Freundschaft in der höfischen Epik um 1200: Diskurse von Nahbeziehungen 9783110228618, 9783110228601

Friendship is a phenomenon to be found in all epochs and cultures. However, the character of the relationship that is un

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German Pages 373 [376] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis als Teil der Kulturgeschichte
1. Freundschaft als anthropologisches Thema – das historische Erbe
2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften
2.1 Sozialwissenschaftliche Ansätze
2.2 Nahbeziehungen: Freundschaft im Verhältnis zu anderen Beziehungssystemen
2.3 Moderne – Vormoderne
3. Forschungsstand Spätantike und Mittelalter
4. Freundschaft in der höfischen Literatur um 1200
4.1 Konstituierung des Gegenstandes
4.2 Kriterien für die Textanalyse
4.3 Textcorpus und Terminologie
4.4 Kontexte
II Freundschaftsdiskurse um 1200 und ihre Vor-Geschichten
1. Diskurse von Freundschaft um 1200
2. Antike philosophische Freundschaftstraditionen und ihre christliche Transformation
2.1 Das antik-pagane und spätantik-christliche Erbe: Klassische Freundschaftskonzeptionen
2.2 Das Verhältnis paganer und christlicher Freundschaftskonzeptionen
2.2.1. Amicitia und caritas vor dem Hintergrund der Konflikte des vierten und fünften Jahrhunderts
2.2.2 Tradition und Erneuerung: Transformation und Integration paganer Vorstellungen in die christliche Freundschaftsauffassung
2.3 Christliche Freundschaft: Augustinus und Cassian als Wegweiser für das Mittelalter
2.3.1 Augustinus: Amicitia als höchste Form der caritas?
2.3.2 Cassian und Aelred von Rievaulx: Amicitia spiritualis als monastisches Ideal
3. Freunde und Liebende
3.1 Freundschaft und Liebe: Gegensätzliche und ähnliche Tendenzen
3.2 Männerfreundschaft und Frauentausch
III Case Study Iwein: Nahbeziehungen und mögliche Kontexte
1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?
2. Weibliche Herrschaft und Frauen am Hof: Laudine und Lunete
2.1. Modelle weiblicher Nahbeziehungen am Hof – Konrad von Megenberg und Elisabeth von Thüringen
2.2 Weibliche Herrschaft
3. Ehe, Liebe und Freundschaft im Spannungsfeld heteronormativer Verhältnisse und homosozialer Bindungen
3.1 Liebe und Freundschaft
3.2 Homosoziale Bindungen
3.3 Iwein und Lunete
4. Fragen und Probleme
IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik: Freundschaftstypologie – Muster und Diskurse und ihre außerliterarischen Referenzen
1. Männlich-symmetrische Bindungen
1.1 Männlich-symmetrische Freundschaften des Textcorpus’ im Überblick
1.1.1 Gawein-Freundschaften
1.1.2 Freundschaft am Hof: Tristan und Nibelungenlied
1.1.3 Der Verlust des Gefährten: Eneasroman und Chanson de Roland
1.1.4 Kampfgefährten und Waffenbrüder
1.2 Walter Map: De nugis curialium
1.3 Adlige Beziehungsstrukturen in historiographischen Befunden als möglicher Kontext: Waffenbrüder, strategische Partner, Gefolgsleute
1.3.1 Chronicon Hanoniense und Historia comitum Ghisnensium
1.3.2 L’Histoire de Guillaume le Maréchal
1.4 Gender und Freundschaft
1.4.1 Heroische Freundschaft und ihre Konzeptualisierung von Männlichkeit
1.4.2 Homosozialität und Ritterschaft
1.5 Ehre und Zweikampf als Elemente männlich-heroischer Freundschaft
2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen
2.1 Symmetrische Beziehungen zwischen Frauen
2.2 Asymmetrische weibliche Beziehungen: Die Figur der Confidente
2.2.1 Fenice und Thessala
2.2.2 Dido und Anna
2.2.3 Isolde und Brangäne
2.3 Homosoziale Beziehungen zwischen Frauen
2.4 Die Vertraute als Broker
2.5 Vertrauen und Emotionalität, Beratung und Geheimnis
3. Männlich-asymmetrische Bindungen
3.1 Onkel und Neffen, Vaterfiguren, Erzieher
3.1.1 Die Frage der Verwandtschaft
3.1.2 Herrscher, Onkel und väterlicher Erzieher: Kaiser Otto, Artus und Gurnemanz
3.1.3 Marke und Tristan
3.2 Freundschaft und Hofkritik
3.3 Marke und Tristan – Herrscher und Favorit
V Zusammenfassung und Ergebnisse
1. Aspekte von Freundschaft: Räumliche Situierung, Vertrauen, Emotionen
2. Strukturmodelle von Freundschaft: Similaritäts-/Identitätsprinzip versus Komplementärprinzip
3. ‚Höfische‘ Freundschaft?
VI Literaturverzeichnis
1. Werke
2. Lexika, Wörterbücher, Kataloge
3. Weiterführende Literatur
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Freundschaft in der höfischen Epik um 1200: Diskurse von Nahbeziehungen
 9783110228618, 9783110228601

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Caroline Krüger Freundschaft in der höfischen Epik um 1200

Caroline Krüger

Freundschaft in der höfischen Epik um 1200 Diskurse von Nahbeziehungen

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022860-1 e-ISBN 978-3-11-022861-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Krüger, Karoline. Freundschaft in der höfischen Epik um 1200 : Diskurse von Nahbeziehungen / von Karoline Krüger. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-022860-1 (alk. paper) 1. Epic literature, European Q History and criticism. 2. Friendship in literature. I. Title. PN694.E6K78 2011 809.1133Qdc22 2011015388

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Friendship is far more tragic than love. It lasts longer. Oscar Wilde

Meinen Freunden in Amsterdam, Berlin, Freiburg, Langen, Leipzig und Zürich

Vorwort Danksagungen sind eine langweilige und vorhersehbare Angelegenheit – könnte man meinen. Aber zum Abschluß der Arbeit an einem Buch gibt es keinen besseren Ort, um alle die zu versammeln, die die Entstehung begleitet haben. Die vorliegende Studie wurde im Sommer 2009 von der Philologischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertation angenommen und für den Druck leicht bearbeitet. Mein Dank gilt dem Walter de Gruyter Verlag, insbesondere Frau Manuela Gerlof und Frau Angelika Hermann, und weiterhin dem Freiburger DFG-Graduiertenkolleg „Freunde, Gönner, Getreue“, in dessen freigeistiger Atmosphäre die Dissertation geschrieben wurde und das großzügigerweise für den Druckkostenzuschuß aufgekommen ist. Ein großes Anliegen ist es mir, meinen Mentoren zu danken, die mir während der Promotion zur Seite standen: meinem Doktorvater HansJochen Schiewer, der auch als Rektor der Universität Freiburg ein offenes Ohr für König Artus und seine Freunde hatte, und Ricarda BauschkeHartung, die nicht nur in fachlicher Hinsicht diese Arbeit begleitet hat. Für meine Eltern und meine Schwester war der schnelle und erfolgreiche Abschluß der Promotion ein Moment voller Stolz und Freude. Ihnen sei gedankt für all die Unterstützung und Geduld, mit der sie immer dabei waren. Nicht vergessen sind die unzähligen Stunden, die meine Mutter mit der Korrektur des Manuskripts verbracht hat. Dieses Buch ist eine Studie über literarische und nichtliterarische Freundschaftsdiskurse in der höfischen Epik des Hochmittelalters und damit ein Beitrag zur aktuellen Forschung zum Nahbeziehungssystem Freundschaft. Aber dieses Buch ist auch Zeugnis gelebter Freundschaft, denn seine Verfasserin wurde und wird begleitet vom Austausch mit Maike, Agnes, Eric, Matthias, Judith und Thomas, Nadine, Carolin, Max, Laura, Bernadette, Thomas und Gesine. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Ein besonders herzlicher und freundschaftlicher Dank geht dabei an Judith Theben, ohne die aus der Dissertation kein Buch geworden wäre. München, 15. März 2011

Caroline Krüger

Inhalt I

Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis als Teil der Kulturgeschichte.................................................................................... 1 1. Freundschaft als anthropologisches Thema – das historische Erbe........ 1 2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften ....................... 10 2.1 Sozialwissenschaftliche Ansätze......................................................... 10 2.2 Nahbeziehungen: Freundschaft im Verhältnis zu anderen Beziehungssystemen ....................................................... 15 2.3 Moderne – Vormoderne ...................................................................... 18 3. Forschungsstand Spätantike und Mittelalter.......................................... 23 4. Freundschaft in der höfischen Literatur um 1200 ................................. 33 4.1 Konstituierung des Gegenstandes ....................................................... 33 4.2 Kriterien für die Textanalyse............................................................... 35 4.3 Textcorpus und Terminologie ............................................................. 37 4.4 Kontexte .............................................................................................. 42 II Freundschaftsdiskurse um 1200 und ihre Vor-Geschichten ..................... 49 1. Diskurse von Freundschaft um 1200..................................................... 49 2. Antike philosophische Freundschaftstraditionen und ihre christliche Transformation ...................................................... 60 2.1 Das antik-pagane und spätantik-christliche Erbe: Klassische Freundschaftskonzeptionen ............................................... 61 2.2 Das Verhältnis paganer und christlicher Freundschaftskonzeptionen . 68 2.2.1. Amicitia und caritas vor dem Hintergrund der Konflikte des vierten und fünften Jahrhunderts................................................ 68 2.2.2 Tradition und Erneuerung: Transformation und Integration paganer Vorstellungen in die christliche Freundschaftsauffassung 72 2.3 Christliche Freundschaft: Augustinus und Cassian als Wegweiser für das Mittelalter ........................................................ 78 2.3.1 Augustinus: Amicitia als höchste Form der caritas? ........................ 78 2.3.2 Cassian und Aelred von Rievaulx: Amicitia spiritualis als monastisches Ideal ...................................................................... 85 3. Freunde und Liebende........................................................................... 93 3.1 Freundschaft und Liebe: Gegensätzliche und ähnliche Tendenzen.... 94 3.2 Männerfreundschaft und Frauentausch ............................................... 97 III Case Study Iwein: Nahbeziehungen und mögliche Kontexte ................. 102 1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta? ................................................ 107 2. Weibliche Herrschaft und Frauen am Hof: Laudine und Lunete........ 120

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Inhalt

2.1.Modelle weiblicher Nahbeziehungen am Hof – Konrad von Megenberg und Elisabeth von Thüringen...................... 126 2.2 Weibliche Herrschaft......................................................................... 132 3. Ehe, Liebe und Freundschaft im Spannungsfeld heteronormativer Verhältnisse und homosozialer Bindungen............ 138 3.1 Liebe und Freundschaft..................................................................... 138 3.2 Homosoziale Bindungen ................................................................... 146 3.3 Iwein und Lunete............................................................................... 150 4. Fragen und Probleme .......................................................................... 152 IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik: Freundschaftstypologie – Muster und Diskurse und ihre außerliterarischen Referenzen ............................. 156 1. Männlich-symmetrische Bindungen.................................................... 160 1.1 Männlich-symmetrische Freundschaften des Textcorpus’ im Überblick...................................................................................... 165 1.1.1 Gawein-Freundschaften.................................................................. 165 1.1.2 Freundschaft am Hof: Tristan und Nibelungenlied ........................ 175 1.1.3 Der Verlust des Gefährten: Eneasroman und Chanson de Roland ............................................. 184 1.1.4 Kampfgefährten und Waffenbrüder................................................ 189 1.2 Walter Map: De nugis curialium....................................................... 191 1.3 Adlige Beziehungsstrukturen in historiographischen Befunden als möglicher Kontext: Waffenbrüder, strategische Partner, Gefolgsleute ............................. 195 1.3.1 Chronicon Hanoniense und Historia comitum Ghisnensium ......... 195 1.3.2 L’Histoire de Guillaume le Maréchal............................................. 199 1.4 Gender und Freundschaft .................................................................. 207 1.4.1 Heroische Freundschaft und ihre Konzeptualisierung von Männlichkeit............................................................................ 209 1.4.2 Homosozialität und Ritterschaft ..................................................... 217 1.5 Ehre und Zweikampf als Elemente männlich-heroischer Freundschaft .................................................... 221 2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen .......................... 229 2.1 Symmetrische Beziehungen zwischen Frauen .................................. 231 2.2 Asymmetrische weibliche Beziehungen: Die Figur der Confidente................................................................... 234 2.2.1 Fenice und Thessala ....................................................................... 235 2.2.2 Dido und Anna ............................................................................... 237 2.2.3 Isolde und Brangäne ....................................................................... 243 2.3 Homosoziale Beziehungen zwischen Frauen .................................... 254 2.4 Die Vertraute als Broker ................................................................... 258 2.5 Vertrauen und Emotionalität, Beratung und Geheimnis.................... 263 3. Männlich-asymmetrische Bindungen ...................................................... 267 3.1 Onkel und Neffen, Vaterfiguren, Erzieher ........................................ 267 3.1.1 Die Frage der Verwandtschaft........................................................ 269

Inhalt

XI

3.1.2 Herrscher, Onkel und väterlicher Erzieher: Kaiser Otto, Artus und Gurnemanz ................................................ 271 3.1.3 Marke und Tristan .......................................................................... 274 3.2 Freundschaft und Hofkritik ............................................................... 280 3.3 Marke und Tristan – Herrscher und Favorit ...................................... 289 V Zusammenfassung und Ergebnisse.......................................................... 305 1. Aspekte von Freundschaft: Räumliche Situierung, Vertrauen, Emotionen ........................................................................................... 310 2. Strukturmodelle von Freundschaft: Similaritäts-/Identitätsprinzip versus Komplementärprinzip.............................................................................. 314 3. ‚Höfische‘ Freundschaft? .................................................................... 319 VI Literaturverzeichnis................................................................................. 323 1. Werke .................................................................................................. 323 2. Lexika, Wörterbücher, Kataloge ......................................................... 326 3. Weiterführende Literatur ..................................................................... 326

I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis als Teil der Kulturgeschichte 1. Freundschaft als anthropologisches Thema – das historische Erbe „Mit der Freundschaft steht es weniger einfach. Sie zu erringen, ist ein langwieriges und hartes Unterfangen, aber wenn man sie einmal hat, wird man sie nicht wieder los und muß die Folgen tragen.“1 Das Urteil, das der Ich-Erzähler in Albert Camus’ Der Fall formuliert, irritiert, aber warum? Vermutlich, weil wir dauerhafte und verläßliche Freundschaften in der Regel für erstrebenswert halten und mit der Philosophin Marilyn Friedman übereinstimmen, die Freundschaft für eine der wichtigsten Beziehungen hält.2 Freundschaft ist in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt sowohl der sozial- als auch der geisteswissenschaftlichen Forschung gerückt,3 nachdem das Thema lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt wurde. In der Mediävistik stand das Phänomen zumeist im Schatten des vorrangigen Interesses entweder – bei den Historikern – an der Verwandtschaft oder – bei den Literaturwissenschaftlern – an der Liebe. Doch auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft ist in letzter Zeit die Freundschaft stärker in den Fokus gerückt.4 Die hier vorliegende Untersuchung nimmt dieses Interesse auf, indem sie die Nahbeziehung Freundschaft als kulturhistorisches und kulturanthropologisches Phänomen in der hochmittelalterlichen Epik um 1200 zum zentralen Gegenstand wählt. Die folgenden Seiten dieses ersten Kapitels verstehen sich als Einführung, allerdings nicht nur in die Thematik der Untersuchung im engeren Sinn, sondern als allgemeinere Annäherung an die Nahbeziehung Freundschaft 1 2 3

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Camus, Albert: Der Fall. Aus d. Franz. v. Guido G. Meister. Reinbek b. Hamburg 2006, 39. Aufl., S. 28. Friedman, Marilyn: Freundschaft und moralisches Wachstum. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45, 2, 1997, S. 235-248. Vgl. u.a. Descharmes, Bernadette / Heuser, Eric Anton / Krüger, Caroline / Loy, Thomas (Hrsg.): Varietes of friendship. Interdisciplinary perspectives on social relationships. (Freunde – Gönner – Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage, Bd. 1) Göttingen, erscheint im Mai 2011. Vgl. dazu die Literatur unter Punkt 3. Forschungsstand.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

als Thema der Kulturgeschichte, um auf diese Weise eine breitere Verständnisbasis für die Annäherung an die mittelalterlichen Freundschaftsdiskurse zu ermöglichen. Das Mittelalter scheint nicht die naheliegenste Epoche zu sein, wenn das Stichwort Freundschaft fällt, eher die Romantik, die Empfindsamkeit oder auch das 20. Jahrhundert mit so unterschiedlichen Charakterisierungen dieser interpersonalen Beziehung, wie sie oben vorgestellt sind. Das mag auch einer der Gründe sein, warum Freundschaft insgesamt und insbesondere der literarische Freundschaftsdiskurs für die mittelalterlichen Texte so wenig untersucht ist. In der Zeit der Romantik beispielsweise existiert neben dem romantischen Liebesideal auch ein romantisches Freundschaftsideal – beides ist im kulturellen Bewußtsein präsent. Für die mittelalterliche Literatur dominiert der Blick auf die Minne, doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die Freundschaft auch hier durchaus kein Nebenschauplatz ist. Daher sollen die folgenden Kapitel dazu beitragen, dem mittelalterlichen Sprechen über Freundschaft mehr Gewicht zu geben. Die Arbeit soll damit der Kultur- und Diskursgeschichte der Freundschaft einen Baustein liefern. Dabei wird Freundschaft der höfischen Liebe an die Seite bzw. in Spannung zu dieser Nahbeziehung gestellt, die bislang für die Zeit des Hochmittelalters mit der meisten Aufmerksamkeit rechnen konnte. Bevor aber die hochmittelalterliche Epik selbst und ihr Freundschaftsdiskurs thematisiert werden können, sind einige Überlegungen zur Herangegehensweise und theoretischen Einordnung der Beschäftigung mit dem kulturanthropologischen Phänomen Freundschaft notwendig. Wenn es um die hochmittelalterliche Freundschaft innerhalb der Kulturgeschichte dieser Nahbeziehung geht, ist das zunächst entscheidende Stichwort das der Kultur. Die Kulturgeschichte, so der Germanist Gerhard Neumann, kann als „die Geschichte des Kampfes um Ausdifferenzierung“5 beschrieben werden. Das Entscheidende im Prozeß solcher Ausdifferenzierung wäre dann aber wohl der Wandel der Verhaltens- und Bewertungsregeln; [...] dem Ziel, [...] Einsicht in diesen Wandel der Geschmacks- und Verwandlungsregeln der Kultur zu gewinnen, dient offenbar die Kulturgeschichte.6

Unsere Nahbeziehungen – familiäre Bindungen, Partnerschaft, Klientelverhältnisse, Freundschaft etc. – sind in ihren Erscheinungsformen, Codierungen und Deutungsmustern Teil dieser Kulturgeschichte, denn sie bezeichnen keine unveränderlichen ahistorischen Konstanten, sondern 5 6

Neumann, Gerhard: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Stegbauer, Kathrin / Vögel, Herfried / Waltenberger, Michael (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Berlin 2004, S. 131-160, S. 131. Ebd. S. 132.

1. Freundschaft als anthropologisches Thema

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unterliegen dem historischen Wandel. Und weil zudem Kultur nicht homogen ist, kennt auch jede Kultur zu jeder Zeit unterschiedliche, parallele, konkurrierende oder sich ergänzende Freundschaftsdiskurse und Freundschaftspraktiken.7 Freundschaft ist wie die anderen genannten Nahbeziehungen ein anthropologisches Phänomen,8 das in wohl allen Gesellschaften und Epochen seinen Platz hat; die Versuchung ist daher groß, von einer anthropologischen Konstante auszugehen. Zugleich aber unterliegt Freundschaft der kulturellen Varianz und dem Wandel der Bewertungen, was zu unterschiedlichsten Freundschaftsbegriffen in Raum und Zeit führt. Schnell ist man geneigt, einen unüberbrückbaren Abstand zwischen vergangenen Epochen und dem eigenen postmodernen Zeitalter anzunehmen oder zwischen einem westlich geprägten und einem außerwestlichen Verständnis. In Antike, Mittelalter oder Früher Neuzeit mag man über Freundschaft nachgedacht und geschrieben und sie zweifellos auch praktiziert haben, mit unseren heutigen Vorstellungen hat das alles nicht mehr viel zu tun. Camus’ Satz oben befremdet uns, weil er nicht so ganz zur Freundschaftsvorstellung unserer Kultur zu passen scheint. Diese unsere europäische Kultur9 kennt einen Freundschaftsdiskurs, der sein Fundament – kaum verwunderlich – in der Antike hat, und so hat auch unser modernes Bild von Freundschaft eine Geschichte, eine lange und reiche Tradition. Die Irritation, die das eingangs genannte Camus-Zitat auslöst, kann nur durch die Reflexion dieser Geschichte erklärt werden. Bereits aus diesen wenigen Überlegungen wird deutlich, daß man sich der Thematik Freundschaft nicht nähern kann, ohne die eigenen Bedeu7 8

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Für einen ersten historischen Überlick siehe u.a.: King, Preston / Devere, Heather (Hrsg.): The Challenge to Friendship in Modernity. London, Portland 2000. Wenn hier von Anthropologie und dem anthropologischen Problem Freundschaft die Rede ist, so sind dazu einige Erläuterungen notwendig, da mittlerweile mit diesen Begriffen zahlreiche Ansätze verbunden werden können. Es geht nicht um biologische Anthropologie und nicht um Anthropologie im Sinne eines bestimmten Weltbildes, sondern um das, was Thomas Nipperdey „die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft“ nennt. Er bezieht sich dafür auf die cultural anthropology und die philosophische Anthropologie und setzt als Grundannahme voraus, „daß sich die menschlich-historische Welt in einem Dreiecksverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Person konstiutiert“. Die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren zu erklären, „ist die Aufgabe einer anthropologische orientierten Geschichtswissenschaft“. Siehe dazu: Nipperdey, Thomas: Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft. In. Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18) Göttingen 1976, S. 33-58, S. 33 und 50. Der hier verwendete Kulturbegriff ist ein offener, dynamischer, wie er in der Ethnologie benutzt wird, um in der Analyse im Sinne einer foucaultschen „Ethnologie der eigenen Kultur“ vorzugehen. Lavagno, Christian: Michel Foucault: Ethnologie der eigenen Kultur. In: Moebius, Stephan / Quadflieg, Dirk (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S. 42-50.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

tungszuschreibungen zu reflektieren, will man den Blick für diese Nahbeziehung in historischen Texten öffnen. Generell gilt es, die longue durée im Hinterkopf zu behalten, der kulturanthropologische Phänomene unterworfen sind. Hans-Georg Gadamer formuliert in diesem Sinn in bezug auf das Problem der Wahrheit in den Geisteswissenschaften: „Auf Überlieferung hören und in Überlieferung stehen, das ist offenbar der Weg der Wahrheit, den es in den Geisteswissenschaften zu finden gilt.“10 Was unsere heutigen Auffassungen von Freundschaft bestimmt, kann nur deutlich werden vor dem Hintergrund der geistigen Tradition. Daher muß das philosophisch-historische Erbe in der Freundschaftsdiskussion immer präsent bleiben, wenn zeitgenössische Freundschaftsvorstellungen bearbeitet werden, und das setzt voraus, daß dieses Erbe sichtbar gemacht wird. Gleichzeitig muß immer mitgedacht werden, daß es die Perspektive des 21. Jahrhunderts ist, die den Blick auf dieses Erbe bestimmt: „Einerseits ist die Wirklichkeit das Resultat der Analyse und andererseits ist sie ihr Postulat.“11 Der heutige Betrachter überlieferter Texte, etwa mittelalterlicher Literatur, die den Gegenstand der folgenden Kapitel bildet, bringt ein modernes Verständnis eines Begriffes ein, der auf eine lange Geschichte zurückblickt. Heidrun Friese verweist darauf, daß der Begriff Freundschaft „Teil philosophischer Deutungstraditionen [ist], die ihn an die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst, zu anderen und die politische Gemeinschaft binden“12. Damit sind bereits die drei Dimensionen benannt, die für die Analyse von Freundschaft und Freundschaftskonzeptionen eine Rolle spielen: das Problem der Individualität und Identität im Verhältnis des einzelnen zu sich selbst, die Relation zum Gegenüber, dyadisch oder als Gruppenbindung, und die Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft bzw. Gesellschaft.13 Entsprechend diesen Ebenen und mit Blick auf das historische Erbe kann Freundschaft als „eine persönliche und soziale Bindung und eine historische Praxis“14 bestimmt werden, „die einmal Subjektivität [...] konstituiert, die aber auch moralisch-ethische Verhaltensanfor-

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Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke. Bd. 2: Hermeneutik: Wahrheit und Methode. II. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993, 2. Aufl., S. 40. Certeau, Michel de: Das Schreiben der Geschichte. Aus d. Franz. v. Sylvia M. SchomburgScherff. (Historische Studien, Bd. 4) Frankfurt a. M., New York 1991, S. 52. Friese, Heidrun: Freundschaft. Leerstellen und Spannungen eines Begriffes. In: Binczek, Natalie / Stanitzek, Georg (Hrsg.): Strong ties, weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. (Beihefte zum Euphorion, 55) Heidelberg 2010 S. 17-37, S. 23. In seinem Fragebogen zur Freundschaft im Tagebuch von 1966-1971 umreißt Max Frisch mit der ersten und der letzten Frage die ersten beiden dieser Dimensionen, die Beziehung zu sich und zum anderen: „Halten Sie sich für einen guten Freund?“, „Sind Sie sich selber ein Freund?“ Frisch, Max: Fragebogen. Frankfurt a.M. 1992, S. 55 u. 61. Friese, Heidrun: Freundschaft. S. 23.

1. Freundschaft als anthropologisches Thema

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derungen einschließt und damit sowohl partikulare als auch universalistische Merkmale umfaßt“15. Diese Spannungen, in denen der Begriff steht, sind im Laufe der Zeit immer wieder neu akzentuiert worden. Dabei lassen sich, zumindest für den geistesgeschichtlichen Diskurs, Phasen größerer Aufmerksamkeit für das Phänomen von solchen geringeren Interesses unterscheiden, man spricht in der Forschung auch von ‚Konjunkturen’ von Freundschaft – prominent sind hier das 18. und beginnende 19. Jahrhundert mit ihrem klassischen und romantischen Freundschaftskult. Für das 12. Jahrhundert ist eine ähnliche Hochphase der Beschäftigung mit dem Gegenstand konstatiert worden, wobei vor allem die Freundschaftsdiskussion im monastischen Bereich samt ihrer eingehenden Cicero-Rezeption angeführt wird. Dennoch hat das Problem längst nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die nach wie vor dem Thema der Liebe und ihren zahlreichen textuellen Manifestationen besonders in der volkssprachlichen Literatur der Zeit zuteil wird. Die Grundlage dieser Betrachtung bildet die zweifellos große Aufmerksamkeit, die der Liebe in diesen Werken zukommt, mitunter ist auch von der „Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter“16 die Rede. Auch wenn diese These nicht plausibel erscheint, so stellt doch die Minnethematik der sogenannten volkssprachlichen Autoren mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen in der höfischen Lyrik und Epik die Forschung bis heute vor grundlegende Probleme. Davon legen allein die zahlreichen Theorien zur Entstehung des Minnesangs, die vom möglichen Einfluß des Marienkults, der mystischen Literatur oder arabischen Liebesdichtung über die Folgen einer breiten Ovid-Rezeption bis hin zur Pagentheorie und Auffassung des hohen Minnesangs als kompliziertem Rollenspiel reichen, beredtes Zeugnis ab.17 Und hinsichtlich eines postulierten neuen emotionalen Bewußtseins könnte man fragen, „ob die Liebeskonzeptionen der höfischen Autoren einen tatsächlich erfolgten Wandel in den Geschlechterbeziehungen dokumentieren“18 oder ob ihnen ein „antizipatorische[r] Charakter“19 zuzumessen ist. Allerdings kann man auch fragen, ob hier nicht einfach ein neues Gewand, wenn auch ein raffiniertes und 15 16 17 18

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Ebd. Dinzelbacher, Peter: Über die Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter. In: Saeculum 32, 1981, S. 185-208, S. 203. Vgl. u.a. Müller, Ulrich (Hrsg.): Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 440) Göppingen 1986. Peters, Ursula: Höfische Liebe. Ein Forschungsproblem der Mentalitätsgeschichte. In: Ashcroft, Jeffrey / Huschenbett, Dietrich / Jackson, William Henry (Hrsg.): Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Tübingen 1987, S. 113, S. 10. Ebd.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

vielschichtiges, für tradierte Fragen und Probleme entworfen wird: „Es geht [...] um das Verhältnis von Innovation und Tradition.“20 Und das verbindet die Minnethematik mit der Frage nach den um 1200 verhandelten Freundschaftsvorstellungen. Auch hier geht es um die (Wieder-) Aufnahme, Tradierung und Transformation antiker wie christlicher Konzepte sowie ihr Verhältnis zu den aktuellen kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen. Und nicht zuletzt gilt es nach dem näheren Zusammenhang von Liebes- und Freundschaftsdiskurs zu fragen, denn „die Idee der Freundschaft und die Idee der Liebe [...] bestimmen die Ausrichtung der höfischen Literatur und der führenden theologischen Schulen der Zeit“21. Die Konzentration auf die ‚Liebesphänomenologie’ hat sowohl den Blick für das Gewicht von Freundschaft als auch für die möglichen Verbindungslinien zwischen beiden Themenkomplexen verstellt. Das 12. Jahrhundert kann aber eben nicht nur als Jahrhundert der Liebe, sondern auch als Jahrhundert der Freundschaft bezeichnet werden.22 Allerdings hat nicht nur die Minneproblematik die Aufmerksamkeit absorbiert, sondern die Relevanz der Nahbeziehung Freundschaft wurde auch deshalb zumeist nur am Rande wahrgenommen, weil die traditionelle und langwährende Fokussierung auf das andere große Beziehungssystem Verwandtschaft zu einer Vernachlässigung anderer Bindungsformen, ausgenommen Ehe und Liebe, geführt hat.23 Peter Schuster, der das Familienund Geschlechterbewußtsein im spätmittelalterlichen fränkischen Adel untersucht hat, kommt zu einem Urteil, das die gängigen Annahmen der Mediävistik in frage stellt, die nach wie vor den Fokus eher auf Familie und Verwandtschaft richtet, wobei letzteres schon als Erweiterung eines ursprünglich sehr eng gefaßten Forschungsansatzes zu sehen ist, wenn er konstatiert: „Freundschaft, nicht Verwandtschaft konstituierte Solidarität, wechselseitige Hilfe und Unterstützung. Insofern wurde im Mittelalter der Freundschaft die höhere Qualität und innigere Form der Beziehung zuge-

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Schnell, Rüdiger: Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter. In: Heinzle, Joachim (Hrsg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt a.M., Leipzig 1994, S. 103-133, S. 103. Langer, Otto: ƔƥƫƥƟơ ƶƩƫƟơ und amicitia spiritualis. Zwei Formen rationaler Personenbeziehungen im Abendland. In: Wieland, Georg (Hrsg.): Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts. (9. Blaubeurer Symposion vom 9.-11. Oktober 1992) Stuttgart 1995, S. 45-64, S. 50f. Morris, Colin: The Discovery of the Individual 1050-1200. (Medieval Academy Reprints for Teaching, 19) Toronto 1987, S. 96. Vgl. hierzu auch den Forschungsstand unter I.3. Sowohl die Geschichtswissenschaft Familie als auch die Literaturwissenschaft haben sich lange auf Liebesbeziehungen und Verwandtschaftsstrukturen konzentriert, in den letzten Jahren findet aber auch das Thema Freundschaft zunehmend Aufmerksamkeit.

1. Freundschaft als anthropologisches Thema

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wiesen.“24 Die Frage ist also nicht, ob Verwandtschaft oder Freundschaft soziale Bindungen konstituiert und strukturiert, sondern welchen Stellenwert beide Beziehungssysteme haben, wodurch sie sich unterscheiden und was die Qualität einer Bindung ausmacht. Problematisch, wenn auch aufgrund der auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Idealisierung der Familie25 weitverbreitet, ist die dominierende Perspektive, Familie und Verwandtschaft als ersten und wichtigsten Bezugspunkt in der Vormoderne anzunehmen. Zwar werden Freunde und Gefolgsleute benannt, doch oft nur in Addition zu den Verwandtengruppen, ohne auf diese verschiedenen Bindungsformen weiter einzugehen. Einer der Gründe hierfür liegt in der schon konventionell zu nennenden, in den Sozialwissenschaften beispielsweise durch Anthony Giddens populär gewordenen Dichotomie von traditionalen vormodernen und komplexen, ausdifferenzierten modernen Gesellschaften.26 Diese Annahme, die letzterer eine abstrakte, unpersönliche Organisation sozialer Strukturen im Gegensatz zu lokaler Gemeinschaft und Familie als Ordnungsprinzipen ersterer zuschreibt und die noch zur Sprache kommen wird,27 hat auch die Mediävistik geprägt, muß aber mit Blick etwa auf die Forschungen von Gerd Althoff28 oder Klaus Schreiner29 hinterfragt werden. Die lange Konzentration auf mittelalterliche Verwandtschaftsverhältnisse findet zweifellos ihre Begründung in der nicht zu unterschätzenden Bedeutung von Familie und Verwandtschaft für Gruppenbildungsprozesse, politische Allianzen sowie Solidaritätsnetzwerke. Allerdings läßt sich auch feststellen, daß fast jedem Beispiel familiärer und verwandtschaftlicher Solidarität in Konfliktsituationen ein Fall von Auseinandersetzung, Verrat und Illoyalität unter Verwandten gegenübergestellt werden kann, und zwar durchaus nicht nur so spektaku24

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Schuster, Peter: Familien- und Geschlechterbewußtsein im spätmittelalterlichen Adel. In: Albertoni, Giuseppe / Pfeifer, Gustav (Hrsg.): Adelige Familienformen im Mittelalter / Strutture di famiglie nobilitari nel Medioevo. Geschichte und Region / Storia e regione. 11, 2002, 2, S. 13-36, S. 21. Schuster, Peter: Familien- und Geschlechterbewußtsein im spätmittelalterlichen Adel. S. 14ff. Luhmann, Niklas: Gesellschaft. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Bd. 1. Opladen 1973. Vgl. dazu I.2.2. u. I.2.3. Vgl. Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990; Althoff, Gerd: Amicitiae und pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsdenken im beginnenden 10. Jahrhundert. (MGH / Schriften, 37) Hannover 1992. Schreiner, Klaus: ‚Consanguinitas’. ‚Verwandtschaft’ als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters. In: Crusius, Irene (Hrsg.): Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania Sacra. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 93; Studien zur Germania Sacra, 17) Göttingen 1989, S. 176-305.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

läre und prominente Beispiele wie etwa die Konflikte zwischen Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen oder der Aufstand Heinrichs V. gegen seinen Vater. Verwandtschaft kann daher nicht per se als Garantie für verläßliche Bindungen betrachtet werden, sondern muß zusammen mit anderen Bezugssystemen beschrieben werden, unter anderem im Vergleich mit und in Beziehung zu Freundschaft, die „im mittelalterlichen Diskurs als ein höherer Wert, der den Aspekt der inneren Übereinstimmung und wechselseitigen Geneigtheit herausstreicht“30, auftritt. Wenn also das Thema Freundschaft bisher noch nicht ausreichend Aufmerksamkeit gefunden hat, insbesondere für das Hochmittelalter, die Texte aber eine reiche Diskussion dazu bieten, scheint es legitim und notwendig, sich damit zu beschäftigen, nicht in Gegenüberstellung zu Verwandtschaft, sondern als Erweiterung und Ergänzung. Wie aber nähert man sich diesem hochmittelalterlichen Teil des historischen Erbes des Freundschaftsdiskurses, vor allem, wenn doch unser modernes Freundschaftsverständnis von einem Wissenschaftsparadigma geprägt ist, das Nahbeziehungen in Abhängigkeit von ihrer Verortung in Moderne oder Vormoderne definiert? Als anthropologisches Problem kann Freundschaft für jeden Zeitraum und jede Gesellschaft diskutiert werden; zugleich sind aber ihre Erscheinungsformen und Diskurse historisch variabel und dynamisch. Das bedeutet, daß eine unreflektierte Übertragung moderner Vorstellungen und Kategorien von Freundschaft auf mittelalterliche Texte anachronistisch und daher unangemessen wäre. Es bleibt aber die Frage, ob das jede vergleichende Erörterung ausschließt. Gängige Mittelalterimaginationen in Film oder Belletristik präsentieren zumeist im negativen wie im positiven den absoluten Gegenentwurf zu den Verhältnissen der Neuzeit. Entweder wird das verzerrte Bild von einer klar hierarchisch gegliederten mittelalterlichen Gesellschaft mit einer starken Formalisierung sozialer Beziehungen und ohne Raum für individuelle Emotionen gezeichnet oder das mittelalterliche Zusammenleben als Schutz und Einbindung gewährleistendes Sozialgefüge moderner Einsamkeit und Orientierungslosigkeit gegenübergestellt. In jedem Fall scheint die radikale Alterität31 des Mittelalters, die 30 31

Schuster, Peter: Familien- und Geschlechterbewußtsein im spätmittelalterlichen Adel. S. 21. Diese Alterität meint, wie Hans Robert Jauss ausführt, sowohl die Andersartigkeit der Texte, um die es hier geht, als auch die Fremdheit des mittelalterlichen Weltbildes. Vgl. Jauss, Hans Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976. München 1977, S. 9-47, S. 14ff; siehe weiterhin Peters, Ursula: ‚Texte vor der Literatur’? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39, 2007, S. 59-88 – dort finden sich auch zahlreiche weitere Literaturverweise zum Thema; Kiening, Christian: Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52 (1), 2005, S. 150166.

1. Freundschaft als anthropologisches Thema

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gern angeführt wird, um den vermeintlich unüberwindbaren Abstand zwischen uns und dieser Epoche zu begründen,32 jede vergleichende Diskussion zu diskreditieren, die heutige Denkmuster einbezieht. Nun sind jedoch eben diese modernen Modelle historisch gewachsen:33 Kaum eine Überblicksdarstellung zum Thema Freundschaft oder auch eine soziologische Studie kommt ohne den Hinweis auf Aristoteles und Cicero und auf ihre – bei aller in Rechnung zu stellenden Zeitgebundenheit – Aktualität sowie die zeitlose Bedeutung ihrer Aussagen aus. Das bedeutet, daß unsere heutigen Freundschaftsvorstellungen, so sehr sie sich zweifellos in vielen Aspekten von denen vergangener Epochen absetzen, auf einem historischen Fundament aufbauen, dessen Spuren sie in sich tragen. Einzelne Idee und Elemente werden für jede Gesellschaft neu verhandelt, etwa die Frage nach der Gleichrangigkeit der Partner, wobei der Kern der Frage bestehen bleibt. Was sich ändert, sind der Kontext und die entsprechenden Funktionalisierungen sowie die Schwerpunktsetzung. Es ergibt sich also ein Spannungsverhältnis von Überlieferungsspuren einerseits und Alterität andererseits, das besonders deutlich wird, wenn im folgenden ein Blick auf die Diskussion anderer Disziplinen zum Thema Freundschaft geworfen wird. Vor allem die Soziologie und Anthropologie haben mittlerweile begonnen, Kriterien und Kategorien von Freundschaft oder auch die Frage nach der Unterscheidung von Freundschaft und Verwandtschaft zu diskutieren, also Fragen, die für das 12. Jahrhundert und die höfische Dichtung ebenfalls zu beantworten sind.

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Gerd Althoff hat die Widersprüchlichkeiten des immer noch gängigen Mittelalterbildes treffend zusammengefaßt: „Das Bild, das sich die Moderne vom Mittelalter machte und immer noch macht, weist ausgesprochen ambivalente Züge auf. Einerseits dominieren in den Vorstellungen über das Mittelalter Attribute wie ‚finster’ oder ‚eisern’, mit denen eingeschränkte Denkhorizonte der mittelalterlichen Zeitgenossen und ihre Vorliebe für die Anwendung von Gewalt evoziert werden. Andererseits findet ‚das’ Mittelalter gerade in den letzten Jahrzehnten breites Interesse als das ‚ganz andere’ Mittelalter, das zugleich aber als ‚ferner Spiegel’ der Moderne überschaubare Verhältnisse, eine harmonische Ordnung zeigt, aus dem sich eklektizistisch Phänomene wie sakrale Kunst oder das Rittertum, Minnesangs Frühling oder die Architektur herausgreifen und in einer romantisch-heimeligen Mittelalterrenaissance der modernen Entfremdung entgegensetzen lassen.“ Althoff, Gerd: Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter. In: Heinzle, Joachim (Hrsg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 247-265, S. 247. Vgl. Oschema, Klaus: Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Freundschaft oder „amitié“? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich. (15.-17. Jahrhundert). (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 40) Berlin 2007, S. 7-21, S. 10f.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften 2.1 Sozialwissenschaftliche Ansätze Sucht man in den Geistes- und vor allem in den Sozialwissenschaften nach theoretischen und empirischen Untersuchungen zu Freundschaftsbeziehungen, so fällt auf, daß die Problematik lange Zeit kein Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion war und sich erst in den letzen Jahren Interesse an diesem Thema regt.34 Die Ansätze, die sich bei den Vätern der Soziologie Georg Simmel, Alfred Vierkandt und Leopold von Wiese finden, wurden zunächst nicht weiterverfolgt. Daher stellt dann auch Ursula Nötzoldt-Linden fest, Freundschaft sei eine „vernachlässigte soziologische Kategorie“35. Daß das Interesse an dem Thema wächst, zeigt allerdings 34

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Auf literaturwissenschaftliche Arbeiten, die es vor allem für die Aufklärung, Klassik und Romantik gibt, wird im folgenden nicht weiter eingegangen, da sie sich zumeist auf die biographische Analyse einzelnen Freundschaften konzentrieren oder Freundschaft in einzelnen literarischen Werken verhandeln. Für einen allgemeinen Überblick vgl. Cotteri, Luigi (Hrsg.): Der Begriff Freundschaft in der Geschichte der Europäischen Kultur. Akten der XXII. Internationalen Tagung deutsch-italienischer Studien. Meran 1995; weiterhin: Puff, Helmut: Von Freunden und Freundinnen. Freundschaftsdiskurs und -literatur im 16. Jahrhundert. In: Freundschaft. Werkstatt Geschichte 28, 10. Jg., 2001, S. 5-22; Schnegg, Brigitte: Gleichgestimmte Seelen. Empfindsame Inszenierung und intellektueller Wettstreit von Männern und Frauen in der Freundschaftskultur der Aufklärung. In: Freundschaft. Werkstatt Geschichte 28, 10. Jg., 2001, S. 23-42; Arni, Caroline: Das kultivierte Gefühl. Liebe als Freundschaft in der Ehe um 1900. In: Freundschaft. Werkstatt Geschichte 28, 10. Jg., 2001, S. 43-60; zum Freundschaftskult des 18. Jahrhundert: Pott, Ute (Hrsg.): Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Katalog zur Ausstellung im Gleimhaus Halberstadt vom 7. Februar bis 12. April 2004. (Schriften des Gleimhauses Halberstadt, Bd. 3) Göttingen 2004; Mauser, Wolfram / Becker-Cantarino, Barbara (Hrsg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991; Meyer-Krentler, Eckhardt: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984; Manger, Klaus / Pott, Ute (Hrsg.): Rituale der Freundschaft. (Ästhetische Forschungen, Bd. 7) Heidelberg 2006; Sharp, Ronald A.: Friendship and Literature. Spirit and Form. Durham 1986; Langer, Ullrich: Perfect Friendship. Studies in Literature and Moral Philosophy. (Histoire des idées et critique littéraire, Bd. 331) Genf 1994; für den Bereich Freundschaft in der Philosophie, der hier auch nicht thematisiert werden kann, siehe u.a.: Eichler, Klaus-Dieter (Hrsg.): Philosophie der Freundschaft. Leipzig 1999; Böhler, Arno: Unterwegs zu einer Sprache der Freundschaft. DisTanzen: Nietzsche – Deleuze – Derrida. (Passagen Philosophie) Wien 2000; Fasching, Maria: Zum Begriff der Freundschaft bei Aristoteles und Kant. (Epistemata: Reihe Philosophie, 70) Würzburg 1990; Stivale, Charles J.: Gilles Deleuze’s ABCs. The Folds of Friendship. (Parallax; Re-Visions of Culture and Society) Baltimore 2008. Nötzoldt-Linden, Ursula: Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie. (Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 140) Opladen 1994. Für eine ausführliche Darstellung der soziologische Forschungsgeschichte und aktuellen –lage zur Freundschaftsthematik vgl.: Schinkel, Andreas: Freundschaft. Von der gemeinsamen Selbstverwirklichung zum Beziehungsmanagement – Die Verwandlung einer sozialen Ordnung. (Fermenta philosophica)

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nicht zuletzt das VW-Projekt Freundschaft und Verwandtschaft: Zur Unterscheidung und Relevanz zweier Beziehungssysteme, in dem interdisziplinär (Biologie, Soziologie, Ethnologie, Geschichte) zu der Thematik geforscht wurde.36 Aus soziologischer Perspektive schien Freundschaft lange Zeit keine relevanten Fragen für die Forschung aufzuwerfen, da sie eine persönliche, private Beziehung darstellt, die sich individuell gestaltet, auf gesellschaftlicher Ebene daher aber uninteressant ist. „Die Soziologie hat es nun einmal mit der Gesellschaft, nicht unmittelbar mit dem einzelnen zu tun.“37, bemerkte Friedrich Tenbruck bereits 1964. Unter Freundschaft wird in der Regel eine individuelle private Beziehung verstanden, die dem persönlichen Bereich zugeordnet ist und wenig gesellschaftlich-öffentliche Relevanz besitzt. So stellt Graham Allen fest: „In the first sense friendship is a personal relationship in that it is seen as involving individuals as individuals and not as members of groups or collectivities.“38 Deshalb und weil diese Beziehungsform keine Zweckbindung kenne, sondern auf wechselseitiger Zuneigung basiere, stelle sie keinen Faktor für die Mechanismen der gesellschaftlichen Strukturen dar. Wenn sozialhistorische Untersuchungen zur Freundschaft vorgenommen werden, dann oft „mit der historisierenden Geste des Abstandnehmens“39, oder aber es wird allein das „rein Private“ gesehen, und Freundschaft ist dann eine „ins Anthropologische verallgemeinerte ‚Struktur- oder Lebensform’, die es im privaten Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen zu allen Zeiten gegeben habe“40. Das spiegelt eben die beiden Extrempositionen wieder, die eingangs erwähnt wurden und die es zugunsten einer anderen Wahrnehmung zu relativieren gilt. In jüngeren Forschungen werden diese Vorstellungen auch zunehmend kritisch betrachtet, etwa mit Blick auf außereuropäische Kontexte,

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Freiburg, München 2003, S. 29-154; es ist allerdings festzustellen, daß in der Psychologie das Thema durchaus bearbeitet wurde, vgl. dazu u.a. das Literaturverzeichnis in: Rawlins, William K.: Friendship matters. Communication, Dialectics, and the Life Course. New Brunswick, London 1992, wiedergedr. 2006. Schmidt, Johannes F. K. / Guichard, Martine / Schuster, Peter / Trillmich, Fritz (Hrsg.): Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz 2007. Für einen weiteren, allgemeinen Überblick vgl. u.a. Porter, Roy, Tomaselli, Sylvana (Hrsg.): The Dialectics of Friendship. London, New York 1989. Tenbruck, Friedrich H.: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Kölner Zeitschrift f. Soziologie u. Sozialpsychologie 16, 1964, S. 431-456, S. 435. Allen, Graham: A Sociology of Friendship and Kinship. (Studies in Sociology, 10) London 1979, S. 38. Hermand, Jost: Freundschaft. Zur Geschichte einer sozialen Beziehung. (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Kl. Reihe, Bd. 22) Köln, Weimar, Wien 2006, S. 5. Hermand, Jost: Freundschaft. Zur Geschichte einer sozialen Beziehung. S. 5.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

wie sie in der ethnologischen Forschung präsentiert werden, oder unter Bezugnahme auf Überschneidungen der Beziehungssysteme Freundschaft und Verwandtschaft. Das Problem, das sich aber prinzipiell stellt, ist der Umstand, daß die Soziologie nach Gesellschafts- und Machtstrukturen oder gesellschaftlich wirksamen Gruppenphänomen fragt, Freundschaft aber, verstanden als individuelle private Bindung, nicht als strukturierend wirkendes Moment ansieht und daher nicht einbezieht. In diesem grundlegenden Paradigma des Faches sieht Michael Eve die Ursache für die rudimentäre Beschäftigung mit Freundschaftsbeziehungen, und er wirft daher die Frage auf: „Is friendship a sociological topic?“41 Die Ausgangsposition, so Eve, ist durch die Dichotomie Moderne – Vormoderne gekennzeichnet, wobei der Moderne eine Konzeption, geprägt von Anthony Giddens und anderen, zugrunde liegt,42 „which define it by opposition to a past where power and social structure were built on personal relations.“43 Dementsprechend wird im allgemeinen für die westlichen modernen Verhältnisse von einem „non-personal principle of social organization“44 ausgegangen. Freundschaft kommt dann nur noch als Beziehung in den Blick, die lediglich das Individuum tangiert und für die man sich vor allem unter sozialpsychologischen Aspekten interessiert und sich daher vorrangig auf dyadische Verhältnisse konzentriert.45 Eve zeigt in seinem Artikel, daß diese Muster und Grundannahmen in Frage zu stellen sind. Nimmt man das gesamte soziale Umfeld der Akteure in Augenschein, fallen weniger die stereotypen dyadischen Beziehungen auf, sondern vielmehr etwas, das man ein „set of friends“46 nennen könnte, und das eine nicht zu unterschätzende soziale und ökonomische Relevanz besitzt. Insgesamt scheint sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, daß Freundschaft nicht einfach als private Beziehung abgehakt werden kann, sondern mit ihrer Ausprägung sowohl persönlicher als auch organisatorischer Bindungen relevant für die soziologische Forschung ist.47 Für die 41 42 43 44 45 46 47

Eve, Michael: Is friendship a sociological topic? In: European Journal of Sociology 43 (3), 2002, S. 386-409. Auf das Problem der Opposition Moderne – Vormoderne und entsprechend komplexe – traditionale Gesellschaften und dessen Konsequenzen für die Freundschaftsthematik, vor allem im Hinblick auf die historische Betrachtung, wird unter I.2.3. eingegangen. Eve, Michael: Is friendship a sociological topic? S. 388. Ebd. S. 388. Ebd. S. 387. Eve, Michael: Is friendship a sociological topic? S. 398. Wie Eve weiter ausführt, ist eine soziologische Forschung, die Freundschaft in ihrer gesell-schaftlichen Bedeutung gerecht wird, eine Methodenfrage. Vgl. ebd. S. 399. Pahl, Ray: Towards a more significant sociology of friendship. In: Arch. Europ. Sociol. XLIII, 3, 2002, S. 410-423, S. 421. Weiterhin zum Thema vgl. auch: Pahl, Ray: On Friendship. Cambridge 2000.

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(Wieder-)Entdeckung der Freundschaft steht die Monographie von Andreas Schinkel, die sich der Problematik auch in historischer Perspektive nähert.48 Die Schwierigkeiten aber, Freundschaft nicht nur als private, affektive Zweierbeziehung, sondern auch in ihrem Gruppen- und Vernetzungscharakter wahrzunehmen, resultieren nicht zuletzt aus einer engen Freundschaftsdefinition, für die nach wie vor Konsens zu sein scheint, was Tenbruck zum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert und ersten Hälfte des 19. Jahrhundert entstehenden Freundschaftskult feststellt: [...] es entstand etwas qualitativ Neues. In jenen hundert Jahren hat sich eigentlich das verwirklicht, was wir noch heute meinen, wenn wir emphatisch von Freundschaft reden: die aus eigenständigen Gefühlen emporwachsende und im anderen die Erfüllung der eigenen Individualität suchende und findende und deshalb auch dem anderen wiederum die Erfüllung seiner Individualität schenkende persönliche Beziehung.49

Als Freundschaft im modern-westlichen Sinn gilt die enge emotionale Beziehung zwischen zwei Individuen (oder innerhalb eines sehr begrenzten Kreises), die durch Sympathie, gedanklichen Austausch, Loyalität, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung geprägt ist; und diese „private Angelegenheit“50 ist eine spezifische Erscheinung der Moderne seit der Aufklärung, die sich von Freundschaftsverhältnissen der Vormoderne dadurch deutlich unterscheidet, daß sie sich ganz auf die Individualität des Gegenübers richtet und nicht institutionalisiert ist. Nach dieser Auffassung fallen hierarchisierte Beziehungen oder solche, die eine Zweckbindung kennen bzw. bei denen sich Nutzen und Affekt verbinden, schnell heraus. Die andere, entgegengesetzte Möglichkeit ist, das Thema Freundschaft in die Rubriken51 Personal Relations und Netzwerkanalyse einzuordnen, und das erfaßt im wesentlichen, was zur Zeit unter den Stichworten Gruppen- und Freundschaftsbindungen in der Soziologie diskutiert wird. Dabei geht es um eine Art der Betrachtung, die persönliche Beziehungen unter ökonomischer Perspektive sieht und den Beteiligten jeweils eine Kosten-Nutzen-Rechnung unterstellt. Die Arbeiten zu den personal relations sind vorwiegend anwendungsorientiert, und „psychologische Konzepte bilden [...] den dominierenden Erklärungsansatz“52. Was den Zugriff er48 49 50 51 52

Schinkel, Andreas: Freundschaft. Schinkel gibt folgende Definition: „Freundschaft ist eine eigenständige soziale Ordnung, die nicht auf andere soziale Ordnungen ursächlich zurückgeführt werden kann.“ S. 17. Tenbruck, Friedrich H.: Freundschaft. S. 437. Nötzoldt-Linden, Ursula: Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie. Insbesondere die Netzwerkanalyse wird in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zunehmend als Arbeitsinstrument herangezogen. Schinkel, Andreas: Freundschaft. S. 65.

