. 2,444 die Bezeichnung „Zeloten“ für die Anhänger Menachems, des Sohnes von Judas Galilaios. Der Ausdruck begegnet auch im Neuen Testament in Lk 6,15 und Apg 1,13 für „Simon den Zeloten“, einen Jünger Jesu aus dem Zwölferkreis.
5.2
Zielsetzung der Zeloten
5.2.1
Der „Eifer für Gott“
Der „Eifer für Gott“ war ein stehendes frühjüdisches Theologumenon194 und ein besonderes Element der Frömmigkeit seit der Makkabäerzeit,195 das sich auch noch bis in den Liber antiquitatum biblicarum, einer ursprünglich hebräischen Schrift aus dem zu Ende gehenden ersten Jh. n. Chr.,196 fortschreiben lässt. Besonderer Haftpunkt des Eifers ist dabei das Bildervorbot sowie die Ablehnung des Götzendienstes und fremder Kulte.197 So kann sich auch Paulus für seine Tätigkeit in vorchristlicher Zeit nach Gal 1,14 die Bezeichnung ζηλωτής als „Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen“ zulegen, der nach Phil 3,6 mit „Eifer“ (ζῆλος) die ersten Christen verfolgte. Selbst beim „Eifer“ des vorchristlichen Paulus wird also der Konnex zwischen pharisäisch-religiösem Engagement für die Reinerhaltung der Tradition und dessen machtpolitischer Umsetzung (Steinigung des Stephanus bei Paulus; politische Umsturztendenzen bei den Zeloten) deutlich. Das pharisäisch-religiöse Anliegen konnte also leicht auch in politischen Aktionen fortgeführt werden – hier bestätigt sich der von Josephus in A.J. 18,23 postulierte Konnex zwischen Pharisäern und Zeloten. 5.2.2
Zeloten, Kaiserkult und Steuerfrage
Nach dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, dass der Kampf gegen den Kaiserkult tragendes movens der Zeloten war. Die Hauptausrichtung war nicht rein politischer Natur, sondern zunächst religiös – ähnlich wie schon bei den Makkabäern. Der ursprüngliche makkabäische Impuls hatte sich später ja in den Gruppierungen von Sadduzäern, Essenern und Pharisäern niedergeschlagen – alle drei Gruppierungen lebten deren Erbe, wenn auch nach unterschiedlichen Maximen. In die gleiche Wurfparabel fallen auch die Zeloten. Deren Geburtsstunde schlägt mit dem Zensus des Quirinius. Druckpunkt des Widerstandes ist dabei nicht so sehr die finanzielle und soziale Demütigung (beide spielen natürlich auch eine 194 195 196 197
Zum „Theologumenon des ‚Eifers‘ Gottes“: Schaper, Theologumenon, 1–19. Vgl. Schwemer, Eiferer, 39–43. Vgl. Schwemer, Eiferer, 50–55. Vgl. Schaper, Theologumenon, 10–14; Schwemer, Eiferer, 56–61.
5. Zeloten
163
Rolle), sondern die Freveltat einer Volkszählung (vgl. 2Sam 24,9–17; 1Chr 21,1– 30)198 und die daraus resultierende Problematik der Steuerzahlung. Mit der Entrichtung der Steuermünze wurde nämlich nicht nur eine finanzielle Schuld beglichen, sondern auch der Anspruch des Kaisers auf göttliche Verehrung bestätigt – schließlich war den Steuermünzen ja das Abbild des Kaisers aufgeprägt, für fromme Juden ein klarer Bruch des Bilderverbots.199 Genau diese Problematik wird in der Anfrage an Jesus betreffs des Zinsgroschens und seiner Antwort in Mk 12,14–17 deutlich.200 Die launigen Worte des Galiläers („So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“) erlauben zwar die Entrichtung der Kaisersteuer, jedoch ohne den Anspruch des Kaisers auf göttliche Verehrung zu billigen. Die Formulierung „Gebt Gott was Gottes ist“ spielt auf alttestamentliche Vorbilder an: Nach 1Chr 29,11–14 gehört alles Gott, aber besonders das Königtum (!) – die Parallele zu Jesu Ankündigung der „Königsherrschaft Gottes“ springt sofort ins Auge.201 Zentrales Anliegen der Zeloten war also die politische wie auch die religiöse Alleinherrschaft Gottes.202 5.2.3
Eschatologische oder realpolitische Ausrichtung der Zeloten?
Das zentrale Anliegen der Zeloten – die Alleinherrschaft Gottes – wird gestützt durch den Glauben, dass die „Königsherrschaft Gottes schon im Anbruch begriffen sei …“203 Josephus berichtet über die eschatologische Motivation der Aufständischen allerdings nichts, was aber wesentlich damit zu tun hat, dass „Josephus, der Pensionär des siegreichen flavischen Kaiserhauses, diese religiösen Motive … nach Kräften durch … (a)moralisch-politische zu verdrängen sucht … Er wollte auf diese Weise das Volk und die Religion als Ganzes entlasten und verteidigen.“204 Neuerdings ist diese Sichtweise allerdings in Frage gestellt worden. T. Rajak hat – besonders aufgrund der fehlenden Evidenz bei Josephus – ausgeschlossen, dass die Aufständischen von eschatologisch-millenaristischen Motiven getrieben waren, sondern unterstellt, dass sie eher gegen „political and economic oppression“205 ankämpften. Man wird Rajak dahingehend zustimmen müssen, dass politische und ökonomische Motive bei den Aufständischen ohne Zweifel eine bedeu-
198 199 200 201
202 203 204 205
Vgl. Förster, Jesus, 136f. Vgl. dazu Förster, Jesus, 83–143. Vgl. Förster, Jesus, 144–158. Dazu Förster, Jesus, 178–187. Förster nennt noch Hag 2,6–9; Joel 4,4–8; Jes 60 und Ps 50,12 als Stellen, in denen „Gottes Eigentum“ bezeichnet wird. Besonders in Hag 2,6–9 und Joel 4,4–8 ist der Konnex zwischen eschatologischem Gericht und „Eigentum Gottes“ deutlich. Vgl. Hengel, Zeloten, 148. Hengel, Zeloten, 149. Vgl. auch Kollmann, Einführung, 87. Hengel, Nachtrag, 383. Rajak, Expectations, 182, insgesamt a.a.O. 176–183.
164
III. Gruppierungen des Frühjudentums
tende Rolle spielten. Alleine die Tatsache, dass der Vater des Judas Galilaios, Ezekias, schon unter Herodes d. Gr. als „Räuberhauptmann“ aktiv war, Judas in den Revolten gegen den Zensus dessen Werk weiterführte, die beiden älteren Söhne des Judas, Simon und Jakobus, als Aufrührer gekreuzigt wurden, ein weiterer Sohn, Menachem, zu Beginn des Jüdischen Krieges Jerusalem eroberte und der Enkel des Judas, Eleazaros, die Feste Masada lange Zeit gegen die Römer hielt, macht klar, dass die „vierte Philosophie“ nicht nur ephemer an ein bestimmtes Ereignis – wie eben den Zensus – geknüpft war, sondern einem bereits seit langem schwelenden Konflikt Ausdruck gab.206 Ohne irgendeinen Zweifel kann der Grund für diesen Konflikt in starken soziokulturellen, soziopolitischen und sozioökonomischen Spannungen gefunden werden, die sich über einen langen Zeitraum angestaut hatten (s.u. IV.3). Allerdings schlagen soziopolitische und sozioökonomische Konflikte zwangsläufig auch auf sozioreligiöse Faktoren durch.207 Oft wird dann die sozioreligiöse Komponente zum sinnstiftenden Überbau, der die „schnöden“ materiellen und politischen Absichten heiligt. Gerade das Ineinander von religiöser, politischer und ökonomischer Motivation macht den „Räuber“ zum Widerstandskämpfer, den Brandstifter zum Verteidiger der „väterlichen Gesetze“, den hingerichteten Radaubruder zum Märtyrer. Diese Gemengelage lässt sich treffend mit dem Ausdruck „Sozialbandit“208 umreißen (mehr dazu s.u. IV.2.1).
5.3
Zeloten und „Räuber“
Die Aufständischen werden von Josephus am häufigsten mit dem Ausdruck λῃσταί (lēstai) klassifiziert; in B.J. 4,199 und 201f. verwendet er die beiden Ausdrücke „Zeloten“ und „Räuber“ austauschbar nebeneinander und macht klar, dass diese für ihn identisch sind. Λῃστής (lēstēs, Singular von lēstai) ist ein Ausdruck, der „den (bewaffneten) Gewaltverbrecher“ 209 in den Blick nimmt und dem lateinischen latro entspricht. Der Ausdruck konnte in der hellenistischen Welt für Seeräuber verwendet werden oder auch für marodierende irreguläre Soldatenverbände. Die Bezeichnung der Aufständischen als λῃσταί ist also aus römischer Perspektive gerechtfertigt. Das deutsche Wort „Räuber“ gibt den Sachverhalt allerdings nur sehr
206 207
208 209
Vgl. auch die Vorgeschichte der Zeloten, die Hengel, Zeloten, 312–357, zeichnet. Vgl. dazu Hengel, Zeloten, 146f.: „Wie in anderen frühjüdischen Gruppen … gab es auch für Judas und seine Gefolgschaft keinen selbständigen, dem Glauben entzogenen Lebensbereich, zum Beispiel die Politik und die Nation; vielmehr waren sämtliche Gebiete des Lebens … durch Gottes Willen – d.h. das Gesetz – geordnet: Auch der politische Bereich konnte davon nicht ausgeschlossen werden.“ Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 157. Hengel, Zeloten, 25.
5. Zeloten
165
bedingt wieder (mehr dazu s.u. IV.2.1). In der antiken Welt setzen sich Banden von „Räubern“ zumeist aus den sozial schwächeren Schichten zusammen: entlaufene Sklaven, fahnenflüchtige Soldaten, verarmte Bauern.210 Wahrscheinlich war das in Palästina bei den Zeloten ähnlich, wenngleich man doch auch die Unterschiede zu anderen „Räuberbanden“ der Antike bedenken muss, denn das movens der Zeloten war neben ökonomischen Gründen auch der religiöse Eifer für Gott. Allerdings kann man die Spannungen zwischen Johannes von Gischala als Galiläischem Revolutionär und Flavius Josephus als Jerusalemer Priestersohn auch in sozialer Hinsicht verstehen. Obwohl auch Josephus am Aufstand beteiligt war, möchte er sich nicht als einer der Zeloten verstanden wissen. Die Zeloten waren ein Phänomen der Unterschicht, „es handelte sich bei den [sc. palästinischen] λῃσταί wohl wirklich größtenteils um Angehörige der sozial benachteiligten Schichten, die unter anderem für eine gottgewollte Neuordnung der Besitzverhältnisse kämpften.“211 Allerdings war schwer auszumachen, wer von den Zeloten nun aufgrund religiöser Motive und wer aufgrund seiner misslichen ökonomischen Lage zum „Räuber“ wurde – oft flossen diese Motivationen ineinander. Josephus zumindest bezeichnet die Gefolgschaft der Aufständischen in B.J. 5,443 als δοῦλοι καὶ σύγκλυδες καὶ νόθα τοῦ ἔθνους φθάρματα („Sklaven, Gesindel, Bastarde, der Abschaum des Volkes“). Die Römer gingen mit drakonischen Strafen gegen die palästinischen „Räuber“ vor, sah man doch in ihrem Aufstand den Strafbestand des Aufruhrs (seditio) und der Staatsgefährdung (crimen maiestatis). Bei Nichtrömern wurde die Todesstrafe angewandt, zumeist die Kreuzigung. Oft allerdings wurden die „Räuber“ auch von den Präfekten geduldet: Albinus und Gessius Florus zumindest ließen sich nach B.J. 2,273.278 und A.J. 20,215.255 bestechen. Die Kampftaktik der „Räuber“ folgte der Guerillataktik: „schnelles Ausschwärmen in kleinen Gruppen auf den überraschten Gegner und ebenso schneller Rückzug.“212
5.4
Sikarier
Der Begriff σικάριος (sikarios), lateinisch sicarius, begegnet bei Josephus zum ersten Mal in B.J. 2,254f.213 Nach der Niederschlagung der Rebellion des Eleazar durch den Präfekten Antonius Felix (52–60 n. Chr., s.o. II.5.6) verlegte sich der Widerstand auf kleine Terrorkommandos:
210 211 212
213
Vgl. Hengel, Zeloten, 35. Hengel, Zeloten, 47. Hengel, Zeloten, 45. Vgl. auch die Kampfweise von Josephus selbst bei der Verteidigung von Jotapata, die er in B.J. 3,169 beschreibt. Vgl. im Folgenden Hengel, Zeloten, 49–51, und Schäfer, Geschichte, 141f.
166
III. Gruppierungen des Frühjudentums 254 Kaum war das Land gesäubert, da wuchs in Jerusalem eine neue Gattung von Räubern empor, die sogenannten Sikarier. Am hellichten Tag und mitten in der Stadt mordeten sie Menschen, 255 besonders an den Festen mischten sie sich unter die Menge und stachen mit kleinen Dolchen, die sie unter ihren Kleidern verborgen hatten, ihre Gegner nieder. Brachen diese dann zusammen, so verwandelten sich die Mörder in einen Teil der aufgebrachten Menge, schienen sie doch allenthalben auf Grund ihrer Biederkeit völlig unverdächtig.
Die „Sikarier“ wurden nach dem kurzen Krummdolch (lat. sica) benannt, mit dem sie ihre Mordanschäge verübten. Die Methode zu töten, erinnert an moderne Terrorkommandos und Selbstmordattentäter. Der lateinische Ursprung des Wortes Sikarier legt nahe, dass diese Bezeichnung auf die römischen Behörden Palästinas zurückgeht. Die „neue Gattung von Räubern“ (ἕτερον εἶδος λῃστῶν), die Josephus hier erwähnt, meint nicht eine neue selbständige Partei, sondern eine neue Vorgehensweise der Aufständischen. Wahrscheinlich waren die Rebellen durch die Erfolge des Präfekten Felix, der das „Land gesäubert hatte“, indem er unzählige Aufständische kreuzigen ließ und den Bandenführer Eleazar zur Hinrichtung nach Rom gesandt hatte (B.J. 2,253), gezwungen, ihre Strategie auf solche Terrorakte zu verlegen. Josephus verwendet die Begriffe „Sikarier“ und „Zeloten“ unterschiedslos nebeneinander (etwa in A.J. 20,164f.210; B.J. 2,254f.408.425) und gibt damit zu verstehen, dass es sich um dieselbe Gruppe handelt, die nun einfach ihre Taktik geändert hatte. Allerdings, als zu Beginn des Krieges in der jüdischen Freiheitsbewegung eine Spaltung eintritt, nennt Josephus eine bestimmte Gruppierung der Aufständischen regelmäßig „Sikarier“. Dies sind die Anhänger des ermordeten Menachem (B.J. 4,400), des Sohnes des Judas Galilaios, die sich nach Masada zurückgezogen hatten.214 Auch die Rebellen, die nach dem Krieg nach Ägypten flohen, nennt er „Sikarier“ (B.J. 7,410). Der Ausdruck „Sikarier“ ist also bei Josephus nicht fest umrissen,215 doch legt sich nahe, dass er die Bezeichnung für besonders fanatische Aufständische gebraucht.216 Das deckt sich mit Apg 21,38, wo die Anhänger eines ägyptischen Aufständischen, der ebenfalls zur Zeit des Präfekten Felix operierte (B.J. 2,261), als „Sikarier“ (ἄνδρας τῶν σικαρίων) bezeichnet werden. Man darf vermuten, dass die Römer besonders aktive Gruppierungen von Aufständischen als sicarii bezeichneten217 und auch Lk diese Bezeichnung in der allgemeinsten Form übernommen hat. Ähnliches legt auch die rabbinische Verwendung des Wortes siqarim nahe (mMakh 1,6; bGit 56a).218 Gerade im Zusammen-
214 215 216 217 218
Vgl. Schäfer, Geschichte, 146f. Vgl. Hengel, Zeloten, 51. Vgl. Hengel, Nachtrag, 395, und ders., Zeloten, 51. Vgl. Kollmann, Einführung, 86. Vgl. Hengel, Nachtrag, 396 und 399.
6. Die vier Gruppierungen im damaligen Judentum
167
hang mit der vieldiskutierten Frage, ob Zeloten und Sikarier nicht doch unterschiedliche Gruppierungen waren,219 wird man M. Hengel recht geben müssen: Auch spätere Revolutionen zerfielen oft in sich bekriegende Untergruppierungen.220 Dennoch ist anzunehmen, „daß die jüdische Freiheitsbewegung zwischen 6 und 70 n. Chr. eine gewisse einheitliche ideologische Grundlage besessen hat. … Dies schließt nicht aus, daß sie vor allem nach 66 n. Chr. in verschiedenen, zum Teil konkurrierenden Gruppen organisiert war, die sich nach Ausbruch des Krieges im Kampf um die Macht selbst zerfleischten.“221
6.
Die vier Gruppierungen im damaligen Judentum
6.1
Die Gruppierungen und „popular Judaism“
„Die auf Josephus zurückgehende Drei- bzw. Vierteilung der jüdischen Gruppierungen [sc. Sadduzäer, Pharisäer, Essener, Zeloten] reicht nicht aus, die Vielfalt der Strömungen und Entwicklungen [sc. im Frühjudentum] zu erfassen und zu ordnen.“222 Wenn Josephus die Zahlen der Essener mit ungefähr 4000 Mitgliedern beziffert (A.J. 18,20) – genau die gleiche Zahl, die von Philon Prob. 75 genannt wird –, jene der Pharisäer unter Herodes mit 6000 (A.J. 17,42) und bezüglich der Sadduzäer meint, dass sie sich nur aus wenigen Aristokraten (εἰς ὀλίγους δὲ ἄνδρας, A.J. 18,17) zusammensetzen, so wird klar, dass diese drei Gruppierungen nur einen kleinen Teil des jüdischen Volkes repräsentierten, der elitär vom Rest abgehoben war und sich vom „popular Judaism“ unterschied.223 Lediglich mit den Zeloten tritt auch die soziale Unterschicht – die immerhin den Großteil der Bevölkerung ausmachte – als fassbare Gruppierung ins Rampenlicht der Geschichte. Aber auch hier wird man fragen müssen, wieweit einfache Menschen oft nicht nur Mitläufer waren, ohne jemals selbst als Entscheidungsträger aktiv zu werden. Allerdings belegt gerade die Jesusbewegung, dass Abkömmlinge der Unterschicht sich auch 219 220
221 222 223
Zur Lage der Forschung vgl. Hengel, Nachtrag, 378–402. Vgl. Hengel, Nachtrag, 401f., nennt hier die Differenzierungen in „Leninisten, Stalinisten, Titoisten, Maoisten, Trotzkisten, Neomarxisten, Austromarxisten und Revisionisten“. Hengel, Nachtrag, 402. Lichtenberger, Beitrag, 203. Vgl. Stegemann, Qumran, 162: „All three bodies were elite groups, who had separated from rob ha-‘am, the mass of simple people, more or less common sinners without any religious qualification of their own.“ Ebenso Hezser, Movement, 82: „We do not know much about the ,popularʻ Judaism of the first centuries CE. It is possible that it mainly consisted of the observance of the Sabbath, festivals, circumcision, food laws, and certain purity rituals, all of which would have been performed in accordance with family habits and local customs, that is, in rather diverse ways.“
168
III. Gruppierungen des Frühjudentums
von den Zeloten distanzieren konnten: Armut führte nicht automatisch zu revolutionärer Grundhaltung.
6.2
„Popular Judaism“ ohne Wohlstand und Bildung
Bezüglich des „Popular Judaism“ wird man fragen können, ob einfache galiläische Bauern überhaupt befähigt waren, tiefschürfende Kalenderspekulationen (wie in Qumran) oder genaue Reinheitsvorschriften (wie bei den Pharisäern) nachzuvollziehen.224 Neutestamentliche Texte, wie das in die Grube gefallene Schaf (Mt 12,11) oder der in den Brunnen gestürzte Ochse (Lk 14,1–6), erhalten auf dem Hintergrund der Lebensrealität galiläischer Kleinbauern eine neue Sinnspitze. Ein armer Bauer an der Grenze zum Existenzminimum war aus ökonomischen Überlegungen wohl nicht in der Lage, sein Schaf oder seinen Ochsen über den Sabbat in einer Grube zurückzulassen (zu unterschiedlichen Sabbathalachot s.u. V.5.3.1). Für einen armen galiläischen Kleinbauern konnte die Einbuße eines Schafes oder gar eines Ochsen existenzgefährdend werden, schließlich wusste er ja nicht, ob das in die Grube gestürzte Tier bis zum kommenden Tag überleben würde. L. Doering urteilt dazu: „Hier liegt wohl eine pragmatische, (klein-)bäuerliche, vielleicht galiläische Halacha vor, die die Sabbatheiligung zur Abwehr wirtschaftlicher Einbußen abmildert.“225 Auch der Hinweis in Lk 13,10–16, dass man auch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel zur Tränke führe, legt nahe, dass man es – wahrscheinlich in ärmeren und theologisch nicht so reflektierten Schichten – mit der Sabbatobservanz nicht immer so ganz streng hielt. Gleiches gilt auch in der Frage des Ährenraufens am Sabbat (Mk 2,23;).226 Der Wanderprophet Jesus und seine Jünger sind mit leeren Mägen unterwegs. Die Sorglosigkeit der „Vögel des Himmels“, die der himmlische Vater ernährt (Mt 6,26), funktionierte in der Praxis wohl nicht immer. In dieser Situation waren arme galiläische Fischer und Bauern – wie die Jünger Jesu – wohl zu erdig, um zugunsten der Sabbatheiligung den ganzen Tag zu fasten. Leichter fastet es sich, wenn man am Vortag eine gute Mahlzeit zu sich genommen hat – was bei Wanderpropheten wohl seltener der Fall war. Hielten 224
225 226
Hezser, Movement, 77: „Only those parents who were … reasonably well off and did not require their sons’ participation in agriculture or other types of work, … would have sent their sons to elementary teachers to learn Torah reading.“ Vgl. Tiwald, Sabbat, passim. Doering, Schabbat, 569. Zur Frage der Rekonstruktion des ursprünglichen Sachverhalts siehe den Überblick bei Doering: Schabbat, 408–440. Doering hält die Begebenheit nicht auf den historischen Jesus zurückführbar, es liege „ein ‚Jünger‘-Thema vor, das mit Jesus in Verbindung gebracht wird“ (a.a.O. 413; auch 477). Eine urkirchliche Konstruktion des „Ährenraufens“ erscheint aber unwahrscheinlich, da eine Gemeindebildung Jesus in den Mittelpunkt gerückt hätte, oder das auch von Doering als authentisch jesuanisch anerkannte Logion Mk 2,27 (a.a.O. 414–416) an eine andere sabbatliche Konfliktsituation angebunden hätte.
6. Die vier Gruppierungen im damaligen Judentum
169
sich hungernde Tagelöhner, deren es im damaligen Palästina ja reichlich gab, immer an sämtliche Speisevorschriften, oder waren sie einfach nur froh, wenn sie auch etwas Unkoscheres zum Beißen bekamen? Die Jünger Jesu schließlich aßen nach Mk 7,2 ihr Brot auch mit „unreinen Händen“. Um Gesetze einzuhalten, muss man außerdem gelernt haben, welche Vorschriften es überhaupt gibt. Josephus berichtet in C. Ap. 2,204 von der „Vorschrift, die Kinder lesen zu lehren …, damit sie … mit den Gesetzen von Jugend auf so vertraut werden, dass sie vor Übertretungen bewahrt bleiben und auch keine Unkenntnis vorschützen können“ (vgl. auch 1QSa I,6–8; TestLev 13,2). Dies allerdings stellt für die Zeit Jesu eine klare Wunschvorstellung dar, die Alphabetisierungsrate lag im damaligen Palästina unter 10–15 Prozent.227 Auch die vielzitierten „Synagogenschulen“ werden häufig überschätzt (zur Frage, wie viele Synagogen es in Palästina damals überhaupt gab und welche Funktionen sie hatten, s.u. III.7.6).228 Noch in späterer rabbinischer Zeit wurde die einfache, theologisch ungebildete Landbevölkerung mit dem pejorativen Ausdruck ‘am ha-᾿arez belegt (etwa nach bPes 49a–b; bBer 47b, bSot 22a): einfache, der Tora unkundige Menschen (vgl. Joh 7,49). Gerade das rurale Galiläa wurde in toraaffinen Kreisen oft verachtet (vgl. Mt 4,15; Joh 7,52). Selbst wenn einfache Bauern, Handwerker und Fischer die Tora halten wollten – Bildung braucht Zeit und Geld, und beides steht armen Menschen nicht zur Verfügung. Andererseits scheint gerade hier die Jesusbewegung einen Nerv in der einfachen Bevölkerung getroffen zu haben:229 In this context the early Jesus movement can be seen as a form of “popular” Judaism geared towards the unlearned, illiterate masses, especially the rural population of the Galilee. It offered them a way to gain personal salvation without Torah learning. It emphasised healing and explained basic moral ideas in an illustrative and easily understandable way. Whereas the Pharisees maintained that the Torah could be properly followed only after it had been carefully studied, interpreted, and applied to everyday life situations, Jesus and his followers claimed that the gist of the Jewish religious tradition was evident and understandable by everyone.
227
228 229
Hezser, Literacy, 496: „… the Jewish literacy rate was well below the 10–15 percent“. Ebenso dies., Movement, 73–97; Grabbe, Religion, 151: „Thus, a few people in most Jewish communities could read and write, some could read with various levels of proficiency, most could do neither ...“ Vgl. auch Stemberger, Paul, 72f. Vgl. den Forschungsüberblick betreffs der Alphabetisierung Galiläas zur Zeit Jesu: Heil, Analphabet, 278f. Zu den Synagogenschulen vgl. Tiwald, Hebräer, 132–144. Hezser, Movement, 83.
170
III. Gruppierungen des Frühjudentums
7.
Das Frühjudentum in der Diaspora
7.1
Eckdaten
7.1.1
Zahlen und geographischer Rahmen
Der Autor von 1Makk 15,22f. konnte gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. berichten, dass Juden in Ägypten, Syrien, Mesopotamien, Kleinasien, Griechenland, den ägäischen Inseln, Kreta, Zypern und Kyrene lebten. Noch weiter spannt Philon den Bogen in Legat. 281; in Legat. 214 und 282 berichtet er gar – genauso wie Josephus in B.J. 2,398; 7,43; A.J. 14,115 –, dass es keinen Platz auf der ganzen bewohnten Erde (οἰκουμένη) gäbe, an dem nicht auch Juden ansässig wären. Die Zahl der außerhalb Palästinas lebenden Juden überstieg die Zahl der Juden in Palästina bei weitem. Auch wenn Schätzungen schwer sind (und die Zahlen bei Philon und Josephus weit übertrieben), könnte man für das erste Jh. n. Chr. mit einer Million Juden in Palästina rechnen, und mit drei bis dreieinhalb Millionen in der Diaspora.230 Eine Million dürfte allein in Kleinasien gelebt haben. Grob gerechnet lebten also gut zwei Drittel des damaligen Judentums in der Diaspora. Somit war Diasporajudentum in der Zeit des Zweiten Tempels keine marginale Größe im Gesamt frühjüdischen Lebens, sondern wesentlicher Bestandteil jüdischer Identität. 7.1.2
Gründe für das Leben in der Diaspora
Gründe für eine Auswanderung aus Palästina waren mannigfach. Seit dem Tod Alexanders des Gr. war der Nahe Osten politisch wie wirtschaftlich instabil. Die Machtkämpfe zwischen Seleukiden und Ptolemäern wurden zumeist auf palästinischem Territorium ausgetragen – für viele legte sich eine Auswanderung in ruhigere, politisch wie wirtschaftlich stabilere Gegenden nahe. Zudem war seit den Eroberungen Alexanders die gesamte Levante von Griechenland bis nach Ägypten zu einem gemeinsamen Kulturraum geworden, der Glücksrittern aller Art offenstand. Juden verdingten sich als Händler und Handwerker, aber auch als Söldner. So lässt sich schon im 6. Jh. v. Chr. durch die Elephantine-Papyri die Existenz einer jüdischen Militärkolonie im ägyptischen Elephantine belegen.231 Die jüdische Diaspora reicht also weit in die Zeit vor Alexander zurück, hatte aber in hellenistischer Zeit besonderen Auftrieb erhalten. Viele Juden hatten sich in Kleinasien und Alexandria angesiedelt oder waren infolge von Kriegen als Gefangene oder Sklaven verschleppt worden (etwa durch Pompeius, s.o. II.4.2.5). 230
231
Zu den Schätzungen: Broshi, Population, 1–10; Van der Horst, Jews, 106f.; Ameling, Gemeinden, 30; Trebilco, Communities, 213; Gruen, Judaism, passim. Vgl. Gruen, Diaspora, 77; Schmitz, Geschichte, 44f.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
7.1.3
171
Soziale Assimilation und Segregation
Keine andere Spannung durchzog das Frühjudentum mehr als die Frage, wie weit man sich der alles durchdringenden Kraft der hellenistischen „Leitkultur“ gegenüber öffnen sollte und wie weit man die eigene Identität bewahren müsse. Natürlich ist es ausgesprochen schwer, aufgrund der wenigen uns erhaltenen Notizen auf das Gesamt der Diaspora zu schließen. Zumindest aus Alexandria besitzen wir aufgrund von Papyrusfunden das Wissen, dass Juden in Armee und Polizei dienten (auch in Offiziersrängen), im bürokratischen Leben zu hohen Ehren aufsteigen konnten, wirtschaftlich prosperierten und auch am sozialen Leben (etwa in den Gymnasia) partizipierten. Strabon berichtet, dass Juden in Alexandria ihre eigene Verwaltung unter Leitung eines „Ethnarchen“ besaßen und interne Angelegenheiten selbst regelten.232 Auch für Herakleopolis in Ägypten wie für die Kyrenaika ist ein eigenes jüdisches Politeuma (teilautonome Organisationsstruktur ethnischer Minderheiten innerhalb einer Polis) bezeugt.233 Andererseits warnt das Buch Tobit, das zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. einen Entwurf jüdischer Identität in der Diaspora bietet, vor Mischehen und vertritt die Endogamie. Dies ist auch das Thema von Joseph und Aseneth. Die im 1. Jh. n. Chr. in der ägyptischen Diaspora entstandene Novelle erklärt, dass der Erzvater Josef seine Braut Aseneth, eine Heidin und Tochter eines Götzenpriesters, erst nach ihrer Bekehrung zum Gott Israels heiraten konnte.234 Die Angst des Judentums, die eigene Identität zu verlieren und sich – wie die zehn Stämme des Nordreichs – durch Assimilation aufzulösen, hatte im babylonischen Exil (s.o. II.1) dazu geführt, Sabbatheiligung, Beschneidung und Speisegesetze als identity markers zu betonen. Gerade diese distinktiven Merkmale gereichten den paganen Nachbarn der Juden zum Unverständnis und wurden oft Stein des Anstoßes. 7.1.4
Beurteilung frühjüdischer Segregation bei paganen Autoren
Die Andersartigkeit des Frühjudentums führte in der Wahrnehmung antiker Nichtjuden oft zu Verständnislosigkeit, bisweilen aber auch zu Bewunderung. Beide Aspekte finden sich bei Tacitus, Hist 5,4–9: 4,1 Um sich des Volkes für die Zukunft zu versichern, führte Moses neue religiöse Bräuche ein, die mit den sonst auf der Welt üblichen im Widerspruch standen. … Des Genusses von Schweinefleisch enthalten sich die Juden … 2 … Jeweils den siebten Tag zur Ruhe zu bestimmen (septimo die otium placuisse ferent), sagt ihnen angeblich deshalb zu, weil dieser Tag das Ende ihrer Mühsal gebracht habe. Daß sie weiterhin auch jedes siebte Jahr dem Müßiggang weihten, soll von ihrer Freude am Nichtstun herrühren. … 5,1 Die erwähnten Gebräuche, woher sie auch immer stammen mögen, rechtfertigt ihr 232 233 234
Vgl. Gruen, Diaspora, 82; Pucci Ben Zeev, Jews, 239. Vgl. dazu Ebner, Stadt, 88f. Vgl. Gruen, Diaspora, 86; Berthelot, Literature, 192f.
172
III. Gruppierungen des Frühjudentums hohes Alter (antiquitate defenduntur); die übrigen Einrichtungen, verwerflich und abscheulich setzten sich eben wegen ihrer Verkehrtheit durch (sinistra foeda, pravitate valuere). Gerade die schlechtesten Elemente waren es nämlich, die ihren heimischen Glauben schmählich aufgaben und Tempelsteuern sowie sonstige Spenden dort anhäuften, wodurch sich die Macht der Juden gewaltig hob. Das kam auch daher, weil in den Kreisen der Juden unerschütterlich treuer Zusammenhalt und hilfsbereites Mitleid herrschten (apud ipsos fides obstinata, misericordia in promptu), während allen anderen Menschen gegenüber feindseliger Haß hervortritt (sed adversus omnes alios hostile odium). 2 Beim Essen, beim Schlafen halten sie auf strenge Trennung und kennen trotz der starken Neigung der Volksart zur Sinnlichkeit keinen Geschlechtsverkehr mit Frauen anderer Rassen (alienarum concubitu abstinent); … Die Beschneidung haben sie als ein besonderes Unterscheidungsmerkmal bei sich eingeführt (circumcidere genitalia instituerunt, ut diversitate noscantur). … 4 Die Ägypter verehren eine ganze Menge von Tieren, auch zusammengesetzte Gestalten (Aegyptii pleraque aminmalia effigiesque compositas venerantur), die Juden aber haben einen rein geistigen Gottesbegriff und kennen nur ein göttliches Wesen (Iudaei mente sola unumque numen intellegunt). Als gottlos betrachten sie jeden, der nach menschlichem Gleichnis Götterbilder aus irdischem Stoff gestaltet; das ihnen vorschwebende höchste, die Zeiten überdauernde Wesen ist nach ihrer Ansicht nicht darstellbar, auch keinem Untergang verfallen (summum illud et aeternum neque imitabile neque interiturum). … 9,1 Als erster Römer bezwang die Juden Cn. Pompeius, der nach Siegerrecht auch den Tempel betrat. Seitdem verbreitete sich die Kunde, dass kein Götterbild drinnen war, daß es sich also um einen leeren Raum und um eine Geheimnistuerei handelte, hinter der nichts weiter steckte (inde vulgatum nulla intus deum effigie vacuam sedem et inania arcana). …
Auch wenn der Grundtenor bei Tacitus negativ gefärbt ist, unterstreicht er doch das hohe Alter, das die jüdischen Bräuche zu einem gewissen Grad rechtfertigt (antiquitate defenduntur). Positiv wird auch die innerjüdische Solidarität und Hilfsbereitschaft (apud ipsos fides obstinata, misericordia in promptu) hervorgehoben. Das jüdische Sozialsystem galt in der Antike als vorbildlich (vgl. die Witwen- und Armenversorgung in Dtn 14,29; 16,11; 24,19–22; Jes 1,17; Sach 7,10; 2Makk 8,28.30; Sir 4,10; Apg 6,1; Jak 1,27). Ebenso bewundert wurde der reine und bilderlose Monotheismus: „… die Juden aber haben einen rein geistigen Gottesbegriff und kennen nur ein göttliches Wesen.“ Das leerstehende Allerheiligste im Zweiten Tempel (s.o. II.1) wurde durch Pompeius tatsächlich betreten (s.o. II.4.2.5), der dann wohl auch „die Kunde verbreitete, dass kein Götterbild drinnen war.“ Auch wenn Tacitus hier etwas abfällig von inania arcana (etwa: „entzaubertes Geheimnis“) spricht, so sorgte der bildlose Kult der Juden doch für Bewunderung. So schreibt Strabon in seiner Geographika 16,2, 35–39: 35 Ein gewisser Moses nämlich, ein ägyptischer Priester, der einen Teil des genannten Landes innehatte, ist aus Unfrieden mit den dortigen Verhältnissen von dort hierher gezogen, und mit ihm zogen viele Verehrer der Gottheit fort. Er sagte nämlich und lehrte, es beruhe auf einer falschen Vorstellung, wenn die Ägypter und Libyer die Gottheit in Gestalt wilder und zahmer Tiere abbildeten; aber auch die Griechen täten nicht recht mit ihrer menschengestaltigen Ausformung. Denn Gott sei einzig und allein das, was uns alle und die Erde und das Meer umgibt, das, was wir Himmel und Weltall und
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
173
Natur der Dinge nennen (εἴη γὰρ ἓν τοῦτο μόνον θεὸς τὸ περιέχον ἡμᾶς ἅπαντας καὶ γῆν καὶ θάλατταν, ὃ καλοῦμεν οὐρανὸν καὶ κόσμον καὶ τὴν τῶν ὄντων φύσιν): welch vernünftiger Mensch würde es da wagen, dies in einer Gestalt abzubilden, die mit irgendetwas bei uns Ähnlichkeit hat? Nein, man müsse auf alle Herstellung von Kultbildern verzichten, einen heiligen Bezirk und einen stattlichen Kultraum abgrenzen, die Gottheit ohne Statue verehren … 37 Seine Nachfolger hielten sich einige Zeit an dasselbe, übten Gerechtigkeit und waren im wahren Sinne des Wortes gottesfürchtig (διέμενον δικαιοπραγοῦντες καὶ θεοσεβεῖς ὡς ἀληθῶς ὄντες). Als dann aber in das Priesteramt erst skrupelhafte und dann tyrannische Menschen eingesetzt wurden (ἔπειτ᾽ ἐφισταμένων ἐπὶ τὴν ἱερωσύνην τὸ μὲν πρῶτον δεισιδαιμόνων, ἔπειτα τυραννικῶν ἀνθρώπων), kam es durch die Skrupelhaftigkeit zur Enthaltung der Speisen, deren sie sich auch heute noch zu enthalten pflegen, zur Beschneidung, Ausschneidung und weiteren Gebräuchen dieser Art (ἐκ μὲν τῆς δεισιδαιμονίας αἱ τῶν βρωμάτων ἀποσχέσεις, ὧνπερ καὶ νῦν ἔθος ἐστὶν αὐτοῖς ἀπέχεσθαι, καὶ αἱ περιτομαὶ καὶ αἱ ἐκτομαὶ καὶ εἴ τινα τοιαῦτα ἐνομίσθη), … 39 ... Solcherart waren auch Moses und seine Nachfolger; ihre Anfänge waren nicht übel, doch sind sie vom rechten Weg abgekommen und haben sich zum Schlechten entwickelt.
Strabon, der um die Zeitenwende lebte, erwähnt sehr positiv, für Mose sei Gott „einzig und allein das, was uns alle und die Erde und das Meer umgibt, das, was wir Himmel und Weltall und Natur der Dinge nennen“ (εἴη γὰρ ἓν τοῦτο μόνον θεὸς τὸ περιέχον ἡμᾶς ἅπαντας καὶ γῆν καὶ θάλατταν, ὃ καλοῦμεν οὐρανὸν καὶ κόσμον καὶ τὴν τῶν ὄντων φύσιν). Auffallend ist die Parallele zur Areopagrede des Paulus (Apg 17,22–33). Dort wird Gott als „Herr über Himmel und Erde“ bezeichnet (V 24), der den Menschen umgibt: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht“ (V 28). Strabon wie Apg ziehen daraus ähnliche Schlüsse. Strabon: „Welch vernünftiger Mensch würde es da wagen, dies in einer Gestalt abzubilden, die mit irgendetwas bei uns Ähnlichkeit hat?“ – vgl. Apg 17,29: Da wir von Gottes Art sind, dürfen wir nicht meinen, „das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung.“ Wahrscheinlich benutzt Lukas hier stehende Argumentationsmuster paganer Philosophie, die er seinen theologischen Anliegen dienstbar macht. Laut Strabon wurden erst nachträglich Speisevorschriften (αἱ τῶν βρωμάτων ἀποσχέσεις), Beschneidungen (αἱ περιτομαί) und „weitere Gebräuche dieser Art“ (εἴ τινα τοιαῦτα ἐνομίσθη) eingeführt. Die Argumentation folgt dem in antiker Literatur vorfindbaren Dekadenzschema (ähnlich Ovids Metamorphosen): „Solcherart waren auch Moses und seine Nachfolger; ihre Anfänge waren nicht übel, doch sind sie vom rechten Weg abgekommen und haben sich zum Schlechten entwickelt“. Als Unterscheidungskriterium für wahren oder falschen Kult wird hier das der Natur entsprechende Verhalten ins Treffen geführt, „was wir Himmel und Weltall und Natur der Dinge nennen (ὃ καλοῦμεν οὐρανὸν καὶ κόσμον καὶ τὴν τῶν ὄντων φύσιν). Auch für Röm 1,20–23 dient die Wahrnehmung der „unsichtbare[n] Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft“ (V 20) als Kriterium gegen den
174
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Götzendienst (V 23). Das Bekenntnis, die eigenen Gesetze πρὸς τὸν φυσικὸν λόγον – hinsichtlich der naturgemäßen Ordnung – zu interpretieren, ist auch im Aristeasbrief (§ 143, s.u. III.7.2.3) und bei Philon federführend: Die φύσις, physis als „naturgemäße Weltordnung“ wird für Philon zum Inbegriff des jüdischen Gesetzes schlechthin (s.u. V.2.2). Problematisch also wirkte die durch Beschneidung, Endogamie und Speisegesetze (vgl. Tacitus und Strabon) bedingte Segregation des Judentums. Dies führte zum Vorwurf des „feindseligen Hasses gegen alle anderen“ (vgl. den Text von Tacitus: adversus omnes alios hostile odium). Tacitus greift hier ein stehendes Muster antijüdischer Polemik der Antike auf, die unterstellte „Menschenfeindschaft“ der Juden: Philostratos, Apollonios 5,33: Jene [sc. die Juden] waren schon längst abgefallen, nicht nur von den Römern, sondern von der ganzen Menschheit; denn ein Volk, das ein isoliertes Leben erfand und das keine Gemeinsamkeit des Tisches, der Trankopfer, der Gebete sowie der Rauchopfer zuläßt, das steht uns ferner als Susa und Baktra und die noch weiter entfernten Inder. Quintilian, InstOrat 3,7,21: Auch die Eltern schlechter Menschen trifft unser Haß. Und für die Gründer von Städten ist es eine Schmach, ein Volk gesammelt zu haben, das anderen Verderben bringt (perniciosam ceteris gentem), wie es bei dem Stifter des jüdischen Aberglaubens der Fall ist. Est LXX 3,13e: So sind wir zu der Ansicht gelangt, daß dieses Volk als einziges sich gegen alle Menschen ohne Ausnahme feindselig verhält (τόδε τὸ ἔθνος μονώτατον ἐν ἀντιπαραγωγῇ παντὶ διὰ παντὸς ἀνθρώπῳ κείμενον), nach absonderlichen und befremdlichen Gesetzen lebt und sich gegen die Interessen unseres Landes stellt und die schlimmsten Verbrechen begeht, so daß im Reich keine geordneten Verhältnisse eintreten können. Josephus, A.J. 11,212: Er [sc. Haman, vgl. Esther 3,13] begab sich also zum König und meldete demselben, es sei ein gottloses Volk in seinem Reiche zerstreut, das sich ganz absondert und unvermischt erhalte und weder die Götter der übrigen Stämme verehre, noch nach ihrem Gesetze lebe, sondern durch seine Sitte und Gebräuche sich seinen Untergebenen, wie allen Menschen höchst feindselig beweise (ἐχθρὸν δὲ καὶ τοῖς ἔθεσι καὶ τοῖς ἐπιτηδεύμασιν τῷ σῷ λαῷ καὶ ἅπασιν ἀνθρώποις). Josephus, C. Ap. 2,121.125.148.258: 121 Erlogen ist auch der Eid, den er [sc. Apion] uns andichtet, als ob wir bei Gott, dem Schöpfer des Himmels, der Erde und des Meeres schwören müssten, keinem Fremden und besonders keinem Griechen wohlwollend zu begegnen. … 148 … Bald verlästert er [sc. Apollonios Molon] uns als gottlos und menschenfeindlich (ὡς ἀθέους καὶ μισανθρώπους), bald wieder wirft er uns Feigheit vor; an anderen Stellen dagegen beschuldigt er uns der Tollkühnheit und des Fanatismus. … 1Thess 2,15: Diese [sc. die Juden] haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen (καὶ θεῷ μὴ ἀρεσκόντων καὶ πᾶσιν ἀνθρώποις ἐναντίων). Juvenal, Satiren 14,96–106: Gewohnt aber, die römischen Gesetze geringzuschätzen, lernen sie das jüdische Recht genau, beachten und fürchten es, ganz wie Moses es ihnen
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
175
in geheimer Rolle überlieferte: niemanden die Wege zu zeigen außer dem Anhänger desselben Kults, allein die Beschnittenen hin zur gesuchten Quelle zu führen. Doch liegt die Schuld beim Vater, der an jedem siebten Tag müßig war (septima quaeque fuit lux ignava) und keinen Teil des Geschäftslebens anrührte.
Neben den Speisevorschriften stand vor allem die Sabbatheiligung im Fokus paganer Kritik. Diese wurde häufig als Müßiggang und Faulheit gebrandmarkt,235 etwa von Tacitus (Text s.o.: Hist 5,4,3: septimo die otium placuisse ferunt) oder von Juvenal (Text s.o.: Satiren 14,96–106: septima quaeque fuit lux ignava). Schon bei Aristobulos, einem alexandrinisch-jüdischen Philosophen († um 160 v. Chr.; Fragm. 5,1–8 = Eusebius: Praeparatio Evangelica 13,12,9–16)236 zeigt sich daher die Tendenz, die Sabbatheiligung mit dem der Natur entsprechenden Ruhebedürfnis des Menschen zu rechtfertigen und den Sabbat zum Tag der philosophischen „Erkenntnis der Wahrheit“ zu erheben.237 Hier schon begegnet das Argumentationsmuster, sperrige Inhalte des jüdischen Sonderrechts als mit der Naturordnung vereinbar darzustellen. Diese Tendenzen sind auch im Aristeasbrief (s.u. III.7.2.3) vorfindbar und werden später bei Philon (s.u. III.7.3) weitergeführt und allegorisch ausgebaut. Dem Vorwurf des Müßiggangs tritt Philon entgegen, indem er die Bedeutung des Sabbats für das philosophisch-kontemplative Leben hervorhebt (Spec. 2,64; Decal. 100f.). Ähnlich wie schon Aristobulos interpretiert Philon den Sabbat universalistisch als der Natur innewohnende Gesetzmäßigkeit, die von Juden wie Heiden eingehalten werden sollte.238 Als „gemäß der Natur“ wurden dann auch die Speisevorschriften interpretiert, etwa im Aristeasbrief §§ 128 und 143–150 (Text und Interpretation s.u. III.7.2.3).
7.2
Septuaginta und Aristeasbrief
7.2.1
Anlass der Übersetzung
Da das Judentum in der Diaspora gegenüber der paganen Umwelt stets eine Minderheit bildete, gab es einerseits einen starken Druck zur Assimilation, andererseits aber auch das Bedürfnis, die religiösen Besonderheiten des Judentums für die nichtjüdische Umwelt verständlich zu machen. Ein Meilenstein dieser Entwicklung kann in der Übersetzung der Tora ins Griechische gesehen werden, die sogenannte Septuaginta (abgekürzt LXX). Neben dem Bemühen, den paganen Nachbarn die eigene Religion verständlich zu machen, ist der Hauptgrund für die Übersetzung wohl nicht zuletzt darin zu suchen, „daß ein großer Teil der Juden 235 236
237 238
Vgl. Doering, Schabbat, 285f.; Niehoff, Philo, 162f. Zur Zuverlässigkeit der Aristobulosfragmente: Doering, Schabbat, 306f.; Niehoff, Philo, 152 („he [sc. Aristobulos] associates the Torah with universal standards of virtue“). Vgl. Doering, Schabbat, 309–315. Vgl. Niebuhr, Gesetzespraxis, 25.
176
III. Gruppierungen des Frühjudentums
in der ägyptischen Diaspora bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr genug Hebräisch konnte, um die Lesung der Tora zu verstehen …“239 7.2.2
Die Septuaginta in der Deutung des Aristeasbriefs
Der Aristeasbrief ist eine pseudepigraphische Schrift aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr., entstanden in der ägyptischen Diaspora.240 Thema des Schreibens ist die fiktive Erzählung, wie es zur Übersetzung der hebräischen Tora ins Griechische gekommen sei, eine Art Gründungslegende zur Septuaginta also. Der fiktive Verfasser Aristeas wird als heidnischer Hofbeamter des ägyptischen Königs Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v. Chr.) vorgestellt, der in dem Brief seinem angeblichen Freund Philokrates über die Umstände der Entstehung des SeptuagintaTextes berichtet: Der König habe angeordnet, für die Hofbibliothek von Alexandria eine griechische Version der jüdischen Gesetze (Arist 10: Ἰουδαίων νόμιμα) zu erstellen.241 So kommt es nun zur wundersamen Übersetzung von zweiundsiebzig Juden. Da die Zahl der Übersetzer in manchen Traditionen auch mit siebzig wiedergegeben wird, nennt man die griechische Übersetzung seitdem „Septuaginta“ (LXX), die „(Übersetzung der) Siebzig“. Wundersamerweise haben nach dem Aristeasbrief alle zweiundsiebzig getrennt arbeitenden Übersetzer genau die gleiche Übersetzung zustande gebracht – damit ist für den Verfasser des Aristeasbriefes erwiesen, dass die LXX nicht nur als eine Übersetzung, sondern als eine eigenständig inspirierte Schrift zu werten ist. Die „Septuaginta ... wird als Werk nicht von Übersetzern, sondern von Hierophanten, Offenbarungsträgern bezeichnet, ist also Neuoffenbarung der Tora in anderer Sprache.“242 So ist es klar, warum Philon wie auch Paulus den griechischen Text als inspiriert betrachten konnten, auch wenn sie wussten, dass die Urgestalt Hebräisch verfasst war.243 7.2.3
Das theologische Anliegen des Aristeasbriefs
Neben dem Übersetzungsproblem wird im Aristeasbrief auch das Verlangen deutlich, die jüdischen Gesetzesvorschriften theologisch-sachlich in den hellenistischen Kontext zu übersetzen. Vor allem sperrige Inhalte, wie Speisevorschriften,
239 240
241
242 243
Tilly, Septuaginta, 46. Vgl. dazu auch die Diskussion bei Kreuzer, Bible, 53. Vgl. im Folgenden Tilly, Septuaginta, 29; Kreuzer, Bible, 74 („written around 120 BCE“); Kollmann, Einführung, 28f.; Gruen, Diaspora, 84f. Der grundsätzliche Wahrheitsgehalt dieser Aussage wird heute positiv beurteilt: „Offensichtlich wurden unter den Ptolemäern nicht nur neue Erlasse mehrsprachig publiziert, sondern wurden auch vorhandene Rechtstexte übersetzt“ – Kreuzer, Bible, 51. Zur weiteren Diskussion s.u. III.7.5.1. Stemberger, Text, 63; vgl. auch Stemberger, Hermeneutik, 52. Vgl. dazu Amir, Authority, 442–444.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
177
werden ethisch-symbolisch erklärt.244 Der Aristeasbrief 128.143–150 sieht sich bemüßigt, die Speisevorschriften des Judentums folgendermaßen zu verteidigen: 128 … Ich glaube nämlich, daß viele gern wissen möchten (νομίζω γὰρ τοὺς πολλοὺς περιεργίαν ἔχων; eigentlich: Ich glaube nämlich, dass viele es für sinnlose Übersorgfalt/Pingeligkeit halten), was es mit den Bestimmungen in der Gesetzgebung über Speisen und Getränke sowie über die als unrein angesehenen Tiere auf sich hat. … 143 Einerseits ist nämlich alles im ganzen genommen hinsichtlich des natürlichen Sinnes gleich (τὸ γὰρ καθόλου πάντα πρὸς τὸν φυσικὸν λόγον ὅμοια καθέστηκεν; eigentlich: Nämlich auf das Ganze gesehen hat er [sc. Gott] alles hinsichtlich des natürlichen Sinnes gleich [sc. gleich rein] festgesetzt), da es ja durch eine Macht regiert wird, andererseits hat jedes für sich einen tieferen Sinn … 144 Denn vertritt doch nicht die (längst) zurückgewiesene Auffassung, daß Mose wegen der Mäuse und des Wiesels dergleichen Gesetze mit solcher Sorgfalt (χάριν περιεργίαν; eigentlich: aufgrund sinnloser Übersorgfalt/Pingeligkeit) aufgestellt habe. Vielmehr ist alles um der Gerechtigkeit willen zur frommen Beachtung und zur Bildung des Charakters ehrwürdig angeordnet worden. 145 Denn die Vögel, die wir essen, sind alle zahm und vorzüglich rein, da sie sich (selbst) von Weizen und Hülsenfrüchten ernähren ... 146 Was aber die verbotenen Vögel betrifft, so wirst du finden, dass sie wild und fleischfressend sind und die übrigen mit ihrer Kraft vergewaltigen … 147 Indem er sie unrein nannte, setzte er durch sie ein Zeichen, daß diejenigen, denen das Gesetz auferlegt ist, in ihrer Seele Gerechtigkeit üben und niemanden … unterdrücken …, sondern ihr Leben in Gerechtigkeit führen sollen, wie von den oben genannten Vögeln die zahmen Hülsenfrüchte … verzehrt werden, und nicht zur Vernichtung verwandter Wesen Gewalt anwenden. … 150 Er hat uns nun alle Gebote hinsichtlich dessen, was uns von diesen und von den Haustieren erlaubt ist, wegen ihres Symbolgehalts (τροπολογῶν) gegeben. …
Der Aristeasbrief betont, dass von Natur aus (πρὸς τὸν φυσικὸν λόγον) alle Speisen gleich rein sind.245 Es kostet ihn daher auch Mühe, die Speisevorschriften gegen den Vorwurf der περιεργία, der sinnlosen Übersorgfalt und Pingeligkeit, in Schutz zu nehmen. Er rechtfertigt Vorschriften nun mit ihrem „Symbolgehalt“ (τροπολογῶν): Da die zu essen verbotenen Tiere ein unmoralisches Leben führen, kommen sie als Lebensmittel nicht in Betracht. Während Speisetabus von der nichtjüdischen Umwelt als sinnlose Übertreibung wahrgenommen wurden, wurde der Wert ethischer Normen hochgeschätzt. Der Übergang von ritueller zu moralischer Reinheit bedeutet nicht nur einen interpretationstechnischen Schachzug, um jüdische Besonderheiten für Heiden besser erklären zu können, sondern stellt eine tiefgreifende Herausforderung für das Judentum intern dar (s.u. Exkurse III.7.4).
244 245
Vgl. Berthelot, Literature, 193. Vgl. Siegert, Interpretation, 151: „Nothing is impure by nature, sect. 143 concedes.“
178
III. Gruppierungen des Frühjudentums
7.2.4
Entstehung der Septuaginta, Versionen und Rezensionen
Auch wenn die Aussage des Aristeasbriefs, dass unter dem ägyptischen König Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v. Chr.) eine Übersetzung der jüdischen Gesetze für die Hofbibliothek von Alexandria angefordert wurde, historisch grundsätzlich positiv zu beurteilen ist (s.o. III.7.2.2 und s.u. III.7.5.1), darf in dieser Übersetzung keinesfalls die „Ur-Septuaginta“ erkannt werden. Denn Arist 10 meint mit den Ἰουδαίων νόμιμα, den „Gesetzesvorschriften der Juden“, die für die Hofbibliothek in Alexandria übersetzt werden sollen, nur den Pentateuch und nicht den gesamten heutigen LXX-Kanon.246 Allerdings ist auch hier zu fragen, „ob nicht auch die Übersetzung und Publikation der einzelnen Bücher des Pentateuchs differenzierter erfolgte.“247 Es ist auffällig, dass „die Bücher Genesis und Exodus … freier übersetzt wurden als die folgenden Bücher Levitikus, Numeri und Deuteronomium, und dass Syntax, Stil, Lexikographie und Phraseologie der Genesis die folgenden Übersetzungen erkennbar beeinflußt haben.“248 Während man bezüglich des Pentateuchs von einer LXX-Entstehung um die Mitte des 3. Jh. v. Chr. in Alexandria ausgehen kann, so fanden dann „im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert – zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten – Übersetzungen der übrigen hebräischen Heiligen Schiften des Judentums ins Griechische statt, deren Verfasser allein hinsichtlich ihrer Sprachkenntnis, Übersetzungstechnik und Stilistik überaus verschieden waren.“249 Erst im 2. Jh. n. Chr. wurde von christlichen Autoren die Entstehungslegende der LXX auch auf Prophetentexte und Hagiographen ausgedehnt. Am Anfang des Übersetzungsprozesses der Prophetenbücher standen wohl Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Dodekapropheton.250 Sprachliches Vorbild für diese späteren Übersetzungen war die bereits existente Übersetzung der Tora, auch wenn man in den einzelnen Übersetzungen individuelle stilistische und lexikographische Vorlieben der Bearbeiter erkennen kann. So entstanden an unterschiedlichen Orten wohl auch recht unterschiedliche Teilsammlungen von heiligen Schriften, ein Prozess, der erst in christlicher Zeit mit den in christlichen LXX-Codices enthaltenen Büchern zum Abschluss kam. „Die Septuaginta“ wie wir sie heute christlicherseits (etwa in der Edition Rahlfs) kennen, hat es im Frühjudentum nie gegeben.251 Da die einzelnen Bücher auf einzelnen Schriftrollen zirkulierten, kann für das Frühjudentum auch nicht mit einer festen Ordnung in der Abfolge der Propheten und Hagiographen gerechnet werden.252 Dies geschah erst 246
247 248 249 250 251 252
Vgl. Kreuzer, Bible, 60f. Zur Frage des „Kanons“ der biblischen Bücher des Judentums s.u. V.3.1. Zur Frage des LXX-Kanons siehe weiter unten in diesem Kapitel. Kreuzer, Bible, 61. Tilly, Septuaginta, 49. Tilly, Septuaginta, 51. Vgl. hier und im Folgenden Tilly, Septuaginta, 52f. Vgl. dazu Kreuzer, Bible, 113. Vgl. Tilly, Septuaginta, 54.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
179
durch die im Christentum aufkommende Codexform, in der die Blätter nicht als Schriftrolle, sondern als Buch gebunden wurden. Auch der hebräische Text der heiligen Bücher des Judentums war in frühjüdischer Zeit noch im Fluss. Erst in der „Spätzeit des Zweiten Tempels begann sich in Palästina die protomasoretische Textform allmählich durchzusetzen (ca. 40% der hebräischen Textfunde von Qumran entsprechen dem masoretischen Text [MT]) …“,253 gewann jedoch erst im 2. Jh. n. Chr. ihre Stabilität. S. Kreuzer vermutet,254 dass der protomasoretische Text jene Lesart war, die im Zuge der makkabäischen Revolte (167 v. Chr.) und der Übernahme des Hohepriesteramts durch die Makkabäer/Hasmonäer (ab 153 v. Chr.) als Text der neuen Herrscher durchgesetzt werden sollte. Die Frage nach dem „richtigen“ Text war also auch ein Instrument des Machtkampfes zwischen rivalisierenden Gruppierungen in Jerusalem – ähnlich wie der Kampf um das Hohepriesteramt. Die Textgrundlage für die Übersetzung des LXX-Pentateuchs in der Mitte des 3. Jh. v. Chr. war klarerweise noch nicht jene Textform, die nach der makkabäischen Revolte in Jerusalem forciert wurde. Dann könnte, so Kreuzer, der um 120 v. Chr. verfasste Aristeasbrief mit seinem Hinweis, dass nicht nur die Bibelübersetzer vom Hohepriester in Jerusalem bestellt wurden (Arist 32), sondern auch der für die Übersetzung verwendete Vorlagetext durch den Hohepriester nach Alexandria gesandt wurde (Arist 46), Polemiken am „falschen“ Vorlagetext der Übersetzung zu entkräften versuchen. Der Verweis auf die göttliche Inspiration der LXX im Aristeasbrief würde dann nicht nur gegenüber den Heiden die gottgewollte Autorität des Textes unterstreichen, sondern auch intra muros jüdischen Kritikern an der „falschen“ Textbasis den Wind aus den Segeln nehmen. „Yet this defense, at least in the long run and especially in Palestine itself, could not avert the change of the reference-text and the subsequent revisions of the Old Greek toward the (proto-)Masoretic text.“255 Dies würde gut erklären, warum der LXX-Text schon so bald überarbeitet wurde. Die Frage nach dem „richtigen“ Text war zum Instrument im Machkampf zwischen rivalisierenden innerjüdischen Gruppierungen geworden. In jedem Fall bedingte die Fluidität des hebräischen Textes, dass uns heute der genaue Vorlagetext für die unterschiedlichen Übersetzungen der LXX-Bücher nicht mehr bekannt ist. So etwa weist das LXX-Jeremiabuch einen Text auf, der um ein ⅛ kürzer ist als der heutige MT. Mit der fortschreitenden Normierung des protomasoretischen Textes „ist nämlich bereits in vorchristlicher Zeit in den griechischen Zeugen ein methodisches Bestreben erkennbar, die dem antiken Abschreiber vorliegende griechische Fassung der jeweils bestimmenden Texttradition der hebräischen Heiligen Schrift möglichst anzugleichen … Der griechische 253 254 255
Tilly, Septuaginta, 57; ebenso Kreuzer, Bible, 65. Vgl. Kreuzer, Bible, 69–75. Kreuzer, Bible, 75.
180
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Text wurde also bereits zu Beginn seiner Transmission durch die methodischen, sprachlichen und sachlichen Eingriffe zweisprachiger Abschreiber oder durch die absichtliche Rezensionstätigkeit der Tradenten nachträglich nach bestimmten Gesichtspunkten ‚korrigiert‘.“256Somit gab „es in dieser Zeit keine zwei identischen oder fast identischen Rollen eines Buches der LXX.“257 Eine „relative Konstanz“ hat der LXX-Text erst „im 2. und 3. Jh. d. chr. Z.“ gefunden.258 Die LXXZitate „im NT, bei Philo von Alexandria, bei Josephus und bei vielen Kirchenvätern“ geben demzufolge „Rezensionen verschiedenster Art wider ...“259 Auch wenn man für den Pentateuch eine Erstübersetzung in Alexandria um 250 v. Chr. annehmen kann, so war dies doch keine „Urübersetzung“ im Sinne normativer Gültigkeit, denn „aufgrund des Fehlens eines normativen hebräischen ‚Urtextes‘ der jüdischen Heiligen Schrift als Vorlage ihrer Übertragung ins Griechische[, ist] auch eine ‚Urübersetzung‘ nicht zu erwarten ... Zudem gab es im Judentum zu keiner Zeit eine zentrale Kontrollinstanz, die in der Lage gewesen wäre, einen autoritativen und normativen griechischen Standardtext gegenüber den alternativen Übersetzungen durchzusetzen.“260 A fortiori gilt dieses Argument für die späteren Übersetzungen der Prophetenbücher und Hagiographen. Die Pluriformität des Frühjudentums mit ihren unterschiedlichen, rivalisierenden Gruppierungen spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Texttraditionen im hebräischen wie auch im griechischen Text der Heiligen Schriften wider. Rezensionen der LXX setzten also schon sehr bald ein. Neben dem Machtkampf um den „richtigen“ Vorlagetext sind uns aus vorchristlicher Zeit auch „re-hebraisierende“ Rezensionsaktivitäten bekannt: der griechische Text wurde verstärkt – oft sogar wortwörtlich – an den hebräischen Vorlagetext angelehnt. Für das Richterbuch (Codex Vaticanus) und das Dodekapropheton (Naḥal Ḥever, 8HevXIIgr) sind solche Rezensionen belegt.261 Stellenweise führte die möglichst wortgetreue Übersetzung sogar zu Formulierungen, die im Griechischen höchst eigenwillig klangen, wie etwa die Bearbeitung des in Naḥal Ḥever gefundenen Do-
256 257
258 259
260 261
Tilly, Septuaginta, 61. Tov, Bibelübersetzungen, 133. Ähnlich auch Maier, Testamenten, 63: „Obwohl die Tradition von einer ‚Septuaginta’ spricht, muß ein vielfältiger und langwieriger Prozeß vorausgesetzt werden, da die christlichen Gemeinden unterschiedliche Versionen übernommen haben.“ Tov, Bibelübersetzungen, 133. Tov, Bibelübersetzungen, 165. Koch, Septuaginta, 229, konnte 1993 noch behaupten, „daß für die vorneutestamentliche Zeit ... mit einem relativ stabilisierten Septuagintatext zu rechnen ist“, anders aber die neuere Septuagintaforschung: „ ... à l’époque de rédaction des écrits du NT les textes grecs de la Bible circulaient sous plusieurs formes textuelles ... Il n’est donc pas étonnant que nous trouvions dans les écrits du NT des citations de l’AT sous des formes différentes“ (Harl, Septante, 276). Tilly, Septuaginta, 63. Vgl. Tilly, Septuaginta, 82f.; Kreuzer, Bible, 67; ders., Septuaginta, 17–55.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
181
dekaprophetons, die als Kaige-Rezension bekannt wurde und auch in Teilen anderer Bücher (1/2Sam, 1/2Kön u.a.) fassbar wird. Diese Überarbeitung aus dem 1. Jh. v. Chr. ersetzt – neben vielen anderen eigenwilligen Übersetzungsmerkmalen – stereotyp die hebräische Partikel gam („auch“) nicht einfach nur mit καί (kai, „und“), sondern mit καί γε (kai ge, „und auch“; eigentlich „wenigstens“), was im Griechischen sinnentstellend ist. In späterer Zeit waren es dann die jüdischen Rezensionen von Aquila (um 128 n. Chr.), Symmachos und Theodotion (beide Ende 2. Jh. n. Chr.), die solche Bemühungen weiterführten, von christlicher Seite die Hexapla des Origenes († um 254 n. Chr.) und die Rezension des Lukian († 312 n. Chr.).262
7.3
Philon von Alexandria
Als bedeutendster Schriftsteller des Diasporajudentums muss Philon von Alexandria gelten. Sein philosophisch-theologisches Werk wie auch seine politisch-soziale Eingebundenheit in die Stadt Alexandria belegen, in welch hohem Grad Juden einerseits in der Diaspora assimiliert waren – und wie sehr sie andererseits doch ihre eigenen Traditionen weiterhin hochhielten. Philon lebte zwischen ca. 20 v. Chr. und 50 n. Chr. in Alexandria.263 Er entstammte einer der reichsten und angesehensten Familien der dortigen Judenschaft. Sein Bruder Gaius Julius Alexander wird in A.J. 20,100 als der Alabarch (oberster Zolleintreiber) in Alexandria genannt und für seinen Reichtum und seine noble Herkunft gerühmt. Philons Neffe, Tiberius Alexander, hatte sich von seinem jüdischen Glauben losgesagt und in römischen Diensten Karriere gemacht.264 Er durchlief den cursus honorum und war 46–48 n. Chr. Präfekt in Judäa (s.o. II.5.6). Auf historisch sicherem Boden bewegen wir uns bei Philon lediglich bezüglich der Gesandtschaft an Kaiser Caligula. Nach dem Pogrom, das im Zuge eines Besuchs Agrippas I. in Alexandria 38 n. Chr. ausgebrochen war, sandte die alexandrinische Judenschaft 40 n. Chr. eine Gesandtschaft an Caligula unter der Leitung Philons (s.o. II.5.5.2), die in dessen Schrift Legatio ad Gaium (gemeint ist Gaius Caligula) beschrieben wird und auch in A.J. 18,259 Erwähnung findet.265 Dass Philon diese Delegation leitete, zeigt, wie respektiert er in der alexandrinischen Judenschaft war. Für Philon kann eine gute Kenntnis griechischer und römischer Schriftsteller als erwiesen gelten.266 Ausdrücklich empfiehlt er die geistige und körperliche Bildung der paganen Welt (Spec. 2,230) und
262 263 264 265 266
Vgl. dazu Kreuzer, Bible, 115–128. Vgl. im Folgenden dazu Sterling, Art. Philo, 1063–1070, und Mach, Art. Philo, 523–531. Vgl. Schäfer, Geschichte, 140. Vgl. Schäfer, Geschichte, 132. Vgl. Siegert, Interpretation, 164: „He knows Plato as thoroughly as the Mosaic laws.“
182
III. Gruppierungen des Frühjudentums
besucht wiederholt das Theater267 (Prob. 141; Ebr. 177); mehrfach begegnen bei ihm Vergleiche, die dem Bereich des Theaters entnommen sind (Opif. 78; Gig. 31; Abr. 103; Legat. 79), an manchen Aufführungen wird sogar Kritik geübt (Agr. 35.113). Vom Gymnasion268 spricht Philon in bildhafter Rede in positivem Sinn (Mut. 172; Somn. 1,69.129), auch zitiert er pagane Autoren (Homer, Pindar, Platon, Euripides u.a.) sehr geläufig.269 In Prob. 13 leitet er ein Platon-Zitat sogar mit den Worten κατὰ τὸν ἱερώτατον Πλάτωνα („gemäß dem hochheiligen Platon“) ein, und belegt damit seine literarischen Vorbilder. Philon ist bemüht, zwischen hellenistischer Philosophie und jüdischem Glauben eine Brücke zu schlagen. Hellenistischen Lesern soll der Wert jüdischen Glaubens und die Bedeutung jüdischer Gesetzesauslegung nahegebracht werden. Dabei bedient er sich der allegorischen Methode und stoischer Grundprinzipien (s.u. V.9.2.2).270 Sosehr Philon aber auch am hellenistischen Leben partizipiert und jüdische Gesetze gerne allegorisch deutet, so sehr ist ihm doch auch an einer prinzipiellen Gesetzesobservanz gelegen. So etwa kritisiert er in Migr. 89–93 die „extremen Allegoristen“, welche die rituellen Vorschriften der Tora (Sabbat, Beschneidung, Tempeldienst) zugunsten einer rein ethischen Interpretation vernachlässigen: 89 Es gibt nämlich Leute, die in der Annahme, die verkündeten Gesetze seien nur Symbole von Gedachtem (εἰσὶ γάρ τινες οἳ τοὺς ῥητοὺς νόμους σύμβολα νοητῶν πραγμάτων ὑπολαμβάνοντες), letzterem (dem Gedachten) mit höherem Eifer nachgehen, erstere leichtsinnig vernachlässigen; diese muß ich wegen ihrer Leichtfertigkeit (τῆς εὐχερείας) tadeln. Denn sie hätten an Zweifaches denken sollen: sowohl das Unsichtbare (τῶν ἀφανῶν) recht genau zu erforschen, 90 alsdann auch das Offene (τῶν φανερῶν) tadellos zu beachten. … 91 … Denn weil die Sieben (ἡ ἑβδόμη) uns die Macht des Ungeschaffenen (= Gottes) und die Unwirksamkeit der Geschöpfe lehrt, so dürfen wir deshalb die Gesetze für diesen Tag nicht aufheben, etwa so, daß wir Feuer anzündeten oder den Acker bearbeiteten oder Lasten trügen oder Prozesse führten und Urteile fällten oder aufbewahrtes Gut zurückverlangten oder geliehenes Geld eintrieben, oder anderes sonst täten, was an nichtfestlichen Tagen freigegeben ist. 92 Und weil der Feiertag ein Symbol seelischer Freude und des Dankes an Gott ist (ὅτι ἡ ἑορτὴ σύμβολον ψυχικῆς εὐφροσύνης ἐστὶ καὶ τῆς πρὸς θεὸν εὐχαριστίας), sind die jahreszeitlichen Festversammlungen (ταῖς κατὰ τὰς ἐτησίους ὥρας πανηγύρεσι) nicht aufzugeben. Auch weil die Beschneidung (τὸ περιτέμνεσθαι) darauf hinweist, daß wir alle Lust und Begierde aus uns „herausschneiden“ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, … dürfen wir nicht das über sie gegebene Gesetz aufheben. Denn auch den Dienst im Tempel (τῆς περὶ τὸ ἱερὸν ἁγιστείας) und vieles andere müßten wir vernachlässigen, wenn wir nur das symbolisch Gemeinte achten wollten (εἰ μόνοις προσέξομεν τοῖς δι᾽ ὑπονοιῶν δηλουμένοις; eigentlich: wenn wir unseren Sinn nur auf die gemäß übertragenem Sinn offenbarten [Gesetze] richten werden). 93 Vielmehr muß man
267 268 269 270
Zum griechisch-römischen Theater vgl. Ebner, Stadt, 71–79. Zum Gymnasion vgl. Ebner, Stadt, 79–81. Zur guten griechischen Bildung bei Philon vgl. Delling, Begegnung, 14f. Vgl. Niehoff, Philo, 149–170; Sterling, Art. Philo, 1063.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
183
glauben, daß diese dem Körper, jenes der Seele gleicht (ἀλλὰ χρὴ ταῦτα μὲν σώματι ἐοικέναι νομίζειν, ψυχῇ δὲ ἐκεῖνα). Wie man nun für den Körper, der ja die Wohnstätte der Seele ist, Vorsorge trifft, so muß man auch auf den Wortlaut der Gesetze (τῶν ῥητῶν νόμων) achten. Werden sie nämlich recht beobachtet, so wird auch das klarer erkannt, wofür sie Symbole (ὧν εἰσιν οὗτοι σύμβολα) sind, abgesehen davon, daß man dann auch den Vorwürfen und Anklagen vieler entgeht.
„Philo verwendet den weit verbreiteten, in der Stoa besonders beliebten Unterschied zwischen den ungeschriebenen, göttlichen Sittengesetzen und dem auf Menschensatzung beruhenden Staatsgesetz. Die Thoragesetze in ihrem Wortsinn rechnet er zu den Menschensatzungen, deren Einhaltung er an unserer Stelle billigt, deren Wert aber dem Sittengesetze weit nachsteht.“271 Die Naturgesetze werden in § 92f. mit τοῖς δι᾽ ὑπονοιῶν δηλουμένοις, mit „den durch Vorstellungen Klargemachten“, also dem durch allegorische Auslegung gewonnenen Sinngehalt (ὧν εἰσιν οὗτοι σύμβολα), identifiziert, während die Menschensatzungen den Literalsinn (τῶν ῥητῶν νόμων) wiedergeben. Der Vergleich in § 93, die gemäß Literalsinn erschlossenen Menschensatzungen mit dem Körper, die durch allegorische Deutung gewonnenen Naturgesetze mit der Seele zu identifizieren (ἀλλὰ χρὴ ταῦτα μὲν σώματι ἐοικέναι νομίζειν, ψυχῇ δὲ ἐκεῖνα), legt sich daraus unmittelbar nahe. Der wahre Sinn ist nach § 89f. also das Unsichtbare (τῶν ἀφανῶν), das mittels Allegorie erschlossen werden muss und der Seele der Gesetze gleicht, das Offene (τῶν φανερῶν) hingegen ist wie der Literalsinn „körperlich“ zu fassen. Philon macht in seiner Argumentation deutlich, dass er mit dem Literalsinn die Sabbatheiligung („die Sieben“; ἡ ἑβδόμη), die „jahreszeitlichen Festversammlungen“ (ταῖς κατὰ τὰς ἐτησίους ὥρας πανηγύρεσι), die „Beschneidung“ (τὸ περιτέμνεσθαι) und den „Dienst im Tempel“ (τῆς περὶ τὸ ἱερὸν ἁγιστείας) meint, also rituelle Vorschriften der Tora. Dieser Wortsinn der Gesetze (ihr „Körper“ bzw. das „Offenbare“) muss nun aber mit der „Seele“ (bzw. den „Symbolen von Gedachtem“) als der eigentlichen Bedeutung der Gesetze durch symbolische Auslegung gefüllt werden. So interpretiert Philon die Beschneidung, „daß wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen“, und den Sabbat als einen Tag, der uns die „Macht des Ungeschaffenen (= Gottes) und die Unwirksamkeit der Geschöpfe lehrt“, die jüdischen Feiertage hingegen als „ein Symbol seelischer Freude und des Dankes an Gott“. Die symbolische Auslegung zielt also auf eine ethisch-moralische Erziehung des Menschen. Damit führt Philon Tendenzen des Aristeasbriefs (s.o. III.7.2.3) weiter fort, der ja auch schon die jüdischen Ritual- und Reinheitsvorschriften mit ihrem ethisch-pädagogischen Wert erklärt hatte. Genauso wie der Aristeasbrief hält auch Philon nicht nur an der allegorischen, sondern auch an der rituellen Observanz dieser Vorschriften fest und kritisiert die extremen Allegoristen, die nur mehr den übertragenen Sinn
271
Posner, Wanderung, 177.
184
III. Gruppierungen des Frühjudentums
gelten lassen wollen (§ 89f.). Seine Argumentation lautet, dass die „Seele“ als die allegorisch-moralische Auslegung und der „Körper“ als die rituelle Observanz zusammengehören (§ 93), wobei nach der Stoa klar ist, dass die allegorisch-ethische Deutung den tieferen („seelischen“) Sinn darstellt. In der Person von Philon wird das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Segregation, welches das Frühjudentum durchzog, besonders deutlich. Diese Spannung sollte auch das beginnende Christentum als Teil und Weiterführung des Frühjudentums prägen (s.u. V.8.2).
7.4
Terminologische Klärungen
Exkurs 1: „Ritual- und Reinheitstora“ versus „Sittengesetz“?
In hellenisierten Kreisen des Frühjudentums – wie besonders im Aristeasbrief und bei Philon – lässt sich eine Verschiebung der Gesetzesobservanz weg von der Ritual- und Reinheitstora hin zu ethisch-moralischen Vorstellungen feststellen. Wie wir gesehen haben, sind Aristeasbrief und Philon bemüht, Speisevorschriften, Beschneidung und Sabbat mit ihrem vermeintlichen Bezug auf moralische Tugenden zu rechtfertigen. Allerdings hat M. Wolter korrekterweise darauf hingewiesen, dass eine terminologische Unterscheidung zwischen „Zeremonialgesetz“ und „Sittengesetz“ für das Frühjudentum anachronistisch ist, da sich diese Begriffe nicht in den Quellen finden.272 Zu Recht notiert auch Heil: „Im Frühjudentum war es nicht üblich, zwischen ‚kultisch-rituellem‘ und ‚ethischem‘ Gesetz zu unterscheiden.“273 Damit aber ist noch nicht gesagt, dass die Ansätze zu dieser Unterscheidung nicht bereits inhaltlich im Frühjudentum angelegt waren. Die oben angeführten Belege aus dem Aristeasbrief und bei Philon bezeugen, dass gewisse Kreise des Frühjudentums die bestehenden Ritual- und Reinheitsvorschriften der Tora mit ethischer Ausrichtung neu erklärten. Auch wenn dabei eine Unterscheidung zwischen kultischen und ethischen Normen terminologisch noch nicht getroffen wird, gibt es diesen Unterschied intentional-textpragmatisch.274 So urteilt auch Heil: „Ausgehend von der ‚Metaphorisierung‘ von Reinheit im Sinn einer moralischen Verfasstheit in der prophetischen und weisheitlichen Literatur unterschied das frühe Judentum – besonders das hellenistische Judentum – die rituellen Aspekte der Tora-Gebote von den moralischen, ohne sie ineinander zu verschmelzen“275 – wenngleich die Unterscheidung eher argumentativ-textpragmatisch, jedoch noch nicht definitiv-terminologisch erfolgte. Problematisch scheint dabei auch 272 273 274 275
Vgl. Wolter, Zeremonialgesetz, 341. Heil, Speisegebote, 299. Vgl. auch Tiwald, Hebräer, 359f. Heil, Absonderung, 156. Dazu auch Niehoff, Philo, 149–170.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
185
der Inhalt dessen, was man generell mit „Ritual- und Reinheitstora“ – oft noch unpräziser als „Kulttora“ oder „Zeremonialgesetz“ bezeichnet – umfassen möchte. Die zwischen Philon und den „extremen Allegoristen“ strittigen Punkte betreffen Speisevorschriften, Beschneidung und Sabbatheiligung – keiner dieser drei Punkte fällt unter „Kulttora“, vage bleibt auch, was „Zeremonialgesetz“ umreißen soll. Der Ausdruck „Ritual- und Reinheitsvorschriften“ ist hier schon präziser, umfasst er doch die Beschneidung und die Speisevorschriften, doch nur bedingt die Sabbatheiligung. Besser wäre es also, in Anlehnung an Philon von einer spiritualisierenden Gesetzesobservanz im Unterschied zu einer wortwörtlichen zu sprechen (s.o. III.7.3, die Auslegung zu Migr. 89–93). Da sich die betreffenden Ausdrücke in der Literatur allerdings schon festgesetzt haben, sollen diese auch weiterhin Verwendung finden, doch unter den genannten Kautelen. Exkurs 2: Zu den Ausdrücken „liberal“ und „konservativ“
In den vorangegangenen Passagen war öfters die Rede von „liberalen“ oder „konservativen“ Tendenzen, die von verschiedenen Gruppierungen vertreten wurden. Zu Recht kann man solche Zuordnungen problematisieren, nicht nur, da sie Gefahr laufen, zu generalisieren, sondern da sie stets von einem reichlich subjektiven Referenzrahmen ausgehen. Obendrein ist gerade bei den Vokabeln „liberal“ und „konservativ“ die Versuchung groß, moderne Wertkategorien an die Antike heranzutragen. Will man eine spiritualisierende Gesetzesauslegung nur deswegen als „liberal“ ansehen, weil solche Interpretationsmuster vom späteren Christentum aufgenommen wurden und dies daher als „moderne“/„liberale“ Sichtweise im Gegensatz zu einem unterstellten jüdisch-„konservativen“ „Ritualismus“ angesehen wird, dann schwingen hier längst überholt geglaubte antijüdische Vorurteile mit (ob gewollt oder ungewollt).276 Dennoch scheint es eine voreilige Kapitulation vor den gruppendynamischen Spannungen des Frühjudentums zu sein, auf den Gebrauch der Ausdrücke „liberal“ und „konservativ“ – gleichsam in falsch verstandenem „vorauseilendem Gehorsam“ –verzichten zu wollen: Soziologisch betrachtet „funktionierten“ die Menschen zur Zeitenwende genauso wie wir heute. Es ist also legitim, anzunehmen, dass ähnliche Richtungskämpfe ausgetragen wurden, wie mutatis mutandis auch in der Gegenwart; aber man sollte sich hüten, heutige Wertungen über die Zeit von damals zu legen. Eine Hilfe könnte ein rein heuristischer Zugang sein: „Liberale“ Gruppierungen wollten sich von einer auf Ritual- und Reinheitsfragen zugespitzten Tora „befreien“ (lat.: liberare). So zumindest sieht es Paulus, der vom „Joch“ der Ritualtora (s.u. V.9.2) spricht und die Freiheit rühmt, zu der uns Christus „befreit“ hat (Gal 5,1). Ähnlich kritisiert auch Zambri in A.J. 4,145–149 (Text s.u. V.8.2.2) mit Blick auf die Ehevorschriften (also 276
Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Tiwald, Hebräer, 3–9.
186
III. Gruppierungen des Frühjudentums
einen Teil der Reinheitstora!) die „tyrannischen Gebote“ des Mose und nimmt für sich in Anspruch, sich als „freier Mann“ darüber hinwegsetzen zu können. Und Arist 128 (Text s.o. III.7.2.3; vgl. auch V.8.2.1) konstatiert, dass „viele“ (wohl auch Juden) die „Pingeligkeit“ kritisieren, mit der Speisevorschriften eingehalten werden müssen. Die „extremen Allegoristen“ jedenfalls haben sich von solchen Vorschriften „befreit“, sie waren im wahrsten Sinne des Wortes „liberal“. „Konservativ“ kann dann – wieder rein heuristisch – bedeuten, dass die „väterlichen Gesetze des Judentums“, für Josephus ein wertschätzender Begriff für die traditionellen Gesetzesvorschriften des Judentums (s.o. III.8.1.4), auch unter dem hellenistischen Druck zur Assimilation „bewahrt“ (lat. conservare) wurden. Beide Vokabeln – „liberal“ wie auch „konservativ“ – sollten allerdings ohne Wertung verwendet werden; es waren einfach unterschiedliche Zugänge und Positionen innerhalb des weiten Spektrums frühjüdischen Lebens (s.u. Anhang: Spektrum Frühjudentum und Frühchristentum).
7.5
Politische Rahmenbedingungen
7.5.1
Jüdisches Sonderrecht
Wenn im Aristeasbrief zu lesen ist, dass unter dem ägyptischen König Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v. Chr.) eine Übersetzung der jüdischen Gesetze (Arist 10: Ἰουδαίων νόμιμα) für die Hofbibliothek von Alexandria angefordert wurde, dann stellt dies keineswegs nur eine schöne Legende dar. Schon in der persischen Periode war die jüdische Tora von den persischen Oberherren als quasi-staatliches Rechtsdokument („civic law for the Jews“277) anerkannt, nach dem Zivilrecht gesprochen wurde – wie Esra 7,25f. berichtet. Die persischen Oberherren akzeptierten – in Palästina wie in ihrem restlichen Reichsgebiet – die juridischen Besonderheiten der Juden, wenn diese nur treue Untertanen waren. An diesem Status änderte sich auch in hellenistischer Zeit nichts: Alexander erlaubte den Juden, ihre eigenen Gesetze zu befolgen (A.J. 11,338; Ἰουδαίους τοῖς ἰδίοις ἐπιτρέψῃ νόμοις χρῆσθαι). Im Zuge dessen ist auch der Wunsch zu verstehen, dass Ptolemaios II. eine griechische Version der jüdischen Gesetze in seiner Hofbibliothek besitzen wollte – nicht aus religiösem Interesse, sondern da diese Texte nun offizieller Bestandteil der im Ptolemäerreich möglichen Rechtsnormen geworden waren.278 Auch unter den Seleukiden scheint sich daran nichts geändert zu haben. Josephus berichtet, dass Antiochos III. allen Nationen erlaubt habe, nach ihren „väterlichen Gesetzen“ (A.J. 12,142) zu leben. Für das Judentum bezeichnete der 277 278
Pucci Ben Zeev, Jews, 238. Vgl. Pucci Ben Zeev, Jews, 238: „… the Tora was officially recognized by its integration in the judicial system created by Ptolemy II.“ Vgl. auch die Diskussion bei Kreuzer, Bible, 51f.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
187
Ausdruck „väterliche Gesetze“ die Tora. Auch die Römer führten die diesbezügliche Praxis konsequent weiter – es war erklärtes Ziel römischer Politik, den in den eroberten Gebieten bestehenden rechtlichen und kulturellen Rahmen so weit als möglich bestehen zu lassen. 7.5.2 Das Judentum als religio licita?
Trotz dieser Sonderregelungen, die Juden dazu berechtigten, ihren religiösen Vorschriften (Sabbatheiligung, Speisevorschriften, Tempelsteuer etc.) nachzukommen, darf man den Status des Judentums doch nicht im Sinne einer grundsätzlich anerkannten rechtlichen Absicherung missverstehen. Immer wieder ist zu lesen, das Judentum habe unter den Römern den Status einer religio licita besessen, also als staatlich erlaubte Religion einen quasi offiziellen Rang innegehabt. Das jedoch ist falsch, der Ausdruck religio licita ist kein terminus technicus römischer Jurisprudenz.279 Der Begriff begegnet erstmals in Tertullians Apologeticum 21,280 wo es heißt, man könnte irrtümlich annehmen, das Christentum habe sich quasi sub umbraculo insignissimae religionis, certe licitae – „gleichsam unter dem Schirm einer bekannten, sicherlich erlaubten Religion“ (gemeint ist hier das Judentum) – in der Anfangszeit verstecken wollen. Das vorgesetzte „certe“ und das nachgestellte „licitae“ machen deutlich, dass der Ausdruck „religio licita“ auch bei Tertullian kein terminus technicus war, sondern nur eine nachgereihte Präzisierung zur „religio insignissima“. „Die Bezeichnung des Judentums als einer ‚erlaubten‘ Religion ist eine ad-hoc-Formulierung Tertullians und stellt keinen eingeführten juristischen Begriff dar, auf den er hätte zurückgreifen können …“281 7.5.3
Privilegien für Juden als ad hoc Regelungen
Etwaige Privilegien, die den Juden in der Antike betreffs der freien Religionsausübung zugestanden wurden, entstammten keinem umfassenden Statut und auch keinem allgemeingültigen Vertrag, sondern waren ad hoc zugesagte Sonderrechte, die bestimmten Juden entweder von einem bestimmten Herrscher/Kaiser oder von einer bestimmten Stadtverwaltung in einer bestimmten Situation zugebilligt wurden.282 Solche Sonderrechte wurden auch nicht auf Dauer verliehen, 279
280
281 282
Vgl. Applebaum, Status, 460; Rajak, Charter, 301; Pucci Ben Zeev, Jews, 238. Zur Thematik: Hasselhoff/Strothmann, Religio, 1–12. Vgl. Rajak, Charter, 301; Applebaum, Status, 460. Zum Begriff der collegia licita: Ebner, Stadt, 223 und 226. Illicitum war alles, was „die öffentliche Ordnung gestört und damit die politischen Interessen Roms durchkreuzt“ hat. Koch, Geschichte, 539. Vgl. Rajak, Charter, 317, 326f. Applebaum Status, 460: „… proceeded not from a treaty relationship or a comprehensive statute, but from ad hoc confirmations, individual or en bloc, of a series of city-laws …“. Frankemölle, Frühjudentum, 427: „bestimmte Privilegien genossen,
188
III. Gruppierungen des Frühjudentums
sondern konnten jederzeit widerrufen werden. Das wird besonders deutlich, wenn man entsprechende Angaben bei Philon und Josephus genau liest. Beide Autoren berichten übereinstimmend von einem Dekret, das von beiden mit Gaius Norbanus Flaccus, der von 31–27 v. Chr. Prokonsul von Asien war, in Verbindung gebracht wird: Legat. 315 Die Abschrift des Briefes aber lautet: „Gaius Norbanus Flaccus, der Proconsul, grüßt den Magistrat von Ephesus. Cäsar hat mir geschrieben, die Juden, wo immer sie leben, pflegen nach ihrem eigenen, uralten Herkommen sich zu versammeln und Geld zu spenden, das sie nach Jerusalem senden. Er wünscht nicht, daß man sie daran hindere. Ich schreibe daher an Euch, damit Ihr wißt, daß, dies auszuführen, sein Befehl ist.“ A.J. 16,166 „Der Kaiser an Norbanus Flaccus, alle und jeden Juden, die nach altem Brauch Tempelgelder nach Jerusalem zu schicken pflegen, sind dabei ungehindert zu belassen.“ 167 Auch Agrippa erließ zu Gunsten der Juden folgende Verordnungen. „Agrippa an die Archonten, den Rat und die Gemeinde von Ephesus. Die Besorgung und Aufbewahrung der Gelder, die für den Tempel zu Jerusalem bestimmt sind, sollen nach altem Herkommen den Juden in Asien überlassen bleiben, 168 und jeder, der nach Entwendung jüdischer Tempelgelder ein Asyl gesucht hat, soll als Tempelräuber hinweggeführt und den Juden ausgeliefert werden. Dem Prätor Silenus habe ich bereits Weisung gegeben, keine Juden am Sabbat zur Leistung eines Rechtsgeschäfts aufzurufen.“
Die Tatsache, dass Philon und Josephus unabhängig voneinander auf das gleiche Dekret Bezug nehmen, legt nahe, dass es dieses Dekret tatsächlich gegeben hat (wenngleich es hier auch nur sinngemäß wiedergegeben wird). Übereinstimmend berichten beide Autoren, dass den Juden darin das Privileg, die Tempelsteuer über Provinzgrenzen hinweg entrichten zu dürfen, zugestanden wurde. Die Ausfuhr beträchtlicher finanzieller Mittel – wie es die Tempelsteuer darstellte – wurde von den lokalen Autoritäten nicht gerne gesehen, die Erlaubnis, die Tempelsteuer über Provinzgrenzen nach Jerusalem zu senden, stellte tatsächlich ein „Privileg“ dar.283 Wenn Philon dann vom Versammlungsrecht der Juden „nach ihrem eigenen, uralten Herkommen“ berichtet, so ist damit das Recht, am Sabbat Gottesdienste zu feiern, gemeint. Damit korrespondiert das von Josephus erwähnte Privileg, dass Juden am Sabbat vom Erscheinen vor Gericht befreit wurden (dieses Privileg taucht allerdings erst in der Proklamation durch Agrippa auf). Philon berichtet von diesem Dekret in Zusammenhang mit der Gesandtschaft an Kaiser Gaius Caligula (40 n. Chr.). Als dieser die Rechte der Juden drastisch beschneiden wollte (s.o. II.5.5.2), erinnerte ihn Philon an jene Privilegien, die den Juden früher
283
die nach Zeit und Ort verschieden waren …“. Ebner, Stadt, 88: „Diese Rechte mussten in jeder Stadt gesondert und bei jedem Herrscherwechsel erneut ausgehandelt werden. Es ging dabei um lokal begrenzte und je verschieden zugeschnittene Privilegrechte.“ Vgl. Trebilco, Ephesus, 41, und Rajak, Charter, 330f.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
189
zugebilligt worden waren. Dennoch war der Gesandtschaft kein Erfolg beschieden, der Kaiser weigerte sich, die Privilegien zu erneuern. Nur durch die Ermordung Caligulas wurde eine Katastrophe vermieden. Dies zeigt, dass solche Privilegien tatsächlich nur ad hoc verliehen waren, und von späteren Herrschern nicht affirmiert werden mussten. In der Erzählung von Josephus wird das zwischen 31 und 27 v. Chr. verfasste Flaccus-Privileg nun nachträglich von einem gewissen Agrippa bestätigt. Es handelt sich hierbei um Marcus Vipsanius Agrippa, der sich im Jahr 14 v. Chr. als Sonderbevollmächtigter auf Inspektionsreise in den Provinzen des östlichen Mittelmeerraums aufhielt. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass solche Privilegien nicht auf Dauer verliehen wurden, sondern jeweils neu affirmiert werden mussten. 7.5.4
Privilegien und lokales Stadtrecht
In A.J. 14,223–230 berichtet Josephus von Privilegien, die Publius Cornelius Dolabella († 43 v. Chr.) den Juden Asiens zugebilligt habe. Hier geht es vor allem um die Exemtion vom Militärdienst aufgrund der jüdischen Speisevorschriften und der Sabbatheiligung, das Versammlungsrecht am Sabbat und die Ausfuhr der Tempelsteuer. Allerdings berichtet Josephus im Folgenden, dass die von den Römern garantierten Privilegien erst mit dem jeweiligen Stadtrecht akkordiert werden mussten, wozu eigene Anschriften an die betreffenden Archonten notwendig waren (A.J. 14,230: Ephesus; 14,256–259: Halikarnassos; 14,259–261.262–264: abermals Ephesus; ebenso in A.J. 16,167: Ephesus; 16,169: Kyrene; 16,171: Sardes; 16,172: abermals Ephesus). Die den Juden zugesprochenen Privilegien umfassten in der Regel: Befreiung vom Kriegsdienst (da man am Sabbat nicht kämpfen durfte), Befreiung von heidnischen Kulthandlungen, Befreiung davon, am Sabbat vor Gericht erscheinen zu müssen, das Recht auf eigene kultische Versammlungen, das Recht der Entrichtung der Tempelsteuer und das Recht auf eigene, koschere Märkte.284 Solch weitreichende Zugeständnisse wurden von den Städten nicht gerne gesehen. Daher berichtet A.J. 16,27f.57–60.167f.172f. auch von beständigen Schwierigkeiten in unterschiedlichen Städten. Auch wenn – zumindest in der wohlwollenden Darstellung des Josephus – die Sonderrechte der Juden letztlich doch immer wieder bestätigt wurden, war dies doch kein Automatismus, sondern ein beständig neues Ringen. Es war eine sensible „balance of loyalities“ zwischen Juden und Stadtverwaltung, die über Generationen wachsen musste, um solche Privilegien auch weiterhin zugestanden zu bekommen.285
284 285
Vgl. Rajak, Charter, 317. So Rajak, Charter, 358.
190
III. Gruppierungen des Frühjudentums
7.5.5
Der Status der Juden und das „Parting of the Ways“
Diese sensible „balance of loyalities“ konnte natürlich auch schnell kippen. Wie wir gerade am Beispiel von Ephesus sehen konnten, waren die Privilegien der Juden keine Selbstverständlichkeit. Als Paulus nach Apg 19,23–40 einen Tumult mit den Silberschmieden von Ephesus auslöst (s.o. I.2.2.4), sehen sich die Juden gemüßigt, mit Alexander ihren eigenen Sprecher vorzuschicken (V 33). Offensichtlich richtet sich der Tumult gar nicht gegen eine eigenständige Gruppe von „Christen“, sondern gegen das ephesinische Judentum, als deren Untergruppe die ersten Christen gesehen wurden: Paulus wird von den Silberschmieden als Jude kategorisiert.286 Ein über Generationen aufgebautes Vertrauensverhältnis läuft durch Paulus Gefahr, im Handumdrehen zerstört zu werden. Eine ähnlich verlaufende Konstellation haben wir in der Stadt Rom, wo von außen kommende Christen das fragile Gleichgewicht zwischen Juden und römischem Staat durcheinanderbringen, was bekannterweise zur Ausweisung der „Juden“ aus Rom unter Kaiser Claudius führte (s.u. III.10.4.6).287 Unter anderen Auspizien wiederholen sich die Spannungen in Ephesus in Gestalt des Verfassers der Johannesoffenbarung. Dieser aus Palästina stammende Wandermissionar hatte nach den Gräueln des jüdischen Krieges „ein gänzlich anderes Bild des römischen Staates im Rucksack …, als es in der friedlichen und prosperierenden Welt kleinasiatischer Gemeinden verbreitet war.“288 Die negative Einschätzung des römischen Staates durch Johannes findet Parallelen in der frühjüdisch-apokalyptischen Theologie in Palästina nach Zerstörung des Tempels, etwa in 2Bar und 4Esr (s.u. III.8.4). Johannes polemisiert nicht nur gegen die „Synagoge des Satans“ (Offb 2,9; 3,9), sondern auch gegen andere christliche Gruppierungen, die seiner Meinung nach viel zu liberal sind.289 Seine unnachgiebige Haltung hat ihn in Konflikt mit den Römern gebracht und zu seiner Verbannung auf Patmos geführt (Offb 1,9) – eine unnachgiebige Grundeinstellung, die weder von den Juden noch von anderen christlichen Gruppierungen in Ephesus geteilt wurde. Vielleicht war die Frage nach dem „Parting of the Ways“ oft auch regionalpolitischen Befindlichkeiten geschuldet – und gar nicht hehren theologischen Reflexionen (s.o. I.2.2.4). Am Beispiel des Johannes wird deutlich, dass der Riss zwischen liberal-römerfreundlich und konservativ-antirömisch 286
287
288 289
Vgl. Horsley, Inscriptions, 122: „… the riot in ch. 19 was not so much a reaction against the Christians as against the Jews of the city … Christians in the Greek cities at this period can scarcely have been visible to non-Jewish outsiders as anything other than a schismatic Jewish group …“ Wahrscheinlich wurden mit dem Claudiusedikt nur die christlichen Juden aus Rom vertrieben, vgl. dazu Theißen, Paulus, 239–241. Stowasser, Nikolaiten, 223. Vielleicht kann man in den „Nikolaiten“ (Offb 2,6.15) dann Christen sehen, die der paulinischen Position 1Kor 8 nahekommen, wo Paulus eine recht liberale Einstellung in der Frage des Verzehrs von Götzenopferfleisch vertritt. Dazu: Tiwald, Ephesus, 138f.
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
191
nicht zwischen „Juden“ und „Christen“ verlief, sondern innerhalb des Judentums wie auch des Christentums selbst. Auch hier ist das Christentum einmal mehr Erbe frühjüdischer Pluralität.