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schwert, sind zum einen die vielfältigen Erscheinungsformen von Freundschaft und zum anderen das Verhältnis von pragmatischem und emotionalem Charakter dieses Bindungstyps. Überhaupt scheint insbesondere die affektive Seite eine Problem darzustellen. Kritisch zu sehen ist daher der systemtheoretische Ansatz, da hier – etwa von Niklas Luhmann – eine rein funktionale Perspektive eingenommen wird.53 Eve verweist zwar auf die ethnologische Forschung, die zumindest das Beziehungssystem Freundschaft in seiner Erscheinungsform als Klientelverhältnis in den Blick genommen hat,54 doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß auch die Ethnologie erst allmählich das Thema Freundschaft entdeckt. Ursache für die Vernachlässigung der Thematik ist die traditionelle Konzentration des Faches auf Verwandtschaft; wenn Freundschaft behandelt wird, dann in scharfem Kontrast zu Verwandtschaft.55 Dabei könnte die Analyse fremder Freundschaftskonzeptionen in außereuropäischen Kontexten einiges zur Erklärung des Phänomens Freundschaft beitragen. Bislang existieren allerdings nur wenige ethnologische Arbeiten zu Freundschaftsbeziehungen.56 Robert Brain hat Freundschaft und Liebe kulturvergleichend untersucht, jedoch erweist sich sein Ansatz als problematisch, da für ihn „Freundschaft ein universelles Merkmal menschlicher Gesellschaft ist“57, das durch Gleichheit und Zuneigung charakterisiert werden kann. Begriffe wie Zuneigung und Gleichheit führen uns zu einigen Grundproblemen, die die wissenschaftliche Erfassung von Freundschaft so schwierig machen. Heidrun Friese verweist auf die Spannungen innerhalb des Freundschaftsbegriffes, die mit den Oppositionspaaren „Emotion und Vernunft, Autonomie und Bindung, Tugend und Interess, öffentlich und privat, Universalismus und Partikularität“58 benannt werden können. Insbesondere in der modernen westlichen Auffassung von Freundschaft läßt sich zumeist ein großer Unterschied zwischen Ideal und Praxis feststellen, 53 54 55

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Vgl. dazu Schinkel, Andreas: Freundschaft. S. 134ff. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1982, S. 18; Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1997, S. 319. Eve, Michael: Is friendship a sociological topic? S. 386. Bell, Sandra / Coleman, Simon: The Anthropology of Friendship: Enduring Themes and Future Possibilities. In: Dies. (Hrsg.): The Anthropology of Friendship. Oxford, New York 1999, S. 1-19, S. 6. Zu Freundschaft in den Sozialwissenschaften vgl. weiterhin: Leyton, Elliot (Hrsg.): The Compact. Selected Dimensions of Friendship. (Newfoundland Social and Economic Papers, 3) Toronto 1974. Beer, Bettina: Freundschaft als Thema der Ethnologie. In: Zeitschrift für Ethnologie 123, 1998, S. 191-213, S. 191f. Brain, Robert: Freunde und Liebende. Zwischenmenschliche Beziehungen im Kulturvergleich. Aus d. Engl. v. Rudolf Hermstein u. Bernd Grashoff. Frankfurt a.M. 1978, S. 23. Friese, Heidrun: Freundschaft. S. 23.

2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften

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der den Freundschaft innewohnenden Dialektiken geschuldet ist: neben den bereits genannten „the dialectic of judgment and acceptance“59 und „the dialectic of expressiveness and protectiveness“60. Weiterhin impliziert unsere moderne Vorstellung von Freundschaft auch bestimmte Konzepte vom Subjekt, von Identität und Selbstverständnis.61 Mit dem Problem der Individualität wiederum aber ist nach Anthony Giddens die Reflexivität als spezifisches Merkmal der Moderne verbunden.62 An dieser Stelle kann nicht all diesen Fragen nachgegangen werden. Stattdessen sollen zwei Aspekte herausgegriffen werden, die im Rahmen dieser Arbeit besonders wichtig erscheinen. Der eine Punkt bezieht sich auf die Spannung Moderne/Vormoderne. Der andere, der in den Diskussionen um Freundschaft unvermeidlich auftaucht, führt zum Verhältnis von Freundschaft zu anderen Nahbeziehungen, wie vor allem Verwandtschaft, und steht in Zusammenhang mit einer aktuellen gängigen Vorstellung, die in Freundschaften einen Ersatz für wegbrechende traditionelle Familienbindungen sieht – eine Vorstellung, die allerdings wiederum quer zur Theorie des ‚Beziehungsmanagements’ liegt. 2.2 Nahbeziehungen: Freundschaft im Verhältnis zu anderen Beziehungssystemen Es scheint wenig hilfreich, Freundschaft als persönliche und soziale Beziehung unabhängig von anderen relevanten Beziehungssystemen zu betrachten. Wechselwirkungen, Überschneidungen und Abhängigkeiten in der Zuordnung treten vor allem gegenüber den Bindungsformen auf, die gleichzeitig meistens als Ausschlußkriterium oder doch als grundsätzlich verschieden erachtet werden: Verwandtschaft, Patronage, Liebe/sexuelle Beziehungen. In den Versuchen der Abgrenzung drückt sich das Bedürfnis nach einem eindeutigen Zugriff auf das Phänomen Freundschaft aus, das Siegfried Kracauer treffend formuliert: „Sie ist ja nur eine von vielen menschlichen Beziehungen und sie in ihrer Eigenheit zu begreifen, heißt zunächst: sie absondern von ähnlichen Verhältnissen, damit sie sich schließlich aus deren Mitte einzigartig hervorhebt.“63 Doch zugleich ver-

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Rawlins, William K.: Friendship matters. S. 272. Ebd. S. 273. Vgl. Carrier, James G.: People Who Can Be Friends. Selves and Social Relationships. In: Bell, Sandra / Coleman, Simon (Hrsg.): The Anthropology of Friendship. S. 21-36, S. 23. Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge 1991, S. 20. Kracauer, Siegfried: Über die Freundschaft. Essays. Frankfurt a. M. 1971, S. 11.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

stellen allzu klare Trennungen der Nahbeziehungen möglicherweise den Blick für die Übergänge und Überlagerungen. Liebe und Freundschaft scheinen auf den ersten Blick dadurch voneinander getrennt, daß freundschaftliche Verhältnisse, auch wenn sie eventuell eine erotische Komponente haben,64 letztlich nicht-sexuelle Beziehungen sind. Klientelverhältnisse und Freundschaft wiederum werden entlang der Opposition ‚Nutzen/Neigung’ klassifiziert. Das Spannungsverhältnis zu diesen beiden Bindungstypen wird in den nächsten Kapiteln thematisiert werden, hier interessiert aber zunächst vor allem die Abgrenzung zur Verwandtschaft. Die ethnologische Forschung, deren Ansätze und Ergebnisse der Mediävistik oft Anregungen geliefert haben, hat sich wie diese lange Zeit auf Verwandtschaftsverhältnisse konzentriert, die ihrerseits als Ausschlußkriterium für Freundschaft galten. Die Entgegensetzung von Freundschaft und Verwandtschaft, die über die Oppositionspaare erworben/zugeschrieben, freiwillig/festgelegt lief und für Ethnologen wie Soziologen lange Zeit gängig war,65 wird zunehmend in Frage gestellt, um statt dessen die Relativität dieser kategorialen Zuordnung sowie die Überschneidungen beider Beziehungssysteme herauszuarbeiten.66 Die Priorität muß nicht zwangsläufig bei den familiären und verwandtschaftlichen Bindungen liegen, und es besteht auch kein absoluter Gegensatz zu nichtverwandtschaftlichen Beziehungen: „Die Opposition Verwandtschaft – Freundschaft ist nicht absolut.“67 Schwierigkeiten bestehen auch deshalb, weil soziale Bindungen in außereuropäischen Zusammenhängen, aber auch historisch, in erster Linie in Kategorien und Terminologien von Familie und Verwandtschaft benannt werden. Aber nicht nur das Verhältnis von Verwandtschaft und Freundschaft wird mehr und mehr in den Blick genommen, sondern auch die Forschung zur Verwandtschaft selbst verändert sich. Ein Stichwort hier ist ‚Relatedness’, das in einem von Janet Carsten herausgegebenen Band eine

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Vgl. dazu u.a. Lemke, Harald: Freundschaft. Ein philosophischer Essay. Darmstadt 2000, S. 76ff. Bell, Sandra / Coleman, Simon: The Anthropology of Friendship: Enduring Themes and Future Possibilities. S. 6. Siehe dazu: Guichard, Martine: Theoretische und empirische Einblicke in Freundschaftsbeziehungen aus sozialanthropologischer Perspektive. In: Schmidt, Johannes F. K. / Guichard, Martine / Schuster, Peter / Trillmich, Fritz (Hrsg.): Freundschaft und Verwandtschaft. S. 313-342. Grätz, Tilo / Meier, Barbara / Pelican, Michaela: Zur sozialen Konstruktion von Freundschaft. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema der Sozialanthropologie. Max Planck Institute for Social Anthropology, Working Papers, Halle 2003, Nr. 53, S. 7.

2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften

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neue Sicht auf die Kinship Studies68 präsentiert. Dabei wird der Fokus mehr darauf gerichtet, wer als zugehörig angesehen wird, als auf tatsächliche biologische Verwandtschaft.69 Offensichtlich lag der Fokus der Forschung lange auf Genealogie, Verwandtschaft und Familie, und darüber wurden andere Beziehungssysteme vernachlässigt. Nicht nur die ethnologische Forschung hat sich lange auf diesen Aspekt konzentriert, auch in der Mediävistik erscheint Verwandtschaft nach wie vor als die entscheidende soziale Kategorie, auch wenn es inzwischen um Fragen wie die Priorität von agnatischen oder cognatischen Strukturen, um die Bedeutung der Verwandtschaft insgesamt gegenüber der Familie oder um die literarische Gestaltung familiärer Bindungen geht.70 Diese Annahmen stehen zur Disposition. Verwandtschaft schließt Freundschaft nicht aus, vielmehr verstärkt sie möglicherweise eine bestehende verwandtschaftliche Bindung und hebt sie von anderen ab, was dann wiederum ein besonderes Vertrauensverhältnis und spezifische Verpflichtungen impliziert. Für das Mittelalter, vor allem mit Blick auf die Schicht des Adels, bei der wir es mit komplizierten Verwandtschaftsschemata und verschlungenen Genealogien zu tun haben, und letztlich jeder mit dem anderen weitläufig verwandt ist, heißt das, daß es nicht ausreicht, eine verwandtschaftliche Bindung festzustellen, sondern es interessiert, wie diese Beziehung tatsächlich umgesetzt und gelebt wird. Graham Allen hebt die Qualität der Bindung Freundschaft hervor, wenn er feststellt, daß das Konzept des ‚Freundes’ nicht nur dazu dient, jemanden zu bezeichnen, mit dem man eine soziale Beziehung hat, etwa in der Art wie ‚Nachbar’ jemanden meint, der im Haus nebenan wohnt oder ‚Verwandter’ jemanden, der aufgrund von Blutsverwandtschaft oder Heirat zu uns gehört. Rather, the term ‘friend’ also denotes something about the quality of the relationship you have with that person. In other words, ‘friend’ is not just a categorical label, like ‘colleague’ or ‘cousin’, indicating the social position of each individual relative to the other. Rather, it is a relational term which signifies something about the quality and character of the relationship involved.71

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Carsten, Janet (Hrsg.): Cultures of Relatedness. New Approaches to the Study of Kinship. Cambridge 2000. Auch der europäische Kontext ist einbezogen: Edwards, Jeanette / Strathern, Marilyn: Including our own. In: Carsten, Janet (Hrsg.): Cultures of Relatedness. S. 149-166. Vgl. dazu Peters, Ursula: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters. (Hermea: Germanistische Forschungen, neue Folge, Bd. 85) Tübingen 1999. Allan, Graham: Friendship. Developing a Sociological Perspective. (Studies in Sociology) New York u.a. 1989, S. 16.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

Das heißt, daß die Verwendung des Begriffes Freund anders zu bewerten ist als sonstige Termini für Nahbeziehungen, die Konnotationsebene ist offenbar eine andere. Allan verweist auch darauf, daß die formale Klassifizierung einer Bindung als Verwandtschaft noch nichts über ihren tatsächlichen Inhalt sagt.72 Für das Mittelalter muß dieser Aspekt noch einmal genauer betrachtet werden, auch im Hinblick auf die Terminologie. Klar ist jedoch, daß Verwandtschaft kein Ausschlußkriterium für Freundschaft darstellt. Die Relation von Freundschaft zum Beziehungssystem Verwandtschaft bringt uns zum nächsten Punkt, für den die Interferenzen und Dynamiken der beiden Bindungstypen, die gemeinsam und nicht so sehr als Gegensatz analysiert werden sollten, von großer Bedeutung sind. 2.3 Moderne – Vormoderne Im kurzen Abriß der soziologischen und ethnologischen Forschungsansätze zu Freundschaft deutete sich bereits an, daß das gängige Freundschaftsverständnis und der Freundschaftsbegriff in der diachronen Perspektive in der Spannung Moderne/Vormoderne, in der synchronen, mit Blick auf die Ethnologie, in der Spannung traditionale/komplexe Gesellschaften steht.73 Unser modernes Verständnis von Freundschaft ist durch das Stereotyp einer frei wählbaren, privaten, dyadischen Beziehung gekennzeichnet,74 die kaum institutionalisiert ist. In der Vormoderne hingegen haben Nahbeziehungen wie Freundschaft eine andere gesellschaftliche Relevanz, da die Organisation des Gemeinwesens über persönliche Bindungen funktioniert. Anthony Giddens postuliert in The Consequences of Modernity: „in the pre-modern world friendships were always liable to be placed in the service of risky endeavours where community or kinship ties were insufficient to provide the necessary resources“75. Mit diesem Verweis auf die Funktion von vormoderner Freundschaft ist zugleich auch wieder die als primär angesehene Bindungsform genannt. In vormodernen Gesellschaften organisieren Verwandtschaftsbindungen die sozialen Beziehungen in Raum und Zeit, die ‚local community’ wird als der entscheidende Ort angeführt, wohingegen es in der Moderne die ‚personal relationships’ –

72 73 74 75

Allan, Graham: Kinship and Friendship in Modern Britain. Oxford 1996, S. 84. Zur Thematik Freundschaft und Moderne siehe u.a. King, Preston / Devere, Heather (Hrsg.): The Challenge to Friendship in Modernity. London, Portland 2000. Eve, Michael: Is friendship a sociological topic? S. 407. Vgl. dazu Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity. Cambridge 1990, S.118.

2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften

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Freundschaft und sexuelle Beziehungen – sind, die die sozialen Bindungen stabilisieren.76 Das entspricht der oft zu hörenden These, daß sich in der Moderne/Postmoderne die traditionellen Strukturen und Bindungen auflösen oder sich zumindest doch grundlegend verändern. Familie und Verwandtschaft haben einen anderen Status und scheinen an Bedeutung zu verlieren. Die Familienstrukturen selbst wandeln sich und können nicht mehr als sicher und gegeben erachtet werden. Daher bekommen die individuell gewählten persönlichen Beziehungen – Partnerschaft und Freundschaft – mehr Gewicht.77 Diese Verhältnisse fungieren nun als Organisationsprinzip und prägen so die Sozialstruktur. Denkt man diese Vorstellung konsequent zu Ende, hieße das allerdings entgegen den geläufigen Positionen der Soziologie, daß Freundschaft keine Randposition einnimmt und weder einseitig als rein private Beziehung, noch als ‚Beziehungsmanagement’ eingeordnet werden kann. Das Bild, das so entsteht, zeigt eine Verschiebung des Gewichts von Familie hin zu individuell gewählten Freundschafts- und Liebesverhältnissen, und mißt diesen Nahbeziehungen insgesamt große Bedeutung zu. Demgegenüber ließe sich eine weitere gängige Sichtweise ins Feld führen, die mit Hans-Peter Duerr zusammengefaßt werden kann. Charakteristisch für die heutige Gesellschaft ist, „daß in ihr die unpersönlichen Beziehungen zwischen den Menschen die Vorherrschaft über die persönlichen errungen haben“78. Das Mittelalter wird dann im Gegensatz dazu als Hort der Stabilität der persönlichen sozialen Bindungen – die allerdings auch eine feste Hierarchie bedeuten – imaginiert.79 Der einzelne Mensch ist fest eingebunden in Familie, Stand, Geschlechterrollen, Zunft, 76 77

78 79

Ebd. S.102. Siehe dazu z.B. Hecht, Martin: Wahre Freunde. Von der hohen Kunst der Freundschaft. München 2006, S. 13: „Freundschaften sind heute so wichtig wie nie zuvor. [...] Wir entdecken Freundschaft neu, weil die Bindungen zu unseren Lebenspartner und Familien immer öfter brechen.“. Duerr, Hans-Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 4: Der erotische Leib. Frankfurt a.M. 1997, S. 13. Dabei spielt auch immer noch die Vorstellung eine Rolle, verwandtschaftliche und freundschaftliche Bindungen seien der mittelalterlichen Gesellschaft so wichtig, weil ein zentrales Gewaltmonopol und andere Institutionen moderner Staatlichkeit fehlen, und der Andere einem zunächst prinzipiell als Feind gegenübersteht. Hier wirken die evolutionistischen Vorstellungen von Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und dem darin vermittelten Mittelalterbild nach, das u.a. von Alfred Ebenbauer einer Kritik unterzogen wurde. Vgl dazu: Ebenbauer, Alfred: Das ‚christliche Mittelalter’ und der ‚Prozeß der Zivilisation. Eine Skizze. In: Thum, Bernd (Hrsg.): Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder. (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik, 2) München 1985, S. 5-26; Opitz, Claudia (Hrsg.): Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozeß. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Köln, Weimar, Wien 2005.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

Religion, Lehnswesen etc., und seine Nahbeziehungen sind auf diese Weise zum größten Teil schon vorgegeben. Weder die Heiratspartner noch das sonstige Umfeld können frei gewählt werden. „Modernity [...] breaks down the protective framework of the small community and of tradition, replacing these with much larger, impersonal organisations.”80 Mittelalterliche Verhältnisse als traditionale Verhältnisse scheinen so eine klare Dichotomie Moderne – Vormoderne zu belegen. Zudem stellen Mobilität und Flexibilität der Moderne stabile dauerhafte Freundschaften in frage.81 Den institutionalisierten Bindungen der Vormoderne stehen so die der modernen Welt gegenüber, für die vor allem das Kriterium der ‚free choice’ eine Rolle spielt. Genau das aber wird mittlerweile von soziologischer und ethnologischer Seite zunehmend skeptischer gesehen, nämlich in dem Maße, in dem sich abzeichnet, daß z.B. bei der Wahl der Freunde solche Faktoren wie ‚gender’ und ‚class’ wirken und ganz offensichtlich Muster für die Auswahl und den Umgang mit diesen Nahbeziehungen feststellbar sind.82 Der Problemkreis der Individualität hängt also offenbar genauso mit der Freundschaftsthematik zusammen wie der folgende Gesichtspunkt: Denn auch beim Aspekt des Vertrauens, der zweifellos für Nahbeziehungen ein wichtiges Element darstellt, begegnet man dem Dualismus von modernen und vormodernen Lebensverhältnissen. Niklas Luhmann geht für die vormoderne Zeit von einer größeren Vertrautheit der Menschen mit ihrer Umwelt aus.83 Überschaubare Verhältnisse und ein Lebensalltag, der durch direkte Bindungen zu persönlich bekannten Menschen gekennzeichnet war, stehen den abstrakten, unpersönlichen Beziehungen der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft oder der ‚Risikogesellschaft’84 gegenüber, in der dementsprechend mehr Vertrauen nötig ist. Luhmanns Annahme, daß in der modernen Gesellschaft Vertrauen aufgrund mangelnder Vertrautheit nötig sei und daß – im Umkehrschluß – in traditionalen und historischen Gesellschaften mehr Vertrautheit zu verzeichnen wäre, ist allerdings irreführend. Kontingenz und Unsicherheit sind im ‚mittelalterlichen’ Alltag allgegenwärtig. Entgegen Luhmann könnte man sagen, daß das Umfeld erst in dem Maße vertrauenswürdig und berechenbar wurde, in dem Sicherheit, staatliche Organisation und verbindliche 80 81 82 83 84

Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. S. 33. Hutter, Horst: The Virtue of Solitude and the Vicissitudes of Friendship. In: King, Preston / Devere, Heather (Hrsg.): The Challenge to Friendship in Modernity. S. 131-148. S- 143f. Vgl. dazu: Allan, Graham: Friendship. Developing a Sociological Perspective. S. 47 u. 99. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart 2000, 4. Aufl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986.

2. Freundschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften

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Normen des Zusammenlebens durchgesetzt wurden. „Vertrauen ist mithin nicht in erster Linie nötig, sondern möglich geworden.“85 Zu diskutieren wäre unter Umständen, ob die Entgegensetzung personales Vertrauen – Systemvertrauen analog zur Unterscheidung vormoderne/moderne Gesellschaft postuliert werden kann. Bereits dieser kurze Problemaufriß mit Konzentration auf die Personalisierung und Institutionalisierung von Beziehungen, auf Individualität und Vertrauen führt vor Augen, daß die konventionell gewordene Dichotomie moderne/vormoderne Gesellschaften für die Untersuchung von Nahbeziehungen in historischer Perspektive skeptisch zu sehen ist, ebenso wie ein zivilisationstheoretischer Ansatz, der ein „überholte[s] Mittelalterbild“86 propagiert. Es muß insbesondere in Frage gestellt werden, ob Nahbeziehungen in früheren Epochen oder sogenannten vormodernen Gesellschaften stärker institutionalisiert und auf Angehörige von Kollektiven bezogen waren, während sie in modernen Gesellschaften individuell ausgehandelt werden. „Die Vorstellung von der Vergangenheit als einer vermeintlich homogeneren archaisch-ursprünglichen Periode [...] ist für die Beschreibung der Transformation hin zu uns heute vertrauten, fragmentierten und komplexeren Zuständen einfach nutzlos.“87 Vergegenwärtigt man sich beispielsweise die komplizierten Verhandlungen und Rituale, die im Mittelalter notwendig sind, um Spannungen abzubauen oder die erfolgreiche Lösung eines Konfliktes auf der so wichtigen symbolischen Ebene zu präsentieren, so fehlt es zunehmend schwerer, nur von unveränderlichen institutionalisierten Beziehungen auszugehen. Gerade in dieser Hinsicht kann es für den Vergleich von historischen und aktuellen Freundschaftsdiskursen interessant sein, höfische Literatur um 1200 zu untersuchen und damit eine der ‚Konjunkturen’ von Freundschaft in den Blick zu nehmen. Grundsätzlich geht es also darum, die gängigen Mittelalterimaginationen, die romantischen wie die negativen, zu hinterfragen oder doch als Bilder wahrzunehmen, die wir uns aus einer postmodernen Perspektive von dieser Epoche machen – „Imaginationen vom Mittelalter dienen der Erläuterung von [...] Problemen der Moderne.“88 Konkret steht für das 85 86 87 88

Weltecke, Dorothea: Gab es „Vertrauen“ im Mittelalter? Methodische Überlegungen. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, S. 67-89, S. 73. Schnell, Rüdiger: Kritische Überlegungen zur Zivilisationstheorie von Norbert Elias. In: Ders. (Hrsg.): Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 21-83, S. 81. Groebner, Valentin: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters. München 2004, S. 19. Oexle, Gerhard Otto: Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte. In: Segl, Peter (Hrsg.): Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

Thema Nahbeziehungen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft/Gemeinschaft in Moderne und Vormoderne im Mittelpunkt. Dabei geht es etwa bei der angesprochenen Frage nach dem Ausmaß der Institutionalisierung darum, festzustellen, ob in bezug auf das Aushandeln von Beziehungen ein gradueller oder ein grundsätzlicher Unterschied besteht. Und es geht darum, die Konzeption kritisch zu betrachten, die Verwandtschaft als dominierende und wichtigste Bindungsform der Vormoderne, Freundschaft hingegen als typisch für die Moderne einordnet. Zunächst jedoch soll nach dem Blick über die Fachgrenzen die Forschungslage zu Freundschaft in der Mediävistik resümiert werden.

der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995. Sigmaringen 1997, S. 307-364, S. 310.

3. Forschungsstand Spätantike und Mittelalter

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3. Forschungsstand Spätantike und Mittelalter Nachdem einige Konturen der sozialwissenschaftlichen Forschung skizziert wurden, die als Bezugspunkt für das Thema interessant sind, weil sie auf die Problemfelder verweisen, die auch für die hier folgende Untersuchung des hochmittelalterlichen literarischen Diskurses von Freundschaft den Hintergrund bilden, geben die folgenden Seiten einen Einblick in die historisch-philologische Forschung zur Freundschaftsproblematik, die für die in Frage stehende Thematik relevant ist. Dabei kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, auch wenn die Forschungslage noch halbwegs überschaubar scheint. Vielmehr sollen wesentliche Linien der bisherigen Arbeiten und thematische Schwerpunkte im großen Bereich Nahbeziehungen, insbesondere für Freundschaft, aufgezeigt und dabei verdeutlicht werden, wo sich die vorliegende Arbeit einordnet. Das Beziehungssystem Freundschaft hat als Thema der mediävistischen Forschung in einigen Punkten bereits Aufmerksamkeit erregt, vor allem in der historischen Forschung, ist aber insgesamt bisher eher stiefmütterlich behandelt worden, nicht zuletzt aufgrund der Konzentration des Faches auf Familie und Verwandtschaft. Insgesamt lassen sich drei große Richtungen erkennen: Da ist einmal der Bereich der politischen Freundschafts- und Gefolgschaftsbeziehungen, hier sind vor allem die wegweisenden Arbeiten von Gerd Althoff zu nennen, der sich insbesondere auf den Aspekt der Klientelverhältnisse und der politischen Zweckbindungen konzentriert. Des weiteren gibt es eine Gruppe von Untersuchungen, die den Übergang und das Verhältnis von antik-paganen und christlichen Freundschaftskonzepten in Spätantike und Frühmittelalter zum Gegenstand haben, und daran anknüpfend betrifft ein dritter Schwerpunkt die Sphäre der geistlichen Freundschaft im hochmittelalterlichen klösterlichen Umfeld und die Gottesfreundschaft als spezifisch christliche Bindung. Literarische Gestaltungen von Freundschaft, insbesondere in den höfischen Texten des Hochmittelalters, sind im Verhältnis zu diesen Bereichen zwar in den letzten Jahren stärker in den Blick geraten, insgesamt aber bislang nur ansatzweise und nicht systematisch analysiert worden. 89 Unter dem Aspekt der politischen Freundschaft geht es um amicitia als formale Bindung, wie sie Gerd Althoff in seinen Arbeiten90 beschreibt. Althoff fragt nach der Funktion von Freundschaftsbündnissen und be89

90

In jüngster Zeit kommt allerdings zunehmend das Verhältnis von Verwandtschaft und Freundschaft in den Blick. Vgl. dazu das Kapitel zur Geschichtswissenschaft in: Schmidt, Johannes F. K. / Guichard, Martine / Schuster, Peter / Trillmich, Fritz (Hrsg.): Freundschaft und Verwandtschaft. Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Althoff, Gerd: Amicitiae und pacta.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

schreibt sie als einen wichtigen Faktor für die Organisation von sozialem Zusammenhalt und politischem Handeln. Es geht nicht um persönliche Beziehungen und kaum um die – in der Regel auch nur schwer zu greifende – affektive Seite freundschaftlicher Bindungen. Im Mittelpunkt steht die politische Praxis mit ihrer genossenschaftlichen Organisation von Gruppen. Neben dem Aspekt adliger Herrschaftsbildung leistet Freundschaft Beratung, gegenseitige Hilfe und Protektion bei der Ämtervergabe, dabei sind „Vermischungen von herrschaftlichen und genossenschaftlichfreundschaftlichen Ebenen“91 zu beobachten. Freundschaft bedeutet oftmals die Übertragung verwandtschaftlicher Pflichten auf Nichtverwandte. Amicitia wird als innen- wie außenpolitisches Regulierungsinstrument eingesetzt, und das heißt in der Praxis, daß prinzipiell gleichrangige Partner Verbindungen vertraglichen Charakters eingehen: Freund meint dann eine Bezeichnung, mit der „eine rechtlich fixierte Stellung ausgedrückt wird“92. Für das 13. Jahrhundert hat Claudia Garnier politische Freundschaftsbindungen analysiert.93 Sie untersucht Bündnissysteme horizontal und vertikal sowie auftretende Konflikte in insgesamt ähnlicher Ausrichtung wie Althoff. In den jüngeren Arbeiten zum Früh- und Hochmittelalter wird im Gegensatz zu früheren Arbeiten94 die Kontinuität von Begrifflichkeiten und Vorstellungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter betont. Verena Epps Studie untersucht amicitia als „eines der wichtigsten frühmittelalterlichen Paradigmata zur Erfassung und Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen“95, in der sich personale und politische Bindungen überschneiden. Epp definiert abschließend als Ergebnis der Quellenbefunde amicitia als „wechselseitige, wertbezogene und moralisch bindende Verpflichtung“96. Auch für personale Beziehungen im Hochmit91 92 93

94 95 96

Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. S. 88. Ebd. S. 89. Garnier, Claudia: Amicus amicis – inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 46) Stuttgart 2000. Zu adligen Beziehungsgeflechten siehe auch Dendorfer, Jürgen: Verwandte, Freunde und Getreue – Adelige Gruppen in der klösterlichen Memoria des 12. Jahrhunderts in Bayern. In: Kruppa, Nathalie (Hrsg.): Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 227; Studien zur Germania Sacra, Bd. 30) Göttingen 2007, S. 63-105; Teuscher, Simon: Bekannte, Klienten, Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500. (Norm u. Struktur, 9) Köln, Weimar, Wien 1998. Vgl. Fritze, Wolfgang: Die fränkische Schwurfreundschaft der Merowingerzeit. In: Zeitschrift der Savi-gny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 71, 1954, S. 74-125. Epp, Verena: Amicitia. Zur Geschichte personaler, politischer, sozialer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 44) Stuttgart 1999, S. 2. Epp, Verena: Amicitia. S. 299.

3. Forschungsstand Spätantike und Mittelalter

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telalter ist auf die engen Verflechtungen von Ehe und Freundschaft und Lehenswesen und Freundschaft sowie die Veränderungen dieser Beziehungssysteme im 12. und 13. verwiesen worden.97 Ein weiterer Schwerpunkt sind die Analyse von Gesten der Nähe und Freundschaft sowie ihr Verhältnis zu den Freundschaftsdiskursen der historiographischen Quellen. 98 Diese historische Forschung zum Thema ist für die hier vorgelegte Untersuchung zu berücksichtigen, da sie wichtige Hinweise für die Kontextanalyse des literarischen Freundschaftsdiskurses liefert. Für den zweiten genannten Bereich, in dem es um antike Freundschaftsauffassungen und ihre christliche Transformation geht, finden sich inzwischen zahlreiche Arbeiten. In den Untersuchungen taucht immer wieder die Frage nach der Spannung zwischen den antiken Freundschaftskonzepten – philosophische Vorstellungen Aristoteles’ und Ciceros einerseits, römische amicitia als Patron-Klient-Beziehungen andererseits – und der christlichen Nächstenliebe auf. Carolinne White etwa beschreibt die Freundschaftsbeziehungen und –auffassungen der Kirchenväter99 und geht dabei dieser Spannung nach. Tugend – virtus – gilt für Cicero und Aristoteles als Zentrum und Basis der Freundschaft; bei den Kirchenvätern wird Gott und christlicher Glaube als conditio sine qua non genannt. Besonders Augustinus hat dieses Problem ein Leben lang beschäftigt. Entsprechend ausführlich hat sich die Forschung mit den Entwicklungen und Veränderungen von Augustinus’ Freundschaftsauffassung befaßt,100 sowie die Wiederaufnahme klassischer Freundschaftsideale in seiner Auffassung der christlichen caritas untersucht.101 Weiterhin werden für Augus97

Eickels, Klaus van: Tradierte Konzepte in neuen Ordnungen. Personale Bindungen im 12. und 13. Jahrhundert. In: Schneidmüller, Bernd / Weinfurter, Stefan (Hrsg.): Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, Bd. 64) Ostfildern 2006, S. 93125. 98 Oschema, Klaus: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution. (Norm und Struktur, 26) Köln, Weimar, Wien 2006; für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit vgl. weiterhin: Oschema, Klaus (Hrsg.): Freundschaft oder „amitié“? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.-17. Jahrhundert). (Zf. f. Histor. F., Beiheft 40) Berlin 2007. 99 White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century. Cambridge 1992. 100 McEvoy, James: Anima una et cor unum. Friendship and Spiritual Unity in Augustine. In: Recherches de Théologie Ancienne et Médiévale 53, 1986, S. 40-92; McNamara, Marie Aquinas: Friendship in Saint Augustine. (Studia Friburgensia, New Series, 20) Fribourg 1958. Für das 13. Jh. vgl. auch : McEvoy, James : Zur Rezeption des Aristotelischen Freundschaftsbegriffs in der Scholastik. In: Freiburger Zeitschrift f. Philosophie u. Theologie 43, 1996, S. 287-303. 101 Cassidy, Eoin: The Recovery of the Classical Ideals of Friendship in Augustine’s Portrayal of Caritas. In: Finan, Thomas / Twomey, Vincent (Hrsg.): The Relationship between Neoplatonism and Christianity. Dublin 1992, S. 127-140, und weiterhin: Cassidy, Eoin: The Significance of Friendship: Reconciling the Classical Ideals of Friendship and SelfSufficiency. In: Kelly, Thomas A. F. / Rosemann, Philipp (Hrsg.): Amor amicitiae: On the

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

tinus u.a. das Verhältnis von Freundschaft und Gesellschaftsordnung in bezug auf das Problem der Subordination diskutiert.102 Der aktuellste Beitrag zum Thema, der Band Freundschaft. Motive und Bedeutungen103, dokumentiert das verstärkte Interesse nicht nur der Mediävistik an den Erscheinungsformen von Freundschaft, indem sich hier theologische, historische, philologische sowie kunstgeschichtliche Überlegungen ergänzen und dabei eine Zeitspanne von der Spätantike bis zum Biedermeier abdecken, wobei der Schwerpunkt allerdings auf dem Mittelalter liegt. Ein weiterer wichtiger Sammelband zum Thema, der Aufsätze zu allen drei Schwerpunkten der Freundschaftsforschung von der Antike bis zur Renaissance umfaßt, liegt mit Julian Haseldines Friendship in Medievale Europe104 vor. Der Band ermöglicht einen guten Überblick, da unterschiedlichste Aspekte von Freundschaft aus politischer, religiöser und sozialer Perspektive angesprochen werden. In weiteren Aufsätzen verweist Haseldine auch auf amicitia als Kommunikationscode im monastischen Bereich. Spannungen und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Orden (vor allem Cluny und Citeaux) bekommen durch die Freundschaften und Allianzen von Äbten einen Rahmen, in dem die Diskussionen ausgetragen und die Vielfalt in der Einheit der Kirche ermöglicht werden kann.105 Mit dieser Freundschaftspolitik und Sprache der Freundschaft im kirchlichen Raum ist bereits der dritte Bereich berührt, in dem der Freundschaftsdiskurs eine große Rolle spielt und der daher in der Forschung auch zu einigen Diskussionen geführt hat: die intensive Beschäftigung des 12. Jahrhunderts mit der amicitia spiritualis, vor allem in ihrer Erscheinungsform als monastische Freundschaft.106 Vor allem die Debatte

102 103 104 105

106

Love that is Friendship.Essays in Medieval Thought and beyond in Honor of the Rev. Professor James McEvoy (Recherches de théologie et philosophie médiévales: Bibliotheca, 6) Leuven, Paris, Dudley 2004, S. 39-62. Burt, Donald: Friendship and Subordination in Earthly Societies. In: Ferguson, Everett (Hrsg): Christianity and Society: The Social World of Ealry Christianity. (Recent Studies in Early Christianity, 1) New York, London 1999, S. 315-355. Appuhn-Radtke, Sibylle / Wipfler, Esther P. (Hrsg.): Freundschaft. Motive und Bedeutungen. (Veröffentlichungen d. Zentralinstituts f. Kunstgeschichte München, Bd. 19) München 2006. Haseldine, Julian (Hrsg.): Friendship in Medieval Europe. Thrupp, Stroud, Gloucestershire 1999. Haseldine, Julian: Friendship and Rivalry: The Role of Amicitia in Twelfth-Century Monastic Relations. In: Journal of Ecclesiastical History Bd. 44, 3, 1993, S. 390-414; Haseldine, Julian: Love, Separation and Male Friendship: Words and Actions in Saint Anselm’s Letters to his Friends. In: Hadley, D. M. (Hrsg.): Masculinity in Medieval Europe. (Women and Men in History) London, New York 1999, S. 238-255. Vgl. auch: McLoughlin, John: Amicitia in Practice: John of Salisbury (c. 1120-1180) and his Circle. S. 165-179. Fiske, Adele M.: Friends and Friendship in the Monastic Tradition. (Cidoc Cuaderno, 51) Cuernavaca 1970; McGuire, Brian Patrick: Friendship and Community: The Monastic Experience 350-1250. (Cistercian Studies Series, 95) Kalamazoo 1988; McGuire, Brian Patrick: Friendship and Faith: Cistercian Men, Women, and their Stories, 1100-1250. (Collected Stu-

3. Forschungsstand Spätantike und Mittelalter

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der Zisterzienser zur monastic friendship und ihren Beitrag zum Nachdenken über Freundschaft ist in den Blick genommen worden. Peter Schuster zeigt in seinem Aufsatz zu Aelred von Rievaulx und dem Diskurs der amicitia spiritualis im 12. Jahrhundert, daß Aelreds Traktat zwar ein beeindruckendes Dokument der Cicero-Rezeption ist, aber dann keine weitere Fortführung, keine neue Diskussion zur Freundschaft ausgelöst hat, auch wenn der Text in Zisterzienserkreisen zunächst viel rezipiert wurde.107 Fast automatisch wird bis heute Freundschaft als Bindungsform mit starkem theoretischen Hintergrund für das Mittelalter dem Raum des Klosters und den Angehörigen der Orden zugeordnet. Gelegentlich findet zwar in diesem Zusammenhang auch eine Erörterung der Rolle geistlicher Freundschaft zwischen Mann und Frau statt, insgesamt aber wurde der Zusammenhang von Freundschafts- und Liebesdiskurs für das 12. Jahrhundert bislang zu wenig untersucht. Zwar wird immer wieder darauf verwiesen, welche Bedeutung Freundschaft im Hochmittelalter hat,108 gerade auch im Hinblick auf den Liebesdiskurs. Klaus Oschema z. B. verweist auf den Problemkreis von Liebe und Freundschaft und geht dabei auf die Veränderungen des 12. Jahrhunderts ein.109 Doch eine grundlegende Analyse zu diesem Themenkomplex steht nach wie vor aus. Auch die Literaturwissenschaft, für die dieser Zusammenhang mit Blick auf die höfische Literatur doch besonders interessant sein müßte, hat sich der Problematik eher zögerlich genähert, die Germanisten oder auch die Romanisten haben bisher den Blick eher auf die Texte des 13. Jahrhunderts oder auf einzelne Motive wie die weitverbreitete Geschichte von Amicus und Amelius gerichtet.110

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108 109 110

dies Series, 742) Aldershot 2002; Egenter, Richard: Gottesfreundschaft. Die Lehre von der Gottesfreundschaft in der Scholastik und Mystik des 12. und 13. Jahrhunderts. Augsburg 1928. Schuster, Peter: Aelred von Rievaulx und die amicitia spiritualis. Überlegungen zum Freundschaftsdis-kurs im 12. Jahrhundert. In: Altenberend, Johannes (Hrsg): Kloster – Stadt – Region. Festschrift für Heinich Rüthing. (Sonderveröffentlichung d. Histor. Vereins f. d. Grafschaft Ravensburg, 10) Bielefeld 2002, S. 13-26, S. 19 u. 25f. Zum Problem monastische Gemeinschaft und Freundschaft bei Aelred von Rievaulx vgl. auch: Rüffer, Jens: Aelred of Rievaulx and the Institutional Limits of Monastic Friendship. In: Kinder, Terry N. (Hrsg.): Perspectives for an Architecture of Solitude. Essays on Cistercians, Art and Architecture in Honor of Peter Fergusson. Turnhout 2004, S. 55-62. Vgl. u.a. Raby, F. J. E.: Amor and Amicitia. A Mediaeval Poem. In: Speculum 40 (4), 1965, S. 599-610. Oschema, Klaus: Sacred of Profane? Reflections on Love and Friendship in the Middle Ages. In: Gowing, Laura / Hunter, Michael / Rubin, Miri (Hrsg.): Love, Friendship and Faith in Europe, 1300-1800. Basingstoke u.a. 2005, S. 43-65, S. 51ff. Vgl. z.B. Winst, Silke: Amicus und Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 57) Berlin, New York 2009.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

Im Vordergrund der philologischen Arbeiten stehen meist Begriffsund Motivgeschichten, die einen Überblick über wesentliche Konstellationen und Funktionen von (Männer)-Freundschaft, über Freundschaftssemantiken, über typische Figuren im Freundschaftsdiskurs wie den Ratgeber oder über klassische Freundschaftstopoi zu geben versuchen.111 Daneben finden sich selten systematische Überlegungen, sondern es werden einzelne Aspekte aufgegriffen. Insbesondere das Problem der Homosexualität beschäftigt immer wieder Lektüren der höfischen Epik, speziell beim Prosa-Lancelot, und der chansons de geste, aber auch die lateinische Lyrik wird daraufhin gelesen.112 Diskutiert wird vor allem, ob die Männerfreundschaften als homoerotisch gefärbt interpretiert werden können, oder ob nicht die Sprache, die „language of homosociality“113 stärker berücksichtigt werden muß.114 Bei der immer noch überschaubaren Literatur zur Freundschaft in höfischen Texten fällt zuallererst die stark dichotomische Gegenüberstellung von geistlicher und weltlicher bzw. höfischer Freundschaft auf. In der Regel beschreiben die Autoren ausgehend von der caritas als oberstem christlichen Gebot zunächst die Idealvorstellungen christlicher mittelalterlicher Freundschaftsauffassungen, wie sie in der amicitia dei, der Gottesfreundschaft, der geistlichen Freundschaft der in brüderlicher Liebe verbundenen Mönche, sowie in den Diskussionen um geistliche Freundschaft und Liebe zwischen Männern und Frauen zum Ausdruck kommt. Damit verbunden sind zumeist Überlegungen zu den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen antik-paganen und christlichen Konzepten menschlicher 111 Nolte, Theodor: Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur. In: Frühmittelalterliche Studien 24, 1990, S. 126-144; Classen, Albrecht: Das Motiv des aufopfernden Freundes von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit. In: Fabula 47, 2006 (1/2), S. 17-32; Deist, Rosemarie: Gender and Power. Counsellors and their Masters in Antiquity and Medieval Courtly Romance. (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) Heidelberg 2003; Mills, Laurens J.: One Soul in Bodies Twain. Friendship in Tudor Literature and Stuart Drama. Bloom-ington 1937. 112 Vgl. etwa: Medieval Latin Poems of Male Love and Friendship. Übers. v. Thomas Stehling. (Garland Library of Medieval Literature, Series A, Vol. 7) New York, London 1984. 113 Ailes, M. J.: The Medieval Male Couple and the Language of Homosociality. In: Hadley, D. M. (Hrsg.): Masculinity in Medieval Europe. S. 214- 237. Vgl. weiterhin: Sedgewick, Eve Kosofsky: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. (Gender and Culture) New York 1985. 114 Krass, Andreas (Hrsg): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. (Queer Studies). Frankfurt a.M. 2003; Schultz, James A.: Heterosexuality as a Threat to Medieval Studies. In: Journal of the History of Sexuality 15 (1) 2006, S. 14-29; Limbeck, Sven: Geschlechter In Beziehung: Die „heterosexuelle“ Konstruktion gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Mittelalter. In: Steffen, Therese (Hrsg.): Masculinities – Maskulinitäten. Mythos – Realität – Repräsentation – Rollendruck. Stuttgart, Weimar 2002, S. 146-176; Brall, Helmut: Homosexualität als Thema mittelalterlicher Dichtung und Chronistik. In: ZfdPh 118, 1999, S. 354-371.

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Gemeinschaft in der christlichen Spätantike und deren Auswirkungen auf die mittelalterlichen Reflexionen. Von diesen geistlich dominierten Freundschaftskonzepten werden in der Forschung die weltlichen Freundschaftsentwürfe der Heldenepik und der Artusromane abgesetzt. von Ertzdorff stellt die Freundschaften der höfischen Artusromane den antiken und christlichen Tugendfreundschaften gegenüber: „Von der christlichen Freundschaft [...] unterscheidet sich die höfische durch das Fehlen der Reflexion über das Wesen der gegenseitigen Bindung und durch das Fehlen diskutierender Selbstmitteilung und Spiegelung im anderen. Die höfische Freundschaft ist auf eine praktische Lebensgemeinschaft ausgerichtet.“115 Dabei konzentriert sie sich vor allem auf die Freundschaftspaare Gawan – Parzival und Gawein – Iwein, bezieht allerdings auch das Rolandslied ein. Zwar stellt sie beim Vergleich geistlicher und höfischer Freundschaft durchaus Gemeinsamkeiten und Beeinflussung letzterer durch erstere fest, doch bleibt sie grundsätzlich bei der Gegenüberstellung beider Formen. Freytag vergleicht ebenfalls geistliche und höfische Freundschaft und ihre Wertigkeit am Beispiel des Prosa-Lancelot116 und kommt zu dem Ergebnis, daß Freundschaft, die absolut gesetzt wird und damit Gott nicht miteinbezieht, eine pervertierte Form darstellt, die unter dem Blickwinkel einer christlichen Ethik ebenso abzulehnen ist wie die maßlose Liebe. Neben den Artusromanen hat besonders der Engelhard Konrads von Würzburg Beachtung gefunden, wobei besonders das Ineinander und Nebeneinander von Freundschafts- und Liebesgeschichte interessiert.117 Reginald Hyatte, der die einzige grundlegende Studie zu Freundschaft in der mittelalterlichen Literatur liefert, spannt einen Bogen von den antiken und christlichen Freundschaftsdiskussionen über das Hochmittelalter 115 Ertzdorff, Xenia von: Höfische Freundschaft. In: Der Deutschunterricht 14 (6), 1962, S. 35-51, S. 51. 116 Freytag, Hartmut: Höfische Freundschaft und geistliche amicitia im Prosa-Lancelot. In: Wolfram Studien IX. Schweinfurter ‚Lancelot’-Kolloquium 1984. Hrsg. v. Werner Schröder. (Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft) Berlin 1986, S. 195-212. Für eine modifizierte Sicht unter Einbeziehung der mittelalterlichen Antikenromane siehe Krass, Andreas: Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 29, 114, 1999, S. 66-98; wenig aussagekräftig ist dagegen die Dissertation von Elke Zinsmeister, deren Thematisierung der Freundschaft zwischen Rittern bei Hartmann kaum über die deskriptive Ebene hinausgelangt: Zinsmeister, Elke: Literarische Welten. Personenbeziehungen in den Artusromanen Hartmanns von Aue. (Lateres, 6) Frankfurt a.M. u.a. 2008. 117 Vgl. dazu Bloh, Ute von: „Engelhart der Lieben Jaeger”. „Freundtschafft“ und „Liebe“ im „Engelhart“. In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 8, 2, 1998, S. 317-334; Virchow, Corinna: Der Freund, ‚der rehte erkennet wer ich bin’. Zu Konrads von Würzburg Engelhard und einer Freundschaft in gespiegelter Vorbildlichkeit. In: Oxford German Studies 36, 2, 2007, S. 284-305.

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bis in die Renaissance.118 Er geht sowohl auf die antiken und christlichen Freundschaftskonzeptionen als auch auf die christlichen Freundschaftstheorien des 12. und 13. Jahrhunderts, also Gottesfreundschaft, brüderliche Liebe im Bereich der Klostergemeinschaft und das Spannungsverhältnis von Liebe und amicitia spiritualis ein. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Schriften Bernhards von Clairvaux und Aelreds von Rievaulx. Im Bereich der literarischen Texte konzentriert er sich auf französische Artusromane und vergleicht Liebesbeziehung und ritterliche Freundschaft im Prosalancelot, in Thomas’ Tristan und in Ami und Amile. Höfische Freundschaft, postuliert auch Hyatte, ist eine rein weltliche Bindung, die unter zahlreichen Aspekten den Idealen der geistlichen Freundschaft entgegengesetzt scheint und ähnlich wie die Liebesbeziehungen gestaltet wird, zum Teil sei diesen Männerfreundschaften mehr Gewicht zugemessen als der Minnethematik. Mit den christlichen Konzeptionen der amicitia haben diese Ritterfreundschaften, so Hyatte, wenig gemeinsam, sie sind diesen mit ihrer weltlichen Ausrichtung geradezu entgegengesetzt, da ihnen statt der gemeinsamen Liebe zu Gott ein profanes Ideal gegenseitiger Unterstützung zugrunde liegt, das ihnen hilft, ihre rein innerweltlichen Ziele zu verfolgen.119 Entsprechend stehen die Attribute, die die Bindungen Tristans oder Lancelots kennzeichnen, im Gegensatz zu denen geistlicher Freundschaft: Es geht um Ehre, Ritterlichkeit, gegenseitige Zuneigung, die aber im Zweifelsfall der Liebesbeziehung untergeordnet wird, nicht aber um die Sorge um das Seelenheil des anderen.120 Hyatte vergleicht die literarischen Gestaltungen ritterlicher Freundschaft mit den Vorstellungen christlicher amicitia, die er im vorhergehenden Kapitel darstellt, und konstatiert für die Helden der untersuchten Romane und ihre Freundschaften ein moralisches und spirituelles Defizit. Im Vordergrund stehen die höfischen Werte der Artuswelt: „knightly friendship, with its superior moral qualities of faithfulness, courage, and generosity and its great mutual affection, confidence, and solace, complements male-female love as a giver of value to literary chivalry”121. So berechtigt diese Opposition zunächst auch erscheint, ist doch fraglich, ob der geistlich-monastische Bereich so scharf gegen den höfisch-weltlichen abgegrenzt werden kann. Vor allem Hyattes Begründung, das Ideal christlicher Freundschaft sei in den höfischen Romanen gar nicht möglich, weil die Protagonisten sich falsch

118 Hyatte, Reginald: The Arts of Friendship. The Idealization of Friendship in Medieval and Early Renaissance Literature. (Brill’s Studies in Intellectual History, Vol. 50) Leiden, New York, Köln 1994. 119 Hyatte, Reginald: The Arts of Friendship. S. 87. 120 Ebd. S. 87f. 121 Ebd. S. 88.

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verhalten und viel zu sehr an irdischen Dingen hängen,122 leuchtet nicht ein. Hier soll in der vorliegenden Untersuchung eine andere Perspektive eingenommen werden, die an die folgende Studie anschließt. Der vielleicht wichtigste Aufsatz zur Freundschaft im 12. Jahrhundert stammt von dem Mittellateiner Jan Ziolkowski. Er betont den Stellenwert, der dem Thema Freundschaft im 12. Jahrhundert zukommt123 und nimmt zudem auch das späte 11. Jahrhundert in den Blick. Bisherige Untersuchungen konzentrieren sich, so Ziolkowski, zum einen auf den monastischen Bereich und zum anderen auf die Einstellungen zu Homosexualität. Das sei aber nicht ausreichend, da das Thema um 1200 so dominant sei: „Friendship preoccupied intellectuals, to judge by the many treatises, poems, and letters in which amicitia and its vernacular equivalents are discussed and practiced.“124 Die Untersuchung der Freundschaftsthematik im 11. und 12. Jahrhundert lohnt sich für Ziolkowski nicht nur im Hinblick auf den Gegenstand selbst, sondern vor allem, um zu einem besseren Verständnis zweier Phänomene der Zeit zu kommen, die in der Forschung viel diskutiert sind, nämlich die höfische Liebe und der sogenannte Humanismus des 12. Jahrhunderts. Die Wiederaufnahme und Transformation der antiken Vorstellungen, besonders die Cicero-Rezeption, belegt er anhand einer Reihe von Autoren. Besonderes Interesse verdient aber vor allem die Perspektive, die Ziolkowski aufzeigt – die möglichen Verbindungslinien zwischen der Freundschaftsdebatte und dem höfischen Liebesdiskurs – und diese Verbindung wird deshalb für die folgenden Untersuchungen eine zentrale Frage sein. In diesem Zusammenhang wäre auch Ralf-Henning Steinmetz zu nennen, der den Minnesang Walthers von der Vogelweide zur Freundschaftsdiskussion des 12. Jahrhunderts in Beziehung setzt.125 Von einer kulturgeschichtlichen Perspektive her dagegen untersucht die Studie Stephen C. Jaegers die Freundschaftsrhetorik des monastischen und höfischen Raumes sowie ihre Relation zur höfischen Liebe.126 Im Bereich der Nahbeziehungen ist in der Geschichts- wie in der Literaturwissenschaft vorwiegend Verwandtschaft und Familie in den Blick

122 Hyatte, Reginald: The Arts of Friendship. S. 87. 123 Ziolkowski, Jan M.: Twelfth-century understandings and adaptations of ancient friendship. In: Welkenhuysen, Andries / Braet, Herman / Verbeke, Werner (Hrsg.): Mediaeval Antiquity. (Mediaevalia Lovaniensa, Series I, Studia 24) Leuven 1995, S. 59-81. 124 Ebd. S. 59. 125 Steinmetz, Ralf-Henning: Walthers Neuerungen im Minnesang und die Freundschaftsliteratur des 12. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 44, 2003, S. 19-46. 126 Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. In Search of a Lost Sensibility. (Middle Ages Series) Philadelphia 1999.

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genommen worden sowie die Geschlechterbeziehungen,127 die vor allem unter dem Aspekt von Liebe und Ehe betrachtet wurden.128 Gerade die Familien- und Verwandtschaftskonstellationen, die uns die mittelalterliche Literatur vorführt, haben in der literarhistorischen Forschung viel Aufmerksamkeit gefunden.129 Das bedeutet, daß diese Forschung an den entsprechenden Stellen in die Analyse einbezogen werden muß. Zugleich gilt es aber auch, der großen Bedeutung skeptisch gegenüberzustehen, die üblicher Weise der Verwandtschaft zugemessen wird. Klaus Schreiner beschreibt beispielsweise die Ambivalenz in der Bewertung der mittelalterlichen Verwandtenprotektion bei der Ämtervergabe,130 und Peter Schuster verweist auf die große Bedeutung von Freundschaft für die mittelalterliche Gesellschaft. Damit setzt er sich ab von der vorherrschenden Forschungsmeinung, die Familie und Verwandtschaft nach wie vor, wenn auch mit Differenzierungen, für die wichtigste soziale Kategorie hält.131 127 Schmid, Elisabeth: Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts. (Zeitschrift für romanische Philologie, Beihefte 211) Tübingen 1986; Kullmann, Dorothea: Verwandtschaft in epischer Dichtung. Untersuchungen zu den französischen chansons de geste und Romanen des 12. Jahrhunderts. Tübingen 1992; Delabar, Walter: Erkantiu sippe unt hoch geselleschaft. Studien zur Funktion des Verwandtschaftsverbandes in Wolframs von Eschenbach Parzival. (GAP, Nr. 518) Göppingen 1990; Bertau, Karl: Versuch über Verhaltenssemantik von Verwandten im ‚Parzival’. In: Ders.: Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München 1983, S. 190-240; Harms, Wolfgang: Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. (Medium Aevum; Philologische Studien, Bd. 1) München 1963; Gentry, Francis G.: Triuwe and vriunt in the Nibelungenlied. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 19) Amsterdam 1975. 128 Unter dem Stichwort der Nahbeziehungen ist ein weiterer zu nennender Bereich die Gruppenforschung, die hier zwar nicht eigens dargestellt wird, aber in den folgenden Kapiteln eine Rolle spielt. Vgl. u.a.: Oexle, Otto Gerhard: Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft: Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen. In: Oexle, Gerhard Otto / Hülsen-Esch, Andrea von (Hrsg.): Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 141) Göttingen 1998, S. 9-44; Haverkamp, Alfred: Leben in Gemeinschaften: alte und neue Formen im 12. Jahrhundert. In: Wieland, Georg (Hrsg.): Aufbruch – Wandel – Erneuerung. S. 11-44; Ders.: Bruderschaften und Gemeinden im 12. und 13. Jahrhundert. In: Schneidmüller, Bernd / Weinfurter, Stefan (Hrsg.): Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter. S. 153-192. 129 Für einen ausführlichen Überblick dazu vgl. Peters, Ursula: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder; vgl. auch Spiess, Karl-Heinz: Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts. (VSWG, Beiheft 111) Stuttgart 1993. 130 Schreiner, Klaus: ‚Consanguinitas’. 131 Der Forschungsstand zu Gruppen im Mittelalter kann und soll hier nicht eigens referiert werden. Stellvertretend sei auf Oexle, Gerhard Otto / Hülsen-Esch, Andrea von (Hrsg.): Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte. verwiesen. An entsprechender Stelle wird auf die einschlägigen Arbeiten verwiesen werden.

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Der Forschungsüberblick zeigt, daß zwar einige Aspekte von amicitia bearbeitet wurden und die Relevanz des Themas auch gesehen wird, daß jedoch eine systematische Betrachtung von Freundschaftsbeziehungen in der hochmittelalterlichen höfischen Literatur oder generell eine differenzierte Diskussion von Nahbeziehungen, die über die Analyse der Verwandtschaftsverhältnisse hinausgeht, bisher fehlt. Das legitimiert eine genauere Untersuchung von Freundschaft in der höfischen Epik, vor allem der mittelhochdeutschen Für die französische und englische Literatur liegen zum Teil übergreifende Studien vor, für die mittelhochdeutschen Texte aber gibt es nur wenige Einzeltextanalysen, und daher scheint eine systematische Betrachtung von Freundschaft in höfischen epischen Texten um 1200 sinnvoll, zumal Freundschaft als ‚institutionalisierte Nichtinstitution’ interpersonaler Beziehungen und kulturhistorisches Thema generell in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hat.

4. Freundschaft in der höfischen Literatur um 1200 4.1 Konstituierung des Gegenstandes Nach den theoretischen Vorüberlegungen und dem Forschungsabriß ist es notwendig, auch das methodische Vorgehen zu reflektieren, mit dem das Thema angegangen werden soll. Die folgenden Kapitel werden darstellen, was unter Freundschaft in der höfischen Literatur um 1200 zu verstehen ist, oder vielmehr welche Diskurse132 und Denkmuster von Freundschaft uns diese Texte präsentieren, wie sie mit ihnen umgehen und aus welchen kulturellen, sozialen und politischen Kontexten diese Vorstellungen entstehen, d.h. mit welchen Texten ihres Umfelds, die ebenfalls Freundschaft zum Thema haben, sie korrespondieren. Konkret läßt sich das in zwei Aspekten fassen, die hier leitend sein sollen, zum einen: in welcher Weise wird Freundschaft dargestellt, welche Typen und Konstellationen bieten die Texte überhaupt, was kann man unter Anwendung eines relativ offenen Freundschaftsbegriffes darunter subsumieren? Und zum anderen: mit welchen Konzepten von Freundschaft, die im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert im literarischen und vor allem außerliterarischen Bereich, etwa in geistlichen, chronikalen oder hofkritischen Texten verhandelt werden, lassen sich die Freundschaftsdarstellungen der höfischen Epik in Verbindung setzen? 132 Der Begriff des Diskurses wird nach Foucault verwendet: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1991.

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Die zweite Frage wird im Abschnitt 4.4. Kontexte zur Sprache kommen; um die erste Frage zu beantworten, liegt der Schwerpunkt auf einem Durchgang durch die Texte ohne eine jeweilige Gesamtinterpretation des Einzeltextes. Im Zentrum stehen dabei Konfigurationen von Freundschaftsbindungen unter Einbeziehung von Stoff- und Gattungsgrenzen, um sich so systematisch einem Überblick der Diskursivierung von Freundschaft zu nähern. Wichtig dabei ist die Entscheidung, einen relativ weiten Freundschaftsbegriff zu benutzen und Freundschaft nicht als isoliertes Phänomen, unabhängig von anderen Nahbeziehungen zu betrachten, sondern in Relation zu Verwandtschaft, Herrschaftsbindungen und Liebe, in der Spannung von Homosozialität und Heteronormativität. Erst in bezug zu diesen interpersonalen Beziehungen läßt sich die Dynamik der relevanten Bindungen der Textakteure erfassen. Dabei stellen sich als Ausgangspunkt aller Überlegungen zunächst zwei Fragen: Welche Definition von Freundschaft kann und soll zugrunde gelegt werden, auf welcher Basis können analysierte Beziehungen als Freundschaft bestimmt werden? Die zweite Frage ergibt sich unmittelbar aus der ersten: Welches sind die Merkmale, die den Rezipienten dazu bringen, eine im Text vorgeführte Nahbeziehung als Freundschaft einzuordnen, d.h. welche Kriterien stehen für die Analyse zur Verfügung und wie lassen sich diese Kriterien begründen? Hieraus ergibt sich allerdings sogleich ein hermeneutisches Dilemma. Die folgenden Untersuchungen zielen eben darauf, herauszufinden, was unter Freundschaft in dem benannten Literaturbereich vor dem Hintergrund seiner Kontexte um 1200 zu verstehen ist und welche Merkmale auf sie zutreffen. Ein klar umrissenes Konzept bzw. eine Typologie von Freundschaft einschließlich der Kriterien ihrer Charakterisierung wird sich also erst im Durchgang durch die Texte und ihre kulturelle Situierung ergeben. Gleichzeitig besteht kein Zweifel daran, daß eine Analyse niemals voraussetzungslos an das ausgewählte Material herangeht. Vorab gilt es einen Blick auf die Terminologie und die Auffassungen, die mit den Bezeichnungen verbunden sind, zu werfen, um einzuschätzen, ob diese ein geeignetes Instrument der Zuordnung darstellen. In der Beschreibung der relevanten kulturellen, sozialen und politischen Kontexte sowie der Texte selbst soll der Rahmen möglichst weit gefaßt bleiben, indem der Begriff Freundschaft als Kategorie und eventuell qualitativer Begriff zunächst vermieden wird und es statt dessen um Nahbeziehungen verschiedenster Art, die sowohl symmetrische Beziehungen als auch Abhängigkeitsverhältnisse einschließen, in Hinblick auf ihre Gestaltung und Merkmale geht. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß eine größere Anzahl von Konstellationen ins Blickfeld gelangt und dadurch die Basis der Analyse verbreitert wird. Welche Kriterien und Merkmale sind nun aber für die Beschreibung und Einord-

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nung der in den höfischen Texten auftauchenden Nahbeziehungen heranzuziehen? 4.2 Kriterien für die Textanalyse Ein wesentliches Moment für das Herangehen an die Texte besteht darin, das Phänomen Freundschaft nicht isoliert zu betrachten, sondern die anderen bereits genannten Beziehungssysteme Verwandtschaft, Klientelverhältnisse und Liebe miteinzubeziehen. Auf diese Weise finden auch solche Beziehungen Eingang in die Analyse, die unter Umständen erst ein umfassendes Bild des hochmittelalterlichen Verständnisses von Freundschaft ermöglichen, die aber, wenn ein moderner Freundschaftsbegriff zugrundegelegt wird, der die Perspektive zu stark verengt, weil er Verwandtschaft oder Patronage zu Ausschlußkriterien macht, von vornherein unberücksichtigt blieben. Daneben scheint es sinnvoll, auf die angesprochenen Kriterien und Kategorien zurückzukommen, die zum Teil bereits im Abschnitt zu den sozialwissenschaftlichen Ansätzen ein Thema waren.133 Für die Analyse der Texte sollen folgende Aspekte aufgegriffen werden: ƒ Reziprozität und Loyalität (gegenseitige Unterstützung, Verpflichtung zur Hilfe etc.) ƒ Symmetrie und Asymmetrie (Status, Macht) ƒ Vertrauen und Emotionen ƒ Funktionale und/oder ideelle Ausrichtung ƒ Verwandtschaft/Liebe (als ‚angrenzende’ Nahbeziehungen, die in einem dynamischen Verhältnis zu Freundschaft stehen) ƒ Gender ( same-sex-/cross-sex-friendship) ƒ räumliche Verortung Ein Kriterium wie die freie Wahl des Freundes – ein Ideal, daß von Aristoteles und Cicero bis hin zu modernen soziologischen und philosophischen Theorien auftaucht und jeweils mit der sozialen Praxis verglichen werden muß – ist insofern für die mittelalterlichen Texte zu diskutieren, ob es ein sinnvolles Kriterium darstellt bzw. inwieweit Freundschaft dadurch beschrieben werden kann. Hier spielt dann unter anderem auch wieder der Gegensatz zur Verwandtschaft, also zugeschriebene versus erworbene Bindungen eine Rolle. Beim Problem der Reziprozität kommt die Spannung zwischen Neigung und Nutzen ins Spiel, und darüber hin133 Werner Faulstich nennt vier Elemente von Freundschaft, die in der Diskussion immer wieder begegnen: Freiwilligkeit, Reziprozität, Selbstoffenbarung, Gleichheit. Vgl. dazu: Faulstich, Werner: Was heißt Freundschaft? Anatomie einer Beziehung aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Ders. (Hrsg.): Beziehungskulturen. München 2007, S. 58-70, S. 62ff.

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aus muß der Unterschied zwischen antik-paganer ƶƩƫƟơ und amicitia, die auf Gegenseitigkeit beruhen, und christlicher caritas, die eben dieses Gebot der Reziprozität ablehnt,134 thematisiert werden. Als entscheidend erweist sich weiterhin auch der ‚gender’-Aspekt,135 und zwar insofern, daß im Bereich ‚same-sex-friendship’ die Texte des anvisierten Textcorpus’ nur wenige weibliche Nahbeziehungen enthalten. Zwei weitere Punkte sind die der Emotion und der Individualität. Mit Freundschaft als affektiver Bindung stehen Begriffe wie Zuneigung, Vertrauen, Liebe in Zusammenhang, es kann für die zu behandelnden Texte aber nicht darum gehen, nach dem tatsächlichen Bestehen solcher Emotionen zu fragen, sondern vielmehr nach ihrer Ausdrucksseite.136 Schwierig verhält es sich auch mit Freundschaft als personaler Bindung, die zwischen Individuen besteht. Die tatsächliche oder vermeintliche Individualität der Protagonisten mittelalterlicher Literatur ist ein vieldiskutiertes Problem der Forschung, dem hier nicht im Detail nachgegangen werden kann, das aber auch nicht unerwähnt bleiben soll.137 Auch wenn hier keine Definition für Freundschaft vorab gegeben werden soll, müssen doch einige Vorannahmen expliziert werden. Freundschaft kann als personale Beziehung beschrieben werden, die durch Vertrauen, Zuneigung, Loyalität und gegenseitige Unterstützung charakterisiert ist, wobei die Beteiligten nicht notwendigerweise auf der gleichen Stufe der sozialen Hierarchie stehen müssen – auch wenn das Egalitätsprinzip als moralisches Ideal, nicht als reales Moment, Teil der Vorstellung ist, die das Verständnis von Freundschaft prägt – , und in der sich eine affektiv-ideelle und eine pragmatisch-zweckorientierte Ausrichtung nicht gegenseitig ausschließen. Ebenso schließt Freundschaft andere Bindungsformen nicht aus und umgekehrt, und das bedeutet für die Textanalyse, daß eine Beziehung nicht von vornherein unberücksichtigt bleiben sollte, 134 Vgl. TRE und v.a. Reallexikon für Antike und Christentum. Hrsg. v. Theodor Klausner. Stuttgart 1972, Bd. 8: Freundschaft Sp 418-434. 135 Der Begriff Gender wird hier nicht im Sinne einer spezifischen Gender-Theorie verstanden, sondern gemäß der gängigen Unterscheidung von biologischem Geschlecht (sex) und soziokulturell konstruiertem Geschlecht (gender) verwendet. 136 Siehe dazu: Schnell, Rüdiger: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. In: FMSt 38, 2004, S. 173-276. 137 Vgl.: Gerok-Reiter, Annette: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik. (Bibliotheca Germania, 51) Tübingen, Basel 2006; Aertsen, Jan A. / Speer, Andreas (Hrsg.): Individuum und Individualität im Mittelalter. (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 24) Berlin, New York 1996; weiterhin Moos, Peter von (Hrsg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. (Norm und Struktur, Bd. 23) Köln, Weimar, Wien 2004; Wenzel, Horst (Hrsg.): Typus und Individualität im Mittelalter. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 4) München 1983; Frank, Manfred / Haverkamp, Anselm (Hrsg.): Individualität. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 13) München 1988.

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weil Verwandtschaft oder ein Abhängigkeitsverhältnis vorliegt. Interessant wird es dort, wo die Vielschichtigkeit und Dynamik unterschiedlicher Beziehungssysteme zum Vorschein kommen und keine klaren Trennungen und Klassifikationen möglich sind und es daher nach Schwerpunktsetzungen und Akzenten der Darstellung zu fragen gilt. Erst dann rückt in den Mittelpunkt, was nicht zuletzt den Reiz aller Literatur, auch den – trotz aller Alterität – mittelalterlicher literarischer Texte ausmacht: das Besondere, die Abweichung von Norm und Konvention, das Andere, der Gegenentwurf, die aus Phantasie, Fiktion und Realität gebaute Welt. Um ein Gesamtbild des Phänomens zu bekommen, darf weiterhin nicht nur der funktional-strukturellen Dimension Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zwar ist auch immer zu fragen, welche Strukturen dem Leser begegnen, welche Konstellationen von Beziehungen dargestellt sind und welche Funktion ihnen jeweils zukommt, dabei darf jedoch die Frage nach inhaltlichen Gesichtspunkten, nach dem Wesen der personalen Bindungen und Aspekten wie normativen und ethischen Vorstellungen nicht in den Hintergrund rücken. Denn eine Nahbeziehung zu klassifizieren ist eine Sache, sie in ihrer individuellen Besonderheit zu erfassen und zu charakterisieren eine ganz andere. Das Etikett Avunkulat, Kampfgefährte, Geliebte sagt zunächst noch nichts über das tatsächliche Verhältnis der Beteiligten aus. Einen Begriff wie Freund als Label zu verwenden, gestaltet sich zudem – wie bereits der Blick auf die Terminologie zeigt138 – sehr schwierig, da die Kriterien für eine Zuordnung nicht klar sind. Genau darin liegt aber gleichzeitig die Chance, die Ebene der rein strukturellen und funktionalen Beschreibung zu verlassen und auf diese Weise Komplexität einmal nicht zu reduzieren,139 sondern zur Kenntnis zu nehmen und sichtbar zu machen. Im Vordergrund der Analyse steht dabei Freundschaft als Nahbeziehung, nicht als politische Bindung; die Überschneidung zur Verwandtschaft ist dort relevant, wo diese durch Freundschaft überboten wird. 4.3 Textcorpus und Terminologie Die um 1200 neu entstehende volkssprachliche höfische Literatur ist für kulturanthropologische Gegenstände generell ein lohnenswertes Feld und bietet auch für die Betrachtung von Freundschaft ausreichend Material. Das hier zu untersuchende Textcorpus konzentriert sich auf die höfische Epik, das ausschlaggebende formale Kriterium für die Textauswahl ist die 138 Vgl. dazu den Punkt I. 4.3. 139 Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

zeitliche Eingrenzung: die volkssprachliche höfische Literatur, also der Minnesang, die Artus- und Antikenromane, entsteht an französischen und deutschen Höfen im 12. Jahrhundert, die Zeit um 1200 gilt daher in der Forschung als ‚klassische’ Epoche der höfischen Dichtung. Was nun die höfische Epik betrifft, hat die germanistische Mediävistik für diesen Zeitraum ein relativ geschlossenes Textcorpus vor sich. Die Analyse wird die ‚Klassiker’ des höfischen Romans – Hartmanns von Aue Erec und Iwein, Gottfrieds von Straßburg Tristanroman, Wolframs von Eschenbach Parzival – , Heinrichs von Veldeke frühhöfischen Eneasroman, Herzog Ernst, Chansons de Roland sowie das Nibelungenlied als Übergangstext zwischen Heldenepik und höfischem Roman einschließen. Hinzu kommen jeweils die französischen Vorlagen Chrétiens de Troyes – Perceval, Yvain, Erec –, sowie Cligès und Lancelot, Thomas Tristanroman für Gottfried, und der französische Eneasroman. Damit wird insofern eine systematische Betrachtung angestrebt, daß einerseits sowohl Antikenroman als auch Artusund Tristanstoff sowie mit Chanson de Roland und Nibelungenlied die heldenepische Thematik Berücksichtigung finden und daß andererseits die frühhöfisch Entwicklung der Gattung, wesentliche Vertreter der höfischen Artus- und Tristanbearbeitungen und der Übergang von Heldenepik zum höfischen Roman und damit die Gattungsdifferenz eingeschlossen sind. Die Artus- und Tristanepik um 1200 bildet den Kernpunkt für die Analyse, die sogenannten nachklassischen Artusromane sind nicht Bestandteil des Textcorpus, da für diese Texte bereits wieder von veränderten Kontexten auszugehen ist. Das Nibelungenlied besitzt eine besondere Position, da durch die Differenz der Gattung Aussagen für die Kerntexte möglich sind. Der Stellenwert der Texte innerhalb des Corpus richtet sich nach dem Gewicht der Thematisierung von Freundschaft, entsprechend der Behandlung des Themas in den Texten ist ihre Position im Corpus und ihre Aussagekraft in bezug auf Nahbeziehungen. Eine Klassifizierung von Nahbeziehungen als Freundschaft aufgrund der Termini innerhalb dieses Corpus’ – soviel läßt sich vorab bereits sagen – ist kaum möglich, weil den in Frage stehenden Wörtern keine semantische Eindeutigkeit eignet. Die in diesem Fall relevanten Begriffe, die in der volkssprachlichen Literatur begegnen, sind vriunt und geselle.140 (Geselle scheint dabei der Begriff zu sein, mit dem engere Freundschaftsbeziehungen in den Artusromanen belegt werden.) Im Folgenden geht es zunächst nur um die Begriffe vriunt und vriuntschaft, da diese auch außerhalb der literarischen Texte entscheidend und zudem am schwierigsten zu bestimmen sind. 140 Für eine sprachhistorische Darstellung vgl. auch: Nolte, Theodor: Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur. S. 126136.

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Das Grimmsche Wörterbuch gibt unter dem Stichwort Freundschaft das mittelhochdeutsche vriuntschaft als Entsprechung zum lateinischen amicitia an. Neben Freundschaft werden als weitere Bedeutungen Liebe, Liebschaft und Verwandtschaft141 genannt, für Freund – amicus – vriunt – einmal der Freund als „ein geneigter, gleichgestimmter, gleichgesinnter, anhänglicher mann, der freud und leid mit uns theilt“142, weiterhin Verwandter, Geliebter, Liebhaber einer Sache als spätere Bedeutung und schließlich die „allgemeine höfliche, trauliche anrede, gleich dem griechischen ƶƩƫƝ und ƥƴơƩѺƱƥ“143. Damit ist das Bedeutungsspektrum abgesteckt und auch der wesentliche lateinische Bezugsterminus angegeben, der zu berücksichtigen ist. Der deutsche Abrogans präsentiert friuntscaf als Entsprechung für das lateinische amicitia,144 friunt entspricht im Lateinischen amicus, carus, cliens und hat damit die Bedeutung Freund und Schützling.145 Amicitia bedeutet im Mittellateinischen Freundschaft, freundschaftliche Beziehung, enges Verhältnis, Wohlwollen und Geselligkeit,146 amicus kann zunächst der Freund, Vertraute und Nahestehende sein, in politischer und rechtlicher Semantik der Bundesgenosse, Getreue, Vasall und Gefolgs- bzw. Lehnsmann und weiterhin auch der Verwandte und Verschwägerte.147 Entsprechendes findet sich auch auf der volkssprachlichen Seite. Der friunt im Althochdeutschen, im Mittelhochdeutschen vriunt, hat bereits drei Hauptbedeutungen: Freund, Vertrauter oder Nahestehender, Verwandter und Geliebter.148 Für die erste Option können dann noch semantische Varianten einmal für die Verwendung des Terminus im weltlichen und für die im geistlichen Bereich unterschieden werden. In einem säkularen Kontext meint der Begriff zunächst einmal ganz allgemein einen Menschen, zu dem man in einer Nahbeziehung steht, was sowohl Freunde als auch Verwandte umfaßt; es kann auch einfach ein wohlgesonnener Mensch gemeint sein oder ein Genosse. Sodann bezieht er sich auf den Freund im engeren Sinn und wird zudem noch als Anredeformel verwendet. Darüber hinaus kann sich der Begriff auch auf den

141 Deutsches Wörterbuch nach Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854-1960, Bd. 4, Sp. 167-178. 142 Ebd. Sp. 161. 143 Ebd. Sp. 161ff. 144 Baesecke, Georg (Hrsg.): Der deutsche Abrogans. Halle 1931, S. 2 u. 18. 145 Starck, Taylor / Wells, J. C.: Althochdeutsches Glossenwörterbuch. Heidelberg 1990, S. 179. 146 Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Hrsg. v. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften u. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Redig. v. Otto Prinz unter Mitarb. v. Johannes Schneider. Bd. I, Sp. 560ff. 147 Ebd. Sp. 563ff. 148 Grosse, Rudolf: Althochdeutsches Wörterbuch. Berlin 1971, Sp. 1273ff.

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politischen Anhänger oder den Schutzbefohlenen beziehen.149 In einem geistlichen Kontext hat vriunt die Bedeutung Vertrauter, Anhänger Gottes und bezieht sich oft auf die Jünger, oder aber meint die Anhänger einer Sache, etwa der christlichen Gebote oder der Ecclesia, oder es bezeichnet einfach den Nächsten.150 Probleme bereitet vor allem die Abgrenzung von Verwandter (mâc) und Freund, die daher auch immer wieder Gegenstand der Forschungsdiskussion ist. Martin Przybilski verweist auf die historische Entwicklung: „Im Mittelhochdeutschen erscheint vriunt nun seit dem 12./13. Jahrhundert auch mit der Nebenbedeutung ‚Verwandter’.“151 Aber Przybilski stellt weiterhin fest, „daß keine der von BMZ genannten Belegstellen mit vriunt ausschließlich Verwandte bezeichnet; vielmehr werden dort meist Verwandte und sonstige Vertraute, z.B. auch Abhängige aus dem Gefolge, zu vriunden zusammengerechnet“152. Nolte führt an, daß der Terminus im rechtlichen Sinn alle die einschließt, „die in der Lage und dazu verpflichtet sind, für einen Stammesgenossen rechtlich einzutreten“ 153. Daß vriunt zunächst nichts weiter bedeutet, als nicht Feind zu sein, scheint naheliegend, wenn man für das Mittelalter von einer Gesellschaft ausgeht, in der der Einzelne aufgrund des fehlenden zentralen Gewaltmonopols zur Durchsetzung der eigenen Interessen eine klare Freund-FeindZuordnung vornahm, kann aber durch die vorliegenden Belegstellen nicht ausreichend gestützt werden. Ebenso schwierig ist auch, eine Bedeutungsverschiebung entlang der sprachhistorischen Entwicklung anzunehmen. Das im Althochdeutschen vorliegende Material mag nicht erschöpfend sein, dennoch gibt es keinen Grund, von einer semantischen Deckungsgleichheit für mâc and vriunt auszugehen.154 Entsprechend ist es vermutlich irreführend, eine semantische Einheit beider Termini im Frühmittelalter vorauszusetzen, die sich dann im Hochmittelalter aufspaltet, und genauso wenig müssen die spätmittelalterlichen Belege für vriunt in der Bedeutung

149 Ebd. 150 Ebd. 151 Przybilski, Martin: sippe und geslehte. Verwandtschaft als Deutungsmuster im ‚Willehalm’ Wolframs von Eschenbach. (Imagines Medii Aevi, Bd. 4) Wiesbaden 2000, S. 81. 152 Ebd. Für vriuntschaft finden sich im BMZ Freundschaft, Verwandtschaft und Liebe als Bedeutungen: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearb. von Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke. Hildesheim, Bd. 4, Sp. 412b-413b. 153 Nolte, Theodor: Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur. S. 129. 154 Jones, William Jervis: German Kinship Terms (750-1500). Documentation and Analysis. (Studia Germanica, 27) Berlin, New York 1990, S. 93.

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Blutsverwandtschaft als Überreste germanischer Tradition gewertet werden.155 Bleibt die Frage nach der Hauptbedeutung. Für die hier vorzunehmende Analyse soll gelten, was William Jervis Jones feststellt: „With vriunt, the primary meaning remains ‘friend’ throughout the Middle Ages and beyond. Whilst the selection of mâc is generally governed by perceived genealogical fact, vriunt implies a set of behavioural expectations.”156 Das Problem der Trennung von Verwandtschaft und Freundschaft sowie der semantisch-ethische Aspekt des vriunt-Begriffs soll noch an zwei Beispielen aus der Spruchdichtung verdeutlicht werden. Daß es offenbar um 1200 einen Gegensatz in der Verwendung von vriunt und mac gibt, zeigt sehr deutlich der Bognerton Walthers von der Vogelweide:157 Man hôchgemâc, an friunden kranc, daz ist ein swacher habedanc, bâz gehilfet friuntschaft âne sippe. lâ einen sîn geborn von küniges rippe, ér enhâbe friunde, waz hílfet daz? mâgschaft ist ein selbwahsen êre, sô muoz man friunde verdienen sêre. mâc hilfet wol, friunt verre baz.158

Ein Mann mit hoher Verwandtschaft, aber arm an Freunden, der hat nur schwachen Rückhalt, mehr nützt ihm Freundschaft – ohne Verwandtschaft. Laß einen aus des Königs Lenden geboren sein, wenn er keine Freunde hat, was nützt das? Verwandtschaft ist eine zugefallene Ehre, Dagegen muß man sich Freunde wirklich verdienen. Ein Verwandter nützt vielleicht, ein Freund weit mehr.

Die Differenzierung, die Walther hier vornimmt, scheint einer Auffassung zu widersprechen, die der Verwandtschaft als Organisationsprinzip der mittelalterlichen Gesellschaft den Vorrang gibt – „because in a ‚traditional’ society the only true friends a man can have are those linked to him by ties of blood”159 –, und setzt Freundschaft deutlich von Verwandtschaft ab. Auch Nolte verweist auf diese Differenzierung und führt als weiteres Bei155 Jones, William Jervis: German Kinship Terms (750-1500). S. 93. 156 Ebd. S. 106. 157 Zur Frage der Autorschaft vgl.: Bonath, Gesa: Zur Frage der Echtheit des Bognertons (Walther 78, 24-82, 10). In: Ruh, Kurt / Schröder, Werner (Hrsg.): Beiträge zur weltlichen und geistlichen Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. Würzburger Colloquium 1970. Berlin 1973, S. 9-39. 158 Zitiert nach: Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd. / Nhd. Hrsg. v. Günther Schweikle. Stuttgart 1994, S. 294. 159 Bullough, D. A.: Early medieval social groupings: The terminology of kinship. In: Past and Present 45, 1969, S. 3-18, S. 12. Zahlreich sind die Beispiele familiärer Auseinandersetzungen, die angeführt werden können, um die Relativität der verwandtschaftlichen Bindung zu verdeutlichen.

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spiel eine Stelle aus Hartmanns von Aue Iwein an,160 die an entsprechender Stelle noch zur Sprache kommen wird.161 Und daß nicht nur Verwandter nicht gleich Freund, sondern auch Freund nicht gleich Freund ist, zeigt ein Spruch Freidanks: Man mac mit lîhten sinnen manegen friunt gewinnen; ouch muoz er sîn ein wîse man, der guoten friunt behalten kann.162 (97, 8)

Es ist zumeist ein leicht’ Beginnen, will jemand einen Freund gewinnen, doch muß schon große Weisheit walten, will man den guten Freund behalten.

Das bedeutet, daß allein mit dem Terminus friunt nicht immer etwas über die Qualität der Bindung gesagt sein muß. Nicht jeder friunt ist auch ein guoter friunt, und es bedarf der klugen Auswahl, diejenigen zu finden, die sich auch im Ernstfall als Freunde im Sinne von zuverlässig und hilfsbereit erweisen. Das könnte auch dafür sprechen, daß der Begriff friunt zunächst wertneutral die Verwandten, Gefolgsleute und sonstigen Gefährten bezeichnet, über den Charakter der damit angesprochenen Bindung und eventuelle ethisch-normative Zuschreibungen aber nichts aussagt. Allerdings spricht ein Text wie der Walthers gegen eine solche – ausschließliche – Lesart. Für die Analyse bedeutet diese semantische Ausgangslage, daß die Termini ein erster Anhaltspunkt sein können und ernst genommen werden müssen, daß aber die jeweiligen Textpassagen unter Einbezug weiterer Kriterien und vor allem des Kontextes einzuordnen sind. Allein dieser kurze terminologische Abriß zeigt aber deutlich, daß sowohl Verwandtschafts- als auch Liebes- und Patronagebeziehungen berücksichtigt werden müssen, um sich dem Begriff und Phänomen in den hochmittelalterlichen Texten zu nähern. 4.4 Kontexte Für eine systematische Betrachtung von Freundschaft in der neu entstehenden volkssprachlichen Literatur um 1200, wie sie hier angestrebt wird,

160 Nolte, Theodor: Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur. S. 141. 161 Siehe dazu Kap. III. 162 Zitiert nach: Freidanks Bescheidenheit. Auswahl mittelhochdeutsch – neuhochdeutsch. Übertr., hrsg. u. mit einer Einleitung v. Wolfgang Spiewok. Leipzig 1985 (Hervorhebungen nicht im Original).

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ist die Situierung im Kontext163 die wichtigste Voraussetzung, d.h. hier ist zurückzukommen auf die oben gestellte Frage: Welche Begriffe und welche Konzepte von Freundschaft, welche Texte aus anderen Bereichen, welche soziale Wirklichkeit korrelieren mit den in den Werken dargestellten Nahbeziehungen? Welche Vorstellung von Freundschaft hat die geistige und gesellschaftliche Elite in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 13. Jahrhunderts? Was leistet Literatur innerhalb der Diskussion der Diskurse? Steuert sie eigene Strukturmodelle von Freundschaft bei? Welchen Stellenwert hat Freundschaft im Konzert der Diskurse in den Texten, gibt es so etwas wie eine „höfische Freundschaftsidee“164? Und zu fragen ist nach der Funktionalisierbarkeit der Freundschaftsthematik in der höfischen Dichtung. Es geht also darum, welche Diskurse und Denkmuster von Freundschaft uns die Texte präsentieren, wie sie mit ihnen umgehen und aus welchen kulturellen, sozialen und politischen Kontexten diese Vorstellungen entstehen, d.h. mit welchen Texten ihres Umfelds, die ebenfalls Freundschaft zum Thema haben, sie korrespondieren. Diskurs wird hier verstanden als historische Aussageformation und im Sinne der Definition Michael Titzmanns als „ein System des Denkens und Argumentierens, das von einer Textmenge abstrahiert ist.“165 Freundschaft bzw. seine narrative Entfaltung in der höfischen Dichtung soll „mit den verschiedensten Traditionssträngen thematisch vergleichbarer Diskurse“166 zusammen gelesen werden. Entsprechend ist das Ziel, die in den Texten dargestellten freundschaftlichen Bindungen aus dem Wechselverhältnis der literarischen Texte mit ihren Kontexten zu analysieren und damit durch eine Anbindung an mögliche und relevante außerliterarische Referenzsysteme einzuordnen. Wie bereits angesprochen zeigt der Blick auf die Texte und intellektuellen Debatten des 12. Jahrhunderts, daß Freundschaft, ebenso wie Liebe, ein vieldiskutiertes Thema darstellt. Stephen Jaeger verweist auf die Freundschaftskultur, die sowohl an den Höfen als auch in den Schulen seit dem Frühmittelalter gepflegt wurde167 und die an das Erbe antiker 163 Siehe dazu auch: Peters, Ursula: Text und Kontext: Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie. In: Dies.: Von der Sozialwissenschaft zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973-2000. Hrsg. von Susanne Bürkle / Lorenz Deutsch / Timo Reuvekamp-Felber. Tübingen, Basel 2004, S. 301-334. 164 Krass, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. (Bibliotheca Germanica, 50) Tübingen, Basel 2006, S. 309. 165 Titzmann, Michael: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99, 1989, S. 47-61, S. 51. 166 Peters, Ursula: Mittelalterliche Literatur am Hof und im Kloster. S. 183. 167 Jaeger, C. Stephen: The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950-1200. (Middle Ages Series) Philadelphia 1994; Ders.: Ennobling Love.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

Freundschaftsdiskurse anschließt, wobei im 12. Jahrhundert vor allem die breite Rezeption von Ciceros Laelius de amicitia von Bedeutung ist. Das antike Erbe, christlich gewendet, – das Stichwort hier ist Augustinus, der im folgenden Kapitel zur Sprache kommen wird – scheint im 12. Jahrhundert in der Diskussion um Freundschaft, wenn auch nicht nur dort, besonders präsent zu sein. Deshalb ist es notwendig, den Blick auf das geistige Vorratslager an Freundschaftskonzepten zu lenken, das bis zum Hochmittelalter gewachsen ist und aus dem sich zweifellos die Diskussion über die amicitia spiritualis speist und das möglicherweise auch die höfische Dichtung beeinflußt. Im monastischen Bereich beschäftigen sich insbesondere die Zisterzienser mit dem Thema, Aelreds von Rievaulx Traktat zur amicitia spiritualis wäre hier vor allem zu nennen, ein Werk, das auch im Laiendiskurs Resonanz findet.168 Wesentlich sind also die rezipierten antiken Freundschaftsdiskurse und die monastische Diskussion der amicitia spiritualis, aber auch, als ein Gegenpol, die hofkritischen Schriften, etwa eines Johannes’ von Salisbury oder Walter Maps, die Freundschaften in der Welt des Hofes als zweifelhaft erscheinen lassen. Diese gegenseitige Durchdringung von Klosterwelt und Hofkultur, die vielfältigen Beziehungen zwischen Laien und Klerikern sind ein wesentliches Moment für die Betrachtung der höfischen Literatur im allgemeinen und der darin verhandelten Freundschaftskonzepte im besonderen. Die angesprochenen intellektuellen Ansprüche bilden den Hintergrund für die anthropologischen Probleme, die die Autoren in ihren Werken verhandeln. Die Verfasser der im Corpus eingeschlossenen Texte sind gebildete Autoren, litterati. Deshalb erscheint es unverzichtbar, die gelehrten Diskurse der Zeit zu amicitia und ihre spätantiken Wurzeln als Referenzsysteme in die Analyse einzubeziehen. Es gilt, was Eckart Conrad Lutz festgestellt hat: Literatur ist im Mittelalter stets Literatur der Eliten, von Eliten der Bildung, der Macht, des Besitzes und der Lebensformen, auch wenn diese Eliten zunehmend breiter werden, die Bindung an den Hof differenzierter; und das literarische System als Ganzes bleibt – bei allen gewaltigen Veränderungen – stets gebunden an eine ‚Trägerschaft’ (im weitesten Sinn), die Kleriker und Laien verbindet, von ihren Interessen und Fähigkeiten und den – sich wandelnden – Formen der Soziabilität bestimmt ist.169

Bei der Analyse von Freundschaft und Patronage in der höfischen Literatur um 1200 geht es deshalb nicht zuletzt um die Frage, wie sich eine Elite 168 Stefaniw, Blossom: Spiritual friendship and bridal mysticism in an age of affectivity. In: Cistercian Studies Quarterly 41 (1), 2006, S. 65-78, S. 66. 169 Lutz, Eckart Conrad: Literatur der Höfe – Literatur der Führungsgruppen. Zu einer anderen Akzentuierung. In: Palmer, Nigel F. / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11.10.1997. Tübingen 1999, S. 29-52, S. 32.

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organisiert, d.h. es geht um das Selbstverständnis der sozialen und politischen Führungsschicht. Mittelalterliche Literatur, und zwar gerade die höfische Dichtung, um die es hier geht, ist Auftrags- und Repräsentationsliteratur eben dieser adligen Elite. Das bedeutet auf der einen Seite, daß diesen Werken die Funktion der Selbstinszenierung und -legitimierung eignet, aber auf der anderen Seite werden genau die gleichen Fragen und Probleme wie in der zeitgenössischen lateinischen Literatur diskutiert. Es geht, wie Ursula Peters es formuliert, um „die spezifische Ausprägung poetischer Problemlösungen in der Welt der gedachten Ordnungen“170. Die Frage, die sich stellt, ist, was für Freundschaftsverhältnisse präsentieren uns die Texte, welche theoretischen Konzepte, welche Ansprüche stehen dahinter? Wie groß ist die Bedeutung der tradierten antiken Vorstellungen, vor allem die Ciceros,171 wird hier einfach übernommen, entwickelt sich aufbauend auf dem Vorhandenen ein eigenständiger Freundschaftsdiskurs in der höfischen Literatur? Was ist mit dem Wort Cassians, daß perfecta amicitia nur zwischen perfecti bestehen kann172, kann man sagen, „der Asket ist an die Stelle des stoischen Weisen und des vir bonus getreten“173? Wie bereits beschrieben, verweist der Soziologe Graham Allan darauf, daß der Begriff des Freundes eine deutlich differenzierter gelagerte Bedeutung als andere Termini hat, die soziale Beziehungen benennen. Jemanden als Freund zu bezeichnen, sagt etwas grundsätzliches über das Verhältnis aus, „it is a relational term which signifies something about the quality and character of the relationship involved”174. Diese Feststellung, formuliert mit Blick auf Vorstellung und Praxis von Freundschaften unserer Zeit und Kultur, kann durchaus auch für mittelalterliche Verhältnisse geltend gemacht werden, oder umgekehrt müßte man vielleicht vielmehr konstatieren, daß sich unser Denken in dieser grundsätzlichen anthropologischen Frage nicht wesentlich vom Denken der Menschen um 1200 unterscheidet. Was sich möglicherweise unterscheidet, ist, was unter dieser Qualität verstanden wird und was sich als Konsequenz für das soziale Handeln daraus ergibt. Deshalb muß das kulturelle Umfeld einbezogen werden, um in Anlehnung an Stephen Greenblatts Theorie der Zirkulation sozialer 170 Peters, Ursula: Mittelalterliche Literatur am Hof und im Kloster. Ergebnisse und Perspektiven eines historisch-anthropologischen Verständnisses. In: Palmer, Nigel F. / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. S. 167-192, S. 177. 171 Vgl. dazu Ziolkowski, Jan M.: Twelfth-Century Understandings and Adaptations of Ancient Friendship. 172 Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. VIII, Sp. 431. 173 Ebd. 174 Allan, Graham: Friendship. Developing a sociological perspective. S. 16.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

Energie175 in den und durch die Diskurse einer Zeit hier für die höfische Literatur um 1200 eine Aussage treffen zu können.176 Zwar sind unsere modernen Freundschaftsdiskurse durch die Geschichte dieses Diskurses geprägt und tragen dessen Spuren in sich, andererseits aber sind wir mit der Fremdheit der Vergangenheit konfrontiert, wenn wir uns dieser Geschichte zu nähern versuchen. Die jeweilige Zeit und Kultur muß in ihrer Andersartigkeit wahrgenommen werden, auch wenn sie partiell vertraut erscheinen kann. Hier kann etwa auf Clifford Geertz verwiesen werden und dem, was er zum Problem des ethnologischen Verstehens sagt.177 In erster Linie ist nicht besondere Empathie gefragt, sondern Reflexivität, ein Bewußtsein für die Andersartigkeit, für andere Konzeptionen der Wirklichkeit, damit die Relativität der eigenen Vorstellungswelt zu Tage tritt. Sowohl die Kulturwissenschaften – wie Ethnologie oder Anthropologie – als auch die Literaturwissenschaften richten im Prozeß ihrer Erkundungen – und das ist ihr Gemeinsames – die stärkste Aufmerksamkeit auf die unverhofften wie unvermittelten Augenblicke der Begegnung mit dem Fremden, dem Unbekannten und als ‚authentisch’ erst zu Entdeckenden, mit einem Wort: auf den Begegnungs-Schock, „le choc de la rencontre“, wie Jean Rousset sich ausgedrückt hat.178

Damit aber der ‚Begegnungs-Schock’ überhaupt erst möglich wird, muß der Betrachter eine Position einnehmen, die durch möglichst große Voraussetzungsarmut gekennzeichnet ist. Das meint keineswegs eine Sichtweise, die das vollständige Abstreifen eigener Denkschemata, Einstellungen und Deutungsmuster für möglich hielte, denn das wäre epistemologisch gesehen tatsächlich eine naive Vorstellung. Jedoch kann ein in die Analyse eingebautes Moment der Reflexivität dazu beitragen, sich permanent der eigenen ‚Brillen’ bewußt zu bleiben und sie auf diese Weise zumindest teilweise zu dekonstruieren. Besonders geeignet dafür scheint die Haltung der ‚Voraussetzungsarmut’, ein Ansatz, der aus der neueren französischen Soziologie stammt und der als methodische Herangehensweise vorschlägt, „daß in die Analyse möglichst keine Kategorien eingehen sollen außer denen, die die Menschen selber einführen“179. Auch 175 Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford 1988, S. 1-20. 176 Vgl. dazu auch: Peters, Ursula: Zwischen New Historicism und Gender-Forschung. Neue Wege der älteren Germanistik. In: DVjs 71 (3), 1997, S. 363-396. 177 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers. v. Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann. Frankfurt a.M. 1987, S. 289ff. 178 Neumann, Gerhard: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. S. 147. 179 Wagner, Peter: Die Soziologie der Genese sozialer Institutionen – Theoretische Perspektiven der ‚neuen Sozialwissenschaften’ in Frankreich. In: Zeitschrift für Soziologie 22 (6), 1993, S. 464-476, S. 465.

4. Freundschaft in der höfischen Literatur um 1200

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wenn das nicht immer vollständig umsetzbar ist, scheint es doch ein zielführender Ansatz für die in dieser Arbeit vorzunehmende Untersuchung, der mit der Geertzschen Position in Einklang steht. Der Aspekt der Fremdheit verbindet die Ethnologie sowohl mit der Geschichtswissenschaft als auch mit der Literaturwissenschaft.180 Die Schwierigkeiten der ethnographischen Betrachtung, die das Fremde verstehen will, „die im eigenen Diskurs ‚die Anderen’ zur Sprache kommen lassen will, erzeugen offenbar diejenigen Motive und Fragestellungen, die eine besondere Affinität zu Literatur und Literaturwissenschaft erkennen lassen“181. Es geht hier wie da um den Autor, um die Subjektivität der Betrachtung, Perspektiven und Fiktion, und schließlich um „Fragen nach der Projektion und Imagination anläßlich der Begegnung mit dem Fremden, Codierungen von Gewalt, Neugier, Erstaunen, Erschrecken usw“182. Diese Fragen und Ansätze sollen für die herzustellenden Beziehungen zwischen den Texten des Corpus’ und ihren kulturellen Kontexten fruchtbar gemacht werden, um das Thema Freundschaft möglichst vom Gegenstand her angehen zu können. Zu fragen ist dann, welche außerliterarischen Referenzen möglich sind. Bei den Analysen der folgenden Kapitel zu den Texten und Kontexten sollen aber auch die Problemfelder und Spannungen im Hinterkopf bleiben, die vor allem im Zusammenhang dem Oppositionspaar Moderne – Vormoderne und den Relationen zwischen Freundschaft und anderen Beziehungsformen thematisiert wurden. Um die Freundschaftsdiskurse der höfischen Epik kontextualisieren zu können und auf diese Weise für dieses Thema vielleicht zu einem Verständnis der Funktion der höfischen literarischen Texte zu kommen, wird eine Herangehensweise in Anspruch genommen, die sowohl die literaturwissenschaftliche als auch die historische Perspektive in den Blick nimmt. Damit ist die Arbeit einem kulturwissenschaftlichen Zugang verpflichtet, und zwar geprägt vom New Historicism und den Studien eines Stephen Greenblatts. Für die germanistische Mediävistik ist natürlich dieses Einbeziehen historischer Kontexte nichts bahnbrechend Neues, aber wie Jan-Dirk Müller festgestellt hat, ist der Vorteil der neueren kulturwissenschaftlichen Ansätze, daß sie auf eine Hierarchisierung der Texte und Zeichen einer Kultur verzichten und da180 Gleichwohl ist eine vorschnelle Parallelisierung von ethnographischen und literaturwissenschaftlich-mediävistischen Vorannahmen und Methoden kritisch zu sehen. Siehe dazu: Kiening, Christian: Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52. Jg, 1/2005: Germanistische Mediävistik und ‚Bologna-Prozeß’. Hrsg. v. Peter Strohschneider. S. 150-166, S. 152ff. 181 Scherpe, Klaus R.: Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft. In: Boden, Petra / Dainat, Holger (Hrsg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissen-schaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. (Literatur Forschung) Berlin 1997, S. 297-315, S. 299. 182 Scherpe, Klaus R.: Grenzgänge zwischen den Disziplinen. S. 299.

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I Freundschaftskonzepte und Freundschaftspraxis

mit neue Perspektiven eröffnen.183 Und für ein kulturanthropologisches Thema wie Freundschaft erweist sich eine dezidiert kulturanthropologisch angelegte Herangehensweise wie der New Historicism als produktiv.

183 Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 8.

II Freundschaftsdiskurse um 1200 und ihre Vor-Geschichten 1. Diskurse von Freundschaft um 1200 In diesem Kapitel sollen einerseits überblicksartig die Konzepte und Vorstellungen von freundschaftlichen Nahbeziehungen um 1200 und vor allem ihre antike, insbesondere ihre spätantik-christliche Herkunft – darauf liegt der Schwerpunkt des Kapitels – skizziert werden, um so ein Bild des Kontexts und der Verstehensvoraussetzungen der mittelalterlichen Freundschaftsdiskurse im allgemeinen und der Freundschaftsdiskurse in der höfischen Epik im besonderen zu gewinnen. Und andererseits geht es darum, literarischen Traditionen und Mustern des Themas sowie dem Spannungsverhältnis von Freundschaft und Liebe nachzugehen. Wenn man die Kulturgeschichte der Freundschaft nicht so sehr als Chronologie von der Antike bis ins 21. Jahrhundert und schon gar nicht als Entwicklungsprozeß oder Geschichte des sogenannten Zivilisationsfortschrittes schreiben wollte, sondern als Geschichte der Konjunkturen von Freundschaft, so hätte das 12. und beginnende 13. Jahrhundert sicherlich einen wichtigen Platz darin. Zwar ist die Tradierung antiker und christlicher Freundschaftskonzepte und –praktiken nie abgerissen,1 aber das 12. Jahrhundert, auch in anderer Hinsicht ein geistesgeschichtlicher Einschnitt, läßt eine neues intensives und vielfältiges Interesse an dem Thema in verschiedenen Text- und Lebensbereichen erkennen.2 Das kulturelle Feld, aus dem die Erscheinungsformen und Varianten des Freundschaftsdiskurses in den verschiedenen Textbereichen – theologische, didaktische, historiographische Schriften, lateinische wie volkssprachliche fiktive Literatur – hervorgehen, ist das des Nachdenkens über die (neue) Konzeptionalisierung von Nahbeziehungen. Die wachsende Aufmerksamkeit für die Frage nach der Freundschaft ist in den größeren Zusammenhang des sich verändernden und zunehmenden Interesses für Nahbeziehungen insgesamt zu stellen: „The growth of a keen self-awareness was

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So zeigt Verena Epps Untersuchung zur Freundschaft, daß es keinen Bruch im Freundschaftsdiskurs zwischen Spätantike und Frühmittelalter gibt, sondern vielmehr eine Kontinuität der amicitia-Vorstellungen. Epp, Verena: Amicitia. Vgl. u.a. S. 16. Vgl. auch Oschema, Klaus: Sacred or Profane? S. 51f.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

naturally accompanied by a fresh interest in close personal relationships.”3. Lehnsbeziehungen, Ehe, Liebe, Freundschaft und die Interaktion dieser interpersonalen Beziehungen sowie ihre Transgressionen zwischen öffentlicher und persönlich-privater Sphäre entfalten eine neue Dynamik.4 Offenbar erlebt diese Beziehung im 12. Jahrhundert eine Blütezeit, vielleicht als Gegenbewegung zu bestehenden sozialen und politischen Verhältnissen, oder zurückzuführen auf Veränderungen im Bildungsbereich der Klöster und ihrer Reformbewegungen samt den Rückwirkungen auf den weltlichen Bereich. In diese verstärkte Beschäftigung bettet sich die Thematisierung von Freundschaft in der höfischen Literatur um 1200 ein – ebenso wie die von Ehe und Minne. Da die hochmittelalterlichen Diskurse und Strukturmodelle von Freundschaft gewissermaßen das Reservoir bilden, das für die volkssprachlichen fiktiven Texte zur Verfügung steht – neben den eigenen literarischen Traditionen zu Freundschaftsmotiven – , ist es notwendig, einen Überblick über diese Diskurse zu gewinnen. Der wichtigste Punkt dabei ist die Varianz und Uneindeutigkeit von Freundschaft. Freundschaft funktioniert als Nahbeziehungsdiskurs sowohl für geistliche als auch für politische oder herrschaftliche Bindungen, für horizontale wie vertikale Verhältnisse, und eine Trennung von emotional-ideellem Anspruch und Zweckorientierung ist vor allem in der Praxis kaum möglich. Im ersten Kapitel wurde bereits auf das Verhältnis von Nutzen und Neigung im Freundschaftsdiskurs hingewiesen. „[Es] ist davon auszugehen, daß in allen Epochen Freundschaft durch eine Spannung zwischen affektiver Intimität und Kalkül gekennzeichnet ist, die aber in jeder Epoche und Kultur anders akzentuiert wird.“5 In den hochmittelalterlichen Diskurszusammenhängen wird das darin sichtbar, daß in den einzelnen Textbereichen, geistlich, politisch, historiographisch oder literarisch – ohne diese immer scharf voneinander trennen zu können – unterschiedliche Konzepte formuliert und Akzente gesetzt werden bzw. Freundschaft auch innerhalb eines Textbereiches als mehrdeutiger Diskurs auftritt oder instrumentalisiert werden kann.6 Weil schon die Termini amicitia wie vriuntschaft semantisch vielschichtig und nicht eindeutig sind sowie unterschiedliche Nahbeziehungskonzepte bezeichnen können und damit eine Plurali3 4 5 6

Morris, Colin: The Discovery of the Individual 1050-1200. (Medieval Academy Reprints for Teaching, 19) Toronto, Buffalo, London 1987, S. 96. Siehe dazu Eickels, Klaus van: Tradierte Konzepte in neuen Ordnungen. Personale Bindungen im 12. und 13. Jahrhundert. Asch, Ronald G.: Freunde, Gönner und Getreue. Freundschaft und Patronage in historischer, kulturvergleichender und anthropologischer Perspektive. In: Castrum Peregrini 56 (279-80), 2007, S. 87-95, S. 92. Für eine Überblick mittelalterlicher Freundschaftsdiskurse siehe auch Oschema, Klaus: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. S. 83-107.