7.6
Synagogen
Keine andere „Erfindung“ des Diasporajudentums hat den weiteren Gang der jüdischen Geschichte mehr beeinflusst als die Entwicklung der Synagoge. Obwohl Synagogen in frühjüdischer Zeit auch in Palästina belegt sind, dürfte der Ursprung der Synagogen doch in Anlehnung an hellenistische bouleuteria, also Versammlungsräume der Boule, des Rates der Stadt, zu finden sein.290 7.6.1
Begriff
Der griechische Ausdruck συναγωγή (synagōgē) meint wörtlich übersetzt nichts anderes als „Versammlung“. In der LXX wird dieser Ausdruck zumeist als Übersetzung für die hebräischen Ausdrücke ‘( עדהedah) oder ( קהלqahal) verwendet, was auf die Gemeinschaft der Versammelten abzielt und nicht auf ein bestimmtes Gebäude.291 Bei Josephus und im NT beginnt sich bereits ein Bedeutungswandel abzuzeichnen. Dort wird συναγωγή zumeist im Sinne von „Synagogengebäude“ verwendet, wobei allerdings auch die Bedeutung von „Versammlung“ noch weiterhin präsent ist.292 So lässt sich in Apg 6,9 nicht mit Sicherheit sagen, ob die Vertreter „der sogenannten Synagoge der Libertiner und Kyrenäer und Alexandriner“ lediglich Mitglieder einer (landsmannschaftlichen) Vereinigung waren oder Mitglieder einer regelrechten Synagogengemeinschaft.293 Ist von dem Synagogengebäude die Rede, so wird dieses im Hebräischen mit ( בית כנסתbet knesset), Haus der Versammlung, wiedergegeben; in rabbinischer Zeit taucht auch vereinzelt der Ausdruck ( בית תפילהbet tefillah), Haus des Gebets, auf.294 Im Griechischen kann analog dazu auch der Ausdruck προσευχή (proseuchē), verwendet werden, was eigentlich das „Gebet“ meint, und von da abgeleitet das „Gebetshaus“. Der Ausdruck προσευχή wird laut Hüttenmeister „bevorzugt und fast ausschließlich im hellenistischen Ägypten gebraucht …, während συναγωγή in der übrigen antiken Welt
290 291 292
293
294
Vgl. Levine, Palestine, 28 und 40. Im Folgenden auch Doering/Krause, Synagogues, 9–22. Vgl. Hüttenmeister, Synagoge, 359. Vgl. Hüttenmeister, Synagoge, 359. Für das Gebäude vgl. etwa Mk 1,21–39; 3,1; 6,2; 12,39; 13,9 u.v.a.m. Für die Versammlung vgl. Apg 13,43; Offb 2,9; 3,9. Vgl. Stemberger, Judaistik, 24: „So wird man auch die Angabe von Apg 6,9 überdenken müssen, in ihr eher ‚Synagoge‘ als Landsmannschaft und nicht als Gebäude, schon gar nicht als religiöses Zentrum verstehen.“ Vgl. Hüttenmeister, Synagoge, 360.
192
III. Gruppierungen des Frühjudentums
benutzt wird.“295 Allerdings verwendet auch Apg 16,13.16 den Ausdruck προσευχή für ein Synagogengebäude in Thyatira und Josephus, Vita 277 für ein Synagogengebäude in Tiberias; die Terminologie scheint hier doch wesentlich fluider gewesen zu sein. 7.6.2
Funktion der Synagoge
Die Bezeichnung der ältesten Synagogen mit dem Wort „Versammlungshaus“ benennt auch schon ihren Zweck: „… ein Versammlungshaus für die vielfältigsten Zwecke: zum Richten, aber auch zum Gottesdienst; zum Besprechen von alltäglichen Dingen, aber auch zur Auslegung der Heiligen Schriften; zu profanen Verwaltungsaufgaben, aber auch zum religiösen Unterricht; zum Einholen von medizinischen Ratschlägen, aber auch zum Predigen. Dabei überwogen die profanen Aufgaben ursprünglich, erst nach Zerstörung des Zweiten Tempels traten die religiösen Aufgaben langsam in den Vordergrund, ohne daß sie überall die profanen Aufgaben verdrängen konnten.“296 Synagogen zur Zeitenwende müssen im Sinne einer „multifunktionalen Einrichtung“297 verstanden werden, wobei im Laufe der Zeit – besonders nach Zerstörung des Tempels – die religiösen Aspekte immer stärker in den Vordergrund traten. In diesem Sinne können auch die Belege des NT verstanden werden: Die sabbatliche Versammlung kommt schon in Mk 6,2 oder Lk 4,16 zum Tragen, während in Mk 13,9; Mt 10,17 und Lk 12,11 noch die Funktion der Synagoge als Gerichtsstätte durchschimmert. Apg 16,13 fokussiert mit dem Terminus προσευχή schon dezidiert auf die sabbatliche Gebetsversammlung, wobei Josephus, Vita 277 den gleichen Ausdruck noch als Versammlungsstätte für politische Beratungen nützt (die allerdings an einem Sabbat stattfinden – Vita 275 und 279 – wahrscheinlich nach dem sabbatlichen Gebetsgottesdienst). 7.6.3
Entstehung der Synagoge in der Diaspora
„Die These, die Synagoge sei in biblischer, alttestamentlicher Zeit entstanden, kann heute getrost ad acta gelegt werden.“298 Bisweilen wurde von christlicher wie auch von rabbinischer Seite solch eine Frühdatierung forciert, um das Synagogeninstitut schon in der babylonischen Exilszeit fixiert zu wissen, jedoch gibt es dafür kein fundamentum in re.299 Wahrscheinlich entstanden Synagogen in der
295 296
297 298 299
Hüttenmeister, Synagoge, 360. Hüttenmeister, Synagoge, 360. Vgl. auch Levine, Art. Synagogue, 1270, der von „exuberant diversity“ spricht. Hüttenmeister, Synagoge, 357. Hüttenmeister, Synagoge, 358. Vgl. Hüttenmeister, Synagoge, 358. Die ältere Sichtweise, die von einer Entstehung der Synagoge „either during the Babylonian exile or soon after“ ausgeht, wird noch referiert bei
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
193
Diaspora ab dem 3. Jh. v. Chr. Aus dieser Zeit sind uns aus Ägypten die ältesten Synagogeninschriften erhalten.300 Allerdings haben wir archäologisch bis zum heutigen Tag noch keine Synagogen aus der Zeit des Zweiten Tempels in Ägypten gefunden.301 Dies ist aber auch nicht verwunderlich: Was die Bestimmung einer Synagoge als solcher so schwer macht, ist die Tatsache, dass Synagogen damals im Sinne einer „multifunktionalen Einrichtung“302 verwendet wurden und daher durchgängig verwendete architektonische Erkennungsmerkmale fehlen. Selbst noch für das 1. Jh. n. Chr. gilt: „There was no designated seating for leaders, no inscriptions, no statement of synagogue sanctity, and, with the exception of Magdala, no depictions of artistic remains or religious symbols.“303 So gab es in den damaligen Synagogen auch noch keinen festen Platz für den Tora-Schrein.304 Sogar noch bis ins 3. oder 4. Jh. n. Chr. wurde in manchen Synagogen ein transportabler Tora-Schrein für den Gottesdienst in den Versammlungsraum gebracht.305 In einem Kalksteinfries aus der Synagoge von Kafarnaum, das einen Wagen auf Rädern darstellt, erkennen manche Forscher solch einen mobilen Tora-Schrein.306 Als Identifikationsmerkmale für Synagogen der damaligen Zeit können dienen: Inschriften, die den Ort als Synagoge ausweisen (obwohl diese selten waren, vgl. Theodotos Inschrift), Funde von Schriftrollen, jüdische Symbole (etwa Reliefs, auch diese waren selten, vgl. Magdala), ein angrenzendes rituelles Bad (Miqwe), umlaufende Sitzbänke und Säulen. Wahrscheinlich ähnelte eine Synagoge der damaligen Zeit den hellenistischen bouleuteria, den Versammlungsräumen des Stadtrates.307 7.6.4
Synagogen in Palästina zur Zeit des Zweiten Tempels
Für den Zeitraum vor 70 n. Chr. haben wir mittlerweile gute archäologische Evidenz für die Existenz von Synagogen in Palästina.308 In Judäa: Masada, Herodeion, die Theodotos-Inschrift von Jerusalem, Qiryat Sefer, und Modi‘in, vielleicht auch
300 301 302 303 304
305 306
307 308
Levine, Synagogues, 3; zurückhaltender aber ders., Synagogue, 20–26. Vgl. die Diskussion bei Hachlili, Synagogues, 13–16. Ebenso Kreuzer, Synagoge, 1–31. Vgl. Villeneuve, Juden, 45; Levine, Synagogues, 1; ders., Synagogue, 19. Vgl. Levine, Synagogue, 75. Hüttenmeister, Synagoge, 357. Levine, Palestine, 27. Allerdings vermutet Netzer, Art. Jericho, 1799, dass es in Jericho bereits eine Tora-Nische gegeben habe. Aviam, Stone, 147–150, hingegen deutet den in Magdala gefundenen Synagogen-Stein als fixes Podium für die Tora-Lesung. Vgl. Levine, Synagogue, 328f. Vgl. dazu auch bEr 86b und bSot 39b. Vgl. Levine, Synagogue, 337. Es könnte sich aber auch um die fahrbare Bundeslade auf der Wüstenwanderung handeln, so De Luca, Art. Capernaum, 175. Vgl. Levine, Palestine, 28 und 40. Vgl. dazu im Folgenden Levine, Palestine, passim.
194
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Ḥorvat ‘Etri (südlich von Bet Schemesch) und Jericho.309 Am Golan Gamla310 und in Galiläa Migdal (= Magdala)311 und Tel Rekhesh. Weniger sicher sind Khirbet Qana, Kafarnaum, Chorazin und eine zweite Synagoge in Migdal. Besonders interessant ist der in Migdal gefundene Synagogen-Stein, ev. eine Ablage für Schriftrollen. Die darauf abgebildeten Motive stellen Assoziationen zum Jerusalemer Tempelkult her. Auch wenn Synagogen damals noch Multifunktionsgebäude waren, zeigt sich hier schon die spätere Entwicklung hin zu einem religiös konnotierten Gebäude zum Studium der Tora, so L. Doering:312 … the Magdala stone, in my view, links particularly the localized communal practice of reading and studying the Torah with the Jerusalem Temple. This does not confer the sanctity of the Temple to synagogues, nor does it allow Jews at a distance to participate in the central (sacrificial) cult. However, there is a connection between the distinct activities of assemblies in synagogues and the work of the Jerusalem Temple, and this link was likely provided by the Torah that was present in both.
Betreffs der Synagoge von Kafarnaum lässt sich durch mehr als 25.000 Münzfunde, welche im Estrich der Synagoge eingebacken waren, die Bauzeit in das beginnende sechste Jh. n. Chr. datieren, Stratigraphie und Keramikbefund stützen den numismatischen Befund.313 Die früher zumeist vertretene Datierung in das dritte Jh. ist damit obsolet.314 Der unter der Kalksteinsynagoge liegende Basaltboden wurde von den Ausgräbern in das erste Jh. n. Chr. datiert.315 Da es übliche Praxis war, Synagogen und Kirchen auf dem gleichen Ort ihrer Vorgängerbauten zu errichten, hat man überlegt, ob dieser Basaltboden, der für ein normales Wohnhaus zu groß ist, zu jener Synagoge gehörte, in der Jesus nach Mk 1,21 und Joh 6,59 lehrte.316 309
310 311
312 313
314 315
316
Vgl. Netzer, Art. Jericho, 1798f. Vgl. dazu auch die kritischen Anfragen von Levine, Synagogue, 68f. Zum Stand der Diskussion Hachlili, Synagogues, 29f. und Doering/Krause, Synagogues, 9–22. Vgl. dazu Gutman, Art. Gamala, 460f. Zur Synagoge von Migdal/Magdala vgl. Aviam, Synagogue, 127–133, und zum dort gefundenen Synagogen-Stein Aviam/Bauckham, Stone, 135–159; zu beiden: Doering, Synagogue, 127–153. Weiters: Levine, Palestine, 26f., 39; Hachlili, Synagogues, 33f.; Aviam, Reverence, 132–142. 2018 ist der Preliminary Report of the Excavations erschienen: Zapata-Meza/Garza/ Barriga/Sanz-Rincón, Magdala, 83–125; und Bauckham (Hg.), Magdala, ein Sammelband mit den wichtigsten Grabungsergebnissen. Doering, Magdala, 146. Vgl. Magness, Question, 18 und 21. Vgl. ebenso Loffreda, Art. Capernaum, 294, und Loffreda, Chronology, 55, der die Synagoge allerdings schon ins beginnende fünfte Jh. datiert. Vgl. zu dieser Frage die Forschungsgeschichte bei Magness, Question, 1–18. Vgl. Loffreda, Art. Capernaum, 294; ders., Chronology, 55. Ebenso Arubas/Talgam, Jews, 268; De Luca, Art. Capernaum, 174. Dagegen optiert Magness, Question, 19f., Hachlili, Synagogues, 26 und 62f., lässt die die Frage offen. So Arubas/Telgam, Jews, 268. Ob diese Synagoge vom „Hauptmann von Kafarnaum“ errichtet wurde (Lk 7,5), bleibt offen. Kafarnaum gehörte zur Zeit Jesu in den Herrschaftsbereich
7. Das Frühjudentum in der Diaspora
7.6.5
195
Die Theodotos-Inschrift
Die griechische Theodotos-Inschrift stammt nach neuesten Untersuchungen nun doch schon aus der Zeit vor der Tempelzerstörung317 und belegt die Existenz einer griechischsprachigen Synagoge in Jerusalem. Der Text lautet: Theodotos, Sohn des Vettenus, Priester und Archisynagogos, Sohn eines Archisynagogos, Enkel eines Archisynagogos, erbaute die Synagoge zum Verlesen des Gesetzes und zur Lehre der Gebote, und den Gästeraum und die Räume und die Benützungsanlagen der Wasser als eine Herberge für die Bedürftigen aus der Fremde, die [Synagoge, die] seine Väter und die Ältesten und Simonides begründet haben.318
Hier ist klarerweise mit συναγωγή bereits das Gebäude gemeint, das sich durch die Datierung der Inschrift für die Zeit vor 70 n. Chr. in Jerusalem belegen lässt. Die Tatsache, dass schon der Großvater von Theodotos als Archisynagogos (Synagogenvorsteher, vgl. Mk 5,22; Lk 8,49; 13,14; Apg 13,15; 18,8.17) bezeichnet wird, lässt rückschließen, dass es diese Funktion bereits im 1. Jh. v. Chr. in Jerusalem gab.319 Für die Zeit des Theodotos ist die Multifunktionalität der Synagoge noch gut zu erkennen: Zwar stehen das „Verlesen des Gesetzes“ und die „Lehre der Gebote“ bereits an erster Stelle, doch diente das Gebäude auch als Herberge für Fremde. Jerusalempilger aus der griechischsprachigen Welt konnten hier also in ihrer Muttersprache am Synagogengottesdienst teilnehmen.320 Man könnte spekulieren, ob der aus Tarsus stammende Paulus bei einem Jerusalembesuch in seiner vorchristlichen Zeit nicht auch in solch einer „Synagoge“ untergebracht war.321 7.6.6
Der Synagogengottesdienst
Leider ist weder eine „Rekonstruktion der einstigen Liturgie am Tempel noch die Rekonstruktion der gruppeneigenen Liturgien [möglich]. Für die gottesdienstlichen Veranstaltungen außerhalb des Tempels ist die Quellenlage nicht besser – keinen einzigen ‚Synagogengottesdienst‘ kann man auf Grund der erhaltenen Zeugnisse rekonstruieren.“322 Nach Philon (Spec. 2,62f.; Prob. 81–83; Contempl.
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322
des Herodes Antipas, der keine römischen Soldaten, aber nichtjüdische Söldner besaß (Josephus A.J. 18,113f.). Wahrscheinlich hat hier die Liebe des Lk zu „Gottesfürchtigen“ (Hauptmann Kornelius Apg 10,1f.; Bovon, Lukas I, 348) Regie geführt. Zu Diskussion und Beweislage vgl. Kloppenborg Verbin, Theodotos, 243–277 (bes. 276). Übersetzung nach dem griechischen Text von Kloppenborg Verbin, Theodotos, 244. Vgl. Kloppenborg Verbin, Theodotos, 277. Vgl. Ebner, Stadt, 20. Wahrscheinlich hat der vorchristliche Paulus eine Zeit in Jerusalem verbracht, Pharisäer konnte man nur in Palästina werden (s.u. V.9.1.1). Vgl. Tiwald, Hebräer, 48f. Maier, Testamenten, 102. Vgl. auch Kloppenborg Verbin, Theodotos, 243: „It is no longer possible to say with the certainty that marked the discussions of a generation ago that we
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III. Gruppierungen des Frühjudentums
29–33; Mos. 2,216; Hypoth. 7,11f.; Somn. 2,127; Legat. 156f.312f.) wie auch nach Josephus (A.J. 16,43 und C. Ap. 2,175) gab es wöchentlich am Sabbat einen Synagogengottesdienst, in dem zumindest das Gesetz vorgetragen und ausgelegt wurde.323 „Die Toralesung folgte in der frühen Zeit noch keiner festen Leseordnung ... Nicht klar ist, ob der Prediger oder der Synagogenvorsteher oder derjenige, der die Lesung zu halten hatte, den Text auswählte ...“324 Stemberger geht sogar noch einen Schritt weiter: „Im 1. Jh. dürften Exemplare biblischer Schriften noch nicht allzu verbreitet gewesen sein – abgesehen … von gelehrten Gruppen wie Qumran oder den Schriftgelehrten – weshalb wir statt mit einer ‚Schriftlesung‘ im strengen Sinn meist wohl eher mit Unterweisung in biblischen Inhalten rechnen müssen …“325 Ob im 1. Jh. v. Chr. auch Prophetentexte in Synagogen gelesen wurden, bleibt ebenso fraglich. Abgesehen von späteren Belegen der Mischna, die nicht einfach auf das 1. Jh. umgelegt werden dürfen, gibt es dafür lediglich Belege im NT (Lk 4,14–30 und Apg 13,27). Selbst wenn man die Korrektheit der beiden lk Notizen nicht problematisieren möchte, bleibt es doch unwahrscheinlich, dass diese Regelung allgemein gültiger Usus war. Wahrscheinlich gab es einen solchen überhaupt nicht, schon alleine mangels einer zentralen Institution, die solche universalen Bestimmungen hätte durchsetzen können. Auch dass es damals bereits eine bestimmte Leseordnung für die Prophetentexte (etwa eine Art Perikopenordnung) gegeben hätte, muss bezweifelt werden; eine solche gab es außer für bestimmte Tage selbst bis in das Mittelalter hinein noch nicht. 7.6.7
Synagogenpredigt
Leider tappen wir auch beim oft beschworenen Genus der „Synagogenpredigt“ völlig im Dunkeln,326 obwohl der Versuch, das Typische der „jüdisch-hellenistischen Homilie“ auszudefinieren, in früheren exegetischen Untersuchungen einen festen Platz einnahm.327 Das Gleiche gilt auch für alle neueren Versuche, die in diese Richtung unternommen wurden, etwa wenn F. Siegert und M. Hengel in den
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know where Jews of the first century CE met, or what they did in their assemblies, or the nature of synagogue leadership.“ Vgl. im Folgenden auch Tiwald, Hebräer, 132–138. Vgl. Lichtenberger, Ich, 257–263. Salzmann, Lehren, 457. Vgl. auch Wick, Gottesdienste, 93: „Wahrscheinlich gab es noch keinen festen Toralesezyklus.“ – Ist Lk 4,17 dann so zu interpretieren, dass Jesus den Text Jes 61,1f. selbst ausgesucht hätte? Verbirgt sich hinter der narrativen Gestaltung durch Lk auch eine historisch zutreffende Praxis (zumindest in den Lk bekannten Synagogen), oder ist die Darstellung einzig lk Erzählkunst geschuldet? Dazu Stemberger, Judaistik, 25. Stemberger, Judaistik, 25. Anders hier Levine, Synagogue, 142. Vgl. dazu ausführlicher: Tiwald, Hebräer, 133–137. Vgl. etwa die 1955 erschienene Monografie von H. Thyen: Der Stil der Jüdisch-Hellenistischen Homilie, und die dort gegebenen Hinweise zur Forschungsgeschichte.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
197
Schriften De Jona und De Sampsone „ursprünglich griechische Synagogenpredigten“ erkennen möchten.328 Dass in den Synagogen, die Lk bekannt waren, tatsächlich gepredigt wurde, belegt Apg 13,15: Hier wird die an die Schriftlesung anschließende Homilie als λόγος παρακλήσεως bezeichnet. Es ist zwar möglich, dass dieser Ausdruck – wie C.-P. März vermutet – bereits „als terminus technicus der Synagogenpredigt“ zu verstehen ist,329 der Inhalt dieser „Predigt“, die Paulus dann hält, ist allerdings ausschließlich der Theologie des Lk geschuldet. Wahrscheinlich kann man in etlichen Passagen der Paulusbriefe, des Jakobusbriefs330 und des Hebräerbriefs331 Anklänge an den Stil der Synagogenpredigt finden, doch sind diese Schriften klarerweise keine schriftlich niedergelegten „Predigten“ im eigentlichen Sinne. Wahrscheinlich gab es ein einheitliches Genus „Synagogenpredigt“ auch gar nicht, so wie es ja auch den oft beschworenen „Diatribenstil“ nicht als eigenes Genus gab.332 Ähnlich dem „Diatribenstil“ konsistierte wohl auch die „Synagogenpredigt“ in einer Fülle volkstümlich-rhetorischer Muster, die – je nach Begabung des Redners – unterschiedlich angewandt werden konnten.
8.
Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
Ein eigener Abschnitt soll hier frühjüdischen Schriftenstellern und ihren Schriften gewidmet sein, aber auch dem großen Pool anonymer oder pseudepigrapher Texte. Diese Texte sind gemeinsam mit den beiden namentlich bekannten Verfassern Philon (zu Philon s.o. III.7.3) und Josephus unsere Hauptzeugen für Politik, Geschichte und Theologie des Frühjudentums. 328
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Siegert, Argumentation, 159; Hengel, Paulus, 262. Wie selbst Siegert eingestehen muss, fehlt De Jona „eine einleitende Anrede (wie wir sie etwa Apg 13,16 überliefert haben) und ein liturgischer Schluß (Doxologie, Amen) ... De Sampsone setzt darüber hinaus so unvermittelt ein und bricht so unvorbereitet ab, daß sich größere Verluste am Anfang und am Ende vermuten lassen ...“ (Siegert, Predigten, 6f.). Vgl. auch Siegert, Predigten, 6: „Homilien im strengen Sinn, d.h. fortlaufende Auslegung ihres Textes, sind De Jona und De Sampsone jedoch nicht; es sind freie Auslassungen eines theologisch gebildeten Rhetors über eine biblische Geschichte (und nicht so sehr über den Text) unter Einsatz aller Mittel ...“ März, Hebräerbrief, 196, der sich hierbei auf Hebr 13,22 bezieht. Gerade das literarische Genus des Jakobusbriefs wollte man ja bisweilen auch als „midraschartige Homilie“ oder „Taufkatechese“ bestimmen (Forschungsüberblick zur Gattungsbestimmung des Jak bei Frankemölle, Jakobus, 64–66). Heute hingegen neigt man dazu, in Jak einen echten Brief zu erkennen (vgl. Frankemölle, Jakobus, 67). Vgl. die Nennung des λόγος παρακλήσεως in Hebr 13,22 (dazu März, Hebräerbrief, 196). Vgl. Tiwald, Hebräer, 79: „Der Ausdruck διατριβή meinte in der Antike lediglich eine mündliche Unterweisung, meist in allgemeiner, kolloquialer Form gehalten; eine eigentliche Gattung der ‚Diatribe‘ aber gab es vor dem 19. Jh. nicht.“ Dazu die akribische Untersuchung von Schmeller, Paulus, bes. 1–8.
198
III. Gruppierungen des Frühjudentums
8.1
Flavius Josephus
8.1.1
Herkunft und Jugend
Josephus wurde als Sohn des Matthias (B.J. 1,3/Vita 7) im ersten Jahr des Claudius (Vita 5), also 37/38 n. Chr. geboren und starb nach 100 in Rom.333 Er entstammte der angesehenen Priesterklasse Jehojarib (1Chr 24,7), die in Jerusalem angesiedelt war und über reiche Besitzungen verfügte (B.J. 5,419; Vita 422). Josephus legt in Vita 2–6 auch einen Stammbaum seiner Herkunft vor, der jedoch chronologisch problematisch ist. Josephus gibt in Vita 9 über sich selbst an, dass er schon als Vierzehnjähriger aufgrund seiner Genauigkeit in der Gesetzesauslegung (περὶ τῶν νομίμων ἀκριβέστερόν) von den Hohepriestern und Ersten der Stadt, konsultiert worden sei. Diese an Lk 2,42–47 erinnernde Anekdote gibt das stehende Motiv des puer sapiens wieder, des Wunderkindes, das die Weisheit der Alten übertrifft. Ebenfalls hyperbolisch ist, dass er in der Jugend bei allen Gruppierungen des Judentums Erfahrungen gesammelt und sich sogar drei Jahre zu einem Einsiedler in die Wüste zurückgezogen habe (Vita 10f.). Unterschiedlich gedeutet werden seine Angaben in Vita 12: ἐννεακαιδέκατον δ᾽ ἔτος ἔχων ἠρξάμην τε πολιτεύεσθαι τῇ Φαρισαίων αἱρέσει κατακολουθῶν ἣ παραπλήσιός ἐστι τῇ παρ᾽ Ἕλλησιν Στωϊκῇ λεγομένῃ … als ich aber 19 Jahre alt war, begann ich, mich politisch zu engagieren, indem ich der Sekte der Pharisäer nachfolgte, die dem nahestehend ist, was bei den Griechen Stoa genannt wird (Ü.MT).
Diese Passage hat Anlass gegeben, Josephus der Gruppierung der Pharisäer zuzurechnen.334 Das allerdings sagt Josephus nicht, seine hier postulierte Affinität zu den Pharisäern bezieht sich lediglich auf deren politisches Verständnis,335 nämlich deren Engagement gegen die Römer. In A.J. 18,23 wird eine „geistige Nähe der Zeloten zu den Pharisäern“336 unterstellt und in Vita berichtet, dass sich die führenden Pharisäer dem Aufstand gegen Rom anschlossen. Die Formulierung in Vita 12 drückt also verschleiernd aus, dass Josephus selbst ein Aufständischer war. Allerdings hatten die Pharisäer und Zeloten mit Josephus keine Freude: Als aristokratischer Priestersohn war Josephus den Pharisäern nicht nahestehend. Nach Vita 191–197 intrigierten Johannes von Gischala als galiläischer Zelotenführer und der Pharisäer Simeon ben Gamaliel gegen Josephus als Oberkommandanten 333
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Vgl. dazu im Folgenden Mayer, Art. Josephus, 258–264; Lohse, Umwelt, 101–105; Kollmann, Einführung, 50, 144; Stökl Ben Ezra, Qumran, 74f. So Kollmann, Einführung, 50; Mayer, Art. Josephus, 259; Lohse, Umwelt, 102. In dieser Hinsicht urteilt auch ein Großteil der Forscher, vgl. den Überblick bei Mason, Flavius, 325–371, der dieser Sichtweise jedoch kritisch gegenübersteht. So Neusner/Thoma, Pharisäer, 193. In gleicher Weise Mason, Flavius, 325–371. Stemberger, Pharisäer, 19.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
199
der Galiläischen Aufständischen (s.u.). Hier sind die Pharisäer (Vita 196f. berichtet von mehreren Pharisäern neben Simeon ben Gamaliel) entschiedene Gegner des Josephus.337 Das zeigt sich auch in Josephusʼ Schriften: An etlichen Stellen schlägt eine beträchtliche Antipathie gegen die Pharisäer durch (B.J. 1,110–114; A.J. 13,288–298.400–432; 17,41–45; 18,15.17; Vita 191–307).338 Wenn Josephus eine Gruppierung bevorzugt, dann sind es die Essener (B.J. 2,119–161; A.J. 15,371–379; 18,17). Aber nach Krieg und Tempelzerstörung wurden die Pharisäer immer mächtiger, sodass er sie in der Aufzählung der drei jüdischen Gruppierungen Vita 10 auch an erster Stelle nennt. Das Missverständnis einer Nähe des Josephus zu Pharisäern ist in Vita 12 wahrscheinlich intendiert und diente der Eigenwerbung. 8.1.2
Josephus im Jüdischen Krieg
Mit Ausbruch des Krieges wurde Josephus von den Jerusalemer Autoritäten zum Führer des Aufstandes in Galiläa ernannt (B.J. 2,568; s.o. II.6.1.3). Dort aber stieß er auf den Widerstand des Rebellenführers Johannes von Gischala (B.J. 2,585). Dieser war kein Aristokrat wie Josephus und sah es nicht gerne, dass die Jerusalemer die Fäden in Galiläa ziehen wollten. Josephus entging nur mit Mühe den Mordanschlägen, die Johannes gegen ihn verübte. Als Vespasian die Festungen Galiläas überrannte, zog sich Josephus nach Iotapata nördlich von Sepphoris zurück. Als die Römer zum finalen Sturmangriff ansetzten, wählte die Mehrzahl der jüdischen Widerstandskämpfer den Freitod, nur Josephus entzog sich dem Selbstmord und ließ sich von den Römern gefangensetzen. Seitdem betrachteten ihn die Juden als Überläufer. Geschickt diente er sich nun Vespasian an, dem er den Aufstieg zur Weltherrschaft prophezeite. Als Vespasian 69 n. Chr. tatsächlich Kaiser wurde, ließ er Josephus frei und machte ihn zu seinem Berater in jüdischen Angelegenheiten.339 Vespasian schenkte ihm das römische Bürgerrecht, was ihm Josephus mit der Annahme des Gentiliciums „Flavius“ (nach der Dynastie der Flavier) dankte. Mit Vespasians Sohn Titus ging Josephus nach Ende des Krieges nach Rom, wo er von der Großzügigkeit des Kaisers lebte. 8.1.3
Das Werk des Josephus
Als erstes seiner griechischen Werke verfasste Josephus in den 70er-Jahren die Schrift περὶ τοῦ Ἰουδαϊκοῦ πολέμου (vgl. A.J. 20,258; Vita 412), im Lateinischen De bello Iudaico oder im Deutschen Der Jüdische Krieg.340 Der Stoff umfasst die Zeitspanne von Antiochos IV. Epiphanes bis zur Rückkehr des Titus nach Italien, und 337 338 339 340
Vgl. Stemberger, Pharisäer, 21, ebenso Mason, Flavius, 357–371. Vgl. Mason, Flavius, 373, und die detaillierte Argumentation bei Noam, Images, 216–219. Vgl. Kollmann, Einführung, 114. Vgl. Mayer, Art. Josephus, 260–263; Maier, Testamenten, 80–82; Lohse, Umwelt, 101–105.
200
III. Gruppierungen des Frühjudentums
wird von Josephus auf sieben Bücher aufgeteilt. Josephus war als Zeitzeuge unmittelbar in die Kampfhandlungen involviert und besaß obendrein Informationen von Vespasian, Titus und Agrippa II. (Vita 364–366). Sein zweites Werk, Die Jüdischen Altertümer, lat. Antiquitates Iudaicae, bezeichnet Josephus selbst als ἀρχαιολογία (A.J. 20,259.267; Vita 430), also als „Alte Geschichte“. In zwanzig Bänden berichtet er die Gesamtgeschichte Israels, von der Schöpfung bis zum Beginn des Jüdischen Krieges. Gerade für die Makkabäerzeit und die Herrschaft des Herodes bietet Josephus wertvolle Informationen. Das Werk wurde zwischen 93 und 94 n. Chr. vollendet.341 Die Vita des Josephus bildete ursprünglich einen Anhang zu den Antiquitates und wurde erst später als eigenes Buch überliefert. Die Datierung ist mit 94 n. Chr. (oder kurz darauf) anzusetzen.342 In der apologetischen Schrift Contra Apionem, Gegen Apion, widerlegt Josephus judenfeindliche Ansichten des Ägypters Manetho und des Schriftstellers Apion. 8.1.4
Bewertung von Josephus’ Œuvre
Wieweit der Geschichtswert von Josephus’ Darstellungen durch seine textpragmatischen Intentionen geschmälert wird, ist unter den Forschern umstritten. Am Beispiel dessen, was Josephus über die Pharisäer berichtet, hat etwa Mason exemplarisch versucht, die textpragmatischen Intentionen des Josephus zu analysieren.343 Wenn er zum Schluss kommt „… since Josephus is probably our most valuable witness to the history of the Pharisees, an interpretation of his evidence and his biases is already a major preliminary step toward the recovery of that history“,344 dann gilt das auch für sein gesamtes geschichtliches Œuvre. Damit wird zwar klar, dass eine naive Lesart von Josephus’ Texten der historischen Rückfrage nicht gerecht wird – allerdings muss man auch nicht in übertriebenen Skeptizismus verfallen. Zuletzt hat D. R. Schwartz versucht, an einigen exemplarischen Josephus-Texten klarzumachen, unter welchen Kautelen eine Rekonstruktion der jüdischen Geschichte des ersten Jahrhunderts trotzdem gelingen kann und dass ein solches Unterfangen grundsätzlich möglich ist.345 Einen gediegenen Mittelweg zwischen Mason und Schwartz versucht V. Noam in überzeugender Weise zu gehen.346 Zunächst kann das Werk des Josephus als Augenzeuge des Jüdischen Krieges nicht hoch genug geschätzt werden. Das kommt schon in Josephus’ Proömium zum Bellum Judaicum zum Ausdruck:
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Vgl. Stemberger, Pharisäer, 14. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 14. Ebenso Mason, Flavius, 311–316. Vgl. Mason, Flavius, 372. Mason, Flavius, 375. Vgl. Schwartz, Reading, VII. Vgl. Noam, Images, 13–17 und 19–23.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
201
1,1 … Nun haben Leute, die nicht bei den Ereignissen zugegen gewesen sind, sondern sie nur nach dem Hörensagen zusammengestellt haben, diesen Krieg in planlosen und widersprechenden Berichten sophistisch beschrieben. 2 Andere aber, die zwar Augenzeugen waren, haben aus Schmeichelei gegen die Römer oder aus Haß gegen die Juden die Tatsachen verfälscht; … 3 Aus diesem Grund habe ich, Josephus, Sohn des Matthias, aus Jerusalem, ein Priester, der ich anfänglich die Römer bekämpft und an den späteren Ereignissen notgedrungen teilgenommen habe, mir vorgenommen, denen, die unter römischer Herrschaft leben, in griechischer Übersetzung das darzulegen, was ich schon früher für die innerasiatischen Nichtgriechen in der Muttersprache zusammengestellt und übersandt habe.
Klarerweise ist dieses Proömium schriftstellerischem genus dicendi geschuldet.347 Ähnlich wie in Lk 1,1–4 begegnet auch hier der Hinweis auf frühere Arbeiten zum Stoff, die Frage nach Augenzeugenschaft und Zuverlässigkeit sowie die Begründung, dass sich die eigene Abhandlung durch besondere Genauigkeit dem Leser empfiehlt.348 Ähnlich wie bei Lk schließen die schönen Worte nicht aus, dass Josephus schriftstellerischen Tendenzen folgt, die in der politischen und historischen Beurteilung klar zu Buche schlagen. So werden die Römer in B.J. geradezu zum Werkzeug Gottes, die das Gericht über das ungehorsame Volk der Juden vollziehen.349 Auch ansonsten erweist sich Josephus als getreuer Parteigänger seiner römischen Mäzene, denen er andererseits die Vorzüge jüdischer Lebensweise und die Errungenschaften jüdischer Kultur anpreisen will.350 Umgekehrterweise versucht Josephus den Römern darzustellen, dass „nur einige unverantwortliche Elemente, nicht aber die Führer des Volkes, die Juden Palästinas in den Aufstand gegen Rom hineingezogen hatten.“351 Gerade in dieser Doppelfunktion der Erzählpragmatik mag wohl der Grund liegen, dass Josephus um Ausgeglichenheit zwischen prorömischen und projüdischen Aspekten bemüht ist und daher eine gewisse Balance wahrt.352 Gerade in diesem heiklen Lavieren wird klar, dass Josephus sich auch keiner unnötigen Kritik durch eine allzu tendenzielle Darstellungsweise aussetzen wollte. Dennoch: Eine Rückbindung der Aussagen Josephus’ durch andere Schriften (Neues Testament, Qumrantexte, frühjüdische Apokrypha, etc.), archäologische Erträge (Ausgrabungsbefunde, Numismatik, Epigraphik, Papyrologie, etc.) und vergleichende soziologische Studien sind ein Gebot der historischen Rückfrage. 347 348 349
350
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Eine detaillierte Analyse dazu: Mason, Flavius, 62–75. Vgl. ebenso Mason, Josephus, 11. Vgl. dazu Bovon, Lukas I, 30–43. Vgl. Mayer, Art. Josephus, 261. Vgl. dazu besonders, wie Josephus das Ende der Aufständischen auf Masada dramatisch als göttliche Fügung ausweist (s.o. II.6.1.7). Vgl. Lohse, Umwelt, 103. Ebenso Hengel, Zeloten, 7f.: Das Werk des Bellum war Vespasian und Titus gewidmet, Titus selbst versah es mit seiner eigenhändigen Unterschrift. Stemberger, Pharisäer, 21. Vgl. Hengel, Zeloten, 15; Mason, Josephus, 11; Root, Galilee, 11–13. Zu Tendenzen des Josephus gegenüber den Hasmonäern vgl. Noam, Images, bes. 197–199.
202
III. Gruppierungen des Frühjudentums
8.2
Apokryphes und pseudepigraphes Schrifttum
8.2.1
Nomenklatur
Der Ausdruck ἀπόκρυφος, apokryphos, „apokryph“ meint „verborgen“ und zielt auf „verborgene Bücher“, also Bücher, die nicht in den „Kanon“ biblischer Bücher eingegangen sind.353 Dieser „Kanon“ (der Ausdruck „Kanon“ ist christlicher Prägung und sollte daher nur unter Anführungszeichen für verbindliche jüdische Texte verwendet werden, s.u. V.3.1) entstand natürlich erst wesentlich später – sowohl das Kompendium der im Judentum als verbindlich angesehener Bücher wie auch der für das Christentum verbindliche Kanon. Somit ist die Zuordnung „apokryph“ erst ex post entstanden – im Frühjudentum wurden diese Texte von den hinter ihnen stehenden Verfasserkreisen als authentisch und bindend angesehen. Ähnlich problematisch ist auch die Bezeichnung „Pseudepigraphie“ – ψευδεπιγραφία, pseudepigraphia, wörtlich „Falschzuschreibung“ für Bücher, die bewusst im Namen einer bekannten Persönlichkeit abgefasst oder fälschlicherweise einer solchen zugeschrieben wurden –, wenn dieser Terminus zur Abgrenzung zwischen „kanonischen“ und apokryphen Texten verwendet wird: Auch innerhalb der von Juden oder Christen verbindlich anerkannten Textkorpora gibt es Pseudepigraphen, etwa Deuteronomium, Psalmen Davids, die Deutero- und Tritopaulinen, erster und zweiter Petrusbrief, Jakobus- und Judasbrief – um nur einige Beispiele zu nennen. Auch wenn die Terminologie also zu wünschen übriglässt, bezeichnet man mit den beiden Termini heute Texte, die innerhalb frühjüdischer Zeit entstanden und aus späterer Sicht den Einzug in das Kompendium verbindlicher Schriften nicht schafften. 8.2.2
Relevanz für unseren Zeitabschnitt
Viele der frühjüdischen Apokrypha354 waren über einen sehr langen Zeitraum aktuell. Gerade in Bezug auf das erste Henochbuch355 wird dies deutlich (s.u. III.8.4). 1Hen ist aus verschiedenen Passagen zusammengesetzt, welche über einen Zeitabschnitt von etwa dreihundert Jahren entstanden. Die ältesten Teile wurden schon Mitte des 3. Jh. v. Chr. verfasst. Weiteres Material lagerte sich an, der Relektüreprozess hielt bis in das 1. Jh. n. Chr. an, wo die „Bilderreden“ – 1Hen 37–71 mit ihrer theologisch bedeutsamen Rede vom „Menschensohn“ – hinzugewachsen 353 354
355
Vgl. dazu im Folgenden Stuckenbruck, Art. Apocrypha, passim. Vgl. dazu die Textausgaben zu den einzelnen Büchern in der Reihe „Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit“ (JSHRZ), hg. v. H. Lichtenberger/G. S. Oegema, Gütersloh. Es ist besser, die alte Bezeichnung „äthiopisches Henochbuch“ mit 1Henoch zu ersetzen, da die Originalsprache wohl Hebräisch war. Ein großer Teil des uns heute erhaltenen 1Hen ist zwar nur mehr in äthiopischer Übersetzung vorliegend, doch rechtfertigt dies noch nicht eine entsprechende Namensgebung.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
203
sind. Den ganzen Zeitraum hindurch blieb das Henochmaterial bedeutsam, um 150 v. Chr. beeinflusste Henochs Epistel die Abfassung des später ebenfalls sehr wirkmächtigen Jubiläenbuchs.356 In den Qumrantexten enthält 4Q212 (= 4QEng ar) Teile der Henochepistel in aramäischer Sprache; diese Übersetzung lässt sich in die Mitte des 1. Jh. v. Chr. datieren.357 Gerade wenn frühjüdische Texte über einen längeren Zeitraum wuchsen, darf man die Etappe des Frühjudentums (300 v. Chr. bis 200 n. Chr., s.o. I.1.2) als eine theologisch und soziologisch zusammengehörige Epoche betrachten. Hier ging es um die Auseinandersetzung mit der hellenistischen Kultur, was zu unterschiedlichen Formen der Aneignung, Ablehnung oder Weiterentwicklung in der eigenen Theologie führte. Genau in diesen Zeitraum passt auch die Entstehung der Jesusbewegung – ohne irgendwelche Abstriche. Soziologisch (s.u. Teil IV) wie auch theologisch (s.u. Teil V) wird man Jesus und seinen ersten Jüngern nicht gerecht, wenn man diesen Kontext außer Acht lässt.
8.3
Apokalyptik
Innerhalb der frühjüdischen Literatur – besonders unter den Apokrypha und Pseudepigrapha – gab es einen starken Hang zu apokalyptischen Denkmustern. Auch hier erweist sich Definition und präzise Zuordnung nicht immer als einfach. 8.3.1
Definition „Apokalyptik“
Die Rede von „Apokalyptik“ verdankt sich modernen Klassifizierungen.358 Natürlich benützt bereits Offb 1,1 den Ausdruck ἀποκάλυψις, apokalypsis, aber noch nicht in der heutigen Form als distinktives theologisches oder literarisches Genus. In letzter Zeit ist die Definition von „Apokalyptik“ immer wieder problematisiert worden. Dennoch weisen Schriften wie Danielbuch, 1. und 2. Henochbuch, 4. Esrabuch, Sybillinische Orakel, 2. und 3. Baruchbuch, Abrahamapokalypse und Testament Abrahams genügend Gemeinsamkeiten auf, um ein gemeinsames literarisches Genus „Apokalypse“ und die theologische Weltsicht der „Apokalyptik“ zu rechtfertigen.359 Die Definition von „Apokalyptik“ könnte man dann mit J. J. Collins wiedergeben als:360 356 357 358
359
360
Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 215. Vgl. Maier, Texte II, 164; Nickelsburg, 1Enoch, 114f. Siehe im Folgenden: Tuckett, Apocalyptic, 107–121; Tilly, Apokalyptik, 9–115; Schröter, Apokalyptik, 53–56. Vgl. Tuckett, Apocalyptic, 108f.: „Such texts seem sufficiently close to each other, and different from other texts, to make it worthwhile to consider them together, giving them a common name (‚apocalypses‘) and attempting to identify what is common to such texts.“ Collins, Imagination, 5 (Übersetzung aus dem Englischen: MT). Collins gibt hier die Erträge der Society of Biblical Literature Genres Project wieder: vgl. Semeia 14 (1979).
204
III. Gruppierungen des Frühjudentums Ein bestimmtes Genus von Offenbarungsliteratur mit einem narrativen Rahmen, in der eine Offenbarung durch ein überirdisches Wesen an einen menschlichen Empfänger übermittelt wird. Dabei wird eine transzendente Wirklichkeit eröffnet, die beides ist: zeitlich, insofern sie eschatologische Erlösung anzielt, und räumlich, insofern sie eine andere, übernatürliche Welt einbezieht.
Zusätzlich zu dieser Definition verweist J. Kloppenborg darauf, dass in apokalyptischer Literatur bestimmte Muster mehr oder weniger konstant vorkommen:361 (1) zeitlichen und örtlichen Dualismus (die Trennung von irdischer und göttlicher Welt und die Trennung des irdischen und des ewigen Äons; dabei fällt der göttlichen Sphäre die größere Bedeutung zu bei Geringerwertung der irdischen), (2) den Glauben, dass sich der Kosmos im Chaos befindet und die göttliche Ordnung derangiert ist, (3) das Zusammenbrechen aller bisherigen Strukturen und die menschliche Ausgeliefertheit angesichts dieser Situation, (4) historischen Determinismus, (5) Ermahnung und Trost als soziale Funktionen.
Manches Mal kann zu diesen Punkten auch noch die Pseudepigraphie hinzukommen: Die Autorität hinter den Schriften wird pseudepigraphisch bestimmten Gestalten der Vergangenheit (Daniel, Henoch, Mose, Patriarchen, Melchisedek) zugeschrieben, so, als ob diese schon in ihrer Zeit (der fiktiven Zeit der Erzählung) geweissagt hätten, was in der Gegenwart (der realen Abfassungszeit des Autors) nun als vaticinium ex eventu eintrifft.362 8.3.2
„Apokalyptisch“ und „eschatologisch“
Es legt sich nahe, zwischen „apokalyptisch“ und „eschatologisch“ zu unterscheiden. „Von Eschatologie ist immer dann zu sprechen, wenn ein neues Zeitalter mit radikal veränderten Verhältnissen im Vergleich mit der Gegenwart im Blick ist.“363 „Apokalyptisch“ hingegen ist eine besondere Form der eschatologischen Erwartung, in der ein bestimmtes Offenbarungswissen von überirdischen Wesen an Menschen übermittelt wird, zumeist unter Verwendung der oben genannten patterns. Dabei ist für die Apokalyptik charakteristisch, „dass in einem radikalen Bruch die gegenwärtige Weltzeit und ihre Königreiche in katastrophenhaften Ereignissen zu einem völligen Ende geführt werden ...“364 In der Apokalyptik kommt die Erlösung nicht innerhalb der Geschichte: Das hebt apokalyptische Erwartungen von eschatologischen Hoffnungen auf innerweltliche Verbesserungen in
361 362 363 364
Vgl. Kloppenborg, Eschatology, 294f. Vgl. Nickelsburg, Judaism, 44. Zu Melchisedek vgl. Stuckenbruck, Melchizedek, 124–138. Hieke, Ende, 10. Vgl. Xeravits/Porzig, Einführung, 265–271. Hieke, Ende, 18.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
205
dieser Welt – wie bei vielen Propheten – deutlich ab.365 „Die Apokalyptik impliziert stets eschatologische Vorstellungen, doch umgekehrt ist nicht jeder als ‚eschatologisch‘ zu qualifizierende Text notwendig auch apokalyptisch.“366 8.3.3
Historische Rahmenbedingungen der Apokalyptik
Apokalyptik ist ein Krisenphänomen.367 Ausgelöst durch ökonomischen, politischen oder religiösen Druck wird eine heilvolle Zukunft nicht mehr innergeschichtlich erhofft, sondern durch „einen katastrophenhaften Untergang dieser Welt und das Hereinbrechen der anderen, göttlichen Welt …“368 Daher kommt für die Apokalyptik „Erlösung nicht innerhalb der Geschichte und nicht durch menschliches Handeln (vgl. Dan 2,34.45; 8,25), sondern nur durch einen souveränen Einbruch Gottes in diese Weltzeit, der einen grundlegenden Umsturz aller Verhältnisse bewirkt (z.B. Dan 7,7–12.23–27).“369 Ziel der apokalyptischen Literatur ist es damit, den
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Religionspsychologisch wäre die Frage nach dem positiv-weltgestaltenden Potential religiöser Zukunftshoffnungen ein guter Unterscheidungspunkt zwischen allgemeinen eschatologischen Hoffnungen und der Apokalyptik im Besonderen. Der Apokalyptik eignet ein gewisser Hang zu Intoleranz und Weltflucht. Die Religionskritik der beginnenden Moderne kritisierte solche Vorstellungen als infantile und asoziale Wunscherfüllungsphantasien (Karl Marx: Kritik, 71f.: „Religion … ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks“, kursiv Original; ebenso Sigmund Freud: Zukunft, bes. Kapitel VI: „Die Illusion der religiösen Vorstellungen“). In der gegenwärtigen Psychotherapie hingegen wird vermehrt auf das stützende Potential religiöser Hoffnungen verwiesen, das aktivierend-weltgestaltende Kräfte freisetzt und Werte des sozial-fairen Zusammenlebens begründet (Frankl, Leben, passim; in Bezug auf Jesus von Nazaret: s.u. III.11.5). Hieke, Ende, 18. Vgl. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 133–137; Tilly, Apokalyptik, 39: „Die Apokalyptik ist ein Krisenphänomen, denn sie stellt eine Reaktion auf gesellschaftliche und politische Umbrüche dar.“ Apokalyptik ist „die Deutung der Gegenwart, der eigenen individuellen Existenz und der gesamten Welt ringsum als heillos, gottlos und verloren“ (12). Die Definition von Apokalyptik als Krisenphänomen sollte aber nicht zu einseitig erfolgen: Weder war die frühjüdische Apokalyptik ein Unterschichtsphänomen (1Hen oder die Qumranschriften wurden von schriftgelehrten Kreisen verfasst), noch können äußere Krisen monokausal als „Auslöser“ fixiert werden (was eine „Krise“ wirklich ist, kann subjektiv sehr unterschiedlich empfunden werden). Apokalyptik stellt jedenfalls einen Bewältigungsmechanismus für unterschiedlichste Spannungsfelder der damaligen Zeit dar. Hieke, Ende, 10. Vgl. Tilly, Apokalyptik, 13: Die problematisch erlebte Gegenwart wird durch eine „transzendente (bzw. metahistorische), die menschliche Erkenntnisfähigkeit prinzipiell übersteigende Wirklichkeit für den Apokalyptiker der eigentliche Ort der guten und vollkommenen gottgewollten Ordnung und der eigentliche Ausgangspunkt des umfassenden Heils.“ Hieke, Ende, 18.
206
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Unterdrückten Trost und Zuversicht zu vermitteln, und zu mahnen, im Glauben und im Guten treu zu bleiben. So formuliert M. Tilly:370 Die eigene Lebenserfahrung der Ausweglosigkeit und des drohenden Zukunftsverlustes wird im apokalyptischen Denken durch das Bewusstsein relativiert, dass Gott auch gegen allen Augenschein sämtliche ungelösten Probleme im persönlichen Leben, in der menschlichen Gesellschaft und im gesamten Kosmos zu lösen vermag. Die Zukunft und das Jenseits werden zur Projektionsfläche für alle Hoffnungen und Ängste.
Die Entstehung der jüdischen Apokalyptik ist dabei „unlösbar mit der griechischen Kolonisation und dem Vordringen des Hellenismus seit dem ausgehenden 4. Jh. v. Chr. verbunden.“371 Die alles durchdringende Macht der hellenistischen Kultur führte auf kultureller, religiöser, politischer und ökonomischer Ebene zu einer gänzlich neuen Werteordnung und trieb einen tiefen Keil in die jüdische Gesellschaft, durch den traditionell-angestammte jüdische Identitätsmuster unter Druck gerieten. Zunächst war es die Ohnmachtserfahrung Israels, im Machtkampf von Ptolemäern und Seleukiden nur ein unbedeutender Spielball zu sein (vgl. die sechs Syrischen Kriege, s.o. II.3.3). Neben der politischen Machtlosigkeit und dem kulturellen Anpassungsdruck gegenüber dem dominanten Hellenismus waren es wohl auch die sozialen Ungerechtigkeiten zur Tobiadenzeit (s.o. II.3.3), die das Gefühl der Machtlosigkeit und Ausgeliefertheit weiter begünstigten. Nach der Machtübernahme der Seleukiden ab 200 v. Chr. wurde vollends klar, dass die Fremdherrschaft einen unkittbaren Bruch im Judentum bewirkt hatte: Unwürdige Machtstreitigkeiten um das Hohepriesteramt, die „Heliodoraffäre“ und letztlich Jasons Gymnasion spalteten die jüdische Bevölkerung zutiefst (s.o. II.3.4). Als Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) mit drastischen Maßnahmen versuchte, die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit der Juden zu brechen und sogar den Tempel schändete (167 v. Chr.), bedeutete das den Gipfel der Machtlosigkeit. Daran änderten auch die folgenden Makkabäeraufstände (s.o. II.4) nichts, denn auch Makkabäer und Hasmonäer stellten schon bald ihre eigenen dynastiepolitischen Interessen über das Wohl des Volkes. Die Usurpation des Hohepriesteramts durch Jonatan (153 v. Chr. s.o. II.4.1.5) bedeutete dann den Startpunkt für die Entwicklung der Gruppierungen von Sadduzäern, Essenern und Pharisäern, und perpetuierten die Zerrissenheit der jüdischen Gesellschaft. Die ab 63 v. Chr. einsetzende römische Herrschaft in Palästina verstärkte das Gefühl der Machtlosigkeit noch weiter (vgl. die Tempelentweihung durch Pompeius). All diese Spannungen mündeten politisch in die beiden Jüdischen Kriege und theologisch in eschatologische und apokalyptische Zukunftshoffnungen.372 Religionssoziologisch allerdings führte der Riss in der Bevölkerung dazu, dass nun unterschiedliche Lesarten des 370 371 372
Tilly, Apokalyptik, 14. Tilly, Apokalyptik, 38. Vgl. dazu auch Tilly, Apokalyptik, 39–44.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
207
jüdischen Gesetzes miteinander in Konkurrenz traten. Der alte identity-marker, zu einem gemeinsamen erwählten Volk zu gehören, griff nicht mehr, da der Riss nun mitten durch das Judentum ging und eine eschatologische Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten inmitten von Israel erwartet wurde (s.u. V Einleitung).373 In der frühjüdischen Apokalyptik führte dies dazu, dass für die Endzeit die Aufdeckung des ursprünglichen – schon bei der Schöpfung fixierten – Gotteswillens als wahre Deutung der Tora erwartet wurde (zur Korrespondenz von Protologie und Eschatologie s.u. V.2.1.3), allerdings nur im Sinne einer Enthüllung für die eigene Gruppierung und unter Ausschluss und Verurteilung rivalisierender Bewegungen.374
8.4
Frühjüdische Apokrypha, Pseudepigrapha, Apokalypsen
Das 1. Henochbuch (1Hen) wird auch „äthiopisches“ Henochbuch genannt, da der einzige vollständige Textzeuge in äthiopischer Sprache erhalten ist. Der Fund aramäischer Henochfragmente in Qumran legt aber nahe, dass der Text ursprünglich in Judäa auf Aramäisch verfasst wurde (somit ist die Bezeichnung „äthiopisches“ Henochbuch nicht glücklich). 1Hen ist ein Sammelwerk unterschiedlicher Textstücke, die in unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Verbindend ist dabei die Gestalt des Henoch, der auf einer Himmelsreise in Gottes Geheimnisse eingeweiht wird. Da es in Gen 5,24 nicht explizit heißt, dass Henoch starb, sondern dass er von Gott „aufgenommen“ (לקח/μετατίθημι) wurde, eignete sich diese Gestalt besonders für solche Projektionen (vgl. Sir 44,16; Hebr 11,5). Die Teile von 1Hen und ihre Entstehungszeiten lassen sich so abgrenzen:375 Buch der Wächter (1Hen 1–36): Mitte 3. Jh. v. Chr.376 Bilderreden (1Hen 37–71): frühestens 1. Jh. v. Chr.377 Astronomisches Buch (1Hen 72–82): Mitte 3. Jh. v. Chr. Das Buch der Traumvisionen (1Hen 83–91): 373 374
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Vgl. Tiwald, Weisheit, 85–106 Nickelsburg, Transformation 659: „… revelation sets the chosen and elect apart from the rest of Israel as the community of the saved.“ Macaskill, Wisdom, 47: „Thus, the inaugurated eschatology of 1 Enoch, which includes the formation of a group designated ‚the chosen,‛ functions to delineate that group from the rest of Judaism. The crucial marker of that group is their possession of, and allegiance to, the revealed wisdom that has come through Enoch.“ Vgl. dazu Ego, Henoch/Henochliteratur, passim. Stuckenbruck, 1Enoch, 214, datiert das Wächterbuch „late 3rd BCE“. So die Datierung von Ego, weiters: Nickelsburg, Art. Son of Man, 1250: „Composed between late first century B.C.E. and the first half of the first century C.E. …“ Ders., Parables, 47 „no later than the early decades of the first century C.E.“; Charlesworth, Composition, 465 („20– 4 B.C.E.“); Boccaccini, Place, 288 („parallels the earliest origins of the Jesus movement“); Ähnlich: Vögtle, Gretchenfrage, 125; Schreiber, Menschensohn, 2; Isaac, 1Enoch, 11.
208
III. Gruppierungen des Frühjudentums Tiervision um 164 v. Chr. Mahnungen jünger, ca. 1. Jh. v. Chr. Paränetisches Buch (1Hen 92–105): Die Zehnwochenapokalypse (1Hen 93,1–10; 91,11–17) als ältester Teil wurde später in die knapp vor dem Makkabäeraufstand verfasste Henoch-Epistel (1Hen 92,1–5; 93,11 – 105,2) aufgenommen,378 der Rest ist jüngeren Datums.
Die Endredaktion der Teile erfolgte im 1. Jh. n. Chr. und zeigt, wie vorhandene Traditionen über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder aktualisiert und weitergeschrieben wurden. Eine der wirkmächtigsten frühjüdischen Apokalypsen ist das in seinen Hauptteilen um 165 v. Chr. (z. Z. des Makkabäeraufstands) in Judäa abschließend redigierte Danielbuch (Dan).379 Die fiktive Handlung lässt den jungen Daniel im babylonischen Exil jene Zukunft erkennen und apokalyptisch deuten, in der sich der Autor tatsächlich befindet. Die Krise des Exils wird dadurch mit der gegenwärtigen krisenhaften Situation um Antiochos IV. und die Makkabäer-Revolte (s.o. II.3.4.3) vergleichbar; aus den vergangenen Konflikten wird Kraft für die gegenwärtigen geschöpft, die Vergänglichkeit der Bedrohungen betont und die Beständigkeit des Heilsratschlusses Gottes herausgestellt. Die hier erfolgende Periodisierung der Geschichte dient diesem Plan: Die vier Tiere in Dan 7 symbolisieren vier Reiche – babylonisch, medisch, persisch und griechisch –, die letztlich alle von Gott überwunden werden. Vermittelt werden diese Erkenntnisse als apokalyptisches Sonderwissen, das nur bestimmten Erwählten zuteilwird. Das Jubiläenbuch (Jub) ist eine Neuerzählung von Gen 1 bis Ex 24 und versteht sich damit als autoritative Neudeutung dieser Texte. In der Gegenwart des Autors umstrittene Bestimmungen und Bräuche werden in die Zeit der Erzeltern Israels rückprojiziert und damit autorisiert. Ob der Text als ganzer dem Genus einer Apokalypse entspricht, ist umstritten, allerdings werden etliche apokalyptische Deutemuster aufgegriffen. Textfunde aus Qumran belegen, dass der Text in hebräischer Sprache und schon vor Bestehen der Qumrangemeinde verfasst wurde (die ältesten in Qumran gefundenen Belege für Jub datieren in das ausgehende 2. Jh. v. Chr.). Wahrscheinlich beeinflusste die (knapp vor dem Makkabäeraufstand verfasste) Henoch-Epistel (s.o. 1. Henochbuch) die Abfassung des Jubiläenbuchs, das um 150 v. Chr. (knapp nach dem Makkabäeraufstand) in Palästina abgefasst wurde.380
378 379 380
Vgl. Stuckenbruck, 1 Enoch, 215. Siehe ebd. die Diskussion alternativer Datierungen. Vgl. im Folgenden Tilly, Apokalyptik, 57–87. Vgl. Stuckenbruck, 1 Enoch, 215; VanderKam, Jubilees, 405–431; Doering, Torah, 137–155; Doering, Neuschreibung, 69–103.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
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Die Testamente der Zwölf Patriarchen (TestXII) sind der pseudepigraphen Testamentenliteratur zuzurechnen, doch begegnen auch hier apokalyptische Muster. Pseudepigraphisch geben die sterbenden zwölf Söhne Jakobs Weisungen an ihre Nachkommen. Die Jakobssöhne fungieren als idealisierte Leitgestalten einer verklärt dargestellten Frühzeit. Der Verlauf der Geschichte wird dominiert durch den Dualismus zwischen Gott und seinem Widersacher Beliar, wobei am Ende Gottes Triumph gewiss ist. Auch wenn TestXII später stark christlich überarbeitet wurden, ist ihr Grundbestand jüdisch und datiert in unterschiedlichen Wachstumsstufen ab dem 2. Jh. v. Chr. So etwa gibt es einen aramäischen TestLev-Fund in Qumran wie auch in der Kairoer Geniza.381 Am Anfang standen also Einzeltestamente, die unterschiedlichen Patriarchen zugeschrieben wurden. Die spätere Sammlung geht auf eine vereinheitlichende Endredaktion in griechischer Sprache (nicht Aramäisch) zurück. Ob diese Endredaktion schon im hellenistischen Frühjudentum oder erst im beginnenden Christentum anzusiedeln ist, bleibt offen. Die Psalmen Salomos (PsSal) sind eine aus 18 Liedern bestehende Sammlung, die allerdings inhaltlich keinen Bezug zu Salomo aufweist.382 Man vermutet eine Abfassung um die Mitte des 1. Jh. v.Chr. (wenn man PsSal 2,1–14.19ff. als Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahre 63 deuten will) in Jerusalem (vgl. PsSal 1; 11; 4,1) in hebräischer Sprache (aufgrund von Semitismen in der heute erhaltenen griechischen Übersetzung). Häufig wurde eine pharisäische Verfasserschaft postuliert, was aber nicht haltbar ist.383 Hinter den PsSal steht eine nicht näher definierbare Gruppierung von jüdischen Frommen, die durch die Eroberung Jerusalems und die Entweihung des Tempels durch Pompeius, aber auch durch die Korruption der eigenen politischen und religiösen Führung beunruhigt sind. So
381
382 383
Vgl. Stökl Ben Ezra, Impact, 83, und Tilly, Art. Testamente, passim; ders., Apokalyptik, 79f. DeSilva, Testaments, 21–68, hat nachgewiesen: „that the Testaments are best explained as a Jewish text that was later adapted to Christian interests than an original Christian composition“ (a.a.O. 67). Umstritten ist, ob TestXII diasporajüdischen oder palästinischen Ursprungs sind. Wenn die Urform in griechischer Sprache war, legt sich ein Ursprung in der Diaspora nahe, vgl. Collins, Athens, 176f. Vgl. im Folgenden Dafni, Art. Psalmen Salomos, WiBiLex. So Stemberger, Pharisäer, 107. Ebenso Schröter, Gottesbild, 562f., der den zirkulären Beweisgang moniert: Man geht mit einem fixen Bild der imaginierten „Pharisäer“ im Kopf an die PsSal heran, um dort die eigenen Vorurteile bestätigt zu finden und diese Schrift dann als „typisch pharisäisch“ zu deklarieren. Anders aber Kollmann, Einführung, 52, der diese Schrift „vermutlich aus pharisäischen Kreisen“ stammend sieht. Noch weiter geht Winninge, Sinners, 180: „ ... it is reasonable to conclude that the socio-political and religious provenance of the Psalms of Solomon is Pharisaic.“ Winninge analysiert die PsSal anhand eines Katalogs von 13 theologischen und weltanschaulichen Punkten. Alle diese von ihm genannten Bereiche müssen aber nicht zwangsweise in eine pharisäische Richtung weisen, sondern waren im damaligen Judentum weit verbreitet.
210
III. Gruppierungen des Frühjudentums
erwartet man auch, dass Gott als gerechter Richter am Ende zwischen Gerechten und Sündern scheiden wird und den Menschen gemäß ihren guten oder schlechten Werken vergelten wird (PsSal 2,16; 17,8). Die Schrift kann als Erbauungsliteratur für Trost und Ermahnung in schwierigen Zeiten verstanden werden. Die Assumptio Mosis (AssMos, Himmelfahrt Mose) ist der Testamentenliteratur zuzurechnen und stammt vom Beginn des 1. Jh. n. Chr. Der Text ist in einer lateinischen Übersetzung unvollständig erhalten geblieben und berichtet, wie der sterbende Mose Josua – nach Art der vaticinia ex eventu – die kommende Geschichte Israels bis in die Zeit der Söhne des Herodes vorhersagt. Der lateinischen Schrift liegt wahrscheinlich eine griechische Version zugrunde, die eventuell wiederum ein hebräisches oder aramäisches Original hatte. Das 2. Baruchbuch (2Bar) wird auch „syrisches“ Baruchbuch genannt, da der Text lediglich in syrischer Übersetzung erhalten blieb. Die syrische Variante beruht auf einer (nahezu verschollenen) griechischen Übersetzung des ursprünglich Hebräisch oder Aramäisch verfassten Textes (somit ist die Bezeichnung „syrisches“ Baruchbuch nicht glücklich). Verfasst wurde die Schrift nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. in Palästina (noch vor dem Bar-Kochba-Aufstand) und versucht die Katastrophe der Tempelzerstörung mit dem bisherigen apokalyptischen Geschichtsverständnis in Einklang zu bringen. Baruch, dem Schreiber des Propheten Jeremia (Jer 36), werden als pseudepigraphischem Gewährsmann eine Reihe von Visionen und Auditionen über die – in der realen Zeit des Autors bereits eingetretene – Zerstörung des Tempels zuteil. Die Figur des Baruch schlägt dabei eine Brücke zwischen der Zerstörung des Tempels durch die Truppen Nebukadnezars II. im Jahre 587 v. Chr. und der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. (s.o. II.6.1.6). Die Schrift wurde später mit christlichen Interpolationen versehen.384 Das 4. Esrabuch (4Esr) weist gewisse Ähnlichkeiten mit 2Bar auf, die jedoch nicht auf einer direkten literarischen Abhängigkeit, sondern als Beheimatung in ähnlichen Traditionen zu verstehen sind.385 Der Text ist in lateinischer Übersetzung erhalten geblieben, die auf eine verlorene hebräische oder aramäische Vorlage zurückgeht. Als pseudepigraphischer Verfasser firmiert der biblische Esra (Esr 7; 384
385
Zu 2Bar: Doering, Torah, 137–155; Henze, 4Ezra, 181–200. Nir, Destruction, bes. 199–201, vertritt eine christliche Herkunft von 2Bar., was aber übertrieben ist. Vgl. Henze, 4Ezra, 181–200, bes. 197: „… parallels between 4 Ezra and 2 Baruch are not the result of one author responding to the other text in its redacted form, but the parallels originated during the preredactional phase. In their current form, 4 Ezra and 2 Baruch are redacted documents, compilations that have absorbed a significant amount of pre-existing materials.“
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
211
Neh 8) „im dreißigsten Jahr nach dem Untergang der Stadt“ (4Esr 3,1f.). Die fiktive Erzählung spielt im zerstörten Jerusalem nach dem Untergang des Salomonischen Tempels, die reale Zeit des Autors ist die Zeit nach dem Untergang des Zweiten Tempels. Rechnet man die dreißig Jahre zum Jahre 70 (Zerstörung des Zweiten Tempels), so kommt man auf das Datum 100 n. Chr. als wahrscheinliches Abfassungsdatum. Die Adler-Vision (4Esr 10,60 – 12,50, besonders: 12,22–27) könnte dann als Rückblick auf die Herrschaft von Vespasian, Titus und Domitian († 96 n. Chr.) verstanden werden. Federführend ist die Frage, wie ein gerechter Gott die Tempelzerstörung zulassen konnte und ob Gott sein erwähltes Volk verlassen hat (4Esr 5,20 – 6,34). Als Antwort wird auf die prinzipielle Irrelevanz der allgemeinen Geschichte für das individuelle endzeitliche Heil hingewiesen und der von Anfang an determinierte Ausgang der Historie unterstrichen. Ähnlich wie bei 2Bar lassen spätere christliche Interpolationen in 4Esr nicht auf eine rein christliche Herkunft schließen. Theologische Wertung: Apokalyptische Schriften wurden vergleichsweise selten in den späteren „Kanon“ der jüdischen Bibel (s.u. V.3.1) aufgenommen, vielleicht, weil die späteren Rabbinen nach den gescheiterten Aufständen gegen die Römer eschatologischen Spekulationen kritisch gegenüberstanden. Bezüglich der jüdischen Bibel ist lediglich das Danielbuch zu nennen; die sogenannte „Jesaja-Apokalypse“ (Jes 14–27) trägt nur eschatologische Züge.386 Bezüglich apokalyptischer Texte im NT s.u. III.11.5. Pseudepigraphe Werke hingegen versuchen, in politisch und religiös schwierigen Zeiten an die Heilszeit der Vergangenheit anzuknüpfen und Figuren der Vergangenheit (fiktive Abfassungszeit) die Krisen in der Gegenwart des Autors (reale Abfassungszeit) als bereits „vorausprophezeit“ (vaticinium ex eventu) deuten zu lassen. Wie schon festgestellt (s.o. I.2.2.7), gab es viele frühjüdische Pseudepigrapha, die später christlich überarbeitet wurden, etwa TestXII, 2Bar, 4Esr. Diese Schriften belegen, wie unscharf die Trennlinie zwischen Frühjudentum und beginnendem Christentum war. Interessant ist, dass die meisten dieser Schriften weder im späteren Judentum noch im späteren Christentum Verbindlichkeitscharakter erlangten, da sich beide Bewegungen später von apokalyptischen Zuspitzungen distanzierten. Das spätere Christentum wurzelt klarerweise in frühjüdisch-eschatologischem Gedankengut, übernimmt aber nur einzelne apokalyptische Sprach- und Vorstellungsmuster, jedoch nicht die Weltsicht der Apokalyptik als ganzes.
386
Vgl. Hieke, Ende, 21.
212
8.5
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Qumrantexte
Obwohl „die Qumrantexte“ zumeist wie ein geschlossenes Corpus diskutiert werden, umfassen sie ein breites Spektrum an unterschiedlichsten Texten, die in elf verschiedenen Höhlen gefunden wurden.387 Der Zusammenhang der Schriften mit der in Ḥirbet Qumran ansässigen Gruppierung scheint mittlerweile eindeutig bewiesen zu sein (s.o. III.4.2.3). Die früher gerne vorgenommene dreiteilige Aufgliederung der Texte in 1) biblisch-„kanonische“ Texte, 2) apokryphe und pseudepigraphische Texte, 3) genuin essenische „Sekten“-Texte scheitert daran, dass Abgrenzungen zwischen verbindlich-„kanonisch“ und „apokryph-sektenhaft“ für die damalige Zeit anachronistisch sind (s.u. V.3.1). Allerdings hat die Dreiteilung als heuristische Klassifizierung auch weiterhin ihre Gültigkeit. „Biblische“ Texte: Allein die „biblischen“ Texte aus Qumran spiegeln eine starke Diversität an Textvarianten und Rezensionen wider. Manche Manuskripte stehen dem (späteren) Masoretentext nahe, andere Texte hingegen belegen eine Nähe zu LXX-Lesarten oder dem Samaritanischen Pentateuch. Darüber hinaus gibt es auch Lesarten, die keinem dieser drei Corpora zuzuordnen sind. Letztlich wird man konstatieren müssen, dass der Bibeltext hier nicht bestimmten Mustern folgt, sondern multiple Textformen wiedergibt. Hinzu tritt noch das Problem der „Rewritten Scripture“,388 also der frei paraphrasierenden Wiedergabe „biblischer“ Bücher, bei der es von Harmonisierungen über Umschreibungen bis zur Ergänzung neuen Materials kommt. Die Grenze ist schwer zu ziehen, ob man in diesen Texten noch die Wiedergabe eines biblischen Buches sehen will oder ein neues eigenständiges Werk auf der Basis biblischer Motive. In der neueren englischsprachigen Forschung wurde dafür der Ausdruck „parabiblical“389 geprägt – doch zeigt dies nur, wie arbiträr die Dreiteilung der in Qumran gefundenen Texte letztlich ist. Apokryphe und pseudepigraphische Texte: Neben den „biblischen“ Texten sind in Qumran auch viele „Apokrypha“ zu finden. Diese Texte – wie etwa das Jubiläenbuch oder Texte der Henochliteratur – sind nicht in der Qumrangemeinde entstanden, wurden von dieser allerdings als verbindliche Schriften akzeptiert. Dabei konnte es durchaus vorkommen, dass nach heutigem Stand „apokryphe“ Texte von den Qumraniten mehr geschätzt wurden als „biblische“ Texte. Kriterien für 387
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Vgl. im Folgenden Tigchelaar, Art. Scrolls, passim; Stökl Ben Ezra, Qumran, 151–155 und 200–211; Penner, Art. Scrolls, 173–192. Die neuere Forschung ersetzt den früher gebräuchlichen Ausdruck „Rewritten Bible“ (so noch Dimant, Use, 401) durch „Rewritten Scripture“, da der Ausdruck „Bibel“ späteren Ursprungs ist (s.u. V.3.1.1). Dazu VanderKam, Jubilees, 409. Tigchelaar, Art. Scrolls, 169.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
213
die Verbindlichkeit einer Schrift können darin gesehen werden, 1) wie viele Kopien eines betreffenden Werkes in Qumran gefunden wurden, 2) wie viele Kommentare zu diesem Werk verfasst wurden, 3) wie oft ein Werk in anderen Texten zitiert wird, 4) in wie viele Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Aramäisch) ein Text übersetzt wurde, und 5) ob ein Text präexilischen Autoren pseudepigraph zugeschrieben wurde.390 Genuine Texte der Qumraniten meint Manuskripte, die von der Gruppierung hinter Qumran selbst verfasst wurden. Dazu zählen Kommentare zu „biblischen Büchern“, die sogenannten Pescharim (Sg. Pescher; vgl. etwa Habakukpescher, Nachumpescher etc.).391 Dabei wird nach der Zitation einer Bibelpassage eine Auslegung angeschlossen, die mit der Formel pescher al („die Auslegung zu“) oder pischro („seine Auslegung [ist]“) eingeleitet wird.392 Die Pescherexegese aktualisiert den auszulegenden Text auf die unmittelbare Gegenwart hin, die als Endzeit wahrgenommen wird. Neben solchen Kommentaren gibt es auch Gemeinschaftsregeln, wie etwa die sogenannte „Damaskusschrift“ (Cairo Damascus document, CD: Fragemente wurden auch in der Kairoer Geniza gefunden, das Dokument selbst spielt nach Am 5,27 auf das Exil in Damaskus an), die „Sektenregel“ (Serek ha-Jaḥad; 1QS) oder die „Gemeinderegel“ (Serek ha-Edah; 1QSa).393 Daneben gibt es eine Fülle an weiterem Material, wie etwa die „Kriegsrolle“ (Milchamah; 1QM), in der der endzeitliche Krieg zwischen den „Söhnen des Lichts“ gegen die „Söhne der Finsternis“ beschrieben wird, die „Hymnenrolle“ (Hodajot; 1QH), in der dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ zugeschriebene Hymnen gesammelt sind oder die Schrift 4QMMT (Miqsat Maase ha-Torah), in der der „Lehrer der Gerechtigkeit“ dem amtierenden Hohepriester sein Gesetzesverständnis erläutert. Einheitlichkeit des Corpus: Grundsätzlich muss man feststellen, dass das gesamte Corpus der Qumranschriften als Einheit zu werten ist – trotz der unterschiedlichen Zusammensetzung der Manuskripte: Alle hier erhaltenen Texte gehen mit der Überzeugung der in Qumran ansässigen Gruppierung konform, auch wenn diese nicht alle Schriften selbst verfasst hatte.394 Die in Qumran verfassten Schriften weisen obendrein typische scribal peculiarities auf, wie Absatzmarker, Korrek390 391 392 393
394
Vgl. Tigchelaar, Art. Scrolls, 168. Vgl. dazu Stökl Ben Ezra, Qumran, 228–233. Vgl. Maier, Interpretation, 126. Die deutsche Übersetzung der Bücher folgt hier Maier, Texte. Vgl. dazu im Folgenden Stökl Ben Ezra, Qumran, 239–254. Vgl. Tigchelaar, Art. Scrolls, 178: „… that many works in the corpus were interlinked and should be related to a current in early Judaism that comprised the movements described in the Damascus Document and the Rule of the Community, and probably also to the circles responsible for Jubilees and the Temple Scroll.“ Und a.a.O. 179: „… it makes most sense to study
214
III. Gruppierungen des Frühjudentums
turzeichen, die Schreibung des Tetragramms in paläohebräischen Buchstaben und orthographische Besonderheiten, die auf eine einheitliche Schreiberschule verweisen.395 Die Einheitlichkeit des Corpus meint aber nicht, dass alle in Qumran gefundenen Texte auch einer einheitlichen Bibliothek angehörten. Wir haben Hinweise, dass die Höhlen nicht nur als „final hiding place“ dienten (als letztes Versteck der Rollen vor der herannahenden legio X fretensis, die im Zuge des Jüdischen Krieges vom Norden kommend 68 n. Chr. erst Jericho und dann Qumran zerstörte). Wahrscheinlich waren die Höhlen auch vorher schon als eine Art Geniza (Speicher für alte, nicht mehr gebrauchte Rollen) oder als eine Art Archiv der Qumrangemeinde in Verwendung.396
8.6
Das erste und zweite Makkabäerbuch
Die beiden Makkabäerbücher wurden von unterschiedlichen Autoren und mit unterschiedlichen Zielsetzungen verfasst.397 Beide Werke handeln von der Unterdrückung der Juden durch Antiochos IV. Epiphanes, dem Aufstand der Makkabäer und der Herrschaft der Hasmonäer. Als terminus post quem beider Schriften kann die Regierungszeit des Johannes Hyrkanos (reg. 134–104 v. Chr.) gelten: Dessen Regierung wird in 1Makk 16,23f. genannt, in 2Makk 1,9 hingegen wird das Jahr 188 der seleukidischen Herrschaft erwähnt, somit das Jahr 124 v. Chr. Der terminus ante quem ist wesentlich umstrittener, doch scheint für beide Werke der Einzug des Pompeius in Jerusalem 63 v. Chr. sinnvoll. Wahrscheinlich wurde 2Makk noch unter der Herrschaft von Johannes Hyrkanos abgefasst, während 1Makk 16,23f. bereits auf diese Herrschaft zurückblickt. 2Makk war wohl schon ursprünglich in griechischer Sprache verfasst (ausgenommen die beiden zitierten Briefe 2Makk 1,1–10a/1,10b-2,18), eventuell als Epitome eines größeren verlorenen Geschichtswerks des ansonsten unbekannten Jason von Kyrene (vgl. 2Makk 2,19–32). Im
395
396
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the corpus primarily as the product of a specific early Jewish current consisting of different interlinked groups and movement with common interpretative approach to Scripture and a shared legal tradition.“ Crawford, Qumran, 130: „The Qumran scrolls are demonstrably not only a particular Jewish sectarian collection, but a Jewish sectarian collection shaped by the particular interests of an elite group of scholar scribes attached to that community.“ Tov, Characteristics, 87–95: „In my view the scribal peculiarities of the Qumran corpus derive from the special nature of the Qumran community.“ (94) Vgl. Gunneweg/Balla, Analysis, 25; Stökl Ben Ezra, Bibliotheken, 337. Ders., Caves, 332, geht davon aus, dass einige Höhlen ältere Texte (Höhlen 1 und 4) und andere jüngere Texte (Höhlen 2, 3, 5, 6 und 11) enthalten. Offensichtlich wurden schon vor 68 n. Chr. Texte in den Qumran-Höhlen deponiert. Dazu: Tilly, 1Makk, 50f.; Seeman, Art. Maccabees, 324–327; Borchert, Art. Maccabees, 332– 337; Bernhardt, Judas, 221–243; Nicklas, Metaphern, 173f.; Schipper, Gymnasium, 114; Dobbler, Art. Makkabäerbücher, wibilex; Tiwald, Gymnasion, 9–27; Schmitz, Judas, 243–278.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
215
Gegensatz dazu handelt es sich bei 1Makk um ein ursprünglich in Hebräisch verfasstes Werk, das uns allerdings nur mehr in griechischer Sprache erhalten ist. 1Makk versteht sich als „Herrschaftslegitimation der Hasmonäerdynastie“398, während 2Makk gegenüber dem hasmonäischen Herrscherhaus eine kritische Haltung einnimmt. Bestimmend für 2Makk ist die Idee, „dass Gott sich so lange für sein Haus, den Tempel zu Jerusalem, wie auch sein Volk einsetzt, solange dieses sich, der Tora gemäß, gegenüber der Lebensform der Völker abgrenzt.“399 Obwohl 2Makk stilistisch der hellenistischen Geschichtsschreibung nahesteht (und daher auch mit Werken des Polybios verglichen wird), ist das Werk inhaltlich doch „gegen jede Form der Öffnung des Judentums gegenüber der hellenistischen Umwelt“400 gerichtet.
8.7
Rabbinische Schriften als Quellen zum Frühjudentum?
8.7.1
Problem der Datierung
Wie wir bereits oben gesehen haben, ist die Rede von einem „pharisäisch-rabbinischen Judentum“ anachronistisch (s.o. I.1.3.1). Zwar datierten die späteren Rabbinen ihre Idealvorstellungen gerne in die Zeit von Esra (vgl. Neh 8,1–8) zurück, doch entwickelte sich das rabbinische Judentum nicht vor der Mitte des 2. Jh. n. Chr. Dabei waren die Rabbinen auch keineswegs die direkten Erben der Pharisäer, eine „pharisäisch-rabbinische“ Kontinuität hat es nie gegeben.401 Daher ist auch eine gewisse Vorsicht bei der Verwendung rabbinischen Materials für die Rekonstruktion des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels angesagt. So epochal das vierbändige Werk von P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, mit der Auflistung sämtlicher rabbinischer Parallelen für das gesamte NT auch war, so wenig wird in dieser – auch heute noch bestens als Materialsammlung geeigneten – Zusammenstellung der Zeitunterschied zwischen neutestamentlichen Texten und der rabbinischen Literatur bedacht. Die Mischna datiert um 200 n. Chr., die Tosefta etwas später, der palästinische Talmud zu Beginn des 5. Jh. n. Chr. und der babylonische Talmud zwischen 5. und 8. Jh.402 Die mechanistische Verwendung rabbinischen Materials verwischte diese chronologischen Grenzen. Das Stichwort „Parallelomania“ ist zu einem Schlagwort dafür geworden, dass in der rabbinischen Literatur „nicht alles, was gleich oder auch nur
398 399 400 401 402
Tilly, 1Makk, 48; Bernhard, Judas, 223: „offiziöse Chronik aus dem Umfeld der Hasmonäer.“ Nicklas, Metaphern, 173. Nicklas, Metaphern, 174. Vgl. Stemberger, Umformung, 85; rezent dazu: ders., Pharisees, 240–254. Zu den Zeitangaben vgl. Stemberger, Dating, 82, und Stemberger, Einleitung, 129–131.
216
III. Gruppierungen des Frühjudentums
ähnlich klingt, schon eine brauchbare Parallele für das Neue Testament ist.“403 Auch die oft vorgebrachte „Berufung auf ‚mündliche Tradition‘ darf nicht als deus ex machina dienen, um damit ungeprüft lange Zeiträume zu überbrücken.“404 Mittlerweile sind solche Kautelen zum Glück opinio communis unter Neutestamentlern geworden, doch sind damit die Probleme erst erkannt, noch nicht gelöst. Ohne Zweifel haben sich auch in rabbinischen Texten alte Überlieferungen erhalten, die – wenn richtig herausgefiltert – für die Zeit des Zweiten Tempels aufschlussreich sind. Dennoch ist die Datierung des rabbinischen Materials ausgesprochen schwierig, eine eigene Methodologie dazu steckt noch in den Kinderschuhen, wie G. Stemberger aufgezeigt hat:405 Dating rabbinic texts remains a complicated task. It is perhaps too early to combine it with a New Testament agenda. But I should certainly not discourage researchers in the field of the New Testament … from using rabbinic texts. The question is and remains how to find the adequate methods.
8.7.2
Targumim
Vielbeschworen ist auch das angeblich hohe Alter der Targumim. Unter früheren Exegeten war die Auffassung verbreitet, „der Targum gehe in seinen Grundlagen auf die Zeit des Zweiten Tempels zurück und spiegle damit das Bibelverständnis des palästinischen Judentums zur Zeit Jesu.“406 Allerdings: „Die Privilegierung der Targumim im Vergleich mit Texten des Neuen Testaments (oft schon damit angedeutet, dass Targumtexte vor rabbinischen Texten angeführt werden), stützt sich auf anachronistische Vorstellungen vom palästinischen Synagogengottesdienst des 1. Jh. und ignoriert die Tatsache, dass alle Targumim (einschließlich Onkelos) deutlich von der Midraschtradition beeinflusst sind.“407 Trotz der Funde aramäischer Übersetzungen von biblischen Texten in Qumran haben wir keinen Beleg für die Verwendung von Targumim in der Synagoge des 1. Jh.
403
404 405 406 407
Stemberger, Judaistik, 28. „Parallelomania“ geht zurück auf S. Sandmel, Parallelomania, JBL 81 (1962) 1–13. Neusner, Literature, 11, karikiert solches Arbeiten folgendermaßen: „From the time of Billerbeck’s counterpart to a telephone book – look up the right number, you make your connection – everybody in New Testament scholarship enjoyed free run of the rabbinic literature of late antiquity and medieval times.“ Stemberger, Judaistik, 29. Vgl. Stemberger, Dating, bes. 79–92, hier 96. Stemberger, Judaistik, 29. Stemberger, Judaistik, 30. Ganz in diesem Sinne auch McNamara, Targum, 395.
8. Frühjüdische Schriftsteller, Schriften und Quellen
8.8
217
Christliche Quellen zum Frühjudentum
Die authentischen Paulusbriefe besitzen zwar einen hohen Geschichtswert, doch sind die Briefe bestimmten Anlässen geschuldet (selbst der am „grundsätzlichsten“ verfasste Röm der bevorstehenden Visite des Paulus in Rom) und bieten daher nur Momentaufnahmen. Der paulinische Fokus ist zumeist auf bestimmte Konfliktsituationen gerichtet, die erst den Anlass für das Schreiben lieferten. Die Frage nach allgemeiner Repräsentanz der geschilderten Zustände – wie auch die Frage nach subjektiv-polemischer Überhöhung der Konflikte –muss gestellt werden. Darüber hinaus ist auch schwer zu beurteilen, wieweit die Situation in einzelnen Gemeinden als repräsentativ für die Gesamtsituation anzusehen ist. Noch komplizierter ist die Frage nach dem Geschichtswert der Apostelgeschichte. Da der auctor ad Theophilum bekanntlich keine Ortskenntnisse in Palästina besaß,408 nach eigener Darstellung auch kein Augenzeuge Jesu war (Lk 1,1–4) und – anders als die „Wir-Berichte“ glauben machen – auch kein Reisebegleiter des Paulus, wird man seine Darstellungen immer mit anderen Quellen gegenlesen müssen (z.B. den paulinischen Homologumena oder Aussagen von Josephus). Vorsicht ist auch geboten, wenn man lukanische Aussagen – etwa betreffs der Existenz und Funktionalität von Synagogen – unmittelbar auf die Zustände in Palästina umlegen möchte. Wahrscheinlich hatte Lukas als Autor in der Diaspora eine andere jüdische „Infrastruktur“ vor Augen als dies in Palästina der Fall war.
8.9
Archäologie als Quelle zum Frühjudentum
J. Zangenberg hat verschiedene Zugangsweisen definiert, wie Archäologie und die Rückfrage nach dem Frühjudentum/Frühchristentum interagieren können. Er kritisiert dabei zu Recht, dass allzu oft Archäologie verzweckt wird, um „primär ergänzendes Material zu Textaussagen“409 beizusteuern, und so diese Aussagen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Dabei „gibt immer der Text die Themen und Sachverhalte vor, die es zu untersuchen gilt, nicht die Archäologie.“410 Sinnvoll ist es, dass Archäologie nicht nur gewisse Einzelthemen (womöglich als Lückenbüßer für Leerstellen in den Texten) behandelt, sondern ein fruchtbringender Dialog zwischen materiellen Resten und Quellentexten einsetzt, um größere „Zusammenhänge, aus denen sich historische, topografische und soziale Einzelphäno-
408 409
410
Vgl. Bovon, Lukas, 22f. Zangenberg, Galiläer, 132. Vgl. dazu auch Zangenberg, Zufall, 121–146, und die grundsätzlichen Überlegungen von Hüttig, Archäologie, 101–118; Frevel, Palästinaarchäologie, 35–89; Schröter, Diskussion, 73f. Zangenberg, Galiläer, 131.
218
III. Gruppierungen des Frühjudentums
mene erklären lassen“, herauszuarbeiten.411 Exemplarisch kann man diesen Vorschlag an den jüngsten Grabungsfunden in Galiläa durchexerzieren, denn der im NT beschriebene „Weg Jesu entspricht nicht dem gesamten kulturellen Spektrum Galiläas, das wir aus der Archäologie eruieren können.“412 Der Schwerpunkt der Jesusüberlieferung fokussiert auf ländliche Strukturen, es kommt zu einer „Ausblendung der urbanen Milieus“,413 Jesus scheint weder in Sepphoris noch Tiberias oder Magdala gepredigt zu haben. Diese Städte waren aber keine paganen Siedlungen – wie früher zumeist vertreten –, sondern eindeutig jüdisch geprägt. Die Theologie (und auch dieser Band, s.u. IV.1.3) muss erklären, wie es zu solch einem selektiven geographischen Radius Jesu kam. Gerade wenn Archäologie unabhängig arbeitet und nicht als „biblische Archäologie“ verzweckt vor den Karren der Theologie gespannt wird, können neue – und durchaus kritische – Sichtweisen einen gänzlich anderen Blick auf die altvertrauten Texte ermöglichen. Dafür aber ist ein Dialog unter zwei selbständig arbeitenden Disziplinen unerlässlich, die Archäologie ist nicht die ancilla theologiae.
9.
Samaritaner
9.1
(Vor-)Geschichte des samaritanischen Schismas
9.1.1
Der Fall des Nordreichs
Als 722 v. Chr. das Nordreich in die Hände der Assyrer (2Kön 17,6) fiel, wurde die Oberschicht der zehn dort ansässigen Stämme nach Mesopotamien und Medien deportiert und der Rumpfstaat Ephraim (das Kernland des alten Nordreiches) in die assyrische Provinz Samerīna umgewandelt – wovon sich die spätere Landschaftsbezeichnung „Samaria“ herleitet.414 Dort siedelten die Assyrer eine neue, fremdstämmige Oberschicht an (2Kön 17,24), die sich bald mit der bodenständi-
411
412 413 414
Zangenberg, Galiläer, 132 (Original teilweise kursiv). So der Beitrag von Berlin, Sources, 2– 51, die die Geschichte des Frühjudentums archäologisch nachzeichnet: „Archaeological data take us beneath and beyond such recitation [sc. von puren Geschichtsdaten] to gain a glimpse of what life was actually like in Hellenistic Palestine.“ Zangenberg, Galiläer, 155. Zangenberg, Galiläer, 155. Vgl. Donner, Geschichte, 315. Der Begriff „Samarier“ gilt als Bezeichnung der Bewohner des politischen Distrikts Samarien, während der Ausdruck „Samaritaner“ die religiöse Zugehörigkeit zu den Jahwegläubigen der Provinz Samarien umreißt (vgl. Kollmann, Einführung, 19). Die Bezeichnung „Kutäer“, die in jüdischen Quellen begegnet, ist eine polemische Anspielung darauf, dass ein Teil der von den Assyrern in Samarien angesiedelten Personen aus der babylonischen Stadt Kuta stammte (2Kön 17,24). Vgl. Pummer, Samaritans, 28.
9. Samaritaner
219
gen Landbevölkerung vermischte.415 Allerdings duldete die liberale Religionspolitik der Assyrer auch weiterhin den Jahwe-Glauben (2Kön 17,25–28), was einen gewissen Synkretismus zwischen Jahweverehrung und dem Kult fremder Gottheiten zur Folge hatte (2Kön 17,29–34). Der religiöse Synkretismus, die ethnische Durchmischung und eine schon seit der Reichsteilung einsetzende Entfremdung zwischen dem damaligen Nordreich und Südreich legten den ersten Grundstein zum späteren samaritanischen Schisma. 9.1.2
Nachexilischer Tempelbau, Kulteinheit und Kultreinheit
Kurz nach der Heimkehr aus dem babylonischen Exil im Jahre 538 v. Chr. (s.o. II.2) erging das Edikt des Kyros zum Wiederaufbau des Tempels. Der Beginn des Wiederaufbaus zog sich bis ins Jahr 520 v. Chr. hin und begann unter dem persischen Sonderbevollmächtigten, dem Davididen Serubbabel (nach 1Chr 3,19 ein Enkel Jojachins) und unter tatkräftiger Unterstützung der beiden Propheten Haggai und Sacharja (Josephus A.J. 11,96). Der Tempelbau rief allerdings den massiven Widerstand der Samarier auf den Plan (Josephus A.J. 11,19–30.84–103), der dortige Statthalter Sanballat I. fürchtete zu Recht eine Schwächung seiner Position.416 War unter den Babyloniern und auch unter den Persern Juda seit 586 v. Chr. nur ein Teil der Provinz Samarien gewesen, so stand nun zu befürchten, dass ein eigener Tempelbau über kurz oder lang auch zu einer Loslösung von der Provinz Samaria führen könnte. Tatsächlich war dies wohl von Anfang an die Intention von Nehemia, der auch politisch-militärische Ziele verfolgte, wie die Sicherung Jerusalems mit einer Mauer. Als im Jahre 515 v. Chr. der Tempelbau beendet war, erhob der Perserkönig Artaxerxes I. (465/4–425 v. Chr.) gegen den Widerstand des samarischen Statthalters Sanballat I. Juda wieder in den Rang einer eigenen Provinz.417 Durch die Trennung der Provinzen Juda und Samarien wurde nun ein eigener Tempelbau für Samarien nötig. Auch wenn Josephus in A.J. 13,74–79 davon berichtet, dass der Tempel am Garizim erst unter Alexander d. Gr. errichtet worden sei, so belegen archäologische Funde erste Spuren einer Kultstätte schon um die Mitte des 5. Jh. v. Chr.418 In 415
416 417 418
Die von 1Kön 17,23f. nahegelegte Deutung, dass nach der Deportation der Nordstämme ausschließlich nicht-JHWH-gläubige Fremde in Samarien lebten, wird heute zu Recht als unhistorisch angesehen. Eher ist davon auszugehen, dass nur die Oberschicht deportiert wurde und sich die zurückbleibenden JHWH-Gläubigen mit der neuangesiedelten Bevölkerung vermischten. Das wird auch durch 2Chr (etwa 11,13–17; 15,9–15; 30,11; 31,1; 34,6.33) bestätigt. So Pummer, Samaritans, 30–32. Vgl. Kollmann, Einführung, 19f.; Donner, Geschichte, 414; Maier, Geschichte, 13. Vgl. Kollmann, Einführung, 20. So Magen, Art. Gerizim, 1742. Etwas später datiert Zangenberg, Jerusalem, 423: „late Persian period (fourth century B.C.E.)“, einen Mittelweg geht Kartveit, Temple, 80: „around 400 B.C.E.“. Ebenso Pummer, Samaritans, 22: „… first erected probably in mid- or late fifth-century B.C.E. and enlarged in the Hellenistic period.“
220
III. Gruppierungen des Frühjudentums
diesem Sinne berichtet auch A.J. 11,310f. von den Plänen eines Tempelbaus am Garizim schon unter Sanballat III. († 332 v. Chr.), der unter dem Perserkönig Dareios III. als Statthalter Samariens amtierte. Verstärkt wurden die Spannungen durch die strengen Gesetze, die Esra und Nehemia gegen Mischehen erlassen hatten. Davon war nicht nur ein beträchtlicher Teil der einfachen Bevölkerung, sondern auch etliche Priester und Leviten betroffen. Wer sich nicht anpassen wollte, verließ nun Juda und ging nach Samaria – auch zahlreiche Priester und Leviten fanden in dem um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. gegründeten Heiligtum am Garizim eine neue Aufgabe. Der Tempelbau am Garizim lief natürlich den Jerusalemer Bemühungen um Kultzentralisation zuwider und belastete die ohnehin schon angespannten Beziehungen zwischen Jerusalem und Samaria noch mehr. Allerdings belegen Zeugnisse dieser Zeit aus der jüdischen Militärkolonie im ägyptischen Elephantine, dass dort auch noch ein Jahwetempel existierte.419 Es waren also nicht nur die Samaritaner, die sich der Idee der Kultzentralisation widersetzten. 9.1.3
Verschärfung der Spannungen unter Alexander d. Gr.
Josephus berichtet in A.J. 11,310.322f. und 13,74, dass der Tempel am Garizim unter Alexander d. Gr. errichtet worden sei,420 doch belegen archäologische Funde erste Spuren einer Kultstätte schon um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. Allerdings erfuhren die Spannungen zwischen Juda und Samaria einen neuen Höhepunkt im Zuge der Eroberungen des Makedoniers. Der samaritische Stadthalter Sanballat verbündete sich nämlich mit dem herannahenden Alexander und unterstützte diesen bei der Eroberung von Tyros (A.J. 11,321). Wahrscheinlich bestätigte Alexander im Gegenzug dazu den Tempel am Garizim – auch wenn er nicht dessen Gründer war. 9.1.4
Tempelzerstörung durch Johannes Hyrkanos
Eine Zuspitzung der Verhältnisse ergab sich unter Johannes Hyrkanos I. (135–104 v. Chr.). Dieser ambitionierte Herrscher nutzte das politische Machtvakuum für ausgedehnte Eroberungen und eine Politik der religiösen Restauration (s.o. II.4.2.1). Ziel war „ein religionspolitisches Programm einer Wiederherstellung des alten Israel (d.h. der Sammlung aller in Palästina wohnenden Juden in einem politisch unabhängigen Staat).“421 Nach der Eroberung Samarias (112–111 v. Chr.)
419 420
421
Vgl. Donner, Geschichte, 434f.; Maier, Geschichte, 14f. Die Tendenz des Josephus gegenüber den Samaritanern ist eindeutig negativ, sie werden als Opportunisten beschrieben, die sich mit Alexander verbündeten. Ihr Tempelbau ist daher auch nicht Gottes Werk, sondern das des Makedoniers (Pummer, Alexander, 159f.). Theißen, Sadduzäismus, 227.
9. Samaritaner
221
ließ er um 110 v. Chr.422 auch den Tempel am Garizim zerstören (Josephus A.J. 13,255f.) und griff so das alte Gebot der Kultzentralisation wieder auf, wie es bereits von Hiskija forciert worden war.423 Die Tempelzerstörung war ein Meilenstein in der allerdings noch länger dauernden Geschichte des „Parting of the Ways“ zwischen Juden und Samaritanern.424 Danach machten die Samaritaner immer wieder erfolglose Versuche, den Tempel neu aufzubauen (A.J. 18,85–89; B.J. 3,307–315),425 allerdings gab es dort eine Kultstätte, wie Joh 4,20 belegt.426 Unter Antoninus Pius (160 n. Chr.) wurde am Garizim ein Zeusaltar errichtet. In christlich-byzantinischer Zeit durften die Samaritaner zu den Resten ihres Tempels pilgern und unter den Kreuzfahrern dort auch Opfer darbringen.427 9.1.5
Weiterer Verlauf und das „Parting of the Ways“
Josephus berichtet in A.J. 18,29f. davon, dass im Jahr 8 n. Chr. Samaritaner zum Beginn des Paschafestes Menschenknochen in den Jerusalemer Tempel warfen und so den heiligen Bezirk für den Festtag verunreinigten. Nach B.J. 2,232– 246/A.J. 20,118–136 töteten Samaritaner galiläische Pilger, die auf ihrem Weg zum Tempel durch samaritanisches Gebiet gezogen waren (vgl. die Hostilität in Lk 9,52–56). Dennoch beteiligten sich Samaritaner nach Josephus B.J. 3,307–315 am ersten Jüdischen Krieg auf Seiten der Juden. „Dass die Samaritaner in die jüdische Aufstandsbewegung gegen die Römer miteingebunden waren, zeigt die nach wie vor bestehende Nähe beider Gruppen zueinander.“428 67 n. Chr. bereitete Cerealius, der Beauftragte Vespasians, den samaritanischen Aufständischen eine blutige Niederlage. Auch im NT bleibt das Bild von Samaritanern zwiespältig: Nach Lk 9,52 werden Jesus und seine Jünger am Weg nach Jerusalem nicht von Samaritanern aufgenommen. In Joh 4,9 heißt es: „Die Juden verkehren nämlich nicht mit den
422
423 424
425 426
427 428
So die neueren Datierungen: Pummer, Art. Samaritanism, 1188; Pummer, Samaritans, 24 und 88. Magen, Art. Gerizim, 1742, datiert die Zerstörung des Tempels am Garizim „around 110 BCE“. Genauso Kartveit, Temple, 80 („last decennium of the second century B.C.E.“), und Knoppers, Samaritans, 212 („111–112 BCE“). Diese Datierung erfolgt aufgrund von Münzfunden und widerspricht der Darstellung bei Josephus (A.J. 13,254–257; B.J. 1,62), der die Zerstörung schon um 129 v. Chr. – nach dem Tod von Antiochos VII. Sidetes – verortet. Vgl. Theißen, Sadduzäismus, 227. Vgl. Kollmann, Einführung, 21; Pummer, Art. Samaritanism, 1188. Ebenso Pummer, Samaritans, 89: „… it was not the erection of the temple that caused the division between Judeans and Samaritans, but most likely its destruction by a Judean ruler.“ Vgl. Zangenberg, Jerusalem, 424, und Magen, Art. Gerizim, 1742. Der in Joh 4,5 genannte Ort Sychar lag am Fuße des Garizim 1,5 km nördlich davon. Zu Sychar: Zangenberg, Jerusalem, 416–418. Vgl. Magen, Art. Gerizim, 1742 und 1746. Böhm, Art. Samaritaner, WiBiLex.