1. Freundschaftsdiskurse um 1200

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tät von Lesarten implizieren, müssen bei der Analyse von Freundschaft in den ausgewählten Texten andere relevante Bindungen wie Verwandtschaft, Patronage, politische Bündnisse oder Liebe sowie ihre Verflechtungen immer mit im Blick bleiben. Dem Leser der höfischen Romane präsentiert sich ein dichtes Geflecht an sich überlagernden, sich ergänzenden und miteinander konkurrierenden Beziehungen, was als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen besonders wichtig ist, weil in der Forschung lange das Verwandtschaftsparadigma im Vordergrund stand. Wesentlich ist aber zunächst eben diese Nähe von Freundschaft und Verwandtschaft. Die vriunde oder amici bezeichnen die Verwandten, Gefolgsleute oder auch Gönner, und als Verbündete erweitern sie den Kreis der Familie und der Verwandten bzw. der Personengruppe, deren Angehörige dem einzelnen durch persönliche Loyalität verbunden sind;7 sie stellen damit ein wichtigen Stabilitätsfaktor dar. Freundschaft funktioniert als Form der Herrschaftsorganisation,8 und das bedeutet, daß ein Code der Intimität für die Aufnahme und Besiegelung von Beziehungen mit klar machtpolitischem Charakter sowie gegenseitigen Nutzen- und Loyalitätserwartungen eingesetzt wird. Dazu gehört auch die öffentliche Inszenierung freundschaftlicher Emotionen und Gesten, wobei sich bewußt inszenierter performativer Akt und ‚tatsächliche’ Emotionen bzw. Reflexionen der Akteure kaum trennen lassen. Auch wenn in der mediävistischen Forschung Familie und Verwandtschaft lange Zeit das Hauptinteresse bildete, kann für das ‚christliche’ Mittelalter zunächst Freundschaft als die ideale menschliche Beziehung in Anspruch genommen werden. Das Neue Testament entwirft ein Ideal menschlichen Zusammenlebens, für das Freunde und Gefährten und schließlich die Gemeinschaft der Gläubigen, nicht aber die Familie entscheidend sind. Der Weg Jesu, dem es durch die imitatio christi zu folgen gilt, ist durch seine radikale Absage an familiäre Werte und Bindungen gekennzeichnet. Es überrascht daher nicht, daß die theoretische Diskussion über Freundschaft im Mittelalter zunächst in erster Linie in den Klöstern geführt wird, bzw. daß es Äbte sind, die sich für das geistliche und politische Tagesgeschäft des amicitia-Diskurses bedienen. Da das Kloster jedoch kein hermetischer Raum ist,9 sollte das nicht zu der Annahme füh7

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Zu Freundschaft im Gefolge bzw. in Adelsgruppen vgl. Dendorfer, Jürgen: Adelige Gruppenbildung und Königsherrschaft. Die Grafen von Sulzbach und ihr Beziehungsgeflecht im 12. Jahrhundert. (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, 23) München 2004. Das haben die Arbeiten von Gerd Althoff gezeigt. Siehe dazu u.a. Tremp, Ernst: Laien im Kloster. Das hochmittelalterliche Reformmönchtum unter dem Ansturm der Adelskonversionen. In: Lutz, Eckard Conrad / Tremp, Ernst (Hrsg.): Pfaffen und Laien – ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996. (Scrinium Friburgense, Bd. 10) Freiburg (Schweiz) 1999, S. 33-56.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

ren, es handele sich hier nur um ein Thema der monastischen Sphäre. Die wesentlichen systematisch-theoretischen Ausführungen zu diesem Thema allerdings stammen seit dem Frühmittelalter von Klerikern und Mönchen, was seinen Grund darin hat, daß in der Spätantike die amicitia spiritualis als Ideal der monastischen Gemeinschaft entworfen wird, was den Diskurs dieser lange Zeit prägt, aber auch nicht unerhebliche Probleme aufwirft.10 Für die Anthropologie der Freundschaft im Mittelalter ist diese theologisch-philosophische Ebene die eine, die andere ist die der politischsozialen Praxis. In diesem Bereich hat die Familie insbesondere im genealogischen Denken des Adels einen hohen Stellenwert; Verwandtschaftsbeziehungen, in denen sich Lehnsbindungen und Gefolgschaft widerspiegeln und umgekehrt, strukturieren das Gesellschaftsgefüge. Tatsächliche oder geistliche Verwandtschaft dient als Absicherung der Machtbasis, allerdings treten auch hier ritualisierte Freundschaften in ähnlicher Funktion hinzu. Zu verweisen wäre hier auf die Praxis politischer Freundschaft, wie sie Gerd Althoff beschrieben hat und auf die Lehnsherr – Vasall – Beziehung des sich im Hochmittelalter voll herausbildenden Lehnswesens11: Oder mit Georges Duby kann man formulieren „Die Weltordnung verlangt, daß jeder ständig in ein Netz von Solidaritäten, von Freundschaften, in eine Körperschaft eingebunden ist.“12 Um zu beschreiben, wie diese sozialen Bindungen in den fiktiven Texte im Verhältnis zu den außerliterarischen Referenzsystemen diskursiviert werden, sind im nächsten Kapitel weitere Kontexte einzubeziehen, wie zum einen etwa die historiographischchronikale Überlieferung, zum anderen aber auch der Bereich der hofkritischen Schriften. Wie bereits in der römischen Antike ist amicitia als politischer Diskurs variabel und auf vielfältige Beziehungen anwendbar; in Rom galt er nicht nur für personale Bindungen, sondern auch für Beziehungen zwischen Staaten und Verträgen mit Verbündeten der Römer, und ganz allgemein ist amicitia zunächst Ausdruck des gegenseitigen Unterlassens von Feindseligkeiten, also negative Treue. Die politische amicitia erlebt am Ende des 12. Jahrhunderts und im 13. Jahrhundert eine „Phase des Übergangs“13, da seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert Bündnisse immer häufiger in Freundschaftsverträgen schriftlich fixiert werden,14 so daß sich hier eine 10 11 12 13 14

McGuire, Patrick: Friendship and Community. S. xli. Zur Thematik Lehenswesen im Hochmittelalter und den Beziehungen zwischen Herr und Vasall siehe Reynolds, Susan: Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted. Oxford 1994. Duby, Georges: Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter. Übers. v. Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M. 1986, S. 6. Garnier, Claudia: Amicus amicis, inimicus inimicis. S. 14. Ebd. S. 14.

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Formalisierung der politischen Bindungen abzeichnet. Auf der Ebene personaler Bindungen taucht der Freundschaftsdiskurs im Zusammenhang mit Verwandtschaft und Familie einerseits sowie Liebe und Nächstenliebe andererseits auf.15 Spiess verweist auf den Zusammenhang zwischen Heiratspolitik und der auf diese Weise organisierten Installation neuer Freundschaftsbindungen.16 In den von ihm untersuchten Eheverträgen sieht er vor allem diese Freundschaftsbeziehungen zwischen den durch Heirat verbundenen Familien betont.17 Amicitia als politischer Diskurs wird sowohl für vertikale als auch für horizontale Bindungen verwendet wie schon die Antike persönliche Beziehungen zwischen Gleichen wie auch Patronageverhältnisse mit der Freundschaftsterminologie belegt: „Vertikale Beziehungen verweisen auf Herrschafts- und Patronageverhältnisse, während horizontale Bindungen gleichrangige Partner vereinigten.“18 So können auch im Hochmittelalter Beziehungen zwischen Herr und Vasall auf diese Weise formuliert, Klienten als vriunde bezeichnet werden; die Verpflichtung des consilium et auxilium gilt für Vasallen wie für Freunde. Auf diese Weise kann Gleichheit zumindest suggeriert werden oder reale Statusunterschiede lassen sich mit dieser Terminologie verschleiern, wenn das den Absichten der Akteure entgegenkommt. Die Sprache und die Gesten von Liebe und Freundschaft sind in ihrer Verwendung nicht getrennt, amor, dilectio, caritas und amicitia werden sowohl für Herr-Vasall-Bindungen wie auch für Ehepartner, Freunde oder Verbündete in Anspruch genommen.19 Stellt sich für Heinz Bude Freundschaft in der Moderne als „ein dritter Weg“20 zwischen sexualisierter Liebesbeziehung und Verwandtschaft, zwischen Familie und Wohlfahrtsstaat dar, so machen die mittelalterlichen Diskurse diese Trennung eben nicht. Gerade diese Uneindeutigkeit macht auch die Leistungsfähigkeit und flexible Funktionalisierbarkeit der mittelalterlichen Liebes- und Freundschaftsterminologie aus.

15 16 17 18 19

20

Goetz, Hans-Werner: ‚Beatus homo qui invenit amicum.’ The Concept of Friendship in Early Medieval Letters of the Anglo-Saxon Tradition on the Continent (Boniface, Alcuin). In: Haseldine, Julian: Medieval Friendship. S. 124-136, S. 126. Spiess, Karl-Heinz: Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. S. 73ff. Ebd. S. 74. Oschema, Klaus: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. S. 90. Eickels, Klaus van: Verwandtschaftliche Bindungen, Liebe zwischen Mann und Frau, Lehenstreue und Kriegerfreundschaft: Unterschiedliche Erscheinungsformen ein und desselben Begriffs? In: Schmidt, Johannes F.K. / Guichard, Martine / Schuster, Peter / Trillmich, Fritz (Hrsg.): Freundschaft und Verwandtschaft. S. 157-164, S. 159. Bude, Heinz: Die Aktualität der Freundschaft. In: Mittelweg 36 (Zeitschrift d. Hamburger Instituts f. Sozialforschung) 17 (3), 2008, S. 6-16, S. 10.

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Mit Verena Epp ist amicitia „als eine wechselseitige, wertbezogene und moralisch bindende Verpflichtung [...], die von zwei oder mehreren Partnern geschlossen wird, affektive und kontraktuelle Elemente enthält und sich in gegenseitigen Diensten äußert“21 zu fassen, denn diese für den Übergang von Spätantike zum Frühmittelalter formulierte Einordnung trifft durchaus auch für das 12. Jahrhundert zu. Epp sieht amicitia durch folgende Charakteristika getragen: die „persönliche Freiheit der amici“, eine „Friedens- und Sicherheitsgarantie“, eine „wert- und zielbezogen[e] Verpflichtung“ sowie das „Prinzip der Gegenseitigkeit“22. Vier Bereiche können ausgemacht werden, mit denen der amicitia-Begriff verbunden ist: personale Bindungen, Gefolgschafts- und Klientelbeziehungen sowie außenpolitische und geistliche Beziehungen.23 Die freie Wahl der Freunde setzt die persönliche Freiheit voraus, die vor allem für den weltlichen Adel und adligen Weltklerus das Distinktionsmerkmal schlechthin darstellt im Gegensatz zum Raum des Klosters, wo der Wert der caritas die ganze Gemeinschaft einschließt. Die Wert- und Zielhaltigkeit bezeichnet nicht zuletzt jene Qualität von Freundschaft als Nahbeziehung, von der im ersten Kapitel die Rede war. Und Reziprozität realisiert sich im Geschenktausch, im Beistand in Notlagen sowie in der gegenseitigen Verpflichtung zu consilium et auxilium. So treten die Freunde in der ‚privaten’ Dimension von Freundschaft als Rechtsbeistand in Gerichtsverfahren auf.24 Damit tauchen wesentliche Elemente auf, die bereits in Kapitel I als auch im modernen Freundschaftsdiskurs verankerte Merkmale ausgewiesen wurden, auch wenn zweifellos mittelalterliche amicitia und vriundschaft einen sehr viel höheren Grad an Institutionalisierung und einen sehr viel stärker verpflichtenden Charakter aufweisen. Ob allerdings mittelalterliche Autoren generell im Gegensatz zu den aus der Antike übernommenen und transformierten Freundschaftsdiskursen „das äußerliche Freundschaftshandeln als den wesentlichen Gehalt, das Empfinden innerer Übereinstimmung dagegen als akzidentielle Eigenschaft“25 ansahen, muß für jeden Textbereich und den jeweiligen einzelnen Texte entschieden werden. Für den politisch-weltlichen wie für den monastischen Bereich ist von einem Nachwirken antiker Freundschaftsvorstellungen und –rituale auszugehen. Die Vorgeschichte der geistlichen Freundschaft sowie der weltlichen Pen21 22 23 24 25

Epp, Verena: Amicitia. S. 299 Ebd. S. 299f. Epp, Verena: Amicitia. Oschema, Klaus: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution. (Norm und Struktur, 26) Köln, Weimar, Wien 2006, S. 94-96. Eickels, Klaus van: Verwandtschaftliche Bindungen, Liebe zwischen Mann und Frau, Lehenstreue und Kriegerfreundschaft. S. 162.

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dants in der historiographischen Überlieferung reicht zurück bis zu Cicero und zu den Auseinandersetzungen der Kirchenväter mit dem Thema im vierten und fünften Jahrhundert, und daher werden die antik-paganen Freundschaftsdiskurse und ihre christliche Transformation noch eigens zur Sprache kommen. Der geistlich-monastische Bereich nimmt einen prominenten Platz in der Freundschaftsdiskussion des 12. Jahrhundert ein, nicht nur weil er dem Thema viel Aufmerksamkeit widmet, sondern weil er bereits auf eine lange und reiche Tradition der Freundschaftskultur zurückblickt, etwa die Briefkultur der Gelehrten der Karolingischen Zeit.26 Und dabei geht es nicht nur um ein aus der Antike übernommenes ethisch-normatives amicitia-Ideal, sondern diese geistlichen Freundschaften funktionieren auch als Karrierenetzwerke. Im 12. Jahrhundert sind es besonders die Zisterzienser, die sich mit der geistlichen Freundschaft beschäftigen; neben Bernhard von Clairvaux markiert vor allem Aelreds von Rievaulx Traktat De spiritali amicitia, auf das noch näher einzugehen sein wird, das große Interesse am Thema. Auch Peter von Blois knüpft an Aelred an, ohne allerdings Neues zum Thema beizusteuern.27 Sowohl die weltlichen und geistlichen Höfe als auch das Kloster sind also Orte, an denen Freundschaft ein Thema ist und im 12. Jahrhundert einmal mehr zum Thema wird. Freundschaftsnetzwerke im monastischen wie im weltlichen Bereich,28 die oft ihre Überschneidungen beim Weltklerus finden, erfüllen den Zweck der Organisation politischer wie sozialer Bindungen. Freundschaftliche Beziehungen galten dabei immer als Ausweis der Ehre und Tugend der Männer, die sie praktizieren, und das wiederum ist ein Ideal, das sich nicht zuletzt in Ciceros De amicitia findet, ein Text, für den um 1200 eine breite Rezeption zu verzeichnen ist. Mit Cicero geht man davon aus, daß, wie es Jaeger formuliert: „[...] only good, strong and noble men are capable of friendship, because true friendship is the love of virtue in another person.”29 Philosophische Vorstellung und soziales Ideal sind hierbei nur schwer von einander abzugrenzen und sollten daher auch gar nicht getrennt werden: It is not useful to distinguish the philosophical form from the social ideal, though amicitia is regularly regarded in modern scholarship as some kind of abstract, philosophical notion [...]. In the Middle Ages the social institutions of aristocracy 26 27 28 29

Goetz, Hans-Werner: ‚Beatus homo qui invenit amicum.’ Schuster, Peter: Aelred von Rievaulx und die amicitia spiritualis. S. 19; Vgl. Peter von Blois: De amicitia christiani et de charitate Dei et proximi tractatus duplex. In: Migne, PL 207, S. 871-958. Siehe u.a. McLoughlin, John: Amicitia in Practice: John of Salisbury (c. 1120-1180) and his Circle. In: Williams, David (Hrsg.): England in the twelfth century. Proceedings of the 1988 Harlexton Symposium. Woodbridge 1990. Jaeger, C. Stephen: The Envy of Angels. S. 104.

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were saturated with this ideal. It governed social intercourse among clergy and at royal courts, and as a result it also bore strongly on the curriculum of behavior at those schools that prepared young men for service to church and state.30

Jaeger faßt dieses durch Freundschafts- und Liebesdiskurs geprägte Verhaltensideal als „ennobling love“. Dieser Freundschaftscode an weltlichen und geistlichen Höfen ist eine Art Elitenkommunikation, er funktioniert als „formalized sort cultivated by the literate elites of medieval Europe“31. Nach Jaeger ist ‚ennobling love’ die soziale Praxis der Freundschaft und als ethischer Wert Teil des höfischen Ideals,32 bei dem es allerdings nicht so sehr um tatsächliche oder wünschenswerte Gefühle, sondern um ein Ideal des Umgangs miteinander geht: „It is primarily a way of behaving, only secondarily a way of feeling.”33 Deshalb kann es auch in ganz unterschiedlichen Situationen zum Tragen kommen und sagt vor allem etwas darüber aus, was die Akteure – öffentlich – demonstrieren wollen, nicht was sie empfinden oder was ihre tatsächlichen Absichten sind, denn Freundschafts- und Liebescode können auch die Maskerade des Höflings sein. ‚Ennobling love’ ist eine Form der adligen Selbstrepräsentation, die die Tugend der Akteure zeigt und deren Wert und Ehre steigert.34 Doch da sie auch Feindschaft hinter der Maske der Freundschaft tarnen kann, eben weil sie auf spezifischen Verhaltenscodes basiert, ist der Weg von adelnden Freundschaftsdemonstration zur Dissimulatio unter Umständen nicht weit, was uns zu einem weiteren Freundschaftsdiskurs bringt. Ein weiteres Modell des Sprechens über Freundschaft bietet die klerikale Hofkritik, die ein überaus kritisches Bild der Beziehungen der Personen am Hof untereinander zeichnet und in der Gesellschaft des Hofes in erster Linie Verschlagenheit, egoistische Ambitionen und Verrat am Werk sieht. Seit der Antike, etwa bei Plutarch, gilt der Hof als der Ort der Schmeichler und Heuchler, der falschen Freunde und der Dissimulatio. Die Konkurrenz um die Gunst des Herrschers sowie die Verdorbenheit der Sitten aufgrund der Dominanz weltlichen Vergnügens führt zur Unmöglichkeit wahrer Freundschaft, so das Postulat der geistlichen Hofkritik. Dieser Diskurs wird insbesondere in der Betrachtung der Nahbeziehungen im Tristan von Interesse sein. An diese Stelle ist noch einmal auf das Moderne-VormoderneParadigma in bezug auf Freundschaft zurückzukommen. Wie schon ange30 31 32 33 34

Jaeger, C. Stephen: The Envy of Angels. S. 104. Haseldine, Julian: Thomas Becket: Martyr, Saint – and Friend? In: Gameson, Richard / Leyser, Henrietta (Hrsg.): Belief and Culture in the Middle Ages. Studies presented to Henry Mayr-Harting. Oxford 2001, S. 305-317, S. 307. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 151. Ebd. S. 6. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 6.

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sprochen, schließt sich an die Thematisierung von Freundschaft die Frage nach Privatheit und Öffentlichkeit, nach dem privaten und/oder öffentlichen Charakter von Nahbeziehungen sowie nach dem Grad ihrer Institutionalisierung und Verbindlichkeit an. Die moderne Wahrnehmung von Freundschaft als interpersonaler Beziehung in bezug auf ihren Öffentlichkeitscharakter läßt sich umschreiben mit der Einordnung als „institutionalized non-institution“35. Demgegenüber kann man sicherlich von einer stärkeren institutionellen Verankerung von Freundschaftsverhältnissen im Hochmittelalter ausgehen, und auch im Vergleich zum modernen westlichen Idealdiskurs ist der stärker verpflichtende Charakter zu berücksichtigen. Der stärker öffentliche Charakter zeigt sich etwa im politischen Bereich in formalisierten Verhältnissen – „friendship was significant in a public sphere“36. Allerdings setzt eine solche Gegenüberstellung immer schon einen Öffentlichkeitsbegriff im Sinne Habermas’37 voraus, was aber nur eine Möglichkeit der Begriffsfassung darstellt. Für das Mittelalter ist von einer anderen Form bzw. anderen Formen von Öffentlichkeit auszugehen.38 Ähnlich verhält es sich auch mit dem Aspekt der Freiwilligkeit. Wird für Freundschaft im modernen westlichen Verständnis die freie Wahl des Freundes betont, die nur auf Zuneigung beruht, wohingegen für die Vormoderne vor allem vom Solidaritäts- und Zweckbündnis auszugehen ist, so ist diese Opposition – für beide Seiten – zu relativieren. Insbesondere kann auch mittelalterliche Freundschaft nicht nur als statisch, durch feststehende Bedingungen bestimmte Beziehung verstanden, sondern muß in ihrem situativen, performativen und dynamischen Charakter wahrgenommen werden. Sie wird zwischen den jeweiligen Akteuren ausgehandelt, was sich auch in der mittelalterlichen Bandbreite von Erscheinungsformen und sozialen Praktiken dieser Nahbeziehung widerspiegelt. Freundschaft ist als dynamische Bindung zu begreifen, die vor allem ein Nahbeziehungspotential meint. Zudem kann für den Aspekt der freien Wahl des Freundes ein wichtiger Vorstellungskomplex im theologischphilosophischen Denken des 12. Jahrhunderts herangezogen werden, nämlich die Ethik eines Pierre Abaelard mit ihrer neuen Perspektivierung der Intention.39 Diese neue Bedeutung der Intention durch Abaelard kann 35 36 37 38 39

Paine, Robert: In Search of Friendship: An exploratory Analysis in “middle-class” Culture. In: Man 4, 1969, S. 505-524, S. 514. Bray, Alan: The Friend. Chicago, London 2003, S. 2. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990, Neuaufl. Melve, Leidulf: Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030-1122). (Brill’s Studies in Intellectual History 154) Leiden u.a. 2007, Bd. 1. Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart 2000, 2. rev. Aufl., S. 236ff.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

unter Umständen in Relation zu Nahbeziehungen gesetzt werden: Die Entscheidung für eine nicht verwandtschaftlich vorgegebene Bindung oder deren aktive Betonung und Vertiefung durch Freundschaft liegt bei den Akteuren der interpersonalen Bindungen und ist nicht als Automatismus zu verstehen. Das bedeutet, daß Freundschaft, auch in ihrer ‚formalen’ Form, etwa in politischen Zweckbündnissen, das ist, wofür man sich bewußt entscheidet oder was wieder aufgekündigt wird, und wofür man einen entsprechenden ‚Verhaltensaufwand’ betreibt. Dieses Moment der aktiven Auswahl ist also durchaus kein rein moderner Zug von Freundschaft. Sowohl für die moderne als auch für die vormoderne Vorstellung und Praxis von Freundschaft ist von einer Dialektik idealer Freundschaftsauffassung und realen Freundschaften auszugehen. Für das Ideal bzw. den normativen Diskurs sind Freiwilligkeit, die personalindividuelle Bindung, Gleichheit und Gegenseitigkeit des Involviert-Seins sowie die affektive Bindung essentielle Merkmale:40 „as a cultural ideal, friendship appears to be a categorical repository for the hope of mutually edifying moral covenant voluntary negotiated between people”41. Für die Analyse ist es jedoch entscheidend, im Hinterkopf zu behalten, daß in der Praxis eine Vermischung von pragmatischen und emotionalen Aspekten, von instrumentell-utilitaristischen und affektiven Elementen stattfindet. Man muß Freundschaften auch für das Mittelalter als „soziales Kapital“ begreifen, definiert mit Bourdieu als Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen42

Für Fürsten, Bischöfe oder generell für den Adel ist es um so besser, je größer und weitverzweigter das Netz der eigenen Freunde und Anhänger ist, denn um so mehr Ansehen kann generiert werden, was wiederum Macht und Einfluß, also das symbolische wie politische Kapitel steigert. Diese Beziehungsnetzwerke sind jedoch dynamisch und erfordern permanenten Aufwand. „Für die Reproduktion von Sozialkapital ist eine unaufhörliche Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten erforderlich, durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt.“43 Der verpflichtende Charakter gilt dabei sowohl für die idealisierte, affektive Seite als auch für pragmatische Ausrichtung; gegenseitige 40 41 42 43

Rawlins, William K.: Friendship matters. S. 11ff. Ebd. S. 13. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. S. 190f. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. S. 193.

1. Freundschaftsdiskurse um 1200

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Hilfe, Loyalität Reziprozität kann „logisch-funktional und prozessual“44 aufgefaßt werden. Dieser kurze Durchgang durch einige wesentliche Punkte von Freundschaft und die wichtigsten Freundschaftsdiskurse um 1200 zeigt die Vielschichtigkeit und Bandbreite mittelalterlichen Sprechens über Freundschaft. Will man den geistigen Horizont für die Freundschaftsvorstellungen um 1200 verstehen und beschreiben, so muß man zudem einen Ausflug in die Antike und ihrem philosophischen Erbe und vor allem in die Spätantike mit ihrem Nebeneinander und Miteinander von paganer und christlicher Welt und den damit verbunden Umwälzungen unternehmen. Eine Schlüsselstellung kommt dabei dem vierten und fünften Jahrhundert zu, da in diesem Zeitraum das Freundschaftsthema von den christlichen Autoren im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahrhunderten vielfach aufgegriffen und diskutiert wird.

44

Schobin, Janosch: Sechs Farben und drei Rotationsachsen. Versuch über Verpflichtungen in Freund-schaften. In: Mittelweg 36 17 (3), 2008, S. 17-41, S. 34.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

2. Antike philosophische Freundschaftstraditionen und ihre christliche Transformation [...] das Christentum hat entthront Minne und Freundschaft, hat entthront die Liebe des Triebs und der Neigung, hat entthront die Vorliebe, und setzt an deren Stelle die Liebe des Geistes, die Liebe zum Nächsten [...]45

So formuliert Søren Kierkegaard den Gegensatz zwischen antikem paganen Liebesideal, das sich in exklusiven Freundschafts- und Liebesbeziehungen ausdrückt, und dem christlichen Anspruch der Nächsten-, Bruderund Feindesliebe. Es scheint so, als stehe man zwei grundsätzlich verschiedenen Vorstellungen und Einstellungen gegenüber, und so ist es nicht verwunderlich, daß dieses Paradigma des Gegensatzes lange Zeit den vergleichenden Blick auf die paganen und christlichen Konzeptionen von Liebe und Freundschaft geprägt hat. Die Verortung eines Phänomens wie Freundschaft in einer Kultur impliziert ethische, philosophische und politische Vorstellungen und Diskurse, die den Umgang mit diesem Moment als einem Grundproblem menschlichen Daseins regeln. Die griechische und römische Antike kennt – wie andere Epochen auch – zum weiten Feld der Freundschaft eine Reihe heterogener Konzepte, die unterschiedliche Aspekte in den Blick nehmen, sich überschneiden oder gegenseitig ausschließen sowie die Kriterien und Voraussetzungen ganz unterschiedlich definieren; das Phänomen der Freundschaft wird quer durch alle philosophischen Richtungen in großer Breite und in unterschiedlichsten Facetten diskutiert. ‚Eine’ antike Freundschaftstheorie läßt sich daher auch nicht ausmachen, aber eines ist ihnen allen gemeinsam: der hohe Stellenwert, den sie dieser Nahbeziehung einräumen. Diesen vielfältigen und im antiken Denken fest verankerten Freundschaftsdiskursen sieht sich das Christentum gegenüber, das – wie in so vielen anderen grundlegenden Fragen – seine Position zu diesem Problem definieren muß. Im Folgenden geht es deshalb darum, das Zusammentreffen von paganem und christlichem Freundschaftsdiskurs sowie ihre kulturellen und sozialen Verankerungen in der Spätantike in den Blick zu nehmen. Können christliche und antike Freundschaftsvorstellungen als eigenständige Entwürfe voneinander abgegrenzt werden oder findet in der christlichen Auseinandersetzung mit dem Problem eine Transformation tradierter antiker Wertvorstellungen, d.h. ein Transfer statt, bei dem die Gemeinsamkeiten überwiegen? Das ist nicht unwesentlich für die im folgenden Kapitel zu diskutierenden Fragen zur Freundschaft in der höfischen Epik. Welche Rolle spielt ein Freund für den miles christi, für den 45

Kierkegaard, Søren: Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von reden. Übers. v. Hayo Gerdes. Düsseldorf, Köln 1966, S.51.

2. Antike Freundschaftstraditionen und christliche Transformation

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zunächst einmal das Gebot der Nächstenliebe und der Fürsorge für Bedürftige gilt? Diese Frage stellt sich auch insofern, da bereits die Kirchenväter das ambivalente Verhältnis von dem auf Exklusivität angelegten antiken Freundschaftsverständnis und dem allumfassenden christlichen Gebot der Nächstenliebe46 erörtern. Es gilt also, den Bogen von der Spätantike ins 12. Jahrhundert zu spannen. 2.1 Das antik-pagane und spätantik-christliche Erbe: Klassische Freundschaftskonzeptionen Hier soll und kann kein systematischer Überblick über die antiken Freundschaftsphilosophien und die christliche Auseinandersetzung damit gegeben werden, die Forschung bietet hierzu reichlich Literatur.47 Vielmehr kommen zentrale Aspekte und gängige Merkmale, die im antiken Verständnis dem Wesen der Freundschaft zugeschrieben werden und die in der Auseinandersetzung mit dem Christentum virulent sind, zur Sprache, um dann die von dort ausgehenden Linien zu den Freundschaftsvorstellungen im 12. Jahrhundert zu verfolgen. Freundschaft gehört zu den zentralen anthropologischen Themen der Antike. Auch wenn man für die antiken philosophischen Lehren von Freundschaft einen „Verlust an Wirklichkeitsbezug“48 konstatieren kann, bleibt festzuhalten, daß diese Bindung sowohl in gesellschaftlicher als auch in theoretischer Hinsicht eine große Rolle spielte. Es ist sogar wenig verwunderlich, daß bei all dem geistigen Aufwand der Abstand zur alltäglichen Gestaltung von Freundschaft eher größer als kleiner wurde. Und diese Spannung von Theorie und Praxis, die für das Mittelalter ganz ähnlich beschrieben werden kann, ist ein Erbe, dessen Spuren sich auch noch in unseren heutigen Vorstellungen finden. Nicht nur in der antiken Philosophie, sondern auch im Alltag spielt das Thema eine wichtige Rolle, sowohl in der Polis als auch im Freund46

47

48

Dodds, E.R.: Pagan and Christian in an Age of Aniexty. Some Aspects of religious Experience from Marcus Aurelius to Constantine. Cambridge 1968, S. 136: „Love of one’s neighbour is not an exclusively Christian virtue, but [...] the Christians appear to have practised it much more effectively than any other group.”. Vgl. u.a. Konstan, David: Friendship in the Classical World. (Key Themes in Ancient History) Cambridge 1997; Schulz, Peter: Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles. Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität. Freiburg, München 2000; Cassidy, Eoin G.: The Significance of Friendship: Reconciling the Classical Ideals of Friendship and Self-Sufficiency.; Winterling, Aloys: Freundschaft und Klientel im kaiserzeitlichen Rom. In: Historia 56, 2008, S. 298-316; Fitzgerald, John T. (Hrsg.): GrecoRoman Perspectives on Friendship. (Resources for Biblical Study, 34) Atlanta 1997. Fürst, Alfons: Freundschaft als Tugend. Über den Verlust der Wirklichkeit im antiken Freundschaftsbegriff. In: Gymnasium 104, 1997, S. 413-433, S. 417.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

schafts- und Klientelsystem Roms,49 welches in entscheidendem Maße die römische Gesellschaft strukturierte und ein Machtfaktor innerhalb der politischen Elite war. Auch diese Ebene soll hier erwähnt werden, da diese Verwurzelung der Freundschaft als sozialer Beziehung in der antiken Gesellschaft einen wichtigen Umstand für die Auseinandersetzungen der christlichen Autoren mit dieser Frage darstellt. Ausgehend von der antiken Philosophie ist der Begriff Freundschaft „Teil philosophischer Deutungstraditionen, die ihn an die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst, zu anderen und die politische Gemeinschaft binden“50. Erster Gewährsmann der philosophischen Debatte ist zweifellos Platon, insbesondere sein Lysis und das Symposion. Im Symposion wird eine Verbindung zwischen ƝƱƹƲ und ƶƩƫƟơ hergestellt, indem Freundschaft als wesentliches Werk des Eros bezeichnet wird.51 Hier deutet sich bereits eine Parallele zu Augustinus an, bei dem erst aus der Liebe Gottes heraus die Freundschaft überhaupt möglich wird. Aristoteles führt als erster eine systematische Diskussion über die Freundschaft und stellt dabei in der Nikomachischen Ethik ein Dreier-Schema vor, das Lust-, Nutzen- und Tugendfreundschaft unterscheidet,52 entsprechend der drei Gründe für Zuneigung und gegenseitige Anziehung: das Lustbringende, das Nützliche und das Gute (NE, VIII, 2,17). Dauerhaft und vollkommen ist nur die letztere Form: „Vollkommen aber ist die Freundschaft guter und an Tugend sich ähnlicher Menschen.“53 (NE, VIII, 4, 7). Dennoch haben auch die anderen beiden Formen ihre Berechtigung, denn perfekte Freundschaft, so Aristoteles, ist selten. Sowohl die analytische Unterscheidung von affektiven und utilitaristischen Elementen, wie sie von Aristoteles unternommen wird, als auch die mögliche Verbindung dieser Momente prägt bis heute das Nachdenken über Freundschaft. Im weiteren entfalten neben den Epikuräern mit ihrem Konzept von Freundschaft aus Nutzen und Interesse vor allem die Stoiker, insbesondere Senecea und Cicero, eine große und nachhaltige Wirkung. Auch Cicero

49 50 51

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Siehe dazu Aloys Winterling: Freundschaft und Klientel im kaiserzeitlichen Rom. Friese, Heidrun: Freundschaft. S. 23. Schulz, Peter: Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles. S. 69; Weidemann, Hermann: Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe (Lysis: 212a8-213d5). In. Enskat, Rainer (Hrsg.): Amicus Plato, magis amica veritas. Festschrift f. Wolfgang Wieland. Berlin 1998, S. 268-276. Zur Freundschaft bei Platon und Aristoteles siehe weiterhin u.a.: Price, A.W.: Love and Friendship in Plato and Aristotle. Oxford 1989; Hoffmann, Ernst: Aristoteles’ Philosophie der Freundschaft. In: Hager, Fritz Peter (Hrsg.): Ethik und Politik des Aristoteles. (WdF, Bd. 208) Darmstadt 1972, S. 149-182. Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 3: Nikomachische Ethik. Nach d. Übers. v. Eugen Rolfes, bearb. v. Günther Bien. Hamburg 1995, S. 185.

2. Antike Freundschaftstraditionen und christliche Transformation

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propagiert in seinem Dialog Laelius de amicitia54 das Ideal der Tugendfreundschaft, wobei seine virtus vor allem politische virtus ist. Freundschaft ist ihm zufolge nur unter Guten möglich; sie entsteht aus dem natürlichen Bedürfnis der Menschen nach Gemeinschaft. Von allen paganen Texten zur Freundschaft wird Ciceros Laelius in den nachfolgenden Jahrhunderten am intensivsten und häufigsten rezipiert. Ambrosius und Augustinus sind durch die Maximen und Wertmaßstäbe des Laelius, in dem wesentlichen Aspekte der antiken philosophischen Diskussion über Freundschaft versammelt sind, stark geprägt. Im 12. Jahrhundert erreicht die christliche Cicero-Rezeption im allgemeinen und seines Laelius im besonderen einen Höhepunkt, der sich in einer verstärkten Thematisierung der Freundschaft in der geistlichen wie in der weltlichen Literatur niederschlägt.55 Diese intensive Rezeption ist durch christliche Autoren des vierten und fünften Jahrhunderts vorbereitet, insbesondere Ambrosius, Augustinus und Cassian setzen sich mit diesem Text und den darin vermittelten Werten auseinander, ein Punkt, der in diesem Kapitel zur Sprache kommen wird. Wirft man einen ersten Blick auf die divergierenden Konzeptionen von Freundschaft in den verschiedenen philosophischen Richtungen, die sich im einzelnen auch gegenseitig ausschließen können,56 scheint es schwierig, übergreifende Grundgedanken auszumachen. Man kann nicht von ‚der’ klassischen antiken Freundschaftstheorie sprechen, sondern nur von Theorien entsprechend der geistigen Ausrichtung ihrer Vertreter. All diese unterschiedlichen Entwürfe zu präsentieren, führt zu weit, es soll vielmehr um die für die antike Diskussion wesentliche Aspekte gehen. Trotz der Vielfalt lassen sich aber einige Punkte nennen – gängige Freundschaftstopoi, die sich entweder in den verschiedenen Auffassungen von Freundschaft wiederfinden oder die doch zumindest so wichtig sind,

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Vgl. dazu Suerbaum, Werner: Cicero (und Epikur) über die Freundschaft und ihre Probleme. In: Cotteri, Luigi (Hrsg.): Der Begriff der Freundschaft in der Geschichte der Europäischen Kultur. S. 136-167. Es steht außer Frage, daß das Freundschaftsideal, das Cicero und andere entwerfen, nur eine Seite des facettenreichen und ambivalenten Komplexes amicitia in der späten römischen Republik und in der Kaiserzeit ist. Doch hier interessieren in erster Linie die theoretischen Konzepte. Zu Status, Funktion und Bedeutung von Freundschaft in Rom vgl. u.a.: Brunt, P.A.: The Fall of the Roman Republic. Oxford 1988, S. 351-442. So ist etwa bei den Epikuräern Interesse und Nutzen die Grundlage der Beziehung, während die Stoiker das ablehnen und in Tugend und gegenseitiger Zuneigung der Partner die Basis sehen, da für sie die Vorstellung von ƯƩƪƥƟƹƳƩƲ entscheidend ist, d.h. Anziehung aufgrund von Gleichheit, die auf dem gemeinsamen Besitz der Tugend beruht. Siehe dazu: Cassidy, Eoin G.: The Significance of Friendship: Reconciling the Classical Ideals of Friendship and Self-Sufficiency. S. 50. Zur Lehre der ƯƩƪƥƟƹƳƩƲ vgl. bei Seneca: L. Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. Liber XX. Briefe an Lucilius über Ethik. 20. Buch. Lat. / Dt. Übers. u. hrsg. v. Franz Loretto. Stuttgart 2000, S. 44ff.

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daß man sich über sie streitet. Die wichtigsten loci communes der Literatur zu diesem Thema sollen kurz skizziert werden.57 Die Bindung zwischen Freunden stellt ein exklusives Verhältnis dar, in der Regel handelt es sich um eine dyadische Beziehung oder um einen sehr begrenzten, überschaubaren Kreis von Freunden. Deren Verhältnis ist von lebenslanger Dauer, was durch Treue, Vertrauen und Zuneigung garantiert ist. Nach dem Ende einer Freundschaft – weil einer der beiden tot ist – lebt die Freundschaft in der Erinnerung fort. Dieser Gedanke ist vor allem in der griechischen Philosophie zu Hause, denn er hängt mit der ƥƵƤơƩƬƯƭƟơ, der Vorstellung vom geglückten Leben zusammen, die eng mit der gelebten Freundschaft verbunden ist. Weil die Bindung so exklusiv und einzigartig ist, wird der Freund als das andere Ich bezeichnet, er ist alter ego, ơƫƫƼƲ ơƵƴƼƲ. Besonders wichtig ist dabei das Bild der Seele in zwei Körpern oder der Freunde als ein Herz und eine Seele; dieser Topos prägt die europäische Freundschaftsliteratur bis weit in die Neuzeit. Nicht verwunderlich bei dieser Idealisierung ist die verbreitete Klage, wahre Freundschaft sei selten, die auch mit einem grundsätzlichen Kulturpessimismus einhergehen kann. Streit gibt es darüber, ob räumliche Nähe gegeben sein muß, damit die Freundschaft dauerhaft erhalten bleibt. Auch die Kirchenväter treibt diese Frage um, wobei sich bei ihnen die Überlegung durchsetzt, daß man auch befreundet sein kann, wenn man durch große Distanzen voneinander getrennt ist, da es auf die Geisteshaltung ankommt.58 Für die pagane Antike war das nicht so eindeutig, Seneca z. B. vertritt hier eine etwas andere Position: „Vitam in peregrinatione exigentibus hoc evenit, ut multa hospitia habeant, nullas amicitias“59. Und Freundschaft steht über der Verwandtschaft: Cicero stellt fest, aus der Verwandtschaft könne man die Zuneigung wegnehmen, aus der Freundschaft nicht.60 57

58 59 60

Im folgenden vgl u.a. Mills, Laurens J.: One Soul in Bodies Twain. Friendship in Tudor Literature and Stuart Drama. Bloomington 1937, S. 8ff.; Bohnenblust, Gottfried: Beiträge zum Topos ưƥƱƟ ƶƩƫƟơƲ . Berlin 1905, S. 26ff.; McEvoy, James: The Theory of Friendship in the Latin Middle Ages: Hermeneutics, Contextualization and the Transmission and Reception of Ancient Texts and Ideas, from c. ad 350 to c. 1500. In: Haseldine, Julian (Hrsg.): Friendship in Medieval Europe. S. 3-44. Siehe dazu: White, Carolinne: Friendship in Absence. In: Haseldine, Julian (Hrsg.): Friendship in Medieval Europe. S. 68-88, S. 79. L. Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. Liber I. S. 6: „Leuten, die ihr Leben auf Reisen verbringen, widerfährt dies, daß sie viele Bekanntschaften haben, aber keine Freundschaften“ (S. 7). Im folgenden zitiert nach: M Tulli Ciceronis: Laelius de amicitia Ad. T. Pompunium Atticum / Marcus Tullius Cicero: Laelius – Über die Freundschaft. T. Pomponius Atticus gewidmet. Lat. / Dt. Hrsg. v. Max Faltner. München 1980, 3. Aufl., S. 26: „Namque hoc praestat amicitia propinquitati, quod ex propinquitate benivolentia tolli potest, ex amicitia non potest”.

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Weiterhin gilt Reziprozität als unverzichtbar: Die gegenseitige Hilfe und Unterstützung spielt eine große Rolle. Der Freund ist der, auf den man sich allen Lebenslagen verlassen kann, der loyal bleibt, ungeachtet dessen, was passiert. Leben die Freunde nahe beieinander und sind nicht durch große räumliche Distanz dauerhaft getrennt, so kann der möglicherweise auf Pythagoras zurückgehende Satz, Freunde haben alles gemeinsam – ƶƩƫƼƴƧƲ Ʃ˸ƳƼƴƧƲ – , zum Tragen kommen, d.h. materielle Güter gehören ihnen zusammen. Ein entscheidendes Stichwort ist das der Tugend. Aristoteles unterscheidet in der Nikomachischen Ethik Nutzen-, Lust- und Tugendfreundschaft, die eigentlich wahre Freundschaft ist aber die Freundschaft, die wegen der Tugend eingegangen wird. Damit geht der Gedanke einher, das Freundschaft nur zwischen Guten möglich sei: „nisi in bonis amicitiam esse non posse”. (Laelius 5, 18)61 ist. Der Gute aber zeichnet sich eben durch seine ơƱƥƴƞ, seine virtus aus. Gewarnt wird dementsprechend vor Schmeichlern, die eine Eigenschaft nicht besitzen, nämlich Wahrhaftigkeit, die von einem wahren Freund eingefordert wird. Ein weiterer bedeutender Punkt ist der Aspekt der Symmetrie: Wahre Freundschaft verlangt als eine Voraussetzung die Gleichheit der Freunde. Zu jemanden, der einem selbst gleicht – das meint vor allem Gleichheit im Hinblick auf den Charakter, also ơƱƥƴƞ/virtus – fühlt man sich hingezogen. Diese Forderung nach Gleichheit hat vor allem wieder etwas mit Offenheit, Vertrauen und Zuverlässigkeit zu tun; sie ist aber auch deshalb wichtig, weil eine asymmetrische Beziehung durch Abhängigkeit einer der beiden Partner gekennzeichnet ist, was wieder die Gefahr der Schmeichelei und Unaufrichtigkeit in sich birgt. Illustriert werden diese Ideale oftmals an berühmten antiken Freundschaftspaaren: Orest und Pylades, Achilles und Patroklos, Theseus und Peirithoos, die Trojaner Nisus und Euryalus; Cicero preist die Freundschaft zwischen Caius Laelius und Publius Scipio. Die Dauerhaftigkeit wahrer Freundschaft wurde bereits genannt, Voraussetzung dafür ist die Beständigkeit und Charakterfestigkeit der Partner. Cicero betont die Beständigkeit der Freundschaft als wesentliches Merkmal: „Firmamentum autem stabilitatis constantiaeque est eius, quam in amicitia quaerimus, fides.“ (18, 65)62 Beständigkeit erweist sich als ein auch in der mittelalterlichen Literatur wichtiges Merkmal. Ein Beispiel für den Stellenwert dieses Merkmals findet sich in zwei Sprüchen des Bognertons Walthers von Vogelweide, die von Freundschaft handeln, und dabei eben insbesondere von Beständigkeit: 61 62

Cicero: Laelius de amicitia. S. 24. Cicero: Laelius de amicitia. S. 78: „Stütze der Unwandelbarkeit und Festigkeit, die wir in der Freundschaft suchen, ist die Treue; denn wo die Treue fehlt, kann es keine Festigkeit geben.“ (S. 79).

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Swer sích ze friunde gewinnen lât / und ouch dâ bî die tugende hât, / daz ér sich âne wanken lât behalten, / des friundes man man gerne schône walten. / ích hân eteswenne friunt erkorn, / sô sinewol an sîner stæte, / swie gerne ich in behalten hæte, / daz ich in muoste hân verlorn. (Bognerton L 79, 25)63

Staete wird von Walther eingefordert so wie constantia von Cicero, sie ist ein unverzichtbares Kriterium der Freundschaft. In einem weiteren Spruch (L 79, 33) verbindet Walther die Beständigkeit mit dem Aspekt der Gegenseitigkeit: er sei denjenigen gegenüber treu und zuverlässig, die sich ihm gegenüber genauso verhalten.64 Der beständigen, dauerhaften und symmetrischen Bindung kann auch eine – positiv zu wertende – asymmetrische Variante an die Seite gestellt werden, in der ein pädagogisches Moment im Mittelpunkt steht. Das ist der Fall in Platons Lysis, und grundsätzlich liegt ein solches Verhältnis der Beziehung zwischen Liebhaber und Geliebten in der platonischen Tradition zugrunde. Im Symposion nimmt Platon die Verbindung zwischen Freundschaft und Erziehung, zwischen ƶƩƫƟơ und ươƩƤƥƟơ wieder auf, die er bereits im Lysis angesprochen hat und führt sie zur letzten Stufe, zur Schau des Göttlichen. In der christlichen Variante handelt es sich dann um die Freundschaft im Kloster, in der der Ältere den Jüngeren anleitet. Ein wesentlicher Aspekt für nahezu alle philosophischen Richtungen ist der enge Zusammenhang zwischen Freundschaft und Tugend (ơƱƥƴƞ, virtus).65 In der christlichen Diskussion wird Tugend zwar zunächst und vor allem auf den Glauben bezogen, doch der Aspekt der persönlichen ethisch-moralischen Vollkommenheit geht nicht verloren, wie noch zu zeigen sein wird. Wichtig, weil von einiger Bedeutung für die Autoren des 12. Jahrhunderts, sind neben Ciceros Werken Laelius de amicitia und De officiis Senecas Epistula morales ad Lucilium. Darin taucht wiederholt das Problem der Freundschaft und des Vertrauens auf, bzw. geht es dem Stoiker Seneca um die Frage, warum auch der Weise Freunde haben sollte. Im dritten Brief an Lucilius geht es aber zunächst um die Definition des Freundes. In „publico usus“66 bezeichne man mit dem Wort Freund den „vir bonus“67, das sei aber noch keine echte Freundschaft, keine vera amicitia. Der wahre Freund sei der, dem man alles anvertrauen könne, was einen bewegt; da-

63 64 65 66 67

Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd. / Nhd. Hrsg. v. Günther Schweikle. Stuttgart 1994, S. 294. Ebd. S. 296. Cassidy, Eoin G.: The Significance of Friendship: Reconciling the Classical Ideals of Friendship and Self-Sufficiency. S. 55. Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. S. 9. Ebd.

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her ist es notwendig, sein Gegenüber gründlich zu prüfen, ehe man ihn zum Freund wählt. Dann kann und soll man über alles offen reden. Der 9. Brief erklärt, warum der Weise, der sich zwar selbst genügt, dennoch einen Freund haben möchte und warum ein verlorener Freund ersetzt wird. Dahinter steht der Antagonismus von amicitia und dem stoischen Prinzip der ơƵƴơƱƪƥƟơ, den Seneca hier zu versöhnen sucht: Sapiens etiam si contentus est se, tamen habere amicum vult, si nihil aliud, ut exerceat amicitiam, ne tam magna virtus iaceat, non ad hoc quod dicebat Epicurus in hac ipsa epistula, ‚ut habeat qui sibi aegro adsideat, succurrat in vincula coniecto vel inopi’, sed ut habeat aliquem cui ipse aegro adsideat, quem ipse circumventum hostili custodia liberet. (Epistula IX, 8)68

Dem Nutzen, der für die Epikuräer wesentlich in der Beziehung zu Freunden ist, erteilt Seneca eine klare Absage. Einen Freund hat man, um ihm zu helfen, nicht, damit einem selbst geholfen wird. Freundschaft wird nur um ihrer selbst willen eingegangen, denn der Weise genügt sich selbst und braucht, um glücklich zu leben keine Freunde, aber er möchte Freunde haben. Dieser kurze Überblick zu den antiken Freundschaftstopoi bildet den Hintergrund für die folgenden Ausführungen. Greift man an dieser Stelle noch einmal den Gegensatz Moderne/Vormoderne auf, der im ersten Kapitel eingeführt wurde, stellt sich die Frage, ob eigentlich wesentliche Neuerungen und wenn ja, welche, nach den antiken Konzepten und ihrer christlichen Transformation samt Tradierung und Verfeinerung durch das Mittelalter zu verzeichnen sind. Viele gegenwärtige Überlegungen und Ideale, die sich mit Freundschaft verbinden, können auf die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen zurückgeführt werden; Albrecht Classen verweist auch die lange und konstante Tradierung des Motivs des Freundschaftsbeweises, die die Epochengrenzen von Antike, Mittelalter und Neuzeit überschreitet.69 Diese Frage soll im folgenden sowie in Kapitel III im Hintergrund präsent bleiben.

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69

Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. S. 42: „Auch wenn der Weise sich selbst genügt, will er dennoch einen Freund besitzen, wenn schon für nichts anderes, um Freundschaft zu üben, damit ein so großer Wert nicht brachliege, nicht aber zu dem Zweck, wie Epikur in eben diesem Brief sagte, ‚um jemanden zu haben, der ihm im Krankheitsfall beistehe, ihm, wenn er in Fesseln geschlagen oder mittellos ist, zu Hilfe eile’, sondern um jemanden zu haben, dem er selbst im Krankheitsfall beistehe, den er selbst aus feindlicher Gefangenschaft befreie.“ (S: 43). Classen, Albrecht: Das Motiv des aufopfernden Freundes von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

2.2 Das Verhältnis paganer und christlicher Freundschaftskonzeptionen 2.2.1. Amicitia und caritas vor dem Hintergrund der Konflikte des vierten und fünften Jahrhunderts Vielfach und kontrovers diskutiert ist das Verhältnis von amicitia und caritas. Nicht zu leugnen ist, daß ƶƩƫƟơ im Neuen Testament eine geringe Rolle spielt,70 abgesehen von ihrer Nennung bei Johannes und Lukas. Um die Beziehungen zwischen Christen zu beschreiben, werden in erster Linie Begriffe aus dem Bereich Familie und Verwandtschaft benutzt.71 Christen reden sich nicht als Freunde, sondern als Brüder an. Betrachtet man die Bemühungen der christlichen Autoren um die Frage der Freundschaft im vierten und fünften Jahrhundert, kann man konstatieren, daß das Thema in dieser Zeit einiges von der Bedeutung und Wertschätzung zurückgewinnt, die ƶƩƫƟơ und amicitia in der Antike vor dem Aufkommen des Christentums eignen.72 Im frühen Christentum spielt diese Frage so gut wie keine Rolle, da das Neue Testament von Nächstenliebe spricht, von ơƣƜưƧ, während ƶƩƫƟơ eher negativ besetzt ist. „Die Freundschaft gehört also nicht [...] dem Zusammenhang des Neuen Testamentes an.“73 Der Blick auf die Terminologie zeigt bereits die Ambivalenz, die durchaus charakteristisch für den Umgang mit dem Thema ist: Einerseits verschwinden die paganen Begrifflichkeiten nicht, andererseits werden ihnen die neuen christlichen Termini caritas und ơ˸ƣƜưƧ entgegengesetzt. Die Kirchenväter verwenden diese unterschiedlich, manche setzen sich bewußt von der tradierten Sprache ab, indem sie konsequent statt amor und ƝƱƹƲ, ƶƩƫƟơ und amicitia, caritas und ơ˸ƣƜưƧ verwenden. Besonders deutlich wird das bei Basilius dem Großen und Gregor von Nazianz. Basilius, der stärker in der Tradition der Kirche beheimatet ist, spricht von ơ˸ƣƜưƧ, sein Freund Gregor hingegen ist durch seine pagane Erziehung geprägt und bleibt dieser treu, indem er ƶƩƫƟơ häufig benutzt.74 70 71 72 73 74

Stegemann, Ekkehard W.: Freundschaftstopik im Neuen Testament. In: Appuhn-Radtke, Sibylle / Wipfler, Esther P. (Hrsg.): Freundschaft. S. 11-24. Konstan, David: Friendship in the Classical World. S. 156f. White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century. S. 60. Vischer, Lukas: Das Problem der Freundschaft bei den Kirchenvätern. Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Chrsysostomus. In: Theologische Zeitschrift 9 (1), 1953, S. 173200, S. 176. Siehe zu dieser Diskussion über die Termini White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century.; Konstan, David: Problems in the History of Christian Friendship. In: Ferguson, Everett (Hrsg.): Christianity and Society: The Social World of Early Christianity. (Recent Studies in Early Christianity,1) New York, London 1999, S. 357-383, S. 367ff.

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Für das Mittelalter kann man in bezug auf die verwendeten Begrifflichkeiten eine ähnliche Situation feststellen. Caritas, amor, amicitia, dilection, benevolentia, affectus werden etwa von Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts verwandt, um sowohl Nächstenliebe, Freundschaft, Liebe, geistliche Freundschaft als auch die Liebe zu Gott auszudrücken. Zwar scheinen einige den Terminus amicitia bewußt zu vermeiden, dagegen finden sich bei vielen anderen direkte oder indirekte Anleihen bei den klassischen antiken Texten, allen voran bei denen Ciceros und Senecas.75 Bereits in der älteren Forschung findet sich die Feststellung, für die christlichen Autoren der Spätantike sei Freundschaft längst nicht so ein wichtiges Thema gewesen wie für ihre paganen Vorgänger oder auch noch Zeitgenossen.76 In der Regel wird das mit der grundsätzlich anderen Werteskala des Christentums begründet, die die caritas, die Nächstenliebe, die alle Menschen einschließt, an erste Stelle setzt und auf diese Weise der Freundschaft somit nur eine untergeordnete Bedeutung zuweist. Der Umstand, daß die neue Religion der Thematik scheinbar nicht die Relevanz zumißt (oder nur einige wenige ihrer Vertreter wie Augustinus) wie sonst in der antiken philosophischen Diskussion üblich, könnte aber auch anders erklärt werden. Platons, Aristoteles’, Ciceros und Senecas Ausführungen zur Freundschaft können für die geistige Sphäre der Antike als quasi kanonisch gelten und darüber hinaus war auf der Alltagsebene der Stellenwert der Freundschaft, etwa im Klientelsystem der römischen Kaiserzeit, offensichtlich. Ebenso war wohl für die Zeitgenossen die Spannung zwischen einem exklusiven amicitia-Verhältnis und dem Anspruch der allumfassenden caritas unübersehbar. Möglicherweise umgeht man das Thema, läßt die vielgelesenen Texte wie die Ciceros stehen und ist insgesamt vorsichtig mit einem Gegenstand, zu dem man sich anders positionieren müßte, der aber nicht geringe gesellschaftliche und intellektuelle Bedeutung hat. In diesem Sinne sind dann auch die Harmonisierungsversuche zu verstehen, z.B. bei Augustinus, die noch näher erläutert werden müssen, oder die Unbefangenheit, mit der Gregor von Nazianz die pagane Tradition anführt und benutzt. Wie bei vielen anderen anthropologischen Fragen, die in der Auseinandersetzung zwischen christlichen und paganen Denkmustern unter dem beide überwölbenden Dach der Kultur der Spätantike auftauchen und beantwortet werden müssen, reicht die Palette der möglichen Reaktionen seitens der Vertreter des Christentums von ungebrochener Rezeption und Tradierung des kulturelles Erbes über Integration, Harmonisierung und gegenseitiger Akzeptanz bis hin zu radikaler Neubewertung und 75 76

Hyatte, Reginald: The Arts of Friendship. S. 48. Vischer, Lukas: Das Problem der Freundschaft bei den Kirchenvätern. S. 173ff.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

kategorischer Ablehnung der paganen Traditionen. Wesentlich hierbei ist die banale und dennoch wichtige Tatsche, daß viele der prominenten Autoren in der antiken Kultur und Bildung sozialisiert worden sind und dementsprechend dieses Erbe in die neue Religion einbringen bzw. ihren gebildeten nichtchristlichen Zeitgenossen verständlich machen müssen, daß zwischen den christlichen und den paganen Vorstellungen keine unüberbrückbaren Gegensätze herrschen. Nicht die Kultur, sondern die Religion trennt zunächst diese beiden Gruppen.77 Der Konflikt, der sich aus dem Zusammentreffen von antiker paganer Kultur und der neuen Religion ergab, war entscheidend für all die Bereiche, in denen sich die Frage stellte, wie das Christentum mit dem antiken Erbe umgeht – ein paradigmatisches Beispiel ist der Streit um den Victoria-Altar.78 Dieses Konfliktpotential bildet den Hintergrund, wenn es um den Prozeß der Herausbildung christlicher Positionen zu elementaren Fragen geht, also auf kultureller Ebene um das Problem der Aneignung der antiken Bildung durch das Christentum für die Auslegung der Heiligen Schrift, auf anthropologischer Ebene um Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens wie Liebe, Ehe, Familie oder eben Freundschaft. Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion kamen weitere neue Fragen und Probleme auf die christlichen Gemeinden zu. Wie hatte man sich in Zukunft zu organisieren, was machte die christliche Identität aus? Vor allem im lateinischen Westen herrschte Verunsicherung darüber, was als das Charakteristische der eigenen Religion und der damit verbundenen Lebensführung auszugeben sei und was christliche Vollkommenheit ausmache, eine Verunsicherung, die nicht zuletzt daraus resultierte, daß man im Gegensatz zum Osten noch nicht über eine Tradition kultureller Assimilation verfügte.79 Ein Problem, das das Verhältnis zwischen Christen und Anhängern der paganen Religion im vierten Jahrhundert prägte, war die Beziehung zwischen dem Mensch und dem Göttlichen. Die Sphäre des Heiligen wurde in der christlichen Konzeption auf radikalste Weise der menschlichen Sphäre entrückt, nämlich unerreichbar ins Jenseits. Dagegen war eine der wesentlichen traditionellen Positionen der antiken paganen religiösen Vorstellung dadurch markiert, daß die übernatürlichen Kräfte jederzeit für den Menschen erreichbar sind. Im Christentum setzte sich im vierten Jahrhundert – nachdem die Werke Pelagius’ und Origines verdammt worden waren – mehr und mehr die Auffassung durch, daß die Nähe zu Gott wenigen Auserwählten vorbehalten sei, den Gottesfreunden, und der 77 78 79

Vgl. dazu: Markus, R.A.: The End of Ancient Christianity. S. 12. Vgl hierzu: Prinz, Friedrich: Von Konstantin zu Karl dem Großen. Entfaltung und Wandel Europas. Düsseldorf, Zürich 2000, S. 323ff. Markus, R.A.: The End of Ancient Christianity. S. 31.