222
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Samaritern“ und Joh 8,48; „Sagen wir nicht mit Recht: Du bist ein Samariter und von einem Dämon besessen?“ Dennoch verwendet das Gleichnis vom Barmherzigen Samaritaner (Lk 10,30–37) diesen als positive Figur, ebenso Lk 17,16 – beides wohl Reflexe einer frühen Samaritanermission des beginnenden Christentums (s.u. III.10.3.2; III.11.6). Bei den Rabbinen ist der Status der Samaritaner noch lange Zeit unklar. Der Simon ben Gamaliel zugeschriebenen Satz: כּוּתי כְ יִ ְשׂ ָראֵ ל לְ כָל־דָּ בָ ר ִ , „der Kutäer/Samaritaner ist wie ein Jude in jeglicher Hinsicht“ begegnet wiederholt (z.B.: jSheq 1,4,3; jKet 3,1,4; jBer 7,1,8; jDem 3,4,3; 6,8,3) und wird kontovers diskutiert.429 Einerseits wird die gewissenhafte Toraobservanz der Samaritaner positiv erwähnt, andererseits ihre Ferne zum Judentum betont (oft in Form einer Negativfolie in der rabbinischen Argumentation). Das Verhältnis Rabbinen-Samaritaner war also noch längere Zeit offen, erst in der Zeit Diokletians kam es zum endgültigen Bruch. Im heutigen orthodoxen Judentum werden die Samaritaner als Nicht-Juden klassifiziert, doch besitzen die in Kiryat Luza (am Garizim) angesiedelten Samaritaner die israelische Staatsbürgerschaft.430 Historisch muss man konzedieren, „that the Samaritans are not a sect that broke off from Judaism, but rather a branch of Yahwistic Israel in the same sense as the Jews.“431 Das „Parting of the Ways“ zwischen Juden und Samaritanern hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem „Parting“ zwischen Juden und Christen. Zu nennen wären: *Der lange Zeitraum, den der Trennungsprozess einnahm; *die diffus gezogenen Grenzlinien, die es davor gab mit einem Wechselspiel von Nähe und Ferne; *ein bleibendes Bewusstsein für gemeinsame Wurzeln auf beiden Seiten.
9.2
Überlieferungen der Samaritaner
In ihrer eigenen Wahrnehmung sehen sich die Samaritaner als die originalen und wahren Israeliten, während die Juden von der wahren Lehre abgewichen sind.432 Die wichtigsten Differenzen sind:433 1) Als heiliger Berg der Samaritaner wird der Garizim angesehen und nicht der Zion. 2) Die Samaritaner anerkennen nur den Pentateuch (tora) und nicht die Prophetenbücher (nevi’im) und die weiteren Schriften (ketuvim). Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch die Sadduzäer nur die fünf Bücher Mose als verbindlich betrachteten. 3) Die Gemeinde wird von Vgl. dazu Schiffman, Samaritans, 323–350; Briata, Samaritani, 229–247. Zu Diokletian: Stemberger, Juden, 175–183. Zum Status der heutigen Samaritaner: Pummer, Art. Samaritanism, 1188; ders., Samaritans, 13f.; Böhm, Art. Samaritaner, WiBiLex. 431 Pummer, Samaritans, 25. Dazu auch: Schiffman, Samaritans, 323–350. 432 Vgl. Pummer, Samaritans, 9: „The Samaritans are convinced that they are the original and true Israelites, whereas the Jews have gone astray.“ 433 Vgl. Pummer, Art. Samaritanism, 1188. 429 430
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
223
einem eigenen Hohepriester geleitet (Rabbinen gibt es bei den Samaritanern nicht; diese Institution entstand aber auch im Judentum erst nach dem Fall des Tempels). 4) Die Samaritaner haben ihre eigenen Traditionen bzgl. Exegese, Liturgie und Geschichtsschreibung entwickelt. 5) Bis zum heutigen Tag schlachten die Samaritaner ihre Paschalämmer am Garizim gemäß den Anweisungen von Ex 12. Der samaritanische Pentateuch gibt die prä-samaritanische Textgruppe wieder, die uns auch aus den Textfunden von Qumran bekannt ist.434 Die Entstehung dieser Textgruppe lässt sich im Zeitfenster vom 2. bis zum 1. Jh. v. Chr. festmachen, also vor der Zerstörung des Tempels am Garizim durch Johannes Hyrkanos 110 v. Chr. Grundsätzlich entspricht der samaritanische Pentateuch dem späteren Masoretischen Text, die meisten Unterschiede betreffen Fälle von scriptio plena und scriptio defectiva (die Frage, ob Vokale durch Konsonantenzeichen wiedergegeben werden = matres lectionis). Andere Unterschiede in den Texten heben auf die Bedeutung des Garizims als heiliger Berg ab. Der samaritanische Pentateuch ist in samaritanischer Schrift verfasst, die zwar der paleo-hebräischen Schrift ähnelt, jedoch aus der Schrift der Spätzeit des Zweiten Tempels hervorgegangen ist.435
10.
Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
Johannes der Täufer, Jesus und das beginnende Christentum müssen als Teil des Frühjudentums interpretiert werden. Erst mit der Plinius-Trajan-Korrespondenz taucht eine gewisse Zäsur auf, da hier zum ersten Mal Christen von staatlich-römischer Seite als eigenständige Gruppierung wahrgenommen werden.
10.1
Johannes der Täufer
Betreffs der biographischen Eckdaten zum Täufer s.o. II.5.3.5. Der wahrscheinlichste Ort, an dem Johannes taufte, ist „auf der anderen Seite des Jordan“ zu lokalisieren, wie Joh 1,28; 10,40 berichtet, also im Ostjordanland, wohl auf der Höhe von Jericho. Dies ist wahrscheinlicher als die Angaben in Mt 3,1, wo die Verkündigung des Täufers „in der Wüste von Judäa“, also westlich des Jordans, angesetzt wird.436 Denn schließlich gehörte Peräa, das Ostjordanland, zum Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas, mit dem Johannes dann ja in Konflikt geriet. Wahrscheinlich 434
435 436
Vgl. Pummer, Art. Samaritan Pentateuch, 1190; Schattner-Rieser, Qumrantexten, 67–109. Zu textlichen Besonderheiten des Samaritanischen Pentateuchs: Schorch, Pentateuch. Vgl. Pummer, Art. Samaritan Pentateuch, 1190. Mk 1,3–5, der die Predigt des Johannes ἐν τῇ ἐρήμῳ, „in der Wüste“ festsetzt, bleibt hier neutral, da sich auch jenseits des Jordan Wüstenlandschaft erstreckt.
224
III. Gruppierungen des Frühjudentums
spielte für die Ortswahl des Täufers auch 2Kön 2,1–11 eine Rolle, nach diesem Text war Elija genau an dieser Stelle in den Himmel entrückt worden. Nach Mal 3,23 wurde Elija, der ja nicht gestorben, sondern nur in den Himmel entrückt war, für die Endzeit als eschatologische Mittlerfigur erwartet. Wahrscheinlich berief sich schon Johannes darauf, „mit dem Geist und mit der Kraft des Elija“ (Lk 1,17) die Endzeit vorzubereiten, was vom Neuen Testament dann als Vorläuferschaft Jesu gedeutet wurde (Mk 9,12f.; Mt 11,14; Lk 1,17). In den Worten Q 3,7–9.16b–17 kommt die Erwartung des Täufers zum Ausdruck, dass nach ihm eine endzeitliche Richtergestalt (Gott selbst oder eine Mittlergestalt?437) kommen werde, die an Israel die Taufe mit Heiligem Geist und Feuer vollziehen werde: Q 3,7 Er sagte zu der Volksmenge, die kam, um sich taufen zu lassen: Schlangenbrut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dass ihr dem bevorstehenden Zorngericht entkommt? 8 Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und bildet euch nicht ein, bei euch sagen zu können: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. 9 Aber schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird daher herausgehauen und ins Feuer geworfen. 16b Ich taufe euch in Wasser; der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich. Ich bin nicht würdig, ihm seine Sandalen zu tragen. Er selbst wird euch in heiligem Geist und Feuer taufen. 17 Seine Schaufel ist in seiner Hand, und er wird seinen Dreschplatz säubern und den Weizen in seine Scheune einsammeln, die Spreu aber wird er in einem Feuer verbrennen, das nicht erlischt.
Gemeint ist damit das eschatologische Gericht, das im Geist Gottes wie läuterndes Feuer alle Unreinheit und Sünde in Israel ausbrennen werde. Diesem kommenden Zorn- und Feuergericht kann man nur entkommen, indem man sich der „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4) unterzieht. Eschatologische Aussage und ethischer Imperativ gehören in der Predigt des Täufers zusammen. In jedem Fall war Johannes getragen von einer eschatologischen Naherwartung, die mit einem unmittelbar bevorstehenden Eingreifen Gottes in die Geschichte rechnete. In der Übernahme dieses eschatologischen Gedankengutes steht Johannes mitten in der theologischen Erwartung vieler im damaligen Frühjudentum (s.u. IV.2.2). Die Taufe wird damit „ein eschatologisches Sakrament, d.h. eine symbolische Handlung“438, die Umkehrwillen und Vorbereitung auf das Kommen des Stärkeren verdeutlicht. Zacharias, der Vater von Johannes, stammte nach Lk 1,5 aus priesterlichem Geschlecht, nämlich aus der Priesterklasse Abija. Da diese Klasse nach 1Chr 24,19 eher unbedeutend war, könnte die Notiz bei Lk stimmen. Bemerkenswert ist dabei, dass Johannes als Sohn eines Tempelpriesters eine Praxis zur Sündenvergebung begründete, die auch ohne die im Tempel angebotenen Sühneriten funktionierte. Dies deckt sich mit anderen tempelkritischen Tendenzen im 437 438
Vgl. im Folgenden Theißen/Merz, Jesus, 188–196; Tiwald, Kommentar, 45–52, 179f. Theißen/Merz, Jesus, 195.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
225
Frühjudentum, freilich ohne den Tempel in Jerusalem grundsätzlich zu abrogieren (s.u. V.4).439
10.2
Jesus von Nazaret
Betreffs der biographischen Eckdaten zu Jesus s.o. II.5.3.6. 10.2.1
Jesus und der Täufer
Wie das Verhältnis von Jesus zu Johannes anfangs war, ist in der Wissenschaft umstritten. Am wahrscheinlichsten ist, dass Jesus seine öffentliche Laufbahn zunächst als Schüler des Täufers antrat.440 Das Unbehagen, mit dem Mt und Lk die Taufe Jesu durch Johannes zu kaschieren suchen, während Joh dies ganz weglässt,441 legt solch eine Vermutung nahe. Obendrein begegnen in Apg 18,25; 19,3 noch Johannesjünger, die nur die Johannestaufe kennen und erst lange nach der Auferstehung für den Glauben an Jesus gewonnen werden müssen. Vielleicht sahen solche Kreise Johannes auch als „Lehrer Jesu“ und damit als die bedeutendere Persönlichkeit an. Tatsächlich waren die Verbindungen zwischen Jesus und Johannes wesentlich enger, als die Evangelien glauben machen. Wenn Jesus wirklich Jünger des Johannes war, dann taufte er vielleicht auch im Auftrag seines Lehrers, wie Joh 4,1 (auch 3,22)442 noch durchblicken lässt (allerdings auch hier in der Rivalität mit dem Täufer gezeichnet und auch nur, um es in 4,2 sofort zu widerrufen). Die schmallippige Darstellung in Mk 1,14, dass Jesus erst nach der Gefangensetzung des Täufers seine eigene Verkündigung startete, könnte insofern stimmen, als sowohl Q 4,1–13 wie auch Mk 1,12f. unabhängig voneinander berichten, dass Jesus vor seiner eigenen Verkündigung eine gewisse Zeit in der Wüste zubrachte. Vielleicht trennte sich Jesus nach einem besonderen Berufungserlebnis vom Täufer, um nach einer „Auszeit“ in der Wüste seine eigene Verkündigung zu starten.
439 440 441
442
Vgl. Avemarie, Johannestaufe, 395–410. Vgl. Ebner, Jesus, 83–85; Schnelle, Jahre, 191. Anders aber Backhaus, Jüngerkreise. Nach Mt 3,13–17 lehnt es der Täufer ab, Jesus zu taufen, da er in Jesus den Größeren sieht. Lk 3,21–22 hingegen berichtet von einer Taufe ohne Täufer, da Johannes nach Lk 3,20 schon vorher inhaftiert wurde (vgl. Theißen/Merz, Jesus, 193). Obendrein macht schon Lk 1,41– 44 klar, dass Jesus Johannes überbietet, Maria ist für Elisabeth „die Mutter meines Herrn“, dem schon Johannes im Mutterleib huldigt. Nach Joh 1,29 nimmt Jesus als Lamm Gottes die Sünde der Welt hinweg und nicht die Johannestaufe (so noch Mk 1,4: „Taufe zur Vergebung der Sünden“); auch ist Jesus und nicht Johannes der wahre Geisttäufer (Joh 1,33). Vgl. Merklein, Gottesherrschaft, 33.
226
III. Gruppierungen des Frühjudentums
10.2.2
Theologisches Anliegen Jesu
Im Wort Lk 10,18: „Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen“ sehen viele Forscher das Berufungserlebnis Jesu, durch das er sich vom Täufer trennte und seine eigene Verkündigung begann.443 In jedem Fall wird im Wort Lk 10,18 deutlich, dass für Jesus die Macht des Satans jetzt gebrochen ist. Der Satanssturz wurde nach AssMos 10,1 (vgl. Offb 12,9; Röm 16,20) für die Endzeit erwartet und bedeutet die Wende zum Heil. Für Jesus ist die Heilswende im Himmel bereits eingetreten und wird sich in Bälde auch auf Erden durchsetzen, wie er ja im VaterUnser betet, dass das Reich Gottes nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden anbrechen möge. Als Bote und Aktant dieses Machtwechsels, der nun langsam auch auf Erden Wirklichkeit wird, vermag Jesus nun Dämonen auszutreiben und den Satan, den bisher „Starken“ (Lk 11,22) und „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31), zu „entwaffnen“ und „hinauszuwerfen“. Getragen von dieser Überzeugung ersetzt Jesus „die Gerichtsangst des Täufers durch die Heilsgewissheit seiner Verkündigung…“444 Vom Täufer allerdings sagt er auch weiterhin (Q 7,28): Unter den von Frauen Geborenen ist ein größerer als Johannes nicht aufgetreten. Aber der Kleinere/Jüngere (μικρότερος) ist im Reich Gottes größer als er (Ü.MT).
Zumeist wird der Komparativ μικρότερος fälschlich als Superlativ übersetzt, sodass „der Kleinste im Gottesreich“ größer wäre als der Täufer. Korrekt ist hier aber vom „Kleineren“ die Rede, wobei μικρότερος auch der „Jüngere“ sein kann. Wahrscheinlich hebt die Bezeichnung – wie durch den Kontext determiniert – auf das Verhältnis Johannes-Jesus ab: Auch wenn Jesus als bisheriger Schüler des Täufers nur „der Kleinere“ und von Lebensalter und Datum des Auftretens der „Jüngere“ ist, so kommt ihm durch seine Verkündigung des Gottesreichs doch die größere Bedeutung zu.445 Mit Johannes beginnt bereits der neue Äon, denn er, der mit Wasser tauft, kündigt den Stärkeren an, der nach ihm kommt und mit heiligem Geist und Feuer taufen wird (Q 3,16). Mit ihm als Boten des Kommenden („Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll“, Q 7,27) ist der neue Äon schon im Kommen. Mit Jesus und seiner Verkündigung wird das Neue bereits präsent gesetzt (Lk 11,20). In der Aussage Q 7,28 spiegelt sich also Jesu bleibende Verehrung für seinen früheren Lehrer, jedoch auch die überbietende Weiterführung der Täuferbotschaft in der Ankündigung des Gottesreichs. Im Ausdruck βασιλεία τοῦ θεοῦ (basileia tou theou), „Gottesherrschaft“/„Königsherrschaft Gottes“, ist die ganze Botschaft Jesu wie in einem Brennglas
443
444 445
Vgl. den Überblick bei Becker, Jesus, 131–133; Theißen/Merz, Jesus, 196f.; Ebner, Zeit, 100– 108; Theobald, Satan, 174–190; Tiwald, Kommentar, 180f. Theißen/Merz, Jesus, 197. So Schröter, Erwägungen, 447; Tuckett, Q, 137: „Within the context of Q … it would seem that John must definitely be included in the new era.“ Vgl. auch Tiwald, Logienquelle, 156f.
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gebündelt. In der Erwartung einer theokratischen Herrschaft Gottes, die religiösspirituell wie ethisch-zwischenmenschlich einen neuen Raum des Heiles und der Unversehrtheit eröffnet, führt Jesus nicht nur die Botschaft des Täufers eigenständig weiter, sondern befindet sich auch ganz im Rahmen endzeitlicher Erwartungen des damaligen Judentums,446 wenn auch mit sehr eigenen Konkretisierungen (s.u. V.5). Dabei übernimmt er die „anthropologische Prämisse“447 des Täufers, seines Lehrers: Ganz Israel ist mit dem bevorstehenden Anbruch der Endzeit vom Gericht bedroht. Dies ist „ein apokalyptisch radikalisiertes deuteronomistisches Geschichtsbild“448, alle haben gesündigt und bedürfen der Umkehr und des Erbarmens Gottes. Doch der Gedanke der „Umkehr“ erhält nun bei Jesus einen neuen Inhalt und wird zu einer Art „Neuschöpfung“, die in einer gläubigen „Annahme des eschatologischen Erwählungshandelns Gottes“449 wirksam wird. Denn in der Endzeit („eschatologische Komponente“) wird die ursprüngliche Unversehrtheit der paradiesischen Anfangszeit („protologische Komponente“) wiederhergestellt – so lautete ein verbreitetes Theologumenon im damaligen Judentum (s.u. V.5.2.2). Die vor dem Sündenfall gegebene („prälapsarische“) Unversehrtheit wird dem Menschen nun in der Endzeit durch freies und unverdientes Gnadenhandeln Gottes wiedergeschenkt. Daher taufte Jesus nach seiner Trennung vom Täufer wohl auch nicht mehr,450 doch wurde die Taufe später – vielleicht auch durch Einfluss christlich gewordener Täuferkreise (Apg 18,25; 19,3) – in der frühen Kirche zum Sakrament jener Erlösung, die der auferstandene Herr erwirkt hatte. Die theologische Erwartung einer von Gott geschenkten Restitution führt Jesus nun dazu, niemanden von seinem Heil auszuschließen. Dabei wendet er sich besonders den Sündern, Kranken, Marginalisierten und Ausgestoßenen zu, um sie alle mit dem eschatologischen Heil „anzustecken“. Gerade seine Festmähler,451 Wunderhandlungen, Sündenvergebungen und Gleichnisse (als Wort-Ereignisse) werden zu performativen Zeichenhandlungen, ja „Sakramenten“ der anbrechenden basileia: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20). Seit die Macht des Satans gebrochen ist (Lk 10,18), wird dem Menschen im Gottesreich die volle leibliche, seelische und psychische Integrität restituiert, die ihm bereits prälapsarisch zu Eigen 446 447 448 449 450 451
Vgl. Merklein, Gottesherrschaft, 37–51; Tiwald, Kommentar, 176–184. Vgl. Merklein, Gottesherrschaft, 27–36. Merklein, Gottesherrschaft, 29. Merklein, Gottesherrschaft, 36. Vgl. Theißen/Merz, Jesus, 195. Die Mahlpraxis Jesu ist reich belegt, und zwar „gattungsinvariant“ (Theißen/Merz, Jesus, 118) in Wundertraditionen (Mk 6,35–44), Erzählstoff (Mt 14,14–21; Mk 14,3par.; Lk 7,36; 19,5; Joh 12,2) und Wortüberlieferung (vgl. Q 7,34; 13,29; 14,16–23; Mt 25,1–13; Lk 14,15; Offb 19,9). Jesus hält diese Praxis bis zum Ende durch und feiert angesichts seines bevorstehenden Todes ein letztes zeichenhaftes Mahl (Joh 13,2; 1Kor 11,23–25), das er bewusst als Abschiedsmahl deutet – mit Blick auf die trotzdem anbrechende basileia (Mk 14,25); s.u. V.7.3.3.
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III. Gruppierungen des Frühjudentums
war. Das läuternde Feuergericht, das der Täufer verkündigt hat (Q 3,16f.), wird bei Jesus nun transformiert in das läuternde Erbarmen Gottes, das jedem, der sich bereitwillig darauf einlässt, in der nun anbrechenden Endzeit zuteilwird. 10.2.3
Jesus in seinem Kontext
Der Brotberuf Jesu wird in Mk 6,3 als τέκτων (tektōn) wiedergegeben und war der gleiche Beruf wie der des Josef (Mt 13,55). Mit τέκτων war ein ungelernter Handwerker aus der Unterschicht gemeint, der knapp über dem Existenzminimum stand.452 Wollte man fragen, woher einem armen Arbeiter eine solche Meisterschaft in der Theologie zugewachsen ist, so kann man auf Johannes den Täufer verweisen.453 Der Täufer war immerhin ein Priestersohn und besaß so eine gewisse theologische Bildung. Neben der „anthropologischen Prämisse“ hat Jesus wohl auch eine bestimmte tempelkritische Note vom Täufer geerbt, freilich ohne (genauso wie Johannes454) den Tempel grundsätzlich in Frage zu stellen (s.u. V.6). Jesus selber war des Lesens und Schreibens wahrscheinlich nicht mächtig. Die in frühjüdischen Texten öfters begegnende Darstellung, dass Kinder für die Toraauslegung lesen und schreiben lernen (1QSa I,6–8; Josephus C. Ap. 2,204; TestLev 13,2), ist ein Idealbild. Die Alphabetisierungsrate lag im damaligen Palästina unter 10–15 Prozent (s.o. III.6). Wahrscheinlich sind daher die Notizen aus Lk 2,41–51; 4,16 und Joh 8,6.8 historisch nicht verwertbar:455 Lk 2,41–51 (der Zwölfjährige im Tempel) gibt das stehende Motiv vom puer sapiens wieder (der weise Knabe stellt die Klugheit der Alten in den Schatten, ein Motiv, das wir auch von Josephus Vita 9 kennen, s.o. III.8.1.1); Lk 4,16 (Jesus liest in der Synagoge von Nazaret aus der Jesajarolle vor) stellt Jesus als gebildeten Juden vor Augen;456 Joh 8,6.8 (Jesus schreibt in den Sand) ist eine Passage, die ursprünglich gar nicht zum JohEv gehörte. Das Schreiben Jesu in den Sand steigert hier lediglich die Dramatik der Erzählung und sagt nichts über die literarischen Fähigkeiten Jesu aus. Zu beachten ist allerdings, dass in der damaligen Zeit Analphabetismus und gesellschaftlicher Status nicht miteinander korrelierten. Man konnte wie Jesus als „Lehrer“ anerkannt werden, selbst wenn man nicht lesen und schreiben konnte.457 Ob Jesus 452 453 454 455 456
457
Vgl. Heil, Analphabet, 282; Ebner, Stadt, 15f.; ausführlich: Frenschkowski, Artisans, 191–222. Vgl. Theißen/Merz, Jesus, 319. Vgl. Avemarie, Johannestaufe, 395–410. Vgl. dazu Heil, Analphabet, 275, 286–289. Das hier vorgetragene Mischzitat ist uns ansonsten nicht bezeugt (vgl. Heil, Analphabet, 287f.). Obendrein haben wir keinen Hinweis darauf, ob es in den damaligen Synagogen schon Lesezyklen gab und wie diese aussahen (s.o. III.7.6.6). Die Stelle ist wahrscheinlich der Intention des Lk geschuldet, Jesus als gebildeten Menschen einzuführen. Vgl. Heil, Analphabet, 290f., der Beispiele aus dem römischen Ägypten zitiert, wo Analphabeten auch hohe lokale Ämter bekleiden konnten. Hezser, Scribes, 158, verweist auf den Unterschied von Schreibern und Autoren: „Scribes were experts in the technicalities of
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ähnlich wie der Täufer auch ins Visier von Herodes Antipas kam (Lk 13,31), wissen wir nicht, möglich wäre es.458 Das JohEv legt nahe, dass Jesus im Zeitraum seines öffentlichen Wirkens nicht nur einmal am Ende seines Lebens programmatisch von Galiläa nach Jerusalem zog, sondern wiederholt in Jerusalem bzw. Judäa anwesend war und dort auch predigte (Joh 2,13; 3,22; 5,1; 7,10–14; 9,7; 10,22; 11,1; 12,1). Das dürfte – auch bei Abzug der theologischen Intentionen des JohEv – im Kern der Wahrheit entsprechen, da ja auch der Täufer im Ostjordanland auf der Höhe von Jericho taufte (s.o. III.10.1) und somit anzunehmen ist, dass auch die spätere Predigttätigkeit Jesu über Galiläa hinausging. Auch mit der von Jesus intendierten Sammlung ganz Israels (s.o. I.2.2.1) wäre eine anfängliche Beschränkung auf Galiläa nicht zu vereinbaren gewesen. Der in seinem öffentlichen Wirken einmalige Gang Jesu von Galiläa nach Jerusalem ist der mk Erzähldramatik geschuldet, in der Jesus bewusst seinem Tod entgegengeht und die Jünger mit Leidensankündigungen auf die Kreuzesnachfolge vorbereitet. Dazu passt, dass das vierte Evangelium drei Paschafeste im Zeitraum des öffentlichen Wirkens Jesu erwähnt: Joh 2,13; 6,4; 11,55 (Joh 5,1 scheidet hier aus, da nicht dezidiert so benannt). Wenn man „mit Mk ein einjähriges öffentliches Auftreten Jesu voraussetzt“,459 übersieht man die mk Erzähldramatik und die Tatsache, dass die Synoptiker nie eine dezidierte Ein-Jahres-Chronologie vorgeben. Allerdings ist die Darstellung bei Joh von starken christologischen Interessen überlagert.460 Wahrscheinlich wird man mit knapp zwei Jahren zu rechnen haben,461 wobei der Schwerpunkt des Wirkens Jesu in Galiläa lag. Jesu Wirken könnte dann „gegen Ende des Jahres 28 n. Chr. begonnen haben“, wobei man fragen muss, ob „sowohl der Täufer wie dann auch Jesus auf die politischen und religiösen Machthaber so provozierend wirkten, daß man sie nicht allzu lange gewähren ließ.“462 Wenn man allerdings – wie die meisten Forscher – das Auftreten des Täufers erst im Jahre 28 n. Chr. ansetzt (s.o. II.5.3.5), scheint das für die Nach-
458 459 460 461
462
writing rather than creative minds who authored or edited texts. They were paid craftsmen rather than scholars and intellectuals. … Authors and editors used scribes to put in writing what they created in their minds. They considered scribes inferior to themselves and looked down on them, even if they were copyists of sacred texts.“ So Kollmann, Einführung, 95; Ebner, Stadt, 15f. So Hoppe, Galiläa, 189. Zur Chronologie des JohEv: Theobald, Evangelium, 17–22. Hengel/Schwemer, Judentum, 344: „Die Frist von ca. einem Jahr bei Markus dürfte wohl etwas zu kurz sein, man wird zum Beispiel mehrere Reisen nach Jerusalem voraussetzen dürfen, da er auch nach Markus dort bekannt war. Johannes mag hier weiterreichende Traditionen besessen haben, sie sind bei ihm jedoch durch sein christologisches Erzählinteresse bis zur Undurchschaubarkeit verändert.“ Hengel/Schwemer optieren für „vielleicht eineinhalb, wohl kaum jedoch zwei Jahre“ (a.a.O. 346). Zum Geschichtswert des JohEv: Charlesworth, Gospel, 3–46. Hengel/Schwemer, Judentum, 346.
230
III. Gruppierungen des Frühjudentums
haltigkeit der Täuferbewegung (vgl. Apg 18,24; 19,2f.) und die Reaktion des Herodes Antipas zu kurz. Will man dann noch eine mögliche Zeit Jesu als Schüler des Täufers in Anschlag bringen (s.o. III.10.2.1) und die von Q 4,1–13 und Mk 1,12f. erwähnte Notiz ernst nehmen, dass Jesus vor seinem öffentlichen Wirken eine „Auszeit“ in der Wüste nahm, sollte man das „fünfzehnte Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius“ (Lk 3,1) auf das Jahr 26 n. Chr. datieren (s.o. II.5.3.5). In der Zeit seines öffentlichen Wirkens scheint Jesus seine „operative Basis“ in Kafarnaum besessen zu haben, wie Mk 1,21; 2,1; 9,33; Mt 4,13; Joh 2,12 nahelegen.463 Der Ort wird in Mk 1,29 – abweichend von Joh 1,44 – als Heimatstadt des Petrus und Andreas bezeichnet. Diese „Missionsbasis“ könnte gut von den ersten Jüngern Jesu weitergeführt worden sein: „An einer frühen und wohl judenchristlichen Gemeinde in Kafarnaum dürfte … nicht zu zweifeln sein.“464 Auch Broadhead vermutet dort eine judenchristliche Gemeinde, deren Präsenz nicht mit der ersten Generation endete, auch wenn er einer „unbroken line of Jewish Christian presence and influence in Capernaum up to the time of Constantine“ zu Recht kritisch gegenübersteht (s.o. I.2.2.6).465 Eine gewisse Plausibilität spricht jedoch für die Authentizität des „Petrushauses“: Die ältesten Mauern gehen ins erste vorchristliche Jh. zurück, darüber wurde dann im vierten Jh. n. Chr. ein christlicher Kultraum errichtet und im fünften Jh. eine oktogonale byzantinische Kirche.466 Wahrscheinlich endete die Präsenz von Judenchristen in Galiläa nach dem ersten oder zweiten Jüdischen Krieg. Entsprechende Traditionen wurden von christlichen Pilgern weitergeführt. Erwähnenswert ist auch die Synagoge von Kafarnaum, die vielleicht einen Vorgängerbau zur Zeit des Zweiten Tempels hatte (s.o. III.7.6.4). 10.2.4
Letzte Tage und Tod Jesu
Bei seinem letzten Besuch in Jerusalem vollzog Jesus eine spektakuläre Zeichenhandlung im Tempelareal (Mk 11,15–19 parr.),467 wahrscheinlich „im Vorhof der Heiden …, vermutlich auf dem Platz vor der Königshalle [sc. Halle Salomos].“468 Durch das Tempelwort Jesu (Mk 14,58; Joh 2,19) wird deutlich,469 dass diese Aktion 463 464 465
466 467
468 469
Vgl. Ebner, Stadt, 15f.; De Luca, Art. Capernaum, 168–180; Becker, Capernaum, 138. Stemberger, Juden, 70. Vgl. Broadhead, Ways, 341. Vgl. auch die Abwägung unterschiedlicher Argumente bei Zangenberg, Silence, 104–107, und Tiwald, Logienquelle, 83–88. Vgl. Loffreda, Art. Capernaum, 295; De Luca, S., Art. Capernaum, 176f. Diese „Tempelaktion“ sollte man besser nicht als „Tempelreinigung“ bezeichnen. Es geht Jesus nicht um eine kultische Reinigung des Tempels, auch nicht um eine Reinigung des Tempels von schnöden Krämern, sondern um eine prophetische Zeichenhandlung. Vgl. dazu Söding, Tempelaktion, 50–52. Söding, Tempelaktion, 50. Zur Halle Salomos vgl. Peleg-Barkat, Excavations, 91–120. Vgl. Theißen/Merz, Jesus, 381: „Jesu symbolische Handlung gegen den Tempelkult und seine Prophetie gegen den Tempel gehören sachlich zusammen.“ Allerdings begegnen sie
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„ein in Handlung umgesetzter Metanoia- und Glaubensruf ist, der sich im Kontext der Reich-Gottes Botschaft versteht.“470 Die Zeichenhandlung Jesu will als prophetische Kritik an der falschen Heilsgewissheit, die der Opferkult vermittelte, verstanden sein. Analog dazu könnte man Jer 7,4–7 zitieren: 4 Vertraut nicht auf die trügerischen Worte: Der Tempel des HERRN, der Tempel des HERRN, der Tempel des HERRN ist dies! 5 Denn nur wenn ihr euer Verhalten und euer Tun von Grund auf bessert, … 7 dann will ich bei euch wohnen hier an diesem Ort, in dem Land, das ich euren Vätern gegeben habe von ewig auf ewig.
In Wort und Tat ruft Jesus dazu auf, sich auf die heilsstiftende Nähe der basileia einzulassen und dies nicht mit dem Verweis auf den ohnehin schon heilsstiftenden Tempelkult abzutun. Analog zu frühjüdischen Erwartungen rechnete Jesus wohl auch mit einem neuen – nicht von Menschen, sondern von Gott selbst gemachten – eschatologischen Tempel (s.u. V.6.2): Daher erklären sich seine Worte vom Niederreißen und Neuerrichten des Tempels. Der finale Akt im Anbruch der basileia würde im innersten Herzen Israels – im Tempel – seinen Beginn finden. Mit seinem letztmaligen emblematischen Gang nach Jerusalem und seiner zeichenhaften Tempelaktion leitet Jesus somit die finale Phase für den Anbruch der basileia ein. Mit dieser prophetischen Eskalation aber wirft er auch seine eigene Existenz in die Waagschale: Der Tempel war (religiös wie politisch) das neuralgische Zentrum Israels schlechthin, dort stattfindende Störaktionen wurden unmittelbar und rigoros geahndet – es ist unvorstellbar, dass Jesus dies nicht bewusst war. Hier ist Hengel Recht zu geben: „Daß Jesus von seiner Verhaftung und Verurteilung nichtsahnend überrascht wurde, ist völlig unwahrscheinlich.“471 Tatsächlich nimmt er aber im unbedingten Vertrauen auf den Anbruch der basileia selbst die letzte Konsequenz, seinen Tod, in Kauf – sein Ringen am Ölberg offenbart, dass er sich der Implikationen seines Handelns bewusst war.472 Die in Mk 14,26.32–41 parr.
470 471 472
nur im Johannesevangelium im selben Text (Joh 2,14–22). Das Wort Mk 14,58 wird zwar nur „falschen Zeugen“ in den Mund gelegt, doch belegen die Parallelbezeugung in Joh 2,19 sowie die hohe Passgenauigkeit zur Tempelaktion und ähnliche Traditionen in Q 13,34f. und Mk 13,2, dass es sich hier um „ein authentisches Jesuswort“ (Theißen/Merz, Jesus, 381) handelt. Die frühen Christen taten sich mit der Tempelkritik Jesu schwer, wie die Erwähnung der „falschen Zeugen“ in Mk 14,58, die auf den Leib Jesu bezogene spiritualisierende Darstellung in Joh 2,19, die Formulierung Mt 26,61 im Konjunktiv und die Streichung des Wortes bei Lk nebst Verschiebung der Aussage auf Stephanus in Apg 6,14 belegen. Gegen die Historizität der Tempelhandlung: Koch, Geschichte, 175, doch urteilen Theißen/Merz, Jesus, 381, zu Recht: „Eine Prophetie, die nachweisbar so viele Verlegenheiten und Schwierigkeiten schuf, ist nicht erst nachträglich Jesus in den Mund gelegt worden.“ Söding, Tempelaktion, 61. Hengel, Tora, 170. Vgl. Niemand, Abendmahl, 102: „In dieser Krise, die in der anschließenden Getsemani-Erzählung (Mk 14,32–42parr) auch explizit thematisiert wird, läßt er aber nicht ab von treuem
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III. Gruppierungen des Frühjudentums
beschriebene Todesangst Jesu ist zwar dramatisierend und theologisierend überhöht, doch im Kern historisch. Vom Garten Getsemani hätte Jesus nur über den Ölberg in die Judäische Wüste fliehen müssen, um sich dem Zugriff seiner Gegner zu entziehen. Doch er sucht die prophetische Konfrontation und rechnet trotz seines bewusst in Kauf genommenen Scheiterns mit dem Anbruch der basileia, wie der im Kern authentische Satz in Mk 14,25 zeigt: „Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von neuem davon trinke im Reich Gottes.“ Diese Aussage belegt, dass für Jesus der finale Akt im Ringen um die Gottesherrschaft gekommen ist. Trotz seines möglichen Todes („nicht mehr trinken“473) wird das Reich Gottes dennoch kommen („von neuem trinken im Reich Gottes“474). Vielleicht sah Jesus die sich abzeichnende Zuspitzung auch als eine Art „Erprobung“ durch Gott, in der er seinen eigenen Glauben an das Kommen der basileia vor deren endgültigem Anbruch unter Beweis stellen müsse: Nun würde er selbst jenes bedingungslose Gottvertrauen und jenen Entscheidungsmut beweisen, den er in seinen Gleichnissen (Mt 13,44–46) und Predigten (Q 12,8; 17,6; Mt 6,30; 8,26) von seinen Hörern eingefordert hatte. Wahrscheinlich ist dabei euch der Aspekt der prophetischen Stellvertretung federführend, dass der Bote für seine Botschaft auch leiblich einstehen muss (s.u. V.7.3.3). Angesichts dieser massiven Zuspitzung tut Jesus am Abend vor seinem Tod, was er auch schon zuvor tat: Er feiert ein Mahl, was für Jesus ja auch sonst die symbolische Antizipation des kommenden Gottesreiches war (zu Jesu Mahlpraxis s.o. III.10.2.2, s.u. V.7.3.3). Dass er bei diesem Mahl mit seinem bevorstehenden Tod rechnet, belegt auch die Symbolhandlung an Brot und Wein: Der auseinandergebrochene Brotfladen erinnert an sein Zerbrechen im Tod, der rote Wein an sein Blut. Welche Worte Jesus dabei genau verwendete, lässt sich aufgrund der starken urkirchlichen Überformung (vgl. die unterschiedlichen Berichte bei Mk 14,12–26; Mt 26,17–29; Lk 22,14–20; 1Kor 11,23–26; Didache 9) nicht mehr sagen. Zu rechnen ist aber mit einer Symbolhandlung an Brot und Wein, einem Deutewort (etwa: so wie das Brot werde ich gebrochen werden; so wie der Wein wird mein Blut vergossen werden) und dem Reichen an die Jünger (wahrscheinlich waren auch Frauen anwesend, zumindest die aus Galiläa mitgekommene Maria von Magdala). Bereits die ersten Christen verstanden dies als symbolische Zeichenhandlung (1Kor 11,23), dass das
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Gehorsam und kindlichem Vertrauen auf die unfehlbar-souveräne Güte seines Gottes, den er als abba/Vater kennt.“ Vgl. Niemand, Abendmahl, 109: „Der Satz, daß Jesus jetzt nie mehr Wein trinken wird, ist ein feierlich-schwurartiger Ausdruck seiner definitiven Todeserwartung: In Ansehung der Konfliktlage geht Jesus davon aus, daß er hier und jetzt das letzte Fest- und Freundschaftsmahl seines Lebens feiert. Der Satz ist aber auch Ausdruck einer echten Todesbereitschaft.“ Vgl. Niemand, Abendmahl, 109: „Die vollmächtige Einladungsrede von der bereits einbrechenden basileia Gottes gilt weiterhin auch und gerade angesichts seines eigenen Todesweges!“
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Gottesreich trotz Jesu Scheitern – oder besser gerade wegen seiner Treue auch im vermeintlichen Scheitern – dennoch kommen würde (s.u. V.7.3.3). In 1Kor 11,26 allerdings wird die Ankunft der basileia bereits auf die Wiederkunft Jesu umgelegt: „bis er kommt“. Der Hohe Rat fürchtete weitere Provokationen Jesu und war besorgt, dass daraus ein Volksaufstand entstehen könnte – mit drastischen Konsequenzen durch das Eingreifen der Römer („Wenn wir ihn gewähren lassen, werden … die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen“, Joh 11,48). Belege für das Umschlagen prophetischer Bewegungen in politischen Aufstand gibt es für das damalige Judentum genug (s.u. IV.2). In allen Fällen griffen die Römer mit Waffengewalt brutal ein – die Bedenken des Hohen Rats sind verständlich. Daher suchten sie einen Ort, wo sie Jesus abseits der Menge heimlich aus dem Verkehr ziehen konnten (das ist gemeint, wenn Judas Jesus „ausliefert“, Mk 14,10). Offensichtlich wollten sie Jesus noch schnell vor dem Pessach-Fest „unschädlich“ machen, wie Mk 14,2 nahelegt: „Ja nicht am Fest, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt.“ Tatsächlich wählte Judas einen für die Hohepriester optimalen Ort: Der Garten Getsemani lag außerhalb der Stadt jenseits des Baches Kidron (Joh 18,1) und war zur Nachtzeit ansonsten verlassen.475 Da der Hohe Rat damals nicht über die Kapitalgerichtsbarkeit verfügte, wurde Jesus nach kurzer Bestandsaufnahme in der Nacht in den frühen Morgenstunden des Rüsttages vor dem Paschafest vor den römischen Präfekten Pilatus gebracht (zur Chronologie s.o. II.5.3.6). Dass die Hinrichtung Jesu eine standrechtliche Aburteilung gewesen sei,476 ist unwahrscheinlich. Synoptiker und Johannes berichten unabhängig voneinander von einem Prozess vor Pilatus.477 Offensichtlich hatte die dezidiert gewaltlose Grundhaltung Jesu dazu beigetragen, ihn nicht gleich unter die notorischen Rebellen einzureihen. Dass Präfekten durchaus bereit waren, sich den Aufwand solch einer Verhandlung auch für einen unbedeutenden einzelnen Angeklagten anzutun, beweist ausgerechnet ein Namensvetter Jesu: Jesus ben Ananias trat 62 n. Chr. in Jerusalem auf und prophezeite die baldige Zerstörung des Jerusalemer Tempels (B.J. 6,300–309). Auch dieser Jesus wurde wegen Unruhestiftung vom Sanhedrin festgenommen und an den römischen Prokurator Albinus ausgeliefert. Dieser verhörte ihn und ließ ihn als vermeintlich Verrückten nach der Geißelung wieder laufen. Zweifelsohne war Jesus in den Augen des Pilatus auch nur ein „armer Irrer“, genauso wie Jesus ben Ananias für Albinus (B.J. 6,305: μανία). Doch Jesus hatte mit seiner Tempelhandlung mitten in das Nervensystem der fragilen jüdisch-römischen Kollaboration gestochen. Pilatus, 475
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Jesus suchte öfters solche einsamen Orte zum Beten auf (vgl. Mk 1,35; 6,31), Judas muss davon gewusst haben. So Fiedler, Pilatus, 48: „standrechtlich gekreuzigt“. Sollte das JohEv synoptische Evangelien gekannt haben, macht es davon keinen Gebrauch und folgt eigenen Quellen, vgl. Theobald, Evangelium, 76–81, und ders., Erzählung, 228–260.
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III. Gruppierungen des Frühjudentums
ohnehin nicht von moralischen Skrupeln geplagt (s.o. II.5.4.3), entschied zugunsten der Aufrechterhaltung von „Ruhe und Ordnung“ – also für die Hinrichtung Jesu. Vielleicht rechnete Jesus bis zuletzt noch damit, dass Gott einschreiten und sein Reich nun zum Anbruch führen würde. Sein Scheitern am Kreuz – bei Mk 15,34 mit den Worten von Ps 22,2 wiedergegeben („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) – wird zum fragenden Schmerzensschrei, ob er sich in Gott und seinen Hoffnungen getäuscht habe. Gott ist jedenfalls nicht so eingeschritten, wie Jesus das ursprünglich erhofft hatte. Dennoch wird gerade die von Jesus stellvertretend für alle anderen durchgehaltene Treue zu Gottes Auftrag, für den er selbst das eigene Leben in die Waagschale wirft („Proexistenz“478), zur Initialzündung frühchristlicher Theologie. Hier ist der Ansatzpunkt, an dem man im Lichte des Osterereignisses von einem stellvertretenden Sühneleiden sprechen konnte, wie Paulus das in Röm 3,25 tut479 und die Synoptiker in der Adaptation der Gottesknechtslieder (Mk 9,12; Mt 8,17; Lk 24,46; Apg 3,18; 17,3; s.u. V.7.3.3). In der Auferstehung Jesu sieht das beginnende Christentum das Hoffen Jesu erfüllt und das Gottesreich – nun gedeutet als neuer Äon der Erlöstheit – trotzdem angebrochen.480 So gedeutet hat sich die Hoffnung Jesu doch noch erfüllt. 10.2.5
Jesus und die spätere Heidenmission
Jesus wollte keine eigene Religion abseits des Judentums gründen (s.o. I.2.2.1). Sein Ziel ist die endzeitliche Sammlung Israels, das auf die basileia zugerüstet werden soll, ähnlich, wie es Mt 10,5b–7 formuliert: 5b Geht nicht den Weg zu den Heiden, und betretet keine Stadt der Samariter, 6 sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel! 7 Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe!
Auch wenn der explizite Hinweis in Mt 10,5b–6481 der Geschichtstheologie des ersten Evangelisten entstammt (Mission außerhalb der Grenzen Israels erst nach der Auferstehung: Mt 28,17), so hat sich in diesem Ansatz doch die ipsissima intentio Jesu erhalten, der sich in seiner Mission zunächst ausschließlich an Israel wandte.
478
479 480
481
Vgl. Niemand, Abendmahl, 100: Jesus „ist durch und durch Bote, der pro-existent dazu da ist, den Menschen diese basileia-Wirklichkeit zuzuwenden.“ Selbst dann, wenn Jesus als Bote der basileia „radikal ausgegrenzt und verworfen wird … muß sich an seinem Tun und Ergehen proexistent zeigen, was seine Botschaft wert ist“ (teilweise kursiv). Vgl. Tiwald, Hilasterion. Diese Spannung zwischen dem Schon und dem Noch-nicht schlägt sich deutlich nieder in Texten wie Röm 8,23; 1Joh 3,2. Zur Rekonstruktion der Aussendungsrede bei Jesus, in der Logienquelle und bei Mt vgl. Tiwald, Wanderradikalismus, 102–211.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
235
Das wird auch in Mk 7,26f. klar, wo Jesus die Bitte der nichtjüdischen Syrophönizierin mit den Worten zurückweist: „Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen.“ Mit den Kindern ist hier Israel gemeint (vgl. Ex 4,22; Hos 11,1; Jer 31,9.20). Auch der Hauptmann von Kafarnaum (Q 7,1.3.6b–9) wie auch der Besessene von Gerasa (Mk 5,1–20 handelt im nichtjüdischen Gebiet, vgl. die Schweinezucht) sind als Ausnahmen kontextuiert. Historisch ist dabei, dass Jesus offensichtlich im „Umland von Tyros“ und in der „Gegend der Dekapolis“ tätig war. Zielgruppe war dabei jedoch die dortige jüdische Minderheit, die er in seinen Auftrag der universalen Sammlung Israels einbezieht (s.u. IV.1.3.5). Allerdings darf man annehmen, dass schon für den historischen Jesus gemäß den Verheißungen der „Völkerwallfahrt zum Zion“ (Jes 2,2–5; 60,3; Mi 4,2f.) auch die Heiden über das endzeitlich wiederhergestellte Israel Anteil an der Erlösung erhalten sollten (diesen Zweischritt belegen auch noch Röm 1,16 und Apg 3,26; 13,46; s.o. I.2.2.1). Solche Vorstellungen lassen sich schon beim historischen Jesus an Q 13,28f. („viele werden von Osten und Westen kommen und sich zum Mahl niederlegen mit Abraham und Isaak und Jakob im Königreich Gottes“) festmachen.482 In jedem Fall lässt die von ihm erwartete kosmisch-allumfassende Macht des Gottesreichs keine andere Deutung zu, als dass nach der Sammlung und Zurüstung Israels auch alle anderen Völker der Erde von der Dynamik des Gottesreichs durchdrungen würden. Auch wenn der historische Jesus diese Perspektive wohl im Horizont seiner Gottesreichsverkündigung mitdenkt, ist diese Stufe der eschatologischen Entwicklung für ihn noch nicht gekommen – dies überlässt er dem Zeitplan Gottes, den er nach eigenem Bekunden selbst nicht kennt (Mk 13,32). Wahrscheinlich war es dann das Ingenium der „Hellenisten“ um Stephanus (s.u. III.10.3), die das Anliegen Jesu kreativ weiterführten, indem sie nach Tod und Auferstehung Jesu die nächste Etappe der Endzeit gekommen sahen: Analog zur Erwartung in Joel 3,1 (zitiert in Apg 2,17) sahen sie die Ausgießung von Gottes Geist über alles Fleisch – also auch über die Heiden – in der nun angebrochenen Endzeit gekommen und begannen mit der beschneidungsfreien Heidenmission.
482
So Theobald, Kirche, 388. Ob die „von Osten und Westen Kommenden“ versprengte Juden aus der Diaspora (vgl. die Bilder der endzeitlichen Sammlung Israels in Jes 43,5f.; 11,12–16; 60,4; Ps 107,3 [= Ps 106,3LXX]; Sach 8,7f.; Bar 4,37; 2Makk 2,18; 1Hen 57,1; 90,33; PsSal 11,2) oder Heiden (vgl. die Bilder der Völkerwallfahrt in Jes 2,2–5; 11,10; 60,3; Mi 4,2f.) sind, ist ohne Belang, da beide Bilder ineinander verfließen, etwa in Jes 11,10–16 (vgl. die ausführliche Diskussion bei Zeller, Zukunft, 359–362; ders., Völkerwallfahrt 1, 222–237, und Völkerwallfahrt 2, 84–93; Tiwald, Kommentar, 143–146). „Die Vorstellung vom Strom huldigender Völker zum Zion hat nirgends im AT oder seinen Nachfahren eigenständige Bedeutung“ (Zeller, Völkerwallfahrt 1, 236f.), sondern dient immer nur der Restitution Israels, in die nun aber die Heiden heilsuniversalistisch inkludiert werden.
236
III. Gruppierungen des Frühjudentums
10.3
Die Jesusbewegung in Palästina und Syrien
10.3.1
Stephanus und die „Hellenisten“ aus Apg 6
Die Tempelkritik Jesu (s.o. III.10.2.4) und seine Erwartung, dass auch die Heiden gemäß den Verheißungen der „Völkerwallfahrt zum Zion“ (Jes 2,2–5; 60,3; Mi 4,2f.) Anteil an der Erlösung erhalten, wurden besonders von den „Hellenisten“, wie sie Apg 6 nennt, kreativ weitergeführt. Diese waren Juden aus der hellenistischen Diaspora, die in Jerusalem ansässig waren und sich in landsmannschaftlichen Synagogen483 organisierten. Offenbleiben muss, ob solche „Hellenisten“ grundsätzlich eine liberalere oder eine konservativere Einstellung zu jüdischen Ritualvorschriften und zum Tempelkult hatten. Gerade weil diese Frage einen Zankapfel der Forschung darstellt,484 ist man gut beraten, nicht zu verallgemeinern: Es gab wohl beides, konservative „Hellenisten“, die aufgrund ihrer Tempel- und ToraTreue nach Jerusalem zurückgekehrt waren, aber auch liberale „Hellenisten“, die – beeinflusst von der hellenistischen Kultur – Vereinfachungen in Ritualgesetz und Tempelkult durchsetzen wollten. In der Stephanusgeschichte treten tatsächlich beide Gruppierungen in Erscheinung: Den in Apg 6,9 genannten Vertretern „der Synagoge der Libertiner und Kyrenäer und Alexandriner und Leute aus Kilikien und der Provinz Asien“ (s.o. III.7.6.1) ist die Position des Stephanus offensichtlich zu liberal. Wahrscheinlich ging es Stephanus und den anderen jesusgläubigen „Hellenisten“ um eine Neuinterpretation des Tempeldienstes unter Hintanstellung der Ritualgesetze (zu den theologischen Positionen des Stephanus und deren Kontextplausibilität innerhalb des damaligen Judentums s.u. V.8). Solches scheint auch das zur Tempelprophetie Jesu sekundär hinzugewachsene Jesajazitat in Mk 11,17 nahezulegen: „Mein Haus wird ein Gebetshaus (προσευχή) genannt werden für alle (Heiden-)Völker“ (Jes 56,7 LXX, Ü.MT). „Der Begriff ‚Proseuche‘ ist ein weit verbreiteter Name für eine Synagoge. Die Verwandlung des Tempels in eine Art ‚Synagoge‘ hätte diesen für Heiden geöffnet: Im Synagogengottesdienst waren 483
484
Offen bleibt, ob es sich bei „Synagoge“ um Mitglieder einer landsmannschaftlichen Vereinigung oder einer religiösen Synogagengemeinschaft handelte (vgl. Stemberger, Judaistik, 24, s.o. III.7.6.1). Apg 6,9 erwähnt τινες τῶν ἐκ τῆς συναγωγῆς τῆς λεγομένης Λιβερτίνων καὶ Κυρηναίων καὶ Ἀλεξανδρέων καὶ τῶν ἀπὸ Κιλικίας καὶ Ἀσίας (wörtlich: „einige von der sogenannten Synagoge der Libertiner und Kyrenäer und Alexandriner und derer von Kilikien und Asia“), wobei offenbleibt, ob es nur eine Synagoge der Libertiner, Kyrenaier und Alexandriner oder auch eine derer von Kilikia und Asia gab (EÜ übersetzt: „einige von der sogenannten Synagoge der Libertiner und Kyrenäer und Alexandriner und Leute aus Kilikien und der Provinz Asien“). Zu den Hellenisten: Zugmann, Hellenisten, 299; Theobald, Kirche, 392f. Siehe entsprechende Überblicke bei Braun, Geschichte, 6–32; Zugmann, Hellenisten, 295– 299; Theißen, Hellenisten, 323–326; Hengel, Jesus, 151–206.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
237
Heiden (als Gottesfürchtige) zugelassen.“485 Nicht eine „Abrogation“ des Tempels ist hier von Stephanus gefordert, sondern eine Hintanstellung der rituellen Vorschriften, eine Forderung, die wir auch aus anderen liberalen Kreisen des Frühjudentums kennen (s.u. V.8.2). In den Ohren konservativer Juden kam dies allerdings einer Kritik an Tempel und Gesetz selbst gleich, sodass diese „Hellenisten“ auch aus Jerusalem vertrieben wurden, wie wir in Apg 8,1 lesen können. Nicht aus Jerusalem vertrieben wurden die „Apostel“, diese waren ja „Hebräer“ und auch nicht kultkritisch eingestellt. 10.3.2
Philippus und die Samaritanermission
Im Folgenden berichtet Apg dann vom „Hellenisten“ Philippus.486 Dieser wird in der Liste Apg 6,5 unmittelbar nach Stephanus genannt, ist also die zweitwichtigste Gestalt des Stephanuskreises und scheint dessen theologische Positionen weitergetragen zu haben. Selbst wenn der Geschichtsaufriss des Lk in seinem Doppelwerk stark schematisierend und glättend ist, so hat sich hier wohl authentisches Material erhalten. Jesu Erwartungen einer Völkerwallfahrt (s.o. III.10.2.5) gab den „Hellenisten“ Mut, nun die Grenzen des Judentums zu überspringen. Dabei dürfte die Tempelkritik des Stephanus auch einen Brückenschlag zu den Samaritanern ermöglicht haben. Auffallenderweise bringt Joh 4 Tempelkritik und Samaritanermission in Zusammenhang: 9 Die Samariterin sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? … 20 Unsere Väter haben auf diesem Berg [sc. dem Garizim, s.o. III.9.2] Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. 21 Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. 22 Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. 23 Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. 24 Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.
Die Argumentationsfigur, dass die wahren Beter nicht an einem bestimmten Ort zu Gott beten müssen, begegnet auch schon bei Philon in Spec. 1,66f.: Gott habe die ganze Welt (σύμπαντα κόσμον) zu seinem Tempel gemacht, der handgemachte (χειρόκμητος) Tempel in Jerusalem ist lediglich ein Zugeständnis an menschliche Vorstellungen (s.u. V.4). Noch diffiziler wird die Sache mit der Taufe des Äthiopiers (Apg 8,27–38). Dieser ist – wie bei hohen Beamten an orientalischen Königshöfen üblich – ein Eunuch.487 485 486 487
Theißen, Hellenisten, 335. Vgl. dazu Kollmann, Philippus, 551–565; Ebner, Stadt, 20; Theobald, Kirche, 392f. Die Bezeichnung „Eunuch“ meint hier nicht nur den titularen Gebrauch als Synonym für einen Beamten (wie das bisweilen auch für physisch Unversehrte vorkommen konnte; so
238
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Als solcher aber war es ihm nach Dtn 23,2 nicht möglich, Proselyt zu werden. Hier also wird der erste Heide in der Apg getauft! Dass diese Notiz des Lk eindeutig mit der konkurrierenden Parallelgeschichte in Apg 10,1–48 nicht zusammengehen will, erhöht in seiner „Tendenzsprödigkeit“ den historischen Wert der Auskunft beträchtlich: In Apg 10,1–48 ist Lk ja sehr bemüht, den Beginn der beschneidungsfreien Heidenmission dem urkirchlich moderaten, weder der „liberalen“ noch der „konservativen“ Fraktion angehörenden Petrus zuzuschreiben. Historisch gesehen scheint die beschneidungsfreie Heidenmission also nicht nur singulär in Antiochia aufgebrochen zu sein. Dort aber hatte sie nach der Vertreibung der „Hellenisten“ aus Jerusalem (Apg 8,1) ihr erstes Zentrum. 10.3.3
Die Verfolgung durch Agrippa I.
Agrippa I. (37–44) trat nach außen als weltgewandter, liberaler Hellenist auf, innenpolitisch allerdings stilisierte er sich zum Anwalt konservativ-jüdischer Interessen (s.o. II.5.5.3). Ganz auf dieser Linie liegt wohl auch die Verfolgung der christlichen Urgemeinde.488 Bezeichnenderweise bindet Apg 12 den Bericht der Christenverfolgung durch Agrippa (hier als Herodes bezeichnet) in die Darstellung der wachsenden Gemeinde in Antiochia ein. Tatsächlich scheint in der Diasporagemeinde von Antiochia die beschneidungsfreie Heidenmission ihr Zentrum gehabt zu haben, auch ist mit einer gewissen Tempelkritik zu rechnen (s.o. III.10.3.1). Dies musste klarerweise das Missfallen tempelfrommer Kreise auf sich ziehen, ein Umstand, den sich Agrippa zunutze machte. Nach Apg 12,2 ließ er Jakobus, den Zebedäussohn und Bruder des Johannes, mit dem Schwert hinrichten (Mk 10,35–40), wahrscheinlich 42/43 n. Chr. Auch Petrus wurde ins Gefängnis geworfen, von wo ihm aber die Flucht gelang. Danach musste er Jerusalem verlassen, nun übernahm der Herrenbruder Jakobus (Mk 6,3 parr.) die Leitung der Jerusalemer Gemeinde (Apg 12,17). Dieser scheint nach Mk 3,21.31–35 und Joh 7,1–10 ursprünglich nicht zu den Parteigängern Jesu gezählt zu haben. Nach 1Kor 15,7 wurde ihm allerdings eine Erscheinung des Auferstandenen zuteil, und Apg 1,14 zeichnet ihn schon im Kreis der Jerusalemer Urgemeinde. In Gal 2,9 wird Jakobus neben Petrus und Johannes als eine der drei „Säulen“ der Jerusalemer Gemeinde angeführt (Jakobus wird hier bezeichnenderweise schon vor Kephas/Petrus genannt).489 Auch nach Apg 15,13 ist Jakobus einer der Wortführer der Urgemeinde.
488 489
die Übersetzung der EÜ von εὐνοῦχος mit „Kämmerer“), sondern belegt in der Doppelung von εὐνοῦχος und δυνάστης zunächst den leiblichen Zustand und dann erst die berufliche Funktion. Vgl. Kollmann, Philippus, 558; ebenso Theobald, Kirche, 393. Vgl. die Analyse zu möglichen Motiven des Agrippa bei Theißen, Verfolgung, 263–289. Dazu Schwemer, Verfolger, 184: Interessant ist ihre Vermutung, dass Petrus sich nach der Vertreibung aus Jerusalem längere Zeit in Syrien aufgehalten hat. Gal 2,11 scheint das zu bestätigen. Schwemer führt die „Petrustradition im Matthäusevangelium“ darauf zurück
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
239
Als Paulus 56 n. Chr. nach Jerusalem kam, um die Kollekte der Missionsgemeinden zu überbringen, wurde er von Jakobus empfangen (Apg 21,18).
10.4
Von Antiochia nach Rom
10.4.1
Die Gemeinde von Antiochia und Paulus
Die beschneidungsfreie Heidenmission hatte in Antiochia ihr Zentrum. Wenn die Jünger Jesu dort zum ersten Mal als „Christen“ bezeichnet wurden, so wird klar: Ab dem Moment, wo die Taufe die Beschneidung ersetzt, werden die Christen als eigenständige Gruppierung mit eigenem Namen wahrgenommen.490 Wenn man Apg 11,26; 13,1 glauben darf – nach Gal 1,21;491 2,11–14 haben wir guten Grund dafür –, so ist Paulus über Antiochia mit solchen Vorstellungen in Kontakt gekommen und hat dort seine Sendung zum Missionar erhalten. Nach Josephus B.J. 3,29 war Antiochia die drittgrößte Stadt des Römischen Reiches nach Rom und Alexandria und verfügte über eine ausgesprochen große jüdische Diasporagemeinde.492 Dieser melting pot verschiedenster Kulturen war ohne Zweifel ein Katalysator für neue Entwicklungen im Christentum. 10.4.2
Apostelkonvent und Antiochenischer Konflikt (48/49 n. Chr.)
Aufgrund der glättenden und harmonisierenden Tendenzen des Lk findet sich nur ein spärlicher Hinweis auf den Antiochenischen Konflikt (auch Antiochenischer Zwischenfall genannt) in Apg 15. Wesentlich näher an den eigentlichen Vorfällen ist Paulus mit seiner Darstellung in Gal 2,11–14, hier allerdings auch wieder aus seiner eigenen Perspektive und situativ-polemisch verzerrt. Paulus und Apg stimmen in folgenden drei Punkten überein: 1) Apg 15,1 und Gal 2,3f. stimmen darin überein, dass es im Vorfeld des Konflikts Diskussionen über die Frage der Beschneidung von Heidenchristen gab: In Gal 2,3f. erfahren wir das zwar erst nachklappend nach der Notiz über den Apostelkonvent, aber an der Frage der Beschneidung des Titus angeknüpft und den Grund für das Aposteltreffen angebend.
490 491
492
(wahrscheinlich ist das MtEv in Antiochia oder zumindest in Syrien entstanden, so Luz, Matthäus I, 73f.). Weiters zum Herrenbruder Jakobus und Petrus: Gielen, Kephas, 93–131. Vgl. Kollmann, Philippus, 551. Syrien könnte hier totum pro parte für Antiochia stehen und Kilikien für Tarsus, die Heimatstadt des Paulus. Vgl. Zugmann, Hellenisten, 65f. Ähnlich auch Strabon 16,2,5. B.J. 2,479 berichtet, dass bei den Tumulten zu Beginn des Jüdischen Kriegs von allen Städten in Syrien lediglich in Antiochia, Sidon und Apamea keine Pogrome gegen Juden stattgefunden hätten – nicht zuletzt auch, weil die Zahl der dort lebenden Juden so beträchtlich gewesen sei.
240
III. Gruppierungen des Frühjudentums
2) Apg 15,2–33/Gal 2,1–9 stimmen darin überein, dass der Apostelkonvent die beschneidungsfreie Heidenmission gebilligt hat. In den Details allerdings weichen die Darstellungen ab, Paulus schreibt in Gal 2,1–10: 1 Vierzehn Jahre später ging ich wieder nach Jerusalem hinauf, zusammen mit Barnabas; ich nahm auch Titus mit. 2 Ich ging hinauf aufgrund einer Offenbarung, legte der Gemeinde und im Besonderen den „Angesehenen“ das Evangelium vor, das ich unter den Heiden verkündige; ich wollte sicher sein, dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin. 3 Doch nicht einmal mein Begleiter Titus, der Grieche ist, wurde gezwungen, sich beschneiden zu lassen. … 6 Aber auch von denen, die Ansehen genießen – was sie früher waren, kümmert mich nicht, Gott schaut nicht auf die Person –, auch von den „Angesehenen“ wurde mir nichts auferlegt. 7 Im Gegenteil, sie sahen, dass mir das Evangelium für die Unbeschnittenen anvertraut ist wie dem Petrus für die Beschnittenen – 8 denn Gott, der Petrus die Kraft zum Aposteldienst unter den Beschnittenen gegeben hat, gab sie mir zum Dienst unter den Heiden –, 9 und sie erkannten die Gnade, die mir verliehen ist. Deshalb gaben Jakobus, Kephas und Johannes, die als die „Säulen“ Ansehen genießen, mir und Barnabas die Hand zum Zeichen der Gemeinschaft: Wir sollten zu den Heiden gehen, sie zu den Beschnittenen. 10 Nur sollten wir an ihre Armen denken; und das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht.
Paulus erwähnt, dass es bei diesem Treffen mit den „Angesehenen“ der Jerusalemer Gemeinde zu einer Aufteilung des Arbeitsgebietes kam: Paulus geht zu den Heiden, die Jerusalemer bleiben bei den „Beschnittenen“. Das Einzige, was Paulus nach seinem Bericht auferlegt wurde, war die Armenfürsorge der Jerusalemer Gemeinde – dies hat Paulus mit seiner Kollekte tatsächlich gewissenhaft beachtet. Der Bericht der Apostelgeschichte nennt hier aber eine andere Kompromissformel: 15,28 Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: 29 Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu meiden. Wenn ihr euch davor hütet, handelt ihr richtig. Lebt wohl!
Diese gerne als „Jakobusklauseln“ bezeichneten Vorschriften kennt Paulus in seiner Darstellung des Apostelkonvents nicht. Wahrscheinlich ist, dass diese Klauseln auch gar nicht beim Apostelkonvent erlassen wurden, sondern aus einem Folgeproblem entstanden, das zuvor noch gar nicht bedacht worden war, nämlich der Frage von Reinheitsvorschriften im Falle der Tischgemeinschaft von Judenund Heidenchristen. 3) Übereinstimmend berichten beide Darstellungen, dass es nach dem Apostelkonvent zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Paulus und Barnabas kam (Gal 2,13/Apg 15,36– 40: V 39: παροξυσμός). Als Grund dafür nennt Apg 15,37 einen Streit um Johannes Markus, Gal 2,11–14 allerdings: 11 Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, habe ich ihm ins Angesicht widerstanden, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte. 12 Bevor nämlich einige von Jakobus eintrafen, hatte er mit den Heiden zusammen gegessen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete. 13
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
241
Und mit ihm heuchelten die anderen Juden, sodass auch Barnabas durch ihre Heuchelei mitgerissen wurde. 14 Als ich aber sah, dass sie nicht gerade auf die Wahrheit des Evangeliums zugingen, sagte ich zu Kephas in Gegenwart aller: Wenn du als Jude nach Art der Heiden und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen, wie Juden zu leben?
Petrus (hier aram. Kephas) war nach der Verfolgung durch Agrippa I. (42/43 n. Chr.) nicht mehr regelmäßig in Jerusalem. So führte ihn sein Weg wohl knapp nach dem Apostelkonvent nach Antiochia. Dort hielt er Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen. Dies war auch unvermeidlich, da nach 1Kor 11,20–34 das Liebesmahl, die Agape, integraler Bestandteil der Eucharistiefeier war. Wenn Petrus mit der antiochenischen Gemeinde Eucharistie feiern wollte, musste er zwangsläufig auch mit den Heidenchristen essen. Dies führte allerdings dazu, dass Petrus bei diesen Mählern die jüdischen Speisevorschriften – die nach dem Beschluss des Apostelkonventes (wie ihn Paulus beschreibt) ja nicht für Heidenchristen galten – nicht mehr einhalten konnte. Petrus scheint diesen Sachverhalt zunächst stillschweigend in Kauf genommen zu haben. Erst als τινας ἀπὸ Ἰακώβου, „einige von Jakobus“,493 in Antiochia eingetroffen waren, zog sich Petrus von diesen Mählern zurück – und kündigte damit nicht weniger als die eucharistische Gemeinschaft mit den Antiochenern auf! Offensichtlich genierte sich Petrus vor den Jakobusleuten für sein Abgehen von den Speisevorschriften – was ihm Paulus polemisch als „Heuchelei“ vorwirft. Tatsächlich aber war die Frage der gemischten Tischgemeinschaft von Juden- mit Heidenchristen noch gar nicht verhandelt worden, der Streit musste mit einem neuen Kompromiss beigelegt werden, den sogenannten „Jakobusklauseln“, die Apg 15,28f. anachronistisch gleich dem Apostelkonvent zurechnet. In Wirklichkeit aber waren diese eine spätere regula conviventiae, die solche Fälle regelte und das gemeinsame Mahlhalten zwischen Juden- und Heidenchristen ermöglichte.494 Damit war der Antiochenische Konflikt ein „Folgeproblem, das in Jerusalem weder laut Gal 2,1–10 noch laut Apg 15 diskutiert worden war“, nämlich das „Zusammenleben und Zusammenessen in gemischten Gemeinden.“495 Lk verschweigt die offene Eskalation zwischen Paulus und Petrus, da er 493
494
495
Der Herrenbruder Jakobus war gemäßigt konservativ: Einerseits trägt er die Beschlüsse des Apostelkonvents mit, dass Heidenchristen frei sind von Beschneidung und Kaschrut, andererseits insistiert er – ebenfalls in Einklang mit dem Apostelkonvent – auf der vollen Toraobservanz für Judenchristen. Die „Jakobusleute“ dürfen daher nicht mit „Judaisten“ gleichgesetzt werden, die die Beschneidung von Heidenchristen forderten (vgl. Apg 15,1; Gal 2,4), denn sie fordern nur die Einhaltung der Kaschrut vom Judenchristen Petrus – auch bei der Tischgemeinschaft mit Heidenchristen. Dazu: Pratscher, Jakobus, 80–85; Gielen, Kephas, 115. Zu „Judaisten“: Betz, Art. Judaisten, 1006. Vgl. Pratscher, Jakobus, 84 und 87; Söding, Apostel, 107; Löhr, Speisenfrage, 28–30; Gielen, Kephas, 113. Söding, Apostel, 100. Gielen, Kephas, 115: „Allerdings waren in Jerusalem keine weitergehenden Vereinbarungen über die praktischen Konsequenzen … getroffen worden.“
242
III. Gruppierungen des Frühjudentums
die Gräben zwischen Juden- und Heidenchristen überbrücken möchte. Daher rückt er seinen Paulus auch möglichst nahe an das Judentum, seine Apg ist eine Art „Paulusapologie“496 (s.u. V.13). Wahrscheinlich haben sich Paulus und Barnabas aufgrund des Antiochenischen Konflikts miteinander überworfen,497 wie ja auch Gal 2,13 berichtet. Wahrscheinlich hielt Barnabas in Antiochia zu Petrus, der hier zu Unrecht so heftig von Paulus attackiert wurde. In seinen glättenden Tendenzen schützt Lk in Apg 15,37f. einen persönlichen Konflikt um Johannes Markus vor, um die Spannungen zwischen den Lagern zu verschleiern. Damit legt sich folgender chronologischer Ablauf nahe: Jesus starb 30 n. Chr., die Bekehrung des Paulus kann man wohl mit 32 n. Chr. ansetzen. Nach Gal 1,18 und 2,1 ging Paulus sechzehn oder siebzehn Jahre nach seiner Bekehrung zum Apostelkonvent nach Jerusalem, also im Jahr 48/49 n. Chr. Den Antiochenischen Zwischenfall wird man entweder kurz danach datieren müssen, also noch 49 n. Chr., oder erst 52 n. Chr.498 Hier wird deutlich, dass man besser von einem „Apostelkonvent“ und nicht von einem „Apostelkonzil“ sprechen sollte. Denn die Darstellung nach Apg 15,6 („die Apostel und die Ältesten traten zusammen, um die Frage zu prüfen“) ist hypertroph: Paulus berichtet in Gal 2,1–10 nur von einem Treffen mit den „Angesehenen“ und am Ende wird erwähnt, dass „Jakobus, Kephas und Johannes, die als die Säulen Ansehen genießen“, Paulus und Barnabas „die Hand zum Zeichen der Gemeinschaft“ gaben. Streng genommen handelte sich also auch nur bedingt um einen „Apostelkonvent“, sondern „um eine Beratung der von der Gemeinde Antiochiens Entsandten, Paulus und Barnabas, mit den Repräsentanten der Gemeinde von Jerusalem …“499 Klar wird auch, dass die Teilnehmer des Apostelkonvents nicht an eine Verselbständigung der Völkermission dachten, sondern lediglich an eine Aufteilung des Missionsgebiets in Völkermission und Sendung zu den Beschnittenen (Gal 2,9). Mit M. Theobald könnte man urteilen: 500 Manches hatten sie nicht zu Ende gedacht, vor allem nicht die Frage der gemeinsamen Mahlpraxis von jüdischen und paganen „Christen“ in gemischten Gemeinden. Auch konnten sie nicht ahnen, welche Dynamik die Mission in Kleinasien, Griechenland und dann im Westen des Imperium Roman gewinnen würde, ganz zu schweigen davon, dass die Kirche in Bälde ein „heidenchristliches“ Gesicht erhalten sollte. Unter den Vorzeichen der sog. „Naherwartung“ sah alles anders aus.
496 497 498
499 500
Wasserberg, Mitte, 365. Vgl. Söding, Apostel, 92–113. Vgl. Gnilka, Paulus, 106. Anders Konradt, Datierung, 24. So Konradt, Datierung, 19–39: Apg 15 referiere nur den Apostelkonvent, Apg 18,22 hingegen den Antiochiabesuch, bei dem der Zwischenfall erfolgt (im Jahr 52, zwischen zweiter und dritter Missionsreise), den Lk hier allerdings verschweigt. Ähnlich Gielen, Kephas, 95; Schwemer, Antiochien, 161.175f.; Hengel, Petrus, 93–95; Öhler, Barnabas, 63f.78.448f., u.a. Frankemölle, Frühjudentum, 258. Theobald, Christus, 98f.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
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Der „Apostelkonvent“ verstand sich nicht als epochemachendes „Konzil“, sondern lediglich als pragmatische Übereinkunft zwischen der Jerusalemer Muttergemeinde und der Gemeinde von Antiochia. Unter der Erfahrung des Pfingstgeistes, der nach Joel 3,1/Apg 2,17 (Geistausgießung über „alles Fleisch“) als Zeichen der Endzeit gedeutet wurde, fühlte man sich berechtigt, die Visionen von der Beteiligung der Völker am Heil der Endzeit (Jes 2,2–5; 60,3; Mi 4,2f.) als eingetreten zu bewerten. Mit organisatorischen Detailfragen hielt man sich dabei nicht auf – die würde der wiederkehrende Herr im unmittelbar bevorstehenden Eschaton klären, nachdem auch Nichtjuden Anteil an der Verheißung erhalten haben. Dass diese Dynamik – nicht zuletzt nach dem Fall von Jerusalem und dem damit verschwundenen Zentrum des Judenchristentums – zum Wegfall des judenchristlichen Flügels und zur Dominanz des Heidenchristentums führen würde, konnte damals niemand ahnen. Tragisch allerdings ist, dass den Judenchristen die Offenheit für die beschneidungsfreie Heidenmission später von Heidenchristen nicht gedankt wurde: Bald galt Kirchenvätern (s.o. I.2.2.5) die Bekämpfung der Judenchristen als Anliegen vermeintlicher „Orthodoxie“. 10.4.3
Paulus als Gründer des Christentums?
Das Konzept der beschneidungsfreien Heidenmission war also in Antiochia systematisch ausgebaut worden. Doch erst ab dem Moment, als Paulus, abgesandter Missionar der antiochenischen Gemeinde (Apg 13,1–3), dieses Modell in den gesamten östlichen Mittelmeerraum exportierte, wurde es zum Erfolgsmodell. War Paulus damit der eigentliche „Gründer“ des Christentums?501 Die Frage ist klar zu verneinen, Paulus war weder der „Begründer“ noch der „zweite Gründer“ des Christentums. Er ist vielmehr „Tradent christlicher Überzeugungen, die vornehmlich in Antiochia, aber auch in Jerusalem, Damaskus oder in Tarsus ausgebildet worden sind.“502 Er selbst steht in einem Traditionskontinuum zu den „Hellenisten“ und diese wiederum greifen frühjüdische Konzeptionen auf (s.u. V.8). 10.4.4
Paulus und die „Gottesfürchtigen“
Der große Erfolg, der Paulus und seiner Mission zuteilwerden sollte, bestand darin, dass viele nichtjüdische Sympathisanten des Judentums, die sogenannten „Gottesfürchtigen“,503 einen Vollübertritt zum Judentum mit Beschneidung und
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Vgl. zu dieser Frage Horn, Paulus, 31–44. Horn, Paulus, 38, ebenso Theobald, Christus, 104. Der Begriff ist ein modernes Konstrukt, zurückgehend auf das griech. φοβούμενοι oder σεβόμενοι mit oder ohne τὸν θεόν und θεοσεβεῖς; lat.: metuentes; hebr. יראי שמים, Ausdrücke, die in den antiken Quellen einen viel weiteren Bedeutungsspielraum hatten. Dazu:
244
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Übernahme der Reinheitsvorschriften nicht wagen konnten. Bei solch einem Schritt wäre sonst ihre berufliche Karriere unmöglich geworden und ihre familiären und freundschaftlichen Bande abgebrochen. Neben dem Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8,5–13/Lk 7,1–10) nennt das NT als weitere Gottesfürchtige auch den Hauptmann Kornelius von Caesarea (Apg 10), Titius Justus (Apg 18,7) oder die Purpurhändlerin Lydia aus Thyatira (Apg 16,14). Das Judentum übte damals auf viele Menschen, die eine Alternative zum depravierten Staatskult suchten, eine enorme Anziehungskraft aus, obendrein waren der soziale Zusammenhalt und die Armenfürsorge im Judentum vorbildlich.504 Diesen Gottesfürchtigen, denen bislang nur eine „Mitgliedschaft zweiter Ordnung“505 im Judentum offenstand, offerierte das Christentum nun auch ohne Beschneidung und Reinheitsvorschriften eine Vollmitgliedschaft in einer Art Reformjudentum zum ermäßigten Preis.506 Im Christentum konnten nun auch Nichtjuden ihrer Herkunft kulturell und ethnisch treu bleiben, da ja nach Gal 3,28 galt: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.
10.4.5
Paulus als persona non grata in jüdischen Gemeinden
Wahrscheinlich ist der große Erfolg, der der Mission des Paulus beschieden war, nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass er viele der zuvor genannten Gottesfürchtigen auf seinem Zug durch die Synagogen des östlichen Mittelmeerraumes „abschöpfte“. Ohne Zweifel war auch das dichte jüdische Sozialnetz in logistischer Hinsicht für den Erfolg der paulinischen Mission wichtig. Indem er die jeweiligen Synagogen aufsuchte, hatte er automatisch sozialen Anschluss vor Ort, eine Gelegenheit zum Übernachten und bekam obendrein unmittelbaren Kontakt zum Zielpublikum seiner Mission – Juden und Gottesfürchtige. Wie viele der Juden sich der Botschaft des Paulus anschlossen, bleibe dahingestellt, ebenso, wie viele „echte Heiden“ Paulus bekehrte. Man sollte Paulus nicht unterstellen, dass er nur Gottesfürchtige und gar keine „richtigen Heiden“ bekehrt habe.507 Auf jeden Fall aber hatte die Botschaft des Paulus für die Gottesfürchtigen eine große Attrakti-
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507
Kraemer, Godfearers, 61–87; Lieu, God-fearers, 483–501; Frederiksen, Judaizing, 232–252; dies., Question, 175–201; Schröter, Paul, 110. Zu Paulus: Reiser, Paulus, 84f. Zur Armenfürsorge in der jüdischen Diaspora vgl. Berger, Diakonie, 94–105. Frey, Paulus, 267. Vgl. Frankemölle, Frühjudentum, 428: „Für nichtjüdische ‚Gottesfürchtige‘ und mit dem Judentum sympathisierende Griechen und Römer erschien das hellenistische Juden- und Heiden-Christentum wohl ‚als die für sie persönlich realisierbare Form des Judentums‘“ (mit einem Zitat von G. Stemberger). So Reiser, Paulus, 87 und 91, der aber richtig sieht, wie Paulus das Netz der jüdischen Synagogen für seine Zwecke ausnutzte.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
245
vität, ihnen ist der Haupterfolg der paulinischen Mission geschuldet. Die Benutzung der jüdischen Infrastruktur durch Paulus und sein Abwerben der Gottesfürchtigen mussten von jüdischer Seite als ein hostile takeover verstanden werden.508 Dass Paulus in vielen jüdischen Gemeinden als persona non grata gesehen wurde, wird von daher verständlich. Obendrein muss man bedenken, dass Paulus mit seinem Missionseifer auch das fragile Gleichgewicht zwischen Diasporajuden und der nichtjüdischen Obrigkeit durcheinanderbrachte, wie Apg 19,23–40, der „Aufruhr in der Silberschmiede“, verdeutlicht (s.o. I.2.2.4).509 Paulus wird von den Silberschmieden als Jude kategorisiert, der Tumult richtet sich gar nicht gegen eine eigenständige Gruppe von „Christen“, sondern gegen das Judentum von Ephesus, als deren Untergruppe die ersten Christen betrachtet wurden. Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, dass Juden in Ephesus Paulus keine Sympathien entgegenbrachten (Apg 20,3). Situationen wie diese mögen die Trennung zwischen Juden und Christen beschleunigt haben, doch waren das praktische Gründe, keine theologischen. 10.4.6
Die Religionspolitik des Claudius
Ähnlich wie in Ephesus brechen auch in Rom Konflikte zwischen Juden und Christen auf – wobei auch hier die Christen von römischer Seite als Teil des Judentums wahrgenommen werden. Josephus berichtet in A.J. 19,280–291 von zwei Edikten des Claudius, die im Kern (wenn auch nicht in dem geschönten Tonfall des Josephus) authentisch sind und den Juden in Alexandria und reichsweit die Privilegien der freien Religionsausübung zugestehen.510 Diese Edikte müssen aus der unheilvollen Vorgeschichte der Caligulakrise verstanden werden. Im ersten Edikt sichert Claudius den Juden Alexandrias die vor der Caligulakrise innegehabten Privilegien wieder zu, ermahnt aber auch beide Streitparteien πλείστην ποιήσασθαι πρόνοιαν ὅπως μηδεμία ταραχὴ γένηται („große Vorsorge zu treffen, auf dass kein Tumult entsteht“, A.J. 19,285). Mit anderen Worten: Claudius sichert freie Religionsausübung nur unter der Bedingung zu, dass Ruhe und Frieden herrschen. Dazu passt gut, was Suetonius über die Herrschaftszeit dieses Kaisers schreibt (DeVitCaes/Claudius 25,4): Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultantis Roma expulit. Die Juden, die sich von Chrestos ständig zu Unruhen anstiften ließen, vertrieb er aus Rom.
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509 510
Vgl. Frey, Paulus, 267: „Seine Mission unter den Sympathisanten der Synagogen machte diesen zugleich einen wichtigen Kreis paganer Förderer und Unterstützer streitig ...“ Vgl. dazu Tiwald, Ephesus, 135f. Ebenso Frey, Paulus, 267. Vgl. dazu auch Ebner, Stadt, 89. Vgl. Kollmann, Einführung, 99.
246
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Die Tumulte unter den Juden in Rom liefen der Religionspolitik des Claudius klar zuwider. Das wahrscheinlichste Datum für dieses Edikt ist 49 n. Chr.,511 strittig ist allerdings, ob Claudius alle Juden aus Rom vertrieb, oder nur jene, die sich von „Chrestos“ zu Unruhen anstiften ließen. Nach Apg 18,2 hatte Claudius πάντας τοὺς Ἰουδαίους, „alle Juden”, aus Rom vertrieben, doch wäre das rein logistisch nicht zu exekutieren gewesen. Mit „Chrestos“ ist wohl (Jesus) Christus gemeint, „den Sueton offenbar für einen in Rom lebenden jüdischen Aufrührer hielt … zumal [auch] Tacitus die Christen als Chrestianer bezeichnet (Ann 15,44)“512 (zum Tacituszitat s.u. III.10.4.8). Chrēstos (χρηστός, der „Nützliche/Tüchtige“) war ein beliebter Sklavenname. Wahrscheinlich waren unter den ersten Christen Roms auch etliche Sklaven,513 so erklärt sich die Namensverwechslung. Interessant ist, dass zu dieser Zeit „die ersten Christen in Rom noch eindeutig als Teil des Judentums wahrgenommen“514 wurden. Die Tumulte dürften damit als Streitfragen zwischen Juden und Judenchristen zu definieren sein, die sich am Glauben an Jesus „Christus“ entzündet hatten.515 Wahrscheinlich wurden auch nicht alle Judenchristen aus Rom ausgewiesen, sondern nur einige Rädelsführer, darunter das missionarisch aktive Ehepaar Priska/Priscilla und Aquila.516 Nach der Vertreibung wanderten diese nach Korinth, wo sie mit Paulus zusammentrafen (Apg 18,2; vgl. 1Kor 16,19). Das Claudiusedikt wurde mit dem Tod des Kaisers 54 n. Chr. hinfällig. Als Paulus seinen Römerbrief kurz darauf verfasste, zeigt die Grußliste in Röm 16,3 Priska und Aquila wieder in Rom. Das Claudiusedikt ist gemeinsam mit der Gallio-Inschrift ein wichtiger historischer Anker für die Paulus-Chronologie. Nach Apg 18,12 befand sich Paulus zu der Zeit, „als aber Gallio Prokonsul von Achaia war“, in Korinth. Die Amtszeit des Lucius Gallio, eines Bruders Senecas, lässt sich durch einen inschriftlich bezeugten Brief des Kaisers Claudius an die Stadt Delphi, (die „Gallio-Inschrift“), relativ genau bestimmen, da darin die 26. Ausrufung des Claudius zum Imperator genannt wird. Da die 27. Akklamation am 1. August 52 bereits vollzogen war, „ergibt sich für Gallio die für den Prokonsul einer senatorischen Provinz übliche einjährige Amtszeit vom Frühsommer 51 bis zum Frühsommer 52.“517 Paulus hat nach Apg 18,11 eineinhalb Jahre in Korinth gewirkt, er könnte demnach 50 n. Chr. nach Korinth gekommen sein, knapp nachdem die 49 n. Chr. aus Rom vertriebenen Priska und Aquila dort eingetroffen waren. 511 512 513 514 515
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Zur Datierung vgl. Schnelle, Paulus, 30, und Theißen, Verfolgung, 275. Kollmann, Einführung, 100. Philon Legat. 155 berichtet, dass in Rom etliche jüdische freigelassene Sklaven lebten. Theißen, Paulus, 239. Vgl. dazu Theißen, Verfolgung, 276, der aber einschränkt, dass diese „bestechende Interpretation … nicht ganz sicher“ ist. Vgl. Kollmann, Einführung, 100. Schnelle, Paulus, 31.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
10.4.7
247
Kollektenübergabe und Gefangennahme des Paulus
In die letzte Phase der Amtszeit des Felix fällt die Überbringung jener Kollekte, die Paulus unter den Christen Achaias für die Muttergemeinde in Jerusalem eingehoben hatte (Röm 15,26; Gal 2,10; 1Kor 16,1–4; 2Kor 8–9) und zum Pfingstfest 56 (Apg 20,16) übergeben wollte. Grund für diese Kollekte waren die Beschlüsse des Apostelkonvents, der darin nicht nur eine ökonomische Unterstützung der Jerusalemer Muttergemeinde, sondern auch den Ausdruck der Zusammengehörigkeit zwischen Heidenchristen und Judenchristen sah.518 Wahrscheinlich wurde die Kollekte von der Jerusalemer Urgemeinde nicht oder nur mit Vorbehalten angenommen, was auch erklären würde, warum Lukas in seiner Apostelgeschichte dieses konfliktgeladene Thema größtenteils übergeht.519 Wir erfahren jedenfalls nur in Apg 24,17, dass das Geld in Jerusalem angekommen sein muss. Nach Apg 21,23– 26 wurde zumindest ein Teil des Geldes dafür aufgewendet, für vier Jerusalemer Gemeindemitglieder die Kosten zur Erfüllung eines Nasiräatsgelübdes zu übernehmen. Vielleicht war dies der Kompromiss, unter dem sich die Jerusalemer gewillt zeigten, das Geld anzunehmen.520 In jedem Fall hatte sich im immer stärker werdenden jüdischen Nationalismus, der eine Folge der Widerstandbewegung gegen die Römer war, in Jerusalem ein theologisch konservatives Klima eingestellt, das in der liberalen Gesetzesinterpretation des Paulus einen Affront sehen musste. Auch die Jerusalemer Urgemeinde, die sich ja nach wie vor als integraler Teil des Judentums verstand, sah sich nicht allzu gerne mit dem liberalen Paulus konfrontiert. Apg 21,18–24 gibt – trotz aller Tendenzen des Lukas – den Sachverhalt im Kern treffend wieder: 18 Am folgenden Tag ging Paulus mit uns zu Jakobus; auch alle Ältesten fanden sich ein. 19 Er begrüßte sie und berichtete im Einzelnen alles, was Gott durch seinen Dienst unter den Heiden getan hatte. 20 Als sie das hörten, priesen sie Gott und sagten zu ihm: Du siehst, Bruder, wie viele Tausende unter den Juden gläubig geworden sind, und sie alle sind Eiferer für das Gesetz. 21 Nun hat man ihnen von dir erzählt: Du lehrst alle unter den Heiden lebenden Juden, von Mose abzufallen, und forderst sie auf, ihre Kinder nicht zu beschneiden und sich nicht an die Bräuche zu halten. 22 Was nun? Sicher werden sie hören, dass du gekommen bist. 23 Tu also, was wir dir sagen: Bei uns sind vier Männer, die ein Gelübde auf sich genommen haben. 24 Nimm sie, und weihe dich zusammen mit ihnen; trag die Kosten für sie, damit sie sich das Haar abscheren lassen können! So wird jeder einsehen, dass an dem, was man von dir erzählt hat, nichts ist, sondern dass auch du das Gesetz genau beachtest.
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Vgl. Koch, Geschichte, 323. Zur gesamten Thematik vgl. Koch, Geschichte, 321–334; Weihs, Gott, 164–188; Kloppenborg, Collection, 153–198. Vgl. die Argumentation bei Konradt, Datierung, 31; Kollmann, Einführung, 106. Wo Apg 11,27–30 chronologisch zuzuordnen ist, bleibt völlig unsicher (Weihs, Gott, 167). Vgl. Koch, Geschichte, 334; Kollmann, Einführung, 106; Sänger, Kollekte, 282.
248
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Wenn schon die Kollektenübergabe durch Paulus letztlich gescheitert war, so wurde die Präsenz des Paulus in Jerusalem zum Debakel. Es verbreitete sich das Gerücht, Paulus habe den aus Ephesus stammenden Heidenchristen Trophimos in den nur Juden vorbehaltenen Tempelbezirk geführt (Apg 21,28f.). Solch ein Sakrileg ist Paulus aus Sicht des Historikers nicht zu unterstellen. Fakt ist allerdings, dass die damaligen jüdischen Autoritäten Paulus diese Freveltat zutrauten – kein Wunder bei den über Paulus kursierenden Gerüchten (s.o. den Text der Apg).521 Im nun entstehenden Tumult hätte man Paulus fast gelyncht, wenn ihn nicht römische Soldaten gerettet und nach Caesarea zum Amtssitz des Felix verbracht hätten. Dort verschleppte man den Prozess, offensichtlich wollte Felix die heikle Materie nicht angehen. Schließlich musste sich nach der Absetzung des Felix sein Nachfolger Festus um das Verfahren kümmern. 10.4.8
Nero (reg. 54–68 n. Chr.) und die Christen
Paulus fürchtete offensichtlich, von Festus (60–62 n. Chr.) als Bauernopfer für den Frieden mit konservativ-jüdischen Kreisen preisgegeben zu werden. Daher appellierte er an den Kaiser, wie ihm das als römischer Bürger (s.u. V.9.1.1) möglich war (Apg 24,27 – 25,12). Apg 27–28 berichtet dann von der Überführung des Paulus von Caesarea nach Rom und dem Schiffbruch vor Malta nebst Überwinterung dort.522 In Rom herrschte Kaiser Nero (37–68 n. Chr.). Hier wurde nun das Verfahren gegen Paulus neu aufgenommen. Apg 28,30f. berichtet davon, dass Paulus zwei Jahre in einer eigenen Mietwohnung habe leben können (sozusagen unter Hausarrest) und er dort „lehrte über Jesus Christus, den Herrn – mit allem Freimut, ungehindert.“ Diese Darstellung entspringt der geschichtstheologischen Sicht des Lukas,523 der aufgrund seiner pro-römischen Tendenzen die Hinrichtung des Paulus nicht erwähnt, obwohl dessen Ende schon in der Abschiedsszene von Milet anklingt (Apg 20,23–25; V 25: „Und siehe, ich weiß, dass ihr mich nicht mehr von Angesicht sehen werdet, ihr alle, zu denen ich gekommen bin und denen ich das Reich verkündet habe“). Trotz der Hinrichtung des Paulus ist der Römische Staat für Lukas ein Rechtsstaat (vgl. Apg 18,12–17; 25,18f.), dem man vertrauen kann, auch wenn es unter Nero einen einmaligen „Ausrutscher“ gegeben haben mag.524 Die Situation unter Nero wird uns gut in zwei Texten von Tacitus und Suetonius vor Augen geführt.525 Tacitus schreibt in den Annalen 15,44,2–5: 521
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Vgl. Kollmann, Einführung, 107. Ebenso Konradt, Datierung, 32, der von einer heftigen Mundpropaganda gegen Paulus ausgeht. Zu den Details der Reise und der Frage nach der historischen Zuverlässigkeit des lk Berichts vgl. Koch, Geschichte, 356–360. Vgl. Gnilka, Paulus, 307; Koch, Geschichte, 361. Vgl. Koch, Geschichte, 363. Vgl. Heemstra, Fiscus, 87–93.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
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2 Aber nicht durch menschliche Hilfeleistung, nicht durch die Spenden des Kaisers oder die Maßnahmen zur Beschwichtigung der Götter ließ sich das böse Gerücht unterdrücken, man glaubte vielmehr fest daran: befohlen worden sei der Brand. Daher schob Nero, um dem Gerede ein Ende zu machen, andere als Schuldige vor und belegte sie mit ausgesuchtesten Strafen, die wegen ihrer Schandtaten verhaßt, vom Volk Chrestianer genannt wurden (quos per flagitia invisos vulgus Chrestianos appellabat: Chrestianos, Akkusativ von Chrestiani). 3 Der Mann, von dem sich dieser Name herleitet, Christus (Christus), war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden; und für den Augenblick unterdrückt, brach der unheilvolle Aberglaube (supersitio) wieder hervor, nicht nur in Judäa, dem Ursprungsland dieses Übels (mali), sondern auch in Rom, wo aus der ganzen Welt alle Greuel und Scheußlichkeiten zusammenströmen und gefeiert werden. 4 So verhaftete man zunächst diejenigen, die ein Geständnis ablegten, dann wurde auf ihre Anzeige hin eine ungeheure Menge nicht so sehr des Verbrechens der Brandstiftung als einer haßerfüllten Einstellung gegenüber dem Menschengeschlecht (odio humani generis) schuldig gesprochen. Und als sie in den Tod gingen, trieb man noch seinen Spott mit ihnen in der Weise, daß sie in die Felle wilder Tiere gehüllt, von Hunden zerfleischt umkamen oder, ans Kreuz geschlagen und zum Feuertod bestimmt, sobald sich der Tag neigte, als nächtliche Beleuchtung verbrannt wurden.
Tacitus berichtet, dass Nero die Christen als Sündenböcke für den Brand Roms missbraucht habe. Der Historiker bezeichnet die Christen hier als „Chrestianer“, ähnlich wie Suetonius (DeVitCaes/Claudius 25,4) berichtet, dass unter Claudius impulsore Chresto Iudaeos assidue tumultantis, „durch Anstiftung von Chrestos die Juden [sc. Roms] beständig Unruhe stifteten“ (s.o. III.10.4.6). Hier wird der Name „(Jesus) Christus“ mit dem griechischen Sklavennamen „Chrestos“ (χρηστός; der „Nützliche“) verwechselt, den Suetonius „offenbar für einen in Rom lebenden jüdischen Aufrührer hielt …“526 Bei Tacitus, der etwa zeitgleich (besser: kurz vor Suetonius) schreibt, ist zwar der Name „Christus“ richtig wiedergegeben, allerdings die Bezeichnung Chrestiani statt Christiani verwendet. Wahrscheinlich rekrutierten sich damals viele Christen aus dem Sklavenstand, sodass sich die Verwechslung mit dem Sklavennamen „Chrestos“ nahelegt.527 Auch Suetonius weiß in DeVitCaes/Nero 16,2 über eine Verfolgung von Christen unter der Herrschaft des Nero zu berichten: Afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis novae ac maleficae; Ganz schwer setzte man den Christen mit Martern [sc.: supplicium kann auch die Todesstrafe sein!] zu; dieser Menschenschlag hing einem neuartigen und schädlichen Aberglauben an.
Bei Suetonius wird die Verfolgung der Christen allerdings nicht mit dem Brand Roms (64 n. Chr.) in Verbindung gebracht, sondern als eine lobenswerte Maß-
526 527
Kollmann, Einführung, 100. Vgl. Theißen/Merz, Jesus, 89.
250
III. Gruppierungen des Frühjudentums
nahme des Kaisers gegen die Ausbreitung des „neuartigen und schädlichen Aberglaubens“ berichtet.528 1Klem 5,5–7, das älteste Zeugnis vom Märtyrertod des Paulus529 (sieht man von den indirekten Hinweisen in Apg 20,23–25 ab), berichtet nichts von der Christenverfolgung unter Nero. Tacitus und Suetonius stimmen allerdings darin überein, dass es eine solche gab – gleich, ob in Verbindung mit dem Brand Roms oder ohne. Daraus legt sich nahe, dass Paulus wohl im Zuge der Neronischen Christenverfolgung das Martyrium erlitten hat.530 Petrus könnte ebenfalls im Zuge dieser Verfolgung in Rom den Bekennertod für Christus gestorben sein.531 Die Neronische Christenverfolgung war nur auf Rom beschränkt und auch zeitlich begrenzt. In Verbindung mit dem Brand Roms wäre solch eine Maßnahme tatsächlich am ehesten zu verstehen.532 Die Frage, inwieweit sich mit dem Petersdom und San Paolo fuori le mura authentische Traditionen der Apostelgräber erhalten haben, ist intensiv diskutiert worden und muss offen bleiben.533 10.4.9
Die Herrschaft des Domitian (81–96 n. Chr.)
Eine früher häufig vertretene Meinung sah hinter den harschen antirömischen Aussagen der Johannes-Offenbarung eine Zuspitzung des Kaiserkults unter Domitian, aus der entsprechende Christenverfolgungen resultierten.534 Allerdings wird 528 529
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Vgl. Theißen/Merz, Jesus, 88. Das Argument von Zwierlein, Rom, 17, dass in 1Klem gar nicht der Märtyrertod von Paulus und Petrus erwähnt würde, sondern nur ihre „Ausdauer im Leid“ (5,5.7), ist nur bedingt nachzuvollziehen. In 5,2 ist vom „Kampf bis zum Tode“ (ἕως θανάτου ἤθλησαν) der „Säulen“ (vgl. Gal 2,9) die Rede, die in 5,3 als „Apostel“ und in 5,4 als „Petrus“ und 5,5 als „Paulus“ benannt werden. Auch wenn diese Stelle nur auf die Ausdauer bis in die Todesstunde auch ohne Martyrium verweisen könnte, ist der ganze Kontext doch in Richtung Martyrium prädisponiert. Zwar muss das von Petrus ausgesagte μαρτυρήσας, martyrēsas (5,4) hier tatsächlich als Glaubenszeugnis und noch nicht als Blutzeugnis gewertet werden (so zu Recht Zwierlein, Rom, 15f.), doch bringt ihn dieses Zeugnis „an den ihm gebührenden Ort der Herrlichkeit“. Parallel dazu wird auch Paulus durch das von ihm ausgesagte μαρτυρήσας, martyrēsas (5,7) „weggenommen von dieser Welt und ging ein in den heiligen Ort.“ So Schnelle, Paulus, 431. Anders Koch, Geschichte, 364, der den Tod des Paulus auf den Beginn der 60er Jahre datiert: „Ein zeitlicher Zusammenhang mit der Neronischen Verfolgung 64 n. Chr. ist nicht sichtbar.“ Theißen, Unglücksstifter, 242, überlegt, ob Nero nicht erst „durch die Appellation des Paulus [an den Kaiser] auf die Christen aufmerksam geworden ist – und erst dadurch später auf den Gedanken kommen konnte, den Verdacht der Brandstiftung auf sie abzulenken.“ Vgl. Kollmann, Einführung, 109. Vgl. Kollmann, Einführung, 109. Vgl. Zangenberg, Gebeine, 108–138. Dazu auch Jäggi, Zeugnisse, 306–322; Koch, Geschichte, 601–603 und 606–611. Vgl. den Überblick bei Klauck, Sendschreiben, 154, und bei Backhaus, Vision, 19–21. Weiters Tiwald, Pluralität, 136f. Zur göttlichen Verehrung lebender Herrscher im Osten des Reiches: Ebner, Stadt, 145–161.
10. Johannes und Jesus, Jesusbewegung, beginnendes Christentum
251
mittlerweile die negative Sichtweise des Domitian der späteren polemischen Verzeichnung des Kaisers durch senatorisch gesinnte Historiker zugeschrieben.535 „Aus althistorischer Sicht läßt sich das Schreckensbild, das die Offb. von Rom entwirft, nicht verifizieren. … Viel eher wird die Apg. mit ihrer Betonung des hohen Stellenwertes rechtlicher Normen den Verhältnissen im römischen Reich gerecht.“536 Der einseitige Blickwinkel der Offb lässt sich vielmehr aus der biographischen Besonderheit des Autors erklären. „Der traditionsgeschichtliche Befund der Offb wie parallele Fälle in der frühchristlichen Geschichte machen es sehr wahrscheinlich, dass der Prophet Johannes aus dem syrisch-palästinischen Raum stammte, den er im Gefolge des ersten jüdischen Krieges (66–70 n. Chr.) verließ, um seine Tätigkeit nach Kleinasien zu verlegen.“537 Wir haben etliche andere Zeugnisse für solche Abwanderungen aus Palästina. Apg 19,3 berichtet von „Täuferjüngern“ in Ephesus,538 man vergleiche dazu auch die von Eusebius (HE 3,5) erwähnte Flucht der Christen nach Pella im Zuge des Jüdischen Krieges (ähnlich Josephus in B.J. 5,422 sowie Lk 21,20f.). Wahrscheinlich hatte Johannes bedingt durch die Kriegserfahrungen „ein gänzlich anderes Bild des römischen Staates im Rucksack …, als es in der friedlichen und prosperierenden Welt kleinasiatischer Gemeinden verbreitet war.“539 Die negative Einschätzung des römischen Staates durch Johannes findet obendrein Parallelen in frühjüdisch-apokalyptischen Schriften aus dem Palästina nach Zerstörung des Tempels, wie etwa in 2Bar und 4Esr (s.o. III.8.4). 10.4.10 Das Christentum unter Trajan (115–117 n. Chr.)
Christliche Märtyrer sind unter Trajan für Palästina, Syrien und Kleinasien bezeugt.540 So etwa wurde der Jerusalemer Bischof Symeon vom Statthalter Atticus gekreuzigt und Ignatius von Antiochia gefangengesetzt, nach Rom transportiert und dort den Bestien zum Fraß vorgeworfen. Besonders aufschlussreich aber ist die Korrespondenz zwischen Plinius dem Jüngeren, der als Statthalter in der Provinz Pontus und Bithynien tätig war, und dem Kaiser. In Ep. 10,96 schreibt Plinius an Trajan: 1 … An Verhandlungen gegen Christen (cognitionibus de Christianis) habe ich noch niemals teilgenommen. Daher weiß ich nicht Bescheid über Art und Ausmaß der üblichen
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Vgl. Molthagen, Garant, 137; Klauck, Sendschreiben, 155; Freudenberger, Christenverfolgung, 25. Molthagen, Garant, 136f. Allerdings will neuerdings Kollmann, Einführung, 125f., dem von der Offb entworfenen Verfolgungsszenario wieder mehr Glauben schenken. Stowasser, Nikolaiten, 223. Ebenso: Backhaus, Vision, 17. Zu den Täuferjüngern vgl. Trebilco, Ephesus, 129. Stowasser, Nikolaiten, 223. Vgl. Kollmann, Einführung, 129.
252
III. Gruppierungen des Frühjudentums Bestrafungen wie auch der Untersuchung. 2 Auch bin ich über folgendes ziemlich im Zweifel: … Wird schon der Name Christ an sich (nomen ipsum) bestraft, auch ohne Verbrechen, oder werden die mit dem Namen verbundenen Verbrechen (flagitia cohaerentia nomini) bestraft? Einstweilen bin ich bei den Leuten, die mir als angebliche Christen angezeigt wurden, folgendermaßen verfahren. 3 Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. Die Geständigen fragte ich unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und ein drittes Mal. Diejenigen, die hartnäckig darauf beharrten, ließ ich zur Hinrichtung abführen. … 5 Mir wurde eine anonyme Klageschrift mit zahlreichen Namen zugestellt. Da gab es nun welche, die leugneten, Christen zu sein oder jemals gewesen zu sein. Sie riefen, meinem Beispiel folgend, die Götter an und opferten Deiner Statue, die ich mit den Götterbildern zusammen zu diesem Zweck hatte herbeibringen lassen, Weihrauch und Wein. Außerdem lästerten sie Christus, und zu all dem lassen sich, so heißt es, wahre Christen nicht zwingen. Diese Leute also glaubte ich freilassen zu müssen. 6 Andere in dieser Angelegenheit Genannte bezeichneten sich zunächst als Christen, dann widerriefen sie aber. Sie seien es zwar gewesen, hätten sich jedoch wieder abgewandt, … 7 Sie versicherten aber, ihre ganze Schuld oder ihr Irrtum habe in folgendem bestanden: Gewöhnlich seien sie an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang zusammengekommen und hätten Christus als ihrem Gott einen Wechselgesang gesungen. Durch einen feierlichen Eid hätten sie sich nicht etwa zu irgendwelchen Verbrechen verpflichtet, sondern dazu, keinen Diebstahl, keinen Raub und keinen Ehebruch zu begehen, kein gegebenes Wort zu brechen, kein zur Verwahrung anvertrautes Gut abzuleugnen. Danach seien sie ihrer Gewohnheit gemäß auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen, um Speise zu sich zu nehmen, jedoch ganz gewöhnliche und harmlose. … 8 Um so notwendiger erschien es mir, von zwei Mägden, die als Diakoninnen bezeichnet wurden (ex duabus ancillis, quae ministrae dicebantur), durch ein Geständnis auch auf der Folter die Wahrheit zu erfahren. Ich fand aber nichts anderes als einen verworrenen, maßlosen Aberglauben (superstitionem pravam et immodicam). 9 … Die Sache scheint mir nämlich einer Anfrage wert zu sein, vor allem wegen der Zahl der Angeklagten. Viele Menschen jeden Alters und Standes, ja beiderlei Geschlechts, sind angeklagt oder werden es noch. Nicht nur über die Städte, sondern auch über die Dörfer und das flache Land hat sich die Seuche dieses bösen Aberglaubens ausgebreitet.
Die Unterscheidung, dass Christen zwar ὡς Χριστιανός („als Christ“), also für die religiöse Überzeugung, leiden sollen, doch nicht als Übeltäter, findet sich schon in 1Petr 4,15f. (vgl. die Formulierung nomen ipsum im Gegensatz zu flagitia cohaerentia nomini bei Plinius).541 Weiter erfahren wir, dass sich Christen an einem bestimmten Tag – wohl am Sonntag – schon vor Sonnenaufgang (der Sonntag war Arbeitstag) versammeln. Später am Tag (nach Arbeitsschluss am Abend?) gibt es auch eine Mahlfeier (wohl Eucharistie und Agape). Auch die Existenz von zwei Diakoninnen wird hier erwähnt. Das aus ruralen Verhältnissen stammende Christentum hat außerhalb Palästinas als „Stadtreligion“ reüssiert542 und breitete sich 541
542
1Petr 1,1: „an die Auserwählten, die als Fremde in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien in der Zerstreuung leben“, Plinius war Statthalter in Pontus und Bithynien. 1Petr wurde knapp vor 100 n. Chr. verfasst, Plinius schreibt etwas später. Vgl. dazu Ebner, Stadt, 15–18.
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
253
nun von diesen Zentren auch in das rurale Umland aus. Die grundsätzliche Vorgehensweise des Plinius wird von Trajan in seinem Antwortschreiben bestätigt, indem er in Ep. 10,97 bzgl. der Christen rät: 1 … Es läßt sich nämlich insgesamt überhaupt nichts festlegen, was gleichsam als Richtschnur dienen könnte (quod quasi certam formam habeat). 2 Aufspüren soll man sie nicht (Conquirendi non sunt). Wenn sie aber vor Gericht gestellt und überführt sind, dann sind sie zu bestrafen. … Anonyme Anklageschriften aber dürfen bei keiner Straftat Berücksichtigung finden.
Hier wird deutlich, dass es bis Trajan tatsächlich keine allgemeine Richtschnur (certa forma) für den Umgang mit Christen gegeben hat – und auch weiterhin nicht gab. Interessant ist auch hier, dass die Römer eine gewisse Korrektheit an den Tag legen, etwa darin, nicht eigenständig aktiv zu werden oder in der Zurückweisung anonymer Anklagen. Modernen Vorstellungsmustern von „Religionsfreiheit“ freilich wird die römische Konzeption gewiss nicht gerecht. Für das „Parting of the Ways“ ist die Plinius-Trajan-Korrespondenz von Bedeutung, da hier zum ersten Mal von römisch-offizieller Seite das Christentum als eigenständige Gruppierung wahrgenommen wird. Im Claudiusedikt wurden die Christen noch ganz klar unter dem Judentum subsumiert („Iudaeos impulsore Chresto …“; s.o. III.10.4.6). Einen Schritt weiter geht das Zeugnis des Tacitus zur neronischen Christenverfolgung: Dort taucht zwar schon der Name „Chrestianer“ auf, doch ist dies noch keine offizielle Bezeichnung, sondern ein Name „vom Volk“; auch ist die Beziehung zu Judäa, von wo sich dieses „Übel“ ausgebreitet habe, nach wie vor präsent (s.o. III.10.4.8). Die Notiz des Suetonius zur neronischen Christenverfolgung (s.o. III.10.4.8) geht hier noch einen Schritt weiter, hier werden die christiani bereits als Anhänger eines „neuartigen und schädlichen Aberglaubens“ bezeichnet. Allerdings schreibt Suetonius seine Kaiserviten zwischen 117 und 122 n. Chr.; sein Förderer und Mentor war Plinius d. J. Es wäre gut möglich, dass durch dessen Korrespondenz mit Trajan die Darstellung des Suetonius zur neronischen Christenverfolgung beeinflusst wurde (auch Plinius bezeichnet die Christen als „böser Aberglaube“). Festzuhalten bleibt: Ab Trajan werden die Christen als eigenständige Gruppierung auch von römischer Seite wahrgenommen. Dass dies tatsächlich eine rezente Entwicklung war, wird dadurch belegt, dass weder Plinius noch der Kaiser auf standardisierte Vorgehensweisen zurückgreifen können und um praktikable Lösungen ringen.
11.
Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
Ohne Zweifel bildeten die ersten Anhänger Jesu keine eigene Religion, sondern verstanden sich als integraler Teil des Frühjudentums. Zwischen unterschiedlichen Gruppierungen gab es jedoch unterschiedliche Grade der Interaktion.
254
III. Gruppierungen des Frühjudentums
11.1
Die Sadduzäer und die Jesusbewegung
Wahrscheinlich waren die Sadduzäer die entscheidenden Gegner Jesu in seinen letzten Tagen.543 Durch seine Tempelaktion (s.o. III.10.2.4; s.u. V.6.3) war Jesus ins Visier der Tempelaristokratie gerückt. Unruhestiftung gegen den Tempel wurde, wie wir aus B.J. 6,300–309 (Jesus ben Ananias weissagt gegen den Tempel) wissen, sofort geahndet. Im Hohen Rat zur Zeit Jesu hatten die Sadduzäer die Mehrheit. Diese Gruppe, die als Aristokratie notwendigerweise auch mit den Römern kollaborieren musste, hatte Angst vor einem Aufstand und vor dem Verlust der eigenen Macht (Mk 14,1f.; Joh 11,48–50). Nach Apg 4,1 waren die Sadduzäer auch die Gegner der ersten Christen. Das ist aus mehreren Gründen wahrscheinlich. Zunächst war Jesus – auf den sich die ersten Christen ja beriefen – mit seiner Tempelkritik zur persona non grata der Sadduzäer geworden. Aber auch theologisch stand Jesus den Positionen der Pharisäer wesentlich näher als jenen der Sadduzäer, etwa in seiner Annahme eines Eingreifens Gottes in die Welt und in seinem Auferstehungsglauben. Später kann Paulus nach Apg 23,6f. den Glauben an die Auferstehung zum Zankapfel zwischen Sadduzäern und Pharisäern machen und sich auf die Seite der Pharisäer schlagen. Und schließlich wurde auch der Herrenbruder Jakobus von einem sadduzäischen Hohepriester (A.J. 20,197–200) hingerichtet – woraufhin die Pharisäer heftig protestierten (s.o. II.5.6). Auch nicht außer Acht lassen sollte man die Tatsache, dass die Jesusbewegung starke sozialkritische Aspekte enthielt (s.u. IV.2) und auch aus diesen Gründen für die aristokratischen Sadduzäer verdächtig sein musste.
11.2
Die Pharisäer und die Jesusbewegung
Von allen bei Josephus genannten Gruppierungen des Judentums (Sadduzäer, Pharisäer, Essener, Zeloten) stand Jesus eindeutig den Pharisäern am nächsten. Auch er glaubt an ein Eingreifen Gottes in diese Welt (den Anbruch der basileia) und rechnet mit Engeln und Dämonen, wie das auch die Pharisäer taten. Die Verkündigung der Auferstehung des Herrn und die Auferstehung aller Gläubigen war in nachösterlicher Zeit das zentrale Glaubensdogma der Urkirche. Der Auferstehungsglaube war auch für die Pharisäer zentral. Die pharisäischen Tendenzen, die rituellen Reinheitsgebote des Tempelkultes, die sonst nur für die Tempelpriester galten, auch auf das tägliche Leben außerhalb des Tempels anzuwenden, mussten Jesus zwangsläufig mit den Pharisäern in Konflikt bringen. Doch dabei sollte man nicht annehmen, Jesus habe die Reinheitsvorschriften einfach abgeschafft. Vielmehr vertritt er eine Konzeption der „offensiven Reinheit“ – nicht die Unreinheit 543
Vgl. im Folgenden Theißen, Sadduzäismus, 225.
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
255
steckt an, sondern die alles durchdringende Reinheit der basileia restituiert der Welt ihre prälapsarische Vollkommenheit (s.u. V.5.2.3).544 Damit aber übernimmt Jesus in gewisser Weise sogar die pharisäische Agenda, die Reinheit des Tempels auf ganz Israel auszudehnen – allerdings betreibt er diese Heiligung mit anderen Mitteln als die Pharisäer: Die Reinheit und Heiligkeit der basileia werde nun zunächst ganz Israel und dann die ganze Welt durchdringen (s.u. V.5.2.3–4). Damit wird klar, dass die starken Rivalitäten zwischen Jesus und Pharisäern nicht so sehr durch völlig konträre Positionen bedingt waren, sondern eher durch anders gesetzte Akzente bei grundsätzlicher Nähe.545 Somit ist es wahrscheinlich, dass nach Apg 15,5 tatsächlich einige Pharisäer der christlichen Gemeinde beitraten, schließlich berichtet auch das JohEv mit Nikodemus von einem pharisäischen Sympathisanten des Christentums (Joh 3,1–21; 7,50; 19,39). Und nicht zuletzt protestierten die Pharisäer gegen die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus durch einen sadduzäischen Hohepriester (A.J. 20,197–200; s.o. II.5.6).
11.3
Die Essener und die Jesusbewegung
11.3.1
Keine Erwähnung im NT
Bemerkenswert ist, dass die Essener kein einziges Mal im NT erwähnt werden. Es könnte gut sein, dass für die nicht mehr in Palästina ansässigen und obendrein erst nach 70 n. Chr. schreibenden Verfasser der Evangelien die Essener mit den Sadduzäern zusammengefasst wurden.546 Auch Paulus – als Abkömmling pharisäischer Werte – hatte wohl für die den Pharisäern nicht wohlgesonnenen Essener (s.o. III.4.2.6) keine herzlichen Gefühle. Ob Essener in Galiläa verbreitet waren, wissen wir nicht. Möglich wäre, dass diesen Vertretern eines „extrem elitären, priesterlichen Wertbildes mit einer von Priestern geschaffenen, aggressiv behaupteten und penibel überwachten Lebensordnung“547 das „Galiläa der Heiden“ (Mt 4,15; vgl. Jes 8,23; Galiläa galt ja seit dem Fall des Nordreiches durch die Assyrer wegen der dort angesiedelten Nichtjuden besonders frommen Kreisen als nicht ganz rein) zu weit von Judäa entfernt war und daher auch ein Text wie die Logienquelle Essener nicht erwähnt. 11.3.2
Unterschiede von Qumrantexten und NT
Das extrem elitär-priesterliche Weltbild mit einer ausgesprochenen Ritualisierung und starken Betonung der kultischen Reinheit war Jesus fremd. Er etablierte 544 545 546 547
Vgl. dazu Berger, Pharisäer, 237–248. Vgl. Wilk, Evangelien, 104. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 122. Müller, Wissenschaft, 55.
256
III. Gruppierungen des Frühjudentums
keine exklusiv-abgeschottete Heilsgemeinde, sondern erhob Anspruch auf ganz Israel. Nicht der „Heilige Rest“, sondern ganz Israel soll gerettet werden, wie er das in der Einsetzung des Zwölfer-Kreises verdeutlicht: Dieser symbolisiert die Restauration und Sammlung von ganz Israel in der nun anbrechenden Endzeit. Als Konsequenz daraus wendet sich Jesus auch ganz Israel zu und scheut daher den Kontakt mit Zöllnern, Sündern, Prostituierten und Ausgestoßenen nicht – ganz im Gegenteil. Jesus versucht gerade die Sünder und Randgruppen mit der alles durchdringenden Reinheit der anbrechenden basileia „anzustecken“: Nicht die Unreinheit steckt an, sondern die Reinheit (s.u. V.5.2.3–4), so wie nach Q 13,21 ein kleines Stück Sauerteig das ganze Mehl durchsäuert. Damit vertritt Jesus eine „,offensive Reinheit‘ und ,inklusive Heiligkeit‘, die den Kontakt mit dem Unheiligen nicht scheut.“548 Dies ist wohl der wichtigste Unterschied zu den Qumraniten. Da die Reinheit über die basileia vermittelt wird und nicht über Reinheitsriten, fällt für Jesus die Abschottung und penible Einhaltung von Reinheitsvorschriften aus. 11.3.3
Die Frage der Ehelosigkeit
Wie E. Qimron richtig konstatiert, liegt auf der Frage nach der vermeintlichen Ehelosigkeit der Qumraniten ein hoher Beweisdruck, da diese bisweilen als Parallele zur Praxis Jesu (Mt 19,10–12) und zur Lebensform des Paulus (1Kor 7,1–7.28f.) gesehen wurde.549 Während bei Jesus und Paulus allerdings der Druckpunkt auf der eschatologischen Naherwartung liegt (Jesus: „um des Himmelreiches willen“, Mt 19,12; Paulus: „Denn ich sage euch, Brüder: Die Zeit ist kurz“, 1Kor 7,29), ruht in Qumran der Akzent auf der rituellen Reinheit. Grundsätzlich ist in Qumran nicht der Gedanke der Ehelosigkeit federführend, sondern die Vermeidung von Geschlechtsverkehr, um sich nicht mit Geschlechtsflüssigkeiten zu verunreinigen (s.o. III.4.5). Tatsächlich aber war ein temporärer Verzicht auf Ehe und Familie für übergeordnete religiöse Werte möglich. Das zeigt sich auch bei Flavius Josephus, der vor seinem neunzehnten Lebensjahr drei Jahre beim Einsiedler Banus in der Wüste lebte (Vita 11). 11.3.4
Keine Texte des NT in Qumran
Unter den Manuskripten von Qumran wurden nur „homogene“ Texte gefunden, die in Einklang mit der Theologie der Qumraniten standen. Schon allein von daher müsste es verwundern, wenn man in Qumran Teile des NT gefunden hätte. Abge-
548
549
Theißen/Merz, Jesus, 380. Ebenso: Theißen, Reinheitslogion, 242. So bereits Berger, Pharisäer, 238–248, und Loader, Law, 523. Zuletzt hat auch Avemarie, Jesus, 276 und 279, vom Konzept der „dynamic purity“ genau in diesem Sinne gesprochen. Vgl. Qimron, Celibacy, 287.
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
257
sehen von inhaltlichen Differenzen bestünde in diesem Fall auch noch eine chronologische Problematik, da Qumran ja 68 n. Chr. zerstört wurde und die Evangelien erst in die Zeit nach 70 n. Chr. datieren. Thesen, wie sie in der Vergangenheit von J. O’Callaghan und C. P. Thiede proponiert wurden, die im Qumran-Fragment 7Q5 Reste von Mk 6,52f. erkennen wollen, konnten aufgrund paläographischer und stichometrischer Untersuchungen falsifiziert werden.550 11.3.5
Berührungspunkt 1: Autoritative Tora-Interpretation
Die frappierendste Übereinstimmung zwischen den Qumrantexten und dem NT kann wohl in der Einschätzung des „Lehrers der Gerechtigkeit“ für Qumran und in der Einschätzung Jesu für das frühe Christentum gesehen werden: Der „Lehrer der Gerechtigkeit“ wird als „Prophet nach Art des Mose“ gesehen, der die Tora beständig aktualisiert und in ihrer eschatologisch-bindenden Weise interpretiert. Gleiches kann für Jesus gelten (Apg 3,22). „Dies hat die qumranische Theologie in eine solche eschatologische Dynamik versetzt, die nur noch mit der des Urchristentums zu vergleichen ist.“551 Auch das Wiederaufrichten der zerfallenen Stiftshütte Davids, wie sie in Apg 15,16 unter Zitation von Am 9,11 begegnet, war eine der Erwartungen in Qumran: 4Q174 (Florilegium) III,12 und CD VII,16.552 Der „Lehrer der Gerechtigkeit“ bzw. Jesus werden hier in der Darstellung ihrer Gefolgsleute als messianisch qualifizierter Davidide und als endzeitliche Mittlerfigur553 gesehen, als eine „Art menschliche Heilsgestalt.“554 Nach 1QpHab VIII,2f. können die Qumraniten nur durch „ihre Treue zum/den Glauben an den Lehrer der Gerechtigkeit“ ( )ואמנתם במורה הצדקgerettet werden, was sich mit der Rechtfertigung aus dem Glauben an Jesus Christus (διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ) aus Gal 2,16 vergleichen lässt. Sowohl der „Lehrer der Gerechtigkeit“ wie auch Jesus Christus werden hier zu Gestalten von „ausschließlicher Heilsrelevanz.“555 Darüber hinaus wird der „Lehrer der Gerechtigkeit“ wie auch Jesus zu einem endzeitlichen „Offenbarungsmittler“,556 so 1QpHab VII,1–5: 1 Und Gott sprach zu Habakuk, niederzuschreiben, was (da) kommt über 2 die letzte Generation, doch die Vollendung der Zeit hat Er ihm nicht kundgetan. 3 Und wenn es heißt: damit eilen kann, der darauf liest, 4 so geht seine Deutung auf den Anweiser der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat die Gesamtheit 5 der Mysterien der Worte Seiner Diener, der Propheten [...]
550 551 552 553 554 555 556
Vgl. Enste, Markustext. Zur Forschungsgeschichte siehe a.a.O. 8–49. Fabry, Umgang, 322. Vgl. Stowasser, Qumranüberlieferung, 47–63. Vgl. dazu Tiwald, Hebräer, 239–251. Kuhn, Qumranparallelen, 229. Tiwald, Hebräer, 250. Lange, Weisheit, 107.
258
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Einzig dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ ist es gegeben, die „Mysterien der Worte Seiner Diener, der Propheten“ richtig zu deuten. Ähnliches wird von Jesus im NT gesagt (vgl. Lk 24,32; Hebr 1,1f.). 11.3.6
Berührungspunkt 2: Pescher-Exegese
Wie in der Auslegung des Habakuk-Zitats oben deutlich wird, vertraten die Qumraniten eine aktualisierende Auslegungsmethode, die gerade die Prophetentexte auf die unmittelbare Gegenwart – verstanden als die Endzeit – deutete, die sogenannte „Pescher-Exegese“ (s.o. III.8.5).557 In ähnlicher Weise gebrauchte das Christentum gerade die Prophetentexte zur Deutung Jesu als Messias (vgl. Apg 3,18; 1Petr 2,22–25 als eine Paraphrase zu Jes 53,1–12). 11.3.7
Johannes der Täufer und die Qumraniten?
Zwischen Johannes dem Täufer und den Qumraniten lassen sich etliche Parallelen ziehen: Beide entstammen priesterlichen Kreisen, die Qumraniten als Abspaltung der Tempelpriester und Johannes als Sohn von Eltern aus priesterlichem Geschlecht (vgl. Lk 1,5). Beide verkünden eine Form der Sündenvergebung, die nicht mehr an den Tempel gebunden ist. Beide gebrauchen Wasserriten zur Sühne. Beide vertreten eine eschatologische Naherwartung und die Annahme der grundsätzlich sündigen Gebrochenheit des Menschen. Dennoch sind die Unterschiede gravierend: Die Taufe bei Johannes ist ein einmaliger Akt, ein Gnadengeschenk Gottes, und keine rituelle Reinigung. Die rituelle Reinheit spielt bei Johannes keine Rolle, es ist vielmehr die radikale innere Umkehr, die vor dem Gericht rettet. Johannes begründet keine elitäre abgeschlossene Gemeinde, sondern bietet seine Taufe zur Vergebung der Sünden gerade den Sündern an. Fazit: Die Berührungspunkte zwischen dem Täufer und den Qumraniten verdanken sich keiner direkten Abhängigkeit, sondern allgemeinen theologischen Vorstellungsmustern, die im damaligen Israel möglich waren. Man vergleiche nur den in Josephus Vita 11 genannten Banus mit dem Täufer und Qumran: Auch Banus lebte in der Wüste, kleidete sich nur mit von Bäumen gewonnenen Materialien, aß nur, was frei in der Natur wuchs, und praktizierte tägliche Waschungen zum Erhalt der Reinheit. 11.3.8
Essener unter den ersten Christen?
Wie wir bereits gesehen haben, gab es unter den ersten Christen auch Pharisäer, während die Sadduzäer den ersten Jesusjüngern eher feindlich gegenüberstanden. Wie aber sah das mit den Essenern aus? Die Existenz eines „Essenertors“ in 557
Vgl. zur Pescher-Exegese Maier, Testamenten, 134–136.
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
259
Jerusalem lässt schließen, dass es auch Essener in der heiligen Stadt gab (s.o. III.4.3.3). Dennoch führen die Vermutungen von R. Riesner zu weit, wenn er die in Apg 6,7 genannte „große Anzahl von den Priestern“, die „gehorsam den Glauben annahm“, in die Nähe von Essenern rücken möchte, da angeblich der Versammlungsort der ersten Jünger Jesu in Jerusalem („das Obergemach“, Apg 1,13) im „Essenerquartier“ gelegen habe.558 Die Essener und die ersten Christen verfolgten theologisch völlig verschiedene Ziele – trotz der oben genannten Berührungspunkte.
11.4
Die Zeloten und die Jesusbewegung
11.4.1
Jesus und die kaiserliche Steuer
Auf die Fangfrage seiner Gegner, ob man die kaiserliche Steuer entrichten dürfe, antwortet Jesus in Mk 12,14–17 mit dem Wort: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“. Hätte Jesus mit einem einfachen „Ja“ geantwortet, könnte man ihm Kollaboration mit den Römern vorwerfen. Hätte er mit einem klaren „Nein“ geantwortet, wäre er als Aufständischer gegen die Römer in die Mühlen römischer Gerichtsbarkeit gekommen. Die Antwort Jesu spiegelt allerdings keine Feigheit, ja nicht einmal diplomatische Gewandtheit wider – der Mann aus Galiläa war gewohnt, offen für seine Überzeugungen einzutreten. Vielmehr belegt die Antwort einfach Jesu Überzeugung, dass nicht politischer Aufruhr, sondern die Verkündigung der anbrechenden Gottesherrschaft zum Ziel führen wird. Dabei ist die Formulierung „Gebt Gott, was Gott gehört“ eine Anspielung an alttestamentliche Vorbilder: Nach 1Chr 29,11–14 gehört alles Gott, besonders das Königtum.559 Auch Jesus billigt die idolatrischen Ansprüche des Kaisers nicht, doch sieht sein Handlungskonzept anders aus als das der Zeloten. Genauso wie die Zeloten teilt Jesus zwar die eschatologische Naherwartung, doch wird für ihn der Umschwung von Gott und nicht von den Menschen erwartet. Insofern ist der Vorbehalt Jesu gegen den Kaiserkult und die kaiserliche Steuer genauso groß wie jener der Zeloten. Für Jesus wird die von Gott her anbrechende basileia das rechte Herrschaftsgefüge wiederherstellen – Gott wird herrschen, nicht der Kaiser. Auch Jesus beurteilt die Kaiserherrschaft kritisch und hält „an der Zukunftsperspektive fest, dass Gott selbst diesem Kosmos und damit auch dem römischen Reich schon
558
559
Vgl. Riesner, Tempel, 78f. Riesner verweist darauf, dass die „Ortstradition (Epiphanius, De mensuris et ponderibus 14 [PG 43,260]) … bis in die Zeit vor dem Bar-Kochba-Aufstand zurückreicht“ (a.a.O. 78; ebenso Riesner, Quarter, 198–234) – was aber kaum zu beweisen sein dürfte. Zuletzt aber wieder positiv: Charlesworth, Followers, 212. Vgl. dazu Förster, Jesus, 178–187. Auch in Hag 2,6–9 und Joel 4,4–8 wird der Konnex zwischen eschatologischem Gericht und „Eigentum Gottes“ deutlich.
260
III. Gruppierungen des Frühjudentums
sehr bald ein Ende machen werde, was das Gericht einschließen würde.“560 Allerdings wird dieser Umschwung durch Gottes Tun und nicht von Menschenhand eingeleitet. 11.4.2
Zeloten im Gefolge Jesu
Jesu Erwartung des Gottesreichs musste in den Ohren mancher Juden ähnlich wie zelotische Ankündigungen geklungen haben. In Lk 6,15 und Apg 1,13 wird auch tatsächlich „Simon der Zelot“ als Angehöriger des Zwölferkreises erwähnt. Manche Forscher wollen auch den Beinamen des Judas Iskariot vom Wort sicarius („Judas der Sikarier“) abgeleitet wissen, doch dürfte es sich hier eher um ein Toponym (’isch qerijjot – „Mann aus Kerijot“) handeln.561 Tatsache aber bleibt, dass es Berührungspunkte zwischen Jesus und den Zeloten gab: die eschatologische Naherwartung und das Hoffen auf den Anbruch des Gottesreiches. Diese Erwartungen kommen besonders bei den Nachfolgern Jesu zum Tragen. Beim Einzug Jesu in Jerusalem etwa heißt es in Mk 11,9f.: 9 Die Leute, die vor ihm hergingen und die ihm nachfolgten, riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! 10 Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!
„Das Reich unseres Vaters David, das nun kommt“ wird hier von den „Hosanna“Rufern als konkret-irdisches Reich verstanden, Jesus als politischer Messias missverstanden. Das wird sogar noch in Apg 1,6f. klar, als die Jünger Jesus vor seiner Himmelfahrt fragen: 6 … Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? 7 Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat.
Lukas sieht sich bemüßigt, einem allzu irdischen Missverständnis eines politischen „Reiches für Israel“ entgegenzusteuern – sicherlich nicht ohne Grund, wahrscheinlich kursierten solche Erwartungen auch unter den ersten Jesusjüngern und vielleicht auch noch unter den ersten Christen. 11.4.3
Jesus als Zelot?
Jesus selbst hat sich dezidiert gegen Gewaltanwendung gewehrt (Q 6,29: andere Wange hinhalten). Doch die Angst, dass Jesus nach seinem Einzug in Jerusalem und der anschließenden Tempelhandlung (s.o. III.10.2.4) einen realen Aufstand auslösen würde, führte dazu, ihn als politischen Aufrührer hinzurichten. Die Tatsache, dass er zwischen zwei λῃσταί (s.o. III.5.3) gekreuzigt wurde (Mk 15,27; Mt 560 561
So zu Recht Förster, Jesus, 225. Vgl. dazu Klauck, Judas, 40–44.
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
261
27,38; auch Mk 14,48), belegt, dass man ihn von Seiten der Römer als Aufständischen betrachtete. Dazu passt auch die Kreuzesinschrift („Kreuzestitulus“), welcher den Grund für die Verurteilung angibt: Jesus wurde als „König der Juden“ gekreuzigt. Dieser Titel war schwer vorbelastet, schließlich hatte sich ja auch Judas Galilaios bei seinem Einzug in Jerusalem als König huldigen lassen (Josephus, B.J. 2,434). Die Historizität des Kreuzestitulus bei der Hinrichtung Jesu ist umstritten.562 Allerdings tradieren Mk 15,26 parr. und Joh 19,19 unabhängig voneinander diese Überlieferung (der vierte Evangelist folgt seinen eigenen Quellen und Traditionen gleich ob er synoptische Evangelien kannte oder nicht). Auch die Erwähnung, dass Jesus von Pilatus zur Bezeichnung „König der Juden“ einvernommen wurde und die Soldaten Jesus nachher als „König der Juden“ verspotten, passt gut ins Bild (beide Male berichten hier Mk 15,2 parr.; 15,18 parr. und Joh 18,33; 19,3 unabhängig voneinander). Auch die in Mk 15,7 parr. und Joh 18,40 berichtete Wahl zwischen Jesus und Barabbas, der ebenfalls ein λῃστής war (Joh 18,40; Mk 15,7: στασιαστής, „Aufständischer“), deutet in die gleiche Richtung.563 Wahrscheinlich weckte Jesu Ankündigung der „Königsherrschaft Gottes“ das Missverständnis, dass Jesus selbst diesem Königtum vorstehen könnte.564 Die Vermutung, dass hinter dem Titulus lediglich christliche Theologie stehe,565 scheint kaum überzeugend: Außerhalb des Prozesses begegnet der Titel „König der Juden“ für Jesus nur in Mt 2,2 (und auch dort nur in narrativer Opposition der Sterndeuter zum König Herodes). Auch den ersten Christen war bewusst, wie politisch vorbelastet der Ausdruck war, wie Apg 17,7; vgl. Joh 6,15; 19,12 unmissverständlich belegen. Zwar zeigen die Evangelien eine gewisse Königsmetaphorik für Jesus (Mt 25,34.40; Lk 19,38; Joh 1,49), doch nennt sich Jesus selbst nie „König der Juden“. Auch seine Antwort auf die Frage des Pilatus „Bist du der König der Juden?“ mit „Du sagst es“ (Mk 15,2 parr.) belegt in ihrer Schmallippigkeit eine gewisse Distanzierung: „‚Du sagst es‘ ist keine glatte Bejahung wie ‚Ich bin es‘, aber auch keine Zurückweisung. Bleibt die Antwort offen, so muß im weiteren Verlauf geklärt werden, in welchem Sinn er König der Juden ist.“566 In gleicher Weise stellt auch schon die Antwort Jesu in Joh 18,33–37 eine klare Distanzierung von rein irdischen Königserwartungen dar. So scheinen die Gründe zugunsten der Historizität eines Kreuzestitulus „König der Juden“ zu überwiegen. Die Tatsache, dass Jesus ähnliche Schlüsselworte („Königreich Gottes“) und eine ähnliche eschatologische 562
563
564 565 566
Vgl. den Forschungsüberblick bei Broer, Kreuzestitulus, 268–273, und bei Theißen/Merz, Jesus, 401–403. Während Broer hier negativ urteilt, sieht Eck, Rom, 160f. und 184f., gute Gründe für die Historizität. Zur Frage der Historizität einer solchen Amnestie vgl. Theißen/Merz, Jesus, 407. Eine Amnestie von λῃσταί ist uns aus Josephus, A.J. 20,215 bekannt. Vgl. dazu Niemand, Kreuz, 454f. (weitere Literatur 473); und Frey, Jesus, 299–313. So Broer, Kreuzestitulus, 282f. Anders aber Schnelle, Jahre, 67, und Frey, Jesus, 305. Gnilka, Markus II, 300.
262
III. Gruppierungen des Frühjudentums
Naherwartung wie die Zeloten an den Tag legte, könnte das Missverständnis ausgelöst haben, er wolle den gewaltsamen Aufstand und sich selbst zum König machen. Sein Einzug in Jerusalem und die Hosanna-Rufe der Menge, sowie seine anschließende Tempelaktion trugen ein Weiteres dazu bei: Er wurde als Aufrührer und „König der Juden“ angeklagt. Dennoch belegt die Tatsache, dass Jesus einen regulären Prozess erhielt und nicht gleich standrechtlich567 abgeurteilt wurde, dass der Sachverhalt keineswegs klar war, das markant gewaltlose Ethos Jesu distanzierte den galiläischen Wanderprediger von anderen Aufständischen (s.u. IV.2.2). Auch dass keiner der Jünger Jesu das Kreuzesgeschick des Meisters teilte, belegt, dass man in Jesus und seinen Jüngern grundsätzlich keine Zeloten sah.568 11.4.4
Sozioökonomische und soziopolitische Berührungspunkte
Ein weiterer Berührungspunkt zwischen Jesus und Zeloten muss in ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht gesehen werden (s.o. III.6). Soziopolitische und sozioökonomische Aspekte spielen bei den Jüngern Jesu eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nach Mk 9,34 beratschlagen die Jünger schon untereinander, wer von ihnen der Größte sei. Dass es sich hier nicht nur um einfache Rangeleien unter Jesusnachfolgern, sondern um die Verteilung der Ehrenämter im realpolitisch erwarteten „Reich Gottes“ geht, erfahren wir aus der Parallelstelle Mt 18,1. Gestützt wird diese Deutung auch durch Mk 10,37, wo die beiden Zebedäussöhne Jesus bitten: „Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen!“ Auch hier geht es um ganz konkrete Machtansprüche in einer recht irdisch imaginierten basileia! Bei den Nachfolgern Jesu waren nicht nur lautere religiöse Motive federführend, sondern auch der Wunsch nach sozialem Aufstieg und die Allmachtsphantasien von Habenichtsen. Umgekehrt sind Jesus die Probleme und Bedürfnisse der unteren Schichten vertraut. Auf die Bitte der Zebedaiden antwortet er in Mk 10,42–44: 42 Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. 43 Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, 44 und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.
Die Situation der geknechteten plebs misera wird hier von Jesus klar angesprochen. Dennoch entwirft er zu diesem Konzept eine Alternative, die „Kontrastgesellschaft“ Gottes (s.u. IV.1.3.7). So kann er in den Seligpreisungen gerade die Armen, die Hungernden und die Trauernden beglückwünschen. Gerade hier aber bricht auch der deutlichste Unterschied zwischen Jesus und den Zeloten auf, die bedingungslose Gewaltlosigkeit (Q 6,20f.27f.35c.29): 567 568
Gegen Fiedler, Pilatus, 48: „standrechtlich gekreuzigt“ (s.o. III.10.2.4). So das einleuchtende Argument bei Theißen/Merz, Jesus, 403.
11. Die Jesusbewegung im Gesamt des Frühjudentums
263
20 Und er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte: Selig ihr Armen, denn euer ist das Königreich Gottes. 21 Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet getröstet werden. … 27 Liebt eure Feinde, 28 und betet für die, die euch verfolgen, 35c damit ihr Söhne eures Vaters werdet, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Schlechte und Gute, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 29 Dem, der dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, und dem, der dich vor Gericht bringen und dir dein Untergewand wegnehmen will, dem lass auch das Obergewand.
11.5
Die Apokalyptik und die Jesusbewegung
Die Theologie Jesu war von einer starken eschatologischen Naherwartung geprägt, der Erwartung des unmittelbar imminenten Anbruchs der Gottesherrschaft. Dennoch kann die eschatologische Theologie Jesu nicht als apokalyptisch bezeichnet werden, denn für Jesus gibt es keinen Bruch in der Heilsgeschichte und auch keinen katastrophenhaften Untergang dieser Welt. Das Gottesreich bricht im hic et nunc an, es verwandelt die Gestalt dieser Welt zwar, zerstört aber diese Erde nicht. Jesus vertritt auch keinen Dualismus und auch kein apokalyptisches Geheimwissen – alle werden ins Gottesreich miteinbezogen, die Botschaft ist auch allen zugänglich. Im NT gibt es lediglich Texte mit apokalyptischen Zügen: Die Offenbarung des Johannes trägt manche dieser Züge, entspricht aber als Ganzes nicht dem Genus „Apokalypse“. Kleinere Teile der Logienquelle tragen apokalyptisches Kolorit, wie etwa der messianische Jubelruf Q 10,21f. oder sehr bedingt auch Q 17.569 Das gleiche gilt für die sogenannte „kleine Apokalypse“ des MkEv (Mk 13).
11.6
Die Samaritaner und die Jesusbewegung
Ähnlich wie im späteren rabbinischen Judentum schlägt auch im MtEv die Sichtweise durch, dass die Samaritaner eine Art Mittelding zwischen Juden und Heiden darstellen.570 Passagen des lk-Sonderguts spielen mit der vermeintlichen Inferiorität der Samaritaner, die dann allerdings hinterfragt wird: der barmherzige Samaritaner (Lk 10,25–37) und die Heilung von Kranken, wobei nur der Samaritaner Dankbarkeit zeigt (Lk 17,11–19). Hier wird die erzählerische Tendenz des Lk deut-
569
570
Vgl. Tuckett, Apocalyptic, 113: „Q itself is certainly not an ‚apocalypse‘ … There is one reference in Q to such an idea: that is the so-called Jubelruf of Q 10:21–22, with the claim that ‚these things‘ have been hidden from the ‚wise and understanding‘ but now revealed to ‚infants‘ ...“ Vgl. Ebenso Kloppenborg, Eschatology, 306. Vgl. Pummer, Samaritans, 37: „belong neither to the Gentiles nor to the Jews“. Zur Position der Rabbinen in Bezug auf die Samaritaner s.o. III.9.1.5.
264
III. Gruppierungen des Frühjudentums
lich, die Samaritanermission als eine Art „Sprungbrett“ zur Heidenmission anzusehen (s.o. III.10.3.2).571 Auch Joh 4,4–42 (Jesus und die Samaritanerin am Jakobsbrunnen) scheint bereits einer frühen Samaritanermission der ersten Christen Rechnung zu tragen.572 Solch eine Samaritanermission der ersten Christen legt sich nahe, da wir im NT nichts von einer gezielten Mission Jesu bei den Samaritanern wissen: Lk 9,52–56 reflektiert noch ganz authentisches Lokalkolorit: Pilger auf dem Weg nach Jerusalem sind bei Samaritanern nicht willkommen (s.o. III.9.1.5; vgl. Josephus, B.J. 2,232–246/A.J. 20,118–136). Nach Mt 10,5f. weist Jesus seine Jünger ausdrücklich an, nicht zu den Heiden und in keine Stadt der Samaritaner zu gehen, sondern ausschließlich „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Dahinter steckt zwar mt Theologie (die Mission wird erst in Mt 28,16–20 universal geweitet),573 aber wohl auch ein wahrer Kern. Der historische Jesus hatte zwar keine Berührungsängste mit Samaritanern (Lk 9,52–56) und Heiden (Mk 7,26), doch ist seine primäre Sendung zunächst an Israel gerichtet. Erst über das für die Endzeit zugerüstete Israel sollen auch alle anderen Völker das Heil erfahren. Der Heilsuniversalismus Jesu gab den „Hellenisten“ um Stephanus Mut, auch die Grenzen des Judentums zu überspringen und Jesu Heilsangebot zunächst auf die Samaritaner auszuweiten. „Dass es eine solche Mission nach Ostern gab, ist angesichts der Bezeugung in Apg 8 und Joh 4 sehr wahrscheinlich.“574 Der „Hellenist“ Philippus575 wird in Apg 6,5 unmittelbar nach Stephanus genannt, und scheint dessen theologische Positionen nach Apg 8,5 auch den Samaritanern verkündet zu haben. Gerade die Tempelkritik des Stephanus könnte dabei einen Brückenschlag ermöglicht haben. Auch Joh 4 bringt die Tempelkritik mit der Samaritanermission in Zusammenhang: Weder am Garizim noch in Jerusalem erfolgt die korrekte Anbetung Gottes, sondern „im Geist und in der Wahrheit“ (s.u. V.6.2).
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Vgl. Pummer, Samaritans, 41: „The Gospel of Luke thus sees the Samaritans neither as pagans nor as syncretists … but as part of the Jewish people … Luke’s interest is not primarily in the Samaritans, but in the removal of religious boundaries – what matters is to do the will of God.“ Pummer, Samaritans, 43: „John 4 reflects the concern over the Christian mission among Samaritans.“ Vgl. Luz, Matthäus 2, 90f. Frey, Samaritaner, 231. Vgl. dazu Kollmann, Philippus, 551–565.
IV.
Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
Theologie entsteht nicht im luftleeren Raum. Theologie antwortet immer auch auf politische und soziale Herausforderungen. Wahrscheinlich verdanken sich alle theologischen Entwicklungen des Frühjudentums der alles durchdringenden Spannung zwischen Hellenisierung und Verteidigung des jüdischen Propriums, zwischen Assimilation und Segregation. Verschärfend kommt hier allerdings hinzu, dass mit dieser Frage auch wesentliche ökonomische Faktoren verbunden waren, die sich über den kulturell-religiösen Rahmen hinaus in materiellem Wohlstand oder in Verelendung niederschlagen konnten.
1.
Soziale Entwurzelung zur Zeit Jesu?
1.1
Die These von G. Theißen
In den 1970-er Jahren formulierte G. Theißen die These, dass Jesus und seine ersten Nachfolger wandercharismatische Propheten waren, die mit ihrem emblematischen Lebensstil der Armut, Heimatlosigkeit, Familienlosigkeit und Gewaltlosigkeit eine sprechende Antwort auf die zerrütteten soziopolitischen und soziokulturellen Verhältnisse ihrer Zeit gaben, indem sie durch diesen zeichenhaften Lebensstil auf den bevorstehenden Anbruch der Endzeit verwiesen.1 Theißen geht davon aus, dass „soziale Entwurzelung in der jüdisch-palästinischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts n. Chr.“2 zu Phänomenen sozialer Desintegration und „Anomie“3 führten. Dabei nennt er folgende Muster:4 1
2 3
4
Vgl. Theißen, Wanderradikalismus (Erstpublikation 1973), 79–105; ders., Nachfolge (Erstpublikation 1977), 106–141; ders., Jesusbewegung 33–98. Hintergründe zu Theißens These: Heil, Missionsinstruktion, 52; Theißen, Radicalism, 175–190. Theißen, Nachfolge, 106; ders., Jesusbewegung, 141. Theißen, Nachfolge, 133f.: „Anomie liegt vor, 1. Wo Mitglieder einer Gesellschaft ihr Leben nicht mehr nach den Normen ihrer angestammten sozialen Umwelt führen können, 2. Wo sich diese Erscheinung überdurchschnittlich ausbreitet und 3. Wo die betroffenen Gruppen Veränderungen ihres Status erfahren haben, die zu einer Erschütterung traditioneller Lebensweise führten.“ Analog zum Begriff „Anomie“ fungiert für Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 214f. (vgl. 138 und 183), der Begriff der sozialen „Devianz“. Theißen, Nachfolge, 113; ders., Jesusbewegung, 142.
266
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
Desintegrationserscheinung Erneuerungsbewegung
evasiv Emigranten, Neusiedler Qumrangemeinde
aggressiv Räuber, Sozialbanditen Widerstandskämpfer
subsiditiv Bettler, Vagabunden Adventisten, Prophetische Bewegungen
Die Jesusbewegung ordnet er dabei unter die subsiditiven Muster ein und zieht Vergleiche zu den zahlreichen „Zeichenpropheten“5 (s.u. IV.2.2) im damaligen Judentum. Die „latente soziale Entwurzelung“6 führt für Jesus also nicht zu Aggression gegen die Gesellschaft oder Rückzug aus derselben, sondern entbindet neues kreatives Potential, das in der Ankündigung des Gottesreiches nicht eine Revolution der Waffen, sondern eine „Revolution der Werte“7 möglich macht.
1.2
Kritik an der These von G. Theißen
Die These Theißens hat intensive Diskussion erfahren.8 Kritikpunkte entzünden sich an den Fragen, ob es diese „latente soziale Entwurzelung“ tatsächlich gab und ob Jesus und seine ersten Jünger ihre arme Wanderexistenz wirklich als realsymbolisches Zeichen der anbrechenden basileia sahen: Jesus als politischer Revolutionär? R. Horsley und D. Oakman vertreten, dass „urbanization, monetization, commercialization, and tenancy promoted by the Roman elites“9 zu Hunger und Verelendung geführt haben. Jesus wird bei ihnen als politischer Revolutionär gezeichnet, der rein politische Ziele10 verfolgt und daher auch zu Recht von Pilatus als politischer Revolutionär betrachtet wird. Diese verkürzende Sicht der Dinge trägt dem Kernstück der Botschaft Jesu, seiner Ankündigung des Gottesreichs, keine Rechnung, auch der emblematische Symbolgehalt der ostentativen Gewaltlosigkeit Jesu bleibt hier ausgeblendet. Wandercharismatiker als Konstrukt? Für W. Stegemann bedeuten Armut und Wanderexistenz Jesu lediglich die „bettelarme Existenz von Hungerleidern“11, die keinen realsymbolischen Zeichencharakter in Bezug auf die basileia trägt. Ob die freiwillige Übernahme von Armut und Heimatlosigkeit wirklich „eine Alternative zur Existenzsorge armer Menschen“12 darzustellen vermag, scheint aber fraglich. 5 6 7 8
9 10
11 12
Theißen, Jesusbewegung, 144. Theißen, Jesusbewegung, 145. So der Titel von Theißen, Die Jesusbewegung. Eine Revolution der Werte. Forschungsüberblicke finden sich bei Stegemann, Horizont, 76–95; Heil, Missionsinstruktion, 25–55 und 48–54; Theißen, Wandercharismatiker, 101–116. Oakman, Aims, 42. Vgl. Horsley, Sociology, 67. Vgl. den Titel von Oakmans Buch: „The Political Aims of Jesus“. Vgl. Horsley, Sociology, 132, der von einem „sharp conflict between the Jesus movement and the ruling institutions“ spricht. Vgl. Stegemann, Wanderradikalismus, 111. Vgl. ebenso Stegemann, Horizont, 86 und 94f. Stegemann, Wanderradikalismus, 113: „In diesem Kontext bildet die Botschaft der Q-Propheten eine Alternative zur Existenzsorge armer Menschen.“
1. Soziale Entwurzelung zur Zeit Jesu?
267
Für Stegemann war es dann erst der Evangelist Lk, der das Verhalten Jesu als „sozialkritisches und sozialethisches Programm“13 weiterentwickelte. J. Draper geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet „the wandering charismatics thesis“ als „a modern scholarly construct.“14 Auch für ihn gibt es nicht genügend Anhaltspunkte, dass Jesus und seine Jünger bewusst ein zeichenhaftes Leben der Armut und Heimatlosigkeit geführt hätten. Massenverelendung und grassierende soziale Entwurzelung? Neuere archäologische Untersuchungen stellen in Frage, dass auf der einen Seite die römischen Fremdherren (wenn auch mit jüdischen Kollaborateuren) und auf der anderen Seite die unterjochte jüdische Bevölkerung gestanden habe. Vielmehr ging der Riss mitten durch das Judentum. Es kann also keine Rede davon sein, dass die ganze Bevölkerung Palästinas damals von Massenverelendung und sozialer Entwurzelung betroffen war. Heute wissen wir, dass im Unterschied zu Skythopolis, Caesarea Maritima und Paneas die Städte Sepphoris und Tiberias hauptsächlich jüdisch besiedelt waren. Die Anwesenheit von „‚jüdischen Leitfossilien‘, wie Ossuare, Mikwaot und Steingefäße“,15 haben dies eindeutig klar gemacht.16 Auch die Stadt Magdala kann mit Sepphoris und Tiberias in eine Reihe gestellt werden: jüdisch, doch den Vorzügen der hellenistischen Kultur gegenüber aufgeschlossen.17 Zangenberg spricht sogar von einer „Scharnierfunktion Magdalas zwischen Mittelmeer und Dekapolis“18. Die Hellenisierung wurde nicht nur von den fremden Herrschern forciert, sondern es war die einheimische Elite, die den Hellenisierungstendenzen Vorschub leistete.19 Gerade unter der Herodianischen Dynastie erreichte die Siedlungsdichte westlich des Sees von Galiläa „eine bisher unerreichte Dichte.“20 Im 1. Jh. v. Chr. entstanden zahlreiche neue Siedlungen wie Nazaret, Gamla, Tabga, Kafarnaum und Magdala.21 Von Massenverelendung und universaler sozialer Entwurzelung kann keine Rede sein.22 13 14 15 16
17
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20 21 22
Stegemann, Wanderradikalismus, 117, vgl. auch 115f. Draper, Charismatics, 45. Zangenberg, Jesus, 27. Vgl. Chancey, Myth, 79f., 93–95; Zangenberg, Jesus, 7–38, 27–29; Freyne, Jesus, 183–207, 190f.; Evans, Jesus, 26: „… Sepphoris in Jesus’ day was a thoroughly Jewish city.“ Vgl. Zangenberg, Galiläer, 139. Auch in Magdala wurden „eine ganze Reihe ‚jüdischer Leitfossilien‘ angetroffen“ (a.a.O. 142), aber auch ein öffentliches Badehaus, Sport- und Freizeitanlagen (a.a.O. 140f.). Ebenso Aviam, Reverence, 123–144; Chancey, Milieu, 127–145. Zur Interaktion zwischen Fischverarbeitungsanlagen und internationalem Handel in Magdala, sowie dem jüdischen Leben dort vgl. den Sammelband von Bauckham (Hg.), Magdala. Zum Hafen von Magdala ebenso: De Luca/Lena, Harbor, 113–163. Zangenberg, Galiläer, 142. Zangenberg/Van de Zande, Art. Urbanization, 174, sprechen von der „indigenous elite who embraced the ‚new fashions‘.“ Vgl. auch Zangenberg, Jesus, 26f. Zangenberg, Jesus, 32. Vgl. Zangenberg, Jesus, 28f. So zu Recht Ostmeyer, Armenhaus, 147–170. Wenn er urteilt (a.a.O. 170): „Es ist ein Unterschied, ob Jesus als Gegner der Römer, als Vorkämpfer gegen soziale Missstände, gesell-
268
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
1.3
Ein cultural split innerhalb der jüdischen Gesellschaft
1.3.1
Galiläa – Land der Gegensätze
Trotz der Segnungen, die der Hellenismus und die Urbanisierung für etliche Juden Palästinas brachte, muss man in Betracht ziehen: „Urbanes Judentum in paganhellenistischem Kontext und eher ländlich geprägtes Judentum in den Dörfern des galiläischen Hügellands existierten ... dicht beieinander.“23 Die Situation in Galiläa war „kulturell … alles andere als homogen.“24 Daher wird das Galiläa zur Zeit Jesu „mehr und mehr als ‚Kaleidoskop‘ unterschiedlicher Gruppen verstanden, weniger als Monolith.“25 Das allerdings führte zu Spannungen innerhalb der Bevölkerung. Es ist „damit zu rechnen, dass … in Galiläa unterschiedliche Interpretationen dessen nebeneinander und zum Teil auch gegeneinander existierten, was Judentum war und zu sein hatte.“26 Man muss mit einer „simultaneous existence of a seemingly very traditional rural world next to strongly urbanized centres of Hellenism beginning already in the 2nd century BCE (Magdala) and continuing well into the 1st century CE (Tiberias)“27 rechnen. Freyne, Meyers, Zangenberg/Van de Zande und Berlin rechnen damit, dass es einen tiefen Riss innerhalb der jüdischen Bevölkerung Galiläas gab.28 Die starken Hellenisierungstendenzen einerseits und die Rückständigkeit der nicht hellenisierten, zumeist ruralen Bevölkerung andererseits führten zu Spannungen.29 „What remained was an atmosphere of distrust and alienation between some Jewish circles and their Hellenized elites, and a Jewish population that was divided about the blessings and curses of Hellenism and the increasing urbanization of their country.“30 1.3.2
Ökonomische Motive
Besonders deutlich werden die Spannungen im Fall von Tiberias knapp vor Ausbruch des Krieges. Hier rivalisieren drei jüdische Gruppierungen (Vita 32–42): die
23
24 25 26 27 28
29 30
schaftliche Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Armut antrat oder ob er die Herrschaft des Satans als sein eigentliches Gegenüber betrachtete“, weist er zu Recht darauf hin, dass die religiösen Aspekte der Botschaft Jesu dominant waren, schätzt allerdings die sozialen Implikationen seiner Botschaft zu gering. Zangenberg, Jesus, 29. Vgl. dazu im Folgenden auch die ausführliche Diskussion bei Tiwald, Roots, 149–175. Zangenberg, Jesus, 33. Zangenberg, Jesus, 32. Zangenberg, Jesus, 33 Zangenberg, News, 481. Vgl. Freyne, Jesus, 192f.; Meyers, Sepphoris, 114; Zangenberg/Van de Zande, Urbanization, 174; Berlin, Romanization, 67. Vgl. Zangenberg, Jesus, 32f. Zangenberg/Van de Zande, Urbanization, 174. Ebenso Wilker, God, 157–187.
1. Soziale Entwurzelung zur Zeit Jesu?
269
Friedenspartei, getragen von „lauter angesehenen Männern“ (Vita 32), die Kriegspartei, bestehend aus „dem niedersten Pöbel“ (Vita 35) und eine Gruppe um Justus, der „eine Änderung der bestehenden Verhältnisse herbeiwünschte, weil er bei einem solchen Umsturz seine eigene Macht zu begründen hoffte“ (Vita 36; Text und Erklärung zu Vita 32–38 s.o. II.6.1.3). Die Einflussreichen und Wohlhabenden sind an einem Krieg mit den Römern nicht interessiert. Nur der „niederste Pöbel“ und unzufriedene Glücksritter wie Justus neigen zum Krieg. Justus erklärt auch prompt seine Motive (Vita 38f.): 38 Jetzt erst, behauptete er, sei sie [sc. die Stadt Tiberias] ihres Vorzugs verlustig gegangen, seit Nero sie dem jungen Agrippa zum Geschenk gemacht habe. Schnell sei nun Sepphoris, nachdem es sich den Römern unterworfen, die Hauptstadt Galiläas geworden, und Tiberias habe den königlichen Hof sowie das Archiv verloren. 39 … Jetzt sei es an der Zeit, zu den Waffen zu greifen, die Galiläer als Kampfgenossen heranzuziehen – denn gerne würden diese, welche die Sepphoriten wegen deren Treue gegen die Römer hassten, ihnen folgen – und sich durch einen mit großer Heeresmacht unternommenen Kriegszug an dem Könige rächen.
Solange Tiberias Hauptstadt Galiläas war, waren die Einwohner aufgrund der für sie anfallenden Vorteile gewillt, mit den Römern zu kollaborieren. Erst als 61 n. Chr. Agrippa II. seine Hauptstadt nach Caesarea-Philippi (heute: Banjas) verlegt,31 regte sich der Widerstand. Der Zorn gegen Agrippa und die Römer richtet sich nun aber gegen eine andere jüdische Stadt, nämlich gegen das mit den Römern assoziierte Sepphoris. Dabei aber vergisst Justus, dass das neugegründete Tiberias 19 n. Chr. unter Herodes Antipas ausgerechnet Sepphoris als Hauptstadt verdrängt hatte. Die innerjüdische Rivalität ist hier also stärker als der Affekt gegen die Römer. Die Motive sind ökonomischer Natur und wurzeln in diesem Fall nicht im religiösen Widerstand jüdischer Minderheiten gegen die römischen Eroberer. Allerdings konnten sich ökonomische und religiöse Motive auch mischen. In Vita 65 bemüht Josephus religiöse Aspekte, nämlich die vom jüdischen Gesetz verbotenen bildlichen Darstellungen im Herodespalast Tiberias. Durchgeführt wird die Zerstörung des Palastes dann von Jesus dem Sohn des Sapphias, dem Anführer τῶν ἀπόρων στάσεως, „der Chancenlosen des Aufstands“ (also: des aufständischen Prekariats, Vita 66). Diese nützen die Gelegenheit gleich für Plünderungen und ermorden alle griechischen Beisassen in Tiberias (πάντας τοὺς ἐνοικοῦντας Ἕλληνας, Vita 67). In Vita 375–379 hingegen richtet sich der Zorn der Galiläer gegen die eigenen Volksgenossen (κατὰ τῶν ὁμοφύλων, 376) der Stadt Sepphoris; Josephus kann nur knapp die Plünderung und Zerstörung verhindern. Das gleiche Schicksal droht Tiberias in Vita 381–389, auch dort ist vom Hass der Galiläer gegen die mit Rom verbündete Stadt die Rede. Ökonomische Motive, der Wunsch nach Freiheit und religiöse Aspekte ergeben auch hier eine explosive Mischung (s.u. IV.2.1 die Ausführungen zu den „Sozialbanditen“). 31
Vgl. Hirschfeld, Art. Tiberias, 1464.
270
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
1.3.3
Fundamentale Risse in der jüdischen Gesellschaft
Die Archäologen Berlin/Overman sprechen von fundamentalen Rissen, die durch die jüdische Bevölkerung gingen.32 Einige der Juden hatten von der römischen Herrschaft massiv profitiert, während andere Gruppierungen sozial verarmten.33 Kleine Familienbetriebe konnten mit den Möglichkeiten, die der städtischen Ökonomie oder Großgrundbesitzern zur Verfügung standen, nicht mehr mithalten.34 Das NT berichtet wiederholt von ausländischen Großgrundbesitzern, die ihr Land gewinnbringend verpachten (Mk 12,1), von betrügerischen Verwaltern, die ihren eigenen Profit suchen (Lk 16,1–8), von Zöllnern, die mit den Römern kollaborieren und daher von den anderen Juden gemieden werden (Mk 2,16f.; Mt 18,17; 21,31; Lk 5,30; 18,11.13) und von verarmten Tagelöhnern (Mt 20,1–16; Lk 15,19; Jak 5,4). Durch die Großgrundbesitzer verschob sich das Gleichgewicht immer mehr, Kleinbauern verarmten, große Plantagen verdrängten kleine Familienbetriebe.35 1.3.4
Tiberias, Sepphoris, Magdala – und Jesus?
Wie wir gesehen haben, waren Tiberias, Sepphoris und Magdala größtenteils jüdische Städte (s.o. IV.1.2). Sepphoris befand sich nur fünf Kilometer von Nazaret, dem Heimatort Jesu, entfernt.36 Beim Ausbau der Stadt wird sich wohl auch Jesus als τέκτων (tektōn, Bauhandwerker, Mk 6,3, wie zuvor schon Josef, Mt 13,55) verdingt haben.37 Umso überraschender ist es, dass Sepphoris kein einziges Mal im Neuen Testament erwähnt wird. Gleiches gilt auch für Tiberias und Magdala. Tiberias wurde 19 n. Chr. durch Herodes Antipas zur Hauptstadt bestimmt. Müsste man nicht annehmen, dass Jesus gerade dort predigte? Trotzdem begegnet Tiberias nur als Toponym für den „See von Tiberias“ (Joh 6,1.23; 21,1) – und auch das nur im JohEv, nicht in der synoptischen Tradition. Magdala wiederum war ebenfalls eine blühende, mondäne, jüdische Stadt. Der Name wird im NT allerdings nur in Verbindung mit der Herkunft von Maria „der Magdalenerin“ (Μαρία ἡ 32 33
34 35
36 37
Berlin/Overman, Introduction, 9: „fundamental fissures … [in the] Jewish population.“ Vgl. Freyne, Revolt, 51: „The causes for these deep divisions in Jewish society were manifold, and certainly cannot be laid at the door of the Romans alone. Some Jews had benefited greatly from the increased opportunities of the Hellenistic age, thus creating a wider gap than had existed at any other period previously.“ Vgl. Freyne, Jesus, 196. Vgl. Kloppenborg, Growth, 61: „… tenancy became an important instrument of the agricultural economy in Jewish Palestine … The growth of large estates had important effects on the structure of labour: not only were smallholders forced to cede their plots in favour of large estates, … but the labour demands of such properties also distorted established agricultural patterns. … There is evidence of a shift from small-scale polycropping to large-scale monoculture oriented to export…“ Vgl. Weiss, Art. Sepphoris I, 1324; Chancey, Milieu, 127–145; Ebner, Stadt, 15f. Vgl. Kollmann, Einführung, 94.
1. Soziale Entwurzelung zur Zeit Jesu?
271
Μαγδαληνή, Mk 15,40 u.ö) erwähnt. Jesus scheint weder in Sepphoris noch Tiberias oder Magdala gepredigt zu haben. Hiermit wird klar, „dass Jesus offensichtlich nur in einem geografisch klar umrissenen Teil Galiläas intensiver aktiv war.“38 Man wird sogar sagen können: „So selektiv Jesu geographischer Radius nach dem NT ist (Gebiet am See mit unmittelbarer Umgebung nach Osten und Norden; Dörfer, Besuch von Dörfern und kleiner Städte in dieser Region, Aussparen von Sepphoris und Tiberias), so begrenzt ist sein Adressatenkreis.“39 Das bedeutet wiederum: „Der Weg Jesu entspricht nicht dem gesamten kulturellen Spektrum Galiläas, das wir aus der Archäologie eruieren können.“40 Der Schwerpunkt der Jesusüberlieferung fokussiert auf ländliche Strukturen, es kommt zu einer „Ausblendung der urbanen Milieus“41. Auch eine „Stadt“ wie Kafarnaum war im Vergleich mit Sepphoris, Tiberias oder Magdala nicht mehr als ein größeres Dorf. Gerade in der Logienquelle hat sich dieses rurale Habitat als Hintergrundfolie der frühen Jesusbewegung noch deutlich gehalten.42 Während die späteren Benutzer der Logienquelle, Mt und Lk, bereits deutlich großstädtische Kultur einfließen lassen,43 spiegelt die Logienquelle selbst vor allem die „Welt der Feldarbeit oder des Haushaltes“ wider, die Gleichnisse in Q „weisen eine ländliche Perspektive auf, städtisches Leben ist nicht im Blick.“44 Das zeigt sich auch in Q 10 anhand der einfachen Hausmission in überschaubaren Dorfgemeinden. Aber auch die Mission ganzer Ortschaften setzt „überschaubare soziale Gebilde“ voraus, denn die Ortschaft „handelt als ganze, wenn sie die Jünger aufnimmt oder abweist.“45 Und der anschließende Staubgestus im Falle der Ablehnung ist eher auf einem kleinen Marktplatz denkbar, wo man zur ganzen Ortschaft reden konnte, als im Menschengewirr einer Großstadt.46
38 39 40
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44
45 46
Zangenberg, Galiläer, 152. Zangenberg, Jesus, 38. Zangenberg, Galiläer, 155. Auf diesen verengten geographischen Radius wird auch bei Ebner, Stadt, verwiesen. Jesus habe die „königlichen Verwaltungsstädte bewusst und klugerweise gemieden“ (15), denn Herodes Antipas zog schon Jesu Lehrer Johannes den Täufer gewaltsam aus dem Verkehr, und der „einzig sicher bezeugte Aufenthalt Jesu in einer großen Stadt [sc. Jerusalem] hat ihm den Tod gebracht“ (16). Zangenberg, Galiläer, 155. Vgl. Tiwald, Gott, 64. So auch Kloppenborg, Q, 67f: „Matthew and Luke are Gospels oriented to urban settings.“ Für Lk steht die Stadtzentriertheit völlig außer Zweifel (vgl. Hoffmann, Studien, 278–280), aber auch Mt verrät eindeutig urbane Kultur, wenn er große Ausfallstraßen (vgl. 22,9: τὰς διεξόδους τῶν ὁδῶν) erwähnt, oder die „Heilige Stadt“ Jerusalem (4,5) und die „Stadt des großen Königs“ (5,35). Schröter, Entscheidung, 74; ebenso Kloppenborg, Q, 69: „Q presents us with a rural, Galilean Jewish gospel …” Zeller, Logienquelle, 51. Vgl. Tiwald, Gott, 64.
272
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
1.3.5
Jesus in nichtjüdischen Städten?
Das Neue Testament berichtet uns von Ausflügen Jesu in das östlich vom See Gennesaret gelegene Gebiet der Dekapolis (Mk 5,20; 7,31) und nach Norden in das Gebiet von Tyros und Sidon (Mk 7,24.31). Dort gab es starke jüdische Minderheiten, die offensichtlich als Zielgruppen Jesu in Frage kamen. Josephus B.J. 2,588 verweist darauf, dass 400 Anhänger des jüdischen Revolutionsführers Johannes von Gischala (s.o. II.6.1.3) ἐκ τῆς Τυρίων χώρας καὶ τῶν ἐν αὐτῇ κωμῶν („aus dem Umland von Tyros und aus den dortigen Dörfern“) kamen.47 Interessant ist hier, dass Jesus nicht die Stadt selbst, sondern nur das ländliche Umland der Stadt betritt (Mk 7,24: εἰς τὰ ὅρια Τύρου, vgl. auch V 31; der Pluralausdruck ὅρια meint hier den ganzen Verwaltungsbezirk).48 Auch in der Gegend der Dekapolis und besonders in Gerasa gab es eine starke jüdische Minderheit.49 B.J. 2,458–461 berichtet, dass es 66 n. Chr. im Zuge des jüdischen Kriegs zwischen der jüdischen Minderheit in der Dekapolis und der syrischen Bevölkerung zu schweren Spannungen gekommen sei – unter anderem auch in Gerasa. Dieser Konflikt schwelte allerdings schon seit der hasmonäischen Eroberung des Ostjordanlandes und der Befreiung dieser Gebiete aus jüdischer Herrschaft durch Pompeius (63 v. Chr.; A.J. 14,74–76). Auch betreffs der Dekapolis scheint Jesus eher im ruralen Einzugsgebiet und nicht auf urbanem Territorium unterwegs zu sein. Mk 7,31 legt dies zumindest nahe (auch hier der Ausdruck ὅρια), obendrein handelt die Perikope Mk 5,1–20 ganz klar in ländlichem Gebiet bei Schweinezüchtern. Jesus weist zwar keine Berührungsängste Nichtjuden gegenüber auf, sein Interesse aber gilt den in der Diaspora wohnenden Juden, die er sammeln und für die basileia gewinnen möchte. 1.3.6
Selektiver geographischer Radius – Wiederherstellung Israels?
Wie aber lässt sich der selektive geographische Radius Jesu erklären? Ist es nicht sonderbar, dass Jesus lieber jüdische Minderheiten in nichtjüdisch geprägten Gegenden wie der Dekapolis besuchte als die unmittelbar in Galiläa liegenden, mehrheitlich jüdisch geprägten Städte Sepphoris, Tiberias und Magdala? Zunächst: Die Ausflüge Jesu in das Gebiet außerhalb Israels waren wohl eher zeichenhaft zu verstehen. Genauso wie mit der symbolischen Einsetzung des Zwölferkreises, erhebt Jesus auch in seinem Gang in die Diaspora Anspruch auf ganz Israel – Bilder der endzeitlichen Heimführung Israels (Jes 60,4) werden hier evoziert. Für die Endzeit erwartete man schließlich die Wiederherstellung der zwölf Stämme.50 Die Univer-
47
48 49 50
Betreffs der ethnischen Verhältnisse im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet, vgl. Theißen, Lokalkolorit, 69–73. Vgl. Theißen, Lokalkolorit, 69. Vgl. dazu Theißen, Lokalkolorit, 116–118; Tiwald, Kranken, 87. Vgl. Merklein, Gottesherrschaft, 42; Gnilka, Christen, 182.
1. Soziale Entwurzelung zur Zeit Jesu?
273
salität einer Restauration ganz Israels wird sogar darin deutlich, dass Jesus bewusst auch auf Zöllner, Sünder, kultisch Unreine, Ausgegrenzte und Frauen zugeht, da diese alle Teil Israels sind und daher Zielgruppe seiner Botschaft. Dabei vertritt Jesus eine „,offensive Reinheit‘ und ,inklusive Heiligkeit‘, die den Kontakt mit dem Unheiligen nicht scheut“51: Nicht die Unreinheit steckt an, sondern die Reinheit der anbrechenden basileia soll nun alles rein machen, so wie nach Q 13,21 ein kleines Stück Sauerteig das ganze Mehl durchsäuert (s.u. V.5.2.3–4). Wenn aber Jesus nicht einmal Zöllner, Huren, Aussätzige und andere Randgruppen vom Heil ausschließt, warum predigt er dann nicht auch in jüdischen Städten wie Tiberias, Sepphoris und Magdala? 1.3.7
Jesu Option für die Armen
Als Antwort auf die soeben gestellte Frage legt sich nahe, dass aufgrund der starken sozioökonomischen Spannungen im damaligen Galiläa die Hauptadressaten Jesu in den sozial benachteiligten, ruralen Strukturen zu suchen waren. Nicht ohne Grund werden uns im NT größtenteils die Verlierer der Gesellschaft vor Augen geführt: Kleinbauern, Tagelöhner, arme Fischer und Handwerker, Prostituierte und Aussätzige. Die Gewinner der Urbanisierung bilden nicht das Zielpublikum, wie es schon Jesus über den Täufer, seinen Lehrer, in Q 7,25 sagt: Leute, die feine Kleider tragen, wird man hier vergeblich suchen. Selig gepriesen werden vielmehr die Armen, Hungernden, Trauernden und Geschmähten (Q 6,20–22). Nur die Armen werden das Königreich Gottes erben (Q 6,20), denn „eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Mk 10,25). In diesen Aussagen ist die tiefste Überzeugung Jesu eingefangen: die Option Gottes für die Armen. Auch in dieser Sichtweise erweist sich Jesus als Nachfolger der alttestamentlichen Propheten. Daher würde es zu kurz greifen, die Agenda Jesu nur auf sozio-politischen Protest zu verkürzen. J. Zangenberg bringt es auf den Punkt: „Jesu Zuwendung zu ländlichen Milieus, den Armen oder Marginalisierten der galiläischen Gesellschaft kann daher nicht als direkter Reflex auf grassierende Unterdrückung und Not in Galiläa verstanden werden, sondern ist eine bewusste Akzentsetzung, die ihre Wurzeln in seiner recht eigenen herrschafts- und sozialkritischen Rezeption der Heilstraditionen Israels hat, sozusagen in einer selbständigen, theologisch motivierten ‚Option für die Armen.‘“52 Damit findet auch G. Theißens letzte Notiz (2011) betreffs der Frage von Armut, 51
52
Theißen/Merz, Jesus, 380. Vgl. auch Theißen, Reinheitslogion, 242. So bereits Berger, Pharisäer, 238–248, und Loader, Law, 523. Zuletzt hat auch Avemarie, Purity, 276 und 279, vom Konzept der „dynamic purity“ genau in diesem Sinne gesprochen. Zangenberg, Galiläer, 155. In ähnlicher Weise auch Hoppe, Galiläa, 190–198. Ebner, Stadt, 17: „Weder die herodianischen Städte innerhalb Galiläas noch die Großstädte, die Galiläa im Westen (an der Mittelmeerküste) und im Osten (in der Dekapolis) umgeben, gehören
274
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
sozialer Entwurzelung und sozialer Desintegration im damaligen Palästina ihren berechtigten Ort: „Vieles spricht dafür, dass das Heimatland der Jesusbewegung damals wirtschaftlich aufblühte und eben deswegen eine Krise erlebte. In solchen Zeiten werden traditionelle Werte genauso in Frage gestellt wie in Zeiten des Abstiegs und Verfalls.“53 Die von Jesus verkündigte basileia tou theou war zwar in erster Linie eine religiöse Größe, ganz aus dem Glauben an den alttestamentlichen Gott und seine Verheißungen geboren; dennoch war die basileia keine jenseitige Größe, sondern eine Wirklichkeit, die den konkreten Gang der Welt verändern sollte: Eine „Kontrastgesellschaft Gottes“,54 die letztlich über die von Jesus geforderte Nächstenliebe zu einer „Revolution der Werte“55 statt zu einer Revolution der Waffen führen sollte.
2.
Sozialbanditen und Zeichenpropheten
Die These von G. Theißen, dass es zur Zeit Jesu zu sozialer Desintegration und Anomie gekommen sei, lässt sich also grundsätzlich halten. Gemäß der oben angeführten Tabelle (s.o. IV.1.1) gab es evasive, aggressive und subsiditive Muster. Zwei Besonderheiten stechen für Palästina besonders hervor: die „Sozialbanditen“ und die „Zeichenpropheten“. Jesus verstand sich als eschatologischer Zeichenprophet, hingerichtet wurde er als Sozialbandit (s.o. III.10.2.4). Beide Gruppierungen sind für das Verständnis der Jesusbewegung zentral.
2.1
Sozialbanditen
2.1.1
Der Ausdruck „Sozialbandit“
W. und E. Stegemann verwenden den Ausdruck „Sozialbandit“,56 um die λῃσταί, lēstai, „Räuber“ (s.o. III.5.3) der Zeit Jesu möglichst korrekt zu umreißen. Im Sozialbanditen verbinden sich das prosaische Streben nach ökonomischem Gewinn und eine „höhere“ Motivation, wie z.B. patriotische oder religiöse Intentionen.
53 54 55 56
zum Aktionsradius Jesu. Seine Adressaten sind unter den Fischern und Bauern in den kleinen Orten am Nordufer des Sees Gennesaret zu finden. … Die Wiege der Jesusbewegung ist das ländliche Milieu in Galiläa.“ Vgl. dazu Tiwald, Roots, 149–175. Theißen, Wandercharismatiker, 115. So Lohfink, Jesus, 181. Vgl. Theißen, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 157–160. Vgl. dazu im Folgenden auch Tiwald, Wanderradikalismus, 47–51. Der Ausdruck wurde von E. Hobsbawm in einer 1959 veröffentlichten vergleichenden Studie über Formen des sozialen Widerstands im 19. und 20. Jahrhundert geprägt.
2. Sozialbanditen und Zeichenpropheten
275
Daher wird der Sozialbandit in weiten Bevölkerungskreisen nicht einfach nur als „Räuber“ wahrgenommen, sondern oft als „Held, Retter, Rächer und Kämpfer für Gerechtigkeit betrachtet; man hält ihn sogar für einen Führer der Befreiung, jedenfalls für einen Mann, den man zu bewundern hat, dem man Hilfe und Unterstützung gewähren muß.“57 2.1.2
Sozialbanditen zur Zeit Jesu
Die bei Josephus und im NT genannten λῃσταί (zumeist unzutreffend als „Räuber“ übersetzt) lassen sich tatsächlich am besten mit dem Ausdruck „Sozialbanditen“ umreißen. Wie bereits erwähnt, fand die Partei der Zeloten gerade in der Unterschicht ihre zahlreichsten Anhänger. Unzufriedenheit mit der miesen sozialen Situation und der Frust von jenen, die in der hellenistischen Urbanisierungspolitik nicht gewonnen, sondern verloren hatten (ökonomische Parameter), mischten sich hier mit dem Hass auf die Fremdherrschaft der Römer (politisch-patriotische Motivation) und wurde nicht selten mit dem Drang nach religiöser Befreiung (religiöse Überhöhung) verbunden. Daher ist bei der Zelotenbewegung in Palästina tatsächlich immer auch ein messianisches Moment im Spiel, wie M. Hengel zu Recht gezeigt hat: „… es handelte sich bei den [sc. palästinischen] λῃσταί wohl wirklich größtenteils um Angehörige der sozial benachteiligten Schichten, die unter anderem für eine gottgewollte Neuordnung der Besitzverhältnisse kämpften.“58 Judas Galilaios hatte sich bei seinem Einzug in Jerusalem als König huldigen lassen (B.J. 2,434). Sein Sohn Menachem tat es ihm gleich (B.J. 2,434). Im Königstitel schwangen – in Anlehnung an das Königtum Davids – messianische Ansprüche mit, dies „zeigt die Verquickung von religiösen, sozialen und militärischen Faktoren bei den Aufständischen.“59 Die starke Sympathie, welche den Aufständischen von weiten Kreisen der einfachen Bevölkerung entgegengebracht wurde, samt der Verquickung mit religiösen Motiven zeigt sich etwa in B.J. 1,648–655/A.J. 17,149– 151: Als Herodes d. Gr. im Sterben lag, stifteten Matthias und Judas, „die als sehr genaue Kenner der väterlichen Gesetze galten und darum beim Volk in außerordentlich hohem Ansehen standen“ (B.J. 1,648), ihre Schüler an, einen goldenen Adler, den Herodes über dem Haupttor des Jerusalemer Tempels hatte anbringen lassen, herunterzureißen. Der römische Adler wurde als Kotau gegenüber der römischen Fremdherrschaft besonders demütigend empfunden (patriotisch-politische Komponente), hinzu gesellt sich das jüdische Bilderverbot als Verwirklichung der „väterlichen Gesetze“ (religiöse Motivation). Die Bevölkerung unterstützte das Vorhaben mit ihrer Sympathie. Für diese Tat ließ Herodes Matthias und Judas
57 58 59
Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 157 (mit einem Zitat von Hobsbawm). Hengel, Zeloten, 47. Schäfer, Geschichte, 146.
276
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
hinrichten (A.J. 17,206). Nach Herodes’ Tod kam es deswegen zu heftigen Aufständen im Volk, der Zorn entlud sich nun gegen Archelaos, der darauf 3000 Aufrührer niedermetzeln ließ (A.J. 17,214–218). Als Archelaos daraufhin nach Rom fuhr, „um die Königswürde zu erlangen“ (vgl. den Reflex auf dieses Ereignis in Lk 19,12), sendet das Volk eine Gesandtschaft hinterher mit der Botschaft: „Wir wollen nicht, dass dieser Mann unser König wird“ (Lk 19,14; so berichtet in A.J. 17,230). Sozioreligiöse und sozio-politische Muster sind hier eng verwoben. Sozio-ökonomische Muster treten dann hinzu, wenn etwa B.J. 2,228 von einem „Räuberaufruhr“ (λῃστρικὸς θόρυβος) berichtet:60 Ein kaiserlicher Sklave wird auf der Landstraße von Bethoron ausgeraubt. Die örtliche Bevölkerung wird daraufhin gefangen vor den Präfekten Cumanus geführt, weil sie die Räuber nicht verfolgt habe – offensichtlich sympathisierte die Landbevölkerung mit den Sozialbanditen. In diesem Zusammenhang findet ein Soldat – wahrscheinlich bei einer Hausdurchsuchung – eine Gesetzesrolle, die er zerreißt und ins Feuer wirft. Daraufhin strömen die Menschen aus dem ganzen Landstrich von Caesarea zusammen und fordern den Tod des Übeltäters. Cumanus muss dem Druck der Masse nachgeben, um nicht noch Schlimmeres zu provozieren. Hier deckt die Bevölkerung die Raubzüge der Aufständischen, die in Robin-Hood-Manier agieren. Neben persönlicher Bereicherung sind hier patriotischer Freiheitsdrang und Widerstand gegen religiöse Unterdrückung (verbrannte Torarolle) federführend. 2.1.3
Moderne Parallelen zu den „Sozialbanditen“ der Zeit Jesu
R. Deines hat einige anregende Parallelen von der Zelotenbewegung zur Zeit Jesu in die Gegenwart gezogen, indem er auf die „Parallelität zwischen den Sikariern und den radikalen islamistischen Gruppierungen des Nahen Ostens“ 61 verweist. Genauso wie die Zelotenbewegung ist auch der islamische Fundamentalismus ein Sammelbecken unterschiedlichster Gruppierungen und Motivationen. Zeloten wie Islamisten „erleben regelmäßig Spaltungen, Neuformierungen und regionale Ableger …“62 Verbindend aber ist all diesen Gruppierungen das Dreigestirn aus ökonomischen, politischen und religiösen Motivationen, die sich – in zumeist recht unerfreulicher Weise – gegenseitig durchdringen, anfeuern und begründen. Religiöser Natur ist bei Zeloten wie Islamisten die Sehnsucht, dass „Gott allein alle Souveränität zukommt“63 (s.o. III.5.2) – auch bei Jesus ist ja die „Gottesherrschaft“ ein zentraler Gedanke, nur dass hier Liebesgebot und Friedfertigkeit im Mittelpunkt stehen und nicht der Gedanke des „Heiligen Krieges“. In politischer Hinsicht gibt es etliche Parallelen zwischen den heutigen USA und den damaligen Römern. Ohne 60 61 62 63
Vgl. Tiwald, Wanderradikalismus, 48f. Deines, Freiheitsbewegung, 440. Deines, Freiheitsbewegung, 443. Deines, Freiheitsbewegung, 442.
2. Sozialbanditen und Zeichenpropheten
277
Zweifel haben Hellenisierung und „American Way of Life“ Einheitskulturen geschaffen, die für viele Menschen Wohlstand und grenzübergreifende Verständigung ermöglichen. Doch nicht alle partizipieren an den Segnungen der pax Romana/pax Americana. Die zielstrebige Verfolgung eigener politischer und ökonomischer Interessen durch die USA lässt bei Feinden wie Verbündeten oft Verstimmung aufkommen (man denke hier nur an die NSA-Abhöraffäre, die auch im USAfreundlichen Deutschland für beträchtliche Irritationen gesorgt hat). Weiters könnte man fragen, ob die USA ihren Bonus als moralische Weltmacht verspielt haben, wenn sie Lager wie Guantanamo und Abu-Ghuraib betreiben? Hat Barack Obama den Friedensnobelpreis tatsächlich verdient – oder ist man hier nicht ein wenig an die panegyrischen Preisungen des Kaisers Augustus erinnert, der etwa in der Inschrift von Priene als Bringer des Goldenen Zeitalters „dem Krieg ein Ende setzen und den Frieden in schöner Ordnung gestalten“ wird, und mit dessen Geburt „für die Welt die von ihm ausgehenden ‚Evangelien‘ (also die ‚guten Nachrichten‘; τῶν δι᾿ αὐτὸν εὐανγελίων [sic]) beginnen“?64 Diese Inschrift gibt eine weit verbreitete Kaiserideologie zur Zeit des Augustus wieder, der u.a. von Horaz und Vergil als Bringer des Goldenen Zeitalters gefeiert wurde.65 Wie bittere Ironie muss sich für Juden in Palästina solche Panegyrik ausgenommen haben, da doch Augustus 6 n. Chr. in Judäa einen Zensus durchführen ließ und damit den Aufstand des Judas Galilaios auslöste.66 Auch Ökonomische Motive finden eine Parallele: In der arabischen Welt ist das Gefühl politischer und wirtschaftlicher Benachteiligung gegenüber dem Westen noch immer groß. Sozial unterprivilegierte Schichten radikalisieren sich leicht, Hunger ist die stärkste Triebfeder für Umstürze. Auch bei den Taliban kommen starke ökonomische Motivationen hinzu – etwa der Handel mit Opium, Heroin und Haschisch. Regionale Clanchefs stellen eine Art mafiöse Unterstruktur zur demokratisch gewählten Volksvertretung dar und verwalten Geld und Einfluss nach eigenem Gutdünken. Auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) erweist sich als prosperierendes Unternehmen: Mit Menschenhandel werden im Namen Gottes horrende Geldbeträge verdient. Eine weitere Parallele findet sich in der „Wahl der Waffen“: Ähnlich wie moderne Terroristen griffen auch die Sikarier zur „asymmetrischen Kriegsführung“ durch öffentliche Inszenierungen ihrer Grausamkeiten, um damit „Terror“ (also: panische Angst) zu verbreiten. Diese Methoden zerrütten nicht nur den Widerstandswillen
64
65 66
Zitiert nach Schreiber, Weihnachtspolitik, 124, der hier (mangels einer aktuellen kritischen Neuausgabe) die alte Textausgabe von Laffi mit den von Dreyer/Engelmann dokumentierten Neufunden ergänzt. Vgl. Schreiber, Weihnachtspolitik, 30–32. Wahrscheinlich polemisiert Lk in seiner Weihnachtsgeschichte gegen diese Sichtweise, indem er Augustus den wahren Friedensfürst, Erlöser und Bringer des Evangeliums – nämlich Jesus – gegenüberstellt. Vgl. Schreiber, Weihnachtspolitik, 69f.
278
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
der Gegner, sondern sind auch „werbewirksame“ Inszenierungen für Sympathisanten. Mit geringen Anhängerzahlen kann man große Wirkungen erzielen.
2.2
Zeichenpropheten
Auch wenn Jesus als λῃστής hingerichtet wurde (s.o. III.11.4.3), ist sein Selbstverständnis doch nicht das eines Widerstandskämpfers, selbst wenn sich die Erwartung der Gottesherrschaft mit dem Anliegen der Zeloten deckt (s.o. III.5.2). Unter den im damaligen Palästina auftretenden Phänomenen sozialer Anomie stand Jesus den Zeichenpropheten am nächsten. 2.2.1
Zeichenpropheten und Widerstandskämpfer
Als 6 n. Chr. mit der Absetzung des Archelaos Judäa unter direkte römische Herrschaft kam, ließ Kaiser Augustus einen Zensus durchführen, was zum Aufstand des Judas Galilaios führte. Während die Zeloten mit politischen Mitteln und dem Griff zur Waffe die religiöse Alleinherrschaft Gottes durchsetzen wollten,67 verfolgten die Zeichenpropheten einen anderen Weg: Gott selbst werde eingreifen und sein Volk erlösen. Oft gingen dabei allerdings religiöses Schwärmertum und gewaltsame Rebellion Hand in Hand, die Grenze zwischen den beiden Gruppierungen war fließend, wie die bei Josephus genannten Beispiele zeigen. 2.2.2
Zeichenpropheten in Palästina zur Zeit Jesu
In A.J. 18,85–87 wird ein samaritanischer Prophet genannt,68 der um 36 n. Chr. verspricht, die von Mose gemäß samaritanischer Überlieferung am Garizim vergrabenen Tempelgeräte wieder zu finden. Pilatus lässt das Unterfangen als „Aufstand“ durch Reiterei und Fußtruppen niederschlagen; das von ihm angerichtete Gemetzel führt schließlich zu seiner Abberufung. In diesem Fall gehen „Aufstand“ und charismatisches „Prophetentum“ deutlich ineinander über. Josephus bezeichnet die Episode als „Aufruhr“ (θόρυβος, A.J. 18,88); die treibende Kraft allerdings war ein „Prophet“, der die Volksmenge auf den Berg Garizim führte. Hier treten auch messianische Muster in den Blick, wie etwa die endzeitliche Erwartung eines „Propheten wie Mose“ (s.o. III.4.6.2; Dtn 18,15.18; Apg 3,22). Ein gewisser Theudas wird in A.J. 20,97 erwähnt, der während der Zeit des Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.) auftrat (in Apg 5,36f. zeitlich falsch eingeordnet, nämlich vor Judas Galilaios). Theudas, der sich als Prophet bezeichnet, verkündet,
67 68
Vgl. Hengel, Zeloten, 148. Vgl. im Folgenden Theißen/Merz, Jesus, 141f., und Tiwald, Wanderradikalismus, 60–62.
2. Sozialbanditen und Zeichenpropheten
279
er könne durch sein Wort die Fluten des Jordan teilen. „Offenbar wollte er in Umkehrung der Landnahme unter Josua (vgl. Jos 3) seine Anhänger durch den Jordan hindurch zurück in die Wüste führen, um von dort aus die Befreiung einzuleiten.“69 Auch hier mischen sich religiöse Erlösungs- und politische Befreiungshoffnungen. Demzufolge wird Theudas auch von Apg 5,36 in eine Reihe mit dem Widerstandkämpfer Judas gestellt. Cuspius Fadus reagiert prompt, er sendet seine Reiterei aus und lässt Theudas und viele seiner Anhänger töten. Zur Zeit des Prokurators Felix (52–60 n. Chr.) trat ein nicht namentlich genannter „Ägypter“ auf (A.J. 20,169–172/B.J. 2,262f.), der auch in der Apg Spuren hinterlassen hat (Apg 21,38). Auch dieser wird als Prophet bezeichnet, er führte eine große Menschenmenge auf den Ölberg, da auf sein Geheiß die Mauern der Stadt Jerusalem einstürzen sollen – eine Analogie zur Eroberung Jerichos. Felix schreitet mit der Reiterei ein und lässt nach dem Bericht Josephus’ 4000 Tote zurück. Auch wenn die Zahl stark übertrieben ist, ergibt sich doch ein eindrucksvolles Bild von der Bereitschaft des Volkes, solchen Propheten zu folgen. Josephus berichtet in diesem Zusammenhang auch von mehreren „Betrügern und Gauklern“ (οἱ δὲ γόητες καὶ ἀπατεῶνες ἄνθρωποι; A.J. 20,167), die er mit den λῃσταί gleichsetzt – die Trennlinie war wohl fließend. Ein Sonderfall ist Jesus ben Ananias, der 62 n. Chr. in Jerusalem auftrat und immer wieder die baldige Zerstörung des Jerusalemer Tempels prophezeite (B.J. 6,300–309). Daraufhin wurde er wegen Unruhestiftung vom Sanhedrin festgenommen und an den römischen Prokurator Albinus ausgeliefert. Dieser verhörte ihn und ließ ihn als vermeintlich Verrückten (B.J. 6,305: μανία) nach der Geißelung wieder laufen. Hier kommt ausnahmsweise einer der Propheten nicht zu Tode, vielleicht, weil dieser keine Anhängerschaft im Volk hatte und daher als ungefährlich eingeschätzt wurde. 2.2.3
Jesus als Zeichenprophet
An diesen Beispielen erkennt man unschwer, dass Jesus in die Kategorie „Zeichenprophet“ fällt, wobei er mit seinen Ansprüchen nicht nur „kontextplausibel“ agierte, sondern innerhalb dieses Rahmens auch Akzente von „kontextplausibler Individualität“ setzte.70 Kontextplausibel ist die Erwartung des Gottesreiches durch Jesus, ähnliche Hoffnungen hatten auch die Zeloten. Auch die Hoffnung, mit besonderen Zeichenhandlungen die Nähe des Gottesreiches greifbar zu machen, passt zu den Zeichenpropheten. Ein ’( אותot, „Zeichen“) ruft auch bei AT-Propheten eine bestehende Wirklichkeit in Erinnerung oder nimmt eine noch nicht eingetroffene, aber 69 70
Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 151. In den Plausibilitätskritierien einer Rückfrage nach dem historischen Jesus folge ich Theißen/Merz, Jesus, 116–120, bzw. ausführlicher Theißen/Winter, Kriterienfrage, passim.
280
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
unmittelbar bevorstehende Wirklichkeit symbolisch vorweg.71 Reale Zeichen der anbrechenden basileia sind die Wunderheilungen Jesu und seine Mahlpraxis (s.o. III.10.2.2, s.u. V.7.3.3). In den Wunderhandlungen wird die prälapsarische Unversehrtheit der Menschen (protologische Komponente) in der nun anbrechenden Endzeit wiederhergestellt (eschatologische Komponente; s.u. V.5.2.2). In den Mählern Jesu aber wird ein kleines Stück des himmlischen Festmahles vorweggenommen, ein kleines Stück der Festfreude der basileia schon auf Erden vorverkostet. Dabei setzt Jesus aber auch Antithesen zu anderen Gruppierungen („kontextplausible Individualität“). In seiner emblematischen Armut und „Wirtschaftsenthobenheit“72 (vgl. Q 10,4; 12,22–31) setzt er einen Kontrapunkt zu Sozialbanditen, Kollaborateuren mit den Römern (vgl. Zachäus) und sozialen Aufsteigern in den Städten. Seine Gewaltlosigkeit (Q 6,27–29; 10,3) ist eine Antithese zu den Zeloten. Jesu Heimatlosigkeit (Q 9,57f.) symbolisiert die endzeitliche familia Dei, wo alle, die sich auf sein Reich einlassen, Kinder Gottes und damit untereinander Brüder und Schwestern sind (Mk 3,33–35; 10,29f.).73 Dabei ist das Verhalten Jesu nicht unpolitisch, am besten charakterisiert man diese Haltung als präpolitisch:74 Die basileia stellt eine „Gegenwelt“,75 eine „Kontrastgesellschaft“76 zu allen irdischen Machtbestrebungen dar: Sie verändert die Welt, doch nicht mit Gewalt, sie ist eine Revolution der Werte, nicht der Waffen (s.o. IV.1.1).
3.
Soziale Spannungen in der Geschichte Israels
Der cultural split zwischen Gewinnern und Verlierern der hellenistischen Urbanisierungspolitik hat eine lange Vorgeschichte, durch welche die beiden Jüdischen Kriege überhaupt erst verständlich werden.
3.1
Soziopolitische Hintergründe
Nach dem Tod Alexanders d. Gr. wurde Palästina zum Zankapfel zwischen Ptolemäern und Seleukiden. Rivalisierende Adelsfamilien in Jerusalem fuhren dabei eine beklagenswerte Schaukelpolitik zwischen den Machtsphären. Besonders seit Joseph, dem Sohn des Tobias aus dem Clan der Tobiaden, setzten diese Spannungen ein (Ende des 3. Jh. v. Chr.). „Ohne Zweifel entstand bereits in ptolemäischer 71 72 73 74 75 76
Vgl. Helfmeyer, Art. אות, 183 und 202; Tiwald, Wanderradikalismus, 156. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 148, vgl. 154. Vgl. Tiwald, Art. Gesetz, 299. Vgl. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 183. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 183. Lohfink, Jesus, 181.