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durchschnittliche Gläubige nicht ohne weiteres einen Zugang zur spirituellen Sphäre habe80 - das war keine zwangsläufige Entwicklung, wenn man auf die Zeit des ersten bis dritten Jahrhunderts schaut, um so mehr aber war es eine entscheidende Wende im spätantiken Christentum.81 Diese „explosion of asceticism in Late Antiquity”82 ist kein Rückzug auf streng dualistische Positionen, sondern sieht auf der einen Seite den Menschen in seiner Gesamtheit aus Körper und Seele und auf der anderen die Welt mit ihren Versuchungen und Verstrickungen: Für die christlichen Autoren des vierten Jahrhunderts „the line between the real self destined for salvation and the alien, irredeemable residue ran not between soul and body, but between the self as a whole and the sin-infected world in which it was struggling for freedom“83. Das hatte Auswirkungen auf das christliche Verständnis der Nahbeziehungen Liebe, Familie und Freundschaft, wie unter 2.2. auszuführen sein wird. Für die Auseinandersetzung mit den paganen Zeitgenossen entstand so ein nicht unerhebliches Konfliktpotential. Doch kommen wir zurück zur Freundschaft. Wie sind vor dem beschriebenen Hintergrund die Integrations- und Absetzungsversuche christlicher Autoren zu verstehen? Wie einschneidend ist die Entgegensetzung von caritas und amicitia tatsächlich? Sowie die Kontinuitätsbehauptung oft nur die Diskontinuität verdeckt, kann die Behauptung der Diskontinuität vielleicht gerade als Beweis für die Kontinuität gelesen werden, die durch die als Gegenmodell gestaltete Selbstbeschreibung verdeckt werden soll. Dahinter steckt ein Abgrenzungsbedürfnis, daß zum einen das Selbstbewußtsein der jungen Kirche und zum anderen das Bedürfnis nach einer eigenen Identität und der Disziplinierung von abweichenden Richtungen innerhalb des Christentums ausdrückt.84 Es stellt sich hier natürlich das Problem des normativen Diskurses, sowohl für die pagane Antike und ihre Freundschaftsideale als auch für die christliche Spätantike. Ciceros Laelius beispielsweise muß nicht zuletzt als Gegenentwurf zur römischen Klientelgesellschaft gelesen werden, als anzustrebenden Ideal, das nur von wenigen tatsächlich gelebt wird: „the high ideals of friendship enunciated in Cicero’s theoretical works were tempered and changed by the reality of public life in which those ideals were exercised”85. Gleiches muß für die christlichen Ideale und Ansprüche 80 81 82 83 84 85

Vgl. Brown, Peter: The Making of Late Antiquity. Cambridge (MA), London 1978, S. 98ff. Zu dieser Frage vgl. auch: Dodds, E.R.: Pagan and Christian in an Age of Aniexty. S. 1-37. Markus, R.A.: The End of Ancient Christianity. S. 81. Ebd. S. 82. Für die fruchtbare Diskussion dieses Aspekts danke ich Max Orlich. Fiore, Benjamin: The Theory and Practice of Friendship in Cicero. In: Fitzgerald, John T. (Hrsg.): Greco-Roman Perspectives on Friendship. S. 59-76, S. 76.

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II Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

vorausgesetzt werden, allerdings mit einem erheblichen Unterschied: Das Christentum als neue, attraktive und erfolgreiche Religion konnte auch radikale Forderungen stellen und durchsetzen, seine Strahlkraft und Vitalität erlaubten ihm eine weitaus kühnere Vorgehensweise als der alten paganen Kultur. 2.2.2 Tradition und Erneuerung: Transformation und Integration paganer Vorstellungen in die christliche Freundschaftsauffassung Im Grunde werden alle drei Dimensionen von Freundschaft, die in den antiken Konzepten eine Rolle spielen, in den spätantiken christlichen Entwürfen aktualisiert: Die Beziehung zum Selbst und zum Gegenüber wird in der Selbst- und Nächstliebe und in der Gottesliebe, die zu wahrer Freundschaft zwischen Christen gehört, realisiert, die Beziehung zur Gemeinschaft speziell im Zusammenleben der monastischen Gemeinschaft und allgemein in der Vorstellung von der Kirche Christi, die alle Gläubigen bilden, getragen von der caritas. Vor allem werden diese drei Ebenen in ein klares systematisches Verhältnis zueinander gebracht: Das Fundament bildet die Liebe Gottes – weil Gott seine Schöpfung liebt, dürfen und sollen wir uns selbst und unseren Nächsten lieben. Alle Gläubigen aber bilden wiederum die Gemeinschaft Christi, die Kirche, die allegorisch die Braut Christi heißt und durch die caritas sowohl im Innern als auch im Äußeren mit Gott verbunden ist.86 Im Übergang von antik-papanen Freundschaftskonfigurationen zum christlichen Verständnis dieses Komplexes tauchen etliche Elemente der klassischen Theorien unverändert oder nur leicht angepaßt wieder auf. Das Postulat des gemeinsamen Besitzes von Gütern, das bedeutet, daß Freunde alles zusammen und nichts für sich besitzen, findet sich bei Pythagoras und Plato und taucht im Selbstverständnis früher christlicher Gemeinden sowie bei Augustinus in seinem Entwurf monastischer Gemeinschaften auf. Steht auf der paganen Seite dahinter Zusammengehörigkeitsgefühl, engste persönliche Verbundenheit und das Bedürfnis, den Freund an allen materiellen und immateriellen Dingen teilhaben zu lassen, liegt der Grund für eine solche Charakterisierung christlicher Gemeinschaften wohl eher im Desinteresse an weltlichem Besitz, vor allem mit Blick auf die in naher Zukunft erwartete Wiederkunft Christi und das Ende der Welt. Was man noch zum Leben braucht, teilt man sich, da es an sich keinen Wert hat. Allerdings steckt hinter christlicher Gütergemein86

Vgl. dazu auch McNamara, Marie Aquinas: Friendship in Saint Augustine. S. 220f.

2. Antike Freundschaftstraditionen und christliche Transformation

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schaft ebenso das Ideal des quasi familiären Zusammenlebens der Gläubigen. In den frühen kleinen Gemeinden, in denen man eng zusammenlebt, ist das Ideal des gemeinsamen Besitzes realisierbar, in der das ganze Imperium Romanum umfassenden Kirche der Spätantike ist das kaum mehr möglich. Aber das Ideal wird fester Bestandteil der Lebenspraxis in den klösterlichen Ordensgemeinschaften, deren Regeln keinen persönlichen Besitz vorsehen und in denen alle notwendigen Güter und Gegenstände den Mitgliedern gemeinsam gehören. Ebenso werden bekannte Topoi wie der der einen Seele in zwei Körpern, der des Freundes als alter ego, als ơƫƫƼƲ ơƵƴƼƲ übernommen. Damit einher geht die Assimilation weiterer gängiger Merkmale: Auch christliche Freunde zeichnen sich durch Übereinstimmung in allen wesentlichen Dingen, durch Vertrauen, Loyalität, Tugend und Gleichheit aus. Diese Kriterien können relativ reibungsfrei, wenn auch unter veränderten Vorzeichen übernommen werden. So meint die Übereinstimmung in allen wesentlichen Dingen nun in erster Linie die Übereinstimmung im Glauben, dieser ist die Grundlage für alles weitere, d.h. daraus ergeben sich Vertrauen und Loyalität. Ambrosius legt in seiner Schrift De officiis ministrorum, die deutlich von Ciceros De officiis beeinflußt ist, den Mönchen die Freundschaft ans Herz: „So wahret denn, Söhne, die Freundschaft, die ihr mit den Brüdern eingegangen habt! Es gibt nichts Schöneres im Leben als sie. Sie ist ein Trost in diesem Leben.“ (De officiis ministrorum, III, 132)87. Für Ambrosius wie auch für Cicero bleibt Freundschaft eher eine ethische als eine theologische Frage.88 Wie die Topoi, so erfreuen sich auch die klassischen antiken Freundespaare weiterhin großer Beliebtheit. Zwar werden den paganen antiken Freundespaaren biblische gegenüber gestellt, etwa David und Jonathan,89 doch vermindert das kaum die Prominenz der berühmten ‚heidnischen’ Freundschaftspaare wie Orest und Pylades oder Achilles und Patroklos. Ein Beispiel ist etwa die ausführliche Schilderung der Taten der Trojanerfreunde Nisus und Euryalus im Eneasroman. Auch die christliche Spätantike kennt eine berühmte Freundschaft, nämlich die zwischen Basilius dem Großen und Gregor von Nazianz, die privat und öffentlich zugleich war. „Darin unterscheidet sie sich nicht von 87 88

89

Niederhuber, Johannes (Hrsg.): Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Ausgewählte Schriften. Bd. III. (Bibliothek der Kirchenväter) Kempten, München 1917, S. 266. White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century. S. 115. Weiterhin zu Ambrosius’ Rezeption von Circeros De officiis siehe u.a.: Becker, Maria: Die Kardinaltugenden bei Cicero und Ambrosius: De officiis. (Gnilka, Christian (Hrsg.): ƗƒƈƓƊƓ: Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, 4) Basel 1994. Vgl. Sherwood-Smith, Maria: Old Friends. David and Jonathan in the Vulgate, the Historia Scholastica of Peter Comestor, the Weltchronik of Rudolf von Ems, and the Rijmbijbel of Jacob van Maerlant. In: Oxford German Studies 36 (2), 2007, S. 163-183.

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den großen Freundschaftsvorbildern der Antike; in etwas anderm aber unterscheidet sie sich auffallend von ihnen: sie war nicht erfolgreich, sondern brach auseinander.“90 Eines der Merkmale der antiken Idealvorstellung bestand aber gerade in Dauerhaftigkeit und Beständigkeit der Freundschaft. Aristoteles etwa diskutiert diesen Punkt in der Nikomachischen Ethik und Cicero greift den Gedanken ebenfalls auf. Aber all diese Linien der Kontinuität können nicht über den zunächst entscheidenden Punkt hinwegtäuschen: Für das Christentum steht an erster Stelle Nächstenliebe, nicht Freundschaft. Der Gläubige sieht sich zur Bruder-, Nächsten- und Feindesliebe verpflichtet, ohne Ansehen der Person. Der Anspruch des Christentums ist also ein grundsätzlich anderer: Es geht um allumfassende Liebe, die von allen dagegen sprechenden Umständen absieht, statt um ein individuelles, persönliches und exklusives dyadisches Verhältnis. Erst innerhalb der caritas kommt dann Freundschaft überhaupt ins Spiel, und auch das nur zögerlich, da die frühen Christen, die sich aus den traditionellen Bindungen lösen, um eine neue Gemeinschaft zu bilden, für sich das Bild der Familie – man ist Bruder und Schwester – , verwenden, deren einigendes Band der Glaube ist. Freundschaft kann nur existieren als Freundschaft in Gott. Entscheidend ist die Gegenwart Christus’ in der Freundschaft – individuelle Freundschaften können als Ausdruck der göttlichen Liebe betrachtet werden, die in den Partnern wirkt und dazu führt, daß sich einer um des anderen Leben und Seelenheil sorgt.91 Der antike Gedanke der Reziprozität, die Verpflichtung zu gegenseitiger Unterstützung geht hier auf die geistigspirituelle Ebene über. „The experience of friendship was, properly understood, an encounter with God.“92 Soweit eine erste allgemeine Einordnung. Im Detail stellt sich das Verhältnis von caritas und amicitia sehr viel komplizierter und komplexer dar, was im folgenden auch noch näher beleuchtet werden soll, vor allem in der Beschreibung der Gedankengänge Augustinus’ und Cassians zu dieser Problematik. Zunächst aber müssen noch einige kritische Punkte angesprochen werden, die im Zusammentreffen von paganen und christlichen Überlegungen zur Freundschaft auftauchen. Aspekte, an denen Unterschiede in 90

91 92

Vischer, Lukas: Das Problem der Freundschaft bei den Kirchenvätern. S. 177. Die Gründe für das Scheitern dieser Freundschaft liegen nicht zuletzt in der unterschiedlichen Auffassung der beiden einer christlichen Freundschaft. Vgl. dazu White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century. S. 61-84; Vischer, Lukas: Das Problem der Freundschaft bei den Kirchenvätern. S. 186-197. McEvoy, James: The theory of friendship in the Latin Middle Ages: Hermeneutics, contextualization and the transmission and reception of ancient texts and ideas, from c. AD 350 to c. 1500. In: Haseldine, Julian (Hrsg.): Friendship in Medieval Europe. S. 3-44, S. 33. Morris, Colin: The Discovery of the Individual 1050-1200. (Medieval Academy Reprints for Teaching, 19) Toronto 1987, S. 107.

2. Antike Freundschaftstraditionen und christliche Transformation

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der Freundschaftsauffassung christlicher und paganer Herkunft diskutiert werden können, sind insbesondere die Beziehung zwischen Mensch und Gott, das Problem der Demut und die Frage nach Selbstmitteilung/Selbstoffenbarung gegenüber dem Freund.93 Im christlichen Verständnis ist die Freundschaft Teil der Liebe Gottes, Freundschaft mit anderen ist Ausdruck dieser Liebe, und im Freund wird immer auch zugleich Gott geliebt. Das heißt, statt mit einer Dyade haben wir es mit einer triadischen Beziehung zu tun, in der Gott die dritte Position einnimmt, und die Zuneigung der Freunde für einander ist keine spontane zufällige Regung, sondern resultiert aus der Liebe Gottes. Ein gelingendes Freundschaftsverhältnis setzt Demut voraus, da der Andere ebenso Geschöpf Gottes ist wie man selbst. Darüber hinaus gilt superbia als eine Todsünde, deren Überwindung immer die Bedingung für ein gottgefälliges Leben bildet. Dieser Punkt begegnet in besonderer Weise bei Cassian, wie sich noch zeigen wird. Die Selbstoffenbarung gegenüber dem Freund nimmt deshalb einen so prominenten Platz ein, weil Seele und Individualität im Christentum und in der christlichen Sicht der Freundschaft eine neue Bedeutung bekommen.94 Aufrichtige Selbstmitteilung aller Gefühle, Zweifel und Gedanken, die mehr eine Pflicht als eine Chance darstellt, ist gefordert, und sie setzt die Erkundung der eigenen Seelenregungen voraus. Und diese Erkundung ist auch die Voraussetzung für Erkenntnis, denn diese findet man nur in sich selbst wie Augustinus feststellt. Die Wahrheit im eigenen Innern gilt es suchen und dabei dem Freund das Innerste zu offenbaren. Selbsterkenntnis und erzieherisches Moment wirken hier zusammen, was der paganen Antike nicht neu ist, doch bekommt diese Öffnung gegenüber dem Freund und die Offenbarung der innersten Regungen eine neue Qualität. So finden sich etwa bei Seneca Aufforderungen zur Selbstmitteilung in der Freundschaft,95 doch David Konstan sieht hier einen deutlichen Unterschied, da die christliche Selbstoffenbarung schon den Charakter der Beichte trägt und sehr viel mehr als Forderung und Pflicht verstanden werden muß. Wie bereits angesprochen sind Reziprozität, die freie Wahl des Freundes und Exklusivität der amicitia perfecta wesentliche Merkmale der klassischen Freundschaftskonzepte. Welchen Platz bekommen nun diese Charakteristika? Bei der Frage der Reziprozität unterscheidet sich das christliche caritas-Konzept grundlegend von den philosophischen Überlegungen der griechischen und römischen Antike. Für pagane Griechen und 93 94 95

Vgl. Konstan, David: Problems in the History of Christian Friendship. S. 359. Das wird z.B. deutlich an Augustinus’ Diskussion und Neubewertung der Lucretiageschichte in De civitate dei. Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. Liber I., S. 10f.

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Römer ist diese Gegenseitigkeit wesentlich, für die christliche Nächstenliebe hingegen nicht, im Gegenteil zeichnet sie sich gerade dadurch aus, daß sie nichts fordert und einfach gibt ohne die Erwartung einer Gegenleistung.96 In den Augen der Zeitgenossen muß das eine erhebliche Zumutung gewesen sein. Das ist auch aus heutiger Sicht verständlich, denn kulturanthropologisch betrachtet ist das Ideal der caritas ein großes Problem. Der, dem gegeben wird, ist fast anonym und sieht sich einer Großmut und Zuwendung gegenüber, die demütigend wirkt. Darin liegt möglicherweise auch der Grund dafür, daß caritas und ơƣƜưƧ doch zumeist Konstrukte, Auswüchse christlicher Ideologie geblieben sind, denen gegenüber in der Praxis der Freundschaft der Vorzug gegeben wurde. Besonders für das Athen der klassischen Zeit ist, etwa im Vergleich zum Hellenismus, die besondere Bedeutung von Reziprozität konstatiert worden. Wenn von griechischen Autoren der Reziprozität ein größerer Stellenwert in der klassischen Zeit der Polis zugewiesen wird, als wir das möglicherweise im Zusammenhang mit Freundschaft gewohnt sind, dann geschieht das nicht, weil die gegenseitige Hilfe diese Beziehungen bestimmte, sondern weil diese Gegenseitigkeit als Kennzeichen einer Gesellschaft der Gleichen galt. Und Gleichheit wiederum ist der primäre Wert, der durch die Freundschaft in der Vorstellung der klassischen Demokratie repräsentiert wird.97 Kompliziert wird es auch bei der Frage nach der Wahl des Freundes, dem Aspekt der Freiwilligkeit, der bis heute so wichtig ist. Nach dem klassischen antiken Verständnis wählt man den Freund frei aus, allerdings wirken dabei Kriterien wie Gleichheit, Tugend, gegenseitige Zuneigung, die wiederum aus der Tugend des anderen resultiert. Im Christentum fällt dieser Akt des Auswählens scheinbar weg, da die Gläubigen untereinander immer schon durch den Glauben verbunden sind, und dieser quasi die Eintrittskarte in die Freundschaft ist. Man könnte diese Ebene als Freundschaft erster Ordnung bezeichnen. Innerhalb der umfassenden Gemeinschaft Christi befindet sich dann die zweite Ebene, auf der wir es mit einer Freundschaft zweiter Ordnung zu tun haben. Augustinus etwa sagt, daß wir zwar grundsätzlich allen verbunden sind, aber daß wir uns mehr um die kümmern, die uns näher stehen. Bei dieser Freundschaft zweiter Ebene greifen dann im Grunde wieder all die Kriterien und 96

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Das gilt – im normativen Diskurs – uneingeschränkt für die Beziehungen der Personen zueinander. Auf der Ebene der eschatologischen Perspektive allerdings hofft der Christ auf eine ‚Gegenleistung’ seiner selbstlosen caritas, nämlich auf Entlohnung im Jenseits, auf das ewige Leben nach dem Jüngsten Gericht. Konstan, David: Reciprocity and Friendship. In: Gill, Christoper / Postlethwaite, Norman / Seaford, Richard (Hrsg.): Reciprocity in Ancient Greece. Oxford 1998. S. 279-301, S. 301.

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Merkmale, die auch die klassischen Freundschaftstheorien ausmachen. So entsteht ein kompliziertes Gebilde, in dem sich einerseits christliche Freundschaft deutlich von den paganen Entwürfen absetzt, und andererseits Grundgedanken dieser in den christlichen Diskurs integriert werden. Bleibt das Problem der Tugend, denn schon bei Aristoteles ist die Tugendfreundschaft die vera amicitia. Was wird aus ihr im christlichen Verständnis, wenn dort Gott Anfang und Ziel der Freundschaft bildet? Sie verschwindet nicht als Kriterium, sondern findet sich vielmehr auch in den patristischen Texten, aber sie wird inhaltlich neu besetzt. Tugend bedeutet für christliche Autoren wie Augustinus etwas anderes als etwa für Cicero. Bei diesem meint virtus gesetzestreu zu leben und der Sache der res publica zu dienen. Deshalb endet die Freundschaft auch dann, wenn einer der Beteiligten sich gegen den Staat wendet, d.h. hier steht die Sache der Republik klar über persönlichen Beziehungen. Allerdings sollte dieser Fall gar nicht eintreten, wenn wahrhaft Tugendhafte befreundet sind, denn diese verhalten sich per definitionem staatstreu. Tugend im christlichen Verständnis von Freundschaft meint die Verbundenheit im Glauben, Gott ist Basis und Ziel der Bindung. Wichtig ist an dieser Stelle der Zusammenhang von Tugend, Bildung und Freundschaft. Der römische vir bonus ist der rhetor, der in der septem artes ausgebildete Mann, und nur dieser vir bonus ist zur vera amicitia fähig, wie Cicero sagt: „Sed hoc primum sentio, nisi in bonis amicitiam esse non posse“. (Laelius 5, 18)98 Allerdings präzisiert und erläutert Cicero diese Aussage: Nicht wie andere (Stoiker) meint er, daß nur die Weisen gut seien, wenn damit eine Weisheit eingeschlossen ist, die gewöhnlichen Menschen unerreichbar bleibt. „nos autem ea, quae sunt in usu vitaque communi, non ea, quae finguntur aut optantur, spectare debemus” (Laelius 5, 18).99 Die viri boni sind die, die gesetzestreu sind und deren Lebensweise sich durch fides, integritas, aequitas, liberalitas und constantia, also Treue, Integrität, Gleichmut, Rechtschaffenheit und Beständigkeit auszeichnet.100 Wirft man hier einen Blick auf die höfische Epik des 12. Jahrhunderts stellt man fest, daß all diese Eigenschaften den vorbildlichen Ritter wie den miles christi charakterisieren. Cicero relativiert den hohen Anspruch der amicitia perfecta. Während im platonischen und aristotelischen Verständnis Freundschaft immer das 98

Cicero: Laelius de amicitia. S. 24: „Vorausschicken möchte ich aber, daß ich Freundschaft nur zwischen Guten für möglich halte“. (S. 25). 99 Ebd. S. 24: „Wir jedoch müssen das ins Auge fassen, was im Bereich der allgemeinen täglichen Lebenserfahrung liegt, nicht etwas, was man sich so zusammendenkt oder sich wünscht.“ (S. 25). 100 Cicero: Laelius de amicitia. S. 26.

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Bemühen um und damit den Weg zu Tugend und Erkenntnis meint, ist bei Cicero bereits im Bestehen der wahren tugendhaften Freundschaft dieses Ziel erreicht.101 In diesem Punkt ist die christliche Freundschaft, insbesondere die amicitia spiritualis dem platonischen und neuplatonischen Denken wesentlich näher, denn ihr geht es um den Aufstieg zur Schau des Göttlichen, die unio mystica. 2.3 Christliche Freundschaft: Augustinus und Cassian als Wegweiser für das Mittelalter 2.3.1 Augustinus: Amicitia als höchste Form der caritas? “With Augustine we reach the culmination of fourth-century Christian theories of friendship, for it is he who arguably provides the most profound views [...] according a crucial role to friendship in each Christian’s progress towards salvation.”102 Wie in so vielen anthropologischen Fragen ist Augustinus auch für das Problem der Freundschaft die Mittlerfigur für antikes Erbe im Mittelalter.103 Zwar hat Augustinus kein eigenes Werk zur Freundschaft geschrieben, aber es finden sich zahlreiche Ausführungen zu dem Thema in etlichen seiner Schriften (Confessiones, De civitate dei, De vera religione, Briefe). Immer wieder kommt er im Laufe seines Lebens auf das Thema zurück, das ihm ohne Zweifel sehr wichtig war. Dabei bleiben einige Grundüberlegungen konstant, andere ändern sich in den späten Jahren und sind von der pessimistischen Sicht geprägt, die charakteristisch für De civitate dei ist. Warum aber setzt sich Augustinus mit der Frage nach dem Freund immer wieder auseinander? Vermutlich erklärt sich die wiederholte Beschäftigung mit dieser Beziehungsform dadurch, daß Freundschaft für Augustinus persönlich sein ganzes Leben lang eine große Rolle spielte. Von Jugend an war er von Freunden umgeben104 und konnte sich ein Leben ohne Freunde nicht vorstellen. Sein Alltag war immer geprägt durch den Umgang mit Freunden – mit Freunden leben, sich mit ihnen auszutauschen, gemeinsam nach

101 Cassidy, Eoin G.: The Significance of Friendship: Reconciling the Classical Ideals of Friendship and Self-Sufficiency. S. 55f. 102 White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century. S. 218. 103 Zur Nachwirkung von Augustinus im Mittelalter vgl. u.a.: King, Edward B. / Schaefer, Jacqueline T. (Hrsg.): Saint Augustine and his Influence in the Middle Ages. (Sewanee Mediaeval Studies, 3) Sewanee 1988. 104 Brown, Peter: Augustinus von Hippo. Frankfurt a.M. 1973, S. 52.

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Erkenntnis suchen, war zentral für Augustinus’ gesamtes Leben105 – in Cassiciacum, im Kreise der Manichäer, dann mit den christlichen Freunden und zuletzt im monastischen Zusammenleben in Hippo.106 Diese Erfahrungen sind zweifellos in seine theoretischen Überlegungen eingeflossen und eben diese persönlichen Erlebnisse thematisiert er etwa in den Confessiones. „[...] Augustine’s experience of friendship was a constant feature of his entire life, and his reflections upon it continued to develop.”107 Führt man sich die Äußerungen Augustinus’ vor Augen, fällt als erstes die Verknüpfung des Freundschaftsgedanken mit einem Problem auf, das geradezu ein Leitmotiv augustinischen Denkens bildet: Das Zusammensein mit Freunden ist stets verbunden mit der Suche nach Erkenntnis, nach Weisheit – die Begriffe amicitia, beatitudo und sapientia werden von Augustinus wiederholt zueinander in Beziehung gesetzt.108 So stellt Augustinus beispielsweise in De vera religione fest, die christliche Religion sei der beste Weg zum Heil, und daher müsse man bestrebt sein, die eigenen Freunde auf diesen Weg zu bringen, falls sie es noch nicht sind, und zugleich suche man gemeinsam mit den Freunden nach der ewigen Erkenntnis. Der oben konstatierte Zusammenhang von Tugend, Bildung und Freundschaft taucht hier wieder auf.109 Augustinus’ Gedanken kreisen immer wieder um Liebe als göttliches Prinzip, um Freundschaft und Nächstenliebe und zwar in Verbindung mit seiner lebenslangen Suche nach der vita beata und dem summum bonum.110 Hier trifft er sich also wieder mit einem wesentlichen Aspekt aller antiken Philosophie, die etwa in der stoischen Perspektive Ciceros zum Ausdruck kommt: Tugendfreundschaft bedeutet die Verwirklichung der vita beata; Tugend ist das Ziel, und man sucht den tugendhaften Freund, der einem in diesem Streben gleicht. Doch Freundschaft hat für Augustinus nicht zuletzt eine tief emotionale Seite. Vor allem im vierten Buch der Confessiones spricht er in geradezu anrührender Weise über seine Freunde: „conloqui et conridere et vicissim benivole obsequi, simul legere libros [...] docere aliquid invicem aut discere ab invicem, desiderare absentes cum molestia, suscipere venientes cum laetitia: his atque huius modi signis a corde amantium et redamantium procedentibus per os, per lingua, per oculos et mille motus gratissimos“ 105 Siehe auch Geerlings, Wilhelm: Das Freundschaftsideal Augustins. In: ThQ 101, 1981, S. 265-274, S. S. 265. 106 Für einen ausführlichen Überblick zu Augustinus’ Freundschaften in den einzelnen Lebensphasen vgl. McNamara, Marie Aquinas: Friendship in Saint Augustine. 107 McEvoy, James: Anima una et cor unum. Friendship and Spiritual Unity in Augustine. S. 43f. 108 Ebd. S. 76. 109 Im Tristan-Prolog geht es genau um die Verbindung Tugend – Bildung – Ethik, also genau die Dinge, die das antike Freundschaftsideal ausmachen. 110 Vgl. White, Carolinne: Christian Friendship in the Fourth Century. S. 185.

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rühen Freundschaftserfahrungen und die damit verbundenen Emotionen; er beschreibt, was ihn vor seiner conversio am Zusammensein mit Freunden besonders anzog: conloqui et conridere et vicissim benivole obsequi, simul legere libros [...] docere aliquid invicem aut discere ab invicem, desiderare absentes cum molestia, suscipere venientes cum laetitia: his atque huius modi signis a corde amantium et redamantium procedentibus per os, per lingua, per oculos et mille motus gratissimos (Confessiones IV, 8,13)111

Weiterhin berichtet Augustinus in den Confessiones von einem Jugendfreund, dessen Tod ihn in tiefe Trauer versetzt: „Mirabar enim ceteros mortales vivere, quia ille, quem quasi non moriturum dilexeram, mortuus erat, et me magis, quia ille alter eram, vivere illo mortuo mirabar.“ (Confessiones IV, 6,11).112 Neben diesem Bild des Freundes als alter ego bedient Augustinus noch eine weitere gängige Vorstellung, wenn er sagt: „Nam ego sensi animam meam et animam illius unam fuisse animam in duobus corporibus“ (Confessiones IV, 6,11).113 Der antike Topos der einen Seele in zwei Körpern wird hier von Augustinus aufgenommen, um die enge Verbindung mit und tiefe Zuneigung für den toten Freund auszudrücken. Was aber bedeutet nun eigentlich christliche Freundschaft für Augustinus? In einem seiner Briefe liefert er eine Definition, die der antiken Welt wohl bekannt war: „amicitia rectissime atque santissime definita est, rerum humanarum et divinarum cum benevolentia et caritate consensio”114. Das ist die fast wörtliche Übernahme der Definition Ciceros, die dieser im Laelius formuliert, und damit wird auch deutlich, in welchen Traditionszusammenhang Augustinus sich stellt. Den Kontext dieser Aussagen bildet die unter 1.2.1. skizzierte Situation im Imperium Roman im vierten und beginnenden fünften Jahrhundert. Amicitia ist fester Bestandteil römischer Vorstellungen; indem Augustinus auf diese abhebt und in sein Werk integriert, bringt er sich in eine günstige Ausgangsposition für die Gewinnung der paganen Oberschicht für die neue Staatsreligion – es 111 Augustinus: Bekenntnisse. Lat. / Dt. Eingel., übers. u. erläutert v. Joseph Bernhart. Mit einem Vorw. v. Ernst Ludwig Grasmück. Frankfurt a.M., Leipzig 1987, S. 158f.: „[...] mitsammen plaudern und mitsammen lachen und sich einander gefällig erzeigen; gemeinsam schöne Bücher lesen [...] einander belehren und lernen voneinander; die Ausbleibenden schmerzlich vermissen, die Erscheinenden herzlich begrüßen; durch solche und ähnliche Zeichen, die bei Liebe und Gegenliebe aus dem Herzen sich äußern in Miene und Wort, im Auge und in tausendfreundlich lieben Gebärden“ (S. 159f.). 112 Augustinus: Bekenntnisse. S. 154: „In der Tat, ich wunderte mich, daß die übrigen Sterblichen noch lebten, da doch er, den ich geliebt hatte, als könnte er nie sterben, gestorben war, und mehr noch wunderte ich mich, daß ich selbst, da ich doch ein zweiter Er gewesen, noch lebte, nun da er tot war.“ (S. 155). 113 Augustinus: Bekenntnisse. S. 154.: „Wahrhaftig, ich hatte das Gefühl, als wären seine Seele und meine Seele nur eine Seele gewesen in zwei Leibern.“ (S. 155). 114 CSEL. 63, 55.

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geht um die Stärkung des Christentum nach außen wie nach innen. Freundschaft hat eine gesellschaftliche und politische Dimension, und Augustinus weiß darum: „Wenn man uns nun sagt, der Weise strebe nach einem Leben in Gemeinschaft, so treten wir noch weit entschiedener dafür ein. Denn wie könnte der Gottesstaat [...] fortschreiten und sein ihm gesetztes Ziel erreichen, wenn das Leben der Heiligen nicht ein geselliges wäre?“ (De civitate dei, 19,5)115. Augustinus betrachtet Freundschaft als das Fundament der sozialen Ordnung, denn es liegt in der Natur des Menschen zu lieben und wiedergeliebt zu werden.116 In diesem Punkt stimmt Augustinus mit den Stoikern überein, denn auch sie gehen davon aus, daß Freundschaft in der Natur des Menschen liegt, da dieser ein soziales Wesen ist. Zweifellos ist sich Augustinus des Spannungsverhältnisses zwischen dem hohen Anspruch christlicher Nächstenliebe (caritas) als allgemeinem Prinzip und paganer Freundschaft (amicitia) als exklusiver Beziehung bewußt. Er sucht – ganz im Sinne seiner durchgehenden Bemühungen, antikes Gedankengut in die christliche Denk- und Lebensweise zu integrieren und wichtige zeitgenössische Vorstellungen im christlichen Sinn zu transformieren – nach einem Konzept, das beide Auffassungen miteinander vereinbart. Ferner müssen alle Menschen gleichermaßen geliebt werden. Da du aber nicht allen nützen kannst, mußt du in erster Linie für diejenigen sorgen, die aufgrund von Umständen des Ortes und der Zeit oder jedweder Verhältnisse dir gleichsam durch ein gewisses Los enger verbunden sind. (De doctrina christiana, I, 28, 61) 117

Diese Passage kann als Schlüsselstelle für Augustinus’ Sicht auf das komplizierte Verhältnis von Nächstenliebe und Freundschaft gelesen werden. Unter dem Dach der allumfassenden christlichen Nächstenliebe sind quasi als konzentrische Kreise innerhalb des großen Kreises der göttlichen Liebe exklusivere Beziehungen möglich und auch natürlich. Daneben unterscheidet er allerdings in den Confessiones ganz klar zwischen einer christlichen und einer nichtchristlichen Freundschaft, wenn er sich an eben jenen Jugendfreund erinnert, dessen Tod so unfaßbar für ihn war: „Sed nondum erat sic amicus, quamquam ne tunc quidem sic, uti est vera amicitia, quia non est vera, nisi cum eam tu agglutinas inter haerentes tibi caritate ‚diffusa in cordibus nostris per spiritum sanctum, qui datus est

115 Augustinus: Vom Gottesstaat. (De civitate dei). 2 Bde. Aus d. Lat. übertr. v. Wilhelm Thimme. Eingel. u. komm. v. Carl Andresen. München 1997, 4. Aufl., S. 536f. 116 Siehe dazu: Burt, Donald X.: Friendship and Society. An Introduction to Augustine’s Practical Philosophy. Grand Rapids, Cambridge 1999, S. 56. 117 Augustinus: Die christliche Bildung. (De doctrina christiana). Übers., Anm. u. Nachw. v. Karla Pollmann. Stuttgart 2002, S. 34.

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nobis’.“118 Wahre Freundschaft kann nur durch die Liebe Gottes bestehen: „Beatus qui amat te et amicum in te et inimicum proter te. Solus enim nullum carum amittit, cui omnes in illo cari sunt, qui non amittitur.” (Confessiones IV, 9,14).119 Eine weitere Passage, die den Glauben mit der Freundschaft verbindet, findet sich in De Civitate Dei: Freunde geben Trost, doch zugleich vermehren sie unsere Sorgen, und Augustinus stellt weiterhin fest: Obwohl also das Leben der Sterblichen durch den Tod liebster Freunde, zumal derer, die der Menschheit noch wertvolle Dienste leisten könnten, bald leichter, bald schwerer heimgesucht wird, möchten wir doch, die wir liebhaben, lieber tot sehen oder von ihrem Tode hören, als erfahren, daß sie vom Glauben oder vom ehrbaren Leben abgefallen, also geistlich tot sind. (De civitate dei, XIX, 8)120

Der Pessimismus und die Resignation des späten Augustinus klingen hier an, der in seinen letzten Lebensjahren das römische Reich, das auch ihn geprägt hatte, im Chaos untergehen sehen mußte – „We must [...] learn to read Augustine within the context of a declining civilization.”121. Die Sorge um die Seele, das Seelenheil des Freundes dominiert die zitierte Passage. Denn christliche Freundschaft – und das unterscheidet sie von verschiedenen paganen philosophischen Entwürfen – hat eine eschatologische Perspektive, sie geht mit ihrer Blickrichtung auf Gott und das ewige Heil über den Tod hinaus. Christliche amicitia perfecta hat ihren Sinn nicht nur im Diesseits, sondern indem die Freunde miteinander ein gottgefälliges Leben führen, versuchen sie ihre Seele auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Vor allem für den späten Augustinus ist der christliche Glauben die Grundvoraussetzung der Freundschaft: Nur in der Liebe zu Gott kann die wahre gegenseitige Liebe der Freunde existieren. Nach seiner Konversion wendet sich Augustinus noch einmal ausführlich der Frage der Freundschaft zu und konstatiert, daß nur Freunde, die in Glaubensfrage, in der recta fides, übereinstimmen, auch in weltlichen Fragen übereinstimmen können. Klar erkennbar impliziert diese Beschreibung wieder Ciceros 118 Augustinus: Bekenntnisse. S. 148: „Aber damals war er mir noch nicht so Freund gewesen, und auch jetzt noch war unsere Freundschaft nicht der Art, wie es echte Freundschaft ist; denn echt ist sie allein, wenn Du sie zwischen solchen, die Dir anhangen, durch jene Liebe zusammenkittest, die ‚ausgegossen ist in unsern Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist’.“ (S. 149). 119 Augustinus: Bekenntnisse. S. 160: “Selig, wer Dich liebt und den Freund in Dir und den Feind um Deinetwillen. Denn der allein verliert keinen Teuren, dem alle teuer sind in dem, den man nicht verliert.“ (S. 161). 120 Augustinus: Vom Gottesstaat. S. 543. 121 Maertens, Guido: Augustine’s Image of Man. In: Verbeke, Gerardo (Hrsg.): Images of Man in Ancient and Medieval Thought. (Symbolae, Series A, Bd. 1) Leuven 1976, S. 175-198, S.176.

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Freundschaftsdefinition. Aber Augustinus verknüpft die Übereinstimmung über die menschlichen und göttlichen Dinge zu einer Kausalkette. Wer nicht im Glauben mit dem anderen vereint ist, kann es auch nicht auf der weltlichen Ebene sein, denn diese hängt direkt von der göttlichen Sphäre ab. Das klingt bereist sehr viel elitärer und exklusiver als die schlichte Formel des Neuen Testaments, ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’, die keinen Unterschied zwischen Freund und Feind macht. Das Auseinandertreten von Anspruch und Umsetzung der Nächstenliebe tritt also bei der Frage der Feindesliebe offen zu tage. Augustinus stellt fest, mit Ungläubigen könne es keine Freundschaft geben, denn diese habe ihr Zentrum und ihr Fundament in Gott. Ein Ungetaufter aber teile diese Basis nicht, und daher sei keine Übereinstimmung mit ihm möglich, ebensowenig wie mit dem Häretiker. „Der Rückgriff auf amicitia war [...] ein idealer Ausweis des gemeinsamen Bekenntnisses zur Orthodoxie.“122 Allerdings wird diese scheinbar unversöhnliche Einstellung wieder abgemildert: man soll auch den Feind lieben, denn er könnte zum Freund werden, bzw. man soll daraufhin arbeiten, daß er zum Bruder und Freund wird, d.h. es geht um die Perspektive.123 „Love of God and neighbour makes friendship true in the deepest sense of the word by basing it upon the supreme value, God’s creative personhood.“124. Von Ciceros politischer consensio, zu der – ist sie gegeben – Liebe und Wohlwollen hinzutreten, unterscheidet sich Augustinus’ Auffassung dadurch, daß bei ihm bereits die Übereinstimmung ein Ausdruck der Liebe ist.125 Ob man aber tatsächlich von einem triadischen Modell bei Augustinus im Gegensatz zu einem dyadischen bei Cicero sprechen kann,126 ist fraglich. Nimmt Gott im christlichen Freundschaftsdreieck den dritten entscheidenden Platz ein, so kann man bei Cicero die Natur als Gesetz der Moral und damit als Basis der Tugend als die dritte Position ansehen. In der Forschung wird daraufhingewiesen, daß Augustinus bei der Übernahme der berühmten Freundschaftsdefinition Ciceros eine kleine, aber wohl nicht unwichtige Änderung vornimmt, wenn er aus der Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen (divinarum et 122 Rebenich, Stefan: Freund und Feind bei Augustin und in der christlichen Spätantike. In: Fuhrer, Therese (Hrsg.): Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen und Institutionen. Stuttgart 2008, S. 11-31, S. 16. 123 Cassidy, Eoin G.: The Recovery of the Classical Ideal of Friendship in Augustine’s Portrayal of Caritas. S. 136. 124 McEvoy, James: Anima una et cor unum: Friendship and spiritul unity in Augustine. In: Recherches de Théologie ancienne et médiévale. (A journal of ancient and medieval Christian literature.) 53, 1986, S. 40-92, S. 79. 125 Ebd. 126 Siehe dazu ebd. S. 80.

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humanarum) die Übereinstimmung in allen menschlichen und göttlichen Dingen macht, also die Reihenfolge verändert, was wohl auf dem Hintergrund des neuplatonischen Einflusses auf Augustinus’ Seelenverständnis zu verstehen ist. Entsprechend der Aszendenzbewegung der Seele zu Gott geht Augustinus’ Blickrichtung vom Menschen hin zu Gott, während bei Cicero die göttlichen Dingen aufgrund ihrer höheren Dignität zuerst genannt werden.127 Die Forschung hat ausführlich debattiert, ob Augustinus das klassische Freundschaftsideal christianisiert habe oder ob sich die antiken Vorstellungen in der christlichen Konzeption von Freundschaft eindeutig behaupten. Es ist eben fraglich, ob man bei Augustinus von einer „Vertiefung und Absetzung von der heidnischen Antike“128 sprechen kann. Berücksichtigt werden müssen dabei sicherlich auch Entwicklungen und Verschiebungen innerhalb der theologischen und anthropologischen Konzeptionen im Laufe seines Lebens. Die auffälligen Unterschiede zwischen den Ausführungen zur Freundschaft in den Confessiones und in De civitate dei sind nur das markanteste Beispiel dafür. Man darf nicht vergessen, daß Augustinus eine für den Synkretismus der Spätantike durchaus typische Religionskarriere durchlief, die ihm ein Gefühl für kulturelle und religiöse Vielfalt vermittelte. Ebenso radikal wollte er aber auch seine Konversion zum Christentum verstanden wissen, weshalb er in den Confessiones sein früheres Leben dem Leben als Christ klar entgegensetzte. Wie ist das Verhältnis von christlicher Nächstenliebe und Freundschaft, von caritas und amicitia bei Augustinus zu bewerten? Die Forschung vertritt cum grano salis zwei Positionen: 1. Amicitia ist der caritas untergeordnet, da diese sich auf alle Menschen, zumindest auf alle Gläubigen bezieht. Augustinus vertritt daher, so die These, ein deutlich anderes Konzept als die klassische antike Philosophie.129 Die zweite Position setzt amicitia und caritas mehr oder weniger gleich, bzw. man geht davon aus, daß Augustinus sich bemüht, das antike und mit dem christliche Ideal in Einklang zu bringen. Oder aber Freundschaft ist wiederum die erste Stufe der Nächstenliebe, die Liebe zu wenigen bereitet die Liebe zu allen vor, und vor allem muß man zuerst in der Lage sein, Freundschaftsverhältnisse zu leben, um überhaupt caritas üben zu können. Amicitia ist dann notwendiger Bestandteil der Nächstenliebe und auf diese Weise fest integriert. Die zweite Einschätzung scheint plausibler. Augustinus ist mit den antiken Freundschaftsvorstellungen sehr vertraut – er gilt nicht umsonst als 127 Vgl. dazu u.a. McEvoy, James: Anima una et cor unum. S. 79. 128 Geerlings, Wilhelm: Das Freundschaftsideal Augustins. S. 268. 129 McNamara, Marie Aquinas: Friendship in Saint Augustine. S. 220.

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der „große ‚Säkularisierer’“130 – , besonders an Ciceros Laelius hat er sich ganz offensichtlich orientiert bis hin zur fast wörtlichen Übernahme der berühmten Definition Ciceros, Freundschaft sei Übereinstimmung in allen göttlichen und weltlichen Dingen verbunden mit Liebe und Wohlwollen. Das Konzept der amicitia prägt Augustinus’ Verständnis von caritas.131 Es geht um das Potential, das in der Freundschaft steckt und das sich zur Nächstenliebe erweitern läßt. Caritas kann als Erweiterung der und als auf den größeren Zusammenhang der Kirche Christi übertragene amicitia gedacht werden. Dann funktioniert auch das Stufenmodell, das vera amicitia nur bei den perfecti vorsieht. 2.3.2 Cassian und Aelred von Rievaulx: Amicitia spiritualis als monastisches Ideal Im Hinblick auf die Implikationen der spätantiken christlichen Freundschaftsdiskussion für das Mittelalter nimmt Cassian eine Sonderstellung ein. In seiner Schrift Conlationes trägt die 16. Collatio den Titel De amicitia – d.h. Cassian entwirft eine eigene Abhandlung zu dem Thema, wodurch er nicht nur in bezug auf seine Zeitgenossen eine Ausnahme bildet. Er ist nicht nur der erste christliche Autor, der ein Traktat über die Freundschaft schreibt, sondern auch vorerst der letzte, denn erst Aelred von Rievaulx nimmt im 12. Jahrhundert das Thema in einer eigenen Schrift wieder auf.132 Cassians Überlegungen sind grundlegend für die Freundschaft innerhalb der Klostergemeinschaft; Cassian entwirft im Grunde Freundschaft als die grundlegende Geisteshaltung für das klösterliche Zusammenleben.133 Die Conlationes entstehen etwa zeitgleich mit den Institutiones und müssen daher im Zusammenhang mit diesen gelesen werden; erstere erscheinen dann als Ergänzung zu Cassians Vorstellungen vom klösterlichen Zusammenleben.134 Auf der einen Seite benutzt Cassian überwiegend Bibelzitate, offensichtlich will er den Vorgaben des Neuen Testaments entsprechen, auf der 130 Brown, Peter: Augustinus von Hippo. S. 233. 131 Cassidy, Eoin G.: The Recovery of the Classical Ideal of Friendship in Augustine’s Portrayal of Caritas. S. 134ff. 132 Zur Einordnung des Textes vgl. Chadwick, Owen: John Cassian. Cambridge 1968, S. 1422, 49-50. 133 Fiske, Adele M.: Friends and Friendship in the Monastic Tradition. S. 3/1. 134 Cassians Vorbilder für seine Vorstellung vom asketischen Leben waren die ägyptischen Wüstenväter Pachomius und Antonius und ihre monastischen Gemeinschaften. Vgl dazu u.a.: Gould, Graham: The Desert Fathers on Monastic Community. (Oxford Early Christian Studies) Oxford 1993.

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anderen Seite ist der Einfluß Ciceros an vielen Stellen des Textes deutlich erkennbar. Der Autor ist mit der paganen Literatur bestens vertraut und ebenso mit den Texten der Kirchenväter des vierten und fünften Jahrhunderts. Mit der Konzentration auf biblische Belegstellen verfolgt Cassian den gleichen Zweck wie Augustinus, der neben die paganen Texte, die er nicht verwirft, die entsprechenden Passagen der Heiligen Schrift stellt: die Etablierung der Bibel als ein Werk höchster Dignität und Autorität. Gleichwohl bedient sich Cassian bei der paganen Literatur wie in einem Steinbruch, um keinen zu großen Bruch entstehen zu lassen. Damit erscheint der Text paradigmatisch dafür, „wie christliche Schriftsteller der Spätantike bestimmte Motive, die in der klassischen Literatur vorgegeben waren, für ihre Zwecke verwendeten und in dieser verwandelten Gestalt den folgenden Jahrhunderten weitergaben“135. Wie charakterisiert Cassian christliche Freundschaft? Gleich zu Beginn stellt er fest, daß es viele Arten von Freundschaft gebe. Die vollkommene Freundschaft aber ist die amicitia spiritualis, nur sie erfüllt all die Kriterien, die Cassian für wahre Freundschaft aufstellt und sie kann nur zwischen im christlichen Sinn Vollkommenen bestehen. Cassian entwirft einen Katalog der Bedingungen dieser amicitia spiritualis. Zunächst wird die Unterwerfung des eigenen Willens unter den des Freundes gefordert; Demut ist das Stichwort. Sie ist so wichtig, weil das größte Laster superbia ist, und darüber hinaus drückt sich in der Demut die Verachtung aller irdischen Güter aus, was wiederum auf die Klostergemeinschaft verweist, für die der Autor dieses Ideal entwirft. Die folgenden Bestimmungen nehmen die bekannten paganen Forderungen zum Vorbild. Freunde stimmen stets in allen Dingen überein und haben auch die gleichen Ziele, denn das leitet sich aus ihrer geteilten moralischen Basis her. Das höchste Gut ist auch bei Cassian die caritas, denn sie stammt nicht nur von Gott – das schönste Geschenk der Götter, heißt es bei Cicero – sondern Gott selbst ist die Liebe. An dieser Stelle tritt die Entgegensetzung „zu nichtchristlicher Bewertungen der Freundschaft“136 klar hervor. Aelreds von Rievaulx Satz, „Deus est amicitia“, wäre Cassian nie in den Sinn gekommen,137 denn das hätte diesen Begriff, der aus der paganen Sphäre stammt, was Cassian auch nicht vergißt, vermutlich zu stark aufgewertet und ihm ein Eigenleben verschafft, das sich mit den Intentionen des Autors nicht verträgt, schließlich schreibt er für die Mitglieder einer

135 Neuhausen, Karl August: Zu Cassians Traktat De amicitia (Coll. 16). In: Gnilka, Christian / Schetter, Willy (Hrsg.): Studien zur Literatur der Spätantike. (Antiquitas, Reihe 1: Abhandlungen zur Alten Geschichte, Bd. 23) Bonn 1975, S. 181-218, S. 218. 136 Neuhausen, Karl August: Zu Cassians Traktat De amicitia (Coll. 16). S. 208. 137 Ebd. S. 217.

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christlichen Gemeinschaft, die ein Leben jenseits der weltlichen Werte führen wollen. Cassian geht es um die perfectio, also darum, wie man eine vollkommene Freundschaft erreichen kann.138 Durch die zahlreichen Bezüge zu seinen Institutiones, die ebenfalls eine monastische Ordensgemeinschaft als Adressatengruppe vor Augen haben, macht er unmißverständlich klar, welche Lebensweise er für den Mönch vorsieht. Freundschaft als amicitia spiritualis ist dabei ein wesentlicher Bestandteil, auf diesem Fundament soll die Gemeinschaft aufbauen. Cassian postuliert, „that the grace of friendship in its fullness and perfection can only survive among perfect men of like virtue”139, wobei die “perfect men” sich auf die Asketen beziehen, mit deren Lebensweise Cassian vertraut war.140 Für die wahre Freundschaft nennt er denn auch Voraussetzungen, von denen gleich die erste wieder auf den Raum des Klosters verweist. Prima igitur sunt verae amicitiae in contemptu substantiae mundialis et omnium quas habemus rerum despectione fundamina. Perquam enim iniustum atque inpium ets, si post abrenuntiatam mundi et omnium quae in eo sunt vanitatem pretiossimae fratris dilectioni supellex vilisima quae superfuit praeferatur.141

Alle weltlichen Dinge sind zu verachten, denn sie haben keinerlei Wert. Entscheidend ist die Liebe des Bruders. Daher ist der nächste Schritt Demut und die völlige Unterwerfung des eigenen Willens unter den des anderen: Quamobrem haec est amicitiae ut diximus fida insolubilisque coniunctio, quae sola virtutum parilitate foederatur : dominus enim inhabitare facit unius moris in domo. Et idcirco in his tantum indisrupta potest dilectio permanere, in quibus unum propositum ac voluntas, unum velle ac nolle consistit.142

138 Ebd. S. 202. 139 John Cassian: The Conferences. Übers. u. m. Anm. v. Boniface Ramsey. (Ancient Christian Writers, Nr. 57) New York, Mahwah 1997, S. 559. Lateinisches Original zitiert nach: Jean Cassien: Conférences VIII-XVII. Introduction, Texte Latin, Traduction et Notes par E. Pichery. (Sources Chrétiennes, Nr. 54) Paris 1958, S. 226: “plenam atque perfectam amicitiae gratiam nisi inter perfectos viros eiusdemque virtutis perseverare non posse”. 140 Zu diesem Punkt vgl. Chadwick, Owen: John Cassian. S. 55-60. 141 Jean Cassien: Conférences VIII-XVII, S. 227; John Cassian: The Conferences. S. 560: „The first foundation of true friendship, then, consists in contempt for wordly wealth and disdain for all the things that we possess. For it is unrighteous and blasphemous indeed if, after having renounced the vanity of the world and of everything in it, we should prefer the paltry household articles that remain to the most precious love of a brother.”. 142 Jean Cassien: Conférences VIII-XVII. S. 225f.; John Cassian: The Conferences. S. 559: „ Hence, as we have said, only the ties of a friendship which is founded upon similarity of virtuousness are trustworthy and indissoluble, for ‘the Lord makes those of one mind to dwell in his house.’ Therefore love can abide unbroken only in those in whom there is one chosen orientation and one desire, one willing and one not willing.”.