3. Soziale Spannungen in der Geschichte Israels
281
Zeit die verhängnisvolle Gleichsetzung von ‚arm‘ und ‚fromm‘ sowie von ‚reich‘ und ‚hellenisiert‘, die sich in der Folgezeit zu einem gefährlichen sozial-religiösen Gemisch entwickeln sollte.“77 Die große Resonanz, welche dann der Makkabäeraufstand in Israel fand, war nicht zuletzt den zuvor genannten sozio-ökonomischen Strukturen geschuldet. Bald aber verkam auch die Politik der Makkabäer von einem Kampf um Religionsfreiheit zu purem dynastischem Machtstreben. Dies wurde spätestens klar, als Jonatan (160–142 v. Chr.) als Nicht-Zadokide das Hohepriesteramt widerrechtlich an sich riss. Wahrscheinlich spaltete sich damals eine akut endzeitlich eingestellte zadokidische Gruppierung unter dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ vom Jerusalemer Tempel ab und bezeichnete Jonatan und seine Nachfolger fortan als „Frevelpriester“. Diese Ereignisse haben in 1QpHab XII,6–10 (einer Auslegung zu Hab 2,17) ihren Niederschlag gefunden, wo dem Frevelpriester auch vorgeworfen wird, den „Besitz der Armen geraubt“ zu haben. Die starke Verwobenheit von religiösen und sozialen Spannungen wird auch hier deutlich. Als es unter Aristobulos II. (67–63 v. Chr.) zu einem Bruderzwist mit seinem Bruder Hyrkanos kam, sandten nicht nur die beiden verfeindeten Brüder, sondern auch das einfache Volk eine Gesandtschaft an Pompeius. In A.J. 14,41 erfahren wir, dass das Volk von keinem der Brüder viel hielt, sondern beiden vorwarf, die seit Aristobulos I. eingeführte und unter Alexander Jannaios ausgebaute Regierungsform der Königsherrschaft dazu auszunützen, das Volk zu Sklaven zu machen. Hier wird klar, dass „das hasmonäische Königtum nicht anders empfunden wurde als die Tyrannis eines heidnischen Königs.“78 Das einfache Volk aber wünschte nach A.J. 14,41 „die Einrichtung, dass sie nur den Priestern des bei ihnen verehrten Gottes zu gehorchen brauchten“ – also eine Wiederherstellung der alten Theokratie, wie sie nach wie vor als theologische Idealerwartung im damaligen Judentum präsent war. Man vergleiche diese Aussagen nur mit der Ankündigung Jesu von der Königsherrschaft Gottes, der basileia tou theou. Die opulenten Baumaßnahmen von Herodes d. Gr. stifteten für zahlreiche Handwerker einen bescheidenen Wohlstand, doch mussten diese Gelder über Steuern auch von der Bevölkerung eingenommen werden. „Ungünstige Steuerlastverteilung, Landfluchterscheinungen, … teils durch die Städtegründungen bewirkt, teils Folge der Einrichtung großer Landgüter (nicht zuletzt im königlichen Besitz), ließen gewisse Teile der Bevölkerung weiter verarmen, während andere trotz hoher Abgaben in ihren Berufen florierten.“79 Vor allem die Landbevölkerung verarmte immer mehr. Daher brachen beim Tod des Herodes gerade in den ruralen Teilen Galiläas Aufstände aus, hinter denen „radikale sozial-messianische 77 78 79
Schäfer, Geschichte, 26. Schäfer, Geschichte, 94. Maier, Geschichte, 70.
282
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas
Gruppen“80 standen. „Das Auftreten Johannes des Täufers und Jesu gehört sicher in den Kontext der sozialen und politischen Umwälzungen zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr.“81 Der Täufer hat sich nach A.J. 18,116–119 mit seiner Kritik an Herodes Antipas im einfachen Volk große Sympathien errungen – auch hier mögen sozialkritische Untertöne mitschwingen. Um die Zeitenwende kam es zu einer regelrecht „dynastischen“ Ausprägung des Sozialbanditentums. Nachdem Herodes d. Gr. 40 v. Chr. in Rom zum König ernannt wurde, kostete es ihn große Anstrengungen, einen Bandenführer namens Ezekias festzunehmen, der in Galiläa sein Unwesen trieb (A.J. 17,271). Der Sohn jenes Ezekias war kein anderer als Judas Galilaios, der Begründer der Zelotenpartei und Rädelsführer des Aufstands gegen den Zensus des Quirinius 6 n. Chr. Auch die Söhne des Judas Galilaios blieben dem „Familienmetier“ treu: Simon und Jakobus wurden unter Tiberius Alexander (46–48 n. Chr.) als Zelotenführer gekreuzigt (A.J. 20,102). Ein weiterer Sohn des Judas, Menachem, war treibender Protagonist im Jüdischen Krieg. Er plünderte 66 n. Chr. mit seinen Anhängern das Zeughaus der Feste Masada und zog feierlich in Jerusalem ein. Dort huldigte ihm die Bevölkerung wie einem König (B.J. 2,434), was einmal mehr „die Verquickung von religiösen, sozialen und militärischen Faktoren bei den Aufständischen“82 zeigt. Nachdem Menachem von dem mit ihm rivalisierenden Rebellenführer, dem Tempelhauptmann Eleazaros, ermordet worden war, zogen sich seine Anhänger unter der Führung seines Neffen Eleazaros ben Jair (eines Enkels von Judas Galilaios) nach Masada zurück, wo sie den Römern noch bis 74 n. Chr. erbittert Widerstand leisteten.83
3.2
Niederschlag sozialer Spannungen in der Literatur
3.2.1
Apokalyptische Literatur
Wie wir gesehen haben (s.o. III.8.3), ist Apokalyptik ein Krisenphänomen, ausgelöst durch ökonomischen, politischen oder religiösen Druck. Die jüdische Apokalyptik war auch ein „Reflex der sozioökonomischen und politischen Geschichte des Judentums hellenistisch-römischer Zeit“.84 Ihre Ursprünge liegen in der durch die Hellenisierung ausgelösten sozio-politischen, sozio-religiösen und sozio-ökonomischen Verunsicherung des Judentums. Wie oben bereits gezeigt, starteten
80 81 82 83 84
Schäfer, Geschichte, 121f. Schäfer, Geschichte, 124f. Schäfer, Geschichte, 146. Zum Stammbaum des Judas Galilaios vgl. Schäfer, Geschichte, 137. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 134.
3. Soziale Spannungen in der Geschichte Israels
283
diese Schwierigkeiten mit dem Machtkampf der Tobiaden und nicht erst mit Antiochos IV. Epiphanes, dem hier lediglich die Funktion eines Katalysators zukam.85 Aus der Ohnmachts- und Krisenerfahrung resultiert die apokalyptische „Entgeschichtlichung“, die „Aussichtslosigkeit einer Hoffnung auf eine innergeschichtliche Wende zum Heil.“86 Damit wird klar, dass die apokalyptische Strömung ebenfalls als eine „Dissidenzposition“87 zu werten ist. Apokalyptik speist sich aus jenen soziologischen Vorbedingungen, die G. Theißen als „Anomie“ oder die Brüder Stegemann als „Devianz“ beschrieben haben (s.o. IV.1.1). 3.2.2
Henochs Epistel
Besonders deutlich treten sozialkritische Züge in „Henochs Epistel“ (1Hen 92,1–5; 93,11–105,288) des 1. Henochbuchs hervor.89 Diese Schrift entstand wohl knapp vor dem Makkabäeraufstand.90 Der Autor sieht sich in einer Linie mit den alttestamentlichen Propheten, in deren Nachfolge er unter dem Namen des biblischen Henoch Weherufe gegen rivalisierende frühjüdische Gruppierungen richtet.91 Dabei sind es gerade Spannungen zwischen Arm und Reich, die sich wie ein roter Faden durch Henochs Epistel ziehen.92 94,7 Wehe denen, die ihre Häuser mit Sünde bauen, denn sie werden aus all ihrem Fundament gerissen werden, und durch das Schwert werden sie fallen; und die Gold und Silber erwerben – im Gericht werden sie plötzlich (oder: bald) vernichtet. 8 Wehe euch Reichen, denn ihr habt auf euren Reichtum vertraut, aber aus eurem Reichtum werdet ihr heraus müssen, weil ihr in den Tagen eures Reichtums nicht an den Höchsten gedacht habt. 96,4 Wehe euch, ihr Sünder, denn euer Reichtum läßt euch als Gerechte erscheinen, aber euer Herz beweist euch, daß ihr Sünder seid, und diese Rede wird euch gegenüber ein Zeugnis sein zur Erinnerung (eurer) Bosheiten (= bösen Taten). 5 Wehe euch, die ihr das Beste vom Weizen verzehrt und … die Niedrigen mit eurer Macht niedertretet. 97,8 Wehe euch, die ihr Gold und Silber – (und) das ohne Gerechtigkeit – erwerbt und sagt: „Wir haben Reichtum angesammelt und haben Schätze und besitzen alles, was 85
86 87 88 89 90 91 92
Vgl. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 134f. Für die historische Eingrenzung des literarischen Genus „Apokalyptik“ gelten dann freilich engere Grenzen. Hieke, Ende, 19, veranschlagt diese beginnend mit der Krise der Makkabäerzeit (erste Hälfte des 2. Jh. v. Chr.) bis zum Bar Kochba-Aufstand (erste Hälfte 2. Jh. n. Chr.). Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 135. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 136. So die Abgrenzung bei Stuckenbruck, 1Enoch, 3. Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Valeur, 125–137. Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 215. Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 197. Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 548: „… circumstances of social underprivilege and oppression (as is clear from statements about the righteous throughout the Epistle) …“ Ebenso Nickelsburg, 1 Enoch, 426f.
284
IV. Soziopolitische und sozioreligiöse Vernetzungen im Frühjudentum Palästinas wir wollen. 9 Und nun wollen wir ausführen, was wir geplant haben, denn wir haben Silber gesammelt, und unsere Vorratshäuser sind gefüllt, und zahlreich wie Wasser sind die Feldarbeiter unserer Häuser.“ 10 Und wie Wasser wird eure Lüge zerrinnen, denn der Reichtum wird euch nicht bleiben, sondern plötzlich von euch verschwinden, weil ihr alles mit Unrecht erworben habt; und ihr werdet der großen Verfluchung hingegeben werden.
Wie die Qumrantexte belegen, war die Henochepistel eine ausgesprochen wirkmächtige Schrift, die ihren Einfluss bis in die Zeit nach der Zeitenwende nicht verloren hatte. Immer wieder wurde der Text zahlreichen Relektüren unterzogen und dann im Gesamt des 1. Henochbuchs noch im 1. Jh. n. Chr. weiter rezipiert.93 Die im Text geronnene Problematik ist also nicht nur für die Zeit vor dem Makkabäeraufstand charakteristisch, sondern spiegelt soziale Probleme vom 2. Jh. v. Chr. bis ins 1. Jh. n. Chr. wider. Die hinter Henochs Epistel stehenden Trägerkreise bestätigen, was wir bereits als Resultat der sozio-ökonomischen Situation für das Palästina zur Zeit Jesu festhalten konnten: „Vieles spricht dafür, dass das Heimatland der Jesusbewegung damals wirtschaftlich aufblühte und eben deswegen eine Krise erlebte. In solchen Zeiten werden traditionelle Werte genauso in Frage gestellt wie in Zeiten des Abstiegs und Verfalls.“94 – Nicht komplette Massenverelendung, sondern der soziale Aufstieg von einigen wenigen und der Abstieg – bzw. die Angst vor dem Abstieg – anderer führten zu Instabilität und dem BrüchigWerden der bestehenden Werte. Hinter der Henochepistel stehen nämlich gebildete, schriftgelehrte Kreise (vgl. 1Hen 92,1).95 Es ist also nicht die Unterschicht, die hier gegen die „Reichen“ wettert, sondern „entmachtete und in Opposition zu den herrschenden Familien stehende Kreise der Oberschicht … Daß sie darüber hinaus auch Sympathien und Einfluß im Volk fanden, ist deswegen nicht ausgeschlossen.“96 Wahrscheinlich sickerten solche apokalyptischen „Umsturzhoffnungen“ langsam von der Oberschicht in den Mittelstand und wurden später von der Unterschicht rezipiert.
93
94 95
96
4Q212 (= 4Qeng ar) enthält Teile der Henochepistel in aramäischer Sprache und wird von Maier, Texte II, 164, in die Mitte des 1. Jh. v. Chr. datiert. Vgl. Nickelsburg, 1Enoch, 114f. Die Wirkmächtigkeit der Henochepistel zeigt sich u.a. darin, dass sie sogar den Autor des ebenfalls bedeutenden Jubiläenbuches inspirierte, vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 215. Die „Bilderreden“ hingegen sind 1Hen erst um die Zeitenwende zugewachsen. Theißen, Wandercharismatiker, 115. Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 219: „The role of Enoch as ‚scribe‘ is widespread in the early Enoch tradition …“ – so auch in 1Hen 92,1 (anders aber die Übersetzung von Uhlig). Vgl. dazu ebenso Nickelsburg, 1Enoch, 65: „The Enochic authors refer to Enoch as ‚scribe‘ (12:3; 92:1) …“ Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 136.
V.
„Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
J. Dunn benennt die „vier Säulen des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels“ mit 1) Monotheismus, 2) Bundesschluss mit dem erwählten Volk, 3) Tora, 4) Tempel.1 Nach Dunn sei es in allen vier Punkten zum „Parting of the Ways“ gekommen, weil die Christen diese Axiome „in greater or less degree – at any rate, to a degree unacceptable to mainstream Judaism“2 neu definiert hätten. Dies ist grundsätzlich richtig, auch wenn Dunn sowohl die Bedeutung des „mainstream Judaism“ wie auch Entwicklungen im beginnenden Christentum überschätzt. Denn in allen vier Punkten gab es starke Interpretationsspielräume. Den Monotheismus etwa hat das Christentum auch weiterhin hochgehalten, die Interpretation Jesu als „Sohn Gottes“, personifizierte Weisheit Gottes und göttlicher Logos war anfangs noch kein Trennungsgrund (s.u. V.7.2). So war die Bezeichnung „Sohn Gottes“ schon in 4Q174 (Florilegium) III,10f. unter Bezug auf 2Sam 7 bereits zu einer Art „Amtstitel“ für den Messias geworden. Die göttliche Weisheit hingegen erfuhr schon vor der Zeitenwende eine Hypostasierung zur Schöpfungs- und Heilsmittlerin (Spr 8,22–31; Sir 24; Weish 9; s.u. V.7.4.1), und der göttliche Logos fungiert bei Philon (dort bisweilen auch im Plural) als Mittlerfigur zwischen Gott und den Menschen (Deus 180.182; Somn. 1,69; Migr.173f.; s.u. V.7.4.2). Natürlich bewegen sich Titel wie „Sohn Gottes“, „Weisheit“ und „Logos“ hier noch ganz auf der Bildebene – doch dauerte es auch für das Christentum bis zu den großen Konzilien im vierten Jh., dass aus der Bildebene dogmatisch fixierte Realität wurde (Zwei-Naturen-Lehre; Trinitätslehre). Die Erwählung des Volkes Israel ist ebenfalls kein belastbares Kriterium. Ab dem 2. Jh. v. Chr. führte die immer stärker werdende Hellenisierung Palästinas zu starken kulturellen, sozialen und religiösen Spannungen innerhalb des Judentums selbst. Im Zuge dieser Entwicklungen verlief die Demarkationslinie zwischen von Gott Erwählten und von der Erwählung Ausgeschlossenen auch nicht mehr längs der ethnischen Zugehörigkeit zum Volk Israel. Die Trennlinie wurde nun in das Volk Israel selbst hineinverlegt. Das früher erwartete endzeitliche Strafgericht an 1
2
Dunn, Partings, 24–48: „The Four Pillars of second Temple Judaism“. Vgl. ebenso Schnelle, Jahre, 60, der mit „Monotheismus, Erwählung, Tora und Tempel“ die identity markers des Frühjudentums benennt (vgl. auch a.a.O. 73–75). Dunn, Partings, 48.
286
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
den Feinden Israels (vgl. die Wendung vom „Tag JHWHs“) wird nun weiterentwickelt zu einer Scheidung innerhalb Israels zwischen Gerechten und Sündern.3 Bereits im Buch Maleachi wird der Tag JHWHs nicht mehr ausschließlich gegen die von außen kommenden Feinde Israels gerichtet, sondern führt auch zu einer Scheidung in Israel, wo der Unterschied „zwischen dem Gerechten und dem, der Unrecht tut, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient“, deutlich wird, und „alle Überheblichen und Frevler“ wie Spreu verbrannt werden (Mal 3,18f.). Ganz auf dieser Linie liegt auch die Ansage des Täufers nach Q 3,8: „Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und bildet euch nicht ein, bei euch sagen zu können: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken.“ – Nicht mehr die Erwählung entscheidet, sondern die „Frucht der Umkehr“. Auch in der Qumranliteratur, Henochs Epistel des 1. Henochbuchs (1Hen 92,1–5; 93,11 – 105,2), in der Zehnwochenapokalypse des 1. Henochbuchs (1Hen 93,1–10; 91,11–17) und im 4. Esrabuch wird diese Scheidung innerhalb Israels deutlich.4 Auch bei Paulus gibt es solche Muster, wenn er in Röm 9,6–8 schreibt: „Denn nicht alle, die aus Israel stammen, sind Israel; auch sind nicht alle, weil sie Nachkommen Abrahams sind, deshalb schon seine Kinder, sondern es heißt: In Isaak wird dir Nachkommenschaft berufen. Das bedeutet: Nicht die Kinder des Fleisches sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Nachkommen anerkannt.“ Am besten bleiben die Kriterien „Tora“ und „Tempel“ greifbar – allerdings auch hier nicht wegen ihrer präzisen Möglichkeit zur Abgrenzung, sondern als Paradigmata, wie vielfältig solche identity markers verwendet wurden und wie intensiv das beginnende Christentum an innerjüdischen Deutemustern partizipierte.5
1.
Terminologie „Tora“
Das hebräische Wort für das jüdische Gesetz6 lautet תּוֹרה ָ , tora. Dieser Ausdruck wird in der LXX zumeist mit νόμος, nomos wiedergegeben – und zwar 193 Mal aus insgesamt 223 Erwähnungen.7 Das Bedeutungsspektrum von tora/nomos weist al-
3
4 5 6
7
Vgl. Hieke, Ende, 37. Vgl. den Sammelband Tiwald (Hg.), Q in Context I. The Separation between the Just and the Unjust in Early Judaism and in the Sayings Source (BBB 172). Vgl. dazu Tiwald, Israel, passim. Vgl. dazu die Untersuchung von Doering, Torah and Temple in Judean Pseudepigrapha. Vgl. dazu im Folgenden auch die Darstellungen bei Tiwald, Art. Gesetz, 295–314, und ders., Hebräer, 185–189 und 243–246. Vgl. Abegg, 4QMMT, 205. Als Gegenprobe: „The closest competitor is νόμιμος, which translates תורה6 times.“ Schröder, Gesetze, 21f.; Fernández Marcos, Septuagint, 317.
2. Die „Tora“ im Frühjudentum
287
lerdings sowohl in der hebräischen Bibel wie auch in der LXX eine breite semantische Valeur auf: „Die verschiedenen Konnotationen und Formulierungen des Terminus tôrāh lassen Versuche, sein Bedeutungsspektrum einzuschränken, nicht zu. Tôrāh umfaßt eine sehr komplexe Größe. Hinsichtlich des Ursprungs und der Bedeutungsentwicklung von tôrāh ist die Wurzel in vorbibl. Zeit grundgelegt, blüht in bibl. Zeit und erreicht die volle Entwicklung im nachexil. Judentum.“8 Gerade im Frühjudentum war der Begriff keineswegs nur auf den Pentateuch beschränkt. Deswegen sollte man auch von der zu kurz greifenden – doch im christlichen Raum häufig anzutreffenden – automatistischen Gleichsetzung von Tora mit dem Pentateuch Abstand nehmen.9 „Der Pentateuch enthält Torah, gilt aber nicht einfach als ‚die Torah‘ überhaupt.“10 Im Allgemeinen war das frühjüdische Verständnis von Tora gar nicht auf ein bestimmtes Textkorpus limitiert, sondern umfasste ein breites Spektrum an biblischen wie außerbiblischen Interpretationsmöglichkeiten.11 Was man dann als verbindliche Tora – also als verbindliches, gottgegebenes „Gesetz“ – ansah, war stets rückgebunden an die theologischen Traditionen unterschiedlicher Gruppierungen, deren es im Frühjudentum zahlreiche gab.12
2.
Die „Tora“ im Frühjudentum
2.1
Unterschiedliche Tora-Theologien in Palästina
2.1.1
Tora als personifizierte Weisheit Gottes
Im Buch der Sprichwörter, bei Jesus Sirach und im Buch der Weisheit wird die Tora als die personifizierte Weisheit Gottes betrachtet. Nach Spr 8,22–31 und Sir 8 9
10 11 12
García Lopez, Art. תורה, 631. Vgl. dazu die Kritik bei Müller, Tora, 258: „Deshalb kann ein Judaist keinesfalls sicher sein, daß er an dasselbe denkt wie ein Alttestamentler, wenn er … das Wort ‚Tora‘ liest. Und dabei muß er gar nicht tiefgründige und schwerhüftige Differenzierungen aus den inneren Wendekreisen der beiden Disziplinen in Erwägung ziehen. Sondern er stößt auch dann auf ganz vordergründige und offen zutageliegende Vorentscheidungen, wenn er sich mit der ihm gewiß nicht eingängigen Reduktion abfindet, welche die Alttestamentler … dem Begriff ‚Tora‘ zumuten, indem sie ihn im Großen und Ganzen auf das festlegen, was schließlich im Pentateuch steht.“ Maier, Gesetz, 159. Vgl. Najman, Art. Torah, 1316. Ebenso Hezser, Torah, 119–140. Vgl. Najman, Art. Torah, 1317: „In early Judaism … Torah was repeatedly redefined or sometimes radically transformed in the context of a particular interpretative community and its tradition of reading and interpretation. In Second Temple period, there was thus no Torah apart from its tradition.“
288
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
24 ist diese bereits präexistent bei der Welterschaffung zugegen, um später in der Stadt Jerusalem, im Tempel auf dem Zion, heimisch zu werden und als βίβλος διαθήκης θεοῦ ὑψίστου νόμον ὃν ἐνετείλατο ἡμῖν Μωυσῆς, als „Buch des Bundes des höchsten Gottes, das Gesetz, das uns Mose aufgetragen hat“ konkrete Gestalt anzunehmen (Sir 24,8–11.23).13 Über die Schiene der personifizierten Weisheit Gottes, die bereits präexistent bei der Welterschaffung präsent war, konnte die Tora dann später auch im Sinne der Schöpfungsordnung, der von Gott der Welt bereits im Schöpfungsakt zugrunde gelegten Weltordnung, interpretiert werden. 2.1.2
Tora als Schöpfungsordnung in Qumran
Wenn in der Tempelrolle (11Q19 LVI,1–4) von Vorschriften „aus dem Buch der Tora“ ( )מספר התורהgesprochen wird, dann meint dies nicht den Pentateuch, sondern eine eigene Rechtssammlung der Qumraniten.14. Dies wiegt umso schwerer, als die Tempelrolle vorgibt, als „Toraoffenbarung“ am Sinai direkt von Gott diktiert zu sein.15 Ein ähnlicher Sachverhalt lässt sich auch für 4QMMT bestimmen. In diesem Schriftstück werden Kontroversen um strittige Gesetzesfragen abgehandelt. „Zu beachten ist die Art der Argumentation. Es geht um umstrittene rechtliche und rituelle Sachfragen, die teilweise auch im Pentateuch angesprochen werden. Der Text zitiert aber in diesen Gesetzesfragen nie aus dem Pentateuch, sondern zitiert – mit der Zitationsformel ‚es steht geschrieben‘ – offenkundig aus nichtbiblischen Rechtssammlungen …, die zu der Zeit für die rechtlichrituelle Praxis offensichtlich noch eine größere Rolle spielten als der Pentateuch ... Entgegen vorherrschender Gewohnheit sollte man daher die ‚Tora‘ der Qumrantexte nicht mit dem Pentateuch und dessen ‚Auslegung‘ gleichsetzen.“16 Was wir oben bereits konstatieren konnten, findet hier seine Fortsetzung: Tora ist im Frühjudentum weniger ein genormtes Kompendium feststehender Texte oder Vorschriften – so ein noch immer weit verbreitetes christliches Klischee – sondern die Konkretion von Gottes Schöpfungsplan in der jeweiligen gruppenspezifischen Auslegung. Daher kann Fabry zu Recht befinden, dass „Tora“ in den Qumrantexten einen Bedeutungsspielraum hatte, „der sich unter der Hand wegbewegt von einem Gesetzbuch mit gesatztem Recht zu einer Größe, die alle Konturen sprengt, die sich vom Buch weg transzendiert in den göttlichen, vielleicht sogar in den kosmischen Bereich hinein. In Qumran sah man überall, besser: in allem und hinter allem die Tora. Diese Totalität ist wohl am besten zu verstehen, wenn
13 14
15 16
Vgl. Najman, Art. Torah, 1317. Vgl. Maier, Interpretation, 118: „The Sefer ha-Tôrah mentioned in 11Q19 is certainly not the Pentateuch but a Book of Law proper.“ Ebenso García Lopez, Art. תורה, 635. Vgl. Maier, Texte I, 373; ders., Tempelrolle, 10f. Maier, Texte II, 361.
2. Die „Tora“ im Frühjudentum
289
man die Tora als die von Gott der Welt eingestiftete kosmische Ordnung akzeptiert ...“17 Ähnliche Konzepte, die die Tora als Schöpfungsordnung interpretierten, finden sich auch im Diasporajudentum (s.u. V.2.2). 2.1.3
Korrespondenz von Protologie und Eschatologie in Qumran
Gemäß den soeben genannten Konzepten wurde die Tora als Ordnung des Kosmos verstanden, die als Schöpfungsordnung bereits präexistent vor Erschaffung der Welt festgesetzt worden war (in Qumran CD II,2–10, 1QH IX [früher 1QH I],7–14 und 4Q180).18 Gemäß frühjüdischer Apokalyptik ging das Wissen um diese ursprüngliche Schöpfungsordnung allerdings durch die Sünden der Menschen verloren: Auch innerhalb Israels rivalisierten unterschiedliche Gruppierungen um die richtige Auslegung der Tora (s.o. III.8.3). Von der Endzeit allerdings erwarteten konkurrierende frühjüdische Gruppierungen, dass ihr eigenes Toraverständnis als das einzig richtige von Gott bestätigt würde. Die Endzeit würde also die wahre Bedeutung des schon in der Schöpfung grundgelegten Gotteswillens enthüllen und die der eigenen gruppenspezifischen Torainterpretation nicht folgenden Gegner beschämen. Die exklusive Torainterpretation einzelner frühjüdischer Gruppierungen wurde somit als eschatologisches Sonderwissen verstanden: Gleich einem „Mysterium“ (רז, raṣ, vgl. 1QH IX,13) ist die wahre Bedeutung der Tora bis zum Beginn der Endzeit nur den Eingeweihten offenbar,19 wird sich aber mit Beginn der Endzeit für alle sichtbar enthüllen.20 Hier wird klar, „daß ‚( רזGeheimnis‘) in den Texten von Qumran, aber auch in anderen Werken des Frühjudentums, die verborgene präexistente Seins- und Geschichtsordnung der Welt beschreiben kann ...“21 Damit ist die eschatologische Ordnung nichts anderes als die endzeitliche Wiederherstellung der protologischen Grundverfasstheit, es kommt zu einer Korrespondenz zwischen Protologie und Eschatologie. In gleicher Weise sieht dies auch Paulus in Röm 11,25; 1Kor 2,7 und 15,51, wo er den Begriff μυστήριον (mystērion, „Geheimnis“) als den „vor allen Zeiten vorausbestimmten“ Heilsplan Gottes deutet, der jetzt im Eschaton offenbar wird. In 1QH XII (früher 1QH IV),27–29 heißt es vom Lehrer der Gerechtigkeit, dass er „belehrt [ist] in den Mysterien“. Das meint, dass seine Interpretation der Tora in Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung, der Weltordnung, steht.
17 18 19 20 21
Fabry, Tora, 322. Vgl. Lange, Weisheit, 219–220 und 297. Ebenso Tiwald, Protologie, 370–372. Vgl. Lange, Weisheit, 217f. Vgl. Lange, Weisheit, 215 und 297. Lange, Weisheit, 217f. Vgl. dazu auch Doering, Torah, 137–155.
290
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
2.1.4
„Lehrer der Gerechtigkeit“ und „Prophet wie Mose“
Wenn der Lehrer der Gerechtigkeit tatsächlich die Kenntnis der kosmischen Ordnung – also der Tora schlechthin – besitzt, dann ist er auch berechtigt, im Namen Gottes die bindende Interpretation des Gotteswillens (seine „Tora“) an den Frevelpriester zu senden – wie er das in 4Q171 III,15–16 und IV,8–9 tatsächlich tut. „Tora“ ist damit nicht so sehr ein bindendes Kompendium von Schriften, sondern deren korrekte eschatologische Aktualisierung durch den „Ausleger der Tora“ bzw. den „Lehrer der Gerechtigkeit“ (beide sind wohl gleichzusetzen, s.o. III.4.6). „Der dôreš hattôrāh [sc. Ausleger der Tora] ist wie der môreh haṣṣaedaeq [sc. Lehrer der Gerechtigkeit] der befugte Tora-Erteiler, der aus seinem Tora-Wissen heraus bindende Anweisungen erläßt, ja Tora autoritativ erst setzt ... Dieser messianisch qualifizierte Zadoqide (CD VII,18) suchte aus ‚der Gesamttora als verborgenem Hintergrund ... jeweils das aktuell Erforderliche‘, um es als ‚offenbare‘ Tora zu proklamieren ...“22 Damit wird deutlich, dass der Lehrer der Gerechtigkeit für die Qumraniten die Funktion eines „Propheten wie Mose“ übernommen hatte (s.o. III.4.6.3).23 Ursprünglich hatte es nämlich in Israel einen eigenen Torapropheten, einen „Propheten wie Mose“ (vgl. Dtn 18,15.18; Apg 3,22), gegeben, der „über die Kompetenz [verfügte], Torah im Einzelfall neu zu erteilen bzw. vorhandene (‚offenbarte‘) Torah fortzuschreiben. … Schon Dtn 29,28 setzt voraus, dass es offenbare (niglôt) und verborgene (nisterôt) Torah gibt, also eine vorhandene und daher anzuwendende, und eine noch nicht offenbarte Torah, mit dem dahinterstehenden Konzept einer Gesamttorah als Inbegriff des Gotteswillens. In den Qumrantexten spielt diese Unterscheidung eine gewichtige Rolle. In der Regel versteht man unter nisterôt die gruppenspezifischen Gesetze, aber genauer betrachtet handelt es sich um verborgene Torah, die von der kompetenten Instanz aus der Verborgenheit geholt und der offenbarten Torah zugefügt worden ist ...“24 „Tora“ wurde in Qumran also als Inbegriff der Schöpfungsordnung verstanden, die im konkreten Fall auf gewisse Sachverhalte hin neu adaptiert wurde (indem etwa die „verborgene Tora“ durch Entscheid des „Torapropheten“ der „offenbarten Tora“ hinzugefügt wurde). Die Aufgabe des qumranitischen „Auslegers der Tora“, „aus ihr [sc. der Tora] für die jeweilige Gegenwart, verstanden als das Ende der Tage, konkrete Torot zu entwickeln … hat die qumranische Theologie in eine solche eschatologische Dynamik versetzt, die nur noch mit der des Urchristentums zu vergleichen ist.“25
22 23 24 25
Fabry, Tora, 321, mit einem Zitat von Maier. Vgl. Maier, Torah, 48. Maier, Torah, 47f. Fabry, Tora, 322.
2. Die „Tora“ im Frühjudentum
2.1.5
291
Eschatologisches Sonderwissen als „Tora“
Analog zum Ausleger der Gerechtigkeit, der das protologisch festgelegte „Geheimnis“ der Weltordnung nun eschatologisch aufdeckt, gab es die Konzeption von eschatologisch relevantem Sonderwissen, das nur bestimmten Kreisen offenbart wurde, auch in 1Hen und 4Esr. In der Zehnwochenapokalypse des 1Hen heißt es: 93,9 Und danach, in der siebenten Woche, wird sich ein abtrünniges Geschlecht erheben, und seine Taten (werden) zahlreich (sein), aber alle seine Taten (werden) Abfall (sein). 10 An ihrem Ende werden die erwählten Gerechten von der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit erwählt werden, denen siebenfache Unterweisung über seine ganze Schöpfung zuteilwerden soll.
Hier geht es darum, „daß in der Zehnwochenapokalypse mit dem eschatologischen Erwählungshandeln eine unmittelbare, das heißt nicht im Rückgriff auf die schriftlich fixierte Tora gewonnene, eschatologische Belehrung verbunden ist, welche die wahre Ordnung der Schöpfung aufdeckt …“26. Dieses Wissen ist eine „revelatory instruction received by the specially elect community.“27 Dieses exklusive apokalyptische Sonderwissen wird nur den Auserwählten zuteil – nur sie verstehen die wahre Bedeutung des göttlichen Gesetzes. „The elect are chosen, first of all, to be the recipients of wisdom and knowledge. In the context of the Epistle, this means a particular understanding of the divine law, other esoteric information about the cosmos, and the eschatological message of the coming judgment.“28 Hier wird klar, dass die inkriminierten „Frevler“ nicht nur hedonistische Ungläubige sind, sondern ihrerseits ebenfalls Theologen; es geht um unterschiedliche Interpretationen des jüdischen Gesetzes: „The deceivers … wrongly claim to present the right interpretation of the Tora, sometimes in opposition to the ‚true‘ interpretation presented by the author’s hero.“29 Das deckt sich natürlich mit den Vorstellungsmustern, wie wir sie auch in Qumran gefunden haben, nämlich, dass nur dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ das „Geheimnis“ der Weltordnung offenbar gemacht wurde. Daher findet sich in Qumran auch in 4Q212 (= 4QEng ar) Frg. 1c II,12f., dem aramäischen Text von 1Hen 93,9–10; 91,11–17, genau diese Ankündigung wieder, dass den Erwählten im Eschaton „siebenfache Weisheit und Erkenntnis“ zuteilwird.
26 27 28 29
Merklein, Gottesherrschaft, 104. Ebenso Heil, Nachfolge, 131–333. Stuckenbruck, 1Enoch, 57. Nickelsburg, 1Enoch, 448. Nickelsburg, 1Enoch, 488; ebenso Stuckenbruck, 1Enoch, 360: „Thus it is the opponents who have departed from the unalterable law of God. Since they have ‚gone astray‘ and influence others to do the same (98:15), they will undergo harsh forms of punishment and destruction described in each of the woes.“
292
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Ähnliche Vorstellungen begegnen aber auch im qumranitischen Text Musar leMevin (früher: 4QInstruction), wo in 4Q418 Frg. 69 II,10 von den „Erwählten der Weisheit“ gesprochen wird.30 Musar leMevin („Unterweisung für einen Verständigen“) ist ein in Qumran gefundener Text, dessen Entstehungszeit ins dritte oder frühe zweite Jh. v. Chr. datiert.31 Der Text entstand also schon vor der Qumrangemeinde, wurde dort aber in zumindest sechs Kopien gelesen und damit als besonders wichtiger Text angesehen. Da die entsprechenden Qumranmanuskripte allerdings erst in frühherodianischer Zeit (spätes 1. Jh. v. Chr.) verfasst wurden,32 haben wir hier einen Beleg für die ungebrochene Aktualität dieses Textes auch noch in knapp vorchristlicher Zeit. Analog zur Ankündigung in der Zehnwochenapokalypse, dass den Erwählten im Eschaton „siebenfache Weisheit und Erkenntnis“ zuteilwird, spricht Musar leMevin vom Geheimnis des Werdens, das nur den „Einsichtigen“ offenbart wird. Der ( רז נהיהraṣ nihjeh), das „Geheimnis des Werdens“/„mystery of being“ ist als stehende Wendung „geradezu formelhaft verfestigt“.33 Das „Geheimnis des Werdens“ hat eine „offenbarungsvermittelnde Funktion“34 und bezeichnet „eine Welt- und Schöpfungsordnung, die ethische und historische Komponenten enthält und sich dereinst im Eschaton erfüllt. Es beginnen sich also im Begriff רז נהיהdie ethisch-sittlichen Elemente der weisheitlichen Urordnung mit der Vorstellung einer prädestinatianischen, auf das Eschaton zulaufenden Geschichtsordnung zu vereinigen.“35 Kann man den רז נהיהmit der „Tora“ identifizieren? – Ja und nein, denn der רז נהיהist „nicht nur die Thora, sondern umfaßt sehr viel mehr,“36 er steht für „das Ordnungsinstrument, mit und nach dem die Schöpfung geordnet wurde …“37 Damit aber ist der רז נהיהin gewisser Weise doch auch ident mit der „Tora“, allerdings nicht als ausformuliertes Kompendium, sondern als Weltordnung. Allerdings steht das „Geheimnis des Werdens“ nur „besonderen, erwählten Offenbarungsträgern zu, wie etwa Henoch, dem Lehrer der Gerechtigkeit, oder, in seinem Gefolge, den Mitgliedern des yaḥad.“38 Damit fungiert der Lehrer der Gerechtigkeit auch als eine Art „Offenbarungsmittler“.39 Dazu passt, dass das „Geheimnis des Werdens“ („mystery of being“) nur den Erwählten offenbar wurde.40 Nach 4Q118 Frg. 123 Kol. 2,4f. wird nur dem „Verständigen“ das 30 31
32 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 125. Vgl. Kampen, Wisdom, 43. Früher wurde der Text als 4Qinstruction bezeichnet, doch umfasst das Corpus auch Textfragmente der ersten Höhle (insgesamt: 1Q26, 4Q415–418, 4Q423). Vgl. Goff, Wisdom, 1: „early Herodian (30–1 BCE).“ Lange, Weisheit, 58. Dazu auch Najman, Wisdom, 459–472. Lange, Weisheit, 58. Lange, Weisheit, 60. Lange, Weisheit, 59. Lange, Weisheit, 59. Lange, Weisheit, 119. Lange, Weisheit, 107. Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 127. Ebenso Kampen, Wisdom, 36f.
2. Die „Tora“ im Frühjudentum
293
„Geheimnis des Werdens“ geoffenbart. Der רז נהיהist also die endzeitliche Einsicht in Gottes Heilsplan, die nur einigen Erwählten offensteht.41 Dazu gibt es auch im 4. Esrabuch 14,44–46 eine Parallele: 4Esr 14,44 In den vierzig Tagen wurden vierundneunzig Bücher geschrieben. 45 Als die ersten Bücher zu Ende waren, redete der Höchste mit mir und sagte: Die ersten Bücher, die du geschrieben hast, leg offen hin. Würdige und Unwürdige mögen sie lesen. 46 Die letzten siebzig aber sollst du verwahren, um sie den Weisen aus deinem Volk zu übergeben. 47 Denn in ihnen fließt die Quellader der Einsicht, die Quelle der Weisheit und der Strom des Wissens.
Hier werden dem Seher zusätzlich zu den 24 „kanonischen“ Büchern der hebräischen Bibel (s.u. V.3.1) 70 weitere Bücher diktiert, welche die richtige Deutung des Gesetzes für die Endzeit enthalten42 und nur für „Weise“ bestimmt sind (V 46: „Die letzten siebzig aber sollst du verwahren, um sie den Weisen aus deinem Volk zu übergeben“). Eine esoterische Sondergruppe des Frühjudentums postuliert, den eschatologisch-bindenden Sinn der Tora aus gruppenspezifischen Sonderüberlieferungen zu erschließen, die über die 24 anerkannten Bücher hinausgehen. L. Doering urteilt dazu: „… we find Ezra in the role of the new Moses“.43 Auch das Jubiläenbuch bietet eschatologisches Sonderwissen, indem es strikte priesterliche Reinheits-Halacha auf ganz Israel umlegt. Das 2. Baruchbuch hingegen schreibt in 84,9 „von des Gesetzes Überlieferungen“, eine Formulierung, die an Satzungen über den Pentateuch hinaus denken lässt.44 Auch im Neuen Testament gibt es eschatologisches Sonderwissen, das nicht als Bruch mit den jüdischen Wurzeln zu verstehen ist, sondern in Kontinuität dazu. So heißt es in der Logienquelle 10,21f.:45 21 Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, denn du hast dies vor Weisen und Gebildeten verborgen und es Unmündigen enthüllt. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir. 22 Alles wurde mir von meinem Vater übergeben, und keiner 41
42 43
44
45
Vgl. Stuckenbruck, 1Enoch, 127: „revelatory knowledge called ‚the mystery of being‘“. Ebenso Lange, Weisheit, 109–120. Vgl. Nickelsburg, Wisdom, 81. Doering, Torah, 152. Weiters Hogan, Meanings, 551: „… the wise can find tôrâ (in the sense of divine instruction) in esoteric books – presumably texts that were eventually excluded from the Jewish canon of Scripture.“ Dazu Doering, Torah, 137–155. Jub „is not a sectarian approach, though one that views the Torah from the angle of its specific halakic legacy“ (142), und 2Bar „suggests that the Torah is transmitted within a wider set of legal traditions, which Baruch tacitly presupposes and into which he notably inserts his own epistle“ (147, beide Zitate kursiv im Original). Bereits Brooke, Jesus, 42–44.47, vergleicht das eschatologisch offenbarte Sonderwissen in Musar leMevin mit den Aussagen über Jesus in der Logienquelle.
294
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum kennt den Sohn, nur der Vater, und keiner kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn enthüllen will.
Auch hier wird in Anklängen an apokalyptische Vorstellungsmuster das „Sonderwissen“ Jesu und seiner ersten Anhänger betont.46 Solche Konzeptionen treten später auch in der Erwartung der Geistesunmittelbarkeit für „alles Fleisch“ zutage, wie es Apg 2,17 für die Endzeit in Anwendung von Joel 3,1 beschreibt. Doch geht Lk hier nicht von esoterischem Sonderwissen aus, sondern von der eschatologischen Geistbegabung für alle.
2.2
Gesetz im griechischsprachigen Frühjudentum
Auch bei Philon wird das jüdische Gesetz als Inbegriff der Schöpfungsordnung verstanden.47 Das kommt in Mos. 2,37 zum Ausdruck, wo es heißt: κοσμοποιία γὰρ ἡ τῶν νόμων ἐστὶν ἀρχή („die Welterschaffung ist der Ursprung der Gesetze“). Als Konsequenz dazu stellt auch die am Sinai gegebene Tora des Mose lediglich eine spätere Ausformulierung der „ungeschriebenen Gesetzgebung“ (ἄγραφος νομοθεσία), also der Weltordnung, dar, wie Abr. 5f. ausführt. Anders als für die eschatologisch denkenden Qumraniten ist diese „naturgemäße Weltordnung“ (φύσις) für Philon allerdings kein „Geheimnis“, sondern kann mithilfe der menschlichen Vernunft erkannt werden: Es sind immerhin λογικοὶ νόμοι (Abr. 5), „vernünftige Gesetze“. Das korrespondiert wiederum mit Röm 1,20: Man kann „seit Erschaffung der Welt“ (ἀπὸ κτίσεως κόσμου) Gottes Vorschriften mit der Vernunft „an den Werken der Schöpfung“ (τοῖς ποιήμασιν, eigentlich: „durch das [von Gott] Gemachte“) wahrnehmen. Daher sind für Paulus auch jene Menschen, die die göttliche Offenbarung noch nicht kennen, vor Gott unentschuldbar, da sie seine Gesetze ja mit der Vernunft hätten erkennen können (Röm 1,20). Für Philon ergibt sich daraus – der gleichen Argumentationsfigur folgend – die Vorstellung, dass auch schon die Patriarchen die Gesetze der Tora halten konnten, da sie dem Naturgesetz Gottes folgten, obwohl es die ausformulierte sinaitische Tora noch gar nicht gab. Die am Sinai erlassenen Gesetze sind für Philon nach Abr. 5 auch nur eine „Erinnerung“ an die gemäß der Schöpfungsordnung lebenden Patriarchen (τοὺς τεθέντας νόμους μηδὲν ἄλλ᾽ ἢ ὑπομνήματα εἶναι). Neben Philon und Paulus begegnet diese Vorstellung auch noch in 2Bar 57,2 und Arist 143.
46 47
Zur Frage nach apokalyptischen Mustern in Q vgl. Tuckett, Apocalyptic, 107–121, bes. 113. Vgl. dazu und im Folgenden: Najman, Copy, 54–63.
3. Fragen zum biblischen Text
2.3
295
Abschließende Wertung
„Tora“ war für einen damaligen Juden weniger ein in sich abgeschlossenes Kompendium von Schriften, sondern vielmehr der lebendige Gotteswille, den der Schöpfer schon protologisch als „Weltordnung“ bei der Schöpfung grundgelegt hatte.48 Durch die Sünde der Menschen geriet dieser Plan teilweise in Vergessenheit – für das Eschaton jedoch erwartete man die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung. Die ausschließliche Eingrenzung von „Tora“ auf die fünf Bücher Mose ist für das Frühjudentum anachronistisch. Neben der Weltordnung konnte „Tora“ zwar auch immer gewisse Schriftcorpora umfassen, deren vornehmstes ohne Frage der Pentateuch war, doch hatte dieser nicht Anspruch auf alleinige Ausschließlichkeit. So begegnet etwa bei Paulus dieser vielschichtige Gebrauch von „Tora“/„nomos“ bezogen auf das „Naturrecht“ der Weltordnung (Röm 2,14), das ganze AT (Röm 3,19; 1 Kor 14,21), nur den Pentateuch (Röm 3,21; Gal 3,10), bisweilen auch nur den Dekalog als Inbegriff des Pentateuchs (Röm 7,7; 13,8f.), sehr oft aber auch bestimmte einzelne Forderungen aus dem Gesetz (Röm 2,13b.14.25.27; 4,15).
3.
Fragen zum biblischen Text
Neben der „Tora“ als unausgeworteter Schöpfungsordnung gab es auch schriftliche Kompendia, in denen die „Tora“ wörtlich fixiert niedergelegt war. Während der Pentateuch im Frühjudentum unangefochtene Akzeptanz beanspruchen konnte, war dies bei anderen Büchern noch nicht der Fall – es stellt sich die Frage nach dem frühjüdischen „Kanon“ verbindlicher Bücher. „Tora“ jedenfalls war nicht nur auf den Pentateuch beschränkt, wie wir schon zuvor sehen konnten (s.o. V.2.1).
3.1
„Kanon“ und „Kanongrenzen“
3.1.1
Begriffliche Abklärungen zu „Kanon“ und „Bibel“
„Zunächst ist festzuhalten, daß der Begriff ‚Kanon‘ i. S. einer Richtschnur christliches Erzeugnis des vierten Jahrhunderts ist. Vor dieser Zeit sind folglich nur indirekte Indizien für einen Kanon im Sinne der späteren Definition zu finden ... 48
Vgl. Doering, Torah, 154, sagt zu Jub, 2Bar, 4Esr: „Torah and temple are by no means obvious and static notions in the Judean Pseudepigrapha under scrutiny here. In all of them, though in different ways, Torah includes more than the Pentateuch or the Hebrew Bible, and there is an attempt to correlate the covenantal, particularistic Torah with universal notions of natural law ... there is a link with … an Urzeit-Endzeit correlation.“
296
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Solche Indizien sind Hinweise auf Schriftensammlungen, bestimmte Termini (z.B. ‚Verunreinigung der Hände‘ in der rabbinischen Literatur), Bezugnahme auf bestimmte Schriften in Zitaten (z.B. bei Philon) oder gar Nennung von Kriterien (wie hohes Alter, Inspiriertheit, Heiligkeit; z.B. bei Josephus).“49 Es kann „nicht deutlich genug betont werden, daß die Definition eines ‚Kanons‘ biblischer Schriften im Christentum wie im Judentum erst sehr spät erfolgte und es daher Missverständnisse provozieren kann, wenn der Ausdruck für die ältere Zeit angewendet wird.“50 Der Ausdruck „Kanon“ ist für die jüdische Bibel – zumal in frühjüdischer Zeit – also nur unter Anführungszeichen (und das auch nur faute de mieux – mangels eines Alternativausdrucks) verwendbar.51 Ähnliches könnte man auch über den Ausdruck „Bibel“ sagen, „since the Qumran discoveries have demonstrated that there was no such thing as ‚the Bible‘ in the late Second Temple period: the Bible, in the form of a fixed list of specific forms of specific books, emerged only at a later date …“:52 Der Begriff βιβλία, biblia, „die (Sammlung der heiligen) Bücher/Schriftrollen“, begegnet zwar schon bei Josephus A.J. 12,36 (τὰ τῆς Ἰουδαίων νομοθεσίας βιβλία, „die Bücher der Gesetzgebung der Juden“) oder C. Ap. 38 (δύο δὲ μόνα πρὸς τοῖς εἴκοσι βιβλία, „aber aus einzig zweiundzwanzig Büchern“), doch noch in allgemeiner Diktion und ohne, dass deren Umfang schon genau bestimmt war (s. u. V.3.1.2). Korrekt müsste man für die Zeit des Frühjudentums von den „Heiligen Schriften“sprechen, wobei auch das irreführend ist, da es eben kein allgemein anerkanntes Kompendium von „Heiligen Schriften“ gab und deren Umfang von Gruppe zu Gruppe variierte. Auch sind deutsche Komposita wie „Bibelübersetzung“, „Bibeltexte“ etc. schwer mit „Heiligen Schriften“ wiederzugeben. Unter den genannten Kautelen sollen „Bibel“ und „biblisch“ also weiterverwendet werden. Ähnliche Probleme bereitet die Bezeichnung Altes Testament, „weil an ihr eine unheilvolle Geschichte der Abwertung sowohl dieser Schriftensammlung als des Judentums als einer lebendigen Religion verbunden zu sein scheint.“53 Allerdings muss man darauf hinweisen, „dass ein solcher Automatismus [sc. im Gebrauch der Bezeichnung „Altes Testament“] nicht zwangsläufig ist und dass bisher alle Versuche, einen neuen Titel zu finden, nicht überzeugend ausgefallen sind.“54 Das gilt besonders für den Ausdruck „Erstes Testament“: „Bei Testamenten ist nun mal das spätere ... das einzig verbindliche“;55 damit konterkariert der
49 50 51
52 53 54 55
Schröder, Gesetze, 236; ebenso Schröter, Kanon, 37–65. Maier, Frage, 137. Vgl. Auch Stemberger, Canon, 114: „Les textes rabbiniques ne connaissent pas de mot qui soit l’équivalent de notre ‚canon‘ …“ Vgl. dazu VanderKam, Jubilees, 409; Zahn, Scripture, 323f. Seebass, Testament, 28. Seebass, Testament, 28. Seebass, Testament, 28 FN 6.
3. Fragen zum biblischen Text
297
Ausdruck „Erstes Testament“ letztlich die Idee eines auch weiterhin bestehenden und verbindlichen „Testaments“ (bzw. „Bundes“). Zu Recht schreibt C. Dohmen:56 Der neue Begriff Erstes Testament rüttelt hier zweifellos wach und sensibilisiert für die Frage nach der Besonderheit der christlichen Bibel in ihren beiden Teilen. Gleichwohl vermag er all das, was die traditionelle Bezeichnung von Altem und Neuem Testament beinhaltete, nicht wiederzugeben. Manches muß hier ebenso zur Bezeichnung hinzusetzend erklärt werden, wie bei der Bezeichnung Altes Testament zu erklären ist, daß es nicht veraltet meint.
Auch der Ausdruck „Hebräische Bibel“ befriedigt nicht, zunächst, weil der Ausdruck „Bibel“ für das Frühjudentum anachronistisch ist, aber auch, weil Philon und die Autoren des NT gar nicht die hebräische Bibel, sondern deren griechische Übersetzung benutzten. Allerdings haben Philon und Paulus auch nicht „die Septuaginta“ verwendet, weil es die Septuaginta gar nicht gab (s.o. III.7.2.4). Letztlich ist der Ausdruck „Altes Testament“ gar nicht so schlecht, denn es ist der gute alte Bund, den Gott mit den Vätern geschlossen hat, der auch nach christlicher Vorstellung in Jesus weitergeführt und erneuert wird. Dies gilt umso mehr, als die Verheißung eines „Neuen Testamentes/Bundes“ bereit in Jer 31,31 vorgegeben ist (MT: ;ברית חדשהLXX: διαθήκη καινή). Damit ist das Begriffspaar „Altes/Neues Testament“ bzw. „Alter/Neuer Bund“ bereits ein der Bibel immanentes Deutemuster, um die unverbrüchliche Kontinuität des Heilshandelns Gottes (vgl. den Kontext von Jer 30,18 – 31,40) zu verdeutlichen.57 So spricht auch Röm 9,4 von den „Bundesschlüssen“ (eigentlich „Bünden“: διαθῆκαι) im Plural im Sinne einer ungebrochenen Kontinuität. Die Rede von „Bundesschlüssen“ im Plural ist schon in Sir 44,12.18; Weish 18,22; 2Makk 8,15 üblich und unterstreicht auch dort die Kontinuität des Gnadenhandelns Gottes an seinem Volk und dessen Aktualisierung für die Gegenwart. 3.1.2
„Kanongrenzen“
Die Vorstellung, dass auf der oft beschworenen „Synode von Javne“ zwischen 90 und 100 n. Chr. die Grenzen des „Kanons“ der jüdischen Bibel festgelegt worden sind, ist anachronistisch (s.o. I.2.2.3).58 Alternativ dazu wird häufig auch anhand
56 57
58
Dohmen, Einheit, 18. Das gilt auch für den „Väterbund“ in Jer 31,32: Obwohl dieser Bund vonseiten der Menschen gebrochen wurde, sind die Heilsverheißungen Gottes an die Väter nun eben nicht obsolet. Gott erneuert jetzt diesen Bund in noch nie gekannter Fülle. Vgl. Stemberger, Jabne, 163: „Ebensowenig wie das Faktum einer ‚Synode‘ ist ein in der Zeit von Jabne durch die Rabbinen erfolgter verbindlicher Abschluß des biblischen Kanons zu belegen ...“ Ebenso Stemberger, Canon, 114. Die alte Sichtweise zeigt sich etwa bei W. Schmidt in der „fünften erweiterten Auflage“ seiner Einführung in das Alte Testament von 1995, 6: „Jene endgültige Umfangsbestimmung des gesamten AT erfolgte wohl erst gegen
298
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
von Josephus’ C. Ap. 1,38f. und 4Esr 14,44 (Text s.o. V.2.1.5) auf einen vermeintlich abgeschlossenen Kanon in frühjüdischer Zeit verwiesen:59 C. Ap. 1,38 Denn bei uns gibt es keine Unzahl voneinander abweichender und sich gegenseitig widersprechender Bücher, sondern nur zweiundzwanzig … 39 Fünf derselben sind von Moses … 40 Vom Ableben des Moses aber bis zur Regierung des Artaxerxes … haben die auf Moses folgenden Propheten die Begebenheiten ihrer Zeit in dreizehn Büchern aufgezeichnet; die übrigen vier enthalten Lobgesänge auf Gott und Vorschriften für das Leben der Menschen (ὕμνους εἰς τὸν θεὸν καὶ τοῖς ἀνθρώποις ὑποθήκας τοῦ βίου περιέχουσιν).
In beiden Texten begegnet lediglich die Zahl der biblischen Bücher: Josephus erwähnt zweiundzwanzig, 4Esr hingegen vierundzwanzig60 – schon allein hier zeigt sich, dass von Einheitlichkeit keine Rede sein kann. Einen „voll ausgebildeten und scharf begrenzten Kanon des Judentums … um 100 n. Chr.“61 haben wir hier also nicht. Obendrein müsste man diskutieren, ob die genannten Zahlen überhaupt real sind oder nicht symbolisch. Ebensowenig erfahren wir die Namen der Bücher, die zu den verbindlichen Werken gerechnet werden.62 3.1.3
Dreigliedriger Kanon?
Bei Josephus ist allerdings schon die Dreiteilung in Tora (tora), Propheten (nevi’im) sowie „Lobgesänge auf Gott und Vorschriften für das Leben der Menschen“ gegeben. Dies erinnert an die Formulierung, die Lk 24,44 gebraucht: „… im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen …“ Damit kann man zwar sagen, dass „Josephus, … schon merklich auf den Kanonbegriff zusteuerte“,63 doch ist dies noch weit von einer endgültigen Fixierung entfernt. Denn gerade die letzte Gruppe der ketuvim war noch längere Zeit im Fluss, bei Josephus wird sie als „Lobgesänge auf Gott und Vorschriften für das Leben der Menschen“ klassifiziert, bei
59
60
61 62 63
Ende des 1. Jh. n. Chr. (vielleicht auf der sog. Synode von Jabne – Jamnia), als sich die jüdische Gemeinde nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels (70 n. Chr.) neu konsolidierte.“ Vgl. Wanke, Art. Kanon, 5: „Der Kanonbegriff [sc. des Judentums] liegt voll ausgeprägt um 95 n. Chr. bei Josephus, C. Ap. I,8, vor ... Aus etwa der gleichen Zeit um 100 n. Chr. stammt auch der älteste Beleg für die Zählung von 24 Büchern des atl. Kanons [sc. in 4Esr].“ Diese Meinung hat sich auch in neueren Publikationen festgesetzt, so Koch, Schrift, 47 (mit Verweis auf den Artikel von Wanke), oder noch rezenter Rosner, Paul, 20f. Da nach 4Esr die heiligen Bücher vernichtet wurden, werden diese neu geschrieben. Die 24 heiligen Bücher bisheriger Überlieferung werden nun allerdings ergänzt durch 70 weitere Bücher mit eschatologischem Sonderwissen – so ergibt sich die Zahl 94. So die Behauptung von Wanke, Art. Kanon, 5f. Vgl. Stemberger, Canon, 114. Maier, Frage, 137.
3. Fragen zum biblischen Text
299
Lk als „Psalmen“. In der Tat könnte man sogar mit Campbell anfragen, ob hier nicht doch noch ein zweigliedriger statt dreigliedriger „Kanon“ vorliegt: In Philon and Josephus, apparent tripartite language was in reality making secondary distinctions of a generic nature. Scripture was essentially bipartite for both writers, but on occasion the Prophets could be subdivided generically – into “history” and poetic-didactic texts for Josephus (CA 1.40) or into “oracles” and “Psalms” for Philon (Vita 3,25). Indeed Josephus makes a similar distinction between the Torah’s legal and historical portions in CA 1.39.64
Demzufolge müsste auch Lk 24,44 anders gelesen werden. Da David nach Apg 2,30; 4,25; 13,34 ganz auf Linie mit frühjüdischem Denken als ein Prophet (also als Teil der nevi’im und nicht der ketuvim) gesehen wird, könnte die Nennung der Psalmen in Lk 24,44 eher als „sub-division of the Prophets“65 denn als eigene „Kanongruppe“ verstanden werden. Auch in den Qumrantexten galt David als Prophet, wodurch die auf David zurückgeführten Psalmen der prophetischen Literatur zugerechnet wurden.66 Allerdings bezeugt schon der Prolog des Sirachbuches die drei Teile des jüdischen „Kanons“. Während dort jedoch „Gesetz“ und „Propheten“ stets mit dem gleichen Ausdruck belegt werden, wechselt die Bezeichnung für den dritten Teil beständig. Hier ist die Rede von den „anderen auf sie folgenden (Schriften)“ oder den „anderen väterlichen Büchern“, schließlich von den „übrigen Büchern“. Betreffs der dritten Gruppe wird klar, „daß dieser Schriftenkreis auch z.Zt. des Enkels noch keineswegs klar abgegrenzt war.“67 Philon wiederum erwähnt in Contempl. 25 „Gesetze und Worte, die durch Propheten verkündigt wurden, und Hymnen und das andere, wodurch Wissen und Frömmigkeit wachsen und sich vervollkommnen.“ Streng genommen ist hier sogar eine Vierteilung des „Kanons“ vorgenommen. Auch in den Qumrantexten zeigt sich kein eindeutiger Befund. Die „älteste in Qumran bezeugte Kanonliste 4QMMT C 10 bezeugt eine Dreier-Struktur der Qumran-Bibel. Die wenig später entstandene Regel 1QS I,3 spricht nur von Mose und den Propheten“,68 befindet Fabry. Allerdings dürfte 4QMMT tatsächlich gar keinen dreiteiligen Kanon im Auge haben, da dort von dem Geschriebenen „im Buch Mose, in den Büchern der Propheten und in
64 65
66 67
68
Campbell, Canon, 188. Vgl. Campbell, Canon, 188: „… ‚the psalms‘ probably represent a similar sub-division of the Prophets. Indeed, David, as the presumed author of the Psalms, is explicitly called a ‚prophet‘ in Ac. 2:30.“ Ebenso Schröter, Kanon, 56. Vgl. Bowley, Prophets, 355; Ulrich, Pluriformity, 34. Hengel, Septuaginta, 257f. Der Enkel von Jesus Sirach hat das Buch ins Griechische übersetzt und dazu einen Prolog verfasst, in dem er wiederholt auf die heiligen Schriften des Judentums zu sprechen kommt. Als Abfassungszeit ist die Notiz hilfreich, dass er im 38. Jahr des Königs Euergetes (= 132 v. Chr.) aus Palästina kommend in Ägypten einwanderte und sich dort zur Übersetzung des Buches veranlasst sah. Fabry, Text, 45.
300
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
David“ die Rede ist. Wenn man bedenkt, dass für die Qumrantexte auch David unter die Propheten gerechnet wurde, muss man von daher wohl auch für die Qumraniten einen zweifachen Kanon vermuten.69 In jedem Fall war die Frage des Umfangs des dritten „Kanonteils“ in frühjüdischer Zeit noch vage und stellte selbst für die späteren Rabbinen noch ein Thema dar.70 3.1.4
Unterschiedliche „Kanonkonzepte“
„Ebensowenig wie das Judentum des ersten Jahrhunderts als homogene Größe gesehen werden kann, ist auch davon auszugehen, daß alle jüdischen Gruppen dieser Zeit dieselben Schriften für verbindlich hielten und dieselben Auswahlkriterien geltend machten ...“71 Korrespondierend zu den unterschiedlichen Gruppierungen im Judentum (s.o. I.1.3) gab es vor der Tempelzerstörung auch unterschiedliche „Kanonkonzepte“.72 „Als Trends lassen sich erkennen, dass tempelzentrierte Gruppen (Sadduzäer, Samaritaner) sich auf die Tora konzentrierten, während in Gruppen, deren Aktivitäten außerhalb des Tempels lagen (Pharisäer, Essener, Qumran, Urkirche), ‚extended canones‘ zu beobachten sind, in denen sich die prophetische Opposition (z.B. Jer in Dan 9,2) artikulieren konnte.“73 Da man für das damalige Judentum „die Kanonizität einer Schrift nicht über eine explizite Terminologie, sondern [nur] anhand bestimmter Kriterien“74 ermitteln kann, versuchte H.-J. Fabry bezüglich der Qumrantexte festzustellen, wie oft ein Text zitiert bzw. kopiert wurde und daran zu bemessen, für wie verbindlich dieser Text erachtet wurde. Dabei wird deutlich, dass viele der in Qumran verbindlich erachteten Schriften, wie etwa das Jubiläenbuch, das 1. Henochbuch, die Tempelrolle (11QT) oder auch das nicht identifizierte Buch Hagi, den späteren Einzug in den „Kanon“ nicht geschafft haben.75
69 70 71 72 73 74 75
So Campbell, Canon, 189; ebenso Schröter, Kanon, 54–56. Vgl. Maier, Frage, 138. Schröder, Gesetze, 236. Vgl. dazu Maier, Frage, 146. Fabry, Text, 37. Fabry, Text, 44. Vgl. Stemberger, Canon, 131.
3. Fragen zum biblischen Text
3.2
301
Textvarianten
Zusätzlich ist zu bedenken, dass es vor 70 n. Chr. noch keinen einheitlich fixierten Text gab und allein daraus große Unterschiede in der Auslegung resultieren konnten.76 Das gilt sowohl für den hebräischen Text wie auch für die griechischen Übersetzungen der jüdischen Bibel. Konnte man früher noch annehmen, „daß für die vorneutestamentliche Zeit ... mit einem relativ stabilisierten Septuagintatext zu rechnen ist“,77 so geht man heute davon aus, dass der LXX-Text eine „relative Konstanz“ erst „im 2. und 3. Jh. d. chr. Z.“78 gefunden hat. Die LXX-Zitate „im NT, bei Philon von Alexandria, bei Josephus und bei vielen Kirchenvätern“ geben demzufolge „Rezensionen verschiedenster Art wieder ...“79 Auch in Qumran erweisen sich die griechischen Texttraditionen „als mehrspurig, da viele Varianten eigenständigen Charakter haben und sich nicht von LXX herleiten lassen (4Q119 [4QLXXLeva]; 4Q120 [4Qpap LXXLevb].“80 In der Paulusforschung ist daher zu beachten, dass wir nicht wissen, welchen griechischen Vorlagetext Paulus benutzt hat. Daher können wir auch nicht beurteilen, ob Abweichungen von dem, was heute als LXX-Standardtext gilt, auf eigenständige Redaktion des Apostels oder auf eine anderslautende Textvorlage zurückgehen. Dabei muss man weiter berücksichtigen, dass schon damals nicht immer der „Volltext“ biblischer Bücher verwendet wurde, sondern manchmal nur Exzerpta, Florilegia oder Testimonia Anwendung fanden.81 4QTestimonia (4Q175) verbindet Dtn 5,28f.; 18,18f.; Num 24,15–17; Dtn 33,8–11 und Jos 6,26 miteinander, um das Kommen eines Tora-Propheten „wie Mose“ (Dtn 18,18) vorherzusagen. 4QFlorilegium (= 4Q174) kombiniert Aussagen der Bibel um die Natansverheißung in 2Sam 7,11–14 und das Aufrichten der zerfallenen Hütte Davids in Am 9,11. Vielleicht verwendete auch schon Apg 7,42b–43 und 15,16–18 eine „vorlk Testimoniensammlung“ zu endzeitlichen Erwartungen, in der „frühjüdische Auslegungstraditionen des Dodekapro-
76
77
78 79 80 81
Vgl. Stemberger, Canon, 127: „Si on parle de livres canoniques en se référant à l’époque du deuxième Temple, il faut accepter le fait que ce qui est canonisé n’est pas encore très bien défini. Le texte est encore peu stable ...“ Koch, Septuaginta, 229. Koch berücksichtigt zwar auch die Existenz vorchristlicher LXXRezensionen, beurteilt deren Bedeutung aber – nach heutigem Erkenntnisstand – falsch: „Für diese frühen Revisionen bzw. Rezensionsversuche ist jeweils eine nur begrenzte Verbreitung anzunehmen“ (a.a.O. 235). Vgl. auch die Aussage, dass für diese Rezensionen „nur eine geringe Breitenwirkung“ wahrscheinlich sei (a.a.O. 237). Das ist mittlerweile durch die fortgeschrittene textkritische Forschung widerlegt. Tov, Bibelübersetzungen, 133. Tov, Bibelübersetzungen, 165. Fabry, Text, 42. Vgl. Tiwald, Hebräer, 108–114.
302
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
pheten [sc. Am 5,25–27 und 9,11f.], die sowohl von Qumraniten als auch im Frühchristentum gepflegt wurden, aber am Ende zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führten“,82 zum Tragen kamen.
4.
Der Tempel im Frühjudentum
4.1
Der protologisch-eschatologische Vorbehalt
Sowohl der Jerusalemer Tempeldienst, wie auch die Tora wurden unter dem protologisch-eschatologischen Vorbehalt gesehen (s.o. V.2.1.3). Wie wir gesehen haben, bestand die eigentliche „Tora“ in der Schöpfungsordnung, deren Verständnis durch die menschliche Sünde zwar momentan verlorengegangen war, deren authentisches Verständnis jedoch für die Endzeit wiederhergestellt werden sollte. Gleiches galt auch für den Tempel in Jerusalem. Die ursprüngliche protologische Gottesunmittelbarkeit war postlapsarisch nicht mehr gegeben, der derzeitige Tempel in Jerusalem wurde in weiten Kreisen als kultisch unzulänglich betrachtet – zumindest aber als ungenügendes Abbild des himmlischen Tempels: Der wahre Tempel werde erst in der Endzeit offenbar werden.
4.2
Der Tempel als Machtfaktor
Der Tempel war ohne Frage einer der einflussreichsten Faktoren im Frühjudentum.83 Theologisch verstand sich der „Zweite Tempel“ als Wiederaufbau des Salomonischen Tempels. Durch die vorexilische Kultzentralisation des Hiskija, dessen Anliegen (Kulteinheit und Kultreinheit) von Esra und Nehemia nachexilisch wiederaufgegriffen wurde, erhielt der Tempel zusätzliches Gewicht – auch als politischer Faktor. In der Makkabäerzeit war es Jonatan (160–142 v. Chr.), der als NichtZadokide (s.o. II.4.1.5) das Hohepriesteramt widerrechtlich an sich riss, und damit die politische und die religiöse Herrschaft in seiner Hand vereinigte. Daraufhin spaltete sich unter dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ eine pro-zadokidische Gruppierung vom Jerusalemer Tempel ab und bezeichnete Jonatan und seine Nachfolger als „Frevelpriester“. Diese „Freveltat“ wurde als so einschneidend empfunden, dass etlichen Gruppen in Israel der Tempel von nun an als entweiht galt, so
82 83
Stowasser, Qumranüberlieferung, 63. Vgl. im Folgenden Ego, Temple, 168–175. Zu detaillierten Beschreibungen des Zweiten Tempels vgl. Ritmeyer, Temple, 19–57; Bahat, Temple, 59–74; Ebner, Stadt, 110–115; Galor, Jerusalem, 61–69.
4. Der Tempel im Frühjudentum
303
etwa Jub 23,9–32, Wochenapokalypse (1Hen 93,1–9; 91,11–17), und Qumrantexte wie 1QpHab XII,6–10.84 Auch ökonomisch wurde der Tempel als Machtfaktor empfunden: Der nach dem Exil errichtete „Zweite Tempel“ wurde durch Herodes den Großen ab 20 v. Chr. umfassend erweitert und eigentlich neu gebaut (A.J. 15,380–425). Das daraus resultierende Tempelareal umfasste 150.000 m2 und kann sich so mit den größten vergleichbaren Tempelanlagen (etwa Ephesos, Baalbek, Palmyra) messen. Josephus A.J. 15,421–423 benennt die Dauer der Bauarbeiten unter Herodes mit eineinhalb Jahren, doch bezieht sich dies nur auf das Tempelgebäude im engeren Sinn. Die Bauzeit des Tempels wird in Joh 2,20 mit 46 Jahren wiedergegeben. Eine noch längere Bauzeit nennt A.J. 20,215: Hier wird das Ende der Bauten erst mit dem Übergang von Albinus zu Gessius Florus (also etwa 64 n. Chr.) fixiert. Während der Bauzeit waren nach A.J. 20,219 etwa 18.000 Bauarbeiter am Tempel beschäftigt. Diese Zahl ist weit übertrieben – für Jerusalem wird man in der damaligen Zeit mit 30.000 bis max. 50.000 Einwohnern rechnen dürfen.85 Allerdings könnte die Schätzung von G. Theißen aufgehen, dass rund ein Viertel der Bevölkerung Jerusalems und seines Umlandes vom Tempel lebte,86 wenn man neben den Bauarbeitern auch noch das gesamte Kultpersonal, die Zulieferer der Opfertiere, die Geldwechsler (für die Tempelsteuer), das Reinigungspersonal u.v.m. samt deren Frauen und Kindern mitrechnet. In der Tat war der Jerusalemer Tempel auch ökonomisch gesehen ein gigantischer Machtfaktor, eine „Markthalle“ (Joh 2,16). Es ist kein Wunder, dass schon die alten Propheten den Tempel gerade in Zusammenhang mit ökonomischer Ungerechtigkeit kritisierten: Der Vorwurf, den Tempel in eine „Räuberhöhle“ verwandelt zu haben, begegnet schon in Jer 7,11 und wird in Mk 11,17 (parr. Mt 21,13; Lk 19,46) aufgegriffen. Die Kultkritik des Amos hingegen (etwa Am 5,21–25) wird von Stephanus in Apg 7,42f. weitergeführt, jene aus Jes 66,1–4 in Apg 7,49 (s.u. V.8). Solche Bilder erhalten noch mehr Gewicht, wenn man bedenkt, dass die Tempelsteuer in tyrischen Silberschekeln entrichten werden musste, einer Münze, die aufgrund ihrer Wertbeständigkeit als „Dollar der Antike“87 gelten konnte (daher auch die Tische der Geldwechsler Mk
84 85
86 87
Vgl. Ego, Temple, 171. Die Schätzungen gehen hier weit auseinander: Theißen, Tempelweissagung, 155f., veranschlagt für Jerusalem 220.000 Einwohner, eine Schätzung, die, wie er selbst zugibt, weit über anderen Schätzungen liegt. Wenn man bedenkt, dass normalerweise die größten Städte des Reiches, Alexandria in Ägypten, Antiochia in Syrien und Karthago in Nordafrika, auf 200.000 bis 300.000 Einwohner geschätzt werden und große Städte wie Ephesus, Pergamon oder Smyrna auf 50.000 bis 100.000 Einwohner, dann scheint eine Schätzung von 30.000 bis 50.000 Einwohnern für Jerusalem am wahrscheinlichsten (vgl. Ebner, Stadt, 85). Einzig Rom kam im 2. Jh. n. Chr. an die Millionengrenze. Vgl. Theißen, Tempelweissagung, 155f. Ebner, Stadt, 115.
304
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
11,15; Mt 21,12; Joh 2,14f.). Allerdings zeigte ausgerechnet diese Münze ein heidnisches Götterbild: Melkart, den Stadtgott von Tyros. Zugunsten der eigenen ökonomischen Absicherung setzten sich die Tempelpriester beim Tempelschatz über das Bilderverbot hinweg!
4.3
Theologische Ansätze zum Tempelkult
4.3.1
Tempelkritik im Frühjudentum
Da der Tempel zum Spielball politischer und ökonomischer Interessen geworden war, setzte sich in weiten Kreisen des Frühjudentums die Annahme der kultischen Insuffizienz des irdischen Tempels durch – freilich ohne den Tempelkult grundsätzlich in Frage zu stellen.88 Die Unreinheit der Tempelpriester wird kritisiert in TestMos 5,5 und 6,1, ebenso in Jub 23,21b, PsSal 2,3–5, B.J. 4,323, 2Bar 10,18 und (dem erst wesentlich späteren) TgJes 28,1.89 Johannes der Täufer als Sohn eines Tempelpriesters verkündete eine zum Tempelkult alternative Möglichkeit der Sündenvergebung durch seine Taufe. Die Qumraniten gingen noch einen Schritt weiter: Für sie war der aktuelle Tempel in Jerusalem entweiht. Bis zum Anbruch des Eschatons ersetzt die Qumrangemeinde gewisse Sühnefunktionen des Tempels durch einen „Tempel aus lebenden Menschen“ ()מקדש אדם, die statt Tieropfern מעשי תודה, „Werke des Lobpreises“, darbringen (4Q174 III,6f.).90 Dass die Qumraniten trotz ihrer Kritik den Tempel allerdings nicht für prinzipiell ungültig erklärten, wird schon aus der Tatsache deutlich, dass sie dorthin noch immer Weihegaben sandten.91 4.3.2
Himmlischer Tempel – Spiritualisierung von Opfermetaphorik
Wollte man den Jerusalemer Tempel einerseits für seine Unreinheit tadeln, andererseits den Tempelkult weiterhin als verbindlich betrachten, dann bot sich ein gut nachvollziehbarer theologischer Ausweg: Der wahre Tempel kann nicht von Menschenhand gemacht sein, da Gott sich nicht in das Machwerk menschlicher Hände einsperren lässt. Die Präsenz Gottes ist nun nicht länger mechanistisch auf den irdischen Tempel bezogen, denn Gott thront im Himmel (vgl. Ps 11,4; 103,19; 88
89 90 91
Vgl. Paesler, Tempelwort, 40–89, 150–166; Evans, Opposition, 236–241; Ådna, Tempel, 122– 127; Doering, Torah, 137–155; Tiwald, Protologie, 378f. Vgl. Evans, Opposition, 237f.; Doering, Torah, 137–155. Vgl. Ådna, Tempel, 105; Maier, Bausymbolik, 103–106; Schiffman, Importance, 75–93. Vgl. A.J. 18,19: „Sie schicken in den Tempel Weihegeschenke, lassen aber kein Opfer darbringen, weil sie heiligere Reinigungen zu haben vorgeben; deswegen ist ihnen der Zutritt zum gemeinsamen Heiligtume verwehrt, und sie verrichten ihren Gottesdienst besonders.“ Siehe ebenso die Darstellung in Philons Prob. 75.
4. Der Tempel im Frühjudentum
305
1Kön 8,30–61) und dort findet sich auch der wahre Tempel.92 Daher muss es im Himmel auch einen regelrechten himmlischen Tempelkult geben, von dem der Jerusalemer Tempel nur ein schwaches irdisches Abbild darstellt. Die idealtypische Tempelvorstellung wird damit auch weiterhin gewahrt, die Rolle des irdischen Tempels als menschengemachtes Abbild in seinem Ungenügen entschuldigt. Die Konzeption eines himmlischen Heiligtums war im Alten Orient weit verbreitet und fand auch in Ps 104,3 oder Am 9,5–6 seinen Niederschlag.93 Im Frühjudentum findet sich diese Vorstellung zunächst im Wächterbuch aus 1Hen (besonders 14,9–25), das ins 3. Jh. v. Chr. datiert. Henoch beginnt hier eine himmlische Reise, im Zuge derer er auch den himmlischen Tempel betritt. Weitere Belege für die Vorstellung eines himmlischen Tempelkults sind 11QMelchisedek II,7–8 und TestLev 3.94 Auch die qumranitischen Sabbatlieder belegen solche Vorstellungen. Am Sabbat nimmt die Qumrangemeinde durch ihren Lobpreis am himmlischen Tempelkult teil.95 Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang das Wort „Opfer“ stets als Lobpreis verstanden wird, es geht also bereits um eine Metaphorisierung der Opfervorstellungen. Statt Tieropfern werden nun מעשי תודה, „Werke des Lobpreises“, dargebracht (4Q174 III,7).96 Auch im Neuen Testament ist die Vorstellung eines himmlischen Tempelkults in der Johannesoffenbarung (Offb 7,15; 11,1; 11,19; 14,15; 15,5; 16,1 u.a.) und im Hebräerbrief (Hebr 9,12.24f.) bestens bezeugt. 4.3.3
Der endzeitliche Tempel
Erst im Eschaton würden – so eine verbreitete Vorstellung im Frühjudentum – der himmlische Tempel und der irdische Tempel zusammenfallen: In der Endzeit wird Gott hier auf Erden seinen eigenen Tempel stiften, dem der Makel kultischer Insuffizienz nicht mehr anhaftet. Gerade die Notiz in Ex 15,17 – „Du wirst sie hinbringen und auf den Berg deines Erbes einpflanzen, den du, HERR, zu deiner Wohnstätte gemacht hast, um dich niederzulassen, zu einem Heiligtum, HERR, von deinen Händen gegründet“ – beflügelte im Frühjudentum die Erwartung eines Tempels, der von Gott selbst und nicht von menschlichen Händen erbaut ist. Solche Konzeptionen finden sich in 4QFlorilegium (4Q174); Jub 1,29; 1Hen 90,28–
92 93 94
95
96
Vgl. im Folgenden Ego, Temple, 169, ebenso Doering, Torah, 137–155. Vgl. Hartenstein, Wolkendunkel, 125–179. TestLev ist in seinem Kern eine genuin frühjüdische Schrift, die erst später christlich überformt wurde. Dies lässt sich durch den aramäischen TestLev-Text aus Qumran wie durch die Textfragmente der Kairoer Geniza belegen (vgl. Stökl Ben Ezra, Impact, 83). Zu Melchisedek vgl. Stuckenbruck, Melchizedek, 124–138. Vgl. Schwemer, Königsherrschaft, 76, 81–84 und 94–103. Siehe dazu das besonders gut erhaltene 2. und 7. Sabbatlied von Qumran. Vgl. Ådna, Tempel, 105. Ebenso Maier, Bausymbolik, 103–106.
306
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
29; 2Bar. 32,2–6; 4Esr 10,46–55.97 Ähnlich berichtet auch die Johannesoffenbarung, dass im Eschaton „das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen [wird] … die Wohnung Gottes unter den Menschen“ (Offb 21,2f.). Da in dieser Konzeption die lebendige Präsenz Gottes im Eschaton die ganze Stadt Jerusalem zum Tempel macht, kann auch dies als Beleg für den vom Himmel her auf der Erde neugegründeten eschatologischen Tempel dienen. 4.3.4
Ein Tempel aus lebenden Menschen
In 4Q174 3,7 ist von drei Tempeln die Rede (s.o. III.4.2.5):98 dem entweihten Jerusalemer Tempel, dem von Gott im Eschaton zu errichtenden Tempel, und dem gegenwärtigen Menschenheiligtum ()מקדש אדם. Dieses Menschenheiligtum substituierte zwar nicht den Tempel in Jerusalem, sehr wohl aber einige seiner Sühnefunktionen, die man dem verunreinigten Tempel nicht mehr zutraute. Da für die Qumraniten der Jerusalemer Tempel entweiht und der endzeitliche Tempel noch nicht gekommen war, mussten in der Zwischenzeit einige Sühnefunktionen des Tempels von der Qumrangemeinde selbst übernommen werden.99 Die Vorstellung, dass lebende Menschen einen Tempel bilden können, ist auch bei Philon belegt. Nach Somn. 1,215 kann auch die λογικὴ ψυχή, die „vernunftbegabte Seele“, als Tempel Gottes angesehen werden. Im Neuen Testament begegnet die Vorstellung eines Menschenheiligtums in 1Kor 3,16–17; 6,19–20; 2Kor 6,16 und 1Petr 2,5. 4.3.5
Kultmetaphorik: Von der Spiritualisierung zur Ethisierung
In eschatologisch orientierten Kreisen des Frühjudentums konnte die Erwartung eines eschatologischen Heiligtums zu einer Spiritualisierung kultischer Vorstellungen führen. So etwa wurden in Qumran blutige Opfer zu „Werken des Lobpreises“ (s.o. V.4.3.2) umfunktioniert. Solche Muster waren allerdings auch gut außerhalb eschatologischer Kreise im hellenistischen Diasporajudentum nachvollziehbar. So führt Philon in Spec. 1,66f.100 aus, dass Gott die ganze Welt (σύμπαντα κόσμον) zu seinem Tempel gemacht habe; der handgemachte (χειρόκμητον) Tempel in Jerusalem sei lediglich ein Zugeständnis an menschliche Vorstellungen. In Spec.
97 98
99 100
Vgl. Ådna, Tempel, 44–45.104; Paesler, Tempelwort, 156–165; Doering, Torah, 137–155. So Flusser, Gesetzeswerke, 398. Bisweilen wurde auch überlegt, ob nicht endzeitlicher Tempel und „Menschenheiligtum“ identisch seien. Dies ist jedoch weniger wahrscheinlich, da in 11Q19 29,9 (Tempelrolle) von einer Neuerschaffung des Heiligtums die Rede ist (vgl. dazu Maier, Tempelrolle, 72; Ådna, Tempel, 104f. und Kuhn, Bedeutung, 204). Vgl. Maier, Bausymbolik, 103–106. Vgl. Ådna, Tempel, 123; Niehoff, Philo, 165f.
5. Jesus und die „Tora“
307
1,68 ist dann die Rede vom θύειν εὐαγῶς, „rein zu opfern“ im Sinne stoischer Konzepte einer ethisch reinen Grundhaltung.101 Wenn er in Spec. 2,194–203 dann über den Jom Kippur schreibt, so spiritualisiert er den Kult völlig: Blutopfer, Weihrauch und Priester spielen hier keine Rolle. Stattdessen stehen Fasten und Gebet im Mittelpunkt.102 Der Ausdruck νηστεία, „Fasten“, ist schließlich der terminus technicus für den Jom Kippur im griechischsprachigen Diasporajudentum (vgl. auch Apg 27,9). Bei Philon wird schon ein Brückenschlag von einer reinen Spiritualisierung hin zur Ethisierung gesetzt: Der wahre Wert des Kultes besteht nicht mehr in ritueller Reinheit, sondern in der Reinheit ethischen Verhaltens. So betont schon der Aristeasbrief 128.143–150 (Text s.o. III.7.2.3) den ethischen Wert der Speisevorschriften: Da unreine Tiere angeblich gewalttätig sind, setzte Gott „durch sie ein Zeichen, daß diejenigen, denen das Gesetz auferlegt ist, in ihrer Seele Gerechtigkeit üben und niemanden … unterdrücken …, sondern ihr Leben in Gerechtigkeit führen sollen …“ Und Philon betont in Migr. 89–93, Beschneidung bedeute, „alle Lust und Begierde aus uns heraus[zu]schneiden“. So kann es später in Lk 11,39–41 heißen: „Ihr haltet zwar Becher und Teller außen sauber, innen aber seid ihr voll Raffsucht und Bosheit. … Gebt lieber als Almosen, was ihr habt; und siehe, alles ist für euch rein.“
5.
Jesus und die „Tora“
5.1
Status quaestionis
Unter Bibelwissenschaftlern gibt es noch keinen Konsens darüber, wie Jesus sich zur Tora verhielt.103 Einige gehen von einem „zweifellos gebrochenen Verhältnis zu wesentlichen Teilen des Gesetzes … bedingt durch die Ansprüche der nahenden Gottesherrschaft“104 aus, andere sehen die Gottesherrschaft in Rivalität zu einer zwar noch prinzipiell gültigen Tora, wobei aber die „Gottesherrschaft als eigener
101
102
103 104
Dazu Niehoff, Philo, 166: „… Cicero describes Stoic theology as an approach that respects the traditional cults while reinterpreting them in a philosophical vein … : ,But the best and also the purest, holiest, and fully pious form of worshiping the gods is ever to venerate them with purity, sincerity, and innocence of mind and speech.ʻ Philo uses the same vocabulary of spiritual purity when speaking about sacrifice in the Jerusalem Temple (θύειν εὐαγῶς).“ Mit Verweis auf Cic., N.D. 2.60–62, 2.71, 2.153. Vgl. dazu Stökl Ben Ezra, Impact, 101: „[Philo] completely spiritualizes the temple ritual.“ Denn „blood, sacrifice, incense, the temple and the Aaronic priesthood play no role in this kind of Yom Kippur. Abstinence and prayer are its principal features“ (a.a.O. 108). Zum folgenden Teil: Tiwald, Art. Gesetz, 298–302, und ders., Protologie, 372–380. Taeger, Unterschied, 34.
308
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Normenspender“105 die Tora neu definiere. Weiter streckt sich der Bogen möglicher Deutungen über die These, Jesus habe die Tora „nicht interpretiert, nicht kritisiert, nicht aufgehoben, sie wird transzendiert“,106 bis hin zur Position, dass „nichts auf eine grundsätzliche Kritik Jesu an der Tora … hin[deutet]. Es geht um Unterschiede in der Auslegung des Mosegesetzes“.107 Allerdings wird man in Übereinstimmung mit dem zuvor Festgehaltenen eingestehen müssen, dass es zur Zeit Jesu gar keine einheitliche Tora-Auslegung gab. Vielmehr war das, was man als verbindliche Tora ansah, stets rückgebunden an die theologischen Traditionen unterschiedlicher Gruppierungen.108 Insofern tut man gut daran, Jesus als Teilhaber eines innerjüdischen Diskurses anzusehen, wie man den Willen Gottes, also „die Tora“, richtig deuten und leben soll.
5.2
Jesus als Ausleger der „Tora“
5.2.1
Keine Thematisierung der „Tora“ bei Jesus?
Man muss konzedieren, dass sich für den historischen Jesus eine Rede von der korrekten Interpretation der „Tora“ nicht expressis verbis rekonstruieren lässt. Allerdings musste im Frühjudentum nicht unbedingt von „der Tora“ verbatim die Rede sein, wenn „Tora“ sachgemäß gemeint war. Wenn etwa in den Qumrantexten vom eschatologischen „Geheimnis“ Gottes (s.o. V.2.1.3) die Rede ist, dann meint das nichts anderes als die Weltordnung – und damit die „Tora“, auch ohne das wörtlich so zu benennen. So etwa könnte man darauf verweisen, dass im gesamten Text von Musar leMevin kein einziges Mal auf die „Tora“ expressis verbis Bezug genommen wird.109 Allerdings spricht dieses Werk vom רז נהיה, raṣ nihjeh, dem „Geheimnis des Werdens“ (s.o. V.2.1.5), einer Umschreibung für „das Ordnungsinstrument, mit und nach dem die Schöpfung geordnet wurde …“110 Doch gerade das ist die „Tora“, zwar nicht als ausgewortetes Kompendium, aber in ihrer Funktion als Weltordnung. Auch in anderen Deutesträngen des Frühjudentums (etwa bei Ben Sirach über das Weisheitsbuch bis hin zu 1Hen) werden Vorstellungen
105 106 107 108
109
110
Becker, Jesus, 354. Theißen/Merz, Jesus, 325. Stegemann, Jesus, 283. Vgl. Najman, Art. Torah, 1317: „In early Judaism … Torah was repeatedly redefined or sometimes radically transformed in the context of a particular interpretative community and its tradition of reading and interpretation. In Second Temple period, there was thus no Torah apart from its tradition.“ Vgl. Kampen, Wisdom, 49: „… there is no reference to ‚Tora‘ in the extensive fragments [sc. von Musar leMevin] and no rhetorical argumentation for its authority or usage.“ Lange, Weisheit, 59.
5. Jesus und die „Tora“
309
proponiert, in denen Mose und das Sinaitische Gesetz nicht im Mittelpunkt stehen.111 Dies aber meint keine Außer-Kraft-Setzung der Sinai-Tora, sondern einen „appeal to revelation beyond that of Sinai.“112 Dabei versteht man dies nicht als eine neue Lehre, sondern als eine Art Wiederherstellung der ursprünglichen Botschaft, „[to] enable Israel to return to the authentic teaching“113. Dafür aber greift man nun nicht auf den Sinai zurück, sondern präsentiert die Tora gleich als die protologische Schöpfungsordnung schlechthin, die erst nachträglich am Sinai ausformuliert wurde, aber vorher schon existent war (vgl. die Konzeption bei Philon, s.o. V.2.2). In der Verschränkung von Protologie und Eschatologie wurzelt auch die Sehnsucht nach einer eschatologischen Wiederherstellung der prälapsarischen Ordnung. Dazu kann man dann entweder die besondere Offenbarung des Henoch oder des „Anweisers der Gerechtigkeit“ bemühen, die „siebenfache Unterweisung über die ganze Schöpfung“ in der Zehnwochenapokalypse oder das „Geheimnis des Werdens“ in Musar leMevin, jedoch in der Logienquelle auch das Sonderwissen um und in Jesus (s.o. V.2.1.5). Auch wenn Jesus keine Interpretation der „Tora“ als schriftliches Kompendium von bestimmten Rechtssätzen vornimmt, so interpretiert er sehr wohl die „Tora“ im Sinne der Schöpfungsordnung: In Mk 10,6 rekurriert er in der Frage nach der Ehescheidung auf die von Gott „am Anfang der Schöpfung“ (ἀπὸ δὲ ἀρχῆς κτίσεως) grundgelegte Ordnung und in Mt 5,45 wird Barmherzigkeit gefordert, da auch Gott als liebender Schöpfervater „seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.“ Das schöpfungsgemäße Verhalten war als auch für Jesus grundlegender Maßstab.114 5.2.2
Protologie und Eschatologie bei Jesus
Noch stärker wird die Referenz Jesu auf die grundgelegte Schöpfungsordnung im Urzeit-Endzeit-Zusammenhang, der Korrespondenz von Protologie und Eschatologie.115 Wie schon festgehalten (s.o. V.2.1.3 und III.8.3) galt in der frühjüdischen Apokalyptik die ursprüngliche Schöpfungsordnung aufgrund der Sünden der Menschen als verloren. Auch innerhalb Israels rivalisierten unterschiedliche Gruppierungen um die richtige Auslegung der Tora. In der Endzeit allerdings würde Gott durch eigens eingesetzte heilsrelevante Seher- oder Mittlergestalten (restauration figures) die 111 112 113 114
115
Vgl. Nickelsburg, Torah, 232–235; Macaskill, Wisdom, 45–47; Paganini, Judentum, 295–310. Goff, Wisdom, 73. Vgl. Macaskill, Wisdom, 89–91. Najman, Sinai, 13. Zur Frage, ob man diese Logia für den historischen Jesus reklamieren darf, vgl. Tiwald, Kommentar, 58f. und 116. Die Urzeit-Endzeit Analogie ist für das Frühjudentum reichlich belegt, die Eschatologie wird von der Protologie her gedeutet. Vgl. Doering, Laws, 217; ders., Much, 240; Becker, Jesus, 155–168; Schnelle, Jesus, 109f.; Kollmann, Wundertäter, 251–254; von Lips, Traditionen, 247–254; Niebuhr, Jesus, 330–334.
310
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
bindende Interpretation der Tora verkünden und die protologische Ordnung wiederherstellen. Die eschatologisch gültige Torainterpretation ist dabei kongruent mit der protologisch grundgelegten Schöpfungsordnung. Beispiele für solche heilsrelevante Seher- oder Mittlergestalten gab es zur Zeit des Zweiten Tempels etliche (s.o. III.8.4): Die Figur des Henoch war besonders wirkmächtig und führte zu einer reichen Literatur, die im 1. Henochbuch über mehr als drei Jahrhunderte gewachsen ist und aktuell war. Ebenso die Figur des Esra, dem nach 4Esr 14,44–47 zu den 24 bereits bekannten heiligen Büchern des Frühjudentums nun weitere 70 Bücher mit eschatologischem Sonderweisungen offenbart werden (s.o. V.2.1.5). Auch der Lehrer der Gerechtigkeit und das Schreiben Musar leMevin können für eine solche eschatologische Aufdeckung des mit der protologischen Schöpfungsordnung in Einklang stehenden Wissens angeführt werden. Auch Johnnes der Täufer nimmt für sich in Anspruch, mit seinem Umkehr- und Taufaufruf den eschatologisch bindenden Gotteswillen zu verkünden, da seine Verkündigung durch den nach ihm kommenden „Stärkeren“ legitimiert wird.116 Dieser „Stärkere“ ist nicht Gott selbst (vgl. den Anthropomorphismus vom „Tragen der Sandalen“), sondern eine in Gottes Namen handelnde Richter-, Mittler- und Retterfigur. Eine gewisse Kontextplausibilität spricht dafür, dass vielleicht schon der Täufer diese Figur mit dem „Menschensohn“ identifizierte – auch wenn sich das nicht belegen lässt (s.u. V.7.3). Jesus selbst lebte als Schüler des Täufers ebenfalls in unmittelbarer eschatologischer Naherwartung. Nach einer gewissen Zeit als Schüler des Täufers scheint Jesus durch ein visionäres „Schlüsselerlebnis“, das etliche Forscher im Satanssturz Lk 10,18 verorten,117 zur Erkenntnis gekommen zu sein, dass die vom Täufer für die unmittelbar bevorstehende Endzeit erwartete Entmachtung des Satans bereits erfolgt ist (vgl. dazu auch den Sieg Jesu über den Satan in Q 4,1–13 und Mk 1,12f.; ähnlich auch Offb 12,7–10). Kontextplausibel deckt sich diese Vorstellung mit frühjüdischen Erwartungen, dass in der Endzeit die Herrschaft des Satans gebrochen und an deren Stelle die heilsschaffende Königsherrschaft Gottes treten werde, wie Jub 50,5.9 und AssMos 10,1 verdeutlichen: Jub 50: 5 Und die Jubiläen werden vorübergehen, bis Israel gereinigt ist von aller Sünde der Unzucht und Unreinheit und Befleckung und Verfehlung und des Irrtums und wohnen im ganzen Land, wenn es Vertrauen hat und (wenn) es für es keinen Satan mehr gibt noch irgendetwas Böses. … 9 … Und ein Tag des heiligen Königreiches für ganz Israel ist dieser Tag unter euren Tagen unter allen Tagen. AssMos 10,1 Und dann wird seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein.
116 117
Vgl. dazu im Folgenden: Tiwald, Kommentar, 179–181. So etwa Ebner, Zeit, 100–108, und Theobald, Satan, 174–190.
5. Jesus und die „Tora“
311
Für Jesus führt diese Schlüsselvision zu einer Akzeleration des eschatologischen Fahrplans: Die Naherwartung des Täufers wird zu einer Gegenwarts-Erwartung. Dabei entfällt für Jesus das vom Täufer erwartete Feuergericht, da der Satanssturz ja bereits geschehen ist. Eine Läuterung durch ein Feuergericht braucht es jetzt nicht mehr, stattdessen erfolgt jetzt die machtvolle Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes, die im Himmel seit dem Satanssturz schon Realität ist, auch auf Erden. Für die Durchsetzung der Gottesherrschaft auf Erden sieht sich Jesus als der von Gott beauftragte Bote, besser noch als proaktiver „Agent“ der basileia. Durch die Vision vom Satanssturz sieht sich Jesus beauftragt, „durch den Finger Gottes“ (Q 11,20) Dämonen, Krankheiten und alles Leid (s.o. Ass Mos 10,1: Hinwegnahme aller „Traurigkeit“ im Gottesreich) zu vertreiben und damit der Herrschaft Gottes auch auf Erden zum Sieg zu verhelfen. Kongruent mit frühjüdischer Apokalyptik ist dieses besondere Wissen visionär erschlossen, anders als in frühjüdischer Apokalyptik allerdings nicht exklusiv-esoterisch, sondern inklusiv-universal und – genauso wie beim Täufer – mit einer starken sozialen Komponente versehen. 5.2.3
Jesus und die Restitution der prälapsarischen Unversehrtheit der Menschen
Für den Anbruch der Königsherrschaft Gottes war klar, dass diese den Zustand völliger Reinheit voraussetzte: Wo Gott herrscht, kann es keine Unreinheit geben. Für die Qumrangemeinde erfolgte die Restitution der Reinheit und Heiligkeit auf kultisch-rituellem Wege durch die Exklusion aller kultischen und rituellen Unreinheit.118 Da für Jesus allerdings die Gottesherrschaft bereits angebrochen ist, kann er dieses Paradigma auf den Kopf stellen: In einem Konzept der „offensiven Reinheit“119 vertritt er die Inklusion aller Unreinen in die reinmachende Dynamik der Königsherrschaft Gottes: Nicht die Unreinheit steckt an, sondern die Reinheit der anbrechenden Königsherrschaft Gottes macht nun alles rein.120 Nach Q 13,21
118 119
120
Vgl. dazu Magness, Glory, 182–188. Theißen, Reinheitslogion, 242. Theißen/Merz, Jesus, 380: „… ,offensive Reinheit‘ und ,inklusive Heiligkeit‘, die den Kontakt mit dem Unheiligen nicht scheut …“ Diese Konzeption geht zurück auf Berger, Pharisäer, 238–248. Vgl. auch Loader, Attitude, 523; Avemarie, Purity, 276 und 279 („dynamic purity“); Schröter, Diskussion, 71 („integrierende Reinheit“). Zuletzt Magness, Glory, 190, die Jesu Verständnis von ritueller Reinheit als „inclusive and proactive“ bezeichnet. „Actually, Jesus’ exorcisms and healings as well as his emphasis on moral or ethical behavior should be understood within the context of biblical purity laws“ (a.a.O. 180). Denn: „Jesus’ exorcisms and healings, as well as his exhortations to behave morally and ethically, reflect his concern with the observance of biblical law, as absolute purity and perfection were prerequisites for the establishment of the kingdom of God“ (a.a.O. 193). Vgl. auch Magness, Glory, 181: „I suggest that Jesus’ exorcisms and healings were not intended merely as apocalyptic signs, but were performed by Jesus and his disciples as God’s agents to effect the entry of the diseased and disabled into the kingdom of God.“
312
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
durchsäuert ein kleines Stück Sauerteig das ganze Mehl, so wie auch die Königsherrschaft Gottes alles mit ihrer heiligenden und heilmachenden Kraft durchdringt. „Damit entwertet Jesus die alten Reinheitsgebote nicht, aber er wertet sie um: Als Bote der basileia braucht er keine Angst vor moralisch oder kultisch unreinen Menschen zu haben, da er in der Kraft des nahekommenden Gottesreiches die protologische Reinheit und paradiesische Gutheit der Welt (vgl. Gen 1,10.12.18.etc.) eschatologisch wiederherstellt und Dämonen, Krankheiten und Unreinheiten aller Art vertreibt.“121 Daher sucht Jesus bewusst die Nähe zu Kranken und Sündern, um sie alle mit der endzeitlichen Reinheit „anzustecken“. Dabei wird der ganze Mensch – seelisch-moralisch, leiblich und rituell – in den prälapsarischen Zustand der heilen Gotteskindschaft zurückgeführt. Nach Q 7,22f. reklamiert Jesus das als Ausweis seiner Legitimität: „Blinde sehen wieder, und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören, und Tote werden erweckt, und Arme bekommen eine gute Botschaft. Und selig ist, wer nicht Anstoß nimmt an mir“ (s.u. V.7.1.5). Gleiches gilt dann auch für die Missionare der Logienquelle: „Und in welche Stadt ihr auch hineingeht, … heilt die Kranken in ihr und sagt ihnen: Nahe ist euch die Königsherrschaft Gottes“ (Q 10,8f.). In den Zeichen der Restitution der prälapsarischen Reinheit – Krankenheilungen (Q 7,22f.), Dämonenaustreibungen (Q 11,14–20), Sündenvergebungen (Q 11,4; 15,10; 17,3f.) – wird für Jesus klar, dass die „Königsherrschaft des Satans“ gebrochen und die „Königsherrschaft Gottes“ gekommen ist, wie Q 11,14–20 verdeutlicht. 5.2.4
Jesus und die Reinheitstora
Ganz auf dieser Linie ist auch zu interpretieren, dass Jesus sich scheinbar über kultische Reinheitsvorstellungen seiner Zeit hinweggesetzt hat. Um nur einige Beispiele zu nennen: • Er hält Mahl mit Sündern: Q 7,34 Dieser Mensch da – ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern. Mk 2,16 Als die Schriftgelehrten der Pharisäer sahen, dass er mit Zöllnern und Sündern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? 17 Jesus hörte es und sagte zu ihnen: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder. • Er berührt Aussätzige: Mt 8,2 Und siehe, da kam ein Aussätziger, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, wenn du willst, kannst du mich rein machen. 3 Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein! Im gleichen Augenblick wurde der Aussätzige rein.