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Verhängnisvoll können sich auch die Laster der ira und tristitia, der Wut und der Traurigkeit auswirken, weshalb diese auf dem Weg zur perfectio als erste zusammen mit der superbia zu verbannen sind. Insgesamt gesehen fällt bei Cassian statt der bei Augustinus zu beobachtenden Harmonisierung paganer und christlicher Perspektive die Ersetzung und eindeutige Christianisierung der paganen loci communes auf. Sehr viel stärker als das der Titel der 16. Collatio zunächst nahelegt, wird bei ihm die amicitia in die caritas integriert. Entscheidend bleibt allerdings, daß er, wie auch Augustinus, die amicitia spiritualis als Ideal monastischen Lebens entwirft. Dieser Aspekt ist noch kurz zu vertiefen. Mit Blick auf Cassian und Augustinus kann man sagen, daß es bei der christlichen amicitia nicht einfach nur um eine Nahbeziehung mit hohem Prestigewert geht, sondern um eine Lebensform, nämlich um die der spirituellen Gemeinschaft, wie sie charakteristisch für das monastische Leben ist. Als Mönch zu leben bedeutet, eine soziale Gemeinschaft mitzuverkörpern, die sich von der Gesellschaft, auch von einer christlichen, wesentlich abgrenzt. Man entscheidet sich, mit anderen zusammenzuleben entsprechend dem paulinischen Gebot: „Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer. Wer den andern liebt, der erfüllt das Gesetz.“ (Röm. 13, 8)143. Augustinus brachte in seiner Konzeption klösterlichen Lebens paulinische Theologie und die bereits bestehende monastische Tradition zusammen. „In this synthesis of Pauline theology and monastic tradition Augustine incorporated some of the ideas in which the social thinkers of Antiquity had outlined images of the perfect society. Thus the Stoic ideal of friendship found its fulfilment in monasticism.”144 Entscheidend hierbei ist, daß zunächst Freundschaft als soziale Form des Zusammenlebens für monastische Gemeinschaften entwickelt wird, und zwar als Alternative und in Abgrenzung zur (östlichen) Tradition des Eremiten und der asketischen Einsamkeit, daß sie aber in der weiteren Entwicklung zunehmend als problematisch für den Raum des Klosters angesehen wird. Freundschaft, die die Grundlage für das Miteinander in der Gemeinschaft ist, die in ihrer Nähe zu Gott und einem gottgefälligem Leben der idealen Gesellschaft, der civitas dei am nähesten kommt, stellt zugleich die Gefährdung dieser Gemeinschaft dar. Schon Basilius der Große etwa warnt vor Freundschaften im Kloster, die die Gemeinschaft sprengen. Gleichwohl bleibt sie ein Thema, das im Zusammenspiel von

143 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg, Basel, Wien 2003, S. 1270. Im griechischen Original lautet die Stelle: „ƍƧƤƥƭƟ ƬƧƤƝƭ ƯƶƥƟƫƥƴƥ, ƥƟ Ƭƞ ƴƼ ơƫƫƫƯƵƲ ơƣơươƭ ź Ư ƣƜƱ ơƣơưƹѺƭ ƴƼƭ ƝƴƥƱƯƭ ƭƼƬƯƭ ưƥưƫƞƱƹƪƥƭ.“ Novum Testamentum Graece. Hrsg. v. Eberhard Nestle und Kurt Aland. Stuttgart 1969, S. 418. 144 Markus, R.A.: The End of Ancient Christianity. Cambridge u.a. 1990, S. 80.

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theoretisch-normativen Texten, praxisbezogenen Diskursen wie den Ordensregeln und dem Alltag der Klosterangehörigen einen festen Platz hat. Aber auch in einem allgemeineren Kontext ist insbesondere Augustinus’ Nachdenken über Gemeinschaft und Organisation einer christlichen Gesellschaft relevant, da dieser Aspekt so wichtig für das gesamte Mittelalter wird: „Gemeinschaftssinn war eines der stärksten und konstantesten sozialen Merkmale des Hochmittelalters”145. Beziehungen vielfältigster Art werden geknüpft; wo keine Blutsverwandtschaft vorliegt, verbindet man sich oftmals durch die noch höher zu wertende geistliche Verwandtschaft, etwa in Gestalt der Patenschaft. „Sehr deutlich wird [...], welche Stärke der Gedanke der familia im mittelalterlichen Sinne besaß – einer durch das gemeinschaftliche Leben künstlich geschaffenen, über den eigentlichen Stammbaum hinausreichenden Verwandtschaft“146. Freundschaft spielt hierbei eine große Rolle wie beispielsweise Verena Epp darlegt, die die Bedeutung von amicitia in ihren verschiedenen Dimensionen für das Frühmittelalter betont. Was läßt sich resümierend sagen? Mit der Christianisierung paganer antiker Freundschaftsvorstellungen wird Gott die Basis der wahren amicitia, aber Tugend und sittliche Vollkommenheit verschwinden nicht als Kriterien der Beurteilung des (potentiellen) Freundes. Andererseits kann man vergleichend feststellen, daß den Platz der Tugend nun der christliche Glaube füllt – virtus ist Tugend im christlichen Sinn und meint das Streben nach der Erkenntnis Gottes und die Sorge um das Seelenheil. Die Übernahme des Gedankenguts zu amicitia und ihre Verbindung mit der caritas, wie sie vor allem Augustinus leistet, ist für das Mittelalter von weitreichender Bedeutung. Denn damit werden solche Aspekte wie Verwandtschaft relativiert, was nicht unwichtig ist, wenn man den klerikalen Hintergrund der Bildung der in Frage kommenden Autoren der höfischen Literatur und ihres textuellen Umfeldes bedenkt: Hier ist auch immer der Anspruch zu vermuten, daß eine Synthese christlicher Ideale und antiker Traditionen als Gegenentwurf zur aktuellen politisch-sozialen Realität postuliert werden bzw. daß ein allgemeingültiges Ethos für die gesellschaftliche Elite dargelegt und zugleich möglicherweise auch wieder problematisiert wird, in dem einerseits die Grenzen in den literarischen Texten erzählt werden und andererseits weitere, auf andere Aspekte aus-

145 Burguière André / Klapisch-Zuber, Christiane / Segalen, Martine / Zonabend, Françoise (Hrsg.): Geschichte der Familie. Bd. 2: Mittelalter. Frankfurt a.M., New York 1997, S. 146. 146 Burguière André / Klapisch-Zuber, Christiane / Segalen, Martine / Zonabend, Françoise (Hrsg.): Geschichte der Familie. Bd. 2: Mittelalter. S. 146.

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gerichtete Diskurse einfließen. Familie und Verwandtschaft etwa markieren dann nur noch einen von mehreren möglichen Bezugspunkten.147 Noch einmal zu erinnern ist auch der Aspekt des Anfangs/der Initiation einer Freundschaft. Die klassischen antiken Theorien betonen die freie rationale Wahl des Freundes, die in der Regel aufgrund bestimmter Qualitäten – virtus – erfolgt, und die bei einem selbst liege. Die christlichen Autoren dagegen verweisen auf die amicitia spiritualis als Ausdruck der Liebe Gottes, die Grundlage, Ursache und Ausgangspunkt für alle freundschaftliche Liebe ist. Folgt man dieser Argumentation, ist kein Initiationsmoment mehr nötig, denn die Freundschaft ist immer schon gegeben, weil sie durch Gottes Liebe entsteht, durch die ohnehin alle Gläubigen miteinander verbunden sind. Dieser Gedanke scheint tief ins Bewußtsein der litterati des Mittelalters gesunken zu sein, jedenfalls wäre das eine Erklärung dafür, warum in den höfischen Romanen kaum der Beginn und das Warum einer Freundschaft geschildert oder erklärt wird: Das Moment der Wahl spielt eben keine Rolle, weil die Besten allein schon durch ihre Vorbildlichkeit im Sinne christlicher Tugend und durch die Liebe Gottes miteinander verbunden sind. Präsent sind die spätantiken christlichen Diskurse zu amicitia und caritas wie auch die Anknüpfung an die antik-paganen Freundschaftskonzeptionen, insbesondere die Ciceros, im 12. Jahrhundert vor allem bei den Zisterziensern.148 Um 1160 verfaßt der Zisterzienserabt Aelred von Rievaulx einen Traktat über die geistliche Freundschaft, De spirituali amicitia. Damit entsteht ein Text zu dem Thema, der seit Augustinus am engsten an Ciceros Laelius anschließt und der vor allem seit der Spätantike die erste eigenständige Abhandlung zu diesem Thema darstellt.149 Das Werk ist als Gespräch konzipiert, in dem Aelred sich mit seinen Mitbrüdern unterhält und biographische Erfahrungen beisteuert. Aelred benennt den Ausgangspunkt der Freundschaft folgendermaßen: „Fons et origo amicitiae amor est, nam amor sine amicitiae esse potest, amicitia sine amore numquam.“150 Für seine erste Definition der 147 Klaus Schreiner beschreibt z.B. die Verschiebung der Maßstäbe im Hochmittelalter bei der Postenvergabe, weg vom Verwandtschaftsprinzip, im klerikalen Bereich: Schreiner, Klaus: ‚Consanguinitas’. ‚Verwandtschaft’ als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters. 148 Für einen Überblick der Freundschaftsthematik im monastischen Bereich bis zum 12. Jahrhundert siehe McGuire, Brian Patrick: Friendship and Community.; Köpf, Ulrich: Das Thema der Freundschaft im abendländischen Mönchtum bis zum 12. Jahrhundert. In: Appuhn-Radtke, Sibylle / Wipfler, Esther P. (Hrsg): Freundschaft. S. 25-44. 149 Vgl. dazu McGuire, Brian Patrick: Friendship and Community. S. 296-338. 150 Der Text wird nach folgender Ausgabe zitiert: Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. Lateinisch / Deutsch. Ins Dt. übertr. v. Rhaban Haacke, eingel. v. Wilhelm

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Freundschaft zitiert er die berühmte Formel Ciceros151 –„Amicitia est rerum humanarum et divinarum cum benevolentia et caritate consio“152 – und verwendet weitere antike Topoi wie etwa das Bild der Freunde als cor unum et anima una. Aelreds Umgang mit Cicero ist gekennzeichnet „durch bewahrende Aneignung des Alten aus dem umwandelnden Geist des Neuen“153, er verbindet antik-pagane und christliche Freundschaftsvorstellungen.154 Darin drückt sich eine Offenheit gegenüber der antiken paganen Tradition aus, die paradigmatisch für das neue Verhältnis der Gelehrten im 12. Jahrhundert zum antiken Erbe ist. „Das Innovative Aelreds bleibt seine Rückbesinnung auf die Exklusivität von Freundschaftsbeziehungen, wie sie bereits in der Zeit der Kirchenväter und von antiken Autoren vorgedacht worden war.“155 Denn während caritas sich auf alle, also auch auf Feinde richte, könne es wahre Freundschaft nur unter denen geben, die auch im Glauben vereint sind. Wie bei Cassian ist vera amicitia, so Aelred, nur bei den perfecti möglich:156 Dieser Nexus von Freundschaft und Weisheit wird immer wieder aufgegriffen. Der Höhepunkt wird in der Frage, „Deus amicitia est?“157, erreicht, die zunächst an den Abt gerichtet ist; ein kühner Satz und Aelred läßt ihn stehen. Ähnlich dem aristotelischen Dreier-Schema unterscheidet Aelred sinnliche, weltliche und geistige Freundschaft.158 Die amicitia carnalis erwächst aus der Gemeinsamkeit des Lasters, sie hat nur den sinnlichen Genuß im Sinn und ist nicht von Dauer; die amicitia mundialis entsteht aus dem Streben nach Gewinn und ist meist trügerisch und kurzlebig, weil sie nur auf Vergrößerung des Besitzes aus ist; die amicitia spiritualis dagegen verbindet

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Nyssen. (Occidens. Horizonte des Westens, Bd. 3) Trier 1978, S. 54: „Quelle und Ursprung der Freundschaft ist die Liebe, Liebe ohne Freundschaft kann es geben, Freundschaft ohne Liebe niemals.“ (S. 55). Cicero: Laelius de amicitia. 6, 20. Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. S. 8: „Freundschaft ist die mit Wohlwollen und Liebe gepaarte Übereinstimmung in der Auffassung göttlicher und menschlicher Dinge“. (S. 9). Ohly, Friedrich: Außerbiblisch Typologisches. Zwischen Cicero, Ambrosius und Aelred von Rievaulx. In: Rücker, Helmut / Seidel, Kurt Otto (Hrsg.): Sagen mit Sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. (GAG, Nr. 180) Göppingen 1976, S. 19-37, S. 25. Rener, Monika: Ein Humanist im 12. Jahrhundert: Aelred von Rievaulx, De spiritali amicitia. In: Kürkel, Boris / Licht, Tino / Wiendlocha, Jolanta (Hrsg.): Mentis Amore Ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag. Heidelberg 2001, S. 395-409. Schuster, Peter: Aelred von Rielvaulx und die amicitia spiritualis. Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. Ebd. S. 24. Ebd. S. 16.

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die Guten, die sich in geistigen und weltlichen Dingen gleichen – nur auf sie trifft Ciceros Definition zu.159 Aelred charakterisiert diese wahre Freundschaft mit den Kardinaltugenden prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia160 und weist ihr darüber hinaus die Eigenschaften dilectio, affectio, securitas und iucunditas zu.161 In einer solchen Beziehung gilt: „nihil scilicet negandum amico, nihil pro amico non sustinendum“162. Freundschaft, wenn sie so verstanden und gelebt wird, ist der Weg zur Erkenntnis und zur Vollkommenheit und erreicht ihre höchste Stufe in der Übereinstimmung der Freunde in Gott.163 Mit Aelreds Text steht um 1200 ein Freundschaftsdiskurs zur Verfügung, der christliches und antik-paganes Denken zusammenführt und ein Modell der Tugendfreundschaft anbietet, daß möglicherweise auch in anderen Textbereichen Eingang findet. Für die höfische Epik ist daher am Beispiel des Iwein im nächsten Kapitel zu fragen, ob die amicitia spiritulis ein mögliches Referenzsystem für die Thematisierung von Freundschaft in den literarischen Texten bildet.

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Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. S. 16f. Ebd. S. 18. Ebd. S. 70. Ebd. S. 50: „Nichts darf man dem Freund versagen, alles und jedes muß man ihm zuliebe auf sich nehmen“. (S. 51). 163 Ebd. S. 34.

3. Freunde und Liebende

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3. Freunde und Liebende Trotz der theologischen Diskussion von Freundschaft im monastischen Bereich ist das Thema, das meist in einem Atemzug mit der neuen volkssprachlichen Literatur des 12. Jahrhunderts genannt wird, die Liebe, nicht die Freundschaft.164 Der neue Liebesdiskurs der volkssprachlichen höfischen Literatur mit seinem Minneideal beherrscht die Szene und verdeckt gelegentlich den Blick auf die anderen nichtverwandtschaftlichen Nahbeziehungen. Klaus van Eickels verweist auf die Veränderungen im Feld der Nahbeziehungen im 12. Jahrhundert und dabei u.a. auf die neue Bedeutung, die in den theologischen Texten der Freundschaft in der Ehe zukommt.165 Die Überschneidungen zwischen beiden Diskursen sind vielfältig, und es spricht einiges dafür, daß ausgehend von der lateinischen Literatur, vor allem der lateinischen Lyrik, die Sprache der Freundschaft im 12. Jahrhundert für die Sprache der Liebe funktionalisiert wird.166 Wie eng beide auf der Diskursebene zusammenhängen, läßt sich beispielsweise an den Bearbeitungen des Pyramus und Thisbe-Stoffs im 12. Jahrhundert zeigen. Das Motiv der einen Seele in zwei Körpern, das in der Freundschaftstradition eine lange Tradition hat, wird auf ein Modell heterosexueller Liebe übertragen. Entsprechend ist es auch möglich, die Geschlechterbeziehungen der höfischen Dichtung, etwa die Tristan und Isolde-Minne mit dem Freundschaftsdiskurs zu lesen.167 “In antiquity, in the Middle Ages, even still in Shakespeare, perfect love was regarded as a form of perfect friendship; and a person who could not maintain a perfect friendship was not ready to be a perfect lover or a perfect spouse.”168 Diese 164 Eickels, Klaus van: Tradierte Konzepte in neuen Ordnungen. S. 102f. Hintergrund hierfür sind nicht zuletzt die Bestrebungen der Kirche, die Konsensehe zu installieren – Hugo von St. Victor etwa spricht von der Ehefrau als der Gefährtin des Mannes; siehe auch: Leclercq, Jean: Monks and Love in Twelfth-Century France. Psycho-Historical Essays. Oxford 1979. 165 Vgl. dazu: Glendinning, Robert: Pyramus and Thisbe in the Medieval Classroom. In: Speculum 61 (1), 1986, S. 51-78, S. 73. 166 Ziolkowski, Jan M.: Twelfth-century understandings and adaptations of ancient friendship. In: Wel-kenhuysen, Andries / Braet, Herman / Verbeke, Werner (Hrsg.): Mediaeval Antiquity. (Mediaevalia Lovaniensa, Series I, Studia 24) Leuven 1995, S. 59-81. 167 Seeber, Stefan: ‘Ein vriuntlîchez zornelîn’. Zu den Freundschaftsdarstellungen in den deutschen Tristanbearbeitungen des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Oxford German Studies 36 (2), 2007, S. 268-283, S. 278f.; Reiss, Louise Horner: Tristan and Isolt and the Medieval Ideal of Friendship. In: Romance Quarterly 1, 1986, S. 131-137; Stevens, Adrian: Im Auftrag der Freundschaft? Gottfried, Thomas und die Diskurse der Freundesliebe im Tristanroman. In: Andersen, Elizabeth / Eikelmann, Manfred / Simon, Anne (Hrsg.): Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. (Trends in Medieval Philology, Bd. 7) Berlin, New York 2005, S. 85-99. 168 Ziolkowski, Jan M.: Twelfth-Century Understandings and Adaptations of Ancient Friendship. S. 81.

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II. Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

enge Verbindung von Liebe und Freundschaft begegnet bereits bei Platon. Im Symposion, das die platonische ƝƱƯƲ-Konzeption vorstellt, gehen Freundschaft und Liebe in eins und sind verknüpft mit Erkenntnis, dem Aufstieg zur Schau des Göttlichen. Es ist zweifellos kein Zufall, daß in dem Moment, in dem Freundschaft infolge verstärkter Rezeption antiken Gedankenguts zum Gegenstand eines neu erwachten Interesses wird, und im Zuge dessen auch die Möglichkeit einer (geistlichen) Freundschaft zwischen Mann und Frau erörtert wird, auch die Liebe wieder auf den Plan tritt. Deshalb sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum Neben-, Mit- und Gegeneinander von Liebe und Freundschaft angestellt werden. 3.1 Freundschaft und Liebe: Gegensätzliche und ähnliche Tendenzen Zu Recht stellt Silvia Bovenschen fest, daß Liebe im Gegensatz zu Freundschaft über eine eigene Sprache, Rituale, Bilder, Räume etc. verfügt. „Wie legenden- und bilderarm nimmt sich dagegen das Sprechen über die Freundschaft aus. [...] es gibt gleichwohl keine Sprache der Freundschaft – so, wie es eine Sprache der Liebe gibt.“169 Zwar kennt die Freundschaftsthematik Topoi, wie im ersten Teil dieses Kapitels beschrieben, doch die Liebesthematik verfügt offensichtlich über einen ausgeprägteren Diskurs, über einen Code, der sie als Bindungsform auszeichnet. Was mit Blick auf die Liebes- und Freundschaftsgeschichte fast verwundert, lassen sich doch den bekannten Liebespaaren der Weltliteratur, des Mythos, der bildenden Künste ebenfalls wohlbekannte (in der Regel männliche) Freundespaare an die Seite stellen, und diese scheinen vor allem auch unproblematischer zu sein, denn sie sind unverdächtiger. Das unberechenbare Moment des Erotischen fällt weg. Das heißt nicht, daß erotische Anziehung für die Freundschaftspaare auszuschließen wäre (man denke nur an Achill und Patroklos) oder gar, daß nicht auch für Freundschaften generell mitunter ein erotisches Moment eine Rolle spielt. Aber das ist nicht Gegenstand des Interesses dieser Entwürfe. Allerdings liegen für die mittelalterlichen Diskurse die Dinge etwas anders, da wie bereits ausgeführt die Sprache der Liebe die Sprache der Freundschaft und umgekehrt ist.

169 Bovenschen, Silvia: Ach wie schön. Freundschaft und idiosynkratische Befremdungen. Mit einem Exkurs über ein Stück von Natalie Sarraute und einem Anhang. In: Dies.: ÜberEmpfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie. Frankfurt a.M. 2007, S. 119-148, S. 137.

3. Freunde und Liebende

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Im Mittelpunkt der gängigen Erzählungen über Freunde, vor allem im Motiv des Freundschaftsbeweises170 steht die unverbrüchliche gegenseitige Loyalität, die Selbstlosigkeit, mit der man sich für den Freund opfert, das uneingeschränkte Vertrauen und die Kraft einer Bindung, die gelegentlich auch der Liebesbeziehung übergeordnet werden kann. Die zahlreichen mittelalterlichen Erzählungen des Amicus-Amelius-Motiv171, die neben dem doppelten Freundschaftsbeweis das in Gleichheit und Tugend vereinte Freundespaar idealisieren, zeugen von der Beliebtheit und Funktionalisierbarkeit dieser Geschichte. Freundschaft – in ihrer Idealgestalt – kommt harmloser und zugleich zuverlässiger daher. Liebende wie Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Abaelard und Heloise, Dido und Aeneas faszinieren uns und sind immer ein wenig skandalumwittert, nicht zuletzt das macht ihren Reiz aus. Aber es bleibt eine, vielleicht manchmal sehnsüchtige, Distanz, eine Fremdheit, die aus dem Erschrecken und Nichtfassen-können herrührt, mit dem wir diesen Figuren begegnen. Die große romantische Liebe, die über den Tod hinausreicht – so oft auch die Literatur und Hollywood sie beschwören, es bleibt ein beunruhigender Rest Unheimlichkeit. Auch ist diese Liebe immer bedroht, ein fragiles Gebilde, kann jederzeit enden, da nur sie selbst für sich als Garant einstehen kann. Sie ist selbstreferentiell. Freundschaft dagegen verkörpert geradezu den Hort der Stabilität, sie bestand eigentlich schon immer und wird immer weiterbestehen. Der Charakter der Beteiligten, von dem die Zuneigung und Treue für den Freund nicht wegzudenken ist, stellt das sicher. Freundschaft wird als Liebe ohne Begehren imaginiert: Ein wesentliches Spannungsmoment, von dem in unseren wohlbekannten Liebesgeschichten soviel Reiz wie Unheil ausgeht, fällt von vornherein aus. Sehr wichtig scheint zudem: die Freundespaare kommen nicht in den Verdacht des moralisch Zweifelhaften wie etwa die Ehebrecher Tristan und Isolde. Selbst wenn das Umfeld mit Haß und Mißgunst auf sie sieht, stehen sie für die Rezeption doch als strahlende Helden bereit. Wenn sie scheitern, dann in den seltensten Fällen wegen oder an der Freundschaft. Die großen Liebenden dagegen sind in ihrer Liebe unglückliche Menschen, tragische Figuren, für die ein Happy End undenkbar ist. Romeo und Julia feiern nicht Goldene Hochzeit. Die Tragik und das Scheitern, nicht das Gelingen, ist geradezu die Bedingung für ihre Faszination. Schillers bzw. Verdis Don Carlos, das Freundschaftsstück schlechthin, ist ein schönes Beispiel für das Verhältnis von Liebenden und Freunden. 170 Vgl. zum Motiv des Freundschaftsbeweises Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1988, S. 196ff. 171 Feistner, Edith: Die Freundschaftserzählungen vom Typ ‚Amicus und Amelius’. In: Matzel, Klaus / Rohloff, Hans Gert unt. Mitarb. v. Barbara Haupt u. Hilkert Weddige (Hrsg.): Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Bern u.a. 1989, S. 97-130.

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II. Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

Die Freundschaft zwischen dem Marquis Posa und Don Carlos ist die einzige tatsächlich funktionierende Beziehung, die Liebeskonstellationen hingegen sind allesamt nicht realisierbar: Der König klagt über seine unerwiderte Liebe zu seiner Frau, Carlos liebt Elisabeth bis zur Verzweiflung, doch ist bei ihr die Vernunft stärker als das Gefühl für den Prinzen, Eboli liebt Carlos, ohne von diesem geliebt zu werden, und die Rache der Zurückgewiesenen wirkt als Katalysator für die Katastrophe. Posa dagegen opfert sich für den Freund, um ihn zu retten, damit er den gemeinsamen Traum – Aufklärung und Freiheit für die unterdrückten Völker – realisieren kann. Freundschaft, so scheint es, ist die unproblematischere Bindung. Sie weiß sich frei von ethisch-moralischen Verdächtigungen, steht im Einklang mit sozialen Bedürfnissen – sie kann als Grundlage gesellschaftlicher Organisation begriffen werden – , vereint eine Reihe von Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, gegenseitige Hilfe, Vertrauen, Stabilität – eine Zuneigung, die nicht ohne weiteres zu erschüttern ist – , die in der Regel auf ungeteilte Zustimmung treffen, und sie kennt nicht die mitunter fatale und egoistische Unbedingtheit und Ausschließlichkeit der Liebe. Darin könnte auch der Grund für die fehlende Freundschaftssprache liegen: Sie hat es einfach nicht nötig. Die Liebe hingegen erscheint immer auch unheimlich und bedrohlich, sie ist nicht kalkulierbar. Daher bedarf sie der Codes, der Rituale, der Räume, Bilder und Institutionen. Sie muß auf diese Weise zivilisiert werden, um gesellschaftsfähig zu werden. Der Aufwand ist ungleich größer als bei der Freundschaft, und das Ergebnis ist ein unverwechselbarer, komplizierter Liebesdiskurs, der wiederkehrend (bei Sappho, Ovid, im spätantiken Liebesroman, im Minnesang des Hochmittelalters, in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in der Empfindsamkeit172 und Romantik) bis zur Unerträglichkeit gesteigert und ‚ausdifferenziert’ wird. Die Allgewalt der Liebe gilt es zu zähmen, und die tragischen Liebespaare verkörpern den Absolutheitsanspruch dieses Gefühls, der zugleich faszinierend und beängstigend ist und der zwar Rausch und Ekstase vermitteln kann, nie aber den Eindruck der gelassenen Heiterkeit und tiefen ausgeglichenen Zustimmung, die die Demonstration unerschütterbarer Freundschaft wie etwa in Schillers Bürgschaft auslöst. So verwundert es nicht, daß sich unter den zahlreichen und facettenreichen Konzeptionen und Theoretisierungen, die die Liebe im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat, etliche finden, die dieses Gefühl denunzieren. Spätestens seit Platon kann man einen himmlischen und einen irdischen eros unterscheiden und daraus folgend die gute und die schlechte Venus. Zwar hat Aristoteles sein Dreitypenmodell, doch ist das vielleicht weniger 172 Man denke an Dramen des bürgerlichen Trauerspiels wie Lessings Miss Sara Sampson.

3. Freunde und Liebende

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wertend und mehr deskriptiv zu verstehen als manche seiner Interpreten meinen, und Cicero schreibt im Laelius auch über falsch verstandene Freundschaft,173 doch im kulturellen Gedächtnis spielt das wohl eine untergeordnete Rolle. Des weiteren ist eine von der Antike bis weit in die Neuzeit prominente Liebestheorie die der Liebeskrankheit, des Liebeswahns, einen Diskurs der Freundschaftskrankheit dagegen sucht man vergeblich. Für Freundschaft wird ein ebenso hoher Anspruch postuliert wie für Liebe. Natürlich gibt es auch die vorbildlichen Liebenden, das glückliche Paar. Doch was sie auszeichnet und das dämonische Moment, die Nachtseite der Liebe vergessen läßt, ist eben die Nähe ihrer Bindung zur Freundschaft. Man denke an Goethes Wahlverwandtschaften, an Albert und Lotte in seinem Werther, an all die Prinzen und Prinzessinnen der Grimmschen Märchen, an die Paare der Grals- und Artusromane (mit Ausnahme von Tristan und Isolde, Lancelot und Ginover).174 3.2 Männerfreundschaft und Frauentausch Wirft man einen Blick zurück ins erste Kapitel und auf die sozialwissenschaftliche und historische Forschung zum Thema Freundschaft, lassen sich zunächst – ganz grob – zwei Richtungen feststellen, die sich mit Jost Hermand folgendermaßen beschreiben lassen: Im Rahmen des einen Trends wird das Phänomen „Freundschaft“ unter sozialhistorischer Perspektive weitgehend als ein der Vergangenheit angehöriger Vorstellungskomplex hingestellt, dessen sozialethischer Impuls in der heutigen marktwirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaft, zu der es keine sozioökonomischen Alternativen mehr gäbe, seine bisherige Funktion verloren habe. Innerhalb des anderen Trends wird dagegen die Abschwächung des sozialethischen Pathos im Rahmen älterer Freundschafts- und Solidaritätskonzepte als ein willkommener Aufbruch in einen vielfältig ausdifferenzierten menschlichen Beziehungsreichtum begrüßt, durch den gerade die private Freundschaft in steigenden Maße an Bedeutung gewinne.175

Die erste Position wird mittlerweile auch von soziologischer Seite wieder relativiert, da man die Bedeutung von Freundschaftsnetzwerken nicht nur im privaten, sondern etwa auch im beruflichen Bereich entdeckt. Die zweite Position ist die interessantere, bietet sie doch die Möglichkeit, ein173 Cicero relativiert das aber sogleich wieder: Vera amicitia, wahre Freundschaft, besteht nur zwischen den Guten, den ethisch Vollkommenen und diese sind zu einer falsch aufgefaßten Freundschaft gar nicht fähig. Cicero: Laelius. 174 In Shakespeares Komödien sind Freunde und Liebende kaum zu unterscheiden. 175 Hermand, Jost: Freundschaft. Zur Geschichte einer sozialen Beziehung. (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Kl. Reihe, Bd. 22) Köln, Weimar, Wien 2006, S. 4f.

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II. Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

mal genauer nach dieser Bedeutung und Wertschätzung zu fragen, allerdings ohne im Sinne irgendeines fortschreitenden Zivilisationsprozesses von einer gesteigerten Bedeutung der Nahbeziehung Freundschaft in der Postmoderne auszugehen. Was wird in den gängigen Geschichten über Freundschaften entworfen? Es geht dabei um Spannungen des Freundschaftsbegriffs, um die Spannung zwischen dem Ideal, den theoretischen Konzeptionen und den Praktiken. Viele Probleme, die mit dem Begriff der Freundschaft verbunden sind, sind im Laufe der Zeit immer wieder neu akzentuiert worden, einige aber sind konstant geblieben, darunter eben das Verhältnis von Liebe und Freundschaft. Es finden sich viele Beispiele, in denen die Freundschaft über die Liebe gestellt wird; dabei ergibt sich meist die Konstellation eines männlichen Freundespaar und einer Frau – als Geliebte des einen oder als Objekt des Begehrens beider. Letzteres läßt aus den Freunden Rivalen oder gar Feinde werden, eine Entscheidung muß fallen, und die fällt nicht selten zugunsten der Freundschaft.176 Die Frau kann das Pfand, die Bewährungsprobe der Freundschaft werden. Zwei Textbeispiele mittelalterlicher und spätmittelalterlicher Herkunft geben für dieses komplizierte Verhältnis einen ersten Eindruck von Freundschaftskonzeptionen in Gestalt des Freundschaftsbeweises. In den sogenannten Cambridger Liedern,177 einer Textsammlung lateinischer Lyrik des 11. Jahrhunderts, wird die Geschichte der Freunde Lantfrid und Cobbo erzählt. Von den beiden wird berichtet, daß sie allen Besitz teilten und in allen Dingen übereinstimmten. Als Cobbo, der bei seinem Freund im Exil lebt, beschließt, in seine Heimat zu seiner Familie zurückzukehren, entscheidet Lantfrid, ihm mit seiner Frau dorthin zu folgen, um dort nun seinerseits mit ihm im Exil zu leben. Als sie jedoch im Begriff sind, gemeinsam das Schiff zu besteigen, fordert Cobbo Lantfrid auf, wieder an Land zu gehen und auf seine Rückkehr zu warten. Gleichzeitig verlangt er von seinem Freund, ihm seine Frau zu überlassen, wie es Brüder untereinander tun („frater frati facias“178). Ohne zu zögern gibt Lantfrid ihm seine Frau mit den Worten, sie möge ihm gehören, damit nicht gesagt werden könne, er hätte irgend etwas allein für sich besessen und nicht mit seinem Freund Cobbo geteilt. Das Schiff legt ab, und Lantfrid sieht dem Freund nach und beschwört ihn dabei, nicht die Treue für den Freund zu vergessen. Cobbo aber erträgt es nicht, die Trauer des 176 Georges Bizets Perlenfischer sind vor diesem Hintergrund interessant, ebenso Goethes Werther und seine Dreiecksgeschichte. 177 Benannt nach ihrem heutigen Aufbewahrungsort, der University Library in Cambridge. 178 The Cambridge Songs (Carmina Cantabrigiensia). Ed. and transl. by Jan M. Ziolkowski. (Medieval & Renaissance Texts & Studies) Tempe 1998, S. 24.

3. Freunde und Liebende

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Freundes zu sehen und kehrt an Land zurück. Er gibt ihm seine Frau wieder und sagt: „’en habes, perdulcis amor,/quod dedisti, intactum / ante amoris experimentum. / iam non est quod experiatur ultra; / ceptum iter relinquam.’“179 Von Freundschaft kann man hier insofern sprechen, als ein bestimmtes und bekanntes Konzept von Freundschaft bedient wird, denn der Text rekurriert in mancher Hinsicht auf das antike Freundschaftsideal, wie es etwa in Ciceros Laelius zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus scheint eine ‚Freundschaftskasuistik’180 im Spiel zu sein: Freundschaft ist dann gegeben, wenn in einer konkreten Situation spezifische Verhaltenskriterien erfüllt werden; im Testfall Lantfrid und Cobbo fungiert der Frauentausch als Treuebeweis. Das zweite Beispiel stammt aus Giovanni Boccaccios Decamerone, eine ähnliche Geschichte wird in den Gesta Romanorum erzählt. Den Römer Titus und den Athener Gisippus verbindet eine enge Freundschaft, die soweit geht, daß Gisippus dem Freund seine Verlobte abtritt, da Titus krank vor Liebe zu ihr ist und sterben will. Jahre später kommt der völlig mittellose Gisippus auf der Suche nach dem Freund nach Rom. Als er dort in große Gefahr gerät, rettet Titus ihm das Leben, gibt ihm seine Schwester zur Frau, und fortan leben sie gemeinsam in Rom.181 Bei dieser Konstellation bleibt die Schlußfolgerung, daß es nicht darum geht, eine Liebesgeschichte zu erzählen. Vielmehr ist der Zustand des liebeskranken Titus Anlaß der Demonstration der Freundschaft, die im Grunde auch schwerer wiegt als die Ehe. Titus zeigt typische Symptome der Liebeskrankheit – Appetit- und Schlaflosigkeit und infolgedessen Entkräftung – , die das selbstlose Handeln seines Freundes auslösen. Gisippus ist bereit zu verzichten, weil ihm der Freund mehr bedeutet als die Frau und erweist dadurch seine Charakterstärke. Auch hier steht die Freundschaft über sämtlichen anderen Werten. Gisippus gibt die Frau an den Freund weiter und nimmt dafür Ehrverlust, Armut und die Schande seiner Familie auf sich; Titus ist bereit, für den Freund in den Tod zu gehen. Selbst bei einem Autor wie Siegfried Kracauer entsteht bei der Lektüre von Über die Freundschaft der Eindruck, daß letztlich die „ideale“ Freundschaft, verstanden als „das Sich-Finden zweier Menschen, ihrem ganzen 179 Ebd. S. 26: „Here you have, my sweetest love, what you gave, untouched before the test of love. Now there is nothing further to be tested; I will abandon the journey I began.” (S. 27). 180 Ziolkowski, Jan M.: Twelfth-century understandings and adaptations of ancient friendship. S. 69. 181 In den Gesta Romanorum spielt die Geschichte in Ägypten, ist aber in ihrem Ablauf die gleiche. Gesta Romanorum. Translated from the Latin by the Rev. Charles Swan, revised and corrected by Wynnard Hooper. London 1905, S. 322ff.

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II. Freundschaftsdiskurse: Vorgeschichten

im Ich-Bewußtsein zusammengefaßten Wesen nach“, der Liebe vorzuziehen ist.182 In Cervantes Don Quichotte wird die Geschichte von den beiden Freunden erzählt, die sämtliche Motive der Freundschaftsliteratur aufgreift und miteinander verknüpft und so in eine nahezu aporetische Situation führt: Zu Beginn werden die beiden unzertrennlichen Freunde vorgestellt, die ein Bild von einem harmonischem Freundespaar sind. Die Probleme beginnen als einer der beiden heiratet. Der frisch Verheiratete bittet seinen Freund, für ihn die Treue seiner Frau auf die Probe zu stellen, indem er vorgibt, sie verführen zu wollen. Der so Bedrängte sträubt sich zunächst, gibt aber dann den hartnäckigen Bitten des Ehemanns nach. Es kommt wie es kommen muß. Die Keuschheitsproben führen zum Ehebruch, der gehörnte Ehemann ist zuerst ahnungslos, schöpft aber schließlich Verdacht, und der Freund verstrickt sehr mehr und mehr in Lügen. Nach etlichen Verwicklungen endet die Geschichte für alle Beteiligten tragisch. Im Grunde führt die Erzählung die überzogenen Erwartungen an die Freundschaft vor: durch den Frauentausch, der nicht beabsichtigt war, durch Vertrauen und Mißtrauen an der jeweils falschen Stelle, durch das Beharren auf zweifelhaften Freundschaftsbeweisen und vor allem durch die hohe Erwartungshaltung auf allen Seiten. Der tragische Ausgang der Erzählung zeigt die Überforderung des Alltags durch das Ideal, an dem die Beteiligten zerbrechen. Die Überblendung und Verknüpfung der Diskurse ist in diesem Fall ein Beispiel für die Unmöglichkeit, das Nebeneinander von Liebe und Freundschaft zu erzählen. Die Verbindungen von Ehe, Liebe, Erotik und Freundschaft führen uns einmal mehr zum Spannungsverhältnis von Moderne und Vormoderne, die so oft für diese kulturanthropologische Phänomenen geltend gemacht wird, etwa bei Anthony Giddens.183 Statt von einer Ausdifferenzierung von Liebe und Freundschaft in der sogenannten Moderne oder der Entwicklung eines romantischen Liebesdiskurses auszugehen, ist es möglicherweise zutreffender von Hoch-Zeiten oder ‚Konjunkturen’ beider Beziehungssysteme bzw. ihrer verstärkten Korrelation und Verschränkung in bestimmten Zeiten zu sprechen.184 Entscheidend ist dann, wie sich das Verhältnis beider Nahbeziehungen jeweils gestaltet, etwa, ob in den Tex182 Kracauer, Siegfried: Über die Freundschaft. Essays. Frankfurt a.M. 1971, S. 38; weiterhin S. 30 u. S. 40-50. 183 Giddens, Anthony: The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societes. Cambridge 1992, S. 38ff. 184 Das Projekt der Liebenden, die zugleich auch Freunde sind, erlebt in Friedrich Schlegels Lucinde eine erneute Umsetzung – die Frau ist Geliebte, Ehefrau und Freundin des Mannes und begegnet ihm geistig auf Augenhöhe. Das erotische und das intellektuelle Moment sind vereint. Goethes Wahlverwandtschaften sind in dieser Hinsicht ebenfalls interessant, ebenso wie weitere Texte der Romantik.

3. Freunde und Liebende

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ten der höfischen Epik Liebe stärker problematisiert wird als Freundschaft – mm wie die oben angeführten Gedanken zu Liebenden und Freunden vielleicht nahelegen – , was im folgenden Kapitel am Iwein untersucht werden soll. Entwirft die höfische Epik im 12. Jahrhundert neue, eigene Freundschaftsbilder, so wie sie eigene Minnediskurse entwickelt? Oder werden tradierte Konzepte adaptiert und transformiert? Zu fragen ist, inwieweit Freundschaft und in welcher Form zum höfischen Ideal gehört, und zwar in einer (Roman-) Gesellschaft, der primär agonale, antagonistische Strukturen zugrunde liegen und in der selbst Freunde und Brüder, wenn auch meist unwissentlich, miteinander kämpfen. Heroische Freundschaft zwischen Männern ist eine Konstante in der europäischen kulturellen Tradition: A persistent literary tradition has developed from pre-Babylonian times, appearing among ancient Semites, pagan Greeks, medieval Christians, and the modern secular West. The tradition always dramatizes the devotion between male friends, usually a dyad, forged in an agonistic setting.185

Die Protagonisten besteht zusammen Abenteuer und stellen ihre Freundschaft gegenseitig unter Beweis. Zwischen ihnen bestehen die engsten Bindungen, die unter Umständen auch gegenüber anderen Bindungen, etwa der Geschlechterbeziehung, bevorzugt werden. Das geht meist einher mit dem heroischem Männerideal des Kriegers186 Diesem Diskurs von Männerfreundschaften in der höfischen Epik ist im vierten Kapitel nachzugehen.

185 Hammond, Dorothy / Jablow, Alta: Gilgamesh and the Sundance Kid: The Myth of Male Friendship. In: Brod, Harry (Hrsg.): The Making of Masculinities. The New Men’s Studies. Boston u.a. 1987, S. 241-258, S. 245. 186 Hammond, Dorothy / Jablow, Alta: Gilgamesh and the Sundance Kid. S. 254ff.

III Case Study Iwein: Nahbeziehungen und mögliche Kontexte Texte, die von so elementaren Gegenständen wie Freundschaft oder Liebe handeln, sind einerseits durch die sozialen, politischen und moralischen Einstellungen und Denkmuster ihrer Zeit geprägt, denn, wie Stephen Greenblatt über die literarischen Werke sagt, „they are cultural by virtue of social values and contexts that they have themselves successfully absorbed“1, andererseits aber produzieren gerade literarische Texte selbst wieder Strukturen und Formen des Umgangs mit diesen Grundproblemen. Konzepte, normative Texte und Diskurse einer wie auch immer zu definierenden Realität entgegenzusetzen, greift daher zu kurz. Die Denkmuster und Vorstellungswelten geben ebenso Auskunft wie die Praxis des Alltags. Die höfische Literatur ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil sie als mit Werten durchsetzte Literatur für den Adel gelten kann, weil sie unter Umständen im Detail alltagsnahe Schilderungen liefert und zudem den Raum für die kritische Reflexion und Problematisierung der gängigen Vorstellungen und Handlungsmuster bietet. Welche Konzepte von Freundschaft werden bedient und welche Traditionen werden dabei sichtbar? Inwieweit lassen sich möglicherweise verschobene Akzente oder neue Muster erkennen, die auf ein verändertes Verständnis freundschaftlicher Beziehungen aufgrund der höfischen Werte verweisen? Im einzelnen wird es in diesem und dem folgenden Kapitel um ‚symmetrische’ (männliche) Freundschaften, um ‚asymmetrische’ Verhältnisse, um weibliche Freundschaftsbeziehungen und um cross-sexBeziehungen gehen. Es gilt, jeweils das Verhältnis zu den Kontexten herauszuarbeiten, um so den Status der Texte bzw. den der in den Texten verhandelten Nahbeziehungen zu erkennen. Welche Polysemien, welche Angebote für die gesellschaftliche Elite werden sichtbar, und welche Rolle spielen die Texte im anthropologischen Diskurs? Die erste Frage dabei muß immer sein, was überhaupt thematisiert wird, welche Nahbeziehungen wie dargestellt sind, um dann im nächsten Schritt den Bezug zu den Kontextdiskursen und/oder zum Ideal zu untersuchen. Welche Entwürfe ‚gedachter Ordnungen’ präsentieren die Texte dem zeitgenössischen und 1

Greenblatt, Stephen: Culture. In: Keesey, Donald (Hrsg.): Contexts for Criticism. Mountain View 1994, S. 445-450, S. 447.

III Case Study Iwein

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dem heutigen Leser, wie kann das Verhältnis zwischen Freundschaft und Verwandtschaft/Liebe beschrieben werden? Zweifellos geht es um die Diskussion einer geistigen und gesellschaftlichen Elite. Die Relevanz des ausgewählten Materials für das Thema Freundschaft bzw. generell für anthropologische Fragestellungen wird aber klar, wenn man sich die Bedeutung der neuen volkssprachlichen höfischen Literatur vor Augen führt: „No aspect of the acceleration of cultural change in the twelfth century is more difficult to assess than the intellectual and social implications of the new literary forms.“2 Der Nexus, den es dabei immer wieder zu beachten gilt, ist der zwischen klerikaler und höfischer Lebenswelt, denn von einer Trennung dieser beiden Bereiche in der Alltagswelt kann nicht ausgegangen werden. Und weiterhin müssen Autor- und Rezipientenebene berücksichtigt werden, um ein umfassendes Bild von den Vorstellungen zu Nahbeziehungen zu bekommen. Als erster Schritt auf dem Weg zu einem solchen umfassenden Verständnis wird im Folgenden eine Fallstudie vorgenommen, und zwar anhand des Textes aus dem Corpus, der Freundschaft ausführlich thematisiert, anhand des Iwein sowohl in Chrétiens als auch in Hartmanns Version. Wie auch Andreas Krass feststellt,3 ist der Gegensatz von in der Lebenspraxis verankerter Freundschaft und Reflexion dieses Verhältnisses, wie ihn Xenia von Ertzdorff für die Unterscheidung von höfischer Freundschaft des arturischen Romans und geistlicher Freundschaftsauffassung postuliert,4 nicht haltbar. So wie die monastische Diskussion über Freundschaft einen Bezug zum Klosterleben hat, so kennt auch die höfische Dichtung Reflexion der dargestellten Freundschaften, wenn auch in anderer Form als in geistlichen Traktaten, nämlich durch erzähltes Verhalten der Protagonisten und die Relation ihrer Bindung zu anderen Beziehungen. Eine Möglichkeit besteht darin, Freundschaftstypen als von der Textgattung abhängig anzusehen. Dafür wird vor allem die Hauptunterscheidung Heldenepik/höfischer Roman in Anspruch genommen.5 In den chansons de geste stehen nach dieser Interpretation die langjährige Verbundenheit der Freunde und die Totenklage im Vordergrund, während in den Artusromanen eine lockere Verbindung der Freunde vorherrscht, da hier die Minnebeziehung wichtiger ist. Krass hat allerdings mit seiner Analyse

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Cantor, Norman F.: The Civilization of the Middle Ages. New York 1994, S. 343f. Krass, Andreas: Achill und Patroclus. S. 67. Ertzdorff, Xenia von: Höfische Freundschaft. Gaunt, Simon: Gender and Genre in Medieval French Literature. (Cambridge Studies in French, Bd. 53) Cambridge 1995.

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III Case Study Iwein

gezeigt, daß diese Einteilung wenig sinnvoll ist, da sie den Texten nicht gerecht wird.6 Ebenfalls ist in Zweifel zu ziehen, ob die Zuordnung von höfischem Roman und Minnebeziehung sowie Heldenepos und Männerfreundschaft einer näheren Betrachtung standhält.7 Abgesehen vom größeren Augenmerk, das in den chansons de geste auf der Verbundenheit der Kampfgefährten liegt, im Gegensatz zur Mann-Frau-Beziehung,8 wird für diese Einteilung unausgesprochen das Programm des Doppelwegs9 im Artusroman in Anspruch genommen, das von der Geschlechterbeziehung seinen Ausgang nimmt, durch dessen Problematisierung in seinem Verlauf strukturiert wird und bei diesem auch wieder endet. In idealer Weise soll der Artusroman vorführen, wie ritterlicher Minnedienst und ein gottgefälliges Leben zu vereinbaren sind – Gott und Welt gefallen.10 Frau und Land auf einem ersten aventiure-Weg gewinnen, die Bewährungsprobe für Verfehlungen auf einem zweiten, schwierigeren aventiure-Weg bestehen – das ist es, was für Parzival, Iwein und Erec auf dem Programm steht. Auf den ersten Blick scheint sich das auch zu erfüllen. Auf den zweiten wird das vielleicht schon zweifelhaft und damit auch die Gewichtung und Bewertung von Nahbeziehungen. Insbesondere für den Iwein Hartmanns, der Gegenstand dieser Fallstudie ist, muß in Frage gestellt werden, ob das Ende des Romans tatsächlich ein Kräftegleichgewicht herstellt. Zwar hat Iwein die durch sein Versäumnis verlorene Ehre in zahlreichen gefährlichen Kämpfen wiederhergestellt, er ist wieder ein vollwertiges Mitglied der Artusgesellschaft11 und hat auch seine Frau zurück und diese damit auch wieder einen Landesverteidiger, doch bedeutet das im Grunde nur eine Neuauflage der alten Probleme. Vor allem die ‚Versöhnung’ mit Laudine ist ausschließlich Lunetes Vermittlung zu verdanken und kommt nicht zuletzt deswegen zustande, weil sich für Laudine kaum ernsthafte Alternativen 6 7 8 9

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Krass, Andreas: Achill und Patroclus. Vgl. Kay, Sarah: The Chansons de geste in the Age of Romance. Political Fictions. Oxford 1995, S. 26-48. Rolands Verlobte spielt gegenüber der Freundschaft von Roland und Oliver nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist nur, daß sie als Schwester Olivers als Tauschobjekt fungiert. Zum Sinn und Unsinn des Modells des Doppelwegs siehe Schmid, Elisabeth: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Tübingen 1999, S. 69-85. Zu diesem Themenkomplex siehe u.a. Dallapiazza, Michael u.a. (Hrsg): Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Göppingen 1990; Fischer, Hubertus: Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmann von Aue’s Iwein. Vorarbeiten zu Poetik des höfischen Epos. München 1983. Für die Artusgesellschaft hat er allerdings diesen Status auch nie verloren.

III Case Study Iwein

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bieten. Dieses Ende ist keine Lösung, sondern ein Dilemma. Walter Haug fragt zu Recht, was denn an dieser Situation besser sei als am Anfang und als überzeugende Überwindung einer Krise gelten könne.12 Iwein kehrt zwar zu seiner Frau zurück, jedoch bedeutet das einen erneuten Abbruch der Beziehungen zur Artusgesellschaft. Das Dilemma also, das Gawein in seiner Mahnung an den Freund nach dessen Hochzeit formuliert hat, wiederholt sich: „Und wenn Yvain [...] in seine Ehe zurückkehrt, wird er zum Quellenritter, und er ist damit, d.h. als mörderischer Verteidiger seiner Herrschaft und seiner Frau, gerade mal soweit wie Mabonagrin.“13 Die Ansprüche sind nicht miteinander vereinbar, der Versuch, Ehre, gesellschaftliche Konventionen, Herrschaftspflichten und Ehe miteinander zu verbinden, gescheitert. Aber vielleicht geht es im Iwein auch um etwas ganz anderes, um eine aporetische Situation, die vielfach ironisch gebrochen wird. Das Neben- und/oder Miteinander der Nahbeziehungen bleibt jedenfalls offen: Der Artushof und Laudines Brunnenreich sind zwei vollkommen verschiedene und voneinander getrennte Welten, Gawein besetzte die Position eines Verbindungsglieds zwischen beiden, da er Iweins Rückbindung an die Artusgesellschaft war. Was aber wird aus ihm nach Iweins Rückkehr zu Laudine, was wird aus ihrer Freundschaft? Es stellt sich aber noch eine weitere Frage, die die Beziehungen der männlichen Protagonisten betrifft: Hat Freundschaft als persönliche Nahbeziehung überhaupt eine Relevanz für die Protagonisten der Artusromane? Die Helden dieser Geschichten sind wie die modernen Helden der Hollywoodfilme prinzipiell auf sich gestellt. Iwein, Erec oder Parzival ziehen allein durch die Welt und bestehen aufgrund ihrer außerordentlichen Fähigkeiten ihre Feuerproben. Zwar hat Iwein einen Löwen als Gefährten und Erec ist in Begleitung von Enite unterwegs, doch ändert das nichts daran, daß der Fokus eindeutig auf dem Weg des Helden liegt.14 Und dieser Held ist unabhängig und stark, und sein Anspruch ist es, wenn 12

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Haug, Walter: Die neue Poetologie der vulgärsprachlichen Dichtung des 12. Jahrhunderts. In: Haubrichs, Wolfgang / Lutz, Eckart C. / Vollmann-Profe, Gisela (Hrsg.): Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998. (Wolfram-Studien 16; Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft) Berlin 2000, S. 70-83, S. 81. Haug, Walter: Die Rollen des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman. In: Meyer, Matthias / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.): Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 247-267, S. 256. Man könnte einwenden, daß Iwein von seinem Löwen begleitet wird, daß Gott an der Seite Iweins und Tristans kämpft, nur bleibt das einem abstrakten Bereich verhaftet, so wie Helden moderner Actionfilme immer das Gute und Gerechte im abstrakten Sinne auf ihrer Seite wissen. Vgl. dazu auch: Theisen, Joachim: Des Helden bester Freund. Zur Rolle Gottes bei Hartmann, Wolfram und Gottfried. In: Huber, Christoph / Wachinger, Burghart / Ziegeler, Hans-Joachim (Hrsg.): Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Tübingen 2000, S. 153-169.

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III Case Study Iwein

auch nicht direkt artikuliert, ohne Hilfe von außen seine Mission zu erfüllen. Er nimmt es mit allen Gegnern auf und geht selbst aus aussichtlosen Situationen siegreich hervor. Dabei hat er keinen ebenbürtigen Partner, und die Frauen sind – in der vormodernen wie in der modernen Welt – Dekor oder Ursache von zusätzlichen Problemen. Es geht in erster Linie um den Weg dieses Helden, um seine Selbstwerdung, Selbsterkenntnis/Erkenntnis des rechten Weges, Selbstvervollkommnung.15 Dennoch wird den Artusrittern ein Freund an die Seite gestellt, zumindest wird eine Freundschaft behauptet, und Freundschaft scheint einen unverzichtbaren Wert darzustellen. Aber welche Funktion und Bedeutung haben dann diese Beziehungen? Es ergibt sich ein weiteres Problem: Eine Freundschaft, verstanden als persönliche Nahbeziehung auf Augenhöhe, steht im Grunde im Widerspruch zur Konzeption der Artusgesellschaft und ihren Wertvorstellungen. Der Tafelrunde und ihren Rittern liegt ein agonales Prinzip zugrunde: Wer ist der Beste, der Tapferste, wer ist der hervorragendste Ritter? So ist die eigentliche Konstellation als Rivalität und permanenter Wettbewerb zu beschreiben. Das Ideal der symmetrischen freundschaftlichen Beziehung auf der Grundlage des höfischen Tugend- und Wertesystems, das König Artus’ Tafelrunde mit dem scheinbaren Fehlen einer Hierarchie verkörpert, ist ein vordergründiges und wird durch die Grundsituation der Konkurrenz der Artusritter, die im Turnier, in Rivalität um prestigeträchtige Kämpfe und im Zweikampf von Freunden und Verwandten direkt zum Ausdruck kommt, in Frage gestellt. So verwundert es nicht, daß die erste Erwähnung des Verhältnis Iwein-Gawein weniger Freundschaft als vielmehr Konkurrenz beinhaltet: Iwein beschließt, allein zur Quelle zu reiten, weil er befürchtet, daß ihm sonst Gawein im Kampf zuvorkommen wird. Das Problem löst sich in diesem Fall dadurch, daß Iwein mit seiner auf eigene Faust unternommenen Aventiure erfolgreich ist und niemand sich mehr darüber freut als Gawein. Die Frage der Konkurrenz hat sich damit aber nicht erledigt, wie der spätere Zweikampf der Freunde zeigt. Für die Analyse des Iwein-Gawein-Verhältnisses gilt es, diese angesprochenen Fragen und Strukturen im Auge zu behalten.

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Wehrli, Max: Iweins Erwachen. In: Bindschedler, Maria / Zinsli, Paul (Hrsg): Geschichte, Deutung, Kritik: Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Bern 1969, S. 64-78, S. 70.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta? Der Iwein-Roman, vor allem in Hartmanns Version, ist von den ‚klassischen’ Artusromanen in bezug auf die Freundschaftsthematik der wohl interessanteste und fruchtbarste Text, da er explizit ein Freundschaftsverhältnis, nämlich das zwischen Iwein und Gawein, diskutiert. Dabei geht die Darstellung dieser Beziehung über die üblichen formelhaften Beschreibungen hinaus, mit denen die Autoren häufig die freundschaftliche Verbundenheit zwischen zwei Artusrittern charakterisieren. Gawein nimmt auf dem Weg Iweins eine entscheidende Position ein: Er ist der zu fürchtende Konkurrent für das Brunnenabenteuer, er ist der Ratgeber Iweins für dessen Lebensführung nach der Hochzeit mit Laudine, und er ist schließlich der Gegner Iweins in dessen letztem und wichtigstem Zweikampf, der als Abschluß des aventiure-Wegs des zweiten Teils den Löwenritter Iwein wieder an den Artushof führt. Vor allem aber wird er wiederholt als enger Freund Iweins genannt. Folgendermaßen werden die beiden Freunde nach Iweins Kampf mit Keie eingeführt: „wann ez was ie under in zwein / ein geselleschaft âne haz, / und stuont vil verre deste baz / ir ietweders wort.“16 Es besteht also nicht nur in der Binnensicht ein Freundschaftsverhältnis, sondern die Beziehung wirkt auch auf die beiden wieder zurück, indem sie ihr gesellschaftliches Ansehen fördert und damit ihren gesellschaftlichen Status bestätigt. Diese Vorstellung der beiden Artusritter als Freunde impliziert alle drei Dimensionen, die dem Freundschaftsbegriff seit der antiken Tradition innewohnen – das Verhältnis zu sich selbst, zum Anderen und zur Gemeinschaft17: Iwein und Gawein werden als Personen benannt, ihre dyadische Relation ist beschrieben und durch ihre Zugehörigkeit zur Artusgesellschaft sind sie und ihre Freundschaft Teil einer übergeordneten Gemeinschaft. Daß die gegenseitige Verbundenheit und Treueverpflichtung, die aus der Freundschaft resultiert, über die der Verwandtschaft hinausgehen kann und hinausgeht, zeigt eine weitere Beschreibung des Verhältnisses: [Gawein] erzeicte getriuwen muot / hern Îwein sînem gesellen; / als ouch die wîsen wellen, / ezn habe deheiniu groezer kraft / danne unsippiu geselleschaft, / gerâte sî ze guote; / und sint sî in ir muote / getriuwe under in beiden, / sô sich gebruoder scheiden. / sus was ez under in zwein18 16

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Hartmann von Aue: Iwein. 2620-2623. Der Text wird im Folgenden nach der Ausgabe von Volker Mertens zitiert, der die Handschrift B zugrunde liegt: Hartmann von Aue. Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. u. übers. v. Volker Mertens. (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 6) Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Kap. I, S. 2f. u. Friese, Heidrun: Freundschaft. S. 23. Iwein. 2700-2709.

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III Case Study Iwein

Diese Freundschaft überbietet Verwandtschaft, sie bleibt selbst dort bestehen, wo Blutsverwandte – Brüder – sich trennen. Die freundschaftliche Bindung stellt damit noch vor der verwandtschaftlichen die stärkste soziale Beziehung dar. Die Reflexion der Freundschaft19 ist in dieser Form bei Chrétien nicht zu finden, offensichtlich mißt Hartmann dieser Freundschaft ein anderes Gewicht bei. Bereits diese erste Charakterisierung läßt deutlich werden, daß sich Gaweins Bedeutung nicht darin erschöpft, „Interaktionspartner für den Protagonisten“20 zu sein. Man kann bei Iwein und Gawein von einer mehr oder weniger symmetrischen Beziehung sprechen, in der die Kriterien Loyalität, Vertrauen, Zuneigung und Reziprozität erfüllt sind: „der wirt unde her Gâwein / wâren ein ander liep gnuoc, / sô daz ir ietweder truoc / des andern liep unde leit.“21 Die Grundlage dieser Freundschaft ist die Tugend des anderen. So wie Cicero die Tugend zur Bedingung erklärt, so ist die Tugend die Grundlage der Freundschaft der Artusritter. Und dabei geht es nicht nur um eine individuelle persönliche Freundschaft, sondern gleichzeitig findet auf diese Weise eine Einbettung in das übergeordnete soziale System der Artusgesellschaft statt. Die Freundschaft Iweins und Gaweins manifestiert sich an mehreren Stationen des Handlungsverlaufes, die unterschiedliche Aspekte dieser Bindung deutlich werden lassen und zugleich wesentliche Stationen auf Iweins Weg markieren: die Konkurrenzsituation der beiden vor dem Brunnenabenteuer, die Verbundenheit Gaweins mit dem Freund angesichts dessen Erfolgs und der Rat nach der Hochzeit, Iweins Hilfe für Gaweins Verwandte und schließlich ihr Zweikampf mit dem gegenseitigen Erkennen. Die ersten zwei Momente fallen auf den ersten Aventiureweg, die anderen beiden auf den zweiten, und weiterhin können diese vier wesentlichen Stationen noch unterschiedlich gewichtet werden. Die beiden herausragenden Ereignisse – ebenfalls verteilt auf die Teile des arturischen ‚Doppelcursus’, will man denn dieser klassischen Struktureinteilung folgen – in dieser Reihe der Freundschaftsstationen sind der Rat Gaweins und der Zweikampf als die beiden entgegensetzten Pole auf der Skala von Nähe und Distanz. Der erste Fall demonstriert ein Höchstmaß an Nähe, Vertrautheit und Gegenseitigkeit, der zweite im Nichterkennen der Freunde und dem daher stattfindenden Zweikampf das vollkommene Gegenteil. Erst in dem Moment, in dem die Widersacher sich als Freunde (wieder)erkennen, haben sie wieder den Ausgangspunkt ihrer gegenseitigen Verbundenheit erreicht bzw., sie sind darüber noch hinausgegangen, 19 20 21

Iwein. 2697-2713. Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200: Erec, Iwein, Parzival, Tristan. Stuttgart 2003, S. 117. Iwein. 2710-2713.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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da die latente Konkurrenz einmal in Form des Zweikampfes sichtbar geworden und ausagiert worden ist. Um so herzlicher ist das Wiedersehen der Freunde nach dem unentschiedenen Zweikampf. Iwein und Gawein haben sich erneut und endgültig als vollkommen gleichwertige Partner erwiesen, die wichtigste Bewährungsprobe ihrer Freundschaft ist damit bestanden. Man könnte einwenden, daß der Löwenritter Iwein von einer moralisch überlegenen Position aus in den Kampf geht, da er im Gegensatz zu Gawein diejenige der beiden Schwestern verteidigt, die im Recht ist, Iwein also im Grunde der Überlegene ist und die Freunde sich daher nicht auf der gleichen Ebene begegnen. Doch das übersieht, daß Iwein zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Weg zur Wiederherstellung seiner Integrität ist – der Zweikampf markiert den letzten Schritt auf dem Weg zur wiederhergestellten Ehre, die dann die Rückkehr an den Artushof zuläßt. Sowohl Iwein als auch Gawein sind deshalb mit einem Makel behaftet, der erst durch den Zweikampf und dessen Abbruch, als beide sich erkennen, beseitigt wird: „Der Kampf zwischen Iwein und Gawein hat die Artuswürdigkeit des Helden wieder hergestellt“22. Zuweilen ist daher die Bindung der beiden unter einer rein funktionalen Perspektive gelesen worden, Gawein kommt dann nur die Position desjenigen zu, der durch seine Präsenz die Qualitäten des anderen betont. „Die Freundschaft mit Iwein dient dessen Verherrlichung unter dem Aspekt der êre. Sowie Gawan diese Funktion erfüllt hat, tritt er in der Erzählung zurück. Er kümmert sich trotz der gerühmten Freundschaft nicht um den verfluchten Iwein“23. In dieser Sichtweise bereitet dann auch der Schluß des Romans keine Probleme, zumindest, was Iwein und Gawein betrifft. „Bezeichnenderweise geht Iwein auch am Schluß des Romans ohne Abschied von Gawan, anders als man es eigentlich bei gesellen erwarten müßte, vom Artushof weg.“24 Diese funktionale Sicht ist insofern plausibel, als daß die Freundschaft zwischen Gawein und Iwein kein spektakulärer Einzelfall, sondern vielmehr die Freundschaft Gaweins mit dem Protagonisten typisch für die Artusromane ist – man denke an Gawan und Parzival oder an Gauvain und Alexander im Cligès. Das bedeutet, wir haben zwar zunächst eine personale Freundschaftsbindung vor uns, die zudem im Iwein besonders intensiv, besonders ausführlich dargestellt ist, aber dadurch, daß Gawein quasi gesetzmäßig die Freundesposition einnimmt, wird aus dem individuellen Fall ein Muster. 22 23 24

Mertens, Volker: Laudine. Soziale Problematik im Iwein Hartmanns von Aue. (Beihefte zur ZfdPh, 3) Berlin 1978, S. 57. Schweikle, Günther: Zum „Iwein“ Hartmanns von Aue. Strukturelle Korrespondenzen und Oppositionen. In: Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käthe Hamburger zum 75. Geburtstag. Hrsg. v. Fritz Martini. Stuttgart 1971, S. 1-21, S. 19. Ebd.

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III Case Study Iwein

Wie sich Muster und die jeweilige Gestaltung der Beziehung zueinander verhalten, ob es Alternativen zur funktionalen Lesart gibt und welche Kontexte sich für die Einordnung dieser ersten Konstellation anführen lassen, wird zu erörtern sein, zunächst aber steht die Analyse der Nahbeziehung Iwein – Gawein im Mittelpunkt. Was leistet diese Freundschaft? Sie gewährleistet die Rückbindung Iweins an den Artushof, da Gawein als Zwischenglied fungiert; eine verwandtschaftliche Bindung Iweins an den Artushof ist zwar durch Kalogrenant gegeben, aber daneben greift möglicherweise auch das andere Beziehungssystem der Freundschaft, das ebenfalls durch Dienst und gegenseitige Verpflichtung gekennzeichnet ist. Die Heirat Iweins mit Laudine stellt einen Fall von entschiedener Exogamie dar: Laudine steht in keinerlei Beziehung zum Artushof, es ist keine Verwandtschaftsbeziehung zu einem der Protagonisten auszumachen, und nach dem Tod von Ascalon tritt die Artusgesellschaft als Bedrohung von Laudines Herrschaftsbereich auf; konsequenterweise findet am Ende auch keine Integration beider Bereiche statt: Iwein kehrt zu Laudine zurück und wechselt dabei erneut von der Artusgesellschaft in das Brunnenreich über. Die Freundschaft zwischen Iwein und Gawein wirkt hier als Verbindungsmoment. Hinzu kommt, daß Verwandtschaft an sich noch keine verläßliche Bindung schafft. In der Artusgesellschaft ist jeder mehr oder weniger mit jedem verwandt, was das Beziehungssystem Verwandtschaft relativiert, abgesehen vielleicht von Verwandtschaftsverhältnissen ersten und zweiten Grades, und explizite Freundschaften wie die zwischen Iwein und Gawein um so wichtiger werden läßt. Freundschaft erscheint zudem als das der Artusgesellschaft angemessenere Verhältnis, da letztlich nicht Familienzugehörigkeit das entscheidende strukturierende Moment bildet, sondern vielmehr der Zusammenschluß der Besten und ein gemeinsamer Wertekanon. Der König als primus inter pares inszeniert sich innerhalb dieser Gruppe auch gern als Gleicher unter Gleichen, als Freund: Artus setzt sich zu Beginn des Iwein zu der Gruppe, die sich um Kalogrenant gebildet hat: „si sprungen ûf: daz was im leit. / unde zurnde durch gesellecheit: / wan er was in weizgot verre / baz geselle danne herre.“25 In seinem Rat an Iwein nach der Hochzeit – der erste zentrale Moment dieser Freundschaft – tritt Gawein denn auch als Agent eben dieser Wertegemeinschaft auf und mahnt Iwein an seine alten Bindungen, die hinter den neuen nicht zurückstehen sollen. In Hartmanns Version kommt diesem Rat Gaweins ein besonders großer Stellenwert zu, die Rede ist anders strukturiert als bei Chrétien, ein anderer Ton wird angeschlagen.

25

Iwein. 885-888.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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Zweifellos kann man Gaweins Rede als ein „Spiel mit Rollenerwartungen und Identitätskoordinaten“26 lesen. Der Freund warnt Iwein zunächst vor dem „verligen“, zu dem, ähnlich wie bei Erec, die Schönheit seiner Frau führen könne. Und weiterhin ermahnt er ihn, nach der Hochzeit nicht zum Pantoffelhelden zu werden und nur noch Haus und Hof zu hüten, er stellt ihm das abschreckend-komische Bild des Krautjunkers vor Augen, der griesgrämig und kleinlich über Alltagssorgen räsoniert und für größere Dinge keinen Sinn mehr hat. Stattdessen solle er mit ihm auf Turnierfahrt gehen, um seiner Ritterehre auch weiterhin gerecht zu werden, denn nur dann sei er für ihn auch weiterhin ein ebenbürtiger Gefährte. Diese Beratung mit ihrer durch die arturische Idealität geprägten Argumentation ist wiederholt diskutiert worden, meist unter dem Aspekt, welche Konsequenzen dieser Rat nach sich zieht, also, ob Gawein letztlich für Iweins Unglück verantwortlich ist. Das Problem der Beratung taucht im Iwein noch einmal auf, nämlich in der Gestalt Lunetes, nicht zuletzt deshalb können diese beiden Beraterfiguren gegenübergestellt werden. Das fällt nicht unbedingt zum Vorteil Gaweins aus: „Lunete proves to be a brilliant counsellor and strategist in matters of love in Yvain, but Gauvain fails miseravly.“27. Iwein befolgt den Rat28 und versäumt den von Laudine festgesetzten Termin der Rückkehr, wird von ihr verstoßen und verfällt in Wahnsinn. Aber kann man daraus folgern, daß Gaweins Mahnrede falsch und Iwein daher schlecht beraten war? Gaweins Mahnrede an seinen Freund findet bereits in der Beziehung an sich ihre erste Berechtigung: Sie ist durchaus pädagogisch im Sinne der geistigen Führung, wie sie im antiken philosophischen Verständnis Teil der Freundschaft ist und hat ihren legitimen Platz am Beginn eines neuen Lebensabschnitts des Freundes. Ähnliches läßt sich auf der inhaltlichen Ebene konstatieren. Gawein spielt mit seinem Rat keine „unheilvolle Rolle“29 nach Iweins Heirat, denn seine Mahnrede ist berechtigt, er „gibt einen durchaus abgewogenen Rat“30, wenn er sowohl auf die Pflichten des Landesherrn als auf die des höfischen Ritters verweist: „The words of Gawein are true, his advice solid. [...] If Gawein 26 27 28

29 30

Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. S. 119. Barnes, Geraldine: Counsel and Strategy in Middle English Romance. Cambridge 1993, S. 36. Möglicherweise ist eben nicht Gaweins Rat das Problem, sondern Iweins uneingeschränkte Bereitschaft, diesen Rat zu befolgen. Was aus Gaweins Perspektive berechtigt erscheint, stellt sich für Iwein in seiner neuen Situation als Ehemann und Landesverteidiger anders dar. Siehe dazu: Feistner, Edith: Bewußtlosigkeit und Bewußtsein: Zur Identitätskonstruktion des Helden bei Chrétien und Hartmann. In: Archiv f.d. Studium d. neueren Sprachen u. Literaturen 236, 1999, S. 214-264, S. 257. Schweikle, Günther: Zum „Iwein“ Hartmanns von Aue. S. 19. Mertens, Volker: Laudine. S. 38.

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III Case Study Iwein

ist guilty, then he is guilty for wanting the best for Iwein.“31 Im Gegensatz zu Chrétiens Gawein zielt Hartmanns Figurenzeichnung darauf, einen verantwortungsvollen, vollendet höfischen Gefährten zu präsentieren, der nur das Beste für seinen Freund im Sinn hat.32 Daß die Freundschaft durch den Rat33 ungewollt negative Wirkungen habe und damit wie die Minnebeziehung problematisch werde,34 läßt sich nicht plausibel nachweisen. Vielmehr stellt die Freundschaft Iweins zu Gawein von Beginn an einen „Kontrast zu Iweins Minnebeziehung mit Laudine“35 dar. Männerfreundschaften wie diese sind als dyadische Beziehung gestaltet, die eine gegenseitige Verpflichtungen beinhaltende starke Bindung vorstellt, die dennoch der wiederholten Demonstration und Bestätigung bedarf, und sei es in Form des Gedenkens. Eine Heirat einer der beiden Partner bedeutet dann eine Gefährdung dieses Zustands, denn sie stellt den Einbruch des Dritten in die Zweierbeziehung dar. Andere, zusätzliche und ebenso bindende Pflichten treten nun auf den Plan und etablieren ein für die Freundschaft konkurrierendes Wertesystem. Der Freundschaft droht dadurch Destabilisierung, was wiederum nach Bestätigung und Erneuerung des Freundschaftsverhältnisses oder gar nach einer Entscheidung zugunsten einer der beiden Beziehungen verlangt. Gawein agiert genau in diesem Sinn, wenn er Iwein nach dessen Heirat ermahnt, das alte Leben nicht völlig aufzugeben zugunsten des Lebens als Ehemann und Hausherr.36 Mit dieser Rede Gaweins, dessen Rat Iwein ohne Widerspruch befolgt und bei seiner Frau um die Erlaubnis für die Turnierfahrt bittet, und dem Aufbruch der Freunde endet diese ‚Freundschaftsepisode’ und schließt gleichzeitig die erste Handlungseinheit des Romans ab: Iwein hat Land und Frau errungen, mit dem Hochzeitfest unter Anwesenheit von König Artus und seinem Hof bekommt das Ende dieser Handlungseinheit einen 31 32 33 34 35 36

Hasty, Will: Adventure as Social Performance. A Study of the German Court Epic. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 52) Tübingen 1990, S. 27. Sinka, Margit M: ‚Der höfschste man’: An Analysis of Gawein’s Role in Hartmann von Aue’s Iwein. In: MLN 96 (3) 1981, S. 471-487, S. 475ff. Möglicherweise wird in diesem Rat aber auch ein ganz anderer Diskurs eingespielt, ein normativ-didaktischer aus der lateinischen Texttradition, in dem die Ehe als Gefährdung des Seelenheils dargestellt wird. Zinsmeister, Elke: Literarische Welten. S. 157. Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. S. 117f. Allerdings muß auch berücksichtigt werden, daß die an zahlreichen Stellen auftretende Komik im Iwein, die bis ins Groteske geht, zu einer ironischen Brechung der Figuren und ihrer Nahbeziehungen führt. Unter diesem Aspekt verkennt Gawein die Situation des Freundes, seine Mahnrede wirkt lächerlich. Ähnliches ließe sich für Laudine und Lunete konstatieren. Vgl. dazu Warning, Rainer: Formen narrativer Identitätskonstruktion im höfischen Roman. In: Marquard, Odo / Stierle, Karl-Heinz (Hrsg.): Identität. (Poetik und Hermeneutik) München 1979, S. 553-589, bes. S. 578-586.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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ritualhaften Charakter. Dieser Abschnitt hat das arturische Freundschaftsideal eingeführt und zugleich Iwein – und vor allem Gawein – als vorbildliche Ritter ausgewiesen. Außerdem läßt sich die Vermutung formulieren, daß Gawein nicht allein funktional auf Iwein ausgerichtet, sondern notwendiger zweiter Partner des Freundschaftskonzeptes ist. Wenn Iwein nach Lunetes Auftritt den Artushof verläßt, verläßt er auch den Freund, mit dem er auf Turnierfahrt unterwegs war. Ein Wiedersehen findet erst im Zweikampf der beiden statt. In dem Moment, in dem Iwein nach Lunetes Auftritt heimlich vom Hof fortgeht, verliert er im Wahnsinn seine Identität, d.h. er ist nicht mehr Iwein, und Gawein kann ihn außerhalb der Gesellschaft, in die sie beide gehören, nicht suchen oder ihm helfen, die Freundschaft ist erst dann wieder aktuell, wenn Iwein als Löwenritter in die höfische Gesellschaft zurückkehrt – das wiederum drückt sich im Zweikampf mit Gawein aus. Ein Abschied zwischen den beiden, bevor Iwein zu Laudine zurückkehrt, scheint nicht nötig, denn ihre Harmonie und Übereinstimmung ist wiederhergestellt. Jedoch bedeutet die Abwesenheit Gaweins keine Unterbrechung der Freundschaftsbeziehung. Iwein übernimmt Verpflichtungen Gaweins in der Verteidigung seiner Schwester und ihrer Familie gegen den Riesen Harpin, obwohl dieser Kampf seinen Einsatz für Lunete gefährdet. Iwein weiß sich in einer ausweglosen Situation: Lunete hat sein Versprechen, daß er zum Kampf für sie rechtzeitig erscheinen wird, und zugleich bittet ihn die Familie seines Freundes um Hilfe, durchaus mit Verweis auf seine Verpflichtung gegenüber Gawein. Die verpflichtende Bindung an den Freund, „dem ich des wol schuldec bin“37, und der drohende Ehrverlust lassen Iwein schließlich in beiden Kämpfen antreten. Nach dem Sieg über Harpin trägt er beim Abschied Grüße an den Freund auf: den Herren Gâwein minne ich, / ich weiz wol, als tuot er mich: / ist unser minne âne kraft, / sô ne wart nie guot geselleschaf. / den ernst sol ich im niuwen / swâ ich mac in triuwen. / herre, zuo dem rîtet ir / unde grüezet in von mir, / unde vüeret mit iu iuweriu kint / diu dâ hier erledeget sint, / daz ir swester mit in var, / unde vüeret ouch daz getwerc dar, / des herre hie liegt erslagen, / ir sult im des gnâde sagen / swaz ich iu hie gedient hân: / wan daz ist gar durch in getân. / vrâger iuch wie ich sî genant, / sô tuot im daz erkant / daz ein leu mit mir sî: / dâ erkennet er mich bî.38

Iwein reflektiert hier die Verbindlichkeit und Gegenseitigkeit der Freundschaft. Was Iwein unternimmt, tut er für den Freund, dessen Familie in Bedrängnis ist; er gibt sich als Löwenritter aus und vertraut dennoch darauf, daß der Freund weiß, wer ihm geholfen hat. Das Ideal, auf das Iwein hier rekurriert, schließt memoria, das Denken an den Freund bei dessen 37 38

Iwein. 4908. Iwein. 5107-5126.

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III Case Study Iwein

Abwesenheit ein, wodurch Treue und gegenseitige Unterstützung bestätigt werden. Deutlich wird hier auch der Dienstgedanke, das consilium et auxilium, das für eine Anbindung an den politischen Freundschaftsdiskurs spricht. „Die triuwe als übergreifende Tugend erweist sich als das Pflichtbewußtsein des Ritters, der den Erfordernissen des Standes ebenso entspricht, wie er das gegebene Wort einhält.“39 Sie wird so zum ethischen Anspruch an den vir bonus und löst sich von konkreten politischen Verpflichtungen, und das bedeutet, daß „triuwe kein Verhältnis mehr zwischen Herr und Vasall allein ist, sondern auch eines zwischen vriunden“40. Das allerdings macht eine Abgrenzung von Freundschafts- und Klientelbeziehugen nicht einfacher. Andererseits meint der Begriff vriunde eben auch immer die Gefolgsleute. Damit ist die erste Station der Freunde im zweiten Romanteil umrissen. Die zweite relevante Passage dieses Abschnitts verbindet die Freundschaft wiederum – wie am Beginn des Textes – mit dem Aspekt der Konkurrenz: Die Freunde begegnen sich unwissentlich im Zweikampf, der als Gerichtskampf ausgetragen wird. Der Kampf wird nicht entschieden, sondern endet in dem Moment, als die Freunde sich erkennen. Hier tritt die agonale Struktur, die dem Artusroman zugrunde liegt und die Spiegelbild der permanenten Wettbewerbssituation innerhalb des Adels ist, klar hervor. Zudem stellt sich wieder die Frage nach Dynamik und Statik von Freundschaft, also ob Freundschaft einen Zustand bezeichnet oder ob wir uns auf der performativen Ebene bewegen. Der Artusroman führt uns selten die Entstehung einer Freundschaft vor, gleichzeitig ist es im Grunde nicht denkbar, daß zwei Freunde irgendwann nicht mehr Freunde sind – das würde für einen eher statischen Freundschaftsbegriff sprechen – , aber der Zweikampf führt deutlich vor Augen, daß Freundschaft dennoch immer wieder der Bestätigung bedarf: Man könnte sagen, Gawein und Iwein beenden die Auseinandersetzung, weil sie Freunde sind, man könnte aber ebenso feststellen, nur weil sie den Kampf nicht bis zum bitteren Ende, nämlich bis zur Niederlage eines Beteiligten führen, können sie Freunde bleiben.41 Das Erkennen, in dem der Kampf gipfelt, ist gar nicht vorstellbar ohne die potentiell zerstörerische Blindheit, die den Zweikampf erst ermöglicht.42 „The battle hat very little to do with an inheritance dispute: it pro39 40 41 42

Göttert, Karl-Heinz: Tugendbegriffe und epische Struktur in höfischen Dichtungen. Heinrichs des Glîchezâre Reinhart Fuchs und Konrads von Würzburg Engelhard. (Kölner Germanistische Studien, Bd. 5) Köln, Wien 1971, S. 125. Morris, Colin: The Discovery of the Individual 1050-1200. S. 196. Zum Zweikampf der Freunde vgl. auch Harms, Wolfgang: Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. S. 127ff. Hasty, Will: Adventure as Social Performance. S. 34.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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vided above all the possibility of a self-recognition and self-glorification of knighthood and of court society.”43 Das Thema des Zweikampfs von Verwandten oder Freunden taucht im Artusroman wiederholt auf und ist daher für die Untersuchungen der Nahbeziehungen von besonderem Interesse. Deshalb wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Analyse des Kampfes zwischen Iwein und Gawein verzichtet, um die Zweikampfthematik an entsprechender Stelle systematisch zu untersuchen. Im Folgenden geht es stattdessen um erste Hypothesen zur symmetrischen MannMann-Beziehung. Von besonderem Interesse ist dabei Stephen Jaegers Studie Ennobling Love, die dem sozialen Ideal von Freundschaft und Liebe zwischen adligen Männern im laikalen, klerikalen und monastischen Bereich nachgeht.44 Auf der Ebene der normativen Konzepte ergibt sich ein Bezug zur Vorstellung der amicitia perfecta: Möglicherweise kann man im ‚höfischen’ Freundschaftsverständnis, wie es sich etwa in der Beziehung Iwein – Gawein insbesondere in Hartmanns Roman präsentiert, ein Rückgriff auf antike Freundschaftsvorstellungen in Absetzung von der amicitia spiritualis des monastischen Bereichs erkennen. In diesen höfischen Romanen wird eine männliche Identität für eine Elite verhandelt, bei der u.a. die Vorstellung des miles christi eine Rolle spielt, die ja nicht zuletzt, wenn auch nicht direkt, ein anthropologisch-ethisches Ideal für den weltlichen Adel entwirft. Die Grundlage dieser Freundschaft ist die ‚moralische Qualität’ des anderen, seine virtus. Und damit gilt für diese Bindungen, was von Cicero über Augustinus bis ins Hochmittelalter als Definition der amicitia perfecta formuliert wird – „Freundschaft ist Übereinstimmung in allen göttlichen und weltlichen Dingen, verbunden mit Liebe und Wohlwollen“45. Hinzu kommt aber eine Anbindung an den politischen Freundschaftsdiskurs, das consilium et auxilium, wenn Verpflichtungen des anderen übernommen werden. Eine mögliche Lesart ist es also, die Freundschaften zwischen Männern in der volkssprachlichen höfischen Epik als der Tugendfreundschaft des gelehrten lateinischen Diskurses nachgebildet zu sehen, allerdings mit eigenen Akzentuierungen des Konzepts, Akzentuierungen, die dem Medium höfische Literatur geschuldet sind und einen dem weltlichen Publikum gemäßen Entwurf beabsichtigen und daher auch andere Diskurse wie politische und soziale Praktiken einbeziehen. Es geht um den Entwurf 43 44 45

Ebd. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 6. Zu einer Kritik zu Jaegers Studie vgl. Schnell, Rüdiger: Genealogie der höfischen Liebe. Ein kulturwissenschaftlicher Entwurf in kritischer Sicht. In: ZfdPh 122 (1), 2003, S. 101-117. Cicero: Laelius de amicitia. 6, 20: „Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio“.

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III Case Study Iwein

verbindlicher homosozialer Bindungen, die gesellschaftsstrukturierend wirken und die an den entsprechenden politisch-sozialen Diskursen und dem Konzept der Tugendfreundschaft partizipieren. „Männliche Identität konstituiert sich über die Bindung zu einem gleichen Mann.“46 Gott bildet die Basis der wahren amicitia, Tugend und sittliche Vollkommenheit stellen die wesentlichen Kriterien der Beurteilung des (potentiellen) Freundes dar; Aspekte wie Verwandtschaft sind damit relativiert bzw. wird eine Überbietung von Verwandtschaft durch Freundschaft postuliert, wie es bereits die Beschreibung der Bindung zwischen Iwein und Gawein gezeigt hat. In Kapitel II ging es bei der Frage nach antik-paganer und christlicher Freundschaftskonzeption um die Spannung zwischen alle Gläubigen umfassender caritas und amicitia als exklusiver personaler Nahbeziehung. In der monastischen Auseinandersetzung mit der amicitia spiritualis spielt das bis hin zu Aelred von Rievaulx eine wesentliche Rolle. In der weltlichen volkssprachlichen Dichtung scheint dieser Gegensatz dagegen kaum von Interesse zu sein. Das Problem von Exklusivität und Inklusivität, das in der Auseinandersetzung der Freundschaftstheorien der paganen Antike und dem Christentum auftritt, bleibt vor allem für das monastische Freundschaftsideal bestehen und kann im Konzept der amicitia spiritualis nur unzureichend gelöst werden. Im 12. Jahrhundert, das durch seine ‚Renaissance’ antiker Texte und antiken Wissens charakterisiert ist und das eine breite und intensive Rezeption von Ciceros Laelius verzeichnet, geht der Anspruch der vorbildlichen, exklusiven Freundschaftsverhältnisse von der geistlichen in die weltliche Sphäre über. Was für das Kloster problematisch bleiben mußte, läßt sich dagegen im höfischen Roman, nämlich in den dyadischen Freundschaften der Artus- und Gralsritter umsetzen. Zugleich konnte der umfassendere Anspruch der caritas präsent bleiben – Gawein ist immer der Freund des jeweiligen Protagonisten, und zudem ist die caritas im Ideal des miles christi realisiert, der den Schwachen hilft. Das bedeutet, daß wir es also zunächst mit einer personalen Freundschaftsbindung zu tun haben, aber dadurch, daß Gawein quasi gesetzmäßig die Freundesposition einnimmt, wird aus dem individuellen Fall ein Muster. Dahinter scheint dann wiederum die christliche Transformation der antiken paganen Freundschaftsphilosophien durch: Das Ideal wird von der Freundesliebe verkörpert, die Ausdruck der Nächstenliebe ist. Das aber bedeutet, es geht in den Beziehungen der Männer untereinander vor allem

46

Klinger, Judith / Winst, Silke: Zweierlei minne stricke. Zur Ausdifferenzierung von Männlichkeit im „Engelhard“ Konrads von Würzburg. In: Baisch, Martin / Haufe, Hendrikje / Mecklenburg, Michael / Meyer, Matthias / Sieber, Andrea (Hrsg.): Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. (Aventiuren, Bd. 1) Göttingen 2003, S. 259-289, S. 266.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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um Verhaltensnormen und ethische Anforderungen, um ein soziales Ideal.47 Diese Freundschaften zwischen Männern der höfischen Epik sind, wie gesagt, der Tugendfreundschaft des gelehrten lateinischen Diskurses verwandt und zeigen den Einfluß Ciceros und Aelreds von Rievaulx, allerdings mit einer markanten Schwerpunktverschiebung: Es geht im Unterschied zur monastisch-klerikalen Sphäre um weltlichen Tugendadel. Das wird beispielsweise im Kampf zwischen Erec und Guivreiz deutlich. Der besiegte Guivreiz zollt Erec Respekt für seine Tapferkeit und seine Fähigkeiten: „sus ist ez mir unmære: / swer dîn vater wære, / sô edelet dich dîn tugent sô / daz ich dîn bin ze herren vrô.“48 Nicht die Herkunft ist entscheidend, sondern durch seine Tugend zeichnet sich Erec aus. Das damit die hohe Abkunft einhergeht, ist dem mittelalterlichen Ideal der Übereinstimmung von Innerem und Äußerem geschuldet, ändert aber nichts am Vorrang des Tugendadels. Das zweite Zusammentreffen Erecs mit Guivreiz fügt sich in diesen Zusammenhang, denn es dient dazu, vorzuführen, daß Erec nun in der Lage49 ist, „das eigene Verhalten nicht nur zu artikulieren und zu reflektieren, sondern auch selbst zu bewerten, also die Fähigkeit zur Selbstkritik“ als Element der Tugendfreundschaft wird demonstriert. Die passionierten Männerfreundschaften der geistlichen und weltlichen adligen Sphäre, die Stephen Jaeger beschrieben hat,50 übernehmen Vorbildfunktion für die männlichen Nahbeziehungen der höfischen Epik, aber der Transfer beinhaltet auch die Modifikation einiger Elemente. So ist etwa die räumliche Nähe, die im Kloster gegeben ist und die Vorteile wie Risiken birgt, in der Artuswelt nicht mehr entscheidend für die emotionale Bindung, ein Umstand, der der weltlichen Lebensweise Rechnung trägt. In beiden Bereichen stehen die freie Wahl des Freundes und die affektive Vertrauensbindung sowie die Beständigkeit der Bindung im Vordergrund, nicht aber unbedingt Funktionalität, auch wenn der Aspekt des Nutzen keineswegs ausgeschlossen ist, was sich an den Demonstrationen von Zuverlässigkeit und gegenseitiger Unterstützung ablesen läßt. Die Männerfreundschaften stehen in Konkurrenz zur minne der Geschlechterbeziehung – darauf wird zurückzukommen zu sein – , jedoch setzen sich diese homosozialen Beziehungen nicht damit zwangsläufig dem ‚Verdacht’ der Homoerotik aus? Die modernen Bedenken scheinen den mittelalterlichen Autoren fremd, da „das gesamte Spektrum der Lie47 48 49 50

Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 6. Hartmann von Aue: Erec. 4456-4459. Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. S. 90. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love.

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III Case Study Iwein

besterminologie“51 für die Beschreibung der Beziehungen zwischen Männern genutzt wird. „In Verhandlungen, Verträgen und der Historiographie diente es dazu, rechtliche und personale Beziehungen aller Art begrifflich als reziproke personale Bindungen zu fassen.“52 Der Verdacht der Homoerotik oder gar Homosexualität komme erst gar nicht auf, so Stephen Jaeger,53 deshalb sei die erotische Sprache auch gefahrlos und könne für die Darstellung homosozialer Beziehungen verwendet werden. Die spezifisch erotische Freundschaftsrhetorik der lateinischen Dichtung spielt zudem in der volkssprachlichen höfischen Epik keine so große Rolle. Dieser Umstand hängt sicherlich nicht zuletzt mit dem Männlichkeitskonzept bzw. den Männlichkeitskonzepten zusammen, die diese Texte präsentieren.54 Die Frage, die sich stellt, lautet: Welche Konzepte von Männlichkeit sind die Voraussetzung für die heroische Männerfreundschaft bzw. die männliche Tugendfreundschaft? Und wie wirkt umgekehrt diese Freundschaftskonfiguration auf gender-Vorstellungen zurück?55 „Mannsein und Männlichkeit haften nicht primär am Körper, sondern es sind kulturelle Konstrukte, die große soziale Differenzierungen und zeitlichräumliche Variationen aufweisen.“56 Das bedeutet, bei der Betrachtung der Mann-Mann-Freundschaften ist der ganze Komplex an Fragen nach gender, Homoerotik, Homosozialität, Liebe und erotischer Sprache zu berücksichtigen. Doch kommen wir noch einmal zurück zur „ennobling love“ Jaegers. „Being a major element of life at court, love also became part of the education of the nobles. Charismatic friendship is a subject of instruction and at the same time a medium, a modality of teaching.”57 Freundschaft sowohl als Gegenstand als auch als Modalität der Unterweisung hat also seinen festen Platz am Hof – wie auch im Kloster. An atmosphere of loving friendship was praised and cultivated, at both schools and court from the early Middle Ages on. Friendship and love were a form of re51

52 53 54 55 56 57

Eickels, Klaus van: Kuß und Kinngriff, Umarmung und verschränkte Hände. Zeichen personaler Bindung und ihre Funktion in der symbolischen Kommunikation des Mittelalters. In: Martschukat, Jürgen / Patzold, Steffen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 19) Köln, Weimar, Wien 2003, S. 133-159, S. 136. Ebd. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 17ff. Vgl. u.a. Hafner, Susanne: Maskulinität in der höfischen Erzählliteratur. (Hamburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 40) Frankfurt a.M. 2004; Baisch, Martin / Haufe, Hendrikje / Mecklenburg, Michael / Meyer, Matthias / Sieber, Andrea (Hrsg.): Aventiuren des Geschlechts. Für die Erörterung dieser Frage waren vor allem die zahlreichen Diskussionen mit Eric A. Heuser eine wichtige Anregung. Frevert, Ute: Männergeschichte oder die Suche nach dem ‚ersten’ Geschlecht. In: Hettling, Manfred / Huerkamp, Claudia / Nolte, Paul / Schmuhl, Hans-Walter (Hrsg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. München 1991, S. 31-43, S. 42. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 59.

1. Iwein und Gawein: amicitia perfecta?

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spect, and an atmosphere of loving friendship was the visible or palpable sign of the virtue and high merit of the men who lived in it. This was a central ideal of the most popular of all Cicero’s works in the Middle Ages, De amicitia: only good, strong and noble men are capable of friendship, because true friendship is the love of virtue in another person. It is not useful to distinguish the philosophical form from the social ideal, though amicitia is regularly regarded in modern scholarship as some kind of abstract, philosophical notion realized in the cases of some few gifted individuals, as it was in the cult of male friendship in European romanticism in the late eighteenth and early nineteenth-century. In the Middle Ages the social institutions of aristocracy were saturated with this ideal. It governed social intercourse among clergy and at royal courts, and as a result it also bore strongly on the curriculum of behavior at those schools that prepared young men for service to church and state.58

Zweifellos überspitzt Jaeger seine Thesen und neigt zur Überinterpretation der Texte, um zu klaren, kontinuierlichen Linien des mittelalterlichen intellektuellen Lebens zu kommen. Trotzdem bleiben einige wichtige Einsichten, was die höfische Literatur betrifft. Diese ist in engem Zusammenhang mit den lateinischen Texten zu lesen, die der geistlichen Sphäre entstammen – Hintergrund hierfür ist die „für die Entstehung vonHöfen und Hofkultur konstitutive[n] Begegnung zwischen Eliten von Klerikern und Laien“59. Der Freundschaftsdiskurs der höfischen Dichtung kann also im Kontext der entsprechenden lateinischen Diskurse gedeutet werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Aspekt der curialitas60 – weltliche Freundschaft wird als Wert vorgestellt.

58 59 60

Jaeger, Stephen C.: The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950-1200. (Middle Ages Series) Philadelphia 1994, S. 104. Lutz, Eckart Conrad: Literatur der Höfe – Literatur der Führungsgruppen. S. 30. Fleckenstein, Josef: Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof. Bemerkungungen zu den Voraussetzungen, zur Entstehung und Trägerschaft der höfisch-ritterlichen Kultur. In: Ders. (Hrsg.): Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 100) Göttingen 1990, S. 302-326.

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III Case Study Iwein

2. Weibliche Herrschaft und Frauen am Hof: Laudine und Lunete Die zweite wichtige same-sex-Nahbeziehung im Iwein ist die zwischen Laudine und Lunete. In ihrer Rolle als Ratgeberin nimmt Lunete eine ähnliche Position in bezug auf Laudine wie Gawein für Iwein ein. Die Mahnreden, die beide halten, stehen scheinbar in einem spiegelbildlichen Verhältnis. Aber hier zeigt sich schon das erste Problem: Während der Herrscher sich mit Ratgebern und Vertrauten umgibt, von ihnen Rat einholt, ist die weibliche Beraterin ein Sonderfall (abgesehen von der consors regni-Formel), für den die außerliterarischen Kontexte wenig bereithalten. Ebenso hat sich die Forschung, nicht zuletzt im Hinblick auf die Genderdebatte, zwar mit Themen wie der rechtlichen Stellung der Frau im Mittelalter, Ehe, geistlichem Leben etc. beschäftigt,61 jedoch kaum mit Beziehungen von Frauen untereinander.62 Und ob die höfischen Texte tatsächlich „sehr genau in der Wahrnehmung von weiblichen Gemeinschaften“63 sind, erscheint mehr als fraglich. Möglicherweise lassen sie uns etwas wissen über weibliche „Lebensformen und emotionale Befindlichkeiten“64, doch was die Deutung so schwierig macht, sind die fehlenden Möglichkeiten der Kontextualisierung durch andere als literarische Referenzsysteme. Zwar wissen wir von Beratern am Königs- und Kaiserhof: „Da die Kaiserinnen sich fast immer, und häufig auch selbständig politisch betätigten, war es von der größten Wichtigkeit, daß sie einen politischen Ratge61

62 63 64

Vgl. dazu u.a. Ennen, Edith: Frauen im Mittelalter. München 1994, 5. Aufl.; Shahar, Shulamith: Die Frau im Mittelalter. Königstein 1981; Lundt, Bea (Hrsg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten. München 1991; Gaebel, Ulrike / Kartschoke, Erika (Hrsg): Böse Frauen – gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Literatur–Imagination–Realität, Bd. 28) Trier 2001; Haas, Alois M. / Kasten, Ingrid (Hrsg.): Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Bern u.a. 1999; Ketsch, Peter: Frauen im Mittelalter. Bd. 2: Frauenbild und Frauenrechte in Kirche und Gesellschaft. Hrsg. v. Annette Kuhn. (Geschichtsdidaktik; Studien, Materialien, Bd. 19) Düsseldorf 1984; Evergates, Theodore (Hrsg.): Aristocratic Women in Medieval France. (The Middle Ages Series) Philadelphia 1999; Bennewitz, Ingrid (Hrsg.): Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik. (GAP, Nr. 517) Göppingen 1989; Murray, Jacqueline: Thinking about Gender. The Diversity of Medieval Perspectives. In: Carpenter, Jennifer / MacLean, Sally-Beth (Hrsg.): Power of the Weak. Studies on Medieval Women. Urbana, Chicago 1995, S. 1-26. Röckelein, Hedwig / Goetz, Hans-Werner: Frauen-Beziehungsgeflechte – eine Forschungsaufgabe. In: Das Mittelalter 1 (2) 1996, S. 3-10, S. 3. Giloy-Hirtz, Petra: Frauen unter sich. Weibliche Beziehungsmuster im höfischen Roman. In: Brall, Helmut / Haupt, Barbara / Küsters, Urban (Hrsg.): Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. (Studia humaniora, Bd. 25) Düsseldorf 1994, S. 61-87, S. 71. Giloy-Hirtz, Petra: Frauen unter sich. S. 71.

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ber hatten, der mit den Plänen der kaiserlichen Politik wohl vertraut war.“65 Daß aber waren zumindest nach der Quellenüberlieferung in der Regel männliche Ratgeber. Dennoch könnte man natürlich in Hinblick auf Lunete fragen: Wie ist weibliche politische Beratung im Artusroman dargestellt? Wodurch unterscheidet sich die Beratung Iweins durch Gawein von der Laudines durch Lunete, rekurrieren nicht beide auf sozial-politische Diskurse, auf Verhaltensnormen? Während es bei Gaweins Ermahnungen um die Ehre des Freundes und die angemessene ritterliche Lebensweise geht, stehen in Lunetes Rat für Laudine nach dem Tod ihres Mannes pragmatische Überlegungen im Mittelpunkt. Im Vergleich beider Ratgeber fällt der Gegensatz von Idealität und Pragmatik auf. Für Gaweins Argumentation ist die Artusidealität mit ihren Wertmaßstäben ausschlaggebend, Lunetes Ratschläge sind dagegen gänzlich von pragmatischen Vorstellungen geleitet. Das Moment der Idealität fällt in Lunetes Ratschlägen an Laudine weg, denn es geht um konkrete Herrschaftssicherung, während Gawein sich um die Ehre und Tugend, also um das Ansehen des Freundes sorgt. Das Strukturmoment weibliche Beratung innerhalb eines tendenziell hierarchischen Verhältnisses, in dem sich offizielle Funktion und persönliche Emotion kaum trennen lassen, ist in den Texten des Corpus in variierenden Konstellationen durchgespielt: Da ist das Muster Herrin-Vertraute mit Dido und Anna, Laudine und Lunete, Isolde und Brangäne und die Mutter-Tochter-Situation mit Lavinia und ihrer Mutter. Die ersten drei Gruppierungen sind strukturell gleich, dennoch sehr unterschiedlich gestaltet, was eine jeweils andere Bedeutung und Funktion der Nahbeziehung impliziert. Anna und Lunete sind beide Vertraute und Beraterin der Herrscherin und Witwe, Anna ist darüber hinaus auch die Schwester, scheint aber im direkten Vergleich mit Lunete über nicht so großen Einfluß auf wichtige Entscheidungen der Herrin zu verfügen. Brangäne hat eine ähnlich einflußreiche wie zugleich äußert prekäre und gefährdete Position wie Lunete, jedoch stellt sich ihre Situation und die Isoldes insofern anders dar, als das sie nicht am heimatlichen Hof leben, sondern durch Isoldes Heirat mit Marke an einen fremden Hof kommen. Und wieder anders ist die Stellung der Mutter Lavinias, der es um die scheinbar bestmögliche Verheiratung der Tochter geht. Ebenso unterschiedlich verläuft die Beratung der Frauen. Lavinias Mutter liegt daneben und kann sich auch erst gar nicht durchsetzen, Annas Rat an Dido, die Liebe zu Eneas auszuleben, erweist sich nur kurzfristig als richtig, umgekehrt be65

Kirchner, Max: Die deutschen Kaiserinnen in der Zeit von Konrad I. bis zum Tode Lothars von Supplinburg. (Historische Studien, 79) Berlin 1910, S. 145.

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währt sich Lunetes Ratschlag für Laudine, Iwein zu heiraten, auf kurze Sicht nicht, auf lange aber schon, und Brangänes Rat an die Liebenden erscheint konsequent und verhängnisvoll zugleich. Ähnlich wie der Zweikampf ist also auch das Motiv der Beratung ein wiederkehrendes Moment, das nach einer vertieften Darstellung verlangt. Von entscheidender Bedeutung für die Beratung unter Frauen scheint dabei der Status der Witwe (Laudine, Dido) bzw. der Status der Frau in einem fremden Herrschaftsbereich zu sein (Isolde). Analog zu Iwein und Gawein soll aber zuerst die weibliche Nahbeziehung selbst thematisiert werden. Die Beziehung zwischen Laudine und Lunete – ebenso wie die zwischen Dido und Anna, Isolde und Brangäne – ist durch den Unterschied in der Erscheinungsweise nach innen und außen gekennzeichnet. Lunetes, Annas, Brangänes Stellung ist die klassische Position der Vertrauten und bezeichnet damit eine Nahbeziehung, die nach außen vertikal, asymmetrisch ist, nach innen aber durchaus symmetrisch sein kann66 bzw. in der sich die Machtverhältnisse zumindest zeitweise umkehren können. Das erklärt, warum Lunete so selbstbewußt gegenüber ihrer Herrin auftritt, so selbständig agiert: Die nach innen dominante emotionale Vertrauensbindung der beiden ermöglicht ihr das Agieren auf Augenhöhe. Zugleich gehören die Konflikte zwischen den Frauen und das Mißtrauen der Herrin, etwa Verstoßung und Anklage Lunetes oder der Mordanschlag auf Brangäne, in den öffentlichen Raum und damit auf die nach außen gerichtete Seite der Beziehung. Trotz freundschaftlichem Charakter bleiben alle diese Bindungen Herrin-Vertraute-Beziehungen,67 die ihr asymmetrisches hierarchisches Moment auch nicht verlieren und die trotz großer Vertrauensbindung oder auch wegen der Abhängigkeit der Herrin – bei Laudine und Isolde tritt das deutlich zutage – überaus labil sind. Das utopische Moment der Mann-Mann-Beziehungen, das ein Ideal männlicher Tugendfreundschaft entwirft, steht im merkwürdigen Gegensatz zu den wenigen greifbaren Nahbeziehungen zwischen Frauen, die dem sozialen und politischen Kontext der höfischen Dichtung stärker verhaftet zu sein scheinen. So groß das Vertrauen zwischen Herrin und Vertrauter auch sein mag, so eng die Kooperation zwischen beiden im Dienste der Erhaltung und Sicherung der Herrschaft, das hierarchische Moment bleibt letztlich auch im Binnenverhältnis prägend. Das schließt 66 67

Eickels, Klaus van: Tradierte Konzepte in neuen Ordnungen. S. 108. In der jüngsten Forschung behandelt Hartmut Bleumer diese Vertrauensverhältnisse aus systemtheoretischer Sicht: Bleumer, Hartmut: Das Vertrauen und die Vertraute. Aspekte der Emotionalisierung von gesellschaftlichen Bindungen im höfischen Roman. In: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, S. 253-270.

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aber eben eine enge Vertrauensbindung nicht aus. Laudine spricht Lunte als ‚trûtgeselle’ an und behandelt sie nicht nur als Untergebene oder als einfache Zofe, was sicher auch nicht ihrem Status entspricht. „Lunete ist keine Dienerin, sondern eine Dame des Adels, die das volle Vertrauen der Königin besitzt.“68 Ob sie sich ‚höfisch’ im Sinne des Artushofs verhält, erscheint in dieser Perspektive zweitrangig.69 Folgendermaßen wird Lunetes Verhältnis zu Laudine vorgestellt: „der was si heimlich gnuoc, / sô daz si gar mit ir truoc / swaz si tougens weste, / ir diu næhest unde diu beste. / ir râtes unde ir lêre / gevolget si mêre / dan aller ir vrouwen.“70 Diese Zeilen verweisen neben der besonderen Vertrauensstellung, die Lunete bei ihrer Herrin einnimmt, auf eine klare Rangordnung der Hofdamen, in der Lunete allen übrigen Frauen des Hofgefolges gegenüber- und vorangestellt ist. Das zeigt auch die Gerichtssituation, in die Lunete nach Iweins Versäumnis durch die Anklage des Truchseß gerät. Die Frauen in Laudines Hofstaat befürchten, daß ihnen ohne Lunete die wichtigste Mittlerin in der Kommunikation mit der Landesherrin fehlt: „wir heten ir vrum unde êre, / nû ne haben wir niemen mêre / der dâ ze kemenâten / getürre umbe uns gerâten / daz uns mîn vrouwe iht guotes tuo, / als beide spâte und vruo / diu vil getriuwe Lûnete / unser liebiu gespil tete.“71 Lunete war also Fürsprecherin und Bittstellerin für andere Damen des Hofstaats bei Laudine, sie besetzt die Position des Brokers. Das gilt sowohl für ihre Stellung innerhalb der Hofgesellschaft in Laudines Reich als auch im Kontakt mit Außenstehenden. Lunete hilft Iwein aus seiner mißlichen Lage nach dem Tod Ascalons. Sie vermittelt zwischen Iwein und Laudine und kann ihre Herrin von einer erneuten Heirat überzeugen, und sie reitet wiederholt im Auftrag Laudines an den Artushof, d.h. ihr obliegt auch der Kontakt mit der Außenwelt jenseits der Grenzen des Quellreiches, in der sie ihre Herrin vertritt.72 Das bedeutet uneingeschränktes Vertrauen auf Laudines und ebenso unbedingte Loyalität auf Lunetes Seite. Durch diese uneingeschränkte und selbstlose Treue Lunetes erklärt sich das enge Vertrauensverhältnis zur

68 69 70 71 72

Kellermann-Haaf, Petra: Frau und Politik im Mittelalter. Untersuchungen zur politischen Rolle der Frau in den höfischen Romanen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts. (GAP, Nr. 456) Göppingen 1986, S. 47. Zutt, Herta: Die unhöfische Lunete. In: Ehlert, Trude: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre: höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenia von Ertzdorff zum 65. Geburtstag. (GAP, Nr. 644) Göppingen 1998, S. 103-120. Iwein. 1789-1795. Iwein. 5209-5216. Die weibliche Botin taucht auch im Parzival Wolframs von Eschenbach auf: Cundry kommt an den Artushof, um Parzival – ähnlich wie Lunete Iwein – sein Versagen vorzuwerfen.