121
Tiwald, Art. Gesetz, 300; vgl. ebenso Tiwald, Kommentar, 176–184.
5. Jesus und die „Tora“
313
• Er lässt sich von einer öffentlichen Sünderin salben: Lk 7,37 Und siehe, eine Frau, die in der Stadt lebte, eine Sünderin, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers zu Tisch war; da kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl 38 und trat von hinten an ihn heran zu seinen Füßen. Dabei weinte sie und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen. Sie trocknete seine Füße mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. 39 Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, sagte er zu sich selbst: Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist.
Die Tabubrüche Jesu sind ostentativ und zeichenhaft eingesetzt – sie verdeutlichen die Restitution der prälapsarischen Unversehrtheit in der nun beginnenden basileia. Wie wir schon gesehen haben, setzt Jesus – gleich den AT-Propheten – nicht nur auf die Wortverkündigung, sondern auch auf den Einsatz realsymbolischer Zeichen (s.o. IV.2.2.3). Nicht nur in der Wortverkündigung der Gleichnisse, sondern auch in der zeichenhaften Freude des Festmahls (vgl. die für Jesus typische Mahlpraxis, s.o. III.10.2.2; s.u. V.7.3.3), in seiner Integration von Sündern und in seinen Wunderheilungen wird die prälapsarische Unversehrtheit der basileia zeichenhaft restituiert: Lk 11,20 fasst dies perfekt zusammen: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen.“ Jesus hat mit dieser Praxis die Reinheitsvorschriften der Tora nicht außer Kraft gesetzt, gemäß dem Konzept der „offensiven Reinheit“ steckt nicht die Unreinheit an, sondern die Reinheit der anbrechenden basileia macht nun alles rein. 5.2.5
Jesus und die Ehescheidung
Traditionell urteilte man, dass Jesus in Mk 10,2–12 die Erlaubnis einer Scheidungsurkunde aus Dtn 24,1–3 außer Kraft gesetzt habe und belegte damit Jesu vermeintlich gespaltenes Verhältnis zur „Tora“.122 Allerdings kreist schon mGit 9,10 um die Frage, wie man erwat davar („Sachverhalt der Anstößigkeit“) aus Dtn 24,1 zu deuten habe: Schammai bezieht erwat davar nur auf Ehebruch, Hillel weitet erwat davar auch auf geringere Anlässe aus (etwa, wenn die Frau angebranntes oder versalzenes Essen serviert) und Rabbi Aqiva bezieht erwat davar auf jeglichen Mangel (etwa, wenn der Mann eine hübschere Frau gefunden hat). Diese Positionen sind zwar nur bedingt belastbar, da die rabbinische Zuordnung von Traditionen zu bestimmten Namen stilisiert und legendenhaft erfolgte,123 doch eine historische 122
123
Dieses Jesuswort ist im Kern authentisch, vgl. Holtz, Bemerkungen, 140, und Theobald, Ehescheidung, 109–124. Vgl. im Folgenden Tiwald, Kommentar, 115–118; ders., Art. Gesetz, 298– 302; ders., Protologie, 372–380. Hillel wird vor der rabbinischen Literatur gar nicht erwähnt, weder bei Josephus noch im NT. In den rabbinischen Texten dienen die Namen „Hillel“ und „Schammai“ oft als Platzhalter für nicht mehr näher fassbare divergierende Halachot. Vgl. Doering, Marriage, 134f.; Noam, Divorce, 212f.; Stemberger, Pharisäer, 35; ders., Pharisees, 243.
314
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Reminiszenz ist, dass es in frühjüdischer Zeit Dissens gab, wie eng oder wie weit man erwat davar auslegen darf. So interpretieren Philon und Josephus die Möglichkeit der Ehescheidung im weitesten Sinne, Philon Spec. 3,30 „gemäß welchem immer vorgebrachten Vorwand“ (καθ᾽ ἣν ἂν τύχῃ πρόφασιν), Josephus A.J. 3,276 „aus irgendwelchen Gründen“ (ἐφ᾽ αἱσδηποτοῦν αἰτίαις). In Dtn 23,15 bezieht sich erwat davar auf allgemeine Unreinheit, jedoch in Gen 9,22 und 1Sam 20,30 meint ְ ) die genitale Blöße, demzufolge gibt Mt 5,32 den Text aus Dtn 24,1 mit erwah (ﬠֶרוָה παρεκτὸς λόγου πορνείας („außer im Fall der Unzucht“) in enger Definition wieder. Bereits Mal 2,14–16 („Handle nicht treulos an der Frau deiner Jugend!“) verbietet eine Scheidung aus dem Grund, dass man der Frau überdrüssig geworden ist.124 Und im LXX-Text Spr 18,22 findet sich die (über den hebräischen Text hinausgehende) Ergänzung: „Wer eine gute Frau verstößt, verstößt das Gute, wer eine Ehebrecherin behält, ist töricht und gottlos.“ Auch für Qumran hat V. Noam gezeigt, dass Ehescheidung nur im Falle von Unzucht möglich war, da in diesem Fall die Ehe durch den Akt der Untreue ipso facto gebrochen war.125 In Qumran war auch das Heiraten einer Geschiedenen verboten, da die Frau durch den Bruch des Ehebandes unrein war. Bemerkenswert ist dabei der Text CD IV,20f.: „Sie wurden durch zweierlei in der Unzucht gefangen: Zwei Weiber zu nehmen zu ihren Lebzeiten; aber die Grundlage der Schöpfung ist: Als ein Mann und ein Weib hat er sie geschaffen.“ Auch wenn CD (vgl. auch 11Q19 LVII,17–19) hier nicht – wie oft vermutet – von Wiederheirat nach Scheidung, sondern von Polygynie spricht,126 bleibt doch die Parallele zu Mk 10,2–12, wo die Mann-Frau-Beziehung als von der Schöpfungsordnung geregelter Sachverhalt beschrieben wird. Die Frage „Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus der Ehe zu entlassen?“ (Mk 10,2) stellte eine quaestio disputata des damaligen Judentums dar und wurde wahrscheinlich als ernst gemeinte Frage an Jesus herangetragen (Mk 10,2 verzeichnet die Pharisäer polemisch). Das Anliegen Jesu rekurriert nach Mk 10,6 ganz klar auf das, was ἀπὸ δὲ ἀρχῆς κτίσεως („von Anbeginn der Schöpfung aber“) grundgelegt war – also die Restitution des protologischen Gotteswillens (s.o. V.5.2.2). In der Version Q 16,18 fehlt der Rekurs auf die Genesis, vielleicht hat die Logienquelle hier sentenzenhaft verkürzt127 – solches war möglich, wenn man CD 4,21 mit 11Q19 LVII,17– 124
125
126 127
Vgl. dazu die Erläuterungen bei Doering, Marriage, 134 (besonders Anm. 5). Mal 2,14–16 bietet kein absolutes Scheidungsverbot, sondern „is directed against divorce on account of mere aversion to the woman“ (ebd.). Vgl. den Beweisgang bei Noam, Divorce, 219: „… the sect followed the same ancient halakhah that was partially preserved in the halakhic rulings of Bet Shammai, and which was stated in Jesus’ sermon as well: divorce was permitted only in cases of adultery.“ Ebenso a.a.O. 222f: „In all likelihood, the sect denounced marriage to a divorcee, just as Jesus denounced it and just as the ancient Pharisaic midrash denounced it.“ Vgl. dazu Doering, Marriage, 133–163, und Noam, Divorce, 206–223. Theißen/Merz, Jesus, 181.209.330.333.517, rechnen mit der Ursprünglichkeit des Gen-Zitates.
5. Jesus und die „Tora“
315
19 vergleicht, wo auch die Referenz auf Gen 1,27 fehlt. Die in Mt 5,32 und 19,9 gebotene Unzuchtsklausel war im Judentum (und damit auch für Jesus) selbstverständlich: Gemäß Spr 18,22LXX; Jub 33,7; TestRub 3,15; 1QGenAp XX,15; tSot 5,9; bGit 90b (vgl. auch Mt 1,19!) musste der Mann eine untreue Frau aufgrund von Reinheitsnormen verstoßen.128 In diesem Fall geschah die Auflösung des Ehebandes allerdings nicht durch Verstoßung, sondern ipso facto durch den Tatbestand der Untreue. Interessant ist, dass „anhand der spezifischen Gestalt des Scheidungsverbotes in [Q] 16,18 erkennbar [wird], daß die konkrete Rezeption der Regelungen des νόμος im Horizont einer Tradition erfolgt, in welcher jüdische Reinheitsvorstellungen eine Rolle spielen und die sich diesbezüglich von der markinischen Aufnahme unterscheidet.“129 Wahrscheinlich haben Q 16,18 und Mk 10,2– 12 beide Aspekte des historischen Jesus korrekt festgehalten: Q seine Einhaltung jüdischer Reinheitsvorschriften, Mk seinen Rekurs auf die Schöpfungsordnung und die Vermeidung von „Hartherzigkeit“ (σκληροκαρδία, Mk 10,5) durch androzentrische Gesetzgebung.130 Letzteres passt gut zu Jesu Option für Arme und Benachteiligte (s.u. IV.1.3.7) und eröffnet auch in der heutigen Diskussion um Ehescheidung Positionen jenseits von nomistischem Rigorismus. 5.2.6
Jesus und die familia Dei
Ein weiterer präsumptiver Konfliktpunkt Jesu mit der Tora wird gerne in der postulierten Außer-Kraft-Setzung des Dekaloggebotes der Elternehrung (Ex 20,12; Dtn 5,16) in Q 9,59f. (Verbot, den toten Vater zu begraben) und Q 14,26 (Vater und Mutter hassen) gesehen. In Bezug auf das Gebot der Elternehrung konstatiert J. Becker, dass „die höherrangige Anforderung von Seiten der Gottesherrschaft die Geltung der Tora für diesen Fall [bricht].“131 Allerdings wurde für das Eschaton gerade das Zerbrechen der irdischen Familienbande erwartet:132 1Hen 99,5 Und in jenen Tagen werden die, die in (Gebär)Nöten sind, gehen und ihre Kinder (heraus)reißen und sie von sich stoßen; ihre Kinder gehen ihnen (als Fehlge128 129
130
131 132
Vgl. Konradt, Matthäus, 90. Zur gesamten Thematik Junker, Reinheitslogion, passim. Schröter, Gesetzesverständnis, 457. Ähnlich auch Stowasser, Ehescheidung, 89: „Könnte das im Hintergrund stehende ‚humanistisch-aufklärerische‘ Jesusbild nicht doch übersehen, dass der Jude Jesus den kultischen Reinheitskategorien des Frühjudentums tiefer verpflichtet blieb und diese auch seine strikte Position zur Frage von Scheidung und Wiederheirat wesentlich stärker prägten, als häufig angenommen wird?“ Vgl. Theobald, Ehescheidung, 119: „Vielfach sensibilisiert für das Unrecht, das den Armen, Hungernden und Weinenden widerfuhr, nahm Jesus gewiß auch jenes Unrecht vielfältiger Art wahr, das Frauen geschah, die, aus welchem Grund auch immer, aus der Ehe ‚entlassen‘ wurden.“ Becker, Jesus, 355. Vgl. dazu Bieberstein, Jüngerinnen, 120; Berger, Gesetzesauslegung, 508. Zur gesamten Problematik von Q 9,59f. siehe Heil, Nachfolge, 117–133; Tiwald, Kommentar, 202f.
316
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum burt) ab und während sie an der Brust trinken werden, stoßen sie ihre Kinder von sich, und sie werden sich nicht zu ihnen zurückwenden und sich ihrer Lieben nicht erbarmen. 1Hen 100,2 Denn ein Mann wird seine Hand nicht von seinen Söhnen und von dem Sohn seiner Söhne zurückhalten, ihn zu töten, und der Sünder hält seine Hand nicht von seinem geachteten Bruder zurück: Vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang morden sie sich. Jub 23,19 Und sie werden kämpfen, diese mit jenen, Jünglinge mit Greisen, und Greise mit Jünglingen, der Arme mit dem Reichen und der Niedrige mit dem Großen und der Arme mit dem Herrscher wegen des Gesetzes und wegen des Bundes, denn sie haben das Gebot und den Bund vergessen und Fest und Monat und Sabbat und Jubiläum und alles Recht.
In den kataklystischen Endzeitereignissen wird nach frühjüdisch-apokalyptischer Deutung die irdische Familie zerbrechen (vgl. Q 12,53; Mk 10,29–30 und EvThom 15; 16; 55), um die neue familia Dei zu begründen. Eine Abrogation der Elternliebe ist bei Jesus nicht intendiert, wie Mk 7,10–13 belegt, sehr wohl aber das Konzept, dass Gott als Vater seine eigene, neue Familie begründet, die sich nun nicht mehr nach fleischlichen Banden konstituiert, sondern nach dem Willen Gottes: Mk 3,32 Es saßen viele Leute um ihn herum, und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. 33 Er erwiderte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? 34 Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. 35 Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
In der basileia wird der protologisch-heile Urzustand der Welt wiederhergestellt. Der liebende Vatergott stellt in seiner Güte und Vergebungsbereitschaft den Urzustand der Welt wieder her, wo alle Kinder Gottes sind. Daher lässt er seine Sonne auch über all seinen Kindern aufgehen, über „Böse und Gute“, und „regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Q 6,27.28.35; die Formulierung war ursprünglich noch nicht antithetisch wie später bei Mt 5,38f. gegen Ex 21,24f., Lev 24,20 und Dtn 19,21 formuliert). Mit dem Verweis auf Regen und Sonne verwendet Jesus auch hier schöpfungstheologische Topoi. Als Konsequenz der Vater- und Schöpferliebe Gottes zu seinen Kindern sollen auch seine Söhne und Töchter dem Beispiel des Vaters folgen, einander geschwisterlich lieben und barmherzig vergeben, „damit ihr Söhne (und Töchter) eures Vaters werdet“ (Q 6,35). Die Verbindung von Vaterschaft Gottes und Barmherzigkeit ist ein zentrales Thema bei Jesus und begegnet auch in so wichtigen Texten wie Mk 11,25; Lk 15,11–32 und dem Vater-Unser-Gebet (Q 11,2f.).133
133
Mk 11,25: „Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt.“ Lk 15,11–
5. Jesus und die „Tora“
5.3
317
Jesus und der Sabbat
Gerade in puncto Sabbatheiligung wurde gerne angenommen, dass Jesus sich über die Vorschriften der Tora hinweggesetzt und den Boden dessen, was im damaligen Judentum üblich war, verlassen habe.134 Allerdings gab es im damaligen Frühjudentum gar kein einheitliches Sabbatverständnis. „Man kann nicht von der jüdischen Sabbathalacha und -praxis sprechen … Die Ausgestaltung der Sabbatbeobachtung durch die einzelnen Gruppen und Kreise des antiken Judentums entspricht im Wesentlichen dem jeweiligen Referenzrahmen des betreffenden Segments der jüdischen Gesellschaft, der von theologischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bestimmt wird.“135 Mit anderen Worten: Es gab gruppenspezifisch bedingte, voneinander abweichende Sabbathalachot; die Vorstellung einer gesamtjüdisch einheitlich normierten Sabbatpraxis – gegen die Jesus dann hätte verstoßen können – ist für das Frühjudentum anachronistisch.136 „Sabbath was also a major source of disputes among Jewish groups. Some advocated lessening or even abolishing Sabbath strictures that made life difficult in the Hellenistic world, but others sought to strengthen Sabbath laws.“137 Die Quintessenz aus der Fülle von Publikationen zu dieser Frage kann man mit der Feststellung zusammenfassen, dass Jesu konkrete Sabbatobservanz sich im weiten Spektrum jüdischen Sabbatverhaltens in Palästina zur Zeit des zweiten jüdischen Tempels bewegte, allerdings nicht Tendenzen bestimmter priesterlicher beziehungsweise pharisäischer Kreise entsprach, welche die Identität Israels im Bund mit Gott nur in einer rigorosen Umsetzung des sabbatlichen Arbeitsverbots gewährleistet sahen. „Es kann keine Rede davon sein, dass Jesus von Nazareth in Bezug auf den Sabbat die Grenzen des im damaligen Judentum Möglichen überschritten hätte.“138 Die Pluriformität im Umgang mit dem Sabbat setzt sich – vom Frühjudentum übernommen – auch im Frühchristentum fort, „der Umgang mit dem Sabbatgebot im frühen Christentum [war] keinesfalls einheitlich geregelt.“139 Auch „Paulus wußte [sc. bzgl. des Sabbatgebotes] nichts von einem Konflikt Jesu
134 135 136 137 138 139
32: Das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ thematisiert den liebenden Vater, der seinen beiden (!) verlorenen Söhnen vergibt. Auch im Vater-Unser-Gebet werden Vateranrede und Sündenvergebung kombiniert. Vgl. den Forschungsüberblick bei Doering, Schabbat, 399f. Doering, Schabbat, 575. Vgl. im Folgenden: Tiwald, Protologie, 376f.; ders., Art. Gesetz, 300f. Falk, Art. Sabbath, 1174. Mayer-Haas, Geschenk, 680. Vgl. ebenso Tuckett, Sabbath, 435; Doering, Schabbat, 476. Mayer-Haas, Geschenk, 668. Vgl. ebenso Tuckett, Sabbath, 425: „…the issue of Sabbath was one of considerable flux … and no clear or universal ‚Christian‘ viewpoint emerges.“
318
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
mit der Tora…“140 Auch daraus legt sich nahe, dass der historische Jesus den Sabbat nicht prinzipiell in Frage stellte. 5.3.1
Pluriforme Sabbathalachot im Frühjudentum
Einige Beispiele für abweichende Sabbathalachot im Frühjudentum seien hier angeführt: 1Makk 2,34–38 porträtiert den Heldenmut frommer Juden, sich lieber töten zu lassen, als am Sabbat zu kämpfen (vgl. auch 2Makk 6,11 oder 8,26–28). Ähnlich strenge Vorschriften sind uns aus dem Jubiläenbuch 50,12f. bekannt (um 150 v. Chr.). Dennoch billigt 1Makk 2,41 schließlich die Regelung, auch am Sabbat kämpfen zu dürfen, und auch Josephus konzediert militärische Selbstverteidigung am Sabbat (A.J. 12,277; 14,63; B.J. 1,146), während er den aktiven Angriffskrieg für diesen Tag ablehnt (Vita 159 und 161).141 Interessant ist die Argumentation von Josephus, der nach B.J. 1,146 im Falle eines Verteidigungskrieges das Argument der Lebensrettung, die am Sabbat ja erlaubt war, geltend macht. Auch bei den späteren Rabbinen wird Lebensrettung am Sabbat unter dem Fachbegriff ( פקוח נפשpiqquaḥ nefesch; vgl. tShab 9[10],22; 15[16],16.17; bYom 84b) erlaubt.142 Wieweit man diese Vorschrift interpretieren durfte, war im Frühjudentum umstritten. So etwa verbietet CD XI,16f. den Gebrauch von Geräten (Stricken, Leitern etc.) bei der Lebensrettung am Sabbat, wenn ein Mensch in ein Bassin gefallen ist.143 Damit ist die Damaskusschrift allerdings wesentlich rigider als die späteren Tannaiten; „[n]ach tannaitischer Auffassung kann praktisch jeder passende Gegenstand und jede Handlung mit Ausnahme von Götzendienst und Unzucht und Blutvergießen zur Lebensrettung eingesetzt werden … (tShab 15[16],17; bYom 84b; ySanh 3,6 [21b]; yShevi 4,2 [35b] etc.; vgl. tShab 9[10],22).“144 Die Damaskusschrift widmet sich hier auch der Frage, was mit Vieh zu tun ist, das am Sabbat in eine Grube fällt, und untersagt ausdrücklich, dieses herauszuholen (CD XI,13f.).145 Auch in diesem Punkt sind die späteren Tannaiten nicht ganz so streng, da sie zumindest lebenserhaltende Maßnahmen erlauben, wie das Füttern des Tieres in der Grube (tShab 14[15],3), auch wenn das Heraufholen verboten bleibt. Der noch spätere babylonische Talmud erlaubt allerdings, dem Tier Decken und Kissen vorzulegen, damit es sich selbst aus der Grube befreien kann (bShab 128b). Offensichtlich war auch in rabbinischer Zeit noch Nachbesserungsbedarf bei diesen Regelungen gegeben. Daher kann man annehmen, dass diese in frühjüdischer Zeit
140 141 142 143 144 145
Mayer-Haas, Geschenk, 114f. Vgl. dazu Doering, Schabbat, 498–502. Vgl. Doering, Schabbat, 566. Zu CD XI,16f.: Doering, Schabbat, 201–204. Ebenso Rowland, Summary, 46. Doering, Schabbat, 204. Vgl. dazu im Folgenden Doering, Schabbat, 568f. Ebenso Rowland, Summary, 46.
5. Jesus und die „Tora“
319
noch nicht einhellig geglaubt und gelebt wurden. Auf diesem Hintergrund erhalten neutestamentliche Texte, wie das in die Grube gefallene Schaf (Mt 12,11) oder der in den Brunnen gestürzte Ochse (Lk 14,1–6), eine neue Einbettung in den frühjüdischen Sabbatdiskurs. 5.3.2
Protologischer und eschatologischer Sabbat bei Jesus
Wie allerdings hat Jesus nun den Sabbat verstanden – lässt sich auch hier eine eschatologische Aufhellung des protologisch fixierten Gotteswillens erkennen? Tatsächlich wurde der Sabbat im Jubiläenbuch (Jub 2,1) protologisch begründet, die Wiedergabe des Schöpfungsberichts läuft zentral auf den Sabbat zu und gliedert die Erschaffung des Menschen in die Sabbatbezüge ein (Jub 2,14f.). In Mk 2,27 findet sich hierzu eine Parallele – wenngleich mit anderer theologischer Stoßrichtung. Wenn Jesus konstatiert: „Der Sabbat wurde (ἐγένετο) wegen des Menschen und nicht der Mensch wegen des Sabbats“ (Ü.MT), dann hat er die Welterschaffung und die von Gott dabei grundgelegte Ordnung im Blick. „Gott kommt im anhebenden Eschaton so zur Herrschaft, daß die protologischen Gegebenheiten, bislang verdeckt durch die Sünde, wieder bestimmend werden. Der Sabbat ist in dieser Sicht seinem Wesen nach Geschenk, das dem Menschen dient, nicht Forderung, die an ihn gestellt wird.“146 Auch der Aspekt der Lebensrettung am Sabbat kommt im Folgenden zur Sprache (Mk 3,4: ψυχὴν σῶσαι; „ein Leben zu retten“) und belegt, dass Jesus „die Heilung chronisch Kranker unter dem Blickwinkel der Lebensrettung betrachtet.“147 Jesu Argumentation reicht aber noch tiefer: Leid und Krankheit sind nach seiner Auffassung „nicht mit dem Charakter des Sabbats vereinbar …, der von dem Rückverweis auf die Schöpfermacht Gottes und wohl auch von der Vorausschau auf die Endzeit bestimmt war.“148 „… referring to God’s creative act and thus … to the institution of primordial Sabbath [symbolises] a restauration of paradisal conditions proclaimed by Jesus as part of his eschatological mission of the kingdom of God …“149 Wenn der Sabbat wirklich – wie in Jub 2 vorgegeben – den Höhepunkt und Inbegriff der ganzen Schöpfung darstellt, so muss sich das eschatologische Heil (das ja als Restitution der protologischen Schöpfungsordnung gedacht wird) auch und besonders am Sabbat verwirklichen. „Insofern kann die These, daß Jesus … am Sabbat heilen mußte, Anspruch auf Richtigkeit erheben.“150 Die Sichtweise, dass der Sabbat die Endzeit bereits antizipiert, 146 147 148 149 150
Doering, Schabbat, 424. Doering, Schabbat, 454. Doering, Schabbat, 456 (Original teilweise kursiv). Doering, Laws, 217. Ähnlich auch Doering, Much, 241; Doering, Schabbat, 477. Mayer-Haas, Geschenk, 678. Vgl. Tuckett, Sabbath, 438–442; Tiwald, Trajectories, 403; Doering, Schabbat, 456. Dabei sollte man allerdings nicht so weit gehen, zu behaupten, Jesus habe ausgerechnet den Sabbat für seine Heilungen benutzt (vgl. Doering, Schabbat, 456).
320
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
findet sich auch in den Sabbatopferliedern aus Qumran: Hier wird die eschatologische Erlösung in der Feier der Sabbatliturgie präsentisch vorweggenommen.151 Im Unterschied zu Qumran zeitigt diese Prolepse für Jesus nun eine „Gabe Gottes an die Sünder und Ausgestoßenen“, die den „kultischen Rahmen in seinem traditionellen Verständnis … aufsprengt.“152 Damit allerdings wird klar: Auch in seiner – manchmal provozierenden – Sabbatpraxis bleibt Jesus innerhalb des damaligen frühjüdischen Diskurses.
5.4
Abschließende Wertung: Jesus und die „Tora“
Auch wenn in der Verkündigung Jesu die „Tora“ als expressis verbis ausdefinierter Normenkanon keine Rolle spielt, so interpretiert er doch die „Tora“ implizit als die protologische Grundverfasstheit der Welt, die nun im Eschaton durch ihn als Boten der basileia aufgedeckt wird. Solch eine Sichtweise der Tora war im damaligen Judentum durchaus üblich. Die Autorität, die sich Jesus hier als endgültiger Interpret des Heilswillens Gottes beimisst, sprengt ebenfalls nicht den Rahmen dessen, was im damaligen Judentum möglich war. Auch die Autoren von 1Hen, dem Jubiläenbuch, den Qumranschriften, 2Bar oder 4Esr sahen sich ermächtigt, das eschatologische „Geheimnis“ Gottes aufzudecken und damit die endzeitlich bindende Interpretation des Gotteswillens – also der „Tora“ – zu propagieren.
6.
Jesus und der Tempel
6.1
Jesu positives Verhältnis zum Tempel
Die große Zahl der positiven Bezugnahmen Jesu auf den Tempel (vgl. Mk 1,40–44; 11,11), seine von Synoptikern und Johannes erwähnte Lehrtätigkeit im Tempel (Mk 12,35.41–44; 14,49; Joh 5,14; 7,28; 8,2.20; 18,20), wie auch die Teilnahme Jesu an Festen im Tempel (Joh 7,14; 10,23)153 machen zweifelsfrei deutlich, dass Jesus den Jerusalemer Tempel nicht prinzipiell in Frage stellte.154 Dieser Befund wird gestützt durch die von der Apostelgeschichte hervorgehobene Eingebundenheit der Jerusalemer Urgemeinde in den Tempelkult (Apg 2,46; 3,1.3.8; 5,20f.25.42; 21,26f.; 22,17; 24,12.18; 25,8; 26,21). Natürlich steckt hier auch die Tendenz des Lk
151 152 153
154
Vgl. Schwemer, König, 116f. Schwemer, König, 117. Vgl. Ådna, Tempel, 130f. und 434–440; ebenso Charlesworth, Jesus, 145–181. Zur Sabbatpraxis von Jesu ersten Jüngern nach der Apg vgl. Charlesworth, Followers, 183–212. Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Protologie, 377–379; ders., Art. Gesetz, 301f.
6. Jesus und der Tempel
321
dahinter, Jesus (Lk 2,46.49; 4,9), seine Familie (Lk 2,22.27.41f.) und auch seine Jünger (s.o. die Stellen aus der Apg) als besonders tempelfromm zu zeichnen. Doch im Falle einer grundsätzlichen Opposition Jesu gegen den Tempel wäre dies nicht möglich gewesen.
6.2
Protologie und Eschatologie im Tempelverständnis Jesu
Ähnlich wie die in Spec. 1,66f. (s.o. V.4.3.2) vorgebrachten Konzeptionen hört sich auch Mk 14,58 an:155 Ich werde diesen von Menschenhand gemachten Tempel (τὸν ναὸν τοῦτον τὸν χειροποίητον) niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand gemacht (ἀχειροποίητον) ist.
Könnte es sein, dass auch Jesus die Ersetzung des irdischen Tempels durch ein endzeitliches Heiligtum erwartete? Dies jedenfalls läge ganz auf der Linie frühjüdisch-eschatologischer Erwartungen (s.o. V.4.3.3). Für Jesus restituiert – wie wir bereits gesehen haben – die basileia die prälapsarische Unversehrtheit der Menschen. Das könnte auch für den Tempelkult gelten: In der paradiesischen Gottunmittelbarkeit benötigten die Menschen keinen Tempel. Es wäre möglich, dass Jesus für die Endzeit die Restitution dieser Gottunmittelbarkeit erwartete. Schon die qumranitischen Sabbatlieder stellen eine starke Verbindung zwischen Gottesherrschaft und Tempelkult her:156 Für sie bedeutet die Teilnahme an der Sabbatliturgie Teilhabe am himmlischen Tempelkult; dieser himmlische Tempel würde in der Endzeit den verunreinigten irdischen Tempel ablösen (s.o. V.4.3.3).157 Die schon in der Gegenwart erfolgende Teilhabe der Qumraniten am himmlischen Tempelkult über die Sabbatliturgie wird dabei zur Vorwegnahme der Gottesherrschaft, die ja im Himmel schon realisiert ist.158 „Gottes Königsein manifestiert sich jedoch nicht darin, daß er als König auf ‚hohem und erhabenem Thron‘ sitzend
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Hier wird das Wort freilich nur „falschen Zeugen“ in den Mund gelegt. Die frühen Christen taten sich mit der Tempelkritik Jesu sichtlich schwer. Dennoch hat das Wort Anspruch auf Glaubwürdigkeit im Munde Jesu (wenn auch nicht in der mk Diktion), da es auch eine Parallelbezeugung in Joh 2,19 (vgl. auch Q 13,34f.; Mk 13,2) gibt und das Wort gut zur Tempelaktion passt. Vgl. dazu Schwemer, Königsherrschaft, 116–118. So Brooke, Eden, 298; García Martínez, Functions, 316f.; Flusser, Gesetzeswerke, 398; Ådna, Tempel, 104f.; Kuhn, Bedeutung, 204. Zum himmlischen Tempel vgl. Maier, Planungsziele, 421–425; Fletcher-Louis, Mysticism, 442–445. Auch in der Darstellung von Jub 1,10.26.29; 4,26 wird der verunreinigte irdische Tempel durch einen neuen Tempel im Eschaton ersetzt. Vgl. dazu van Ruiten, Visions, 215–227. Ebenso Doering, Torah, 137–155. Vgl. Schwemer, Königsherrschaft, 76, 81–84 und 94–103. Vgl. dazu das besonders gut erhaltene 2. und 7. Sabbatlied von Qumran.
322
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
geschaut wird, sondern indirekt in der Feier des himmlischen Gottesdienstes …“159 Bei Jesus sind ähnliche Konzepte anzutreffen, allerdings mit anderer theologischer Zuspitzung. Auch für ihn ist die Gottesherrschaft im Himmel bereits realisiert („dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde“, Mt 6,10). Als Vorwegnahme der basileia dient allerdings nicht der Sabbatgottesdienst, sondern Jesu Wunderheilungen und Sündenvergebungen. Die Restitution dieser prälapsarischen Unversehrtheit und Heiligkeit könnte dazu führen, dass in der anbrechenden basileia die ganze Heilsgemeinde in unmittelbarer Gottespräsenz steht und damit selbst zu einem einzigen Tempel wird. Vielleicht haben sich in der Johannesoffenbarung sogar Spuren der ursprünglichen Konzeption Jesu erhalten: Ähnlich wie in Qumran der endzeitliche Tempel den irdischen ersetzt, so ersetzt das himmlische Jerusalem das irdische (Offb 3,12; 21,2.10). Einen Tempel gibt es in dieser Stadt (die pars pro toto für den Heilsraum Gottes steht) aber nicht, weil nach Offb 21,22 die unmittelbare Gottesgegenwart im eschatologischen Jerusalem den Tempel ersetzt und die ganze Stadt (totum pro parte) damit zu einem einzigen Tempel wird.160 Die Wiederherstellung der protologischen Gottunmittelbarkeit wurde übrigens schon von Joel 3,1–5 für die Endzeit prophezeit, eine Sichtweise, die Apg 2,17–21 aufgreift. Diese Geistunmittelbarkeit könnte dazu führen, dass für Jesus – wie es Joh 4,20–24 nennt – jeder Ort, wo Gottes Geist ist, ein Tempel sein kann. Die Konzeption, dass eine Gruppe von Menschen durch ihren Lobpreis Sühnefunktionen des Tempels übernimmt und damit zu einem Heiligtum aus Menschen wird, ist ja schon in Qumran belegt (s.o. V.4.3.4). Aber auch bei Philon begegnet die Vorstellung, dass die λογικὴ ψυχή, die „vernunftbegabte Seele“, als Tempel Gottes verstanden werden kann (Somn. 1,215). Ähnliche Konzeptionen werden dann im beginnenden Christentum weiter ausgebaut: Auch für Paulus sind die Gläubigen mit dem Tempel gleichzusetzen (1Kor 3,16–17; 6,19–20; 2Kor 6,16), eine Konzeption, die auch noch im postpaulinischen 1Petr 2,5 präsent ist.161
6.3
Jesu Tempelaktion und Tempelwort
Auf diesem Hintergrund gewinnt die Tempelaktion Jesu (s.o. III.10.2.4) ein neues Gewicht: Nicht eine Abrogation des Tempels ist intendiert, vielmehr gibt Jesus dem Tempel eine herausragende Rolle im eschatologischen „Fahrplan“ der basileia. Bewusst geht er mitten in das Herz Israels: Gang nach Jerusalem, emblematischer Einzug in die Stadt, gezieltes Aufsuchen des Tempels. Damit leitet Jesus in 159 160 161
Schwemer, Königsherrschaft, 101. Vgl. dazu Huber, Tempel, 204, 210f., 229–231. Auch in 1Petr 2,5 folgt die Spiritualisierung von Tempelmetaphern nicht supersessionistischen Ideen, sondern bleibt im Kontext frühjüdischer Ideen, vgl. Bottner, Essence, 409–425.
7. Von Jesus zu Christus
323
prophetischer Eskalation die finale Phase für den Anbruch der basileia ein. Sozusagen in der innersten Herzkammer Israels proklamiert er nun das unmittelbar bevorstehende Kommen der basileia und des eschatologischen Tempels. Spätestens nach diesem Schritt muss ihm bewusst gewesen sein, dass es kein Zurück mehr gibt. In bewusster Weise wirft er sein eigenes Leben in die Waagschale, um der basileia – und damit auch dem neuen Tempel – zum Durchbruch zu verhelfen (s.o. III.10.2.4; s.u. V.7.3.3).
7.
Von Jesus zu Christus
Der historische Jesus von Nazaret hat keinen einzigen der später für ihn gebräuchlichen Hoheitstitel für sich selbst verwendet. Weder hat er sich als „Messias/Christus“ bezeichnet, noch als „Sohn Gottes“ im Sinne der zweiten göttlichen Person, auch nicht als „Menschensohn“. Muss man dem Christentum daher vorwerfen, eine nachträgliche „Vergottung“ des Menschen Jesus zum Christus des Glaubens betrieben zu haben?162 Gerne wird für die Spannung zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus des Glaubens163 das Wort vom „garstigen breiten Graben“, von Gotthold Ephraim Lessings aus dem Jahre 1777 bemüht: Über den Beweis des Geistes und der Kraft, 7: Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. … Ich leugne gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllt worden; ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder … mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen.
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Pars pro multis: Lüdemann, Unheilige, 123: „Aber der vergottete Christus hat mit Jesus wenig zu tun. Das ahnen heutzutage immer mehr Christenmenschen, und darum wissen inzwischen wieder viele Kirchenfunktionäre. Darum gilt der Satz uneingeschränkt: ‚Die Leiche im Keller des Christentums ist der vergottete Jesus selbst‘ (Zitat von Türcke).“ Diese Unterscheidung steht unter der Prämisse, die Schröter, Heilsbedeutung, 118f., zu Recht formuliert: „[Es wäre] verfehlt, die Bedeutung des Wirkens Jesu unabhängig von den Osterereignissen erfassen zu wollen. Dies macht Versuche, innerhalb der christlichen Wirklichkeitsdeutung den ‚historischen Jesus‘ gegen den ‚Christus des Glaubens‘ profilieren zu wollen, von vornherein fragwürdig.“ Dies gilt umsomehr, als „[d]erartige Versuche übersehen …, dass Entwürfe des ‚historischen Jesus‘ selbst selektive, revidierbare, den jeweiligen erkenntnistheoretischen Prämissen und Quellenkenntnissen unterliegende Rekonstruktionen sind …“ Allerdings muss „historisch-kritische Forschung … plausibel machen, wie es zu diesen Deutungen gekommen ist.“ Somit gilt: „Das Paradigma des ‚historischen Jesus‘ bezeichnet deshalb einen spezifischen Zugang, der zwischen historischer Rekonstruktion und frühchristlichen Deutungen kritisch unterscheidet und dadurch den Blick auf den Zusammenhang zwischen beidem schärft.“
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V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Tatsächlich bricht mit Lessing – und dem von ihm zitierten, aber bis dahin unpublizierten Werk von H. S. Reimarus (1694–1768) – im sogenannten „Fragmentenstreit“164 die Frage nach dem Wahrheitsgehalt christologischer Aussagen auf. Dabei steht für Lessing weniger die Diastase zwischen historischem Jesus und Christus des Glaubens im Mittelpunkt (s. das Zitat oben), sondern das Postulat einer allgemein gültigen da mit der Natur des Menschen in Einklang stehenden Vernunftreligion,165 die auf historische Begründung gar nicht angewiesen ist. Daher kann er in Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft 5 schreiben: „zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.“ Das richtet sich gegen kirchliche Machtansprüche (Lessings Vater war Vertreter der lutherischen Orthodoxie): Von den vermeintlich historisch „bewiesenen“ Wundern Jesu wurde auf seine göttliche Autorität und damit auch auf die Authentizität der kirchlichen Lehre rückgeschlossen.166 Den Automatismus, von biblischen Aussagen unmittelbare Wahrheits- und Machtansprüche ableiten zu können, hat Lessing mit seinem „garstigen breiten Graben“ verunmöglicht und damit an alle künftigen Jesus-Deutungen eine Vorgabe gerichtet, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann. Wenn auch kein unmittelbarer Weg zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus des Glaubens läuft (Juden sehen in Jesus klarerweise etwas anderes als Christen), so können wir vielleicht die „Sprungdistanz“ über den Graben verkleinern, wenn wir die Genese christologischer Titel aus ihrer frühjüdischen Matrix heraus verstehen lernen. Damit wird obendrein auch die Sprungdistanz zwischen Frühjudentum und beginnendem Christentum verringert und die Entwicklung vom Jesus der Historie zum Christus des Glaubens intellektuell nachvollziehbar gemacht. So urteilt J. Schröter:167 Die mit den Etiketten „historischer Jesus“ und „kerygmatischer Christus“ bezeichneten Pole müssen miteinander vermittelt werden … Die Verabsolutierung jeder der beiden Positionen würde dagegen unweigerlich ins Dilemma führen. In beiden Fällen wird nämlich Jesus als jüdischer Prophet und Weisheitslehrer von den urchristlichen
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Vgl. hier und im Folgenden Tiwald, Urevangelium, 71–87, bes. 74–80. Bei Lessing wird diese in seiner 1762/63 entstandenen Schrift Über die Entstehung der geoffenbarten Religion als die „natürliche Religion“ bezeichnet. Religionssoziologisch schließt sich hier der Kreis zu Positionen des Frühjudentums, welche die „Tora“ mit der natürlichen Schöpfungsordnung Gottes identifizierten (s.o. V.2.2). Diese Argumentationslinie wird auch in Goethes Faust mit den Worten „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“ (Faust, erster Teil, 1808) kritisch aufgegriffen und findet sich als „Beweis“ für die Richtigkeit der Lehre noch im Ersten Vatikanischen Konzil (1870): „äußere Beweise seiner Offenbarung … nämlich göttliche Taten und vor allem Wunder und Weissagungen, die, da sie Gottes Allmacht und unendliches Wissen klar und deutlich zeigen, ganz sichere und dem Erkennungsvermögen aller angepasste Zeichen der göttlichen Offenbarung sind“ (divinae revelationis signa sunt certissima et omnium intelligentiae accomodata, Dei Filius 3, DH 3009). Vgl. dazu Tiwald, Investment, 129–145. Schröter, Diskussion, 77f.
7. Von Jesus zu Christus
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Glaubensüberzeugungen abgesetzt und folglich mit dem Modell der Diastase gearbeitet. Damit wird die Entstehung des christlichen Glaubens jedoch auf mit dem Wirken Jesu nur äußerst artifiziell zu vermittelnde Umstände zurückgeführt, die diesem nachträglich aufgeprägt worden seien. Es ist das Problem dieser (angeblichen) Diastase, das zu lösen ist, um historisch-kritische Jesusforschung und systematisch-theologische Reflexionen über die Grundlage und Tragweite der Christologie miteinander ins Verhältnis zu setzen.
Am besten geht man die Hoheitsbezeichnungen im Einzelnen durch, um deren jeweilige Anschlussfähigkeit an frühjüdische Vorstellungen zu prüfen. Immerhin entstand die „hohe Christologie“ schon bald, früheste Belege haben wir schon in den echten Paulusbriefen, die zwischen 50 und 56 n. Chr. entstanden. Dort begegnet der Christus-Titel bereits mit Selbstverständlichkeit, ja hat sich schon zum „Beinamen“ Jesu verfestigt (vgl. den ersten Paulusbrief, 1Thess 1,1 bis hin zu Röm 1,4–8). Ähnliches kann man für den Sohn-Gottes Titel sagen (auch hier schon 1Thess 1,10 und dann Röm 1,3f.; 8,3.32). Allerdings darf man dabei auch die Entwicklungslinien nicht übersehen.
7.1
Messias
7.1.1
Die Grundbedeutung von „Messias“ im Frühjudentum
Im Frühjudentum bezeichnete man mit dem Begriff ( משיחmaschiach, „Gesalbter“; griechisch: Χριστός, christos) zunächst nur das Faktum der „Gesalbtheit“ einer Person, ohne dass dabei „eschatologisch-messianische“ Erwartungen mitschwingen mussten. Dabei war die Salbung Inbegriff einer „divinely ordained position of authority“.168 Diese von Gott gegebene Leitungsposition bestand im Frühjudentum aus drei Komponenten: einem gesalbten Regenten („davidischer Gesalbter“), einem gesalbten Hohepriester („priesterlicher Gesalbter“) und einem Torapropheten (s.o. III.4.6.3).169 Alle drei Ämter hatte Johannes Hyrkanos (135–104 v. Chr.) usurpiert und in seiner Person vereinigt (s.o. II.4.2.1): Nachdem die Makkabäer zunächst die Herrschaft Davids rückerobert hatten, eignete sich Jonatan widerrechtlich auch das Amt des Hohepriesters an (s.o. II.4.1.5). Johannes Hyrkanos legte sich nach B.J. 1,68 und A.J. 13,299 neben der Würde des Ethnarchen und Hohepriesters dann auch das Amt des Torapropheten zu (εἶχεν τήν τε ἀρχὴν τοῦ ἔθνους καὶ τὴν ἀρχιερωσύνην καὶ προφητείαν; B.J. 1,68).170 Hier wird klar, dass diese Titel zunächst keine eschatologisch-messianische, sondern eine real-machtpoli-
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170
Pomykala, Art. Messianism, 938. Dazu im Folgenden Tiwald, Logienquelle, 163–166. Vgl. Maier, Torah, 49. Der Toraprophet wurde zwar gesalbt, doch nicht als „prophetischer Gesalbter“ tituliert (Maier, Messias, 590, 596–598). Vgl. die Dreiheit in 1QS IX,10f. Vgl. Theißen, Sadduzäismus, 226.
326
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
tische Rolle spielten. Diese nicht-eschatologische Bedeutung des Begriffs „Gesalbter“ wird auch deutlich in 4Q254 Frg. 4, wo mit den „beiden Ölsöhnen“ (vgl. Sach 4,14) lediglich das gesalbte Laienoberhaupt und das gesalbte Priesteroberhaupt gemeint sind, ohne dass an dieser Stelle eschatologisch-messianische Erwartungen ins Spiel kämen.171 Deswegen sollte man bezüglich der Qumrangemeinde auch nicht von zwei eschatologischen „Messiassen“ sprechen: Wenn in den Qumrantexten wiederholt von zwei Gesalbten – einem „Gesalbten Aarons“ und einem „Gesalbten Israels“ (CD XII,23-XIII,1; XIV,19; XIX,10f.; XX,1) – die Rede ist, meint das die beiden Leitungspositionen des priesterlichen und des politischen Oberhaupts.172 7.1.2
Eschatologischer Messianismus
Das Unrecht der Makkabäer/Hasmonäer, die drei von Gott gestifteten Ämter usurpiert zu haben, hinterließ im Frühjudentum gravierende Spuren: Die Essener sahen in Jonatan und seinen Nachfolgern im Amt des Hohepriesters einen „Frevelpriester“ (1QpHab XII,6–10), während das Amt des Torapropheten (eines „Propheten wie Mose“, vgl. Dtn 18,15.18; Apg 3,22) dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ zugesprochen wurde (s.o. III.4.6.3). In der Person des „Lehrers der Gerechtigkeit“ selbst brechen bereits eschatologische Erwartungen auf, da diesem die letztgültige eschatologisch-bindende Tora-Interpretation zugesprochen wurde (1QpHab VII,1–5). In politischer Hinsicht führte das Scheitern der hasmonäischen Könige zu einer Eschatologisierung der Messiasvorstellung, wie diese bisher noch nicht gegeben war.173 Unter dem Eindruck politischer Hilflosigkeit gegenüber den eigenen Herrschern wie auch gegenüber Fremdherrschern erwartete man eine von Gott legitimierte („gesalbte“) politische Erlöserfigur, die in bewusster Opposition zu den irdischen Herrschern in der Endzeit das Reich Gottes zum Anbruch führen würde. So erwartete man in Qumran einen Messias, der als „warrior king“ und „militant figure“ das politische Reich Davids wiederherstellen werde.174 4Q161 Frg. 8 + 9, 5–13 und 4Q285 berichten, dass der Spross Davids die „Kittim“ besiegen werde – Dan 11,30 bezeichnet mit den „Kittäern“ die Römer. Auch in PsSal 17,23– 46 wird der Messias als Kriegsherr gezeichnet und in 4 Esra (Kapitel 11 und 12) vernichtet der Messias aus dem Geschlecht Davids (12,32) in der sinnbildlichen 171 172
173
174
Vgl. dazu Maier, Messias, 605–612. Vgl. Maier, Messias, 596 und passim. Ebenso Pomykala, Art. Messianism, 941. In 1QSa II,11– 15 wird dies noch deutlicher. Dort wird sogar geregelt, dass der „Gesalbte Aarons“ den Vortritt vor dem „Gesalbten Israels“ haben soll. Damit wird der Vorrang des gesalbten Priesteroberhaupts vor dem gesalbten Laienoberhaupt festgelegt. Vgl. Theißen/März, Jesus, 464: „Das Fazit für die alttestamentliche Zeit ist: Wir kennen entweder messianische Erwartungen ohne Messiasbegriff oder ‚Messias‘ genannte Gestalten, an die sich keine messianischen Erwartungen knüpften. … Messianische Gestalten, die den Namen ‚Messias‘ tragen, begegnen erst um die Zeitenwende.“ Pomykala, Art. Messianism, 939.
7. Von Jesus zu Christus
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Gestalt des „Löwen“ die Römer in Gestalt des (römischen) „Adlers“. Der politische Messiasbegriff im Sinne eines Kriegsherrn gegen die Römer wird am deutlichsten in der Figur des Schimon Ben Kosiba greifbar, den Auslöser des Bar Kochba-Aufstands (132–135 n. Chr.) gegen die Römer (s.o. II.7.1). Davor hatte Rabbi Aqiva diesen als Messias proklamiert, indem er gemäß der Prophezeiung aus Num 24,17 („Ein Stern geht in Jakob auf“) seinen Namen in Bar Kochba, „Sternensohn“ umdeutete (jTaan 4,8 fol. 68d). Darüber hinaus kannte das Frühjudentum aber noch etliche weitere Messiasprätendenten, bei denen die Grenze zwischen zeichenprophetischen Aktionen, politischer Revolte und messianischer Erwartung verfloss (s.o. IV.2 die lange Liste an Widerstandskämpfern). Hier wird deutlich, dass in der Erwartung eines eschatologischen Messias realpolitische Befreiungshoffnungen und religiöse Erlösungsvorstellungen stark ineinanderflossen. Kennzeichnend ist bei diesen „Zeichenpropheten-Messiassen“175 häufig die Erwartung, dass Gott Heilsereignisse der jüdischen Vergangenheit präsent setzen werde (s.o. IV.2.2):176 Ein samaritanischer Prophet (A.J. 18,85–87) verspricht gegen Ende der Amtszeit von Pilatus (26–36 n. Chr.) die von Mose am Garizim verborgenen Tempelgeräte wiederzufinden. Unter dem Prokurator Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.) kündigt ein gewisser Theudas (A.J. 20,97–99 und Apg 5,36, dort allerdings chronologisch falsch zugeordnet) an, dass sich der Jordan teilen werde, sodass es zu einem neuen Durchzug gleich der Landnahme in Jos 3 kommen werde. Zur Zeit des Prokurators Felix (52– 60 n. Chr.) führt ein nicht namentlich genannter „Ägypter“ (A.J. 20,169–172/ B.J. 2,262f.; vgl. Apg 21,38) eine große Menschenmenge auf den Ölberg, da auf sein Geheiß die Mauern der Stadt Jerusalem einstürzen sollen – eine Analogie zur Eroberung Jerichos. Unter Porcius Festus (60–62 n. Chr.) hingegen verspricht ein nicht näher genannter Prophet (A.J.20,188) den Juden „Erlösung und Freiheit von den Übeln“ (σωτηρίαν αὐτοῖς ἐπαγγελλομένου καὶ παῦλαν κακῶν), wenn sie ihm in die Wüste folgten. Kurz nach Ausbruch des Jüdischen Krieges plündert Menachem, ein Sohn des Judas Galilaios, das Zeughaus der Feste Masada (B.J. 2,433f.) und zieht dann feierlich in Jerusalem ein, wo er sich wie ein König huldigen lässt. Kennzeichnend ist, dass die Römer mit unerbittlicher Härte auf solche Zeichenpropheten und Widerstandskämpfer reagierten: Mit brutaler Waffengewalt wurden alle diese Bewegungen niedergeschlagen und deren Protagonisten getötet. 7.1.3
Vermeidung des Messias-Titels durch Jesus
Für Jesus legte es sich dringend nahe, den Messias-Titel zu vermeiden, wollte er nicht als kriegerischer Messias oder politischer Widerstandskämpfer gegen die Römer 175
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Vgl. Pomykala, Art. Messianism, 941: „Whether these prophets should be designated ‚messiahs‘ depends in large measure on whether the divine deliverance they promised is considered eschatological.“ Vgl. im Folgenden Theißen/Merz, Jesus, 141f.
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V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
missverstanden werden. Allerdings gibt es noch einen tieferen Grund: „Jesus fits the picture of a Davidic messiah poorly, given his nonviolent ministry …“177 Nicht nur aus politischer Vorsicht, sondern mehr noch aus seinem theologischen Anliegen heraus, kam die Verwendung des Messiastitels für Jesus nicht in Frage: Gott selbst würde seinem Reich zum Anbruch verhelfen – den genauen Tag und die Stunde dafür wusste auch Jesus nicht (vgl. Mk 13,32), er ordnet sich völlig Gottes eschatologischem Zeitplan unter. Wenn aber Gott selbst den Anbruch seines Reiches einleiten wird, dann kommt Waffengewalt nicht in Frage. Vielmehr würde Gottes Reich sanft doch unaufhaltsam alles durchdringen, wie ein Sauerteig das Mehl (Q 13,21), und nach friedlichem doch unaufhaltsamen Wachstum alles andere überragen, wie es das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,31) deutlich macht. Diese Festlegung war umso wichtiger, als sich tatsächlich auch Zeloten (also Anhänger eines politischen Umsturzes) im Gefolge Jesu befanden („Simon der Zelot“, Lk 6,15 und Apg 1,13, war immerhin Angehöriger des Zwölferkreises). Texte wie Mk 10,35; 11,9f.; Apg 1,6f. belegen, dass viele Anhänger Jesu konkrete politische Erwartungen an ihren Meister richteten. Im Unterschied zu den oben genannten Zeichenpropheten weigerte sich Jesus jedoch beharrlich, ein Schauwunder als ihn legitimierende Zeichenhandlung anzukündigen (Q 11,16.29‐30). Andererseits: Gerade Jesu Festmähler, Wunderhandlungen, Sündenvergebungen und Gleichnisse (als Wortereignisse) werden für ihn zu performativen Zeichenhandlungen, ja „Sakramenten“ der anbrechenden basileia (vgl. Lk 11,20, s.u. V.7.3.3). Auch die Einsetzung des Zwölferkreises wird von ihm als Realsymbol der bevorstehenden eschatologischen Restitution ganz Israels angesehen. Somit konnte die Ankündigung Jesu, dass nun „Gottes Königsherrschaft“ anbrechen werde, dahingehend missverstanden werden, dass Jesus nun selbst als „König“ herrschen wolle. Der Kreuzestitulus (s.o. III.11.4.3) und die Hinrichtung in Verbindung mit anderen Aufständischen (Mk 15,7 parr. und Joh 18,40; Mk 15,27 parr.) belegen, dass man Jesus letztlich doch als politischen Aufrührer hingerichtet hat. So gesehen passt auch Jesus in das hier vorgegebene Cluster, obwohl er nie eigene machtpolitische oder gewalttätige Ansprüche mit seiner Botschaft verband und auch den Messiastitel vermied. 7.1.4
Der Messias-Titel in der Urkirche
Die Logienquelle ist ein palästinisches Dokument, entstanden knapp vor Ausbruch des ersten Jüdischen Krieges in den frühen 60er-Jahren.178 Die politischen Spannungen hatten sich seit der Zeit Jesu weiter verschärft, der Ausbruch des Krieges lag in der Luft (s.o. II.5.6). Hier wäre es politischer wie theologischer Selbstmord
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Pomykala, Art. Messianism, 940. Vgl. Tiwald, Logienquelle, 81–93.
7. Von Jesus zu Christus
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gewesen, den Messias-Titel für Jesus zu benützen. Daher begegnet in der Logienquelle der „Christus“-Titel noch nicht für Jesus. Anders aber präsentierten sich die Verhältnisse für Paulus und seine Mission in der Diaspora, wo die Gefahr eines Missverständnisses nicht gegeben war. Die ursprüngliche Bedeutung des „Christus“-Titels wird nach Apg 11,26 schon in Antiochia nicht mehr verstanden, da man dort die Jünger Jesu als „Christen“ bezeichnen konnte: Innerhalb des palästinisch-jüdischen Kontextes hätte eine solche Bezeichnung wenig Sinn gemacht, denn politisch-messianische Gruppierungen gab es im palästinischen Judentum ja mehrere (s.o. V.7.1.2). Die Bezeichnung „Christen“ konnte erst in dem Moment zur distinktiven Gruppenbezeichnung werden, als man den Ausdruck „Christus“ als Eigennamen missverstand. Dieses Missverständnis begegnet immerhin schon unter Claudius, wo in der Beschreibung des Suetonius der Titel „Christus“ mit dem Sklavennamen „Chrestos“ verwechselt wird (s.o. III.10.4.6). Ganz ähnlich missversteht auch Tacitus in seiner Beschreibung der Zustände unter Nero den Ausdruck „Christus“ als Eigennamen (s.o. III.10.4.8). Hier bestand keine Gefahr mehr, mit dem „Christus“-Titel machtpolitische Interessen zu assoziieren. Demzufolge begegnet der Christus-Titel bei Paulus auch in einer spiritualisierten und entpolitisierten Weise: Jesus ist der von Gott legitimierte („gesalbte“) Heilsbringer und Erlöser. Das passt gut zum Gebrauch von „Reich Gottes“ bei Paulus (Röm 14,17; 1Kor 4,20; 6,9.10; 15,24.50; Gal 5,21 1Thess 2,12), das nur mehr wie ein theologisches Schlagwort wirkt, doch die Brisanz des historischen Jesus verloren hat. Für Paulus sind der Tod und die Auferstehung Jesu das eigentliche Agens des eschatologischen Heils, die basileia ist der Christologie völlig untergeordnet. 7.1.5
Messias und eschatologischer Freudenbote
Schon in der Logienquelle wird Jesus als der eschatologische Freudenbote nach Jes 61,1–2 gezeichnet:179 Q 7,18f.22 18 Und als Johannes von all dem hörte, schickte er und sagte ihm durch seine Jünger: 19 Bist du der Kommende oder sollen wir einen anderen erwarten? 22 Und er antwortete und sagte ihnen: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören, und Tote werden erweckt, und Arme bekommen eine gute Botschaft (εὐαγγελίζονται; Jes 26,19; 29,18f.; 35,5f.; 42,7.18; 61,1).
K. Backhaus urteilt zu Recht: „Nicht ein letztes Wort des Täufers klingt hier an, sondern der erste, noch tastende Versuch, die Täuferfigur in die Jesustradition – die Jesusgestalt in die Täuferbotschaft – zu integrieren.“180 Für diese Sichtweise spricht der große theologisch-schriftgestützte Aufwand, der hier getrieben wird.
179 180
So Tuckett, Art. Q, 732f.; Tiwald, Logienquelle, 160f. Vgl. Tiwald, Kommentar, 69–71. Backhaus, Art. Täufer, 252.
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V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
In der Logienquelle erfolgt klarerweise noch keine Identifikation des eschatologischen Freudenboten mit dem Messias, da in Q der „Christus“-Titel fehlt. Auffallend ist aber die hier schon erfolgende Zusammenstellung von bestimmten Aussagen des Jesajabuches, die nach Art einer Testimoniensammlung aneinandergebunden sind: Totenauferweckung (Jes 26,19), Heilung von Tauben, Blinden und Lahmen sowie Befreiung der Armen (Jes 29,18f.; 35,5f.; 42,7.18) und Verkündigung der frohen Botschaft für die Armen (Jes 61,1). Lk baut die Jes-Referenz aus Q 7,22 zu einem seiner Zentraltexte aus, der programmatischen Antrittsrede Jesu in Nazaret (Lk 4,17–21). Dass die Erwartung eines endzeitlichen Heilsbringers im Frühjudentum mit Texten des Jesajabuchs verbunden wurde, geht auch aus 11Q13, einem Text der Qumrangemeinde, hervor, der von Maier mit 75–25 v. Chr. datiert wird.181 Hier wird nicht Jesus, sondern Melchisedek als erwarteter Freudenbote und eschatologischer Heilsbringer mit den Worten von Jes 61,1f. und 52,7 gefeiert.182 In den qumranischen Hodajot hingegen wird der Lehrer der Gerechtigkeit, also die Zentralfigur der Qumraniten, mit diesen Zügen bedacht (1QH XXIII,15). Und in 4Q521 Frg. 2 + 4: II,1.4.8.12f. wird dieser eschatologische Freudenbote sogar mit dem Messias in Verbindung gebracht:183 1 … der Himmel und die Erde werden hören auf Seinen Gesalbten … 4 Findet ihr nicht darin den Herrn, … 8 dass er Gebundene löst, blinde (Augen) öffnet, G[ebeugte] aufrichtet? 12 Dann heilt Er Durchbohrte und Tote belebt Er, Armen(/Demütigen) verkündet Er (Gutes), 13 und [Niedrig]e wird Er sät[tigen, Ver]lassene wird Er leiten und Hungernde rei[ch machen].
Die in Q 7,22 gebotene, eigenwillige, aus verschiedenen Teilen des Jesajabuches kompilierte Aneinanderreihung der Heilung von Blinden, Gelähmten, Aussätzigen und Tauben sowie die Totenauferweckung und das Verkündigen der guten Nachricht an Arme findet bereits in 4Q521 eine Parallele, und zwar als Attribute des Messias, ein Text, dessen Entstehung Maier für das erste Jh. v. Chr. veranschlagt.184 Die Vermutung liegt nahe, dass die Qumrangemeinde und etwas später die Q-Gemeinde auf ähnliche Florilegien über den endzeitlichen Heilsboten zurückgriffen, was man als „ongoing interpretative trajectories in late Second Temple Judaism“185 bezeichnen kann. An dieser Stelle erkennt man sehr gut die Brückenfunktion der Logienquelle zwischen Frühjudentum und Frühchristentum: Ein frühjüdisches Theologumenon wird von Q einer Relektüre auf Jesus hin unterzogen, wobei jedoch erst die späteren christlichen Texte (in diesem Fall das LkEv) die Referenz ausbauen und christologisch weiterführen. Mit Johannes und seiner – wohl
181 182 183 184 185
Vgl. Maier, Texte I, 361. Vgl. dazu auch Kühschelm, Antrittsrede, 167f. Zu Melchisedek im Frühjudentum vgl. Stuckenbruck, Melchizedek, 124–138. Vgl. Stökl Ben Ezra, Qumran, 166–168. Vgl. Maier, Texte II, 683. So Brooke, Traditions, 581, in seiner Untersuchung zu „Isaiah 35 and 61 in 4Q521 and Q“.
7. Von Jesus zu Christus
331
unhistorischen – Anfrage wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Jesus der von Johannes angekündigte „Kommende“ (Q 3,16b) ist. Somit ist klar, es handelt „sich in Q 7,18–23 eindeutig um ein Apophthegma, dessen erzählerische Pragmatik weniger auf Faktualität ausgerichtet sein dürfte, als vielmehr das Täufer-Jesus-Verhältnis zu reflektieren sucht.“186 – Nicht ein historisches Faktum wird uns hier berichtet, sondern eine Verarbeitung der Beziehung Johannes-Jesus, wobei in haggadischer Weise theologische Aussagen in Form einer Erzählung verfestigt wurden.
7.2
Sohn Gottes
7.2.1
Sohn Gottes als Relationsbegriff
Der Ausdruck „Sohn Gottes“187 konnte im AT als Relationsbegriff eine Zugehörigkeit zu Gott bezeichnen. So werden die zum Himmel gehörenden Engel als „Sohn/Söhne Gottes“ tituliert Gen 6,4; Ijob 1,6; 2,1; 38,7; Ps 89,7; doch auch Israel ist Gottes erstgeborener Sohn (Ex 4,22; Hos 11,1; Jer 31,9.20). Weiters werden der König (2 Sam 7,14; Ps 2,7) und der Weise so tituliert (Sir 4,10), wie auch der vorbildlich Leidende (Weish 2,13.18). Im NT begegnet diese Verwendungsweise sogar im Munde Jesu: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes [so wörtlich, von der EÜ zu Recht genderinklusiv als „Kinder Gottes“ übersetzt] genannt werden“ (Mt 5,9). Ähnlich auch die Verwendung in Röm 8,14: „Denn die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes [EÜ: „Kinder Gottes“].“ 7.2.2
Sohn Gottes als Funktionsbegriff
Als Steigerung und Weiterführung des Relationsbegriffes kann der Funktionsbegriff angesehen werden als eine besondere Titulierung für den von Gott eingesetzten Gesalbten. Dieses Verständnis begegnet am ursprünglichsten in Ps 2,2–7: 2 Die Könige der Erde stehen auf, die Großen tun sich zusammen gegen den HERRN und seinen Gesalbten. 3 Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke! 4 Er, der im Himmel thront, lacht, der HERR verspottet sie. 5 Dann spricht er in seinem Zorn zu ihnen, in seinem Grimm wird er sie erschrecken: 6 Ich selber habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg. 7 Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt …“
186
187
Hölscher, Matthäus, 94. Ein weiteres erzähltechnisches „gap“ hat Labahn, Gekommene, 311, aufgezeigt: „Ein offenes Problem ist, von woher der Täufer seine Frage an Jesus richtet.“ – Hier wird klar, dass die Begebenheit fiktional ist – erst Mt 11,2 füllt die Lücke: Johannes fragt aus dem Gefängnis an. Vgl. Tiwald, Kommentar, 69–72. Vgl: Gnilka, Markus I, 60–64; Theobald, Sohn, 119–141; Kremer, Art. Sohn Gottes, 3–71.
332
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Der von Gott auf Zion eingesetzte König wird als „sein Gesalbter“ tituliert, den Gott gegen seine Feinde in Schutz nimmt. Ein ähnliches Konzept wird auch in der Verheißung an David aus 2Sam 7 deutlich: 12 Wenn deine Tage erfüllt sind und du dich zu deinen Vätern legst, werde ich deinen leiblichen Sohn als deinen Nachfolger einsetzen und seinem Königtum Bestand verleihen. 13 Er wird für meinen Namen ein Haus bauen und ich werde seinem Königsthron ewigen Bestand verleihen. 14 Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein.
Dieser Text wird in 4Qflorilegium (= 4Q174) III, 10f. 2Sam 7,12f. auch in Bezug auf den erwarteten davidischen Messias gedeutet: 10 Und es verkündet dir JHWH, dass er dir ein Haus bauen werde (2Sam 7,11b): Und ich werde deinen Samen aufrichten nach dir und fest hinstellen den Thron seines Königtums 11 für immer (vgl. 2Sam 7,12f.). Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich ein Sohn sein (2Sam 7,14). Das ist der Spross Davids, der mit dem Toraerteiler auftritt ...
Auf einer ähnlichen Linie liegt die vorpaulinische Bekenntnisformel Röm 1,3f.: ... der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, 4 der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten ...
Hier schimmert noch das alte Verständnis durch, dass der Messias von Gott analog zu 2Sam 7,14 als Sohn Gottes eingesetzt wird. Allerdings wehrt hier schon der Einschub „in Macht“ dem Missverständnis, dass Jesus erst seit der Auferstehung der Toten „Sohn Gottes“ wäre. Die alte funktionale Sohn-Gottes-Titulatur wird hier bereits christologisch weitergeführt. Auch in Apg 2,36, der Petrusrede am Pfingsttag, tritt die alte Diktion noch zu Tage. Jesus wurde zum „Herrn und Christus gemacht“ – die alte Funktionsbezeichnung ist noch mit Händen zu greifen: Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.
Ob es in den Qumrantexten eine direkte Titulierung des Messias als „Sohn Gottes“ und „Sohn des Höchsten“ gegeben hat, bleibt umstritten. Für Diskussionen sorgt hier das aramäische Einzelfragment 4Q246 aus herodianischer Zeit. Allerdings umfasst der Text nur eineinhalb Kolumnen, ist fragmentarisch und von seiner Deutung unklar:188 4Q246 II,1 … sein(en) Sohn, da er (der König) „Gott“ genannt wird und ihn „Sohn des Höchsten“ benennen wird ( )ברה די אל יתאמר ובר עליון יקרונהWie die Sternschnuppen, 2 die du (in der Vision) gesehen, so wird ihre Königsherrschaft ( )מלכותהןsein: Jah[re] werden sie herrschen über 3 die Erde und sie werden alles niedertreten, ein Volk wird 188
Zur Textrekonstruktion, Übersetzung und Deutung siehe Maier, Texte II, 189f.; Stökl Ben Ezra, Qumran, 324f.; Segal, Son, 289–312.
7. Von Jesus zu Christus
333
ein anderes Volk niedertreten und eine Provinz eine andere Prov[inz.] 4 [Leer] 5 Seine Herrschaft wird eine ewige Herrschaft sein und alle seine Wege sind (der) Wahrheit (gemäß). Es(/r) rich[tet] 6 die Erde in Wahrheit und wird alles vollkommen ausführen, …
Aus dem kurzen Fragment wird nicht ersichtlich, ob damit eine negative historische Figur, die sich diesen Ehrentitel nur widerrechtlich anmaßt, gemeint ist, oder eine positive Heilsfigur. Eine Deutung in malam partem wäre unter Bezug auf Ps 82,6f. möglich, doch auch in bonam partem eine eschatologische Erlöserfigur. Bemerkenswert ist die Parallele Lk 1,32–35: 32 Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden (υἱὸς ὑψίστου κληθήσεται). Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David (τὸν θρόνον Δαυὶδ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ) geben. 33 Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben. 34 Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? 35 Der Engel antwortete ihr: Heiliger Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten (δύναμις ὑψίστου) wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes (υἱὸς θεοῦ) genannt werden.
7.2.3
Sohn Gottes als Wesensaussage
Die reine Funktionalität einer Einsetzung zum Messias wird im NT durch eine Sohn Gottes Titulation weitergeführt, die in „ihrem unmittelbaren Wort-Sinn der denkbar innigsten Zugehörigkeit Jesu zu Gott“189 zu verstehen ist. Sie wird zu der soteriologischen Metapher schlechthin, in der die einmalige und unüberbietbare Tiefe der Zugehörigkeit Jesu zum Bereich Gottes zum Tragen kommt und das einzigartige Heilshandeln Gottes in Jesus verdeutlich wird: Gal 4,4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, 5 damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. 6 Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, den Geist, der ruft: Abba, Vater. Röm 5,10 Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Gottes Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben. Röm 8,3 Denn weil das Gesetz, ohnmächtig durch das Fleisch, nichts vermochte, sandte Gott seinen Sohn in der Gestalt des Fleisches, das unter der Macht der Sünde steht, wegen der Sünde, um die Sünde im Fleisch zu verurteilen; …
7.2.4
Sohn Gottes und die Vatermetaphorik bei Jesus
Nicht nur die „Sohn-Gottes“ Metaphorik ist in jüdischer Bibel und Frühjudentum weit ausgeprägt, sondern auch die Vatermetaphorik für Gott: Jes 63,16; 64,7; 189
Theobald, Sohn, 125.
334
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Ps 89,27; Mal 2,10; Sir 23,1.4; Weish 2,16; Tob 13,4; 3Makk 6,3.8; ApokrEz Frg. 3; 4Q372 Frg. 1 16; 4Q460 Frg 5 1,5; um nur einige zu nennen.190 Wenn man ein Proprium in der Vateranrede Jesu erörtern möchte, dann liegt dieses nicht darin, dass bereits der historische Jesus zwischen seiner eigenen Vateranrede („mein Vater“) und jener der Jünger („euer Vater“) unterschieden hätte.191 Die lange vertretene Deutung, dass die Abba-Anrede Jesu „etwas Neues und Unerhörtes“ gewesen sei, in der das einzigartige und exklusive Sohnesbewusstsein Jesu seinem Gott gegenüber zum Ausdruck käme, ist endgültig obsolet.192 Allerdings fällt auf, dass Jesus zwei Aspekte – die auch schon im Frühjudentum präsent waren193 – besonders mit der Vatermetaphorik für Gott verbindet: 1) die Schöpfungstheologie,194 und 2) die Konstituierung einer endzeitlichen familia Dei als eschatologische Kontrastgesellschaft. Der liebende Vater im Himmel wird von Jesus als sorgender Schöpfergott angesehen, der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45), der all seinen Kindern gute Gaben gibt (Lk 11,13/Mt 7,11), und der so für seine Schöpfung sorgt, sodass kein einziger Spatz ohne seinen Willen zur Erde fällt (Mt 10,29/Lk 12,6, allerdings ohne „Vater“). Daher brauchen wir uns auch nicht zu sorgen, was wir essen oder trinken sollen, denn „Euer Vater weiß, dass ihr das braucht“ (Lk 12,30/Mt 6,32). Das kindliche Gottvertrauen, das bedingungslos alles vom himmlischen Vater erwarten darf, wird zur adäquaten Haltung gegenüber der anbrechenden basileia. Regelrecht dreist darf man jetzt vom himmlischen Vater alles erbitten, wenn man nur für den Anbruch seines Reiches tätig wird (Q 11,9–13); wie für die frechen Raben und die unbekümmerten Lilien wird Gott der Vater für seine Kinder in der basileia sorgen (Q 12,22–31). Nur einmal hat sich im NT die aramäische Abba-Anrede Jesu
190
191
192 193
194
Vgl. Schattner-Rieser, Aramäische, 100; Strotmann, Vater 24–379 (bes. 362). Zu den Qumrantexten (neben den Ausführungen bei Strotmann) Doering, Father, 107–135. Zum NT Zimmermann, Namen, 74–167. Zu Jesus: Tiwald, Vatermetaphorik, 129–142. Gegen Jeremias, Abba, 64: „Das zeigt schon die Feststellung, daß Jesus sich nie mit einem ‚unser Vater‘ mit den Jüngern zusammenfaßt, wenn er betet, wie er ja auch in seinen Worten zwischen ‚mein Vater‘ und ‚eurem Vater‘ unterscheidet.“ Auch Theißen/Merz, Jesus, 458, wollen diese Unterscheidung schon beim historischen Jesus verorten. Auf einer ähnlichen Linie auch Rau, Vater, 222–243, mit Blick auf die Logienquelle. Allerdings weiß das Vater-Unser-Gebet Jesu von einer solchen Trennung noch nichts (in Q stand wohl auch nur die Anrede „Vater“ ohne „unser“, doch auch „unser Vater“ in Mt 6,9 ist inklusiv). Joh 20,17 ebenso Mk 11,25parr; Mt 23,9; Lk 22,29; 24,49; Joh 15,15 sind spätere Gemeindebildungen. So noch Jeremias, Abba, 63f. Strotmann, Vater, 360: Im Frühjudentum ist in der Vateranrede enthalten: „Erziehung, Erbarmen, Vergebung, Treue, Verläßlichkeit, Fürsorge, Verantwortung, Liebe, Güte, Freude, Zuwendung, Nähe, Schutz, Hilfe, Rettung, machtvolles Eingreifen zugunsten der Menschen, absolute Schöpfermacht, Anteilgabe an Gottes Macht, Herrlichkeit und Erkenntnis.“ Zum frühjüdischen Konnex von Schöpfungstheologie und Vaterschaft Gottes vgl. Strotmann, Vater, 360f. und 365–367.
7. Von Jesus zu Christus
335
für seinen himmlischen Vater erhalten: Mk 14,36 („Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst“); hinzu kommen Röm 8,15; Gal 4,6 (beide nicht im Mund Jesu). Im mk Passionsbericht scheinen alte palästinische Überlieferungen erhalten geblieben zu sein, mit denen auch Paulus (etwa bei seinem Jerusalembesuch nach seiner Bekehrung, Gal 1,18) in Berührung gekommen sein dürfte: Die beiden Abba-Belege bei Paulus zählen zu den wenigen Malen, in denen paulinische Homologumena aramäische/hebräische Sprachkenntnisse Pauli sichtbar machen.195 Die Vatermetaphorik Jesu war so ausgeprägt, dass sich wahrscheinlich in allen drei Abba-Nennungen ein Nachhall der ipsissima vox Jesu (seiner ureigensten Redeweise) erhalten hat.196 Will man also nach einem Proprium der jesuanischen Gottesbeziehung suchen, so erschließt sich dieses nicht in einer Jesus gegen das Judentum profilierenden Exklusivität, sondern vielmehr darin, dass Jesus innerhalb seiner frühjüdischen Gotteserfahrungen bestimmte Akzente vertiefte. Dieses Proprium besteht in einer besonders innigen und vertrauensvollen Vaterbeziehung, die Jesus zu seinem himmlischen Abba unterhält. So könnte man mit U. Schattner-Rieser urteilen: „Diese Anrufung des Vaters [sc. durch Jesus] war offenbar der frühen Gemeinde so eindrücklich, dass sie selbst Paulus gegenüber seinen griechischsprachigen Adressaten in Galatien und Rom als Fremdwort gebrauchte und als vertraut voraussetzen konnte (Gal 4,6; Röm 8,15).“197 Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass Jesus andere im Frühjudentum verbreitete Gottesprädikate nicht verwendet. „Bis auf das Psalmenzitat Mk 15,34 ist ‚Vater‘ die von Jesus benutzte Anrede Gottes in allen Gebetestexten der Evangelien.“198 Besonders auffällig ist, dass der historische Jesus Gott nie als „König“ tituliert, obwohl dies von seiner Erwartung der anbrechenden Königsherrschaft Gottes naheliegend wäre.199 In anderen frühjüdischen Schriften ist meist eine gemeinsame Nennung von Königtum und Königstitulation Gottes gegeben, z.B. in AssMos 4,2; 10,1; PsSal 17,1.3; 1QM 12,7f.; 195
196 197 198 199
Weiters „Kephas“ für „Petrus“: 1Kor 1,12; 3,22; 9,5; 15,5; Gal 1,18; 2,9.11.14; „Marana tha“ in 1Kor 16,22; und das formelhaft-bekräftigende „Amen“: Röm 1,25; 9,5; 11,36; 15,33; 16,24.27; 1Kor 14,16; 2Kor 1,20; Gal 1,5; 6,18; Phil 4,20. Zur Diskussion vgl. Theißen/Merz, Jesus, 458f., und Zimmermann, Namen, 77. Schattner-Rieser, Aramäische, 94. Zimmermann, Namen, 77. Vgl. dazu Theißen/Merz, Jesus, 250: „Jesus spricht nie von Gott als ‚König‘. Die wenigen Ausnahmen sind sekundär: Mt 5,35 ist Sondergut und sekundäre Ausweitung der Antithese zum Schwören. Das Gleichnis Mt 22,1ff hat in Lk 14,16ff eine Parallele, in der nicht von einem ‚König‘ die Rede ist. Zwei weitere Belege sind mt Sondergut: 18,23ff.; 25,34ff. Jesus spricht in der Regel nur vom ‚Königtum‘ Gottes.“ Weitere Belege in den Evangelien: Lk 19,12–27 trägt in der Nennung des Königs allegorische Züge (mit Bezug auf den Tetrarchen Archelaos, vgl. Tiwald, Kommentar, 171) und meint zumindest bei Lk Jesus und nicht mehr Gott. Joh 12,13 ist nicht im Munde Jesu. Ansonsten wird in neutestamentlicher Theologie bereits Jesus selbst als König betitelt (Mk 15,2parr; Joh 1,49; 18,33, u. ö.).
336
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
TestBenj 9,1; 10,7; Sib 3,46,55; Weish 3,8; 6,4. Mit Theißen/Merz könnte man schließen: „Gottes Wesen wird für Jesus in seinem Vatersein als Güte zum Ausdruck gebracht. Als Vater aber wird er zur Macht kommen. ‚Macht‘ ist bei Jesus kein Selbstwert, sie dient dazu, Gottes Güte universal zum Durchbruch kommen zu lassen.“200 Neben der Deuteschiene, dass der Messias im Frühjudentum als „Sohn Gottes“ (s.o.) tituliert werden konnte, war wohl auch die besondere Emphase der Vateranrede Gottes durch Jesus der Grund, dass nachösterlich der Titel „Sohn Gottes“ zum herausragenden Prädikat für Jesus wurde.
7.3
Menschensohn
Ob es sich bei der Bezeichnung „Menschensohn“ bereits um einen Hoheitstitel handelt, ist in der Forschung umstritten, schließlich begegnet der Ausdruck in den Evangelien nur im Munde Jesu und nie als titulare Anrede für ihn.201 7.3.1
Gebrauch in jüdischer Bibel und Frühjudentum
Ursprünglich meint die hebräische Formulierung ( בן אדםben ’adam) generisch den „Sohn eines Menschen“, also einen aus dem Menschengeschlecht Stammenden (vgl. dazu den Gebrauch im Buch Ezechiel). In dem um 164 v. Chr. auf Aramäisch verfassten Danielbuch wird dann mit der aramäischen Formulierung ( בר אנשbar ’enosch) in 7,13f. „einer wie ein Menschensohn“ als endzeitlicher Akteur angekündigt, der im Namen Gottes (des „Hochbetagten“) ein ewiges Reich errichten soll. Manche Ausleger wollen diese Figur, die über die animalisch gottfeindlichen Mächte (Dan 7,17) herrschen wird, kollektiv auf die Gerechten in Israel beziehen (Dan 7,18.21f.27, doch scheint die Annahme treffender, dass diese menschenähnliche Gestalt einen Engel symbolisiert, der im Namen Gottes tätig wird (Dan 8,15; 9,21; vgl. 12,1).202 Die Bildreden aus 1 Hen (Kapitel 37–71) beschreiben den „Menschensohn“ dann nicht nur wie in Dan als jemanden, der am Ende der Zeiten in Gottes Namen die Weltherrschaft übernehmen wird (48,5; 69,26), sondern auch als präexistenten himmlischen Akteur (48,2f.6f.; 62,7), der die Welt richten wird (62,5; 69,27–29). Der „Menschensohn“ wird nun zur Verkörperung eschatologischer Hoffnungen (48,10; 52,4). Umstritten ist, wann diese Bildreden zu datieren sind: Am wahrscheinlichsten ist eine Entstehung in Palästina knapp nach der
200 201
202
Theißen/Merz, Jesus, 250. Dazu: Tiwald, Logienquelle, 151–155; Schröter, Entscheidung, 73; Hurtado, Summary, 169; Tuckett, Art. Q, 570 („a christological ‚title‘ of some importance for Q“). Vgl. hier und im Folgenden: Nickelsburg, Art. Son of Man, 1250f. Ebenso Chialà, Son, 177.
7. Von Jesus zu Christus
337
Zeitenwende – also zeitgleich zum historischen Jesus.203 Im 4. Esrabuch, das gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. nach der Zerstörung des Tempels in Palästina verfasst wurde, begegnet der „Menschensohn“ im 13. Kapitel als endzeitliche Richter- und Rettergestalt (V 3–13.25–40), die mit dem davidischen Messias identifiziert wird (12,31f.). 7.3.2
Jesus und der „Menschensohn“
Die Verwendung des Begriffs „Menschensohn“ im NT beschränkt sich auf die Evangelien, allerdings mit vier Ausnahmen: Apg 7,56; Hebr 2,6–8; Offb 1,13; 14,14. Bei Paulus fehlt der Terminus ganz. Im Befund der Evangelien begegnet der Ausdruck nur im Munde Jesu und wird nie als titulare Anrede für ihn verwendet. Dies kann als Hinweis verstanden werden, dass der Begriff nicht nachösterlichen Ursprungs ist, sondern auf den historischen Jesus selbst zurückgeht. In den Evangelien bezeichnet Jesus mit dem „Menschensohn“ zumeist sich selbst. Eine Ausnahme stellt dabei Q 12,8f./Mk 8,38 dar: Q 12,8 Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. 9 Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden. Mk 8,38 Denn wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen Engeln in der Herrlichkeit seines Vaters kommt.
Die inhaltlich deckungsgleiche Parallelüberlieferung, die Q und Mk unabhängig voneinander bieten, belegt die jesuanische Ursprünglichkeit der Perikope. Klar wird, „daß Jesus mit dem Menschensohn eine andere Person als sich selbst gemeint hat.“204 Es ist gut möglich, dass der vom Täufer angekündigte „Stärkere“ (Q 3,16,
203
204
Vgl. Nickelsburg, Art. Son of Man, 1250: „Composed between late first century B.C.E. and the first half of the first century C.E. …“ Ders., Parables, 47 „no later than the early decades of the first century C.E.“ Charlesworth, Composition, 465 („20–4 B.C.E.“); Boccaccini, Place, 288 („parallels the earliest origins of the Jesus movement“); Vögtle, Gretchenfrage, 125; Schreiber, Menschensohn, 2. Boyarin, Enoch, 75: „the parables give evidence for developments within Judaism that by analogy illuminate developments that can most plausibly be held as having taken place in the Judaism underlying the Gospels as well.“ Becker, Jesus, 252 (kursiv MT). Der Ausdruck „Menschensohn“ ist damit auch keine idiomatische Sprechweise Jesu für die erste Person Singular (also für „ich“), wie gelegentlich behauptet wurde: Neben der Erwartung Jesu eines „Menschensohn“-Richters sprechen auch der Gebrauch in frühjüdischer Zeit und philologische Gründe gegen eine solche Annahme, so zu Recht Vögtle, Gretchenfrage, 64: Es dürfte „nicht gelingen, den Ich/den MS-Spruch [sc. den idiomatischen Gebrauch von Menschensohn anstelle von ‚ich‘] überzeugend in Jesu Redeweise vom MS einzuordnen“. Ebenso Becker, Jesus, 254: „Allerdings ist dieser Ansatz [sc. der idiomatische Gebrauch von Menschensohn statt der ersten Person Singular] aus
338
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
vgl. auch 11,22), der die Wassertaufe des Johannes zu einer Taufe mit „heiligem Geist und Feuer“ weiterführen würde, durch den Täuferschüler Jesus (s.o. III.10.2.1) in der Person des „Menschensohn“-Richters übernommen wurde. Der „Menschensohn“ bezeichnete im damaligen Judentum eine von Gott beauftragte Gestalt, die in Stellvertretung des transzendenten Gottes das endzeitliche Gericht auf Erden vollziehen werde. Diese frühjüdische Vorstellung hat Jesus vom Täufer übernommen – allerdings mit zwei bedeutenden Änderungen: 1) Vor das Feuergericht des „Stärkeren“, also des Menschensohn-Richters, setzt Jesus nun die Rettung der Verlorenen durch die basileia.205 Diese „Gottesherrschaft“ wird – im Unterschied zu zelotischen Erwartungen (s.o. III.5.2) – nicht mit politischer Gewalt errungen, sondern stellt ein einmaliges, alles Bisherige überbietendes Heilsangebot Gottes an die Menschen dar. Dieses Heilsangebot bedeutet allerdings keinen Heilsautomatismus, da auch hier die gläubige Annahme der Botschaft Jesu zur Rettung nötig ist. 2) Das führt zum zweiten Spezifikum in der Menschensohn-Erwartung Jesu: Seine eigene Botschaft setzt Jesus nun in untrennbare Verbindung mit dem kommenden Menschensohn-Richter, wie Q 12,8f. und Mk 8,38 übereinstimmend belegen: Wer Jesu Botschaft keinen Glauben schenkt, der wird im endzeitlichen Gericht vor dem Menschensohn keinen Bestand haben. Die Botschaft Jesu vom Gottesreich wird so zum articulus stantis et cadentis der Erlösung. Diese Sichtweise ist nur möglich, wenn Jesus selbst zum Realsymbol der anbrechenden basileia wird. 7.3.3
Jesus als Realsymbol der basileia und der Gedanke des stellvertretenden (Sühne-)Todes
Nach Art der alttestamentlichen Propheten verschmilzt der Bote mit seiner Botschaft (s.o. IV.2.2.3):206 Man denke nur an Hosea, der eine Dirne zur Frau nimmt und mit ihr drei Kinder mit bezeichnenden Namen zeugt (Jesreel, Lo-Ruhama und Lo-Ammi; Hos 1,2–9), um auf die „Untreue“ Israels gegen seinen Gott und die angedrohte Verstoßung zu verweisen. Zu erwähnen wäre auch Ezechiel, der sich öffentlich unrein macht, indem er sein Brot auf Menschenkot backt (Ez 4,12), sich öffentlich die Haare schert (5,1), symbolisch die Totenklage verweigert (24,16f.)
205
206
philologischen Gründen kaum aufrechtzuerhalten, da eine solche Sprachmöglichkeit bisher im Aramäischen zur Zeit Jesu überhaupt nicht belegt werden kann.“ Vgl. den Forschungsbericht dazu bei Müller, Expression, passim. So Becker, Jesus, 252. Charlesworth, Composition, 466, vermutet, dass Jesus die Rede vom Menschensohn bewusst verwendet habe, „because it was a vague concept and not a title. Thus, Jesus may have imagined that God was free to shape the Son of Man concept and define it.“ In jedem Fall konnte Jesus mit der Konzeption vom „Menschensohn“ seine eigenen eschatologischen Vorstellungen kombinieren. Vgl. im Folgenden: Tiwald, Logienquelle, 119f.
7. Von Jesus zu Christus
339
und so die Unreinheit Israels und das angekündigte Gericht performativ am eigenen Leib in Szene setzt. Ebenso Jeremia, der mit einem Jochholz am Nacken herumgeht, um auf das bevorstehende Exilsgeschick des Volkes zu verweisen (Jer 27,2). Gattungskritisch handelt es sich hier um ein אות, ʾot also eine realprophetische Zeichenhandlung, die eine bestehende Wirklichkeit in Erinnerung ruft oder eine noch nicht eingetroffene, aber unmittelbar bevorstehende Wirklichkeit symbolisch vorwegnimmt.207 Ganz auf dieser Linie lag auch das Selbstverständnis Jesu: Q 12,24 Betrachtet die Raben: Weder säen sie, noch ernten sie, noch sammeln sie in Scheunen, und Gott ernährt sie doch. Seid ihr nicht mehr wert als die Vögel? 25 Wer von euch, der sich sorgt, kann zu seinem Lebensalter eine Elle hinzufügen? 26 Und was sorgt ihr euch über Kleidung? 27 Lernt von den Lilien, wie sie wachsen; weder mühen sie sich ab, noch spinnen sie. Ich aber sage euch: Selbst Salomo in all seiner Herrlichkeit war nicht gekleidet wie eine von diesen. 28 Wenn Gott aber das Gras, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wird er nicht euch um vieles mehr kleiden, ihr Kleingläubigen? 29 Sorgt euch also nicht, indem ihr sagt: Was sollen wir essen? Oder was sollen wir trinken? Oder was sollen wir anziehen? 30 Denn all das erstreben die Heiden; euer Vater weiß doch, dass ihr dies alles nötig habt. 31 Strebt aber nach seinem Reich, und dies alles wird euch hinzugegeben werden.
Das völlige und rückhaltlose Vertrauen in den Anbruch des Gottesreiches führt dazu, dass Jesus in zeichenhafter Besitzlosigkeit wie die Raben und die Lilien all sein Vertrauen auf Gott setzt. Die Familienlosigkeit Jesu hingegen verweist zeichenhaft auf Gott als den neuen Vater in einer neuen Welt. Gott als liebender Vater schafft nun seine eigene familia Dei, die nicht mehr den Banden des Fleisches, sondern denen der Gotteskindschaft folgt.208 Das heimatlose Wanderleben (vgl. Q 9,58: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann“) drückt dann die Erwartung der neuen Heimat aus, die Gott in der nun anbrechenden basileia bereiten wird. Die Gewaltlosigkeit (Q 6,29) symbolisiert den eschatologischen Frieden, den nur Gott geben kann, den seine Boten aber in fast schon magisch-dinghafter Weise realsymbolisch in ihrem eigenen Gruß vorwegnehmen:
207 208
So die Definition nach Helfmeyer, Art. אות, 183. Vgl. dazu Jacobson, Families, 361–380. C. Heil, Rezeption, 212–214, hat nachgewiesen, dass Micha 7,6 (frei wiedergegeben in Q 12,53: „Denn ich bin gekommen zu entzweien: den Sohn gegen den Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter“) bereits im Frühjudentum in Jub 23,19 und 1 Hen 91,11–17 als Motivhintergrund vorliegt und als Zeichen der eschatologischen Krise verstanden wurde. Ebenso Melzer-Keller, Frauen, 347: „Offenbar deuteten die Q-Leute ihre Erfahrungen von Familienspaltungen aufgrund des Jesusglaubens als geweissagtes Symptom der mit Jesus angebrochenen Endzeit …“
340
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum Q 10,5 In welches Haus ihr auch geht, sagt zuerst: Friede diesem Haus! 6 Und wenn dort ein Sohn des Friedens ist, soll auf ihn euer Frieden kommen; wenn aber nicht, soll euer Friede zu euch zurückkehren.
Die realsymbolische Präsentsetzung der basileia erfolgt aber nicht nur im Lebensstil Jesu, sondern auch in seinen Wunderheilungen und Sündenvergebungen als Wiederherstellung der prälapsarischen Integrität des Menschen (Q 11,20), seiner Mahlpraxis als Vorverkosten des himmlischen Festmahles (Q 7,34; Mk 2,19 parr.; Lk 14,15), der Einsetzung des Zwölferkreises als Zeichen der endzeitlichen Restitution der zwölf Stämme Israels (Mk 3,16parr) und seinen Gleichnissen als performatives Wortereignis (s.o. III.10.2.2; IV.2.2.3). Wahrscheinlich deutet Jesus auch seine zeichenhafte Lebenshingabe, die er wohl selbst als Bewährungsprobe vor dem Anbruch der basileia verstand, als ein Realsymbol für den Anbruch des Gottesreichs: Proexistent (s.o. III.10.2.4) springt er nun angesichts der Verweigerung weiter Kreise Israels selbst in die Bresche und beweist jenes bedingungslose Gottvertrauen, das er in seinen Gleichnissen (Mt 13,44–46 u.ö.) und Predigten (Q 12,8; 17,6; Mt 6,30; 8,26; u.ö.) immer wieder von anderen eingefordert hatte, nun an der eigenen Existenz. Damit kommt auch schon beim historischen Jesus der Aspekt der Stellvertretung in den Blick:209 In seinem emblematischen Zeichenhandeln (emblematische Armut als Zeichen des völligen Gottvertrauens angesichts der kommenden basileia, Wunderheilungen, Mahlgemeinschaften, Sündenvergebungen, Einsetzung des Zwölferkreises Gleichnisse als Wortereignisse, zeichenhafter Einzug in Jerusalem und Tempelaktion) wie auch in seinem ebenso zeichenhaften „Volleinsatz“ für die basileia unter Hingabe des eigenen Lebens, wird Jesus mit seiner ganzen Existenz zum Realsymbol der kommenden Wirklichkeit: Der Bote ist mit seiner Botschaft ident, so wie auch Hosea, Jeremia und Ezechiel (s. die Beispiele oben) mit ihrer ganzen Existenz zum Realsymbol für ihre Botschaft werden. An seinem eigenen Leib vollzieht sich im Symbol, was auf der Makroebene des Kosmos an Umbrüchen erwartet wird. Wenn also nachösterlich Jesus vom Boten der basileia zur Botschaft selbst wurde (vom Verkündiger zum Verkündigten), so ist die grundsätzliche Identifikation von Boten und Botschaft bereits beim historischen Jesus grundgelegt. Das ist der historische Brückenkopf, an dem die spätere paulinische Christologie eines stellvertretenden Sühnetodes (Röm 3,25; 8,3) und die synoptische Identifizierung Jesu mit dem leidenden Menschensohn (s.u. V.7.3.4) sowie mit dem stellvertretend sühnenden Gottesknecht (besonders Jes 52,13–53,12, explizit zitiert in Mt 8,17; weiters die markinischen Leidensankündigungen und ihre synoptischen Parallelen: Mk 8,31; 9,12; 9,31; 10,45; und Lk 24,46; Apg 3,18) andocken konnten. Auch die Identifizie-
209
Zu den Ausdrücken „Proexistenz“ und „Stellvertretung“ vgl. Schröter, Sühne, 66f.; Frey, Probleme, 21–32; Janowski, Ecce, 31f.
7. Von Jesus zu Christus
341
rung Jesu mit dem Menschensohn-Richter (wie sie bereits in der Logienquelle erfolgt, s.u.) ist damit nicht nur ein äußerlicher Brückenschlag zwischen zwei unterschiedlichen Protagonisten, sondern verdankt sich einer immanenten, unauflösbaren, wesenhaften Verbundenheit: Jesus selbst wird in seiner ganzen Person, in Wort, Wirken und Sterben, zum Werkzeug, ja zum Realsymbol der anbrechenden basileia.210 7.3.4
„Menschensohn“ in Q und MkEv
In der Logienquelle erfolgt bereits die Identifizierung Jesu mit dem endzeitlichen Menschensohn (Q 11,30; 12,40; 17,24). Q 11,30 Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein. Q 12,40 Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, die ihr nicht erwartet. Q 17,24 Denn wie der Blitz vom Osten hervorkommt und bis zum Westen scheint, so wird der ‹Tag› des Menschensohns sein. 26 Denn wie in den Tagen Noachs, so wird es auch in den Tagen des Menschensohns sein. 27 Sie aßen, tranken, heirateten, wurden verheiratet, bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging und die Flut kam und sie alle wegraffte. 30 So wird es auch an dem Tag sein, wenn der Menschensohn offenbar wird.
Allerdings sind die hier zitierten Aussagen noch so unspezifisch, dass sie nach wie vor „O-Ton“ Jesu sein und auf einen anderen endzeitlichen Richter als Jesus verweisen könnten. Auch das Jona-Zeichen meint hier noch nicht – wie in Mt 12,40 – einen Verweis auf die Auferstehung, sondern den Hinweis auf das künftige Gericht, das Jona ankündigte und das gemäß Jesus und Q an den Menschensohn gebunden ist. Erst in der Identifikation mit dem irdischen Jesus (Q 6,22; 7,34; 9,58) wird klar, dass für Q Jesus dieser „Menschensohn“ ist: Q 7,33 Denn es kam Johannes, er aß nicht und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. 34 Es kam der Menschensohn, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder. Q 9,58 Und Jesus sagte ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er seinen Kopf hinlegen könnte.
Die letzte Stufe in diesem Prozess stellt dann die Identifikation des „Menschensohns“ mit dem leidenden Jesus dar. Diese allerdings begegnet noch nicht in der Logienquelle (die ja auch keine Passionserzählung beinhaltet), sondern taucht 210
Vgl. dazu Theißen, Veränderungspräsenz, besonders 321–343. Theißen bezeichnet mit dem Ausdruck „Veränderungspräsenz“ (a.a.O. 175–192) die realsymbolische, gestaltende und Tabus durchbrechende Kraft dieser Zeichenhandlungen. In der katholischen Kirche wird Jesus daher als Ursakrament (vgl. Lumen Gentium DH 4101–4104) gewertet.
342
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
zum ersten Mal bei Mk auf (vgl. 10,33: „Er sagte: Wir gehen nach Jerusalem hinauf; und der Menschensohn wird den Hohepriestern und den Schriftgelehrten ausgeliefert; sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden ausliefern“). 7.3.5
Konklusion: „Implizite“ Christologie
Nirgendwo sonst tritt so deutlich wie in der „Menschensohn“-Thematik hervor, wie eng frühjüdisch eschatologische Erwartungen, die basileia-Botschaft Jesu und die spätere Theologie der Urkirche miteinander verbunden sind. In apokalyptisch orientierten Kreisen des Frühjudentums waren heilsrelevante Seher oder Mittlergestalten, die im Eschaton die endgültige und bindende Interpretation des Gotteswillens vornehmen würden, schließlich keine Seltenheit: Man denke nur an die reiche Henochliteratur, den „Lehrer der Gerechtigkeit“ in Qumran oder das 4. Esrabuch (s.o. V.2.1.3–V.2.1.5). Der historische Jesus reklamiert für sich zwar nicht, dieser eschatologische Mittler zu sein, doch er setzt sich mit dem von ihm erwarteten Menschensohn in enge und untrennbare Beziehung. So wie Jesus – als Agent der basileia – nun die Macht hat, Dämonen auszutreiben und Krankheiten zu heilen, so kann er auch – bevollmächtigt durch das anbrechende Gottesreich – Sünden vergeben und von Unreinheiten aller Art (moralisch wie rituell) durch die Kraft der basileia befreien. Auch wenn Jesus hier noch nicht aus eigener Vollmacht, sondern als der Bevollmächtigte von Gottes basileia handelt, so ist sein Anspruch doch unbedingt heilsrelevant und entscheidet über Annahme oder Abweisung im Endgericht vor dem Menschensohn. Dieser implizite Vollmachtsanspruch als Beauftragter des Gottesreichs konnte nach Ostern in explizite Christologie weitergeführt werden.211 Dies gelang umso leichter, als die oft erwähnte Gleichsetzung von Botschaft und Bote nicht erst nachösterlich zu verorten ist, sondern bei alttestamentlichen Propheten wie auch bei Jesus als besonderes Typikum der Verkündigung angesehen werden muss (s. IV.2.2.3; V.7.3.3). Natürlich erhält diese Identifikation nachösterlich eine andere Valeur: Die Rede von der basileia wird durch das „Evangelium (Jesu) Christi“ (Mk 1,1; Röm 15,19; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14) ersetzt; die neue Botschaft ist nun der Bote, Jesus Christus, selbst. Die Rede vom „Reich Gottes“ wirkt dann bei Paulus (Röm 14,17; 1Kor 4,20; 6,9.10; 15,24.50; Gal 5,21 1Thess 2,12) auch nur mehr wie ein theologisches Schlagwort, das der Christologie völlig untergeordnet ist. Dennoch: Auch wenn die österliche Erfahrung des Auferstandenen die Initialzündung zu einer eigentlichen „Christologie“ war, so ist deren Haftpunkt doch schon beim historischen Jesus angelegt. Umgekehrt gilt allerdings auch: „Die Impulse des historischen Jesus … bleiben der Urgrund,
211
Vgl. dazu Frey, Continuity, 69–98.
7. Von Jesus zu Christus
343
zu dem sich der je eigene Glaube und der denkende Nachvollzug in sachliche Kontinuität stellen. … Eine Christologie ohne Bezug zum historischen Jesus verliert den Ansatzpunkt in der Geschichte.“212
7.4
Jesus als „Weisheit“ und „Logos“
7.4.1
Hypostasierung der Weisheit im AT
Die Hypostasierung der Weisheit zur eigenständigen Person lief in den AT-Texten über verschiedene Relais:213 1) Zunächst wurde die Weisheit als verobjektivierte Größe zum Gegenstand des Suchens und Findens stilisiert (vgl. Ijob 28,12–28). 2) Dann erfolgte eine Personifizierung der Weisheit als in der Öffentlichkeit redende Person mit Einladung und Mahnung, Verheißung und Drohung (Spr 1,20–33; 8,1– 21.32–36; 9). 3) Zuletzt kann man von einer Hypostasierung der Weisheit reden, wo es zu einer Verselbständigung gegenüber Gott und der Schöpfung kommt (Spr 8,22–36; Sir 24,3–22; Weish 9). Nach Spr 8,22–31 und Weish 9,2 ist die Weisheit bereits als Schöpfungsmittlerin gezeichnet, die präexistent vor Erschaffung der Welt existiert und Gott bei der Welterschaffung assistiert. Eine Identifikation der Weisheit mit der Tora begegnet dann in Sir 24,23. Gerade dieser Deutestrang, der die jüdische Tora mit der Schöpfungsordnung identifiziert, wurde im Frühjudentum zu einem tragenden Theologumenon (s.o. V.2.1). 7.4.2
Weisheit und Logos bei Philon
Auch für Philon von Alexandria stellt die Erkenntnis der göttlichen Weisheit den „Königsweg“ (πορεύεσθαι τὴν ὁδὸν βασιλικήν, Deus 144) zu Gott dar.214 Der Weg zur Weisheit kann nach Philon jedoch nicht ohne göttliche Hilfe beschritten werden. „Der Gedanke, daß der Mensch einen Führer auf dem Weg nötig hat, ist fester Bestandteil der philonischen Anschauungen vom Weg. Derjenige, der keinen Führer hat, wandert auf Irrwegen.“215 Diese Hilfe gewährt Gott durch Bereitstellung des göttlichen Logos, wie Deus 180–182 ausführt: 180 … So beabsichtigt der irdische Edom die himmlische Königsstraße der Tugend zu versperren, der göttliche Logos aber wiederum seine [sc. die Straßen des Edom] und die seiner Gesinnungsgenossen. [181] 182 Denn dann sind wahrhaftig die Krankheiten der Seele nicht nur schwer zu heilen, sondern völlig unheilbar, wenn wir, sobald das Gewissen sich meldet – das aber ist der göttliche Logos, ein leitender und das im Wege Stehende wegräumender Engel, auf daß wir, ohne zu straucheln, auf der breiten Straße 212 213 214 215
Öhler, Kontinuitätskonstrukte, 108f. Vgl. dazu von Lips, Christus, 79–85. Dazu und im Folgenden vgl. Tiwald, Hebräer, 255–257. Mack, Logos, 135.
344
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum dahinschreiten (λόγος δ᾽ ἐστὶ θεῖος, ἄγγελος ποδηγετῶν καὶ τὰ ἐν ποσὶν ἀναστέλλων, ἵνα ἄπταιστοι διὰ λεωφόρου βαίνωμεν τῆς ὁδοῦ) – unsere eigenen urteilslosen Meinungen seinen Anweisungen vorziehen, die er zur Ermahnung und Warnung und zur besseren Einrichtung des ganzen Lebens dauernd zu erteilen pflegt.
Der göttliche Logos kommt dem Menschen als ἄγγελος ποδηγετῶν, als „leitender Engel“ zu Hilfe, als ein „das im Wege Stehende wegräumender Engel, auf daß wir, ohne zu straucheln, auf der breiten Straße dahinschreiten“. Das Konzept des göttlichen Logos als Führer der Menschen durchzieht das Opus Philons (weiters: Opif. 117–119; Cher. 36; Sacr. 8 und 51; Deus 134 und 180; Migr. 23f.; 173–175; Fug. 131 und 199f.; Mut. 113–120; Somn. 1,69 und 102f.). An einigen Stellen ist dabei von logoi im Plural die Rede. Als Grund für diese zwischen Gott und die Menschen geschaltete Instanz nennt Philon in Somn. 1,69 die strikte Transzendenz Gottes, die Gott nicht direkt, sondern vermittels seiner „Logoi“ in der Welt wirken lässt: Denn Gott selbst hält es für unter seiner Würde, zur Sinnlichkeit zu kommen, und schickt seine Logoi den Tugendliebenden zu Hilfe; sie aber behandeln und heilen die Schwächen der Seele dadurch, daß sie heilige Warnungen wie unantastbare Gesetze aufstellen, zu ihrer Übung aufrufen und wie Lehrer im Ringkampf Tüchtigkeit, Kraft und unwiderstehliche Stärke einflößen.
Somit scheint es konsequent, wenn in Migr. 173–175 diese „Logoi“ mit Engeln gleichgesetzt werden, wobei im Folgenden dann wieder nur von dem einen göttlichen Logos gesprochen wird: 173 Wer aber Gott folgt, der hat notwendig die ihm folgenden Logoi, die man Boten (Engel) zu nennen pflegt (τοῖς ἀκολούθοις αὐτοῦ λόγοις, οὓς ὀνομάζειν ἔθος ἀγγέλους), zu Weggenossen und Geleitern ... 174 Solange er [sc. der Mensch, der Gott folgt] nämlich nicht zur vollkommenen Reife gelangt ist, braucht er als Führer des Weges den göttlichen Logos; denn die heilige Schrift sagt: „Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, damit er dich auf dem Weg behüte, dich führe in das Land, das ich dir bereitet habe. Halte dich an ihn, höre auf ihn, sei ihm nicht unfolgsam, denn er wird dich nicht fürchten; denn mein Name ist bei ihm“ (Ex 23,20f.). 175 Sobald er aber zum Gipfel der Weisheit gelangt ist, kann er in angestrengtem Laufe Schritt mit dem früheren Wegführer halten; denn beide werden auf diese Weise Genossen des allführenden Gottes (ὀπαδοὶ γενήσονται τοῦ πανηγεμόνος θεοῦ) ...
Hier wird klar, dass der Logos bei Philon letztlich eine Hilfskonstruktion ist, um die Transzendenz Gottes einerseits zu wahren, andererseits Gott – vermittelt durch seine Logoi – auf Erden wirken zu lassen. Das Oszillieren des Textes zwischen einem Logos und mehreren Logoi macht deutlich, dass der Logos lediglich als irdische Wirkweise Gottes gedacht ist. Letztlich wird auch klar, dass es der „allführende Gott“ selbst ist, von dem das Heil kommt. Das Logos-Konzept steht für Philon voll und ganz im Dienst der Transzendenz und Allmacht Gottes. Ähnlich wie in der AT-Weisheitstheologie stellt die Logos-Konzeption bei Philon kein eigenständiges salvatorisches Agens neben oder gegenüber Gott dar, sondern dient lediglich als hypostasierte Wirkweise des transzendenten Gottes in der Welt.
7. Von Jesus zu Christus
7.4.3
345
Jesus, göttliche Weisheit und Logos
In der Logienquelle werden der Täufer und Jesus im „Paarlauf“ als die beiden „Kinder der Weisheit“ dargestellt, so in Q 7,31–35: 31 Wem soll ich diese Generation vergleichen, und wem ist sie gleich? 32 Sie ist auf den Marktplätzen sitzenden Kindern gleich, die den anderen zurufen und sagen: Wir haben für euch auf der Flöte geblasen, und ihr habt nicht getanzt, wir haben Klagelieder angestimmt, und ihr habt nicht geweint. 33 Denn Johannes kam, er aß nicht und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. 34 Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Dieser Mensch da – ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern. 35 Und Recht bekam die Weisheit von ihren Kindern.
Hier geschieht weder eine Überhöhung Jesu gegenüber Johannes, wie aus späteren neutestamentlichen Texten bekannt (z.B.: Mk 1,7–11; Mt 3,13–17; Lk 1,40–45; 3,15f.; Apg 18,25; 19,3–6; Joh 1,25–37; 3,26–30; u.ö.), noch wird Jesus als personifizierte Weisheit gezeichnet. Analog zu alttestamentlichen Vorstellungen wird die Weisheit auch in der Logienquelle zur eigenständig handelnden Größe hypostasiert. Deutlich wird dies auch in Q 11,49: Darum sagte auch die Weisheit: Ich werde zu ihnen Propheten und Weise senden, und einige von ihnen werden sie töten und verfolgen, …
Auch hier wird Jesus noch nicht mit dieser Weisheit identifiziert, sondern ist lediglich ihr Bote. Die Weisheit selbst aber ist hypostasiert, da sie eigenständig spricht. G. Boccaccini hat darauf hingewiesen, dass in diesem Punkt eine Parallele zwischen Q und den Bildreden in 1 Hen besteht: „The heavenly Enoch is the herald and messenger of the divine Wisdom, not its incarnation.“216 Während sich die QDiktion noch in Lk 7,31–35 und 11,49 erhalten hat, geht der erste Evangelist hier einen Schritt weiter und modelt seine Q-Vorlage um: So heißt es in Mt 11,19c: „Und doch hat die Weisheit durch ihre Taten Recht bekommen.“ Hier wird Jesus schon als personifizierte Weisheit verstanden, die durch ihre Taten Bestätigung findet. Auch in Mt 23,34 ist es nicht mehr die Weisheit, die ihre Boten aussendet, sondern Jesus selbst. Wenn er nun „Propheten, Weise und Schriftgelehrte“ aussendet, dann sind dies bereits die Funktionsträger der mt Gemeinde.217 Allerdings wird selbst in der mt Weisheitstheologie noch „kein zusammenhängendes christologisches Denkmodell sichtbar …“218 Das Urteil, das von Lipps hier fällt, ist gut nachzuvollziehen:219 Der Befund weisheitlicher Tradition innerhalb der neutestamentlichen Christologie ist unbestreitbar. Doch so vielfältig, wie die einzelnen aufgenommenen weisheitlichen
216 217 218 219
Boccaccini, Place, 277. So Luz, Matthäus III, 370f. Luz, Matthäus III, 371. Von Lipps, Christus, 93.
346
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum Traditionen es sind, so unterschiedlich sind auch die Aussageintentionen, die mit solcher Aufnahme verbunden sind. Alle diese beobachteten Differenzierungen warnen davor, eine einlinige Entwicklung bezüglich der Übernahme weisheitlicher Tradition in die Christologie und demnach eine konsequente Entwicklung von ersten Ansätzen zu voll ausgebildeter Weisheitschristologie anzunehmen und zu konstruieren.
Ein ähnlicher Befund legt sich auch für die Logos-Aussagen des NT nahe. Im JohProlog werden die Präexistenz des göttlichen Logos („Im Anfang war das Wort“, Joh 1,1) und seine Schöpfermittlerschaft („Alles ist durch das Wort geworden“, Joh 1,3) ausgesagt. Beide Attribute konnten bereits im AT für die göttliche Weisheit, die von Philon mit dem Logos in Verbindung gebracht wird, verwendet werden.220 Dass der Logos nun allerdings mit Gott selbst identifiziert wird („und das Wort war Gott“) und nicht nur als eine Wirkweise Gottes angesehen wird, geht einen beherzten Schritt weiter. Dabei ist es allerdings müßig, darüber zu streiten, wieweit diese Aussagen noch bildhaft-narrativ oder bereits dogmatisch-real zu verstehen sind: Die gesamte Theologie des NT bewegt sich in einem dem AT und Frühjudentum entliehenen Formen- und Bilderkanon. Dieses Sprachspiel wird von den NT-Autoren zwar eigenständig und kreativ weitergeführt, doch eindeutig verlässt es erst dann seine metaphorische Fluidität, wenn auf den Konzilien des 4. Jh. die dort fixierte Lesart als die einzig orthodoxe dogmatisch festgezurrt wird (zum „Parting of the Ways“ zwischen Juden und Christen s.o. I.2.2). Die Fluidität der AT-Weisheitsaussagen und des philonischen Logoskonzepts wurde bereits oben festgestellt: Trotz der Hypostasierung von Weisheit und Logos wurden diese nicht als salvatorisches Agens abseits und gegenüber „des allführenden Gottes“ (τοῦ πανηγεμόνος θεοῦ, Philon, Migr. 175) dargestellt; Gott selbst ist der Aktant im Hintergrund. Mit den dogmatisch-bindenden Aussagen zu Jesus als der zweiten göttlichen Person verlassen die Konzilien des 4./5. Jh. n. Chr. die Fluidität des frühjüdischen Bilder- und Formenkanons – wenn auch unter Beibehaltung des monotheistischen Gesamtkonzepts. Allerdings bleibt das spekulativ-theologische Moment frühjüdischer Theologie dem Christentum auch weiter erhalten, es verlagert sich nur von der Weisheits- und Logostheologie hinein in die Trinitätslehre. Die „perichoretische“ Konzeption der Trinität lässt das zugrundeliegende monotheistische Konzept erkennen, dass eben nicht drei unabhängige Götter („Tritheismus“) hier wirken, sondern die eine göttliche Wesenheit in drei Personen: Selbst hier noch bleibt das salvatorische Agens in der einen göttlichen Wesenheit bestehen.221 220 221
Vgl. Boccaccini, Place, 282f. Zum „tritheistischen“ Missverständis vgl. Greshake, Gott, 142, der (mit einem Zitat Rahners) „die echte Gefahr der Trinitätslehre … im durchschnittlichen Verständnis des normalen Christen [gekennzeichnet durch] einen vulgären (unausgesprochenen, aber ‚subkutan‘ sehr massiven) Tritheismus“ erkennt. Die „Perichorese“ (griechisch περιχώρησις, perichoresis, wörtlich: „Umtanzen“, das Rotieren um etwas) meint die vollständige gegenseitige
8. Die „Hellenisten“
8.
Die „Hellenisten“
8.1
Der Stephanuskreis und die „Hellenisten“
8.1.1
Die „Hellenisten“ in Apg 6
347
Zur Frage, wer die „Hellenisten“ waren, und welche Positionen sie vertraten, s.o. III.10.3.1. Die in Apg 6 genannten „Hellenisten“ um Stephanus jedenfalls waren liberale Judenchristen aus der Diaspora, welche die Position Jesu couragiert aufgriffen, mit Konzeptionen des Diasporajudentums verbanden und kreativ-eigenständig weiterführten. 8.1.2
Die „Hellenisten“ und der Tempel
Die Tempelkritik Jesu (s.o. V.6.3) und seine Erwartung, dass auch die Heiden gemäß den Verheißungen der „Völkerwallfahrt zum Zion“ (Jes 2,2–5; 60,3; Mi 4,2f.) Anteil an der Erlösung erhalten würden, wurden besonders von den „Hellenisten“ um Stephanus, wie sie Apg 6 nennt, kreativ weitergeführt in Richtung einer ausgeprägten Spiritualisierung der Opfer- und Tempelmetaphorik, wie sie ja auch schon im Frühjudentum belegt ist (s.o. V.4.3.2). In Apg 6,13f. wird Stephanus der Vorwurf gemacht:222 13 … Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort [sc. den Tempel in Jerusalem] und das Gesetz zu reden (λαλῶν ῥήματα κατὰ τοῦ τόπου τοῦ ἁγίου [τούτου] καὶ τοῦ νόμου). 14 Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche ändern (ἀλλάξει τὰ ἔθη), die uns Mose überliefert hat.
Diese, der Feder des Lk entflossenen Worte, sind natürlich auch seiner theologischen Erzählintention geschuldet: abgefasst nach Zerstörung des Tempels und nur „falschen Zeugen“ in den Mund gelegt. Dennoch dürfte die Notiz den Kern der Sache treffen. Auch wenn Lk hier seine eigenen Ideen einer Öffnung des Tempels für die Heiden und die Vorstellung eines opferlosen Kultes mit einbringt, so waren diese Ideen gerade im liberalen Frühjudentum durchaus präsent und belegen in ihrer Kontextplausibilität eine gewisse historische Passgenauigkeit.223 Obendrein: Wenn Lk trotz der ihm eigenen irenischen Tendenzen solch einen
222 223
Durchdringung, die in der Trinitätstheologie die Einheit der drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist beschreibt (vgl. dazu a.a.O. 93f.). Vgl. dazu Tiwald, Hebräer, 379–383, ähnlich Schnelle, Jahre, 144–147. Zur Frage, wie denn der Geschichtswert der Apg in diesen Texten einzuschätzen ist, vgl. den Forschungsüberblick bei Braun, Geschichte, 16–32.
348
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Konflikt erwähnt, muss daran wohl etwas Wahres sein. Stephanus greift hier offensichtlich die Tempelweissagung Jesu auf und deutet diese im Sinne einer Öffnung des Tempels für die Heiden.224 Solches legt sich auch durch das zur Tempelprophetie Jesu sekundär hinzugefügte Jesajazitat in Mk 11,17 nahe, wo es heißt: „Mein Haus wird ein Gebetshaus (προσευχή) genannt werden für alle (Heiden-) Völker“ (Jes 56,7 LXX, Ü.MT). „Der Begriff ‚Proseuche‘ ist ein weit verbreiteter Name für eine Synagoge. Die Verwandlung des Tempels in eine Art ‚Synagoge‘ hätte diesen für Heiden geöffnet: Im Synagogengottesdienst waren Heiden (als Gottesfürchtige) zugelassen.“225 Wahrscheinlich ist hier sogar an einen opferlosen Kult gedacht, wie die Stephanusrede in Apg 7,42–50 nahelegt: 42 … wie es im Buch der Propheten heißt: Habt ihr mir etwa Schlachttiere und Opfer dargebracht während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel? … 44 Unsere Väter hatten in der Wüste das Bundeszelt. … 47 Salomo aber baute ihm ein Haus. 48 Doch der Höchste wohnt nicht in dem, was von Menschenhand gemacht ist, wie der Prophet sagt: 49 Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße. Was für ein Haus könnt ihr mir bauen?, spricht der Herr. Oder welcher Ort kann mir als Ruhestätte dienen? 50 Hat nicht meine Hand dies alles gemacht?
Der Text ist klar: Auch die Wüstengeneration hat Gott keine Schlachtopfer dargebracht und auch nur ein Bundeszelt, doch keinen Tempel besessen. Offensichtlich – so die Logik des Stephanus (zumindest in der Darstellung des Lk) – braucht Gott weder Schlachtopfer noch einen Tempel. Denn der eigentliche Tempel Gottes ist der Himmel und die Erde der Thronschemel. Das erinnert ein wenig an Philons Aussage, dass Gott die ganze Welt (σύμπαντα κόσμον) zu seinem Tempel gemacht habe (Spec. 1,66f.), wobei „der handgemachte Tempel“ (τὸ δὲ χειρόκμητον) lediglich ein Zugeständnis an menschliche Bedürfnisse ist. Dabei dürfte Stephanus gar nicht an einer grundsätzlichen Ablehnung des Tempels gelegen haben, er drängt vielmehr auf eine Neuinterpretation des Tempeldienstes unter Hintanstellung der Ritualgesetze.226 Gerade der Vorwurf ἀλλάξει τὰ ἔθη, „die Bräuche ändern“, legt so eine Deutung nahe: „Wo Lk das Wort ἔθη benutzt, bezieht es sich oft auf kultische Normen und Traditionen (vgl. Lk 1,9: Priesterdienst; 2,42: Wallfahrt zum Passa; Apg 15,1: Beschneidung).“227 Nicht eine „Abrogation“ des Tempels ist hier von Stephanus gefordert, sondern eine Hintanstellung der rituellen Vorschriften, eine Sichtweise, wie wir sie auch aus liberalen Kreisen des Diasporajudentums
224 225 226
227
Vgl. Theißen, Hellenisten, 335; Kraus, Jerusalem, 46; Attridge, Temple, 213–237. Theißen, Hellenisten, 335. Gegen Wilckens, Röm I, 240f., der hier eine „Abrogation des jüdischen Tempelkultes im Urchristentum“ im „hellenistisch-christlichen Überlieferungszusammenhang“ (Hellenisten um Stephanus, Paulus, Hebräerbrief) erkennen will. Die Rede von einer „Abrogation“ des Tempelkultes verkennt den Stellenwert der frühjüdischen Tempelkritik. Theißen, Hellenisten, 334. Vgl. ebenso a.a.O. 335, sowie Kraus, Jerusalem, 48f.
8. Die „Hellenisten“
349
kennen. Freilich: In den Ohren konservativer Juden kam dies einer Kritik an Tempel und Gesetz selbst gleich: λαλῶν ῥήματα κατὰ τοῦ τόπου τοῦ ἁγίου [τούτου] καὶ τοῦ νόμου, „gegen diesen heiligen Ort [sc. den Tempel in Jerusalem] und das Gesetz zu reden.“ Wahrscheinlich teilten auch die anderen „Hellenisten“ aus Apg 6,1 die Meinung des Stephanus und wurden deswegen aus Jerusalem vertrieben, wie Apg 8,1 berichtet. Interessant ist dabei, dass die „Apostel“ nicht aus Jerusalem vertrieben wurden, diese waren ja „Hebräer“ und auch nicht kultkritisch eingestellt. Wahrscheinlich hat G. Theißen recht, wenn er hinter dieser unterschiedlichen Behandlung und hinter den Notizen von einem Streit zwischen „Hebräern“ und „Hellenisten“ theologische Differenzen in der Urgemeinde vermutet. Offensichtlich gab es also einen liberaleren Flügel, der die Kritik Jesu am Tempel kreativ weiterdachte und mit den eigenen, aus der Diaspora hinlänglich vertrauten Positionen verband. 8.1.3
Christus als hilastērion
„Die Kultkritik des Stephanuskreises fügte sich nahtlos ein in die Verkündigung der Einsetzung Jesu zum endzeitlichen Sühneort (hilastērion; Röm 3,25), durch welchen der bisherige Ort der Gottesbegegnung und Sühne eschatologisch überboten wird.“228 Die Mehrheit der Exegeten nimmt an, dass Paulus in Röm 3,25 einen präpaulinischen Hymnus übernommen hat;229 das Gedankengut dahinter könnte tatsächlich gut auf die „Hellenisten“ zurückgehen. In Röm 3,25 wird zur Aussage gebracht, dass Gott Jesus Christus als hilastērion eingesetzt hat, also als die ( כַּפֹּ ֶרתkapporet, „Sühneplatte“), jenen Ort im Allerheiligsten des Tempels, auf dem nach Lev 16,13–15 das Sühneblut appliziert wird. Hier wird Christus „als der heilsame und daher sühneschaffende Ort der Gegenwart Gottes, d.h. als Antitypos zur ‚kapporæt‘, dargestellt ...“230 Diese Sichtweise bedeutet allerdings keinen Ersatz des Tempelkultes durch Christus, aber „ein Verstehen des Kreuzestodes Jesu mit Hilfe kultischer Vorstellungen.“231 Damit wird deutlich, dass Jesus nun der Platz der eschatologischen Sühne für unsere Sünden geworden ist – wie die Sühneplatte im Tempel. Ähnliche Konzeptionen gibt es schließlich auch in Hebr 7,26– 8,6; 9,11.24f., wo Jesus zwar nicht als Sühneplatte, aber als neuer Hohepriester dargestellt wird. Nach Hebr 9,24–28 erfüllt das einmalige Opfer Jesu nun all das, wofür der jährlich zelebrierte Jom Kippur gestanden hatte (Hebr ist bereits nach 228 229 230 231
Kraus, Jerusalem, 53. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Tiwald, Christ, 189–209. Vgl. den Forschungsüberblick bei Schreiber, Weihegeschenk, 90. Merklein, Bedeutung, 33. Merklein, Bedeutung, 31. Allerdings muss man Merklein Recht geben, dass nicht nur „kultische Vorstellungen auf Jesus übertragen werden“, sondern es vielmehr um ein deutendes und verstehendes Applizieren geht (ebd.). Vgl. Tiwald, Christ, 195–201.
350
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
der Zerstörung des Tempels geschrieben). Damit sind die blutigen Opfer im Tempel nicht mehr nötig, es kommt zu einer Spiritualisierung und Metaphorisierung des Tempelkults im beginnenden Christentum. Spiritualisierung und Metaphorisierung des Tempelkults aber haben die ersten Christen vom Frühjudentum übernommen – genauso wie die Sichtweise eines Tempels ohne blutige Opfer (s.o. V.4.3). 8.1.4
Beschneidungsfreie Heidenmission
Der Anfang der beschneidungsfreien Heidenmission dürfte mit den aus Jerusalem vertriebenen „Hellenisten“ in Verbindung zu bringen sein und in Antiochia ein erstes Zentrum gefunden haben (s.o. III.10.3.). Auch in der Frage der Beschneidung scheint es unter liberalen Juden die Ansicht gegeben zu haben, dass diese für Konvertiten gar nicht nötig wäre. Dies zumindest legt die Erzählung von Josephus über die Annahme des jüdischen Gesetzes durch Königin Helene von Adiabene und ihren Sohn Izates in A.J. 20,38–43 nahe: 38 Als er [sc. Izates] nun erfuhr, wie sehr seine Mutter den jüdischen Gebräuchen (τοῖς Ἰουδαίων ἔθεσιν) zugetan sei, wollte er auch selbst sich vollständig zu demselben bekennen, und da er sich für keinen rechten Juden (εἶναι βεβαίως Ἰουδαῖος) erachtete, wenn er sich nicht beschneiden ließe, war er auch dazu bereit. 39 Als dieses der Mutter bekannt wurde, suchte sie ihn davon durch die Vorstellung abzuhalten, daß dies ihn in Gefahr bringen werde; er sei ja König und werde bei seinen Untertanen großen Unwillen hervorrufen, wenn sie hörten, daß er sich zu fremden und bei ihnen ganz unerhörten Gebräuchen bekenne; … 40 … Izates aber brachte alle ihre Worte Ananias vor; dieser teilte die Ansicht seiner Mutter … 41 ... Izates könne, fuhr er fort, den Herrn auch ohne Beschneidung verehren (δυνάμενον δ᾽ αὐτὸν ἔφη καὶ χωρὶς τῆς περιτομῆς τὸ θεῖον σέβειν), wenn er nur die gottesdienstlichen Gebräuche der Juden befolgen wolle, welche die Hauptsache ausmachten (εἴγε πάντως κέκρικε ζηλοῦν τὰ πάτρια τῶν Ἰουδαίων τοῦτ᾽ εἶναι κυριώτερον τοῦ περιτέμνεσθαι; eigentlich: wenn er nur sämtlich die väterlichen Sitten der Juden eifrig beobachte: das wäre königlicher als das Beschneiden). 42 Er fügte hinzu, Gott selbst werde ihm gern nachsehen, wenn er die Beschneidung unterließe, um sich der Notwendigkeit zu fügen und sich vor seinen Untertanen zu sichern. Durch diese Worte ließ der König sich bereden. 43 Da er aber doch seinen Wunsch, die Beschneidung zu empfangen, nicht unterdrücken konnte, trieb ihn endlich ein aus Galiläa gekommener Jude, namens Eleazar, dem man besondere Kenntnis von unseren Einrichtungen zuschrieb (πάνυ περὶ τὰ πάτρια δοκῶν ἀκριβὴς εἶναι; eigentlich: der gemäß den väterlichen Gesetzen außerordentlich gewissenhaft schien), zur Ausführung desselben (πρᾶξαι τοὖργον) an.
Izates treibt die Frage um, ob denn auch die Beschneidung nötig sei, um ein „richtiger Jude“ (βεβαίως Ἰουδαῖος) zu sein – schließlich wäre solch ein Schritt für den Thronfolger eines nichtjüdischen Landes doch ein Politikum. Der jüdische Kaufmann Ananias ist offensichtlich ein liberaler Diasporajude. Er urteilt, man könne auch χωρὶς τῆς περιτομῆς τὸ θεῖον σέβειν, auch „außerhalb der Beschneidung Gott verehren“, wenn man nur die πάτρια τῶν Ἰουδαίων, die „väterlichen Gesetze
8. Die „Hellenisten“
351
des Judentums“, eifrig beachte. Die Beschneidung rechnet Ananias hier offensichtlich nicht dazu! Um dem Text in seiner ganzen Bedeutung gerecht zu werden, muss man wissen, dass die πάτρια τῶν Ἰουδαίων, die „väterlichen Gesetze des Judentums“, für Josephus ein Begriff für die dem Judentum heiligen Gesetzesvorschriften waren. In Vita 191 sagt er über die Pharisäer, „sie scheinen gemäß den väterlichen Gesetzesvorschriften die anderen an Gewissenhaftigkeit zu übertreffen“ (περὶ τὰ πάτρια νόμιμα δοκοῦσιν τῶν ἄλλων ἀκριβείᾳ διαφέρειν). Der Maßstab der „Akribie“, mit der die „väterlichen Gesetze“ eingehalten wurden, galt als Maßstab der Toratreue (vgl. die ähnlichen Formulierungen bei Paulus in Gal 1,14). Aus Sicht des Josephus wird der liberale Ananias dieser „Akribie“ nicht gerecht, da er die Beschneidung nicht zu den „väterlichen Gesetzen“ zählt. Diese „Akribie“ billigt er lediglich Eleazar zu, dem er bescheinigt, πάνυ περὶ τὰ πάτρια δοκῶν ἀκριβὴς εἶναι, „außerordentlich gewissenhaft zu scheinen gemäß den väterlichen Überlieferungen“. In der Gestalt des Ananias erfahren wir allerdings, dass solche liberalen Positionen im Frühjudentum tatsächlich vertreten wurden. Es legt sich die Vermutung nahe, dass Josephus diese Begebenheit nur deswegen so ausführlich berichtet, um mit seiner Polemik gegen Ananias ähnlich denkende Zeitgenossen zu tadeln. Weitere Beispiele zu einer Relativierung der Beschneidung im Frühjudentum s.u. V.8.2.3.
8.2
Frühjüdisch-liberale Positionen und das Frühchristentum
Die Sichtweise, dass der Tempelkult auch ohne blutige Opfer auskommen kann und Gott eigentlich gar keinen Tempel benötigt, wurde schon oben erörtert, ebenso die Annahme, dass man auf die Beschneidung verzichten könne. Bezüglich der Reinheitsvorschriften lassen sich ähnlich liberale Positionen nennen, die im Frühjudentum bereits existierten und von den ersten Christen weitergeführt wurden. 8.2.1
Liberale Positionen zu Speisevorschriften im Frühjudentum
Im Aristeasbrief 128 (Text und Einführung dazu s.o. III.7.2.3) lesen wir, dass es „viele“ sind, die die Speisegesetze für eine sinnlose Übertreibung halten. Diese „vielen“ sind wahrscheinlich nicht nur nichtjüdische Kritiker, wahrscheinlich muss – wie Stemberger vermutet – dieser Text „auch innerhalb einer aufgeklärten jüdischen Gemeinde die Speisevorschriften neu begründen …“232 So betont Arist 143, dass von Natur aus (πρὸς τὸν φυσικὸν λόγον) alle Speisen gleich rein sind. Die Grundthese, „dass an sich nichts unrein ist in sich selbst; unrein ist es nur für 232
Stemberger, Dekalog, 92.
352
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
den, der es als unrein betrachtet“ (ὅτι οὐδὲν κοινὸν δι᾽ ἑαυτοῦ, εἰ μὴ τῷ λογιζομένῳ τι κοινὸν εἶναι, ἐκείνῳ κοινόν; Röm 14,14), findet sich auch bei Paulus. Der spätere Tit 1,15 wird dies weiterführen: „Für die Reinen ist alles rein; für die Unreinen und Ungläubigen aber ist nichts rein, sogar ihr Denken und ihr Gewissen sind unrein.“ Ähnlich hört sich auch die Diskussion zu den Speisegesetzen in Mk 7,18–23 an (s.u. V.11). 8.2.2
Liberale Positionen zu Ehevorschriften
Seit Esra und Nehemia waren Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden ein Problem, infolgedessen selbst etliche Priester und Leviten Jerusalem verließen, um in dem Mitte des 5. Jh. v. Chr. gegründeten Heiligtum am Garizim eine neue Aufgabe zu suchen (s.o. III.9.1.2). Kontroversen, die sich an einer verbotenen Liaison entzündeten, scheint es bis in die Zeit des Josephus hinein gegeben zu haben, wie aus A.J. 4,145–149 hervorgeht: 145 Da trat Zambri (Ζαμβρίας) hervor und sprach: „Folge du, Moses, deinen Gesetzen, wofür du so sehr eiferst (νόμοις οἷς αὐτὸς ἐσπούδακας), und an die du durch lange Übung das Volk gewöhnt hast (ἐκ τῆς τούτων εὐηθείας τὸ βέβαιον αὐτοῖς παρεσχημένος; eigentlich: aus der Torheit dieser das Gewohnte für sie hinzugefügt habend); … 146 Ich wenigstens werde mich deinen tyrannischen Geboten (προστάττεις τυραννικῶς) nicht unterwerfen. Du hast bis jetzt nichts anderes gesucht, als wie du uns unter dem Scheine des Gesetzes und des göttlichen Willens (προσχήματι νόμων καὶ τοῦ θεοῦ) unter das Joch der Knechtschaft (δουλείαν μὲν ἡμῖν) bringen könntest. … 147 Wahrhaftig, mehr als vor den Ägyptern haben sich die Hebräer vor jemandem zu fürchten, der alles, was sie nach ihrem eigenen Willen tun, gleich nach den Gesetzen bestrafen will. Mit viel größerem Rechte verdienst du selbst Strafe dafür, dass du das, was alle anderen gut heißen, verwirfst, und im Widerspruche mit allen anderen (κατὰ τῆς ἁπάντων δόξης) auf deiner eigenen albernen Ansicht beharrest (τὴν σεαυτοῦ κατεσκευακὼς ἀτοπίαν). 148 … Ich habe, wie du sagst, ein fremdes Weib (γύναιόν τε ξενικόν) genommen; dessen bin ich dir als freier Mann (ὡς παρὰ ἐλευθέρου) selbst geständig und habe nicht vorgehabt, es zu verheimlichen; 149 ich opfere Göttern, denen zu opfern mir gefällt, denn ich halte es für billig und recht, unter den vielen mir selbst die Wahrheit zu suchen und nicht wie unter einem Tyrannen zu leben (ἐν τυραννίδι ζῆν), so daß ich alle Hoffnung meines ganzen Lebens auf Einen setze. Niemand soll sich rühmen können, in den Dingen, die mich allein betreffen, mich zu meistern.
Zambri (Ζαμβρίας) Sohn von Salu, ist uns aus Num 25,6–15 (LXX: Ζαμβρι; EÜ: Simri) bekannt, ein führender Mann aus dem Stamm Simeon, der sich offen den Anweisungen des Mose, insbesondere den Umgang mit fremdstämmigen, midianitischen Frauen betreffend, widersetzte (die Midianiterinnen hatten die Israeliten zum Götzendienst verführt). Für das Frühjudentum wird Zambri zum „Paradefrevler (1Makk 2,26; Philon, Mos 1,301–304). Auch von Josephus wird die Geschichte weiter ausgebaut, indem er Zambri eine lange Rede in den Mund legt. Offensichtlich ventiliert Josephus hier zeitgenössisch-jüdische Einwände gegen
8. Die „Hellenisten“
353
das Verbot von Mischehen und Götzendienst.233 Auffällig ist dabei die Argumentation Zambris. Er stellt nämlich nicht das Gesetz Gottes, die Tora, per se in Frage – was bei einem Apostaten ja zu erwarten wäre –, sondern proklamiert, dass Mose aus der „Torheit“ (ἐκ τῆς τούτων εὐηθείας) der Israeliten seine „tyrannischen Gebote“ (προστάττεις τυραννικῶς) eigenmächtig zum Willen Gottes „hinzugefügt“ habe (παρεσχημένος). Dies aber wäre nur unter dem „Scheine des Gesetzes und des göttlichen Willens“ (προσχήματι νόμων καὶ τοῦ θεοῦ) geschehen: Nicht die Tora selbst wird kritisiert, sondern deren falsche und „tyrannische“ Auslegung, die den freien Juden unter das Joch der Knechtschaft (δουλείαν μὲν ἡμῖν) zwingt. Solch eine Auslegung der Gesetze aber wird von Zambri als „eigene alberne Ansicht“ (τὴν σεαυτοῦ κατεσκευακὼς ἀτοπίαν) einiger religiöser „Eiferer“ (νόμοις οἷς αὐτὸς ἐσπούδακας) empfunden, die „im Widerspruche mit allen anderen“ (κατὰ τῆς ἁπάντων δόξης) steht. Wahrscheinlich empfanden liberale Diasporajuden gerade im Kontext einer sexuell und religiös permissiven paganen Umwelt die strengen Vorschriften ihrer Religion als ungebührende Einmischung in die persönliche Freiheit. Offensichtlich wurde diese Meinung aber nicht nur von Apostaten vertreten, sondern auch von Juden, die sich weiterhin als solche betrachteten. Auch Zambri kritisiert ja nicht den Glauben oder das Gesetz per se, sondern nur die „tyrannische“ Engführung unter dem „Scheine des Gesetzes und des göttlichen Willens“. Die Tatsache, dass Josephus ausgerechnet einem „Frevler“ eine so lange Rede in den Mund legt, zeigt, dass er gegen ähnlich lautende Argumente seiner jüdischen Zeitgenossen ankämpft. 8.2.3
Liberale Positionen zur Beschneidung
Wie wir schon gesehen haben, gab es auch in der Frage zur Beschneidung unterschiedliche Positionen. Zwar war die Beschneidung im Frühjudentum zur „exklusiven nota Iudaica“234 geworden und nach Gen 17 das Bundeszeichen schlechthin zwischen Gott und Abraham sowie dem ihm verheißenen Volk,235 allerdings gab es auch gegenläufige Tendenzen.236 So etwa hatte die Hellenisierungspolitik des Hohepriesters Jason (s.o. II.3.4.2) dazu geführt, dass Juden, die im neu errichteten Gymnasium trainierten, nach 2Makk 4,10–14; 1Makk 1,11–15; Josephus, A.J. 12,237–241 233
234 235 236
Feldmann, Phinehas, 328: „Zimri (Ant. 4.145–149) artfully summarizes arguments that assimilated Jews of Josephus’ day might have used; namely, his opposition to the tyranny of the commandments (Ant. 4.146, 149) and his advocacy of liberty of action (ἐλευθέρων, Ant. 4.146, a key word throughout the Antiquities).“ Pollmann, Gesetzeskritik, 25–65 („Josephus kennt wahrscheinlich gesetzeskritische Stimmen assimilierter Juden, die für Mischehen eintraten und legt diese Argumente dem Apostaten Simri in den Mund“, 46); Theißen, Religion, 291–294. Blaschke, Beschneidung, 360. Vgl. Blaschke, Beschneidung, 104. Vgl. Tiwald, Beschneidung, 223–240; Konradt, Kontext, 3–42; Theobald, Christus, 107–114.
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V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
von ihren Bräuchen abfielen und sich ihre Vorhaut wiederherstellen ließen. Auch das knapp nach der makkabäischen Revolte abgefasste Jubiläenbuch berichtet in 15,33, dass trotz der Machtübernahme durch die Makkabäer manche prohellenistische Kreise der Beschneidung gegenüber kritisch eingestellt blieben. Die von Philon kritisierten „extremen Allegoristen“ trieben Philons allegorische Bibelexegese auf die Spitze: Warum soll man sich noch an den Wortlaut der Gesetze halten, wenn sich der wahre Sinn ohnehin in der Symbolik erschließt? Wenn Philon die Beschneidung etwa dergestalt deutet, „daß wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen“ (Migr. 92, Text s.o. III.7.3), dann benötigt man die körperliche Beschneidung gar nicht mehr. Philon wehrt sich gegen dieses Missverständnis, indem er auch den Literalsinn – und damit die reale Beschneidung – verteidigt. Doch scheint die Argumentationsfigur der „extremen Allegoristen“ weiter verbreitet gewesen zu sein, als die Notiz bei Philon vermuten lässt: Auch Paulus argumentiert ähnlich, wenn er in Röm 2,29 die Vorschriften des Gesetzes nur mehr ἐν πνεύματι οὐ γράμματι („im Geist, nicht im Buchstaben“) befolgen will. Philon selbst tadelt zwar die εὐχερεία, die „Leichtfertigkeit“ dieser Leute, doch „ist zu bemerken, dass Philons Kritik ungewöhnlich milde ausfällt.“237 Er sieht zumindest keine Handhabe, ihnen ihr Judesein abzusprechen, verlangt „keine Verklagung oder Bestrafung“ und spricht sie auch „nicht als Renegaten an.“238 Über die Größe dieser Gruppe lässt sich nur spekulieren, immerhin sind es doch „einige“ (τινες) und „Philon nahm sie so ernst, daß er ihren Argumenten begegnen zu müssen glaubte …“239 Die von Josephus, A.J. 20,34–36 angesprochene Konversion des Izates wurde bereits ausführlich behandelt (s.o. V.8.1.4). Diesbezüglich vermutet M. Konradt, „dass Ananias’ Position [sc.: Izates muss sich nicht beschneiden lassen, um ein richtiger Jude zu werden] nicht allein eine Notlösung aus politischer Rücksichtnahme war [sc.: Izates würde als Beschnittener in einem nichtjüdischen Land nicht als König akzeptiert], sondern einen umfassenderen sozialen Hintergrund besaß.“240 Man darf annehmen, dass Josephus diese Geschichte samt langatmigem Austausch von Argumenten wiedergibt, um liberale jüdische Zeitgenossen von der Notwendigkeit der Beschneidung von Proselyten zu überzeugen. In der Assumptio Mosis 8,3 wird hingegen der Epispasmos erwähnt, die operative Wiederherstellung der Vorhaut. Das passt zum – bald nach der AssMos abgefassten – 1Kor 7,18: Die Tatsache, dass Paulus vom Epispasmos abraten muss,
237 238 239 240
Doering, Schabbat, 348. Vgl. Löhr, Speisenfrage, 22f. Doering, Schabbat, 348. Doering, Schabbat, 347. Konradt, Kontext, 25.
8. Die „Hellenisten“
355
macht deutlich, dass einige Judenchristen die Möglichkeit nutzen, mit ihrem neuerworbenen Glauben an Christus das vermeintliche „Stigma“ der Beschneidung (zumindest nach hellenistischen Maßstäben) loszuwerden. Auch das Zweite Baruchbuch, das um 100 n. Chr. in Palästina entstand, rechnet in 66,5 damit, dass zu dieser Zeit Juden auf Abstand zur Beschneidung gingen.241 P. Schäfer nimmt an, dass einige Juden die Hellenisierungspolitik Hadrians begeistert aufgenommen haben und nennt dafür Passagen aus Or. Sib. 5,46–50, die Umbenennung von Sepphoris in Diocaesarea zu Ehren des Hadrian schon vor dem Aufstand (130 n. Chr.) und den Bau eines Hadrianeions in Tiberias. Diese Sympathisanten hatten den Epispasmos praktiziert und wurden gemäß tShab 15(16),9 nach dem Bar Kochba-Aufstand neu beschnitten.242 Der Bericht von Suetonius zum fiscus Iudaicus unter Domitian (DeVitCaes/Domitianus 2,2; Text s.o. I.2.2.8) erwähnt jene, welche die ihrem Volke auferlegten Zahlungen nicht geleistet hatten, da sie ihre Herkunft verheimlichten (dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent). Mit der Formulierung dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent sind beschnittene Juden erwähnt, die ihr Judesein verheimlichten – entweder, weil sie vom jüdischen Glauben abgefallen waren, oder einfach nur, weil sie nicht zahlen wollten. Auch hier wird deutlich, dass manche Juden die Beschneidung kritisch sahen. Widerstand gegen ein automatistisches Verständnis, dass körperliche Beschneidung Heil und Bundeszugehörigkeit garantiert, findet sich bereits im AT: Dtn 10,16; Ez 44,7.9; Jer 4,4; 9,24f. betonen mit der „Beschneidung des Herzens“, dass der eigentliche Heilswert der Beschneidung weniger in einem körperlichen Ritus zu sehen ist, sondern in einer inneren Haltung. Natürlich ersetzt an keiner dieser Stellen die „Beschneidung des Herzens“ die konkrete Beschneidung des Leibes. Aber es wird eine Wertung vorgenommen: Ohne Beschneidung des Herzens ist auch die Beschneidung des Leibes sinnlos. Ganz auf dieser Linie liegt 1QS V,5: 5 … zu beschneiden in der Einung ( )ביחדWesensvorhaut und Halsstarrigkeit, um ein Fundament von Wahrheit für Israel zu gründen, für die Einung eines Bundes 6 der Ewigkeit ()ליחד ברית עולם, um zu entsühnen alle die Willigen zu einem Heiligtum in Aaron und zu einem Haus der Wahrheit in Israel, und die sich ihnen anschließen zu Einung ()ליחד, Rechtsstreit und Recht, 7 um als Frevler zu erweisen alle Gesetzesübertreter.
241
242
Da der in 2Bar 66,5 referierte biblische Prätext zu den Reformen des Joschija (2Kön 23,4–25; 2Chr 34,1–7.33; 35,1–19) keinerlei Hinweis auf die Tötung von unbeschnittenen Volksgenossen liefert, darf man vermuten, dass 2Bar 66,5 auf eine aktuelle Problematik Bezug nimmt. So zumindest die Deutung bei Konradt, Kontext, 25. Vgl. Schäfer, Aufstand, 46: „… wir haben es offensichtlich mit jüdischen Assimilanten zu tun, Römerfreunden (im politischen wie kulturellen Sinne), die sich … der umfassenden griechisch-römischen Kultur angepasst hatten.“
356
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Hier wird die Beschneidung des Herzens expressis verbis mit der Mitgliedschaft im qumranitischen Jachad gleichgesetzt. Während liberale Gruppierungen wie die extremen Allegoristen eine metaphorisch gedeutete „Beschneidung des Herzens“ als inklusives Kriterium deuteten, um den Kreis der Erlösten auch über die beschnittenen Juden hinaus zu weiten, dient die Rede von der „Beschneidung des Herzens“ in Qumran als exklusives Kriterium, um noch einmal zwischen körperlich Beschnittenen (= allen Israeliten) und den „Beschnittenen des Herzens“ (= dem Jachad) zu unterscheiden (ebenso 1QpHab XI,12–15; 4Q434 Frg. 1 I,4 oder 4Q184 Frg. 2). Eine ähnliche Relativierung zwar nicht der Beschneidung, aber der Abrahamskindschaft findet sich bei Johannes dem Täufer in Mt 3,9/Lk 3,8 (vgl. Joh 8,39; Röm 9,7). In eschatologisch orientierten Kreisen des Frühjudentums wurde erwartet, dass der Riss zwischen Erlösten und Verdammten auch quer durch Israel verlaufen würde – Beschneidung und Abrahamskindschaft waren keine Garantien mehr für eine sichere Erlösung, nötig war vielmehr ein heilsrelevantes, eschatologisches „Sonderwissen“, das zumeist an offenbarungsrelevante Mittlergestalten gebunden war (s.o. V.5.2.2). So urteilt L. Stuckenbruck zu 1Hen 93,10: „First membership in Israel is no guarantee of future salvation … Second, the author characterises the ‚chosen ones‘ as those who will be endowed with special knowledge.“243 Damit wird klar, dass die Beschneidung nicht mehr alleinig heilsstiftende Exklusivität besaß, sondern die deutende Kompetenz eines heilsrelevanten Tora-Interpreten nötig machte. Dies konnte der Lehrer der Gerechtigkeit, Henoch oder Esra sein – für das frühe Christentum war es Jesus von Nazaret. Damit konnte die grundsätzliche Heilsnotwendigkeit der körperlichen Beschneidung zumindest für Proselyten in Frage gestellt werden. Dieses galt umso mehr, als hellenisierte Kreise des Frühjudentums ohnehin unter den Restriktionen litten, die ihnen von Ritual- und Reinheitsgeboten auferlegt waren. 8.2.4
Liberale vs. restaurative Konzepte und das „Parting of the Ways“
Anknüpfend am jesuanischen Konzept der „offensiven Reinheit“ (nicht die Unreinheit steckt an, sondern die Reinheit der nun anbrechenden Königsherrschaft Gottes macht alles rein, s.o. V.5.2.3), konnten jene liberalen Diasporajuden, die in Apg 6 als „Hellenisten“ bezeichnet werden (s.o. V.8.1), den jesuanischen Impuls kreativ weiterführen: Unter den Vorzeichen eschatologischer Naherwartung wird nun eine liberale Interpretation von Ritual- und Reinheitsgeboten vertreten. Beschneidung, Tempelkult und Kaschrut werden dabei – ähnlich wie von den extremen Allegoristen – rein metaphorisch und ethisch gewertet. Solche liberalen Ideen traten in Konflikt mit gegenläufigen restaurativen Vorstellungen im palästinischen Judentum (Judäa, jüdisches Galiläa, Gaulanitis). Archäologisch lässt sich 243
Stuckenbruck, 1Enoch, 124.
8. Die „Hellenisten“
357
dort ab der Mitte des 1. Jh. v. Chr. die Entstehung eines Household Judaism feststellen:244 Im jüdischen Haushalt werden kultische Reinheitspraktiken dominant, wie Ritualbäder (miqwaot) und für rituelle Verunreinigung unempfindliche Steinbecher. Dies belegt die auch von Pharisäern bekannten (s.o. III.2.4.2) Tendenzen, rituelle Reinheitsgebote des Tempelkults, die ursprünglich nur für Tempelpriester galten, auf das privat-häusliche Leben auszudehnen: „Der Tisch im Haus eines jeden Juden ist wie der Tisch des Herrn im Jerusalemer Tempel.“245 Besonders unter Agrippa I. (s.o. II.5.5.3) kam es dann zu einem Schub an restaurativen Vorstellungen, wie Josephus A.J. 19,331 und mSot 7,8a belegen. Dieses Klima führte zur Vertreibung der „Hellenisten“ aus Jerusalem, wie Apg 8,1 berichtet. Wahrscheinlich ging diese Vertreibung aber nicht nur von gesetzesobservanten Juden aus, sondern fand auch Gehör bei gesetzesobservanten Judenchristen: Die in Apg 6,1 genannten Streitigkeiten zwischen „Hebräern“ und „Hellenisten“ haben wohl nicht nur die Witwenversorgung betroffen – diese Verkürzung ist den harmonisierenden Tendenzen des dritten Evangelisten geschuldet, denn auch Apg 21,20 berichtet von konservativ-gesetzestreuen Kreisen in der Jerusalemer Urgemeinde. Damit wird ein Doppeltes klar: Erstens, dass die Frage der Beschneidung von Proselyten sowohl im Frühjudentum als auch im Frühchristentum unterschiedlich gewichtet werden konnte.246 Und zweitens, „… dass mit der Teilhabe von nicht-jüdischen Sympathisanten am synagogalen Leben und ihrer (partiellen) Integration darin der Boden bereitet war, auf dem der Gedanke einer beschneidungsfreien Völkermission in der christusgläubigen Bewegung entstehen und gedeihen konnte.“247 Ohne es zu wollen, war mit der Billigung der beschneidungsfreien Heidenmission am Apostelkonvent (s.o. III.10.4.2) der Weg für die spätere Trennung von Juden und Christen bereitet. Was ursprünglich angesichts der Parusieerwartung nur als temporäre Maßnahme (bis zu der als unmittelbar bevorstehend erwarteten Wiederkunft des Herrn) gedacht war – und auch nur als Zugeständnis der judenchristlichen Mehrheit in Jerusalem gegenüber der heidenchristlichen Minderheit in Antiochia –, erwies sich durch das Abwandern der Judenchristen 244
245 246
247
So die Bezeichnung von Berlin, Life, 417–470. Zu ähnlichen Schlüssen kommen: Adler, Purity, passim; Charlesworth, Temple, 395–442; Jensen, Purity, 3–34 („household purity grew to the extent it did with ritual baths, stone utensils and even oil lamps made of holy Jerusalem-clay“, a.a.O. 34); Amit/Adler, Observance, 121–143. Neusner, Judentum, 24f. Vgl. auch Mußner, Toraleben, 38. Vgl. Konradt, Kontext, 25, der zum Schluss kommt, dass es im Frühjudentum „unterschiedliche Haltungen zur Notwendigkeit der Beschneidung von Nichtjuden gegeben hat …“ Zur Thematik auch die Monographie von N. Livesey, Circumcision as a Malleable Symbol (2010), die allerdings die volle Tragweite der Ansätze der extremen Allegoristen oder des bei Josephus genannten Ananias nicht erkennt. Ebenso Theobald, Christus, 111: „Indizien legen nahe, dass das Diasporajudentum die Beschneidung für eine Teilhabe von Nicht-Juden am Abraham-Bund nicht als unabdingbar erforderlich ansah.“ Konradt, Kontext, 26.
358
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
aus Jerusalem (und wohl aus ganz Palästina, s.o. I.2.2.6) im Zuge der beiden Jüdischen Kriege und die immer stärker werdende Dominanz der Heidenchristen im Nachhinein als Startpunkt des erst später vollendeten „Parting of the Ways“. Das was später trennte, war allerdings auch, was vorher verband: Die Diskussion, wie intensiv Reinheits- und Ritualtora gelebt werden müssen. Der Bruch lief zunächst allerdings nicht zwischen „Juden“ und „Christen“, sondern zwischen einer „liberaleren“ und einer „konservativeren“ Lesart sowohl innerhalb des Judentums wie auch innerhalb des beginnenden Christentums (s.u. Anhang Spektrum Frühjudentum und beginnendes Christentum).
9.
Paulus
9.1
Biographie
9.1.1
Paulus vor seiner „Bekehrung“
Am wahrscheinlichsten ist, dass der in Tarsus geborene (Apg 22,3; vgl. Gal 1,21, wo Kiliken totum pro parte für Tarsus stehen könnte) Paulus „erst in Jerusalem mit der pharisäischen Bewegung in Kontakt gekommen ist.“248 Wie wir bereits gesehen haben (s.o. III.2.3.2), gab es keine „Diasporapharisäer“. Es wäre aber möglich, dass die Eltern oder eher (Ur-)Großeltern des Paulus aus Palästina verschleppte Sklaven waren. Denkbar wäre dies etwa im Zuge der Eroberung Jerusalems durch Pompeius 63 v. Chr. Das römische Bürgerrecht hätte Paulus dann als Nachkomme von freigelassenen Sklaven erhalten.249 Seine Selbstbezeichnung als „Hebräer von Hebräern“ (Ἑβραῖος ἐξ Ἑβραίων, Phil 3,5; vgl. 2 Kor 11,22; Gal 1,13–24; Röm 11,1– 29) spielt hingegen auf die Herkunft der Familie an: „Hebräer“ waren nach Apg 6,1 Juden aus Palästina im Unterschied zu „Hellenisten“, den Diasporajuden.250 248 249
250
Stemberger, Pharisäer, 112; weiters: ders., Paul, 66f.; Tiwald, Hebräer, 412–415. Zum römischen Bürgerrecht des Paulus vgl. Schnelle, Paulus, 44–47. Anders aber Koch, Geschichte, 335–340, für den die Gründe gegen ein römisches Bürgerrecht überwiegen (Koch, a.a.O. 355f., sieht die Überstellung des Paulus nach Rom durch die besondere politische Brisanz des Falles begründet, was kaum überzeugt). Da freigelassene Sklaven das römische Bürgerrecht automatisch erhielten, könnte Paulus das Bürgerrecht als Nachkomme eines solchen Freigelassenen erhalten haben (vgl. Apg 22,28). Auch Philon berichtet in Legat. 155, dass in Rom etliche jüdische freigelassene Sklaven lebten, die nun das römische Bürgerrecht besaßen. Und Apg 6,9 berichtet von der Synagoge der Libertiner, also ebenfalls von freigelassenen Juden (lat. libertinus, „freigelassen“). Zusätzlich ist zu bedenken, dass ab dem Zweiten Triumvirat (43 v. Chr.) und den anschließenden Kriegen im Osten des Reiches das römische Bürgerrecht recht großzügig an verbündete Städte verliehen wurde (vgl. dazu Sherwin-White, Citizenship, 306–311). Vgl. dazu Gutbrod, Art. Ἰουδαῖος, 374; Wanke: Art. Ἑβραῖος, 894; Tiwald, Hebräer, 177–183.
9. Paulus
359
Eventuell hatte Paulus tatsächlich noch Verwandte in Palästina, was zu dem in Apg 23,16 erwähnten Jerusalemer Neffen passen würde. Vielleicht stand diese Familie tatsächlich den Pharisäern nahe, woraus Lukas aufgrund seiner pharisäerfreundlichen Attitüde (vgl. Lk 13,31; Apg 5,34–39; 15,5; 22,3) Paulus in Apg 23,6 zum „Sohn von Pharisäern“ machte. Dies ist allerdings übertrieben: „Die häufig vermuteten ‚Diasporapharisäer‘ mit eigenen ‚hellenistischen‘ Lehrhäusern außerhalb Eretz Israel gab es … nicht. Die strenge Einhaltung der Tora und damit auch ihre exakte ... Erforschung war unmittelbar nur im Heiligen Land möglich …“251 Daher war Paulus in seiner Kindheit sicherlich noch kein Pharisäer, sondern wuchs im liberalen Umfeld des Diasporajudentums auf,252 wo wahrscheinlich ähnliche Positionen vertreten wurden, wie jene der extremen Allegoristen (s.o. V.8.2.3). Neben den verwandtschaftlichen Beziehungen gab es zwischen Tarsus und Jerusalem aber auch exzellente politische und ökonomische Kontakte. Man kann annehmen, dass der Zeltmacher aus Tarsus schon lange vor dem Damaskusereignis Jerusalem (geschäftlich, privat oder als Tempelpilger) besucht hatte. Bei so einem Aufenthalt könnte es zu einer „Konversion“ zum „Pharisäer … untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt“ (Phil 3,5f.) gekommen sein. Durch das Damaskusereignis erlebt Paulus dann keine Bekehrung vom Juden zum Christen unter Aufgabe seines Judeseins, sondern eine Art „Reversion“, eine Rückkehr zur liberalen Gesetzesauslegung seiner Jugendzeit – nun aber unter den Vorzeichen seines Glaubens an Christus. Nur so lassen sich die unterschiedlichen Deutungen des Damaskusereignisses als „Bruch“ (Phil 3,8) oder als kontinuierliche Entwicklung (Gal 1,14) miteinander versöhnen. 9.1.2
Lehrjahre
Wahrscheinlich hat der christliche Paulus das Handwerk des Missionars in Antiochia gelernt (Apg 11,26; 13,1 wird hier durch Gal 1,21; 2,11–14 bestätigt, s.o. III.10.4.1). Hier übernimmt er Positionen, wie wir sie bereits für die „Hellenisten“ 251 252
Hengel, Stellung, 28. Apg 22,3 will glauben machen, dass Paulus zwar in Tarsus geboren, doch schon seit seiner Kindheit in Jerusalem aufgewachsen wäre (ἀνατεθραμμένος δὲ ἐν τῇ πόλει ταύτῃ, dazu: van Unnik, Tarsus, 259–320) und Schüler von Gamaliel I. war. In der Regel wird der Geschichtswert dieser Aussage bezweifelt (vgl. den Überblick: Tiwald, Hebräer, 167–183), da Paulus an keiner einzigen Stelle seiner Homologumena ein Aufwachsen in Jerusalem oder eine Ausbildung bei Gamaliel erwähnt – auch nicht in Phil 3,5 oder 2Kor 11,22, wo es gut zum Überbietungsschema gepasst hätte. Von Gamaliel I. (s.o. II.6.2.4) wird an keiner Stelle gesagt, dass er eine eigene Schule gegründet habe (vgl. Stemberger, Paul, 68f.). Wenn es aber stimmt, dass Gamaliel I. auf den Stufen des Tempelbergs lehrte (tSanh 2,6; vgl. mOrla 2,12), „we probably have to think of Saul [sc. dem vorchristlichen Paulus] being witness to some of Gamaliel’s public appearances and decisions rather than of formal discipleship“ (Stemberger, Paul, 69).
360
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
veranschlagen konnten. In Apg 13,1 wird Paulus noch als Letzter in einer Liste von „Propheten und Lehrern“ geführt, als frischgebackener „Missionar“ ist er dann der „Juniorpartner“ von Barnabas, der ihn schon früher unter seine Fittiche genommen hatte (vgl. Apg 11,25.30; 12,25; 13,2.7). Langsam scheint Paulus aber aus dem Schatten des Barnabas getreten zu sein (ab Apg 13,43 wird Paulus als Erster genannt).253 In Apg 15,37–39 wird dann vom παροξυσμός, einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Paulus und Barnabas, berichtet. Ob der Grund dafür wirklich in der unbedeutenden Person des Johannes Markus lag, wie Lk hier glauben machen will? Wahrscheinlich ist dies der verschleiernden Darstellungsweise des Lk geschuldet. Dieser berichtet von dem Zerwürfnis knapp nach dem Antiochenischen Zwischenfall (s.o. III.10.4.2), den Paulus und Barnabas noch einmütig miteinander durchgestanden hätten. Gal 2,13 aber setzt den Streit mit Barnabas schon im Zusammenhang mit dem Antiochenischen Konflikt an, was viel überzeugender ist. Wahrscheinlich stellte sich Barnabas auf die Seite des Petrus, was zum Zerwürfnis mit Paulus führte, der sich nun von seinem früheren Lehrer trennte.
9.2
Theologie
9.2.1
Das „Gesetz“ bei Paulus
Der Ausdruck νóμος, „Gesetz“, erweist sich bei Paulus254 – in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch des damaligen Judentums (s.o. V.1) – als polysemer Begriff, der unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet und in unterschiedlichsten Zusammenhängen erwähnt wird.255 Daher muss man vorsichtig sein, wenn man Paulus eine „Abrogation der Tora“256 unterstellen möchte. Zunächst ist zu klären, was Paulus an der jeweiligen Stelle überhaupt meint.
253
254 255
256
Anders aber noch das alte Traditionsstück Apg 14,8–20 (vgl. auch 15,25). Hier passiert Lk der „Lapsus“, Paulus und Barnabas gegen seine Gewohnheit als „Apostel“ zu bezeichnen, hier wird auch Barnabas als Erster genannt – bezeichnend auch, dass er und nicht Paulus als „Zeus“ gesehen wird. Hier schimmert die alte Rangordnung unter dem Neuanstrich des Lk noch einmal durch. Vgl. dazu auch Konradt, Datierung, 21. Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Art. Gesetz, 303–308; ebenso ders., Hebräer, 184–415. In Röm 3,19; 1Kor 14,21 bezeichnet der Ausdruck das ganze AT, in Röm 3,21; Gal 3,10 nur den Pentateuch, in Röm 7,7; 13,8f. gar nur den Dekalog als Inbegriff des Pentateuchs und in Röm 2,13b.14.25.27; 4,15 nur bestimmte Forderungen aus dem Gesetz. Darüber hinaus kann νóμος auch nur eine allgemeine Regel oder Ordnung (Röm 3,27 und 8,2: Gesetz des Glaubens/des Geistes/der Sünde/des Todes) benennen. So etwa Schnelle, Wandlungen, 74.
9. Paulus
9.2.2
361
„Werke des Gesetzes“ und „Liebesgebot“
Röm 3,21257 kann als die „theologische und architektonische Mitte des Römerbriefs“258 bezeichnet werden, obendrein als locus classicus der Paulusforschung, an dem oft eine postulierte Abrogation des jüdischen Gesetzes durch Paulus gesehen wurde:259 Röm 3,21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz (χωρὶς νόμου) die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, bezeugt vom Gesetz und von den Propheten (μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν) 22 die Gerechtigkeit Gottes durch Glauben an Jesus Christus, offenbart für alle, die glauben. … 28 Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes (χωρὶς ἔργων νόμου).
V 21 scheint in sich unlogisch zu sein: Wie kann „unabhängig vom Gesetz“ (χωρὶς νόμου) Gottes Gerechtigkeit offenbart werden, wenn sie doch „bezeugt vom Gesetz (μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου) und von den Propheten“ gedacht wird? Es wird klar, dass diese Gerechtigkeit aus Glauben nicht am Gesetz vorbeigeht, sondern dieses erfüllt.260 Der Widerspruch löst sich auf, wenn man in der Formulierung χωρὶς νόμου („unabhängig vom Gesetz“) eine Zurückweisung der für Paulus obsoleten Ritual- und Reinheitsgebote erkennt – nur hier ist der Gläubige „frei vom Gesetz“ (vgl. auch Röm 7,6; Gal 5,1).261 Dies legt sich auch in V 28 nahe, wo Paulus die Phrase χωρὶς νόμου („unabhängig vom Gesetz“) zu „unabhängig von Werken des Gesetzes“ (χωρὶς ἔργων νόμου) weitet. Die Formulierung ἔργα νόμου („Werke des Gesetzes“) ist zwar nicht als durchgängiger terminus technicus für eine auf rituelle Fragen bezogene Gesetzesinterpretation belegt, doch legt sich eine gewisse Prägung dieses Syntagmas in solch eine Richtung nahe.262 In den Qumranschriften begegnet in 4QMMTe (= 4Q398 Frg. 14 II,3) mit dem Ausdruck מעשי התורה („Werke der Tora“)263 das hebräische Äquivalent zu den ἔργα νόμου, auch hier
257 258 259 260 261
262
263
Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Glaube, 165–175. Theobald, Gottesbild, 131 (unter Zitation von O. Kuss). Vgl. den Überblick bei Wengst, Gerechtigkeit, 139–141. Vgl. Theobald, Römerbrief I, 99. Vgl. dazu Haacker, Römer, 86: „Daß diese Gerechtigkeit sich ‚abseits vom Gesetz‘ offenbart hat, scheint sich nur auf die abgelehnte These einer Rechtfertigung auf Grund von Gesetzeshandlungen zu beziehen; denn Paulus beeilt sich förmlich, die bleibende Autorität der Schrift als Offenbarung zu bekräftigen … so daß die urchristliche Botschaft … keine neue Religion propagiert.“ Vgl. den Forschungsüberblick zur Deutung der ἔργα νόμου bei Bachmann, Rechtfertigung, 5–12; ders., Keil, 70–80; Schröter, Paul, 106–112. Ein Vergleich der paulinischen ἔργα νόμου mit den in 4QMMT erwähnten מעשי התורהist legitim. In der LXX werden 158 aus insgesamt 235 Nennungen von מעשהmit ἔργον wiedergegeben, während 193 aus insgesamt 223 Erwähnungen von תורהmit νόμος übersetzt werden. Vgl. Abegg, 4QMMT, 205; Dunn, Works, 160–169.
362
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
genau wie bei Paulus in Zusammenhang mit der Frage, was man tun muss, damit es von Gott „als Gerechtigkeit“ ( ;לצדקה4Q398 Frg. 14 II,7) angerechnet wird.264 Auch wenn der Ausdruck „Werke der Tora“ singulär in den Qumrantexten dasteht, so ist doch die Formulierung ( מעשי בתורהWerke in der Tora) weiter verbreitet (etwa 1QS V,20–24; VI,18; 4Q258 II,1–5). Der Ausdruck „Werke in der Tora“ gibt hier genau zähl- und messbare Verhaltensweisen wieder, die in 1QS V im Kontext von Reinheitsvorschriften erwähnt werden. Das deckt sich mit 2Bar 57,2, wo der syrische Text von „Werken der Gesetzesvorschriften“ spricht, deren Erfüllung für die Rettung im Endgericht nötig ist. 2Bar hebt hier auf den Unterschied zwischen Israel und den Heiden ab. Es legt sich nahe, dass auch hier kultische Vorschriften gemeint sind. Auch innerhalb der paulinischen Homologumena lässt sich eine Interpretation der „Werke des Gesetzes“ im Sinne der Kult- und Reinheitsvorschriften gut nachvollziehen. Der gesamte Passus Gal 1 – 4 zielt theologisch auf 5,3 ab, die Frage, ob sich Heidenchristen beschneiden lassen und die Speisevorschriften halten müssen. Genau dies ist mit den dort erwähnten ἔργα νόμου (Gal 2,16; 3,2.5.10) gemeint. So erwähnt Paulus in Gal 2,3–6, dass ihm am „Apostelkonvent“ (vgl. Apg 15,1–30) „nichts auferlegt“ worden sei, nicht einmal die Beschneidung des Titus. Dem zum Trotz habe sich Petrus in Antiochia aber an die Speisevorschriften gehalten, wie Paulus in Gal 2,11–15 weiter ausführt, um dann in V 16 zu schließen, dass der Mensch nicht durch ἔργα νόμου gerecht wird, also nicht durch Beschneidung und Speisevorschriften.265 Die in Gal 3,6–18 erwähnte Beschneidung des Abraham entwickelt Paulus in Röm 4,10 weiter: Abraham war schon vor seiner Beschneidung durch den Glauben gerecht, somit ist die Beschneidung sekundär und nicht mehr unabdingbar für das Heil wie der Glaube (vgl. Röm 3,20.28). Den Vorrang von Gnade und Glaube vor der Beschneidung rechtfertigen ebenso Röm 4,2.6; 9,32; 11,6. Da der Glaube des Abraham schon vor der am Sinai erlassenen Gesetzgebung heilsentscheidend war, hat er die Priorität vor dem „vierhundertdreißig Jahre später erlassenen Gesetz“ (Gal 3,17), also vor der Sinaitischen Gesetzgebung. Diese Argumentationsfigur aber erinnert an Philon, der ebenfalls die Posteriorität der Sinaitischen Gesetzgebung im Vergleich zum naturgemäßen Glauben der Patriarchen betont (s.o. V.2.2). Den Sinn der gesamten Gesetzgebung sieht Philon genauso wie Paulus im Liebesgebot“:266 Philon kommt in Spec. 2,63 nicht nur zu ähnlichen theologischen Schlüssen wie später Paulus in Röm 13,8–10, beide Autoren verwenden auch ähnliche Fachterminologie: 264
265 266
Zu Berührungspunkten der paulinischen ἔργα νόμου mit den מעשי התורהin 4QMMT vgl. Bachmann, 4QMMT, 33–56. Ähnlich auch Heil, Speisegebote, 168. Zum doppelten Liebesgebot im Frühjudentum: Doering, Nächstenliebegebot, 32–39. Das Liebesgebot wie auch das Gebot der Feindesliebe begegnet besonders in den Testamenten der Zwölf Patriarchen (s.o. III.8.4), bes. TestIss 5,2; 7,6 und TestDan 5,3 (dazu Konradt, Söhne, 348–
9. Paulus
363
Spec. 2,63 Und es gibt so zu sagen zwei Grundlehren (δύο τὰ ἀνωτάτω κεφάλαια), denen die zahllosen Einzellehren und -sätze untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit (τό τε πρὸς θεὸν δι᾽ εὐσεβείας καὶ ὁσιότητος), in Bezug auf Menschen das der Nächstenliebe und Gerechtigkeit (τὸ πρὸς ἀνθρώπους διὰ φιλανθρωπίας καὶ δικαιοσύνης); jedes dieser beiden zerfällt wieder in vielfache, durchwegs rühmenswerte Unterarten. Röm 13,8 Niemandem bleibt etwas schuldig, außer der gegenseitigen Liebe! Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst (ἀνακεφαλαιοῦται): Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.
Beide Autoren unterstreichen die Zentralität des Liebesgebots mit ähnlichen Formulierungen. Philon bezeichnet das Doppelgebot als κεφάλαια (kephalaia, „Hauptgebote“; ein κεφάλαιον ist ein Hauptpunkt).267 Paulus gebraucht die gleiche Wortwurzel: ἀνακεφαλαιοῦται (anakefalaioutai; ἀνακεφαλαιόω meint, in Hauptpunkten zusammenfassen). Die Frage, welches unter den vielen Geboten das wichtigste sei, war im damaligen Judentum virulent, wie schon Mk 12,28 belegt. Paulus gibt darauf die gleiche Antwort wie Philon, nur dass Philon im Unterschied zu Paulus auch noch weiterhin an den Ritual- und Reinheitsvorschriften festhält. Paulus kommt damit der Gesetzesinterpretation der extremen Allegoristen ausgesprochen nahe (s.o. V.8.2.3). Für ihn ist das Liebesgebot zentral, während die ἔργα νόμου als „gesetzliche Regelungen, welche primär die kultische Reinheit betreffen“,268 obsolet sind. Eine auf Kult- und Reinheitsfragen zugespitzte Gesetzesinterpretation wie er sie früher als „Pharisäer nach dem Gesetz“ (Phil 3,5) praktizierte, erscheint ihm nun als „Unrat“ (Phil 3,8). Gültig aber bleibt für Paulus eine nichtkultische Interpretation der Tora – etwa als Erfüllung der „von Gesetz und Propheten bezeugten“ Heilsverheißungen Gottes an den Menschen (vgl. Röm 3,21) oder als ethisches Grundgesetz in der Interpretation als Liebesgebot (vgl. Röm 13,8 und Gal 5,14). Eine solche Unterscheidung zwischen „Zeremonialgesetz“ und „Sittengesetz“ gab es damals zwar noch nicht expressis verbis,269 allerdings inhaltlich sehr wohl,
267
268 269
380). Auch in Qumran (CD VI,20-VII,1 und 1QS I,1–4.9) gab es das Gebot der Nächstenliebe, das sich jedoch nur auf die eigene Gruppierung bezog, während man sich von gruppenfremden Juden distanzierte (1QS V,13–20). Auch in Jub 36,7f. heißt es: „7… Daß ihr solche seid, die ihr ihn [Gott] fürchtet und ihn verehrt 8 und indem ein jeder seinen Bruder liebt in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. …“ Dabei bedient sich Philon einer Argumentationsfigur der Stoa (Niehoff, Philo, 149–170). Bereits Kleanthes († ca. 232 v. Chr.), der zweite Leiter der stoischen Schule, nannte capita als Grundlagen der ethischen Ordnung. Da uns seine Schriften nur lateinisch erhalten sind, dürfte das griechische Equivalent wohl kephalaia gelautet haben (a.a.O. 153). Bachmann, 4QMMT, 52. So zu Recht die Kritik von Wolter, Zeremonialgesetz, 341, und Niebuhr, Gesetzespraxis, 22.
364
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
wie wir in der Unterscheidung zwischen naturgegebenem Sittengesetz und den auf Menschensatzung beruhenden Staatsgesetzen bei Philon (Migr. 88–94, s.o. III.7.4, Exkurs 1 und 2) klar sehen können. In gleicher Weise forderte auch schon der Aristeasbrief 144–150, die Speisevorschriften des mosaischen Gesetzes von ihrem ethischen Symbolgehalt her zu verstehen (s.o. V.8.2.1). Gerade im hellenistischen Frühjudentum ist eine fortschreitende „‚Metaphorisierung‘ von Reinheit im Sinn einer moralischen Verfasstheit“270 festzustellen. Wenn die Tora aber nur mehr moralisch interpretiert wird, dann konnten liberale Juden (wie die extremen Allegoristen, Zambri, Ananias oder Paulus nach dem Damaskusereignis) die rituellen Aspekte der Tora für obsolet erklären. 9.2.3
Christus als „Ziel des Gesetzes“
Damit lässt sich auch der ominöse Satz τέλος γὰρ νόμου Χριστός (Röm 10,4) neu beurteilen, an dem sich seit jeher das Urteil der Neutestamentler scheidet, ob Christus nun das „Ende“ oder die „Erfüllung“ des Gesetzes darstellt.271 „Allein vom Wortgebrauch her lässt sich das paulinische Verständnis der Wendung τέλος τοῦ νόμου nicht ermitteln ...“272 – der Wortgebrauch von τέλος ist bei Paulus zu schillernd (zwölfmal in den paulinischen Homologumena). Allerdings wird τέλος bei Paulus kein einziges Mal im Sinne eines „Zu-Ende-Gehens“ verwendet. „Selbst wenn eine durchgehende Grundbedeutung des Wortes bei Paulus nicht grundsätzlich gegeben ist, lassen sich doch alle Verwendungen aus einer gemeinsamen Grundbedeutung her ableiten, nämlich dem ‚Zulaufen auf eine endgültige Bestimmung hin‘.“273 Damit wird klar, dass in Christus das jüdische Gesetz nicht zum Ende, sondern zu seiner tiefsten Erfüllung gekommen ist. Hier legt sich eine Parallele Röm 13,8–10 und Gal 5,14 nahe: So wie das ganze Gesetz im Liebesgebot „erfüllt“ ist (πεπλήρωται; Gal 5,14) bzw. wie in einem Hauptsatz „zusammengefasst“ ist (ἀνακεφαλαιοῦται; Röm 13,9), so findet das Gesetz auch in Christus sein „Ziel“. Der Argumentationsbogen schließt sich in Gal 6,2, wo Paulus von der Liebe („einer trage des anderen Last“) als dem „Gesetz Christi“ sprechen kann. 9.2.4
Posteriorität der Sinaitischen Tora
Schon oben haben wir gesehen, dass die „Tora“ im Frühjudentum als Schöpfungsordnung interpretiert wurde (s.o. V.2.1.2), die erst nachträglich in der Sinaiti-
270 271
272 273
Heil, Absonderung, 156. Vgl. die Forschungsüberblicke bei Haacker, Ende, 127–129; Tiwald, Hebräer, 204–214; Reinbold, Ziel, 297–312. Schnelle, Paulus, 384. Tiwald, Hebräer, 212. Vgl. die Einzelanalyse der Stellen: a.a.O., 206–212.
9. Paulus
365
schen Tora ihre Ausformulierung erhielt. Bei Philon sind nach Abr. 5 die Sinaitischen Gesetze gar nur eine „Erinnerung“ an die gemäß der Schöpfungsordnung lebenden Patriarchen (ὑπομνήματα; s.o. V.2.2). Philon setzt diese Argumentationsfigur ein, um die Anciennität des Gesetzes zu unterstreichen: Nicht erst seit der Gesetzgebung am Sinai, sondern schon seit Erschaffung der Welt existiert das jüdische Gesetz. Bei Philon werden die Patriarchen „zu Männern, welche die lebendigen und vernünftigen Gesetze verkörpern“ (ἔμψυχοι καὶ λογικοὶ νόμοι ἄνδρες (Abr 1,5), da sie auch ohne Sinaitisches Gesetz einfach nach der φύσις, dem „Naturgesetz“, lebten. Das findet eine Parallele in Röm 2,14:274 Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben (μὴ νόμον ἔχοντα), von Natur aus (φύσει) das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz (ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος).
Durch das Naturrecht kann man also auch auf „natürlichem“ Weg das Gesetz erkennen. Wofür aber braucht es dann noch das Sinaitische Gesetz, dessen Posteriorität Paulus nun in Gal 3,17 und 4,22–31 betont? Paulus stellt hier die Argumentationsfigur Philons auf den Kopf (natürlich kannte Paulus weder Philon noch seine Schriften; die Parallelen in den Argumentationsfiguren zeigen lediglich, wie weit verbreitet solche Deutemuster waren): Nicht die Anciennität des Sinaitischen Gesetzes wird durch das Naturrecht bewiesen, sondern lediglich dessen Posteriorität! Vielleicht gebrauchten schon Leute wie die „extremen Allegoristen“ eine ähnliche Argumentation, denn genauso wie Paulus in Gal 4,22–5,3 bringt Philon in Migr. 94 die Geschichte von den beiden Söhnen des Abraham ins Spiel: Gal 4,22 Es steht doch geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin, den andern von der Freien. … 24 Das ist bildlich gesprochen: Diese Frauen bedeuten zwei Bundschlüsse. Der eine stammt vom Berg Sinai und gebiert zur Sklaverei; das ist Hagar … 28 Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid Kinder der Verheißung wie Isaak. … 30 In der Schrift aber heißt es: Stoß die Sklavin und ihren Sohn hinaus! Denn der Sohn der Sklavin soll nicht Erbe sein, zusammen mit dem Sohn der Freien. 31 Daraus folgt also, meine Brüder und Schwestern, dass wir nicht Kinder der Sklavin sind, sondern Kinder der Freien. … 5,1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft (ζυγῷ δουλείας) auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. 3 Ich bezeuge wiederum jedem Menschen, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Migr. 94 Siehst du nicht, daß auch dem weisen Abraham große und kleine Güter (μεγάλα ἀγαθὰ καὶ μικρὰ) zukommen, wie die Schrift sagt, und zwar nennt sie die großen „vorhandene Grundlage“ [sc. Gen 25,5 LXX], die allein der echte Sohn erben darf, die kleinen aber nennt er Geschenke, mit denen auch die unehelichen Söhne der Kebsweiber gewürdigt werden [sc. Gen 25,5f.]. Jene (substanziellen Gaben) gleichen den
274
Auch in Röm 1,26; 2,14; 1Kor 11,14; Gal 4,8 wird das Wort φύσις – „Natur(gesetz)“ – im Sinne der von Gott grundgelegten Schöpfungsordnung verwendet.
366
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum Naturgesetzen, diese den auf Menschensatzung beruhenden (Vorschriften) (ἐκεῖνα μὲν οὖν ἔοικε τοῖς φύσει, ταῦτα δὲ τοῖς θέσει νομίμοις).
Philon bezieht sich hier in seiner Auseinandersetzung mit den extremen Allegoristen (s.o. III.7.3) auf die Unterscheidung von „großen und kleinen Gütern“ (μεγάλα ἀγαθὰ καὶ μικρά) und bezieht die großen Güter auf die „Naturgesetze“ (τοῖς φύσει νομίμοις), die er mit dem Erbe des freien Isaak vergleicht. Die kleinen Güter hingegen vergleicht er τοῖς θέσει νομίμοις, mit den von Menschen festgesetzten Vorschriften, mit denen er hier auf die Ritual- und Reinheitsvorschriften fokussiert, während sich die Naturgesetze auf ethische Werte beziehen, wie aus dem Kontext (Text Migr. 89–93 und Auslegung s.o. III.7.3) klar hervorgeht. Philon und Paulus stimmen damit überein, dass Ritual- und Reinheitsvorschriften weniger nobel sind als die auf Ethik abzielenden Naturgesetze und daher mit der Sklavin Hagar korrespondieren. Die Konklusion aus diesem Syllogismus zieht nur Paulus – und vor ihm wohl auch schon Leute wie die extremen Allegoristen –, obwohl die beiden Prämissen bei Philon und Paulus übereinstimmen: 1. Prämisse: 2. Prämisse: Konklusion:
Das Sinaitische Gesetz ist nachträglich gegeben. Die nachträglichen Menschensatzungen entsprechen den Kindern der Hagar und fokussieren auf Ritual- und Reinheitsvorschriften. Die Sinaitischen Gesetze sind die Ritual- und Reinheitsvorschriften (vgl. die Nennung der Beschneidung in Gal 5,2f., die zur Verpflichtung auf das „ganze Gesetz“, also auch auf die Reinheitsvorschriften, führt). Diese sind sekundär und führen zum Sklavendienst (ζυγῷ δουλείας, Gal. 5,1), wie ja auch Hagar Sklavin ist.
Den Sinaitischen Bund gegen das Naturrecht auszuspielen, ist allerdings nicht erst Paulus eingefallen. Schon unter V.2.1 konnten wir sehen, dass bei Ben Sirach über das Weisheitsbuch bis hin zu 1Hen und 4Esr Vorstellungen proponiert werden, in denen Mose und das Sinaitische Gesetz nicht im Mittelpunkt stehen.275 Hier gibt es einen „appeal to revelation beyond that of Sinai.“276 Dies allerdings versteht man nicht als eine neue Lehre, sondern als eine Art Wiederherstellung der ursprünglichen Botschaft, „[to] enable Israel to return to the authentic teaching“,277 wofür man nun nicht nur auf den Sinai zurückgreift, sondern gleich auf die protologische Schöpfungsordnung.278 Das deckt sich übrigens wieder mit Paulus. Wenn er den Sinaitischen Bund als Sklavenbund abtut, so bricht er damit nicht mit dem Judentum als Ganzem, sondern spielt nur einen Bundesschluss – den
275 276 277 278
Vgl. Nickelsburg, Torah, 232–235; Macaskill, Wisdom, 45–47; Paganini, Judentum, 295–310. Goff, Wisdom, 73. Vgl. Macaskill, Wisdom, 89–91. Najman, Sinai, 13. Vgl. auch den programmatischen Titel der Studie von Najman: „Seconding Sinai“.
9. Paulus
367
Sinaitischen – gegen einen anderen – den Abrahamitischen Gnadenbund – aus.279 Daher spricht Paulus in Röm 9,4 auch von „den Bundesschlüssen“ im Plural. Der „neue Bund“ im Blut Jesu (1Kor 11,25) führt den Gnadenbund mit Israel weiter. Wie Röm 11,26–29 unmissverständlich klar macht, wird dieser Bund auch „ganz Israel“ retten – auch das nicht-jesusgläubige (!) Israel – denn „unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt.“ Dann wird auch, wie 2Kor 3,14 weiß, die Hülle, die den alten Bund jetzt noch verhüllt, abgetan, sodass dieser Bund in Christus seine tiefste Erfüllung findet.280 9.2.5
Die Ritual- und Reinheitstora als „Pädagoge“
Aus dem bisherigen Argumentationsgang ist klar geworden, dass für Paulus die Sinaitische Tora, die er mit Ritual- und Reinheitsvorschriften gleichsetzt, ein Provisorium ist, das mit Christus obsolet geworden ist. Welche Bedeutung aber hatte dann das Sinaitische Gesetz, also die Ritual- und Reinheitsvorschriften? Die Antwort gibt Gal 3,23–25: 23 Ehe der Glaube kam, waren wir vom Gesetz behütet, verwahrt, bis der Glaube offenbar werden sollte. 24 So ist das Gesetz unser Erzieher (ὁ νόμος παιδαγωγὸς ἡμῶν γέγονεν) auf Christus hin geworden, damit wir aus dem Glauben gerecht gemacht werden. 25 Nachdem aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dem Erzieher (οὐκέτι ὑπὸ παιδαγωγόν ἐσμεν).
Paulus vergleicht das Ritualgesetz (denn um dieses geht es, wenn man den Kontext von Beschneidungs- und Speisefragen bedenkt, s.o. V.9.2.2) hier mit einem „Pädagogen“, der uns in Zucht hält, damit wir nicht sündigen. Diese strenge Pädagogik hat für Paulus mit dem Kommen Christi und der Gnade ein Ende. Paulus verwendet auch hier stehende Argumentationsmuster des Frühjudentums. Wie wir oben schon gesehen haben (s.o. III.7.2.3), erklärt auch der Aristeasbrief die Speisevorschriften des mosaischen Gesetzes mit ihrem ethischen Symbolgehalt. Durch die Enthaltung von Speisen, die von „unmoralischen“ Tieren stammen, werden wir so konditioniert, dass wir selbst nicht unmoralisch handeln (so die Logik hinter Arist 144–150). Die Einleitung zu diesem Text offenbart den pädagogischen Wert solch einer Enthaltung:
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Vgl. Frankemölle, Frühjudentum, 250: „Paulus ist überzeugt, dass er mit dieser Lesart sich nicht vom Judentum trennt, wenn er auch mit der pharisäischen Tradition, die seine eigene war, d.h. mit der Sinai-Theologie und den dort verkündeten Weisungen in Konflikt gerät.“ Vgl. Tiwald, Hebräer, 209f. Hier wird nicht der Bund abgetan (wie noch die alte EÜ liest, korrigiert in der neuen EÜ), sondern lediglich die Hülle über dem Bund, denn das Subjekt des Hauptsatzes ist das Neutrum κάλυμμα, das in der folgenden Partizipialkonstruktion mit ἀνακαλυπτόμενον wieder aufgegriffen wird und daher das logische Objekt für das abschließende καταργεῖται bietet. Dazu: Klauck, 2. Korintherbrief, 40.
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V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum 139 Da nun der Gesetzgeber als Weiser, der von Gott zur Erkenntnis aller Dinge befähigt wurde, (dies) alles klar erkannte, umgab er uns mit undurchdringlichen Wällen und eisernen Mauern (περιέφραξεν ἡμᾶς ἀδιακόποις χάραξι καὶ σιδηροῖς τείχεσιν), damit wir uns mit keinem anderen Volk irgendwie vermischen, (sondern) rein an Leib und Seele bleiben … 142 Damit wir uns nicht besudeln und durch schlechten Umgang verdorben werden, umgab er uns von allen Seiten (πάντοθεν ἡμᾶς περιέφραξεν; eigentlich: umzäunte er uns von allen Seiten) mit Reinheitsgeboten in Bezug auf Speisen und Getränke und Berühren, Hören und Sehen. 143 Einerseits ist nämlich alles im Ganzen genommen hinsichtlich des natürlichen Sinnes gleich (τὸ γὰρ καθόλου πάντα πρὸς τὸν φυσικὸν λόγον ὅμοια καθέστηκεν; eigentlich: Nämlich auf das Ganze gesehen hat er [sc. Gott] alles hinsichtlich des natürlichen Sinnes gleich [sc. gleich rein] festgesetzt), da es ja durch eine Macht regiert wird, andererseits hat jedes für sich einen tieferen Sinn …
Obwohl alle Dinge von Natur aus rein sind, wie § 143 konstatiert (s.o. III.7.2.3), nimmt das Reinheitsgesetz die Juden mit seinen Vorschriften in eine Art „Schutzhaft“ vor der eigenen Unzulänglichkeit, indem es den Menschen „mit undurchdringlichen Wällen und eisernen Mauern umgibt“ und „von allen Seiten umzäunt“. Den Wert dieser Pädagogik vermag auch Paulus zu erkennen, allerdings fällt diese Funktion nun – durch Glaube und Gnade in Christus – weg: Durch die Gnade in Christus ist diese Pädagogik nicht mehr notwendig. Auf den didaktischen Wert der Speisegebote hebt auch Josephus in C. Ap. 2,171–174 ab: 171 … Es gibt ferner bei jeder Art von Bildung und Erziehung zwei Wege, den der mündlichen Belehrung und den der Angewöhnung durch Übung. 172 … Die Lakedaimonier und die Kreter z. B. pflegten durch Angewöhnung zu erziehen, nicht durch Belehrung, während die Athener und fast alle übrigen Griechen durch gesetzliche Vorschriften befahlen, was man tun oder lassen solle, und dabei keinen Wert auf praktische Einübung legten (τοῦ δὲ πρὸς αὐτὰ διὰ τῶν ἔργων ἐθίζειν ὠλιγώρουν). 173 Unser Gesetzgeber dagegen hat diese beiden Erziehungsweisen aufs sorgfältigste miteinander verbunden. Denn einerseits war er darauf bedacht, dass der Sittenübung die theoretische Anweisung nicht fehlte, und anderseits wollte er das in Worte gefasste Gesetz auch praktisch ausgeführt wissen, … 174 Ja, selbst bezüglich der Speisen (περὶ σιτίων), welche man essen dürfte und welche nicht, der Personen, die an dieser Lebensweise teilnehmen sollten (περὶ τῶν κοινωνησόντων τῆς διαίτης ἔργων; wörtlich: „und bezüglich der Werke, die an diesen Speisevorschriften Anteil haben sollen“), der Mühen, Anstrengungen in den einzelnen Gewerben, und wiederum bezüglich der Erholung von den Mühen stellte er in seinem Gesetz eine Regel und Richtschnur auf, damit wir unter ihm wie unter einem Vater und Gebieter (ὑπὸ πατρὶ τούτῳ καὶ δεσπότῃ) leben und weder absichtlich noch aus Unwissenheit (μήτε βουλόμενοι μηθὲν μήθ᾽ ὑπ᾽ ἀγνοίας) sündigen möchten.
Die beiden pädagogischen Instrumente sind die „mündliche Belehrung“ und die „praktische Einübung“ διὰ τῶν ἔργων, durch das Verrichten von „Werken“. Bei diesen „Werken“ handelt es sich περὶ τῆς διαίτης ἔργων, „um Werke der Speisevorschriften“. Das Wort δίαιτα, diaita, kann zwar auch den „Lebensstil“ allgemein meinen, doch ist das Wort hier ganz klar durch den Kontext („bezüglich der
9. Paulus
369
Speisen“; περὶ σιτίων) als „Speisevorschriften“ ausgewiesen. Auffallend ist, dass die Speisevorschriften hier gleich zweimal als „Werk“ bezeichnet werden. Man ist an die „Werke des Gesetzes“ bei Paulus erinnert und findet hier bestätigt, dass dieses Syntagma auf Ritual- und Reinheitsvorschriften abzielt. Das deckt sich mit A.J. 20,43, wo die Beschneidung des Izates mit πρᾶξαι τοὖργον („dieses Werk vollbringen“) umschrieben wird (Text s.o. V.8.1.4). Auch für Josephus erinnert diese Pädagogik (ähnlich wie bei Paulus) an einen strengen „Vater und Gebieter“ (ὑπὸ πατρὶ τούτῳ καὶ δεσπότῃ), hilft aber doch, „weder absichtlich noch aus Unwissenheit“ zu sündigen. Hier aber schließt sich der Kreis zu Zambri (s.o. V.8.2.2) und Paulus. Beide erstreben die „Freiheit“ und eine Befreiung vom „Joch der Knechtschaft“ dieser Vorschriften: Gal 5,1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit (Τῇ ἐλευθερίᾳ ἡμᾶς Χριστὸς ἠλευθέρωσεν). Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft (ζυγῷ δουλείας) auflegen! Josephus, A.J. 4,146 Ich wenigstens werde mich deinen tyrannischen Geboten (προστάττεις τυραννικῶς) nicht unterwerfen. Du hast bis jetzt nichts anderes gesucht, als wie du uns … unter das Joch der Knechtschaft (δουλείαν μὲν ἡμῖν) bringen könntest. … 148 … Ich habe, wie du sagst, ein fremdes Weib genommen; dessen bin ich dir als freier Mann (ὡς παρὰ ἐλευθέρου) selbst geständig und habe nicht vorgehabt, es zu verheimlichen.
9.2.6
Wachstumslinien im paulinischen Gesetzesverständnis
Die Frage nach Wachstum und Brüchen in der Theologie des Paulus wurde schon im 19. Jh. aufgeworfen, jedoch erst seit den 1970er Jahren immer drängender gestellt.281 Damit verbunden ist die Frage nach Kontingenz und Kohärenz der paulinischen Homologumena,282 also die Frage, wie situationsbezogen die Aussagen der Briefe sind und ob es dabei trotzdem eine gemeinsame Mitte des Denkens gibt. Wenn man den 1. Thessalonicherbrief als erstes paulinisches Homologumenon ansetzt und den Römerbrief als „Testament“283 und „theologische Summe“284 des Paulus versteht, in dem Paulus versucht, „die eigene erste ‚Wirkungsgeschichte‘
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Siehe den Überblick bei Schnelle, Wandlungen, 9–12; Theobald, Wandlungen, 504–511. Ebenso von Bendemann, Frühpaulinisch, 210–229. Vgl. Theobald, Kontingenz, 512–517; von Bendemann, Frühpaulinisch, 213f. und 227–229. So Theobald, Kirche, 327; Wilckens, Röm I, 47; Becker, Paulus, 351. Wilckens, Röm I, 49. Daran ändert sich auch nichts, wenn man eine noch spätere Abfassung anderer Briefe (bzw. Briefteile) nach Röm annehmen möchte. So rechnet Schnelle, Paulus, 410 und 421, mit einer Abfassung von Phil und Phlm nach Röm; Gnilka, Paulus, 313, nimmt an, dass 2Kor 10 – 13 und Phil 3 nach Röm entstanden seien. – Alle diese Vermutungen sind keinesfalls zwingend, wie schon Becker, Paulus, 332, überzeugend aufgewiesen hat. Am wahrscheinlichsten ist es noch immer, im Röm nicht nur theologisch, sondern auch zeitlich den Schlussstein im Werk des Paulus zu sehen – theologisch war er dies in jedem Fall.
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V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
aufzufangen …“,285 dann kann man tatsächlich solche Entwicklungslinien feststellen.286 Wie wir bereits gesehen haben, ist die problematische Stelle 1Thess 2,14–16 (die „Juden … haben … Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet“) dem stehenden frühjüdischen Theologumenon vom gewaltsamen Prophetengeschick geschuldet (s.o. I.2.2.4, dort auch die Hintergründe zur politischen Brisanz der Mission des Paulus). Der 1Thess muss somit als ein kontingentes (situationsgebundenes) Schreiben gewertet werden, in dem Paulus seinem Unmut Luft macht – wenn auch in einer beschämend unfairen Weise durch Rekurs auf Gemeinplätze paganer Judenpolemik (s.o. III.7.1.4). Wir haben allerdings guten Grund anzunehmen, dass Paulus seine Suada aus 1Thess im Röm korrigierte. So wird die im Frühjudentum weit verbreitete Rede vom Zorn Gottes als Metapher für das eschatologische Strafgericht Gottes an den Sündern (vgl. 1Thess 1,10; 5,9)287 in 1Thess 2,16 gegen „die Juden“, welche „uns hindern, den Heiden das Evangelium zu verkünden“ gerichtet, in Röm 1,18 hingegen „wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten“ (vgl. auch Röm 2,1– 5: alle Menschen, „wer du auch bist“, werden von Gott gerichtet werden). Unmittelbar damit verbunden ist die Israelthematik: Sowohl in 1Thess 2,14 wie auch in Röm 9,3 kommt Paulus auf seine jüdischen „Stammverwandten“ (1Thess: συμφυλέτης; Röm: συγγενής) zu sprechen. Beide Male thematisiert er deren Weigerung, das Evangelium anzunehmen (1Thess 2,16; Röm 10,9.14–21), allerdings mit anderer Ausrichtung: „Dieses Nein deutet er [nun] nicht als Ausdruck ihrer Böswilligkeit (1Thess 2,16a), sondern von Gott selbst verhängte ‚Verhärtung‘ (Röm 11,7f.25).“288 Diese „Verhärtung“ führt nun auch nicht zum Zorngericht über „die Juden“ (1Thess 2,16), sondern ist der Heilsökonomie Gottes geschuldet, der „alle in den Ungehorsam eingeschlossen hat, um sich aller zu erbarmen“ (Röm 11,32). Damit löst Paulus die Frage nach Sünde und Gericht Gottes (denn das ist der rote Faden durch Röm 1–8) und die Frage nach der Zukunft Israels (Röm 9–11) in gleicher Weise: Am Ende wird sich Gott aller erbarmen – und natürlich auch über das nicht-jesusgläubige Israel. Paulus führt seinen theologischen Meinungswandel in Röm 11,25f. auf das eschatologische „Geheimnis“ Gottes zurück, das ihm offenbart wurde (zum eschatologischen Geheimnis s.o. V.2.1.3). Somit könnte man die Wachstumslinien im Leben des Paulus nachzeichnen: Aufgewachsen in der liberalen jüdischen Diaspora – bekehrt zum übereifrigen Pharisäer – bekehrt zum übereifrigen Christusverkündiger – bekehrt zum Glauben, dass sich Gott aller erbarmen wird.
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So eine Vermutung von Theobald, Kirche, 328. Vgl. dazu Tiwald, Kontinuität, 445–460. Zur Thematik des Zorngerichts Gottes vgl. Konradt, Gericht, 57–93. Theobald, Wandlungen, 506.
10. Logienquelle
371
Es ist anzunehmen, dass Paulus den Röm auch mit Blick auf seinen Gang nach Jerusalem geschrieben hat, wo er die Kollekte abliefern wollte, um erst nachher nach Rom zu gehen. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass der Schwenk in der Theologie des Paulus für den Dialog mit den Juden in Jerusalem zu spät kam (s.o. III.10.4.7). Apg 21,21 belegt, welch schlechten Leumund Paulus auch in der Jerusalemer Urgemeinde hatte, nämlich den Vorwurf, die unter Heiden lebenden Juden zu lehren, von Mose abzufallen (zum restaurativen Klima im damaligen Jerusalem s.o. II.5.5.3). Auch wenn für den historischen Paulus die neu gewonnene Einsicht (zu?) spät kam, so kommt sie für uns heute nicht zu spät und sollte das christliche Verhältnis zum Judentum nachhaltig prägen.
10.
Logienquelle
Die Logienquelle (abgekürzt: Q) entstand in Nordpalästina:289 Die in Bildworten und Gleichnissen verwendete Bildwelt ist ländlich, das Ambiente jüdisch, die dort genannten Orte verweisen auf den galiläisch-syrischen Grenzraum. Das soziale setting ist rural geprägt und spiegelt die „Welt der Feldarbeit oder des Haushaltes“ wider, die Gleichnisse in Q „weisen eine ländliche Perspektive auf, städtisches Leben ist nicht im Blick.“290 Das unterscheidet Q von Mk, Mt und Lk, wo die aus Q übernommenen Texte immer stärker in einen urbanen Kontext projiziert werden.291 Auch theologisch ist die Logienquelle noch sehr ursprünglich mit den galiläisch-jüdischen Wurzeln der Jesusbewegung verwoben: Die nachösterliche Reflexion ist noch nicht so weit gediehen, dass man Jesus den Titel Messias/Christus zuspricht, Passions- und Osterbericht fehlen und die Naherwartung ist noch deutlich spürbar. Wir stoßen hier „auf eine Trägergruppe, die das ‚Kerygma‘ (im nichttechnischen Sinn von Wortverkündigung) des irdischen Jesus geradezu im O-Ton zu bewahren und weiterzuschreiben versucht hat.“292 In der Wissenschaft gibt es keinen Konsens in der Frage, ob und wieweit die Logienquelle im Frühjudentum
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291
292
Vgl. Schröter, Entscheidung, 74; Tiwald, Haus, 63f.; Tiwald, Wanderradikalismus, 73. Schröter, Entscheidung, 74; ebenso Kloppenborg, Q, 69: „Q presents us with a rural, Galilean Jewish gospel …“ Vgl. Kloppenborg, Q, 67f: „Matthew and Luke are Gospels oriented to urban settings.“ Für Lk steht die Stadtzentriertheit außer Zweifel (vgl. Hoffmann, Studien, 278–280), doch auch Mt verrät urbane Kultur, wenn er τὰς διεξόδους τῶν ὁδῶν (22,9) erwähnt, oder die „Heilige Stadt“ Jerusalem (4,5) und die „Stadt des großen Königs“ (5,35). Für Mk weisen die vielen lateinischen Lehnwörter (auch wenn man nicht Rom als Abfassungsort annehmen will) auf einen urbanen Kontext (vgl. Ebner, Markusevangelium, 15, s.u. V.11). Ebner, Q, 85, wobei natürlich auch Q nicht mehr die ipsissima vox Jesu ist und auch schon redaktionell-theologische Entwicklungen aufweist, vgl. Tiwald, Logienquelle, 23f.
372
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
verwurzelt war, doch scheint es am plausibelsten, dass Q „von einer intakten jüdischen Matrix aus zu lesen und zu verstehen ist“.293 Der Ausdruck νóμος (nomos, Gesetz, also „Tora“) begegnet in der Logienquelle nur in Q 16,16 und 17: 16 Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes. Von da an leidet die Königsherrschaft Gewalt, und Gewalttäter rauben sie. 17 Es ist aber leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Jota oder ein Häkchen des Gesetzes fällt.
Durch die Zentralität und Deutlichkeit dieser Aussage muss man annehmen, dass die Q-Gemeinde nicht nur das Liebesgebot, sondern auch Ritualtora und Reinheitsvorschriften weiterhin einhielt. Dies geht auch aus Q 11,39b.42 hervor, wo den Pharisäern vorgeworfen wird, innere Tugenden wie Recht, Barmherzigkeit und Treue außer Acht zu lassen, zugunsten einer rein äußerlichen Gesetzesobservanz (Verzehntung und Reinheitsvorschriften). „Die Antwort der Logienquelle darauf ist nun nicht, innere Tugenden statt äußerer Vorschriften zu praktizieren, sondern beides miteinander zu verbinden: ‚Dieses wäre zu tun und jenes nicht außer Acht zu lassen‘ (ταῦτα δὲ ἔδει ποιῆσαι κἀκεῖνα μὴ ἀφιέναι).“294 Da die Logienquelle den Christustitel noch nicht für Jesus verwendet, fällt es schwer, die Trägergruppe hinter diesem Dokument schon als „Christen“ zu bezeichnen. Jesus wird in Q nicht einmal als personifizierte Weisheit gedeutet, wie Mt 11,19 das unter Weiterführung von Q 7,35 tut. In Q 7,35 werden Jesus und Johannes nur als „Kinder der Weisheit“ tituliert. Insofern ist davon auszugehen, dass der Mutterboden von Q tatsächlich noch „völlig innerhalb des jüdischen Hauses bleibt.“295 Damit aber wird Q zu einer Art „missing link“ zwischen Juden und Christen, eben ein Dokument von „jüdischen Jesusjüngern“, „jesusgläubigen Juden“ oder „Jewish believers in Jesus“ – wie auch immer man sagen möchte. Wahrscheinlich hat die Q-Gemeinde daher noch keine Heidenmission betrieben,296 obwohl diese seit dem Apostelkonvent (s.o. III.10.4.2) urkirchlich erlaubt war. Die „Heiden“ in Q 6,34 („Tun dasselbe nicht auch die Heiden?“) und 12,30 („Denn all dies suchen die Heidenvölker“) werden lediglich als Negativfolie eingesetzt, das Muster bleibt innerjüdischem Denken verhaftet. Genauso holzschnittartig bleiben Heiden, wenn sie als Positivfolie mahnend gegen den Unglauben Israels in Position gebracht werden, etwa Q 7,9 („nicht einmal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden“) oder die hyperbolische Kontrastierung mit den Heidenstädten in Q 10,13–15. Auch wenn die Logienquelle von gläubig gewordenen Heiden weiß (Q 7,1–9), so bleibt sie doch bei der von Jesus begründeten innerjüdischen Mission in Galiläa und jü-
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Ebner, Q, 98; vgl. 100. Tiwald, Art. Gesetz, 302f. Vgl. ders., Gültigkeit; ders., Haus, 81f.; Foster, Traditions, 183–186; Harb, Weherufe, 159f. Ebner, Q, 100; vgl. den Forschungsüberblick bei Tiwald, Logienquelle, 94–116. Vgl. den Überblick und die Argumentation bei Tiwald, Logienquelle, 111–114.
11. Markusevangelium
373
dischen Diasporagemeinden Syriens (s.o. IV.1.3.5). Zwischen den jüdischen Jesusanhängern der Logienquelle und anderen jüdischen Gruppierungen kommt es allerdings bereits zu immer stärker werdenden Spannungen. Doch bleiben diese im Rahmen dessen, was wir auch sonst von divergierenden frühjüdischen Gruppierungen kennen.297 Vermutlich gründeten itinerante Propheten der Logienquelle die Gemeinde des späteren Matthäusevangeliums, sodass wir dieses als theologische Weiterentwicklung von Q verstehen dürfen (s.u. V.12).
11.
Markusevangelium
11.1.1
Das zweite Evangelium und das Judentum
Zumeist hat die ältere Forschung das MkEv vor allem mit Verweis auf Mk 7,1–23 als heidenchristlichen Text bestimmt, in dem die Tora auf das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–32) reduziert wird und Ritual- und Reinheitsgesetze als längst abgetane Größen gelten. Der zweite Evangelist („Markus“, im Folgenden „Mk“) wurde zumeist als Heidenchrist gesehen, der fern von Palästina (oft wird Rom als Abfassungsort genannt) sein Evangelium schrieb. Zuletzt wurden gegen diese Sichtweise berechtigte Einwände erhoben.298 So handelt Jesus nach Mk 1,44 ostentativ in Einklang mit der Tora, indem er den geheilten Aussätzigen zum Priester schickt und auf das von Mose angeordnete Reinigungsopfer verweist (Lev 13,49; 14,2–4). Einzelne Juden werden positiv gezeichnet, wie der Schriftgelehrte in Mk 12,28–34 und der jüdische Ratsherr Josef von Arimatäa (Mk 15,42–46). Für sein heidenchristliches Publikum erklärt Mk jüdische Praktiken und Ausdrücke bemerkenswert akkurat (v.a. Mk 7,3f.; vgl. 3,17; 5,41; 7,11.34; 15,42). Die Polemiken gegen Juden dürfen zwar nicht unterbewertet werden, allerdings muss man mit R. von Bendemann eingestehen:299 Doch spricht zugleich manches dafür, dass innerhalb der intendierten Leserschaft Fragen der jüdischen Halacha noch lebendig sind. Besonders die Streitgespräche (v.a. Mk 2,1–3,6; 11,27–12,37) lassen sich als innovative und wesentliche Darstellungsbauformen des zweiten Evangeliums kaum befriedigend lesen, wenn sie lediglich im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung aufgefasst werden. Sie sind vielmehr Ausdruck von Gestalten eines Fragens und Argumentierens, das nur unter jüdischen Prämissen verständlich und kommunikabel wird.
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Vgl. Tiwald, Valeur, 116–137, wo die Polemik der Logienquelle mit der innerjüdischen Polemik in 1Hen verglichen wird. Vgl. Untersuchungen zur frühjüdischen Polemik bei Nickelsburg, Wisdom 73–91; Johnson, Slander, 419–441; Marshall, Apocalypticism, 68–82. Klassische Sichtweise und neue Ansätze: Guttenberger, Hermeneutik, 111f.; dies., Evangelium, passim; von Bendemann, Markusevangelium, 27; ders., Antagonismen, 241. Von Bendemann, Antagonismen, 27.
374
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Damit war Mk kein mit dem Judentum unvertrauter Heidenchrist, von Bendemann sieht ihn als „christusgläubige[n] Jude[n]“, Guttenberger als „Schriftgelehrten“, der „mit biblischen Prätexten schriftgelehrt umgeht“.300 Möglich wäre auch eine Deutung als „Gottesfürchtiger“ (s.o. III.10.4.4). Richtig ist jedenfalls, dass die markinischen Pharisäer und „einige Schriftgelehrte“ (Mk 7,1) die Hauptgegner Jesu sind, es aber auch einen Schriftgelehrten gibt, dem Jesus attestiert, „nicht fern von der Königsherrschaft Gottes“ zu sein (Mk 12,34; könnte letzteres ein Selbstportrait des Mk sein?). Die starke Präsenz der palästinisch-pharisäischen Reinheitstora sowie die große Nähe des Mk zu palästinischen Jesustraditionen und palästinischem Lokalkolorit lässt es geraten erscheinen, die Abfassung des MkEv nicht im fernen Rom zu verorten, sondern kurz nach 70 n. Chr. in einer Großstadt Syriens (außerhalb, doch in der Nähe von Palästina).301 11.1.2
Mk 7 als Testfall
Als Testfall sei hier ein Blick auf Mk 7,1–23 geworfen: Mk 7,1 Die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, versammelten sich bei Jesus. 2 Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. 3 Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben; so halten sie an der Überlieferung der Alten fest. 4 Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele andere überlieferte Vorschriften halten sie ein, wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln. 5 Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten ihn also: Warum halten sich deine Jünger nicht an die Überlieferung der Alten, sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen? 6 Er antwortete ihnen: Der Prophet Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte, wie geschrieben steht: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. 7 Vergeblich verehren sie mich; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. 8 Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der 300
301
Von Bendemann, Antagonismen, 27; Guttenberger, Schriftgelehrter, 171; Stökl Ben Ezra, Art. Markusevangelium, 186 („ein jüd. Ev., das für Leser geschrieben wurde, die mit jüd. Traditionen u. Institutionen vertraut waren“). Zu Schriftgelehrten im Frühjudentum Hezser, Scribes, 149–172. Schriftgelehrte gab es in ganz unterschiedlichen Gruppierungen. Dass das NT „Pharisäer“ und „Schriftgelehrte“ häufig „im Doppelpack“ nennt, ist eine Vermischung, die allerdings zeigt, dass Pharisäer häufig auch schriftgelehrt waren. Ich danke R. von Bendemann für den fruchtbaren Austausch zu dieser Frage. Pharisäer gab es außerhalb von Palästina nicht (Stemberger, Pharisäer, 112). Zu frühchristlichen Wanderpropheten, die palästinische Jesustraditionen im syrischen Raum kolportierten: Tiwald, Logienquelle, 122–124. Zum syrischen Lokalkolorit des MkEv: Theißen, Lokalkolorit, 117–119; Klinghardt, Lokalkolorit, 28–48; Lau, Legio, 351–364. Zur Datierung des MkEv nach 70: Ebner, Markusevangelium, 14–16. Da die mk Latinismen aus den Bereichen Militär und Wirtschaft stammen, ist trotzdem eine Abfassung in Syrien denkbar. Zu Latinismen und Aramaismen des MkEv: Stökl Ben Ezra, Art. Markusevangelium, 182f.; zur Verbreitung von Latein im damaligen Syrien und Palästina: Eck, Rom, 157–200 (bes. 159 und 161).
11. Markusevangelium
375
Menschen. … 15 Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. … 17 Er verließ die Menge und ging in ein Haus. Da fragten ihn seine Jünger nach dem Sinn dieses rätselhaften Wortes. 18 Er antwortete ihnen: Begreift auch ihr nicht? Versteht ihr nicht, dass das, was von außen in den Menschen hineinkommt, ihn nicht unrein machen kann? 19 Denn es gelangt ja nicht in sein Herz, sondern in den Magen und wird wieder ausgeschieden. Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein. 20 Weiter sagte er: Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. 21 Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, 22 Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. 23 All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein.
Antagonisten sind hier die „Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren“. Korrekt ist, dass es Phariäser nur in Judäa und besonders Jerusalem gab, diese aber ihren Einfluss auch auf Galiläa ausdehnten (s.o. III.2.3.2). Für seine nichtjüdische Leserschaft erklärt Mk die Bräuche der „Iudaioi“. Guttenberger will hier rein „ethnographisch“ mit „Judäer“ statt religiös mit „Juden“ übersetzen (zur Grundfrage s.o. I.1.3.4), was aber an der Sache vorbeigeht: Es handelt sich hierbei vielmehr um die Frage, welche Bräuche authentisch jüdisch sind, bzw. wie man die jüdische Reinheitstora korrekt ausdeuten und leben soll.302 Die Erwähnung, dass die Pharisäer die „Überlieferung der Alten“ (τὴν παράδοσιν τῶν πρεσβυτέρων) festhalten, deckt sich mit dem Bild, das Josephus, A.J. 13,297 von Pharisäern zeichnet: Im Unterschied zu den Sadduzäern gewinnen diese ihre Lehre „aus der Überlieferung der Väter“ (ἐκ παραδόσεως τῶν πατέρων), womit die typisch pharisäische Gesetzesauslegung gemeint ist. So bezeichnet sich auch Paulus in seiner pharisäischen Zeit als Eiferer „meiner väterlichen Überlieferungen“ (τῶν πατρικῶν μου παραδόσεων, Gal 1,14). Fraglich ist, inwieweit die in Mk 7,3f. genannten Bräuche tatsächlich im damaligen Judentum praktiziert wurden. Der Pentateuch behandelt in Lev 11–15 die Frage von Unreinheit, in Lev 11 die Frage von unreinen Speisen. Das rituelle Händeabspülen findet sich in der Bibel für Priester in Ausübung des Tempeldienstes (Ex 30,19.21; 40,31), doch nirgendwo für tägliche Mahlzeiten (höchstens Lev 15,11, das sich aber nicht aufs Essen bezieht). Die Absenz eines biblischen Prätextes hat dazu geführt, dass Guttenberger die Aussageintention von Mk 7 so umreißt:303 Beim Essen geht es nicht um Reinheit … Menschen verunreinigen sich nicht durch Essen. Gemeint ist damit die vegetarische Alltagskost. Die in Lev 11 für den Verzehr verbotener Tiere geltenden Regeln kommen gar nicht in den Blick. Die Speisegebote werden also nicht aufgehoben. Sie werden hier gar nicht thematisiert. Es geht vielmehr 302
303
Gegen Guttenberger, Evangelium, 167, die auch Galiläer unter „Judäer“ subsumieren will. Von Bendemann, Antagonismen, 241, hingegen deutet religiös: „… zentral ist stets die Frage: ‚Wer ist ein ‚guter‘ Jude, und wer ist ein ‚besserer‘ oder ggf. schlechterer Jude?‘“ Guttenberger, Evangelium, 175.
376
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum darum: Beschränkungen der Tischgemeinschaft und Abgrenzungen von anderen Menschen (aus Sorge um Reinheit) sind nicht nach Gottes Gebot.
In der späteren Mischna berichten allerdings mYad 1,1–2; mHag 2,5; mBer 8,2–4 von Handwaschungen vor dem Mahl. Für die Zeit des Zweiten Tempels berichtet Josephus, dass sich Essener vor den Mahlzeiten einer rituellen Waschung unterzogen (B.J. 2,129), damit „sie als Reine den Speisesaal wie einen heiligen Bezirk betreten“ (ÜMT: αὐτοί τε καθαροὶ καθάπερ εἰς ἅγιόν τι τέμενος παραγίνονται τὸ δειπνητήριον). Auch archäologisch lässt sich ein signifikanter Anstieg an Reinheitsvorschriften in damaligen jüdisch-palästinischen Haushalten nachweisen (s.o. V.8.2.4: Household Judaism). Die Annahme von Guttenberger, dass Mk 7 nicht auf Kaschrut abziele, ist somit unwahrscheinlich. Wieweit in Mk 7 allerdings pharisäische Halacha erfasst wird, bleibt offen.304 Abgesehen davon, dass Mk die Pharisäer reichlich holzschnittartig zeichnet, war die Tendenz der Ausweitung von Reinheitsvorschriften, die ursprünglich nur für Tempelpriester galten, auf den privaten Haushalt (s.o. III.2.4.2: die Pharisäer „demokratisierten“ die Reinheitsvorschriften des Tempels für das Alltagsleben), auch außerhalb pharisäischer Kreise verbreitet (s.o. V.8.2.4: Household Judaism). Josephus A.J. 13,297 belegt aber den starken Einfluss von Pharisäern auf die breite Bevölkerung, sodass Stemberger urteilt: „Es mag durchaus zutreffen, dass in diesem Punkt die Pharisäer treibende Kraft einer Entwicklung des Judentums der damaligen Zeit gewesen sind, die aber doch schon weitere Kreise erfasst hat.“305 Für Mk 7,3 werden damit „die Pharisäer (und einige Schriftgelehrte)“ zu Proponenten dieser Richtung. Gegen die Annahme von Guttenberger spricht auch die starke Nähe von Mk 7 zu Fragen der Kaschrut im Aristeasbrief 128.143–150 (Text mit Erläuterungen s.o. III.7.2.3). In Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, die jüdischen Speisevorschriften seien eine „Periergie“ (περιεργία, sinnlose Übertreibung), betont Arist 143, dass von Natur aus (πρὸς τὸν φυσικὸν λόγον) alle Speisen gleich rein sind. Die weitere Einhaltung der Speisevorschriften wird daher auch nur mit ihrem „Symbolgehalt“ begründet, um moralische Reinheit zu ermöglichen (die zu essen verbotenen Tiere führen ein unmoralisches Leben und kommen daher als Lebensmittel nicht in Betracht). Die Kritiker der Reinheitsvorschriften waren wohl nicht nur verständnislose Heiden, wahrscheinlich musste der Aristeasbrief „auch innerhalb einer aufgeklärten jüdischen Gemeinde die Speisevorschriften neu begründen …“306 (s.o. V.8.2.1). Auch wenn der Aristeasbrief weiterhin an der Gültigkeit der Speisevorschriften festhält, so liegt Mk 7 doch ganz auf der Linie liberaler Juden, welche Kaschrut für eine „Periergie“ hielten. Der Diskurs war wohl in den Quellen 304 305 306
Vgl. dazu Stemberger, Pharisäer, 70–90; von Bendemann, Antagonismen, 239. Stemberger, Pharisäer, 74. Stemberger, Dekalog, 92.
11. Markusevangelium
377
des MkEv zunächst innerjüdisch, wie der starke Schriftgebrauch (der Rekurs auf Jesaja) belegt. Ähnlich wie in verschiedenen Sondertraditionen des damaligen Judentums geht es nicht um eine Abrogation von Tora-Vorschriften, sondern um die Autorität, die Tora korrekt zu deuten (s.o. V.2.1.5 zum gruppenspezifischen Sonderwissen als „Tora“). Allerdings macht die Anschlussperikope Mk 7,24–30, die Syrophönizierin, der Jesus im Gebiet von Tyrus begegnet (s.o. IV.1.3.5), klar, dass für Mk längst der Weg zur Heidenmission beschritten ist. Allerdings ist mit Mk 7,27 („Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen“) noch immer eine innerjüdische Sicht gegeben – die dann allerdings geweitet wird und den Blick auf die größtenteils heidenchristliche Leserschaft des Mk freigibt. Für Mk 7,1–23 greift der zweite Evangelist auf alte Jesustraditionen zurück, die er allerdings eigenständig weiterführt. Anders als bisweilen zu lesen, ist Mk 7,15–23 nicht jesuanisch, da vom historischen Jesus keine Infragestellung der Speisevorschriften bekannt ist.307 Allerdings vertrat Jesus ein Konzept der offensiven Reinheit und inklusiven Heiligkeit (s.o. V.5.2.3): Die anbrechende Königsherrschaft Gottes durchdringt mit ihrer Reinheit alles, wie ein Stück Sauerteig den ganzen Trog Mehl. Damit entwertet Jesus die alten Reinheitsgebote nicht, aber er wertet sie um: Nicht Unreinheit steckt an, sondern die Reinheit des Gottesreiches durchdringt nun alles. Ausgehend von diesem Grundimpuls Jesu haben später Stephanus und die „Hellenisten“ aus Apg 6 (s.o. III.10.3.1 und V.8) als liberale Judenchristen aus der Diaspora die Position Jesu aufgriffen und mit Konzeptionen des Diasporajudentums kreativ-eigenständig verbunden. Mk 7 ist ganz auf dieser Linie zu lesen. Dass die Jünger Jesu es mit den Reinheitsgesetzen nicht so genau nahmen und ihr Brot mit unreinen Händen aßen (Mk 7,2), spiegelt allerdings noch ursprüngliche Überlieferung wider (s.o. III.6.2). Ähnlich wie beim Ährenraufen am Sabbat (Mk 2,23) werden sich die hungernden Habenichtse nicht lange mit Gesetzesfragen aufgehalten haben, wenn es galt, etwas in die krachenden Mägen zu bekommen. Auffallend ist, dass sowohl in Mk 2,23f. wie in 7,2.5 Jesus selbst unbeanstandet bleibt, nur seine Jünger übertreten pharisäische Halacha. Auch wenn Mk
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Wie Konradt, Datierung, 27, richtig sieht, steht hinter Mk 7,15–23 kein authentisches Jesuswort, sondern Gemeindebildung. Gegen Guttenberger, Evangelium, 167, die in Mk 7,15 eine Anspielung an ein vermeintliches Jesuswort, das auch Paulus in Röm 14,14 aufgegriffen habe, sieht. Zu Recht hat Jacobi, Jesusüberlieferung, 299–386, nachgewiesen, dass die Phrase ἐν κυρίῳ Ἰησοῦ in Röm 14,14 keine Traditionsterminologie wiedergibt und daher kein wörtliches Jesuslogion zugrundeliegt. Auch Jacobi sieht Mk 7,15 und Röm 14,14 als einen gemeinsamen frühchristlichen Topos, der seinen Haftpunkt im jesuanischen „‚Konzept‘ der ansteckenden Reinheit“ (a.a.O. 381) hatte und nachösterlich in verschiedenen Traditionssträngen (auch Apg 10,1–11,18 und Tit 1,15) mit unterschiedlicher Zielsetzung weitergeführt wurde. Siehe auch: Löhr, Speisenfrage, 34f.
378
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
klar macht, dass diese Halacha Menschenwerk ist, übertritt sein Jesus diese Halacha nicht. Offensichtlich hat Mk hier auch noch Pharisäer als intendierte Gesprächspartner im Blick. Der dann folgende Argumentationsgang mit der Aufwertung der „Reinheit des Herzens“ auf Kosten ritueller Konzeptionen in Mk 7,15 („Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein“) und der nachgeschobenen Unterweisung in Mk 7,18–23 mit der Kernaussage V 19c („Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein“) entspricht dann wieder den Positionen der „Hellenisten“ und ist nicht jesuanisch. Die grundsätzliche Argumentationsfigur ist schon im Aristeasbrief präsent: Nach dem λóγος φυσικóς (dem natürlichen Sinn, dem „Naturgesetz“) ist nichts von Natur aus unrein – lediglich unethisches Verhalten bestimmt über rein oder unrein. 11.1.3
Das Markusevangelium in Relation zu Paulus, Matthäus, Lukas
Die Aussage Mk 7,15 („Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein“) und das explizit nachsetzende Mk 7,19c („Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein“) machen klar, dass für den zweiten Evangelisten die jüdischen Speisegebote nicht mehr bindend waren. Mk liegt damit auf einer Linie mit Positionen, wie wir sie aus liberal-frühjüdischen Gruppierungen kennen (s.o. V.8.2) und wie sie von Stephanus und den „Hellenisten“ aus Apg 6 (s.o. III.10.3.1 und V.8.1) vertreten wurden.308 Die oben zitierte Position von G. Guttenberger, dass Mk 7 nichts über die Reinheits- und Speisevorschriften aus Lev 11 sage,309 ist nicht haltbar. Zu Recht konstatiert M. Konrad die grundlegende Bearbeitung von Mk 7,1–23 durch Mt, der das mk Kommentarwort, Jesus habe alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,19c), bewusst tilgt.310 Auch wenn Konradt korrekt für Mk „eine grundsätzliche Außerkraftsetzung der Speisegebote … (Mk 7,19)“ notiert, geht seine Kritik doch zu weit, wenn er von einer grundsätzlichen „markinischen Relativierung der Tora“ spricht,311 denn dafür ist der mk Jesus zu gesetzestreu, wie gleich zu Beginn schon Mk 1,44 belegt. Auch in Mk 7,11–13, der Frage nach Gelübden und Korbán, beweist Mk Detailkenntnisse, die auf einen innerjüdischen Diskurs hinweisen.312 Auch die in Mk 10,2–12 gestellte Frage nach der Ehescheidung
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Schon Schweizer, Evangelium, 80, schreibt, „[d]aß hier nicht wesentlich über die schon vom hellenistischen Judentum übernommene prophetische Kritik hinausgeführt wird …“ Guttenberger, Evangelium, 175, übernommen durch von Bendemann, Antagonismen, 243. Konradt, Gegenentwurf, 54f.; ebenso Löhr, Speisenfrage, 33. Beide Zitate Konradt, Gegenentwurf, 54. Gegen Guttenberger, Evangelium, 175: „Das MkEv zeigt im Hinblick auf die Reinheits-Tora und die Speisegebote keine Anzeichen für deren Relativierung oder gar für die Behauptung von deren Ungültigkeit.“ Vgl. dazu Guttenberger, Evangelium, 173f. Zum Korbán s. Josephus, A.J. 4,73.
11. Markusevangelium
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war eine quaestio disputata im Frühjudentum (s.o. V.5.2.5). Gleiches gilt für das der Tempelprophetie Jesu redaktionell-markinisch hinzugefügte Jesajazitat in Mk 11,17: „Mein Haus wird ein Gebetshaus (προσευχή) genannt werden für alle (Heiden-)Völker“ (Jes 56,7 LXX, Ü.MT). „Der Begriff ‚Proseuche‘ ist ein weit verbreiteter Name für eine Synagoge. Die Verwandlung des Tempels in eine Art ‚Synagoge‘ hätte diesen für Heiden geöffnet: Im Synagogengottesdienst waren Heiden (als Gottesfürchtige) zugelassen.“313 Hier finden sich Positionen, wie wir sie für den Stephanuskreis veranschlagen können (s.o. III.10.3.1). Damit ist allerdings keine Abrogation des Tempelkults, sondern eine liberal-jüdische Interpretation intendiert (s.o. V.8.1.2). Auch in Mk 12,28–34 (Frage nach dem Hauptgebot), antwortet Jesus ähnlich wie Philon in Spec. 2,63 (Text und Ausführungen zum Liebesgebot s.o. V.9.2.2) unter Verweis auf das Doppelgebot der Liebe und bleibt auch damit innerhalb jüdischer Argumentation. Man kann mit R. v. Bendemann schließen:314 Es bedarf einer veränderten Bewertung der Tora-Problematik im zweiten Evangelium, die von den angesprochenen Etiketten des Heidenchristlichen oder einer sog. Gesetzeskritik Abstand gewinnt … Mit der These des differenzierten Nein zur Tora ist bei Markus etwas Richtiges gesehen. Zugleich bewährt sich die Leitfrage, inwiefern dieses differenzierte Nein nicht auch als ein hellenistisch-jüdisches Nein gefasst werden kann, das ganz anders ansetzt, als die paulinisch-briefliche Reflexion auf den νόμος (nómos).
Tatsächlich fehlt im MkEv der Begriff nomos, „Gesetz“ und damit auch eine paulinische Abhandlung des jüdischen Gesetzes unter soteriologischen, anthropologischen und hamartiologischen Vorzeichen. Man wird Mk daher nicht in direkter Wurfparabel mit Paulus sehen dürfen, sehr wohl aber als eigenständigen Versuch, liberal-jüdische Ansätze weiterzuführen und für das Heidenchristentum zu öffnen.315 Damit ist Mk allerdings für Mt, wie M. Konradt richtig erkennt, zu liberal, da Mt auch noch an der Ritual- und Reinheitstora festhält (s.u. V.12). Für Lukas hingegen, der eine Generation nach Matthäus und zwei nach Mk schreibt (s.u. V.13), besteht die Gefahr, dass die jüdischen Wurzeln des Christentums gänzlich in Vergessenheit geraten (eine Tendenz, die wir aus den Pastoralbriefen kennen), bzw. die Evangelientradition antijüdisch gelesen wird (wie dies kurz nach Lk bei Markion der Fall war). Daher ergänzen sowohl Mt wie auch Lk das MkEv mit der konservativ-jüdischen Logienquelle, um die jüdischen Wurzeln bleibend als Teil des Christentums zu verankern.
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Theißen, Hellenisten, 335. Von Bendemann, Antagonismen, 241 und 243. Vgl. Ebner, Markusevangelium, 16: „Genau das trifft die Intention der Schrift [sc. des MkEv]: die Übersetzung der Jesusbotschaft in den griechisch-römischen Kulturbereich.“ Anders als bei Ebner wird hier allerdings keine Abfassung des MkEv in Rom angenommen.
380
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
12.
Matthäusevangelium
Wahrscheinlich entstand das MtEv im syrischen Raum, ev. in Antiochia, vielleicht auch einer Stadt noch näher an Palästina.316 Nach Josephus war Antiochia die drittgrößte Stadt des Römischen Reiches (nach Rom und Alexandria; B.J. 3,29) und verfügte über eine ausgesprochen große jüdische Diasporagemeinde.317 Wandernde Boten der Logienquelle operierten schon zuvor im nordpalästinisch-syrischen Grenzraum (vgl. die Nennung von Tyros und Sidon in Q 10,13f.). Wahrscheinlich wurde die Matthäusgemeinde von itineranten Propheten der Logienquelle gegründet;318 das MtEv kann dann – gerade auch in seiner Einstellung zur Tora – als „theologischer Nachlaßverwalter der Quelle Q“319 verstanden werden. Im Unterschied zur Logienquelle hat die Gemeinde des MtEv bereits mit örtlichen Synagogengemeinden gebrochen.320 Dies geht schon aus der distanzierten Nennung von „ihren Synagogen“ (9,35; 10,17) und „ihren Schriftgelehrten“ (7,29; im Gegensatz zu einem „Schriftgelehrten, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist“, Mt 13,52; vgl. auch 23,2–33) hervor. Das heißt allerdings noch nicht, dass Mt auch schon mit dem Judentum als solchem gebrochen hätte, vielmehr wird klar, „… dass sich die mt Gemeinde in einem von ihr selbst noch als innerjüdisch wahrgenommenen intensiven Konflikt mit der örtlichen pharisäisch dominierten Synagoge oder Synagogengemeinschaften befand und darin den Anspruch erhob, die legitime Sachwalterin des theologischen Erbes Israels zu sein.“321 Denn auch für Mt 5,17f. bleibt die aus Q 16,17 übernommene unverbrüchliche Gültigkeit der Tora erhalten. Trotz aller Kritik an den „(jüdischen) Schriftgelehrten und Pharisäern“ bricht Mt ausdrücklich nicht mit deren Lehre: Mt 23,2 Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. 3 Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht.
Offensichtlich hielt die Gemeinde hinter dem MtEv noch die ganze Tora, also nicht nur die ethischen Vorschriften qua Liebesgebot (wie Paulus s.o. V.9.2.2 oder das
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Konradt, Matthäus, 23 („eher der Süden Syriens“); Luz, Matthäus I, 74 („Antiochia“). Vgl. Zugmann, Hellenisten, 65f. Josephus B.J. 2,479 berichtet, dass bei den Tumulten zu Beginn des Jüdischen Kriegs von allen Städten in Syrien lediglich in Antiochia, Sidon und Apamea keine Pogrome gegen Juden stattgefunden hätten – nicht zuletzt auch, weil die Zahl der dort lebenden Juden so beträchtlich gewesen sei. Vgl. Luz, Matthäus I, 65f. Tiwald, Wanderradikalismus, 59. Vgl. dazu Foster, Traditions, 188–200; Luz, Matthäus I, 70f.; Tiwald, Art. Gesetz, 302f.; Strotmann/Tiwald, Matthäusevangelium, 64–106; Weidemann, Ekklesia, 59–81. Konradt, Erfüllung, 130; auch ders., Matthäus, 19f. Ebenso Saladrini, Community, 107, der die Matthäus-Gruppe als „Deviant Jews“ bezeichnet.
12. Matthäusevangelium
381
MkEv s.o. V.11), sondern auch noch die Ritual- und Reinheitstora.322 Die weiterhin eingehaltene Sabbatobservanz geht aus Mt 24,20 hervor (vgl. den Einschub „oder am Sabbat“ in den Wortlaut von Mk 13,18), auch die Verzehntung und die Kaschrut bleiben nach Mt 23,23 gültig („das eine tun, ohne das andere zu lassen“). Dies wird auch aus Mt 5,18–20 deutlich: 18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. 19 Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. 20 Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Neben der unverbrüchlichen Gültigkeit der ganzen Tora (V 18: „kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes wird vergehen“) wird in V 19 auf die „kleinsten Gebote“ verwiesen. Hiermit sind wohl die Reinheitsgebote gemeint,323 ähnlich wie bei Philon, der in Migr. 94 (Text s.o. V.9.2.4) ebenfalls zwischen großen und kleinen Geboten unterscheidet.324 Die großen Gebote sind für Philon die auf dem Naturrecht beruhenden ethischen Gebote, die kleinen Gebote hingegen die Menschensatzungen, welche die Ritual- und Reinheitsvorschriften umfassen. Entgegen der Position der extremen Allegoristen (s.o. III.7.3) fordert Philon genauso wie Mt, dass man die großen wie auch die kleinen Gebote befolgen muss. Allerdings besitzen die kleineren Gebote für Mt keine heilsentscheidende Funktion mehr: Ihre Nichteinhaltung führt lediglich zu geringeren Plätzen im Himmelreich, aber nicht zum Ausschluss von diesem. Hier ist U. Luz Recht zu geben, „… die durch jahrhundertelange christliche Lehre und Praxis klassisch gewordene These, daß Matthäus das Sittengesetz bejahe und das Zeremonialgesetz außer Betracht lasse, geht mit dieser Sicht nicht zusammen.“325 Damit hebt sich Mt von jenem Gesetzesverständnis ab, wie wir es bei Paulus vorfinden: „Da Mt die Vorstellung verschiedener Rangstufen im Himmel vertraut ist (11,11; 18,1.4; 20,21), mag man … ihn zu den ‚halbliberalen‘ gesetzestreuen Judenchristen rechnen.“326 Mt toleriert zwar die beschneidungsfreie Heidenmission und die von Paulus und anderen liberalen Ju-
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Vgl. Konradt, Matthäus, 18; ders., Matthew, 121–150; Strotmann/Tiwald, Matthäusevangelium, 64–106; Weidemann, Ekklesia, 75. Vgl. Tiwald, Gültigkeit; Konradt, Erfüllung, 133. Vgl. Luz, Matthäus I, 240; Konradt, Matthäus, 17; Weidemann, Ekklesia, 79 („In der matthäischen Ekklesia dürfte es also verschiedene ‚Abstufungen‘ von Toraobservanz gegeben haben.“). Zu Berührungspunkten im Verständnis von „Gerechtigkeit“ bei Philon und Mt vgl. Hoppe, Gerechtigkeit, 141–155. Luz, Matthäus I, 240. Anders aber Deines, Gerechtigkeit, 346–353. Ganz im Sinne von Luz jedoch Konradt, Erfüllung, 133; ders., Matthäus, 18. Luz, Matthäus I, 239.
382
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
den vertretene rein ethische Deutung von Zeremonialgesetzen, doch er praktiziert diese Gesetzesinterpretation selbst nicht und weist ihr auch nur einen geringeren Platz im Himmelreich zu.327 Gilt für die mt-Gemeinde dann die Beschneidung noch? Nach Mt 28,19f. ergeht ein universeller Missionsauftrag, die Beschneidung ist nun für Heidenchristen nicht mehr nötig.328 Allerdings schließt die universale Mission nach Matthäus auch ein, „dass Christusgläubige aus den Völkern auf die von Jesus vollmächtig ausgelegte Tora verpflichtet werden“,329 wobei hier wohl die Tora-Interpretation qua Liebesgebot gemeint sein dürfte. Wahrscheinlich aber hielten die judenchristlichen Mitglieder der mt-Gemeinde auch weiterhin Kaschrut, Sabbat und auch die Beschneidung ihrer Kinder aufrecht. Damit wäre das MtEv nämlich ganz auf der Linie der Beschlüsse des Apostelkonvents (s.o. III.10.4.2): Heidenchristen sind auf das Gesetz qua Liebesgebot verpflichtet, Judenchristen halten die ganze Tora.330 Zu dieser Sichtweise passt folgende These von M. Konradt:331 Vielmehr lassen die substanziellen Korrekturen, die Matthäus in für ihn wichtigen Fragen an Mk vorgenommen hat, kaum einen anderen Schluss zu, als dass Matthäus als markuskritisch, wenn nicht als antimarkinisch zu klassifizieren ist. Er … wollte das Mk verdrängen, weil er es für ungeeignet hielt, um in seinen Gemeinden benutzt zu werden. … Theologisch steht Matthäus Q näher als dem Mk.
13.
Lukanisches Doppelwerk
Lk führt eine „besondere Form des Paulinismus in der zweiten bzw. dritten Generation“332 weiter. Seine Apg ist geradezu als eine Art „Paulusapologie“333 angelegt, wobei allerdings ganz eigene Ansätze zum Tragen kommen, die nicht in der unmittelbaren Nachfolge des Apostels angesiedelt sind. Für die Gemeinde des Lk ist der Bruch mit der Synagogengemeinde bereits erfolgt. Die theologische Grundkonzeption des lk Doppelwerkes läuft auf eine „Scheidung in Israel“ hinaus, die Lk bereits in der Simeonsweissagung (Lk 2,29–35: „Fall und Aufstehen vieler in 327
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Vgl. Runesson, Purity, 159: „Matthew’s Jesus states clearly … that ritual impurity is less important, or urgent, than moral impurity. This should not be understood, … as if ritual impurity may be neglected.“ So zu Recht Konradt, Matthäus, 464: „Für die Christusgläubigen aus den Völkern ist die Taufe also der einzige Initiationsritus.“ Konradt, Matthäus, 465. Vgl. dazu Strotmann/Tiwald, Matthäusevangelium, 104f. Ebenso Weidemann, Ekklesia, 79 („aus Juden und Nichtjuden gemischte Ekklesia mit ihrer ‚abgestuften‘ Toraobservanz“). Konradt, Matthäus, 21. Bovon, Lukas I, 25. Wahrscheinlich ist das lk Doppelwerk 100–130 n. Chr. zu datieren, vgl. Theobald, Christus, 138; Backhaus Datierung, 212–258. Wasserberg, Mitte, 365.
13. Lukanisches Doppelwerk
383
Israel“) ankündigt, und die in Apg 28,24 („Die einen [sc. Juden] ließen sich durch seine Worte überzeugen, die andern blieben ungläubig“) ihren Abschluss findet.334. „Auch wenn die Majorität der Juden Jesus jetzt ablehnen [sic], so schreibt er deswegen Israel nicht ab, sondern hofft im Sinne des deuteronomistischen Geschichtsdenkens auf Umkehr und ‚Zeiten des Aufatmens‘ für Israel, wenn ‚der für es bestimmte Messias‘ Jesus am Ende der Zeiten kommt (Apg 3,19).“335 Wahrscheinlich gehört Lk „zum Kreis jener Sympathisanten [sc. mit dem Judentum], die man ‚Gottesfürchtige‘ nannte.“336 Insofern sind die theologischen Positionen der „Hellenisten“, die später von Paulus weiter fortgeführt wurden, Wasser auf seine Mühlen. Die „Gottesfürchtigen“ hatten ja am meisten von diesem „Reformjudentum“ der „Hellenisten“ und des Paulus profitiert. Sie, die bislang nur eine „Mitgliedschaft zweiter Ordnung“337 im Judentum erhoffen durften, erhielten nun eine Vollmitgliedschaft „zum ermäßigten Preis“ (s.o. III.10.4.4). Daher ist es Lk auch ein großes Anliegen, die Entstehung der Kirche aus diesem geistigen Milieu des Frühjudentums nachzuzeichnen. Logischerweise misst auch Lk – ähnlich der Position der „Hellenisten“ und des Paulus – der Reinheits- und Ritualtora keine Bedeutung mehr bei. Umso bemerkenswerter ist es, dass Lk als Christ der dritten Generation nun bemüht ist, gewissen Auswirkungen eines Hyperpaulinismus gegenzusteuern. Paulus selbst war sich seines Jude-Seins noch unmittelbar und selbstverständlich bewusst – auch wenn er bei konservativeren Juden aneckte. Drei Generationen später aber war die Gefahr groß, Paulus in jene Richtung misszuverstehen, die Markion kurz darauf einschlug. Gerade deswegen insistiert Lk, dass in Jesus das jüdische Gesetz seine Erfüllung gefunden hat (Lk 2,22.23.24.27.39; 10,26; 16,17; 24,44). Diese Tendenz zeichnet auch die Apg für die Jünger Jesu weiter: Petrus und Johannes sind tempelfromm (Apg 2,46; 3,1; 5,20f.42), wie vorher schon Jesus und seine Eltern (Lk 2,41.42.49; 19,46.47; 21,37f.; 22,53) und später Paulus (Apg 21,26; 22,17; 24,12.18; 25,8). Gerade das Abgehen von den Speisevorschriften muss erst mühsam von Gott gegen den Willen des Petrus initiiert werden (Apg 10,9–16). Gleiches gilt auch für die beschneidungsfreie Heidenmission (Apg 10,22–48): Nicht Paulus oder die „Hellenisten“ begründen diese, sondern der gemäßigte Petrus in der Taufe des Kornelius. Wahrscheinlich war es ein kluger Schachzug des Lk, diese Rochade zwischen Petrus und den „Hellenisten“/Paulus vorzunehmen: So werden die ohnehin umstrittenen „Hellenisten“ und Paulus aus der Schusslinie genommen, während Petrus als Integrationsfigur unbelastet ist. Dass dabei in Apg trotzdem noch der ursprüngliche Sachverhalt durchschimmert, wie etwa die Samaritanermission durch Philippus (Apg 8,5–14),
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Vgl. Wasserberg, Mitte, 134–147 und 352–366. Theobald, Christus, 138; von Bendemann, Paulus, 301–303; Schröter, Geschichte, 360. Bovon, Lukas I, 22. Zu den sogenannten „Gottesfürchtigen“ s.o. III.10.4.4. Frey, Paulus, 267.
384
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
die Taufe des Äthiopiers (Apg 8,27–38) oder die Heidenmission durch die „Hellenisten“ in Antiochia (Apg 11,19f.), spricht in seiner „Tendenzsprödigkeit“338 gerade für den Geschichtswert dieser Notizen (s.o. III.10.3.2). Offensichtlich konnte es Lk nicht wagen, sein harmonisierendes und glättendes Geschichtsbild völlig gegen die historische Faktenlage durchzusetzen. In konsequenter Weiterführung seiner Ideen ist es dann auch ein „überaus jüdisches Bild, das Lukas von ‚seinem‘ Paulus zeichnet.“339 So weiht sich dieser als Zeichen seiner Gesetzestreue im Tempel (Apg 21,21–26) und bezeugt dadurch in der Darstellung des Lk, dass christlicher Glaube auch weiterhin tora-observant bleibt (Apg 24,14; 25,8; 28,23).340 Allerdings ist die Öffnung zur beschneidungsfreien Heidenmission und das Abgehen von Ritual- und Reinheitstora im Heilsplan Gottes vorgezeichnet: Petrus kommt nach der Taufe des Heiden Kornelius und nach Genuss der unreinen Speisen zur Einsicht, dass Gott nicht Speisevorschriften oder die Beschneidung fordert, sondern „dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist“ (Apg 10,35). Ähnlich wie für das MtEv (s.o. V.12) wird man also auch für den Verfasser des LkEv veranschlagen dürfen, dass er mit der Verbindung von MkEv und Logienquelle bewusst ein Aufrechterhalten der jüdischen Wurzeln des Christentums intendiert. Er steuert bewusst und proaktiv jenen Tendenzen entgegen, die wir bald darauf in der Israel-Vergessenheit der Pastoralbriefe und noch mehr in der antijüdischen Theologie des Markion und der (pseudepigraphen) Ignatius-Briefe „auf dem Radarschirm“ der Geschichte erkennen können.341 Dass Mt und Lk unabhängig voneinander doch sachlich übereinstimmend die jüdischen Wurzeln des Christentums verteidigten, macht klar, dass es um die erste christliche Jahrhundertwende noch immer ein starkes innerkirchliches Bewusstsein für die eigene jüdische Herkunft gab. Aus dieser Grundhaltung wurde kurz darauf der Reduktion des Markion von der Großkirche eine entschlossene Absage erteilt.
14.
Johannesevangelium
Ohne Frage ist das vierte Evangelium aus einem jüdischen Mutterboden hervorgegangen.342 Ob allerdings die Gemeinde hinter dem Evangelium bereits mit diesem Mutterboden gebrochen hat oder noch innerhalb des Judentums verankert 338 339 340 341
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Theißen/Merz, Jesus, 119. Wasserberg, Mitte, 356. Vgl. Tiwald, Art. Gesetz, 308f. Theobald, Israel-Vergessenheit, zu den Past.: 353–360, zu Markion: 351f., zu den Ignatianen 257–331. Ebenso Theobald, Kirche, 395f. Vgl. dazu den von B. E. Reynolds und G. Boccaccini herausgegebenen Tagungsband Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism (AGJU 106), Leiden 2018.
14. Johannesevangelium
385
war, ist in der Bibelwissenschaft umstritten. Einigkeit herrscht in der Erkenntnis, dass der in Joh 9,22; 12,42; 16,2 verwendete Ausdruck ἀποσυνάγωγος (aposynagōgos, „synagogen-ausgeschlossen“, s.o. I.2.2.3) nicht als terminus technicus für ein förmliches Ausschlussverfahren gegen Judenchristen, sondern als ad-hoc-Bildung des vierten Evangelisten für eine lokal begrenzte Maßnahme zu interpretieren ist .343 Da sich die Polemik des JohEv besonders gegen Ἰουδαῖοι, Ioudaioi richtet, ist zu klären, ob diese als „Juden“ oder als „Judäer“ zu übersetzen sind. Wie schon erörtert (s.o. I.1.3.4), sollte der Ausdruck zumeist als „Juden“ übersetzt werden; das empfiehlt sich auch für das JohEv.344 Nicht ganz zu Unrecht vermutet J. Frey, dass ein „Aspekt der ‚political correctness‘ … das Hauptmotiv hinter dem derzeitigen Trend zur Wiedergabe von Ἰουδαῖοι durch ‚Judäer‘“345 zu sein scheint. Solch falsch verstandene political correctness ist aber zurückzuweisen, da es zu einer unsachgemäßen Exkulpierung des JohEv und seiner Adversus Iudaeos-Texte führen könnte. Lange Zeit war in der Johannesexegese das von J. L. Martyn und R. E. Brown geprägte expulsion narrative gültig, das im nordamerikanischen und deutschsprachigen Raum viele Nachfolger hatte:346 Im JohEv werde der Ausschluss der Jesusgläubigen aus der Synagoge verarbeitet und in die Zeit Jesu zurückprojiziert („two-level drama“). Ausgelöst habe den Synagogenausschluss die birkat ha-minim und die Regruppierung des Judentums in Javne – zwei Annahmen, die in der heutigen Forschung nicht mehr haltbar sind (s.o. I.2.2.3). Abgesehen davon, dass das Narrativ von Martyn/Brown auch an vielen anderen Punkten Schwächen aufweist,347 wird darin die Schuld für die antijüdische Polemik des JohEv an die Juden zurückgespielt: Erst durch deren Aggression wäre die ab- und ausgrenzende Sprache des vierten Evangeliums als überlebensnotwendige Selbstverteidigung zustande gekommen. Das Rechtfertigungsmuster Die Juden haben zuerst angefangen (weitere Beispiele s.o. I.2.2.4) ist zur Entschuldigung von Judenpolemik jedoch völlig unbrauchbar. Daher muss die Judenpolemik des JohEv textimmanent untersucht werden.
343 344 345 346
347
Vgl. Theobald, Johannes, 649. Frey, Juden, 339–377, sowie Reinhartz, Gospel, 467. Frey, Juden, 344. Vgl. J. L. Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel (1968), und R. E. Brown, The Community of the Beloved Disciple (1979). Als Nachfolger in deutschsprachigen Raum vgl. Wengst, Gemeinde (1981), passim, oder Klauck, Gemeinde (1985), 199–203. Vgl. die Kritik von Reinhartz, Gospel, 465–471; dies., Covenant, 111–130; Frey, Juden, 354– 365.
386
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
Der Begriff Ἰουδαῖοι, Ioudaioi umfasst im vierten Evangelium keineswegs nur eine polemisch abqualifizierte Gruppierung.348 So wird Jesus selbst als Ioudaios bezeichnet (Joh 4,9a), ebenso Gesprächspartner und Sympathisanten Jesu (Joh 3,1; 8,31; 11,45; 12,11; 19,38), außerdem werden die Sitten und Feste der Ioudaioi beschrieben (Joh 2,6.13; 4,9b; 5,1; 6,4; 7,2; 11,55; 19,40.42). Positiv konnotiert ist auch der Ausdruck „Israel“ (Joh 1,31.49; 3,10; 12,13) und „Israelit“ (Joh 1,47). Wenn die Gegner Jesu in den Streitreden als Ioudaioi bezeichnet werden (ab Joh 5,10), kann sich das teilweise auf Repräsentanten und Autoritäten wie auch auf einfache Angehörige der so benannten Gruppe (Joh 11,19.31; 12,9), aber auch auf die gesamte Volksmenge (Joh 18,20.35.38b; 19,20) beziehen. Die polemische Spitzenaussage stellt Joh 8,44 dar, wo die Ioudaioi als „Teufelskinder“ gebrandmarkt werden. Allerdings wird auch eingestanden: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Zu Recht betont daher J. Frey, „daß man von einem generellen ‚Antijudaismus‘ des vierten Evangeliums nicht sprechen kann, aber im Gesamtbild … dominiert doch die polemische Entgegensetzung.“349 Da sich die joh Belege für Ioudaioi nicht auf einen semantischen Nenner bringen lassen, sollte man gemeinsam mit Frey und Reinhartz davon ausgehen, dass diese Bezeichnung als „dramaturgisches Element verstanden werden muss“, das „primarily rhetorical rather than denotative“ ausgerichtet ist.350 Auch wenn die Polemik des vierten Evangeliums damit keinem generellen Antijudaismus folgt, bleibt die Dämonisierung und Ausgrenzung der „Anderen“ dennoch eine defektive Form von Identitätsbildung. Identität wird im JohEv durch eine Rhetoric of Affiliation und eine dem entgegengesetzte Rhetoric of Disaffiliation erzeugt.351 Ähnlich wie gegen die Ioudaioi grenzt sich das JohEv ja auch gegen den κόσμος, kosmos (die negativ konnotierte „Welt“; Joh 13–17) ab, ein Begriff, der ebenso vage und unscharf ist, wie die Rede von den Ioudaioi.352 Angesichts der Unhaltbarkeit des von Martyn/Brown postulierten mirror-readings und der starken rhetorischen Funktion von Affiliation und Disaffiliation bleibt fraglich, bis zu welchem Grad das „Parting of the Ways“ zwischen „Juden“ und „Christen“ in der Gemeinde des vierten Evangelisten real fortgeschritten war. Interessant ist, dass das Evangelium auch Juden zeichnet, die als Jesusgläubige weiterhin im Verband des Judentums lebten, so Josef von Arimathäa (Joh 348
349 350 351
352
Vgl. Frey, Juden, 351. Zur ambivalenten – aber keineswegs nur negativen – Zeichnung der „Juden“ im vierten Evangelium: Zimmermann, Jews, 71–109 (109: „the narrator remains ambiguous and open“); Karakolis, Juden, 402: „Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass der vierte Evangelist es vermeidet, die Juden der Zeit Jesu (mit Ausnahme der Hohepriester) als unwiderruflich antagonistisch Jesus gegenüber darzustellen.“ Frey, Juden, 352. Frey, Juden, 353. Reinhartz, Covenant, 161. Vgl. Reinhartz, Gospel, 469–471. Vgl. ihre berechtigte Anfrage: dies., Covenant, 163: „Should we not resist any rhetorical program that vilifies the ,otherʻ in order to construct the ,selfʻ?“ Zur johanneischen in-group language und anti-language: Malina, Sociolinguistics, 167–182. Vgl. Frey, Juden, 353; ders., John, 185–215.
14. Johannesevangelium
387
19,38) und Nikodemus (Joh 3,1f.; 7,50–52; 19,39.). Siebenmal heißt es in der ersten Buchhälfte „Viele glaubten an ihn (bzw. seinen Namen)“ (Joh 2,23; 7,31; 8,30; 10,42; 11,45; 12,11.42), wobei das Subjekt dreimal ausdrücklich „die Juden“ sind (Joh 8,30f.; 11,45; 12,11).353 Josef von Arimathäa und Nikodemus verbindet, dass sie angesehene Positionen einnahmen, Josef war nach Mk 15,43 Mitglied des Hohen Rats und Nikodemus Pharisäer in führender Position (ἄρχων τῶν Ἰουδαίων, Joh 3,1). Josef wäre „aus Furcht vor den Juden“ (Joh 19,38) nur heimlich Jesusjünger gewesen und auch Nikodemus kommt nur im Dunkel der Nacht zu Jesus und wagt ihn nicht offen zu bekennen (Joh 3,2; 7,52). Es ist anzunehmen, dass der vierte Evangelist in diesen Figuren konkrete Zeitgenossen porträtiert, die für seinen Geschmack zu wenig „offensiv“ für ihre Jesus-Jüngerschaft eintreten. Auch wenn das „Parting of the Ways“ zur Zeit des vierten Evangeliums offensichtlich noch nicht vollzogen war, scheint sich der Autor eine Scheidung bereits herbeizuwünschen. So A. Reinhartz:354 Although it is not possible to conclude that this rhetorical „parting“ reflected or corresponded to a historical „parting,“ it is noteworthy that by the end of the first century there is at least one Christ-confessing text that envisions a mode of Christian self-identification outside of and separate from Judaism. … But by rhetorically positing a great divide between Christ-confessors and non-Christ-confessing Jews, the Gospel of John itself may well have contributed to the views and arguments that would eventually lead Christ-confessors to define themselves and their communities outside of and in diametrical opposition to Jews and Judaism.
Der vierte Evangelist hätte damit Tendenzen der späteren Kirchenväter vorweggenommen, die das „Parting of the Ways“ aus ideologisch-identitätsstiftender Gründen vorantrieben (s.o. I.2.2.5), obwohl es parallel dazu auch Konzepte einer friedlichen Koexistenz gab. Ähnlich wie für die Gemeinde des Matthäusevangeliums darf man annehmen, dass auch in der joh Gemeinde die Aufnahme von NichtJuden (vgl. Samaritanermission: Joh 4, s.o. III.11.6, und Griechenmission: Joh 7,35; 12,20) zu Spannungen mit der Synagogengemeinde führte. Aber offensichtlich gab es nicht nur in der Gesamtkirche unterschiedliche Geschwindigkeiten beim „Parting of the Ways“, sondern auch in der joh Gemeinde selbst, wie die oben erwähnten jesusgläubigen Juden verdeutlichen. Nikodemus und Josef von Arimatäa aber zeichnet Joh bewusst ambivalent, ebenso gibt es bei den „vielen, die an ihn glaubten“ stets eine Einschränkung, wie etwa in Joh 2,24: „Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle.“ Hier hat der Evangelist zwar „ein ‚Judenchristentum‘ vor Augen, das noch nicht von Israel bzw. vom Synagogenverband getrennt ist“,355 doch ist ihm dieses ein Dorn im Auge. „Sein Anliegen zielt … dahin, 353 354 355
Vgl. Theobald, Evangelium, 69. Reinhartz, Gospel, 465 und 471. Theobald, Evangelium, 69 (Original kursiv); einen „Synagogenverband“ im Sinne einer übergreifenden Administration gab es damals allerdings nicht.
388
V. „Tora“ und „Tempel“ als identity markers in Frühjudentum und Frühchristentum
die Leser von der Notwendigkeit einer eigenen kirchlichen Identität abseits der Synagoge zu überzeugen.“356 Das JohEv nimmt damit für das „Parting of the Ways“ eine „katalysatorische Rolle“ ein.357 So erfreulich die Schlussfolgerung ist, dass das „Parting of the Ways“ auch im vierten Evangelium noch nicht vollendet war, so bedauerlich bleibt die Einsicht, dass in den Anfängen des Christentums nur allzu oft eigene Identität aus der Abgrenzung und Diffamierung der „anderen“ gewonnen wurde (s.o. I.2.2.5), so leider auch beim vierten Evangelisten. Damit wird das „Parting of the Ways“ auch zu einer Schuldgeschichte, die das hohe integrative Ideal Jesu nicht zu bewahren vermochte.
356 357
Theobald, Evangelium, 66; ähnlich: Frey, John, 185–215. Theobald, Evangelium, 69.
Ein Schlusswort zu identity markers
Die Rede von einer „Beschneidung des Herzens“ ist schon im AT verbreitet1 und zielt darauf ab, nicht mechanistisch anhand eines Ritus, sondern aufgrund der inneren Haltung über gerecht oder ungerecht zu entscheiden. Paulus übernimmt diese Vorstellung in Röm 2,25–29, und führt damit die schon bei Philon präsente (s.o. V.9.2.2) Zuspitzung der gesamten Tora auf das Liebesgebot weiter. Ähnlich wie die extremen Allegoristen (s.o. V.8.2.3), will er die Gebote „durch den Geist, nicht durch den Buchstaben“ (ἐν πνεύματι οὐ γράμματι) erfüllen; eine Beschneidung des Leibes ist nicht mehr vonnöten. Eine ähnliche Konzeption hat lange nach Paulus K. Rahner mit seinen „anonymen Christen“ entwickelt:2 Den wahren Christen erkennt man an der Praxis des Liebesgebots. Deswegen kann ein Ungetaufter, der das Liebesgebot lebt, „christlicher“ sein als ein getaufter Christ ohne dieses Engagement. Die Konzeption Rahners wurde zu Recht kritisiert, da sie zu einer christlichen Vereinnahmung anderer Religionen führen kann. Um hegemoniale Universalitätsansprüche aber geht es weder Paulus noch Rahner. Beide folgen einer alten Argumentationsfigur, die nach identity markers fragt: „Was bestimmt einen wahren Juden/Christen?“ Die Frage will nicht nach außen vereinnahmen, sondern nach innen für die eigene Glaubensgemeinschaft Wertmaßstäbe setzen. In gleicher Weise fragt schon Izates, der Thronfolger von Adiabene, was er tun müsse, um ein „richtiger Jude“ (βεβαίως Ἰουδαῖος, Josephus A.J. 20,38) zu werden (s.o. V.8.1.4). Und ähnlich ringen wir auch noch heute, wenn wir bestimmen wollen, wie das „typisch Katholische“ (solche Dialogismoi sind zuerst aus dem Blickwinkel der eigenen Kirche angebracht) aussehen soll. Der Ausdruck „katholisch“ – ursprünglich ein Begriff der allumfassenden Weite (κατά, kata – ὅλον, holon‚ „das Ganze betreffend“) – nimmt sich im Mund der ultrakonservativen Piusbrüder anders aus als bei sozialkritischen Befreiungstheologen. Ähnliche Fragen gibt es auch in der evangelischen Kirche, wo Freikirchen „kantigere“ Positionen einmahnen und moderne Exegese als „nicht mehr bibeltreu“ anprangern. Auch heute könnten wir im Christentum einen Strahl von konservativ bis liberal ziehen
1
2
Lev 26,41; Dtn 10,16; 30,6; Jer 4,4; 9,24f. Parallel dazu gibt es auch eine Beschneidung der Lippen (Ex 6,12.30) und der Ohren (Jer 6,10). Vgl. dazu auch Jer 31,33f.; Ez 11,19f.; 44,7; Jub 1,23; 4Esr 6,26. Frankemölle, Frühjudentum, 251. Vgl. Rahner, Christen, 545–554; ders., Christentum, 498–515.
390
Ein Schlusswort zu identity markers
(s.o. III.7.4, Exkurs 2), und wieder sind es unterschiedliche identity markers, an denen die „Rechtgläubigkeit“ bemessen wird.3 Ähnlich wie die extremen Allegoristen und Paulus interpretierten auch der Aristeasbrief, Philon und Josephus die Ritualund Reinheitsvorschriften über ihren ethischen Sinngehalt. Anders als die extremen Allegoristen, Zambri, Ananias und Paulus aber halten Aristeasbrief, Philon und Josephus auch weiterhin an der Befolgung des Wortsinnes der Ritual- und Reinheitstora fest. Auf den ersten Blick mögen uns die extremen Allegoristen sympathischer erscheinen. Doch religionssoziologisch betrachtet wären dem Judentum durch diese Praxis wesentliche identity markers abhandengekommen. Die moderne Psychologie lehrt uns, dass identity markers für die Entwicklung des eigenen Selbstverständnisses unabdingbar sind. So etwa gewinnen Reinheits- und Speisetabus durch den Bio-Trend momentan ganz abseits von religiösen Fragestellungen einen neuen Stellenwert und werden auf einmal zu identity markers für ein mondänes und umweltbewusstes Publikum. Im Extremfall kann „Orthorexie“ (der psychische Zwang, „richtig“ zu essen) sogar zu einer krankheitswertigen Störung werden – ganz ohne Konnex zu einer „Religion“. Auch der naturnahe Lebensstil des Einsiedlers Banus, der Kleidung und Nahrung nur aus selbstwachsenden Naturgütern bezog und dem sich Josephus nach Vita 11 eine Zeitlang anschloss, wirkt heute nicht mehr so befremdlich, wie vor Beginn der Öko-Bewegung. Identity markers können also changieren, sind aber für die Formung der eigenen Persönlichkeit unerlässlich. Auch heute müssen sich Religionen fragen, welche identity markers ihre „core values“ ausmachen und welche weniger wichtig sind: Welche „Adaptationen an den Zeitgeist“ sind notwendig, um nicht schrullig und verkappt zu wirken – und wie viel „kreatives Widerstandspotential“ muss verbleiben, um nicht inhaltlich leergespült und beliebig zu sein. Paulus (und vor ihm die „Hellenisten“ aus Apg 6) sah die Chance gekommen, die in der Diaspora nur schlecht vermittelbaren identity markers von Speise- und Beschneidungsvorschriften mit einem neuen Identitätsmerkmal zu ersetzen, dem Glauben an Jesus Christus. Dies ist einer der Gründe, dass seine Botschaft so erfolgreich vermittelt werden konnte. Dies aber ist kein Grund für Überlegenheitsgefühle, wie es das Christentum zu völligem Unrecht immer wieder gegenüber dem Judentum an den Tag legte: Die Christen seien der „Bund der Gnade“, während das Judentum der „Bund des Buchstabens“ geblieben sei, hört man häufig in Verzerrung paulinischer Aussagen. Identity markers dienen zwar dazu, die eigene Persönlichkeit zu profilieren, doch wenn eigene Identität aus der Abgrenzung und Diffamierung der „anderen“ gewonnen wurde, ist dies die schwächste Form von Identitätsbildung.
3
Das gilt für alle Religionen: Bei muslimischen Frauen gibt es verschiedenen Möglichkeiten, das Kopftuch zu tragen: konservativ (Ganzkörperverhüllung) bis liberal (das Kopftuch als legeres Mode-Accessoire). Ähnliche Abstufungen gibt es auch in der Bekleidung orthodoxer Juden oder katholischer Priester (von Soutane bis Anzug mit Ansteck-Kreuz).
Ein Schlusswort zu identity markers
391
Übrigens ist auch dem Christentum das Ringen um identity markers weiterhin erhalten geblieben, wenn auch transformiert auf eine andere Ebene. G. Theißen schreibt dazu:4 Im Judentum ist die Spannung zwischen Gnadenreligion und Werkgerechtigkeit angelegt. Diese Aporie hat das Christentum aus dem Judentum heraus entstehen lassen. Und ich füge hinzu: Diese Aporie wird auch im Christentum nicht „gelöst“, sondern lebt in ihm weiter.
Wahrscheinlich ist die Grundspannung zwischen Gnadenreligion und Konsequenzen einfordernden Vorschriften, also die Spannung zwischen heilszusprechendem Indikativ und Handlungen forderndem Imperativ, in jeder (!) Religion gegeben. Die Frage an alle Religionen bleibt aber, ob und inwieweit die vorgegebene Lehre sinnstiftend und nachvollziehbar ist. Die Wahrnehmung von identity markers kann sich im Lauf der Zeit nämlich wandeln: Speisevorschriften kennt die katholische Kirche zwar nicht mehr, dafür aber Sexualtabus in Gestalt von Zölibat, dem lange erfolgten Ausschluss „wiederverheiratet Geschiedener“ von den Sakramenten oder im Umgang mit Homosexualität. Ohne diese identity markers (denn religionssoziologisch sind sie dies, zumindest für konservative Katholiken) nun auf Sinn oder Unsinn beurteilen zu wollen – kehren wir hier nicht wieder zur Diskussion um die strengen Reinheitsvorschriften zurück, die schon das Frühjudentum kannte (s.o. V.8.2.2)? Und: Ist das nun beruhigend oder beängstigend, dass wir dem „Diskurskontinuum“ so treu geblieben sind? Wahrscheinlich sind solche Diskussionen religionssoziologisch unerlässlich für den theologischen Fortbestand einer lebendigen Religion. Beruhigend ist, wenn wir uns eingestehen, immer Suchende zu sein und offen bleiben für eine Führung durch Gottes Geist. Beängstigend aber wäre, das Ende des Weges bereits erreicht zu wähnen und sich im „Besitz der vollen Wahrheit“ zu fühlen. Das nämlich würde das Diskurskontinuum abbrechen – und damit auch das Ende selbstkritischer Theologie bedeuten.
4
Theißen, Religion, 290.
Anhang
Zeittafel 725–697 722 639–609 597 587 538 538–333 520–515 um 450 408 333–63 333 332 323 322–301 301–200 200–135 175–164 6. 12. 167 167–164 166 166–160 14. 12. 164 160–142 153 142–135 135–104 104–103 103–76 76–67 67–63 63 v.-70 n. Chr.
Hiskija - König des Südreichs Fall des Nordreichs, Deportation der dortigen Stämme Joschija - König von Juda Erste Deportation ins babylonische Exil Tempelzerstörung, zweite Deportation ins babylonische Exil Heimkehr aus dem babylonischen Exil PERSISCHE ZEIT Wiederaufbau des Tempels („Zweiter Tempel“) Bau des Tempels am Garizim Bittschreiben der jüdischen Militärkolonie Elephantine HELLENISTISCHE ZEIT Schlacht bei Issos Alexander d. Gr. in Ägypten Tod Alexanders Diadochenkämpfe Palästina unter ptolemäischer Herrschaft Palästina unter seleukidischer Herrschaft Antiochos IV. Epiphanes, Jasons Gymnasion in Jerusalem Tempelentweihung, Verfolgung der Juden unter Antiochos IV. Befreiungskampf der Makkabäer Tod des Mattathias Judas Makkabaios Wiedereinweihung des Tempels (Chanukka) Jonatan Jonatan übernimmt das Amt des Hohepriesters, Abspaltung der Essener, Jonatan als „Frevelpriester“ Simon regiert als „Fürst“, „Hohepriester“ und „Heerführer“ Johannes Hyrkanos I., Zerstörung des Tempels am Garizim Aristobulos I. (trägt als erster Hasmonäer den Königstitel) Alexander Jannaios (lässt 800 Pharisäer hinrichten, deren Parteiung hier zum ersten Mal historisch greifbar wird) Salome Alexandra (arrangiert sich mit den Pharisäern) Aristobulos II. FRÜHRÖMISCHE ZEIT
394
63 63–40 40–37 37–4 20 v.–50 n. 26 n. Chr. spät. 4 v.–30 n. 4 v.–6 n. 4 v.–33/34 n. 4 v.–39 n. 6–41 n. Chr. 32 37–44 37–nach 100 40 42/43 44–66 48/49 49 50–93 50–51 56 61 62 64 66 67 69 August 70 70–200 nach 70 ca. 85–110 110–112 132–135 135–175 175–217 200–330
Anhang
Pompeius erobert Jerusalem und betritt das Allerheiligste des Tempels Hyrkanos II., Antipatros und seine Söhne Phasael und Herodes als „Heerführer“ in Palästina Mattathias Antigonos als letzter Hasmonäerkönig Herodes d. Gr. Philon von Alexandria Auftreten des Täufers Jesus von Nazaret (wahrscheinlich † 14. Nisan / 7. April 30) Archelaos Philippos Herodes Antipas Judäa unter römischen Prokuratoren. Der Zensus des Quirinius löst 6 n. Chr. den Aufstand des Judas Galilaios aus, es entsteht die Partei der Zeloten. Pontius Pilatus amtiert von 26–36. Bekehrung des Paulus Agrippa I. Flavius Josephus Philons Gesandtschaft zu Caligula Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus unter Agrippa I., Flucht des Petrus aus Jerusalem Palästina unter den römischen Prokuratoren, Zunahme von Aufständen und Zeichenpropheten (Theudas u.a.) Apostelkonvent und Antiochenischer Konflikt Claudiusedikt: Ausweisung der Judenchristen aus Rom Agrippa II. Paulus in Korinth (Konsulat des Gallio: 51–52) Paulus in Jerusalem (Apg 20,16), Kollektenübergabe, Gefangensetzung und Überstellung nach Caesarea unter Präfekt Felix Paulus appelliert an den Kaiser, da Präfekt Festus das Verfahren verschleppt, und wird nach Rom überstellt Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus durch den Hohepriester Ananos II. nach dem plötzlichen Tod des Präfekten Festus Brand Roms, Christenverfolgung unter Nero in Rom, im Zuge dessen Märtyrertod des Paulus und wohl auch des Petrus Beginn des Jüdischen Krieges Vespasian erobert Galiläa Vespasian wird zum Kaiser ausgerufen Vespasians Sohn Titus erobert Jerusalem und zerstört den Tempel MITTELRÖMISCHE ZEIT Jochanan ben Zakkai sammelt jüdische Lehrer in Javne Gamaliel II. von Javne Plinius-Trajan-Korrespondenz zur Situation der Christen Bar Kochba-Aufstand Zeit des Judentums in Uscha Jehuda ha-Nasi („Rabbi“); Abfassung der Mischna SPÄTRÖMISCHE ZEIT
Anhang
395
Spektrum Frühjudentum und beginnendes Christentum Frühjudentum „extreme Allegoristen“ Zambri Ananias „Hellenisten“ (Apg 6) / Paulus Die Gesetze der Tora zielen auf eine rein innere, ethische Befolgung ab, eine äußere Einhaltung von Reinheitsund Ritualvorschriften ist nicht mehr nötig.
Aristeasbrief Philon Flavius Josephus Jesus, Q, MtEv
Sadduzäer
Pharisäer
Qumraniten
Priorität der ethischen Gesetzesauslegung unter Beibehaltung von Ritualund Reinheitsvorschriften.
Ritual- und Reinheitsgesetze werden hauptsächlich in Verbindung mit dem Tempel gelebt, Tempelzentriertheit.
Die Reinheitsvorschriften der Tempelpriester werden auf das eigene Haus ausgeweitet.
Noch strengere Auslegung der Reinheits- und Kultvorschriften als bei Pharisäern und Sadduzäern.
„liberal“
„konservativ“1
Beginnendes Christentum
1 2
Markion
Pastoralbriefe
Radikale Ablehnung des jüdischen Erbes. Minimalkanon aus zehn Paulusbriefen und „gereinigtem“ LkEv. Verwerfung des AT.
IsraelVergessenheit
„Hellenisten“ (Apg 6) Paulus MkEv LkEv/Apg JohEv Ethische Interpretation der Tora und christliche Deutung des AT. Den Ritualund Reinheitsvorschriften der Tora kommt keine heilsstiftende Bedeutung mehr zu.
Petrus Jakobus Apostelkonvent MtEv
„Judaisten“2 (Apg 15,1) „Falschbrüder“ (Gal 2,4) Ebioniten
Heidenchristen sind von Ritual- und Reinheitsgesetzen frei. Judenchristen sind auf das volle Gesetz verpflichtet und halten Ritual- und Reinheitsvorschriften.
Ritual- und Reinheitsvorschriften bleiben ungebrochen für alle in Kraft. Ebioniten lassen nach Irenäus AdvHaer 1,26,1 (s.o. I.2.2.5) nur das MtEv gelten und lehnen das Corpus Paulinum ab.
Zu den Ausdrücken „liberal“ und „konservativ“ s.o. III.7.4, Exkurs 2. Zu den „Judaisten“ vgl. Betz, Art. Judaisten, 1006.
396
Herrschaftsverhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu
Entnommen aus Ebner/Schreiber, Einleitung in das Neue Testament, 601.
Anhang
Anhang
397
Das Haus der Hasmonäer Mattathias † 166
1. Johannes † 160
2. Simon reg. 142-135
3. Judas Makkabaios reg. 166–160
Judas † 135
Mattathias † 135
Johannes Hyrkanos I. reg. 135–104
Aristobulos I. 👑 104–103
Salome Alexandra 👑 76–67
Alexander Jannaios 👑 103–76
Hyrkanos II. reg. 63–40, † 30
Aristobulos II. 👑 67–63 † 49
Alexandra † 29
Alexander † 49
Aristobulos III. † 35
Mariamme I. ⚭ Herodes I. † 29
4. Eleasar † 162
5. Jonatan reg. 160–142
Antigonos † 103
zwei weitere Söhne
Mattathias Antigonos 👑 40–37
Aktualisierte und überarbeitete Neufassung eines Diagramms aus Reike/Rost, Biblisch-historisches Handwörterbuch (CD-ROM). Die fette Umrandung bezeichnet Regenten; Herrscher, die den Königstitel trugen, sind mit 👑 markiert. Einfache Striche zeigen die Abstammung an, doppelte Striche die Eheschließung.
Antipatros † 4 v. Chr.
1. Doris
Herodias
Agrippa I. 👑 37–44 n. Chr.
Drusilla ⚭ Felix
Herodes von Chalkis 👑 41–48 n. Chr.
Berenike 28–68 n. Chr. Salome
Archelaos reg. 4 v. – 6 n. Chr.
Herod. Antipas reg. 4 v. – 39 n. Chr.
4. Malthake
Aktualisierte und überarbeitete Neufassung eines Diagramms aus Reike/Rost, Biblisch-historisches Handwörterbuch (CD-ROM)
Die fette Umrandung bezeichnet einen Regenten. Herrscher, die den Königstitel tragen durften, sind mit 👑 markiert. Einfache Striche zeigen die Abstammung an, doppelte Striche die Eheschließung.
Agrippa II. 👑 50–93 n. Chr.
Herodes Boethos
Aristobulos † 7 v. Chr.
3. Mariamme II.
Alexander † 7 v. Chr.
2. Mariamme I. † 29 v. Chr.
Herodes I. 👑 37–4 v. Chr.
Philippos reg. 4 v. – 34 n. Chr.
5. Kleopatra
6.–10. Gemahlin
398 Anhang
Das Haus des Herodes
Register
Sachregister Die Kursivsetzung weist im Sachregister darauf hin, dass das betreffende Stichwort nicht nur auf der genannten, sondern auch auf den folgenden Seiten behandelt wird. ‘am ha-᾿arez 57, 169 1. Henochbuch 202, 207, 284, 300 1. Makkabäerbuch 59 1QHodayot 140 2. Baruchbuch 210 4. Esrabuch 210, 293, 337 4QMMT 126, 142, 213, 288, 299, 361 Aelia Capitolina 46, 117 Agapius von Hierapolis 90 Agrippa I. 100, 238 Agrippa II. 102, 269 Alexander der Große 57, 220 Alexander Jannaios 72, 124, 143, 281 Alexandria 61 Amoräer 119 Analphabetismus 228 Antiochenischer Konflikt 239 Antiochia 239 Antiochos IV. Epiphanes 62, 121, 206 Antipatros 76 Antiquitates Iudaicae 200 Apokalyptik 203, 263, 282 Apokryphen 202, 212 Apostelgeschichte 217 Aposteltitel 26 apostolische Zeit 26 Aqiva 33, 114, 117, 313 Aramäisch 336 Archäologie 217 Archelaos 85 Aristeasbrief 175, 351 Assimilation 171
Assumptio Mosis 210 äthiopisches Henochbuch Siehe 1. Henochbuch Augustus 77 babylonisches Exil 56 Bar Kochba 115, 138, 327 Beschneidung 171 Betlehem 91 Bilderverbot 163 Bildreden aus 1 Hen 336 birkat ha-minim 31, 114 Bundesschluss mit dem erwählten Volk 285 Caesar 76, 77 Caesarea-Philippi 109 Caligulakrise 100, 181, 245 Chassidim 66, 121 Christ/Christen 27, 252 Claudiusedikt 37, 245 common Judaism 21 Contra Apionem 200 cultural split 268, 280 Damaskusschrift 213 Danielbuch 208, 336 De bello Iudaico 199 Dekapolis 267, 272 Diadochenkämpfe 59 Diaspora 61, 170, 192, 245, 294, 390 Diocaesarea Siehe Sepphoris early Judaism Siehe Frühjudentum Ehelosigkeit 151, 256 Epiphanius von Salamis 43
400 Eruv 148 Eschatologie 204, 280, 291 Essener 121, 125, 137, 143, 147, 157, 167, 255, 258 Essenertor 148 Ethisierung 306 Ethnarch 69, 85, 156, 171 Eusebius von Caesarea 41 extreme Allegoristen 182 fiscus Iudaicus 47, 113 Flavius Josephus 108, 127, 147, 198 Flavius Silva 112 Frevelpriester 125, 302 Frühchristentum 26, 27, 51, 330 Frühchristentümer 53 Frühjudentum 17, 253, 330, 336 Galiläa 268, 271, 273 Gallio-Inschrift 246 Gamaliel II. 31, 114, 118 Garizim 98, 221, 352 Geonim 119 Gesetzesverständnis 369 Goldenes Zeitalter 277 Golgota 93 Gottesfürchtige 243 Gottesreich 29 Hadrian 115 Hasidäer Siehe Chassidim Hasmonäer 70 Helena von Adiabene 105 Hellenisierung 19, 268, 277, 281 Hellenismus 58 Hellenisten von Apg 6 236, 347 Henochs Epistel 283 Herodes Antipas 85, 86 Herodes der Große 77 Herodianer 136 Hieronymus 44 Hilasterion 56, 349 Hillel 118, 119 Himmelfahrt Mose Siehe Assumptio Mosis Ḥirbet Qumran 137 identity markers 389 Inschrift von Priene 277 intertestamentarisch Siehe Frühjudentum Irenäus von Lyon 39
Register Izates von Adiabene 24, 105 jaḥad 143 Jakobus der Herrenbruder 106 Jakobusklauseln 241 Jason 62 Javne 19, 113, 117 Jehuda ha-Nasi, „Rabbi“ 118 Jerusalemer Urgemeinde 247 Jesus ben Ananias 233, 254, 279 Jesus von Nazaret 89, 98, 223, 225, 260, 279, 282, 307, 320 jesusgläubige Juden 372 Jochanan ben Zakkai 113, 119 Johannes Chrysostomus 42, 45 Johannes der Täufer 88, 223, 225, 258, 282 Johannes Hyrkanos 123, 220, 325 Johannes von Gischala 108, 110 Johannesevangelium 129 Johannes-Offenbarung 250 Jonatan 67, 125 Joseph und Aseneth 171 Jubiläenbuch 203, 208 Judaizanten 45 Judas Galilaios 108, 160, 164, 282 Judas Makkabaios 65 Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels 18 Jünger/Jüngerin 28, 30 Justin der Märtyrer 38 Kaiserkult 162, 250 Kanon 18, 114, 295 Königsherrschaft Gottes 281 Kontextplausibilität 279 Kreuzestitulus 261 Kriegsrolle 213 Kultmetaphorik 306 Kyrill von Jerusalem 42 Lehrer der Gerechtigkeit 125, 126, 143, 155, 257, 290 lēstai 162, 164 Liber antiquitatum biblicarum 162 Liebesgebot 361, 362 Logienquelle 129, 371 lukanisches Doppelwerk 382 Lukasevangelium 248 Machairos 82, 89 mainstream Judaism 21
Register Makkabäer 65, 121, 281 Markusevangelium 130 Masada 111 Mattathias 65 Matthäusevangelium 130, 380 Mauern Jerusalems, Erste Mauer 71 Mauern Jerusalems, Zweite Mauer 71, 93 Mauern Jerusalems, Dritte Mauer 71, 101, 108 Menschensohn 202 Messias 28, 33, 325 Messiasprätendenten 327 middle Judaism 17, 20 Mischna 118 Mischna Avot 127 Monotheismus 285 Musar leMevin 292, 308 Nachum-Pescher 124 Naturrecht 366 Nazaret 86, 91 Nero 248 normatives Judentum 20 Octavianus Siehe Augustus Option für die Armen 273 Origenes 40 Osterereignis 234 Parting of the Ways 28, 50, 190 Paulus 127, 217, 239, 243, 244, 247, 295, 301, 358, 383, 390 Pescher 213 Pescher-Exegese 258 Pharisäer 70, 72, 73, 106, 121, 123, 127, 132, 145, 157, 161, 167, 198, 254 pharisäisch-rabbinisches Judentum 20 Philippos, Tetrarch 86 Philon von Alexandria 100, 105, 150, 175, 181 Plinius der Jüngere 28, 251 Pluriformität des Frühjudentums 23 Pompeius 74, 75, 281 Pontius Pilatus 95 popular Judaism 167 Proexistenz 234 Prophet wie Mose 155, 156, 257, 290 Protologie 280, 289, 291, 295, 302, 309, 319, 321 protomasoretischer Text 179 Psalmen Salomos 127, 209
401 Pseudepigrapha 47, 202, 212 Ptolemäer 59, 60, 280 Qumran 137, 258, 289 Qumrantexte 212, 255, 256 Rabbi 119 Rabbinen 113 Rabbinisches Judentum 20, 118, 131, 215 raṣ nihjeh 292, 308 Räuber Siehe lēstai religio licita 77, 187 Restitution der prälapsarischen Unversehrtheit 311 Rewritten Scripture 212 Rezensionen der LXX 180 Ritual- und Reinheitstora 184, 312, 367 Römerbrief 246 römisches Bürgerrecht 358 Sabbatheiligung 148, 171, 187, 317 Saboräer 119 Sadduzäer 121, 127, 132, 142, 157, 167, 254 Salome Alexandra 73 Samaritaner 218, 237, 263 Samaritanermission der ersten Christen 264 Sammlung Israels 29 Sanhedrin 99, 233 Schammai 119 Schim‘on Ben Kosiba Siehe Bar Kochba Schöpfungsordnung 288, 309 Second Temple Judaism 18 sectarian Judaism 21 Segregation 171 Seleukiden 59, 61, 280 Sepphoris 86, 109, 267, 269, 270, 272 Septuaginta 175, 301 Sikarier 106, 165 sikarikon-Gesetz 113 Simon bar Giora 110 Sinaitisches Gesetz 309, 366 Sittengesetz 184 Sozialbandit 79, 164, 266, 274 soziale Desintegration und „Anomie“ 265 soziale Spannungen 60, 83, 112, 164, 165, 206, 262, 265, 267, 268, 270, 280, 283 Spätjudentum Siehe Frühjudentum Spiritualisierung 306
402 Spiritualisierung von Opfermetaphorik 304, 349 Steuerpächter 75 Synagogen 191, 236 Synagogenausschluss 32 Synagogengottesdienst 195 Synagogenpredigt 196 Synhedrion Siehe Sanhedrin Synode von Javne/Jamnia 31 syrisches Baruchbuch Siehe 2. Baruchbuch Tannaiten 119 Targumim 216 Täuferjünger 251 Tempel 285, 302, 320 Tempel als Menschen-Heiligtum 306 Tempel, endzeitlicher 305 Tempel, himmlischer 305 Tempelkritik 231, 236, 237, 254, 304, 322, 347 Tempelrolle 288, 300 Tempelzerstörung 55 Tertullian 40
Register Testamente der Zwölf Patriarchen 209, 362 Testimoniensammlungen 301 Testimonium Flavianum 89 Tetrarch 85 Theodotos-Inschrift 193, 195 Theudas 33, 104, 278 Tiberias 87, 109, 267, 268, 270, 272 Tiberius Alexander 49, 104, 105, 181, 282 Tora 285, 286, 307, 360, 364, 380 Tora-Schrein 193 Urbanisierung 268 Urzeit-Endzeit Analogie 309 Uscha 117 Vespasian 110 Vita des Josephus 200 Wadi ed-Daliyeh 117 Wandercharismatiker 266 Werke des Gesetzes 361 Zeichenpropheten 266, 274, 278 Zeloten 107, 160, 166, 259, 282, 328 Zenon-Papyri 60 Zensus des Quirinius 94, 162, 282
Register
403
Stellenregister (in Auswahl)
1. Altes Testament Num 24,17 327
11,30–37 69
27,2 339
Dtn 24,1–3 313
2Makk 11,22–26 66
Ez 4,12 338
1Kön 11 25
Spr 18,22 314
Dan 11,30 326
Neh 8,1–8 20
Jes 2,2–5 29 52,7 330 60,4 29 61,1–2 329
Hos 1,2–9 338
Jer 7,4–7 231
Mal 2,14–16 314
Est LXX 3,13e 174 1Makk 1,41–50 63 1,54–64 64 9,23–27 67
Mi 4,2f. 29 Sach 4,14 326
2. Frühjüdische Apokryphen und Pseudepigraphien 1Hen 37–71 336 48,5 336 62,5 336 69,27–29 336 93,9f. 291 94,7 283 96,4 283 97,8 283 99,5 315 100,2 316
4Esr 12,31f. 337 13 337 14,44–46 293
Aristobulos, Fragm. 5,1– 8 175
Arist 128.143–150 177, 307, 376 139–143 368 143 351
Jub 23,19 316 33,7 315 50,5.9 310
AssMos 10,1 310
TestRub 3,15 315
404
Register
3. Qumrantexte CD IV,20f. 314 VII,18–21 33 XII,1f. 154 XII,23-XIII,1 326 11Q13 330 11Q19 XLV,7–12 154 XLVI,13–16 147 LVI,1–4 288 LVII,17–19 314
1QGenAp XX,15 315 1QH XXIII,15 330
4Q174 III, 5–7 (= Frg. 1) 144 III,7 305
1QpHab VII,1–5 257, 326 XII,6–10 326 XII,6–10 68
4Q254 Frg. 4 326
1QS VI,18–20 149 IX,3–6 143
4Q285 326
4Q258 (= 4QSd) Frg. 1 Kol. II,1–7 149
4Q521 Frg. 2 + 4 II,12 330
4Q161 Frg. 8 + 9, 5–13 326
4. Philon von Alexandria Decal. 100f. 175 Hypothetica 11,14 (= Eusebius PraepEv 8,11,14) 152 Legat. 315 188
Migr. 89–93 182, 307 94 365 Prob. 75–91 150 76 143
Spec. 1,66f. 306 2,63 363, 379 2,64 175
5. Flavius Josephus A.J. 4,145–149 352 4,146–148 369 11,212 174 13,171 128 13,172f. 147 13,298 133 13,299 325 13,399–404 124
14,41 74 14,403f. 78 15,382f. 83 16,166 188 18,11 128 18,116–119 88 18,12–15 128 18,23–25 160 18,36–38 87
18,63f. 89 18,85–87 327 19,343–352 102 20,38–43 24, 350 20,97–99 327 20,169–172 327 20,188 327
Register B.J. 1,1–3 201 1,68 325 1,110–112 125 2,119 127 2,120 152 2,147–149 147 2,160 152
405 2,162–165 135 2,254f. 165 2,262f. 327 2,433f. 327 C. Ap. 1,38 298 2,121.125.148.258 174
2,171–174 368 Vita 12 198 32–38 108 38f. 269
6. Antike Inschriften Theodotos-Inschrift 195
7. Pagane Autoren Herodot, Hist. I,105; III,5.91; VII,89 25 Juvenal, Satiren 14,96–106 174, 175 Philostratos, Apollonios 5,33 174 Plinius d. Ä., NatHist 5,15,73 151
Plinius d. J. Ep. 10,96 an Trajan 251 Quintilian, InstOrat 3,7,21 174 Strabon, Geographika 16,2, 35–39 172 Suetonius, DeVitCaes Claudius 25,4 245 Domitianus 2,2 48 Nero 16,2 249
Tiberius 21,1 88 Tacitus Annalen 2,42,5 95 Annalen 15,44,2–5 248 Hist 5,4,3 175 Hist 5,4–9 171 Trajan , Ep. 10,97 an Plinius den Jüngeren 253
8. Neues Testament (samt Logienquelle Q) Logienquelle Q 3,16 226, 337 3,16b 331 3,7–9.16b–17 224 4,1–13 310 6,20f.27f.35c.29 262 6,22 36, 341 6,22f. 36
7,22f. 312 7,27 226 7,31–35 345 7,32 36 7,33 341 7,34 312 9,58 341 10,21f. 293
11,4 312 11,14–20 312 11,30 341 11,49 345 12,8f. 337 12,40 341 13,21 311 16,17 372
406 17,24 341 18f.7,22 329 Matthäus 1,19 315 3,13–17 345 5,18–20 381 5,32 315 8,2f. 312 12,40 341 15,1f. 134 23,2f. 130, 380 Markus 1,12f. 310 1,7–11 345 2,16f. 312 3,32–35 316 4,58 321 7,1f. 134 7,1–23 374 7,18–23 352 8,38 337 10,2–12 313, 314 10,35 328 10,42–44 262 11,9f. 260 Lukas 1,1–4 201 1,40–45 345
Register 3,1–3 91 4,17–21 330 5,17 134 6,15 328 7,37–39 313 13,1 98 Johannes 1,25–37 345 4,9–24 237 11,47–50 99 Apostelgeschichte 1,6f. 260 1,13 328 3,22 326 5,36 327 5,37 160 6,13f. 347 7,42–50 348 7,56 337 11,26 27 12,19–23 102 15,28f. 240 17,22–33 173 18,25 345 21,18–24 247 21,38 327 Römer 2,14 365
2,25–29 389 3,21 361 10,4 364 11,1 25 13,8–10 363 Galater 1 – 4 362 2,1–10 240 2,11–14 240 3,23–25 367 3,28 244 4,22–5,3 365 5,1 369 1 Thessalonicher 2,14f. 35 2,14–16 37, 370 2,15 174 Hebräer 2,6–8 337 1 Petrus 4,16 27 Offenbarung 1,13 337 12,7–10 310 14,14 337
9. Rabbinische Literatur bBer 47b 169 bEr 86b 193 bGit 90b 315 bPes 49a–b 169
bSot 22a 169 bSot 39b 193 bYom 84b 318 jTaan 4,8, fol. 68d 115, 327 mAv 1,1 118
mGit 9,10 313 mSot 7,8 a–b 101 tShab 9[10],22 318 tSot 5,9 315
Register
407
10. Patristische Literatur 1Klem 5,5–7 250 Agapius von Hierapolis, Universalgeschichte 90 Eusebius, HE 3,27 41 3,5,3 46, 111 4,5f. 117
Irenäus, AdvHaer 1,26,1 39 3,21,1 39 Johannes Chrysostomus, Adversus Iudaeos Homilien 1,1,5 42 4,4,1 43 8,4,7 43
Justin, Dial 47,1–3 38 Kyrill von Jerusalem, 4. Taufkatechese 37 42 Origenes, ContCel 5,61 40
Abkürzungen und Zitationsmodus
Allgemeine Abkürzungen Art. EÜ Ü.MT FS Mk, Mt, Lk, Joh MkEv, MtEv, LkEv, JohEv mk, mt, lk, joh MT V
Artikel (zur Kennzeichnung eines Lexikonartikels) Einheitsübersetzung eigene Übersetzung von M. Tiwald Festschrift Markus, Matthäus, Lukas, Johannes Markus-, Matthäus-, Lukas-, Johannesevangelium markinisch, matthäisch, lukanisch, johanneisch Masoretentext Vers(e)
Weitere Anmerkungen zu Abkürzungen und Zitationsmodus Literaturverzeichnis und Anmerkungen: Die verwendeten Abkürzungen richten sich nach Schwertner, S. (Hg.), IATG. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (TRE), Berlin 32014. Die in die anschließende Bibliographie aufgenommene Sekundärliteratur wird in den Anmerkungen mit Verfassernamen und Kurztitel zitiert. Der Kurztitel muss dabei nicht immer das erste Wort des Titels sein. Besteht die Gefahr einer Verwechslung unterschiedlicher Kurztitel vom gleichen Autor, wird nach dem vollen bibliographischen Beleg im Literaturverzeichnis in Klammer auch noch ein Verweis auf den Kurztitel hinzugefügt. Nichtdeutsche Vorsatzwörter zum Familiennamen (wie „De“, „van“ etc.) wurden – der immer öfter angewandten Praxis Rechnung tragend – als direkter Teil des Namens zitiert (z.B.: „De Troyer“ unter „D“, nicht unter „T“ – also nicht „Troyer, De“ wie früher üblich). Nur das deutsche „von“, wie „von Bendemann“, wird weiterhin unter „Bendemann, R. von“ zitiert. Umlaute werden nicht aufgelöst, d.h. „ä“ wird nicht unter „ae“ sondern gleichgestellt wie „a“ zitiert. Hebräisch: Hebräische Worte werden in wichtigen Fällen mit Vokal-Punktation wiedergeben, zumeist aber ohne. Die Transliteration des Hebräischen erfolgt rein phonetisch und verzichtet auf Sonderzeichen, da zumeist ohnehin das hebräische Original angeführt wird und die deutsche Umschreibung sonst zu sperrig würde. So werden matres lectionis nicht als ô, û etc. gekennzeichnet und auch e und æ etc. werden nicht unterschieden. Bibeltexte: Der Zitation von Bibeltexten wurde – wenn nicht explizit auf die eigene Übersetzung des Verfassers verwiesen wird (gekennzeichnet mit „Ü.MT“) – die Einheitsübersetzung 2016 zugrunde gelegt. Als Originaltext liegen dabei das Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland (28. Auflage) und die fünfte Auflage der Biblia Hebraica Stuttgartensia zugrunde. Die Stellenangaben jener Texte, die für die Logienquelle reklamiert werden, erfolgen – wie in der Q-Forschung allgemein üblich – durch das vorsetzte „Q“, wobei dieses die Angabe der beiden Referenztexte
410
Abkürzungen und Zitationsmodus
aus Mt oder Lk ersetzt (also „Q 11,2–4“ statt „Mt 6,7–13/Lk 11,2–4“). Der rekonstruierte Text richtet sich nach der griechisch/deutschen Edition Hoffmann, P./Heil, C. (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt 32009. Qumrantexte: Zählung und Zitation der deutschen Übersetzung erfolgt nach Maier, J. (Hg.), Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer I–II. München, 1995. Dabei wurden die textkritischen Anmerkungen – bis auf wenige für die Auslegung relevante Fälle – zugunsten einer leichteren Lesbarkeit weggelassen. Textrekonstruktionen für lakunösen Text wurden in eckiger Klammer belassen. Der hebräische Text folgt Abegg, M. G. (Hg.), Qumran Sectarian Manuscripts, Electronic Edition BibleWorks 8, 2001. Weitere Hinweise zu frühjüdischer Literatur und Rabbinica: Abkürzungen der Werke von Philon von Alexandria und Flavius Jospehus richten sich nach TRE (IATG 32014). Gleiches gilt für die Traktate der Rabbinica, mit vorgesetztem „m“ für Mischna, „t“ für Tosefta, „j“ für Talmud Jeruschalmi und „b“ für Talmud Bavli. Auch frühjüdische und frühchristliche Pseudepigrapha wurden nach TRE zitiert. Allerdings wurde äthHen durch 1Hen ersetzt, ebenso syrBar durch 2Bar, da die Originalfassungen dieser Bücher ja nicht „äthiopisch“ oder „syrisch“ waren. Zum deutschen Text der Werke von Flavius Josephus: Die Zitation der „Antiquitates“ von Flavius Josephus erfolgt – faute de mieux – nach der alten deutschen Ausgabe von Kaulen, da diese wesentlich näher am Original ist als die ungewöhnlich freie Wiedergabe bei Clementz. Da die KaulenAusgabe noch die alte Nummerierung bietet (in der nach der Nummer des Buches noch eine Kapitelzahl vor den Versangaben eingefügt wird), wurde bei direkter Anführung der Quellentexte stets – dem derzeitigen Standard entsprechend – die neue Zählung angeführt (zur Orientierung: die griechische Ausgabe von Niese bietet beide Zählweisen nebeneinander). Die altertümliche Orthographie der Kaulen-Ausgabe wurde an die heutige Schreibweise angepasst und gelegentliche unglückliche Formulierungen vom griechischen Original her entschärft. Die Zitation der Vita von Josephus erfolgt gemäß der Ausgabe von Clementz, doch auch hier wurde – anders als im Original – die neue Zählung übernommen (die englische Ausgabe von Manson, S., Life of Josephus, Boston 2003, bietet neue und alte Zählweise gemeinsam). Auch hier wurde die bisweilen altertümliche Orthographie geringfügig an heutige Standards angepasst. Zitation der Quellenschriften: Die Zitation aller Quellenschriften erfolgt nach den im Literaturverzeichnis unter „Quellenschriften“ angegebenen Textausgaben. Dort wird zumeist eine Ausgabe des Werkes in Originalsprache sowie in einer deutschen oder englischen Übersetzung angeführt. Die Abkürzungen richten sich dabei generell nach TRE (IATG 32014). Bei der Nennung paganer Autoren wurde – zugunsten einer leichteren Verständlichkeit – bisweilen auf Abkürzungen verzichtet.
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1. Quellentexte
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Philon und Josephus PHILON VON ALEXANDRIA Griechisch: Cohn, L., Philonis Alexandrini Opera quae supersunt. Bd. 1–6, Berlin 1962. Deutsch: Cohn, L., Philo von Alexandria. Bd. 1–7, Berlin 21962–1964. Die in Ed. Cohn nicht enthaltene Hypothetica wird zitiert nach der Textausgabe von Eusebius: Griechisch: Mras, K., Eusebius Werke. Bd. 8/1: Die Praeparatio Evangelica I, Berlin 1982. Englisch: Yonge, C. D., The Works of Philo Judaeus, the Contemporary of Josephus. Translated from the Greek, Bd.1–4, London 1854–55. Marcus, R., Philo. Supplement I. Questions and Answers on Genesis, Cambridge 1953. Marcus, R., Philo. Supplement II. Questions and Answers on Exodus, Cambridge 1953.
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