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Königin.73 Mit Blick auf das Verhältnis der beiden hat die Forschung immer wieder den Aspekt des Vertrauens, insbesondere Laudines Vertrauen in Lunete und die damit einhergehende Kontrolle und den großen Einfluß auf seiten Lunetes betont.74 Im Hintergrund mögen sich hier die Erfahrungen der Hofgesellschaft spiegeln, in der man eine Vertraute braucht, um nicht zwischen konkurrierende Parteien zu geraten oder Opfer der Hofintrigen zu werden. Konstatiert wird auch die unterschiedliche Gestaltung der Lunete bei Hartmann und Chrétien. „Aus der intrigierenden Vertrauten [bei Chrétien] wird eine ernsthafte Vermittlerin, Richterin und Versöhnerin.“75 Im Vergleich mit der herrischen, kühlen Laudine ist Lunete eine „warmherzige, anteilnehmende Frauengestalt“76, sie „besitzt die Tugend der güete und Hilfsbereitschaft“77. Wählt man für die Analyse des Textes von Hartmann die Handschrift B, wird Lunetes Stellung noch einmal deutlicher. In dieser Überlieferung endet der Roman nicht nur mit der Versöhnung Iweins mit Laudine, sondern auch mit der Hochzeit Lunetes. Ihre Verdienste werden honoriert „ihr dienst was wol lôns wert“78, der Mann, den sie heiratet, ist ein Herzog, der nicht nur über materielle Güter verfügt und über große Ländereien herrscht, sondern der dazu mit allen vorteilhaften Attributen ausgestattet ist: jung, schön, ehrbar, ein vollkommner Ritter, klug und freigebig. Dieser Ehemann entspricht der Herkunft und Stellung Lunetes, so der Text. Damit ist nicht nur ihr hoher sozialer Status bestätigt, sondern auch Laudines Wertschätzung für die treue Ratgeberin kommt zum Ausdruck. Dieser Schluß, unabhängig davon ob er von Hartmann stammt oder nicht, sagt einiges über die Rezeption der Beziehung Laudine-Lunete, die mit Lunetes vorteilhafter Heirat wie eine Klientelbeziehung erscheint, in der die zuverlässige und hilfreiche Unterstützung der Herrin sich schließlich in der Förderung der Interessen der Vertrauten niederschlägt. Das steht im spiegelbildlichen Verhältnis zum Tiefpunkt von Lunetes ‚Karriere’. Das Vertrauens- und Treueverhältnis von Laudine und Lunete erfährt nach Iweins Versäumnis und seiner Verstoßung eine grundlegende Krise. Wenn Iwein die Hofdame wiedertrifft, droht ihr die Hinrichtung. Lunete 73 74 75 76 77 78

Vgl. Braunagel, Robert: Die Frau in der höfischen Epik des Hochmittelalters. Entwicklungen in der literarischen Darstellung und Ausarbeitung weiblicher Handlungsträger. Ingolstadt 2001, S. 35. Vgl. u.a. Deist, Rosemarie: Die Nebenfiguren in den Tristanromanen Gottfrieds von Straßburg, Thomas’ de Bretagne und im Cligès Chrétiens de Troyes. (GAP, Nr. 435) Göppingen 1986, S. 16f.; Bleumer, Hartmut: Das Vertrauen und die Vertraute. S. 261-265. Carne, Eva Maria: Die Frauengestalten bei Hartmann von Aue. Ihre Bedeutung im Aufbau und Gehalt der Epen. (Marburger Beiträge zur Germanistik, 31) Marburg 1965, S. 40. Ebd., S. 134. Ebd. Iwein, 8156.

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erklärt Iwein, sie sei vom Truchseß und seinen Brüdern des Verrats angeklagt, „si zigen mich der valscheit“79, und nennt als Motiv hinter dieser Anklage ihre herausgehobene Position bei Laudine: Die drei bringen ihr Neid und Feindschaft entgegen, „wande mich mîn vrouwe het baz, / danne si mir des gunden“80. Durch diese Denunziation hat offenbar auch Laudine Zuneigung und Vertrauen zu Lunete verloren und sieht ihrer drohenden Hinrichtung scheinbar passiv entgegen. Sie selbst wird nicht mit Vorwürfen konfrontiert, denn die Schuld wird der Ratgeberin zugeschoben, da sich ihr Rat allem Anschein nach fatal ausgewirkt hat – Einfluß zieht hier Verantwortlichkeit nach sich. „vür eine verrâtærinne / bin dâ her in geleit“81, erklärt Lunete Iwein (den sie nicht erkennt) und erzählt ihre Geschichte: ez nam in dem jâre vert / des landes vrouwe einen man, / dâ missegienc ir leider an: / die schulde legent si ûf mich. / nû herre got, waz moht ich / daz ir an im misse gie? / deiswâr geriet ichz ir ie, / daz tet ich durch ir êre. / ouch wundert mich sêre, / daz ein alsô vrumer man / sô starke missetuon kann: / wander was benamen der beste / den ich dô lebende weste.82

Eine ähnliche Verurteilung erfahren auch Gawein und seine Ratschläge für Iwein, d. h. Berater und Vertraute erscheinen als Schuldige, weil nur die Folgen ihrer Beratung, nicht der Rat selbst das Umfeld interessieren und die Entscheidungsträger auf diese Weise entlastet werden.83 Beide übernehmen auf diese Weise eine Stellvertreterfunktion für Iwein und Laudine. Lunetes Schicksal, das Auf und Ab ihres Erfolgs und die schwankende Gunst ihrer Herrin als Hintergrund ihrer immer gefährdeten Position demonstrieren Nutzen und Risiken einer solchen Vertrauensstellung bei Hof. Indirekt verweisen sie uns aber auch auf die prekäre Lage Laudines. Wenn der Truchseß Lunete beschuldigt und sie vor Gericht stellen läßt, ohne daß Laudine zu ihren Gunsten eingreift oder etwas zu ihrer Verteidigung beiträgt, könnte die Motivation für diese Reaktion auf der Textund Handlungsebene tatsächlich in Laudines Schuldzuweisung und Mißtrauen gegenüber ihrer Vertrauten liegen. Bei einer psychologisieren-

79 80 81 82 83

Iwein. 4124. Iwein. 4114-15. Iwein. 4048-49. Iwein. 4054-66. Lofmark, Carl: The Advisor’s Guilt in Courtly Literature. In: German Life and Letters 24, 1970/71, S. 3-13., S. 4f.; siehe auch Sullivan, J. M.: The Lady Lunete: Literary Conventions of Counsel and the Criticism of Counsel in Chrétien’s Yvain and Hartmann’s Iwein. In: Neophilologus 85, 2001, S. 335-354.

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den Deutung der Protagonistin wäre sie die launische Herrin,84 die nach Iweins Wortbruch die Untergebene, die zur Heirat geraten hat, für ihr Unglück verantwortlich macht und nur allzu bereit ist, den Anklagen ihrer Hofleute zu folgen oder zumindest diese gewähren zu lassen. Bezieht man jedoch wieder den gesellschaftlichen Kontext des Textes als wirkmächtigen Diskurs für die Konzeptualisierung dieses Verhältnisses von HerrinHofdame ein, könnte Laudines Passivität als Indiz dafür gewertet werden, daß sie, auch als Landesherrin, ohne Mann den Inhabern einflußreicher Hofämter und damit wichtiger Machtpositionen nicht überlegen und unabhängig gegenübersteht. Will sie nicht offen Widerstand und die Infragestellung ihrer eigenen Position riskieren, muß sie der Stimmung des Hofes folgen. Von uneingeschränkter Herrschaft kann keine Rede sein.85 Um das Verhältnis Laudine-Lunete besser einordnen zu können, geht es im folgenden um eine mögliche Kontextualisierung dieser Beziehung. 2.1 Modelle weiblicher Nahbeziehungen am Hof – Konrad von Megenberg und Elisabeth von Thüringen Was die Einordnung der Beziehung Laudine-Lunete bzw. die Bestimmung seiner Relation zu den sozial-politischen Verhältnissen der Zeit so schwierig macht, ist der Umstand, daß die hochmittelalterlichen Quellen nur geringfügig die weibliche Position am Hof und die Konstellationen der Frauen am Hof untereinander thematisieren.86 Aussagen können vor allem zu Frauen in exponierten Positionen getroffen werden, zu den Königinnen und Kaiserinnen, ihrem Anteil an der Herrschaft, Krönung, Regent84 85

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Zur Charakterfrage Laudines, den Widersprüchen ihrer Person und einer möglichen Klärung siehe Priesack, Theodor: Laudines Dilemma. In: Rücker, Helmut / Seidel, Kurt Otto (Hrsg.): Sagen mit Sinne. S. 109-132. Natürlich könnten Lunete und ihr Verhältnis zu Laudine auch eine ganz andere Deutung erfahren. Renate Schusky sieht in Lunete eine Komödiengestalt, die „kupplerische Dienerin“, von der der Liebhaber (Iwein) abhängig ist und die alles Wissen und alle Intrigen immer zum Wohl ihrer Herrin nutzt: Schusky, Renate: Die „kupplerische Dienerin“. Eine Studie zu Hartmanns „Iwein“. Wuppertal 1976, S. 94f.; Schusky, Renate: Lunete – eine ‚kupplerische Dienerin’? In: Euphorion 71 (1) 1977, S. 18-40. Diese Sicht, die vor allem auf der Theorie der literarischen Gattungen und ihrem Personal basiert, paßt zu Walter Haugs Deutung des Iwein als Komödienvariante des Artusromans. (Vgl. Haug, Walter: Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain / Iwain. In: Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. S. 99-118). Jedoch bedeutet diese Lesart zunächst eine formale Einordnung, über die dann Handlungsweise der Akteure und Personenkonstellation erklärt werden. Hier aber geht es nicht zuletzt um die anthropologische Dimension der Nahbeziehungen. Vgl. dazu Rösener, Werner: Die höfische Frau im Hochmittelalter. In: Fleckenstein, Josef (Hrsg.): Curialitas. S. 171-230.

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schaft87 und Gefolge der Herrscherinnen88, Fragen weiblichen Erbrechts oder weiblicher Lehnsfolge, Heiratspolitik usw. Darauf jedoch, wie die engere Umgebung der Herrscherin am Hof strukturiert war, in welchen Personenkreisen sie sich bewegte, wer ihr aus ihrem Gefolge nahestand, gibt es nur vereinzelt Hinweise. In ihren Aufgabenbereich gehörte sicherlich der funktionierende Alltag bei Hof. „Ihr oblag die Oberaufsicht über den camerarius als in der Hierarchie der Amtsinhaber obersten Verwalter der Einkünfte und Vorräte und Leiter der Haushaltsführung.“89 Daneben allerdings existierte wohl schon im Frühmittelalter ein eigener Hofstaat der Königin,90 jedenfalls lassen Hinweise bei Gregor von Tours als auch solche für die Karolingerzeit91 darauf schließen. Für das Hochmittelalter ist ebenfalls von einem solchen Hofstaat mit entsprechenden Hofämtern auszugehen, nur bleiben dessen genauere Strukturen unklar.92 Auf der theoretisch-normativen Ebene beschreibt Konrad von Megenberg in seiner Ökonomik Aufbau und Ordnung des Hofes,93 und dabei kommen auch die Fürstin und ihre Hofdamen zur Sprache.94 Konrad unterscheidet eine höhere und eine niedere weibliche Dienerschaft, wobei beide Kategorien sich nur an den größeren Höfen finden. Zu den ancilla maiores zählen die Hofdamen (domicellae palasticae) und die Hoffräulein (puellae curienses), deren Gruppe durch eine klare Hierarchie gekennzeichnet ist: An ihrer Spitze steht die Hofmeisterin, die magistra curiae, die das bedeutendste weibliche Hofamt innehat. Sie ist dem restlichen weiblichen Hof87

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94

Vgl. u.a. Rogge, Jörg (Hrsg.): Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadligen Frauen im Mittelalter. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 15) Ostfildern 2004; Hiestand, Rudolf: Eirene basileus – Die Frau als Herrscherin im Mittelalter. In: Hecker, Hans (Hrsg.): Der Herrscher. Leitbild und Abbild in Mittelalter und Renaissance. (Studia humaniora, Bd. 13) Düsseldorf 1990, S. 253-283; Fößel, Amalie / Ruess, Karl-Heinz (Hrsg.): Die Frauen der Staufer. (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst, 25) Göppingen 2006; Erler, Mary / Kowaleski, Maryanne (Hrsg.): Women and Power in the Middle Ages. Athens, London 1988. Kirchner, Max: Die deutschen Kaiserinnen in der Zeit von Konrad I. bis zum Tode Lothars von Supplinburg. S. 144-148. Fössel, Amalie: Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 4) Stuttgart 2000, S. 82. Zum Hofstaat der Königin siehe auch ebd. S. 81-92. Ebd. Ebd. S. 82. Zur Ökonomik Konrads vgl. Weiss, Stefan: Haus und Hof bei Konrad von Megenberg. Theorie und Empirie im Werk eines mittelalterlichen Wirtschaftswissenschaftlers. In: Konrad von Megenberg (1309-1374) und sein Werk. Das Wissen der Zeit. Im Auftrag der Kommission für Bayerische Landesgeschichte hrsg. von Claudia Märtl. (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft; Reihe B, 31) München 2006, S. 145-168. Konrad von Megenberg: Ökonomik. Bd. 1. Hrsg. v. Sabine Krüger. (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters, 3: Die Werke des Konrad von Megenberg 5: Yconomica) Stuttgart 1973, S. 258f.

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staat übergeordnet, beaufsichtigt die Frauen und ist mit der Erziehung der Hoffräulein betraut.95 Für diesen Bereich des Hofes, in dem die Fürstin ihre eigene Machtsphäre hat, ist sie bei allen Aufgaben rechte Hand der Herrin und muß insbesondere auf die Einhaltung der Normen und Verhaltensregeln im Umgang der Frauen achten. Eine besondere Stellung hat daneben noch die Kammerzofe (pedissequa dominae),96 die in hohem Maße das Vertrauen ihrer Herrin haben soll.97 Für das 13. Jahrhundert liegt uns mit der Kanonisation der Elisabeth von Thüringen und in diesem Umkreis entstandenen Texten ein Fall vor, der einen Einblick in „einige Grundbedingungen weiblicher Existenz am Fürstenhof“98 erlaubt. Als Kontext der Frau-Frau-Konstellation am Hof ist dabei vor allem Elisabeths Beziehung zu ihren Hofdamen Isentrud und Guda interessant, deren Namen uns durch die Kanonisationsakten bekannt sind.99 Beide genossen offenbar das besondere Vertrauen Elisabeths, wobei Isentrud in der Hierarchie des Hofstaats wohl an erster Stelle stand und mit ihr die Wartburg verließ und Guda ebenfalls eine enge Bindung an Elisabeth hatte, da sie ihr von klein auf vertraut war: „Guda virgo religiosa, que, cum esset circiter quinque annorum, adiuncta fuit beate Elysabeth in quarto etatis sue anno.“100 Isentrud, die aus einer Thüringer Ministerialenfamilie stammte, gehörte am Hof zu Elisabeths nächster Umgebung, auch nach dem Tod von Ludwig und Elisabeths Vertreibung von der Wartburg, und sie wird im Libellus de dictis quatuor ancillarum Sancte Elisabeth confectus mehrfach als enge Vertraute Elisabeths charakterisiert: 95 96 97

Konrad von Megenberg: Ökonomik. S. 259. Ebd. S. 260f. Siehe dazu auch Drossbach, Gisela: Die „Yconomica“ des Konrad von Megenberg. Das „Haus“ als Norm für politische und soziale Strukturen. (Norm und Struktur, Bd. 6) Köln, Weimar, Wien 1997, S. 114. 98 Rösener, Werner: Die höfische Frau im Hochmittelalter. S. 200. 99 Vgl. zur Quellenüberlieferung im Falle Elisabeths: Huyskens, Albert: Quellenstudien zur Geschichte der hl. Elisabeth Landgräfin von Thüringen. Marburg 1908; Huyskens, Albert (Hrsg.): Die Schriften des Caesarius von Heisterbach über die heilige Elisabeth von Thüringen. In: Hilka, Alfons (Hrsg.): Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach. III. Band. (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, 43) Bonn 1937, S. 329445. Zu Elisabeth von Thüringen siehe u.a. Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige. Aufsätze, Dokumentation, Katalog. Hrsg. v. der Philipps-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde. Sigmaringen 1981. 100 Huyskens, Albert (Hrsg.): Der sog. Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus. Kempten, München 1911, S. 9, V 247-251: „Als die gottgeweihte Jungfrau Guda etwa fünf Jahr alt war, wurde sie der seligen, damals vierjährigen Elisabeth zugestellt.“ Übersetzung nach Könsgen, Ewald (Hrsg.): Caesarius von Heisterbach: Das Leben der Heiligen Elisabeth. (Vita Sancte Elyzabeth Langravie. Sermo de Translatione Beate Elyzabeth). Ergänzt durch: Summa Vitae Konrads von Magdeburg. Libellus de dictis quatuor ancillarum Sancte Elisabeth confectus. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission Hessen, 67; Kleine Texte und Übersetzungen, 2) Marburg 2007, S. 138.

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Isentrudis vidua religiosa de Hursilgowe, que fuit in familia beate Elysabeth circiter quinque annos vivente marito Ludowico lantgravio et post mortem lantgravii stetit cum ea plus quam per annum, donec induit griseum habitum beata Elysabeth, ita familiaris, quod fuit conscia omnium secretorum eius.101

Beide Frauen begleiteten die Landgräfin bis nach Marburg, werden dann jedoch von ihrem Beichtvater Magister Konrad, der Elisabeth wiederholt schwere Prüfungen auferlegt, gezwungen, ihre Hausgemeinschaft zu verlassen, was von Isentrud im Libellus als trauriger Abschied beschrieben wird, da Elisabeth sich nur schweren Herzens von den beiden trennt: Item magister Conradus multipliciter temptavit eius constantiam, frangens eius in ominibus voluntatem et sibi contraria precipiens. Deinde, ut plus eam affligeret, singulos de familia sibi dilectos ab ea singulariter repulit, ut de quolibet per se doleret. Et tandem me Isentrudem ei predilectam ab ipsa expulit, que cum multo gravamine et infinitis lacrimis me dimisit. Ultimo Guda sociam meam, que ab infantia ei fuerat commorata, quam specialissime dilexit, ab ea repulit, quam ipsa beata Elysabeth cum lacrimis ac suspiriis dimisit.102

Was die Stellung dieser Hofdamen – als weibliche Protagonisten – am thüringischen Hof betrifft, so ist es bezeichnend, daß sie im Gegensatz zu männlichen Mitgliedern des Hofes in ähnlicher Verantwortung und Position in den landgräflichen Urkunden nicht benannt werden.103 Der Grund hierfür liegt wahrscheinlich in der fehlenden Rechtsfähigkeit von Frauen, der Umstand sagt aber noch nichts über informelle weibliche Einflußnahme und tatsächliche Machtposition aus. Ausführungen zu diesem Problemkreis ordnen sich in den größeren Kontext weiblicher Existenz am Hof, die Stellung adliger Frauen im Allgemeinen im 12. und 13. Jahrhundert sowie Veränderung und Entwicklung weiblicher politischer Macht im Früh- und Hochmittelalter ein, wobei festzuhalten ist: „Das 101 Huyskens, Albert (Hrsg.): Der sog. Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus. S. 36, V 1047-1052: „Die gottgeweihte Witwe Isentrud von Hörselgau gehörte zur Umgebung der sel. Elisabeth ungefähr fünf Jahr zu Lebzeiten ihres Gemahls, des Landgrafen, und über ein Jahr nach seinem Tod, bis die sel. Elisabeth das graue Gewand nahm, und war mit ihr so vertraut, daß sie alle ihre Geheimnisse kannte.“ In: Könsgen, Ewald (Hrsg.): Caesarius von Heisterbach: Das Leben der Heiligen Elisabeth. S. 143. 102 Huyskens, Albert (Hrsg.): Der sog. Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus. S. 47f, V1274-1292: „Ferner stellte Magister Konrad ihre Standhaftigkeit oftmals auf die Probe, indem er ihr in allem den Willen brach und zu tun befahl, was ihr zuwider war. Um sie noch mehr heimzusuchen, entfernte er die wenigen geliebten Menschen ihrer Hausgemeinschaft einen nach dem anderen von ihr; sie sollte jede Trennung einzeln schmerzlich empfinden. So vertrieb er endlich auch mich, die ihr sehr liebe Isentrud. Die sel. Elisabeth entließ mich im tiefen Kummer und unter vielen Tränen. Schließlich verfügte er noch die Entfernung meiner Gefährtin Guda, die von Kindheit an mit ihr zusammen war und die sie ganz besonders liebte. Auch von ihr nahm sie unter Weinen und Seufzen Abschied.“ In: Könsgen, Ewald (Hrsg.): Caesarius von Heisterbach: Das Leben der Heiligen Elisabeth. S. 167. 103 Rösener, Werner: Die höfische Frau im Hochmittelalter. S. 204.

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weibliche Handeln (auch das kulturelle) erwuchs [...] weit eher aus der Stellung als aus der Geschlechtszugehörigkeit.“104 Setzt man diese ausgewählten – wenigen – Befunde aus normativer Literatur und legendarischer Überlieferung mit den Figuren Lunete und Laudine in Beziehung, fällt das Gewicht ins Auge, das Lunete nicht nur im unmittelbaren Umkreis Laudines, sondern auch darüber hinaus zugemessen wird. Daß sie wie auch Brangäne oder Anna die herausgehobene Stellung der Kammerzofe besetzt, ist offensichtlich, ihre Überordnung über den restlichen weiblichen Hofstaat spricht dafür, daß sie das von Konrad von Megenberg beschriebene Amt der Hofmeisterin ausübt oder zumindest eine ähnliche Funktion, wenn man berücksichtigt, daß dieses Amt wohl erst im Laufe des 13. Jahrhunderts eine feste Institution an den Höfen wird. Durch den Blick auf Quellenmaterial zur politischen Rolle der adligen Frau, ihre Position am Hof, theoretische Schriften oder Didaxe ist eine Kontextualisierung der in der höfischen Literatur thematisierten weiblichen Nahbeziehungen möglich, doch wie verhält sich der literarische Text zu den anderen Diskursen? Kann er einfach als Schnittmenge, als Spielfeld der Optionen oder auch als Parteigänger einer Perspektive, etwa einer klerikal-theologischen, die dem Bildungshintergrund des Autors geschuldet ist, begriffen werden? „Fiction mediates social ideas.”105 Ist Literatur tatsächlich Mittler sozialer Vorstellungen? Wie zulässig sind Rückschlüsse von höfischen Texten zum politisch-sozialen Umfeld und umgekehrt? Es stellt sich also die Frage nach dem Status von Literatur, nach den „alten, immer wieder neu gedrehten Überlegungen zu dem komplizierten Verhältnis von Literatur und Gesellschaft bzw. Literatur und Geschichte“106. Literatur, so Greenblatt, ist ein Ort der Dynamik der Diskurse, die in einer Kultur am Werk sind: If the textual traces in which we take interest and pleasure are not sources of numinous authority, if they are the signs of contingent social practices, then the questions we have to ask of them cannot profitably center on a search for their untranslatable essence. Instead we can ask how collective beliefs and experiences were shaped, moved from one medium to another, concentrated in manageable aesthetic form, offered for consumption.107

Greenblatt und seine kritische Erweiterung durch Catherine Belsey und damit ihr Entwurf vom Nebeneinander und Gegeneinander von Wissen 104 Goetz, Hans-Werner: Frauen im Früh- und Hochmittelalter. Ergebnisse der Forschung. In: Kuhn, Annette / Lundt, Bea (Hrsg.): Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit. Dortmund 1997, S. 21-28, S. 27. 105 Deist, Rosemarie: Gender and Power. S. 217. 106 Peters, Ursula: Zwischen New Historicism und Gender-Forschung. S. 365. 107 Greenblatt, Stephen: Shakespearan Negotiations. S. 5.

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und Texten in einer Kultur sollen als Leitfaden der Analyse dienen. „Nirgends wird die Dissonanz des Wissens deutlicher als in fiktionalen Texten.“108 Ein Wissenshorizont auch für die höfische Literatur ist neben Historiographie und Didaxe der theologisch-normative Diskurs. Auf der normativen Ebene kann man daher auch die Frage stellen: Sind Frauen überhaupt zu Freundschaft fähig? Der mittelalterliche theologischanthropologische Diskurs kennt die Freundschaft zwischen Männern in unterschiedlichen Ausprägungen und Konzeptualisierungen. Die Frau als vir imperfectus ist in diesen Vorstellungen zunächst nicht vorgesehen, was nicht zuletzt auf Augustinus’ Genesiskommentar zurückzuführen ist.109 Zwar ist im 12. Jahrhundert, z.B. bei Hugo von St. Victor, eine Aufwertung der Ehefrau als Gefährtin zu verzeichnen110, doch ob damit schon ein grundlegender Wandel der Auffassungen eingeleitet ist, bleibt mehr als fraglich. Noch Montaigne spricht der Frau die Fähigkeit zur Freundschaft ab. Auffällig ist, daß die Konstellationen Herrin-Vertraute als emotionsgeladenere Beziehungen erscheinen als die zwischen den Männern. Laudine etwa reagiert ungehalten auf Lunetes Vorschläge und schickt sie fort. Dahinter könnte sich die theologisch-anthropologische Auffassung verbergen, nach der Frauen unbeherrschter seien und mehr ihren Affekten entsprechend agieren. Auch die Beziehung Brangäne – Isolde würde unter diesem Aspekt möglicherweise in einem anderen Licht erscheinen. Isoldes Mordplan wäre dann Bestätigung der Vorstellung, Frauen seien zu aufrichtiger, beständiger Freundschaft nicht fähig. Doch der Eindruck bleibt ambivalent. Brangäne besteht ihre „Feuerprobe“111, wenn sie auch in Todesgefahr Isolde ergeben bleibt. „Gegenüber Isoldes wankelmütigem Charakter hat Brangaene sich als so treu und beständig erwiesen [...], daß sie von nun an Isolde vertrauter wird als je zuvor. Beide werden zu Gefährtinnen“112. Eine Parallele ließe sich zu Lunete ziehen. Sowohl Brangäne als auch Lunete sollen sterben, da sie verantwortlich für die Geschehnisse gemacht werden bzw. weil man sie als gefährliche Mitwisser fürchtet: Brangäne soll aus dem Weg geräumt werden, weil Isolde ihre Indiskretion fürchtet, und Lunete wird zum Tod verurteilt, weil Mitglieder des Hofes sie bei Laudine als schlechte Ratgeberin denunzieren. 108 Belsey Catherine: Von den Widersprüchen der Sprache. Eine Entgegnung auf Stephen Greenblatt. In: Greenblatt, Stephen: Was ist Literaturgeschichte? Mit einem Kommentar von Catherine Belsey. (Erbschaft unserer Zeit: Vorträge über den Wissensstand der Epoche, Bd. 9) Frankfurt a.M. 2000, S. 51-72, S. 69. 109 Vgl. Kap. II. 110 Vgl. Eickels, Klaus Van: Tradierte Konzepte in neuen Ordnungen. S. 102ff. 111 Deist, Rosemarie: Die Nebenfiguren in den Tristanromanen Gottfrieds von Straßburg, Thomas’ de Bretagne und im Cligès Chrétiens de Troyes. S. 30. 112 Ebd.

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Um sich dem Zusammenspiel von normativen Konzepten, literarischen Entwürfen und sozialem Alltag weiter zu nähern, soll im Folgenden der Aspekt weiblicher Herrschaft, der für die genannten Konstellationen weiblicher Nahbeziehungen so wichtig ist, skizziert werden. 2.2 Weibliche Herrschaft Den exemplarischen Fall der Mitregentin bzw. die klassische Position der Königin verkörpert im Artusroman Ginover. Auch an ihrem Beispiel könnte man fragen, welche Rolle Frauen am Artushof spielen, welche Positionen ihnen dort zukommen. Ginover tritt als Ratgeberin für Artus in Erscheinung. In ihren Aktionen wirkt sie durchaus nicht immer eindeutig oder durchschaubar, und das gilt auch oder noch mehr für andere weibliche Regentinnen, beispielsweise Laudine. Insgesamt haben wir es mit einem „ambiguos image of the queen presented in Arthurian romance through the figure of Guinevere“113 zu tun. Neben Laudine wird in diesem Exkurs vor allem Dido zur Sprache kommen, da sich an ihr besonders gut zeigen läßt, wie weibliche Herrschaft in der höfischen Epik verhandelt wird. Für eine Betrachtung der Didofigur im Eneasroman muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß Heinrich von Veldekes Leistung nicht nur als die eines getreuen Vermittlers114 seiner französischen Vorlage bewertet werden kann. Vielmehr sind für eine Einordnung des Werks die Akzente zu berücksichtigen, die der Autor selbst setzt und die ihn sowohl von Vergils Aeneis als auch vom Roman d’Eneas unterscheiden. Dafür ist die psychologische Ausgestaltung der Didohandlung insgesamt115 ebenso zu nennen wie die Umgestaltung der Dido selbst als agierender Figur. Deutlicher als in den Vorlagen wird sie als Herrscherin eingeführt, indem der Autor ausführlich ihre Geschichte erzählt und dabei dem Moment ihrer Herrschaft über Karthago viel Gewicht beimißt.116 Weibliche Herrschaft ist auch im Hochmittelalter – auf der politischsozialen Ebene – die Ausnahme, sie entspricht – auf der normativen Ebe113 Pratt, Karen: The Image of the Queen in Old French Literature. In: Duggan, Anne J. (Hrsg.): Queens and Queenship in Medieval Europe. Proceedings of a Conference held at King’s College London 1995. Woodbridge 1997, S. 235-259, S. 253. 114 Bumke, Joachim: Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick. Heidelberg 1967, S. 34. 115 Quint, Josef: Der ‚Roman d’Eneas’ und Veldekes ‚Eneit’ als frühhöfische Umgestaltungen der ‚Aeneis’ in der „Renaissance des 12. Jahrhunderts. In: ZfdPh 73, 1954, S. 241-267, S. 254ff. 116 Syndikus, Anette: Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke. In: PBB 114, 1992, S. 57-107, S. 61ff.

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ne – nicht dem göttlichen ordo, und auch die Bezeichnung consors regni ist eher symbolische Formel oder bezieht sich auf die spezifischen Aufgaben der Königin als das sie tatsächliche Teilhabe an der Macht ausdrückt, auch wenn es selbstverständlich Ausnahmen gibt. Zwar scheint die Formel der consors regni und die damit verbundene Möglichkeit der Einflußnahme und Teilhabe an Herrschaft vor allem ein Phänomen der ottonischen und salischen Zeit zu sein,117 jedoch kann auch für das 12. Jahrhundert politische Einflußnahme und Mitsprache für die Königin konstatiert werden.118 Zwar ist es im französischen Lehnsrecht möglich, daß eine Frau das Erbe antritt, wenn kein männlicher Erbe da ist, doch da sie selbst nicht waffenfähig ist, braucht sie zur Sicherung ihrer Herrschaft und zur Verteidigung des Besitzes einen Schwertträger. Im Artusroman entspricht dieser Konstellation die Situation Laudines im Iwein.119 Nicht zuletzt unter diesem Aspekt muß man Iarbas Werben um Dido sehen. Anette Syndikus verweist auf den breiten Raum, den im Eneasroman die Charakterisierung Didos als Landesherrin einnimmt,120 und hebt die positive Darstellung der Königin hervor, die wiederholt als weise und mächtig charakterisiert wird.121 Doch kann gerade diese Betonung der Qualitäten von Didos Herrschaft als Hinweis auf die Schwierigkeiten des christlichen Autors mit der weiblichen Machtausübung verstanden werden, denn nach theologischer Auffassung fehlt der Frau die Befähigung zur Herrschaft. Augustinus führt in seinem Genesiskommentar aus, daß die Frau im Paradies nur zum Kindergebären geschaffen wurde, für alles andere – Trost spenden, Hilfe bei der Arbeit, Freundschaft – wäre ein zweiter Mann geeigneter gewesen.122 Das bedeutet, daß der Frau nach mittelalterlich-theologischer Auffassung im Schöpfungsplan nur eine Aufgabe zukommt, nämlich Gefäß des Mannes bei der Erzeugung von Nachkommen zu sein.

117 Zur consors-regni-Frage vgl. u.a. Vogelsang, Thilo: Die Frau als Herrscherin im hohen Mittelalter. Studien zur „consors regni“ Formel. (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 7) Göttingen, Frankfurt, Berlin 1954; Dick, Stefanie / Jarnut, Jörg / Wemhoff, Matthias (Hrsg.): Kunigunde – consors regni. Vortragsreihe zum tausendjährigen Jubiläum der Krönung Kunigundes in Paderborn (1002-2002). (Mittelalter Studien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, Paderborn, Bd. 5) München 2004; Erkens, Franz-Reiner: „Sicut Esther Regina“. Die westfränkische Königin als consors regni. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 20 (1), 1993, S. 15-38. 118 Fössel, Amalie: Handlungsspielräume hochmittelalterlicher Königinnen. In: Fössel, Amalie / Ruess, Karl-Heinz (Hrsg.): Die Frauen der Staufer. S.171-191. 119 Siehe dazu: Mertens, Volker: Laudine. 120 Syndikus, Anette: Dido zwischen Herrschaft und Minne. S. 61ff. 121 Ebd., S. 62ff. 122 Aurelius Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. De genesis ad litteram libri duodecim. Der große Genesiskommentar in zwölf Bänden. Zum ersten Mal in deutscher Sprache von Carl Johann Perl. 2 Bd. Paderborn 1961. Bd. II, 9. Buch, Kap. 5, S. 95f.

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Aber auch auf der politisch-sozialen Ebene ist eine aktive weibliche Position problematisch. In der Gesellschaftsordnung des Lehnswesens werden Frauen für die Etablierung horizontaler und vertikaler Beziehungen zwischen verschiedenen Familien eingesetzt. Oft geht ein Friedensschluß mit einer Heirat von Angehörigen der ehemals gegnerischen Parteien einher oder bestehende Bündnisse werden durch eine Hochzeit erneuert.123 Eine männlich-feudal organisierte Gesellschaft, in der den Frauen die Rolle von Tauschobjekten für den Aufbau und die Stabilisierung von gesellschaftlichen Hierarchien und politischen Machtverhältnissen zugewiesen wird, setzt die passive weibliche Sexualität, die auf das männliche Begehren reagiert, aber nicht selbst individuelles Begehren artikuliert, als Norm fest.124 Dido repräsentiert durch ihre aktive Wahl eines Mannes „the ’other’ story that is always inherent in female sexuality if social controls fail to channel and to direct female desire through marriage.”125 Problematisch ist zudem, daß Dido als Witwe keine politisch vernünftige Verbindung mit einem Nachbarn oder Vasallen eingeht, sondern aus Liebe einen landlosen Flüchtling heiratet. Ihr Verhalten gegenüber Eneas unter dem Einfluß der Minne ist es, wodurch der Text sie in ihrer Rolle als Herrscherin charakterisiert. In mehrfacher Hinsicht stellt Didos Verhalten also eine Normverletzung dar. Ihre Herrschaft steht im Widerspruch zum göttlichen ordo, sie begeht Ehebruch und kommt in der Folge ihren Pflichten als Herrscherin nicht mehr nach, ein Umstand, in dem ein Teil der Forschung ihre eigentliche Schuld sieht: „es ist nicht möglich, in Dido nur die unglücklich Liebende zu sehen: Veldeke wollte darüber hinaus den Untergang einer Herrscherin darstellen“126. Dido ist sicherlich der extremste Fall weiblicher Herrschaft, da sie tatsächlich selbst Herrschaft ausübt und nicht nur als Witwe auf der Suche nach dem Schwertträger ist. Im Gegensatz zu ihr ist Laudine als ursprüngliche Brunnenfee in der Tiefenschicht eine mythische Figur,127 die nur 123 Vgl. Klapisch-Zuber, Christiane: Die Frau und die Familie. In: Le Goff, Jacques (Hrsg.): Der Mensch des Mittelalters. Übers. v. Michael Martin. New York, Frankfurt 1994, 3. Aufl., S. 312-339, S. 314ff. 124 Desmond, Marilynn: Reading Dido. Gender, Textuality, and the Medieval Aeneid. (Medieval Cultures, 8) Minneapolis, London 1994, S. 103f. 125 Ebd. S. 104. 126 Syndikus, Anette: Dido zwischen Herrschaft und Minne. S. 64. Vgl. auch Kartschoke, Dieter: Didos Minne – Didos Schuld. In: Krohn, Rüdiger (Hrsg.): Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. München 1983, S. 99-116. 127 Vgl. dazu u.a.: Ihring, Peter: Die überlistete Laudine. Korrektur eines antihöfischen Weiblichkeitskonzepts in Chrétiens Yvain. In: Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Arthurian Romance and Gender. Masculin / Féminin dans le roman arthurien médiéval. Geschlechterrollen im mittelalterlichen Artusroman. (Selected Proceedings of the XVIIth International Arthurian Congress. Actes choisis du XVIIe Congrès International Arthurien. Ausgewählte Akten

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oberflächlich als höfische Dame gestaltet wird, um der Gattung und den Erwartungshaltungen des Publikums gerecht zu werden. Doch diese mythische Struktur, durch Laudine und ihr Quellreich verkörpert, liegt in der Tiefenschicht des Textes und wird sowohl dem Autor als auch den Rezipienten kaum bewußt gewesen sein. Daher scheint die ‚soziale Problematik’ naheliegender, die Volker Mertens für Laudines Situation in Anspruch nimmt,128 und vor allem dem Alltagsverständnis des Publikums näher: Laudine in ihrer schwierigen Lage als verwitwete Landesherrin „kann [...] für die adligen Damen im Publikum Identifikationsfigur sein“129, was Mertens durch die Kontextualisierung der Laudinefigur mit der politischen und rechtlichen Praxis der Zeit verdeutlicht.130 Einerseits ist in ihr eine Herrscherin gezeichnet, die sich ihrer politischen Rolle bewußt ist und diese auch öffentlich demonstriert, etwa, wenn sie Lunete an den Artushof schickt, damit diese dort Iweins Versäumnis und die daraus resultierenden Konsequenzen verkündet.131 Andererseits ist Laudine fest in die Strukturen einer männlich organisierten Gesellschaft eingebunden, was vor allem in der Verpflichtung zum Ausdruck kommt, sich schnell wieder zu verheiraten: „Of all Arthurian women, Laudine is the most bound into patriarchal custom.“132. Diese Dimensionen von Herrschaft und ihrer – weiblichen – Beratung wird auch bei der weiteren Untersuchung der interpersonalen Beziehungen zwischen Frauen Aufmerksamkeit verlangen. Doch kehren wir noch einmal zu Laudine und Lunete und zum Verhältnis von weiblichen/männlichen Geschlechteridentitäten und Beraterfunktion zurück. Für Lunete stellt sich die Frage, ob sie eigentlich genderspezifisch agiert, etwa im Vergleich mit Gawein, und was dann möglicherweise weibliche Beratung von männlicher unterscheidet. „Lunete is taking on a male role. She is acting as a friend and advisor, which women may certainly do, but she is giving Laudine a type of reminder

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des XVII. Internationalen Artuskongresses. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, 10) Amsterdam, Atlanta 1995, S. 147-159, S. 150ff. Mertens, Volker: Laudine. Kritik dazu siehe: Kaiser, Gert: ‚Iwein’ oder ‚Laudine’. In: ZfdPh 99 (1) 1980, S. 20-28. Mertens, Volker: Laudine. S. 20. Ebd. S. 39f – Beispiele für Witwenehen. Vgl. dazu: Wohlgemuth, Ralf: „Der Tod des Königs“ – weibliche Herrschaftsinszenierung durch kompetitives Sprechverhalten in Hartmanns „Iwein“. In: Mauerschau 1, 2008, S. 5976, S. 66. Fries, Maureen: Female Heroes, Heroines, and Counter-Heros. Images of Women in Arthurian Tradition. In: Fenster, Thelma S. (Hrsg.): Arthurian Women. New York, London 2000, S. 59-73, S. 63.

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usually given by and to men.”133 Heißt das, es gibt ein festes männliches Konzept von Beratung, das Lunete imitiert? Entsprechend ihrer Darstellung als kluge und pragmatische Beraterin wird für Lunete gelegentlich auch konstatiert, ihr fehle „das Moment der emotionalen Rückkopplung [...] sie wirkt im Umgang mit Laudine rein rational“134. Das verkennt, daß ihre Handlungsweise vor allem durch ihre Rolle bedingt ist. Diese verlangt analytisches Vermögen, weniger ‚private’ Emotionen, was jedoch noch keinen Rückschluß auf ihre tatsächlichen Gefühle und vor allem ihre emotionale Bindung an Laudine zuläßt. Zudem bewegt man sich hier auf dem schwankenden Boden historischer Emotionsforschung135 bzw. ist mit dem Problem der Codierung von Emotionen konfrontiert.136 Was aber bedeutet das für die Beziehungen der Frauen untereinander? Der Iwein präsentiert die Beziehung Laudine-Lunete ausschließlich im Zusammenhang ihres gesellschaftlich-politischen Kontextes. Die Unterscheidung einer eher privaten und einer offiziellen Ebene innerhalb des Verhältnisses ist daher kaum möglich. Auch der persönliche Rat Lunetes, der in der Vertrautheit und Intimität der Zweierbeziehung und nicht öffentlich gegeben wird, ist kein privater,137 und damit unverbindlicher Rat oder gar die Abwägung einer Entscheidung unter Freunden, sondern politische Beratung in einer Lage, in der Stabilität und Sicherheit des Landes sowie der Herrschaft gefährdet sind und die deshalb schnelle Entscheidungen erfordert. Lunete agiert dabei taktisch in Hinblick auf Laudine und strategisch weitsichtig in bezug auf die Verteidigungssituation. Sie teilt nicht ihr ganzes Wissen mit der Herrin, wohl weil ihr Reaktionen und Verhaltensweisen Laudines nur allzu vertraut sind. Kann man von Manipulation sprechen, von Macht und Kontrolle Lunetes?138 Unbestreitbar ist ihre Position eine Machtposition. Sie hat nicht 133 Germain, Ellen: Lunete, Women, and Power in Chretien’s Yvain. In: Romance Quarterly 38 (1) 1991, S. 15-25, S. 18. 134 Bleumer, Hartmut: Das Vertrauen und die Vertraute. S. 261f. 135 Schnell, Rüdiger: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. In: FMSt 38, 2004, S. 173-276. 136 Benthien, Claudia / Fleig, Anne / Kasten, Ingrid (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. (Literatur – Kultur – Geschlecht: Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Kl. Reihe, Bd. 16) Köln, Weimar, Wien 2000. 137 Der Rat Lunetes mag zwar im intimen, nicht-öffentlichen Raum gegeben werden, von Person zu Person, und damit auch individuell sein, privat kann hier aber nicht im Gegensatz zu öffentlich oder politisch verstanden werden, wie das etwa J. M. Sullivan versucht. Siehe Sullivan, J. M.: The Lady Lunete: S. 337. 138 Armstrong, Grace: Women of Power: Chrétien de Troyes’ Female Clerks. In: Guggenheim, Michel (Hrsg.): Women in French Literature. (Stanford French and Italian Studies, Bd. 58) Saratoga 1988, S. 29-46, S. 43; Gibson, Melanie McGarrahan: Lyonet, Lunete, and Laudine. Carnivalesque Arthurian Women. In: Wheeler, Bonnie / Tolhurst, Fiona (Hrsg.): On Arthurian Women. Essays in Memory of Maureen Fries. Dallas 2001, S. 213-227.

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nur unmittelbaren Zugang zur Herrin, sie scheint geradezu ein Monopol auf diese direkte Bindung zu haben, jedenfalls ist sie Mittlerfigur für andere Mitglieder des Hofes. Lunete ist fast immer erfolgreich, den Gang der Ereignisse in ihrem Sinn zu beeinflussen und zu lenken, nicht zuletzt dank ihrer rhetorischen Fähigkeiten.139 Möglicherweise aber ist die Beobachtung zutreffend, der Ratgeber mit deutlichen Konturen trete entsprechend der größeren Bedeutung des Individuums im 12. Jahrhundert stärker auf, und Lunete ist entsprechend ein literarisches Beispiel dafür. Möglicherweise wird damit auch die Beziehung zwischen Beratenen und Ratgebern, zwischen Herrschenden und Vertrauten individueller und damit wichtiger. Legt man den Maßstab der Idealvorstellung von Fürst und Ratgeber in mittelalterlichen Fürstenspiegeln an, so kann man in dieser Perspektive feststellen, daß Lunete der Vorgabe des umsichtigen Beraters, der das Beste für seinen Herrscher/seine Herrscherin will, entspricht, denn auch ihr taktisches Vorgehen, ihre Manipulation haben immer das Ziel, das Wohl und die Herrschaft ihrer Herrin zu sichern.140 In den Männerfreundschaften der höfischen Literatur wird Männlichkeit verhandelt, in mannigfaltigen Facetten, symbolisches Kapital generiert und anthropologische Rollen durchgespielt. Doch wird in gleichem Maße in den Beziehungen zwischen Frauen, konkret in den Verhältnissen Herrin – Vertraute, Weiblichkeit verhandelt oder doch nur ihre prekäre Position ins Bild gesetzt,141 welche letztlich immer am männlichen role model gemessen wird?

139 Uitti, Karl D.: Le Chevalier au Lion (Yvain). In: Kelly, Douglas (Hrsg.): The Romances of Chrétien de Troyes. A Symposium. (The Edward C. Armstrong Monographs on Medieval Literature, 3) Lexington 1985, S. 182-231, S. 216. 140 Eine andere, pragmatischere Lesart von Lunetes Stellung im Sinne der Brokerfigur wird in Kapitel IV.2. präsentiert. 141 Siehe dazu u.a. Krueger, Roberta L.: Love, Honor, and the Exchange of Women in Yvain: Some Remarks on the Female Reader. In: Romance Notes 25 (3) 1985, S. 302-317.

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3. Ehe, Liebe und Freundschaft im Spannungsfeld heteronormativer Verhältnisse und homosozialer Bindungen 3.1 Liebe und Freundschaft Im ersten Kapitel wurde bei den grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Freundschaft das Neben- und Miteinander unterschiedlicher Nahbeziehungssysteme genannt, das es zu berücksichtigen gilt. Dabei geht es zum einen um die Relationen von Freundschaft zu Familie und Verwandtschaft, die bereits skizziert wurden und auf die für die höfische Epik noch zurückzukommen sein wird, und zum anderen um das Verhältnis zu Liebe und Ehe, auf das auch schon in Kapitel II verwiesen wurde und das in bezug auf die höfische Literatur besonders wichtig ist. Minnebeziehung und höfischer Roman gehören in unserer Wahrnehmung immer noch eng zusammen, und die Forschung hat viel Energie und Papier auf die Analyse der Paarbeziehungen verwandt.142 Freundschaft tritt demgegenüber in den Hintergrund, da sie im Text scheinbar nicht die Aufmerksamkeit und damit die Wertigkeit bekommt wie die Minne. Diskutiert wird vorwiegend das Liebesideal und ob dieses zugleich ein Eheideal sei, in jedem Fall aber die Nahbeziehung darstellt, um die sich alles dreht.143 Gerade die Problematisierung der Geschlechterbeziehung in den Artusromanen deutet dabei auf das Interesse und auf die Möglichkeit, unterschiedliche Varianten auf der Spielwiese des Literarischen, Fiktiven durchzuprobieren. Schon eine kurze schlaglichtartige Bestandsaufnahme zeigt, daß die Paarbeziehungen im höfischen Roman in der Regel äußerst ambivalent und nur unter Schwierigkeiten mit den gesellschaftlichen Konventionen in Einklang zu bringen sind und daß es dabei oft um die Praxis angemessener Eheführung ebenso geht wie um die Verwirklichung eines hochanspruchsvollen Liebesideals: Iweins Verbindung mit Laudine ist eine Vernunftheirat, oder soll doch wie eine solche aussehen, zugleich aber ist sie die Verbindung des verliebten Helden – bei Iwein spielt die erotische Attraktion zweifellos eine große Rolle – und der schnell getrösteten Witwe; und in einer ähnlichen Konstellation finden die beiden sich auch am Ende des Romans wieder. Erec und Enite sind 142 Peters, Ursula: Höfische Liebe. S. 1-13; Schnell, Rüdiger: Unterwerfung und Herrschaft. S. 103-133. 143 Siehe u.a. Liebertz-Grün, Ursula: Kampf, Herrschaft, Liebe. Chrétiens und Hartmanns Erec- und Iweinromane als Modelle gelungener Sozialisation im 12. Jahrhundert. In: Tatlock, Lynne (Hrsg.): The Graph of Sex and the German Text: Gendered Culture in Early Modern Germany 1500-1700. (Chloe: Beihefte zum Daphnis, Bd. 19) Amsterdam, Atlanta 1994, S. 297-328.

3. Ehe, Liebe und Freundschaft

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mit dem Problem ihrer sexuellen Überaktivität konfrontiert und müssen die richtige Eheführung erst lernen: Der amor carnalis – wenn man auf den normativen theologischen Diskurs bezug nimmt – prägt zu Beginn ihre Ehe. Und dabei steht vielleicht weniger die Integration der erotischen Komponente in die sozial normierte Adelsehe im Mittelpunkt,144 als vielmehr eine herrschaftskonstituierende und herrschaftsangemessene Ehe, in der die Liebe des Paares ihren Raum findet. Im Cligès wird dieses Thema von Ehe und Herrschaft ebenfalls variiert vorgeführt, es geht um die angemessene Ehepartnerin für den rechtmäßigen Herrscher, und vor allem im Fall von Fenice und Cligès ist dieses Ziel nur auf zweifelhaften Umwegen erreichbar, die mit den Täuschungsmanövern gegenüber Alis nicht der Komik entbehren. Eneas und Lavinia werden ein Paar, weil das ihre politisch-historische Bestimmung ist, während Didos Liebe zum Trojaner zum Scheitern verurteilt ist, d.h. auch hier bildet die Frage der herrschaftskonstituierenden Ehe den Hintergrund für das erfolgreiche Paar. Andere Paarbindungen sind nicht frei von pathologischen Zügen: Gawan bringt sich als Artusritter in seiner liebeskranken Werbung um Orgeluse an den Rand der Lächerlichkeit, Gahmuret und Herzeloyde verbindet eine Faszination wie Befremden auslösende Abhängigkeitsbeziehung, und unter den weiteren Paaren der Artusgesellschaft befinden sich solche wie Jeschute und ihr prügelnder Ehemann Orilus, von den großen Liebenden und Ehebrechern Tristan und Isolde sowie Lancelot und Ginover gar nicht zu reden. Die große Ausnahme bilden zweifellos Condwiramurs und Parzival in Wolframs Parzival, die zugleich vorbildliche, in Freundschaft verbundene Ehepartner und Liebende sind. Warum aber ist es überhaupt notwendig, all diese Paare in einer Gegenüberstellung von Liebe und Freundschaft anzuführen? Zum einen ist die Trennung Liebe/Freundschaft in der Vormoderne genauso unscharf wie in der Moderne. Allein der Blick auf die (lateinische) Terminologie demonstriert den fließenden Übergang dieser personalen Bindungen. Für das 12. Jahrhundert hat zudem Klaus van Eickels auf den in theologischer Sicht sich ändernden Stellenwert von Liebe und Freundschaft für die Ehe aufmerksam gemacht.145 Ein anderes Indiz für die Dynamisierung der Liebe-Freundschaft-Relation liefert die Rezeption des Pyramus-ThisbeStoffes. Es läßt sich beobachten, daß die Semantik der Geschichte dieses Paares, die einen Exerzierplatz im Schulunterricht des 12. Jahrhunderts

144 Vgl. dazu Schulze, Ursula: Âmîs unde man. Die zentrale Problematik in Hartmanns von Aue ‚Erec’. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 105 (1) 1983, S. 14-47. 145 Eickels, Klaus van: Tradierte Konzepte in neuen Ordnungen.

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darstellt,146 um 1200 von Freundschaft auf heterosexuelle Liebe übertragen wird.147 Entsprechend hat die Forschung einen engen Zusammenhang von Liebe und Freundschaft bzw. die Schwerpunktverlagerung von Freundschaft hin zur Minnebeziehung um 1200 postuliert: Waltraud Fritsch-Rößler liest die Liebesbeziehungen der Protagonisten im Erec und Iwein auf dem Hintergrund von Ciceros Laelius;148 Ralf-Henning Steinmetz sieht in Walthers von der Vogelweide Neuerungen im Minnesang eine Anwendung des Laelius und der Ideale der Tugendfreundschaft auf die Minne.149 Mitunter wird auch für diese gemeinsame Betrachtung von Liebe und Freundschaft Luhmanns Code der Intimität benutzt,150 der jedoch mit seiner Epocheneinteilung in bezug auf ‚Liebe als Passion’ irreführend ist, wie nur der Blick auf zwei prominente Liebespaare des 12. Jahrhunderts und des Mittelalters insgesamt zeigt – Abaelard und Heloise sowie Tristan und Isolde.151 In der Untersuchung der Nahbeziehungen der höfischen Epik ist eine Übertragung von Freundschaftssemantik auf Minne bzw. eine Verlagerung des Fokus’ von der Freundschafts- auf die Liebesbeziehung zu hinterfragen. Das heißt allerdings nicht, daß nicht beide Bindungen zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Nicht nur muß Freundschaft immer im Kontext anderer Nahbeziehungen gelesen werden, sondern vor allem das spannungsreiche Verhältnis von Freundschaft zur Geschlechterbeziehung fällt immer wieder ins Auge. Beide Bindungen erscheinen nicht selten als konkurrierende Ordnungssysteme. Wohin das führt, zeigen etwa die Beispiele aus Don Quichotte und den Cambridger Liedern, die im letzten Kapitel vorgestellt wurden. Auch Giovanni Boccaccio hat einen solchen Fall in seinem Decamerone. Die neunte Geschichte des vierten Tages präsentiert das Motiv des gegessenen Herzens, ähnlich der Version wie sie Konrad von Würzburg in seinem Herzmaere gestaltet. Guilhem de Roussillon bringt den Geliebten seiner Frau um und gibt ihr sein Herz zu essen. Als sie es erfährt, stürzt sie sich aus dem Fenster. Hans-Jörg Neuschäfer hat anhand dieser Geschichte durch den Vergleich mit einer der mittelalterlichen Vorlagen – der Troubadour146 Glendinning, Robert: Pyramus and Thisbe in the Medieval Classroom. In: Speculum 61 (1) 1986, S. 51-78. 147 Ebd. 148 Fritsch-Rößler, Waltraud: Finis Amoris. Ende, Gefährdung und Wandel von Liebe im hochmittelalterlichen deutschen Roman. (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 42) Tübingen 1999, S. 101ff sowie S. 159ff. 149 Steinmetz, Ralf-Henning: Walthers Neuerungen im Minnesang und die Freundschaftsliteratur des 12. Jahrhunderts. 150 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 2004. 151 Siehe dazu: Krass, Andreas: Freundschaft als Passion. Zur Codierung von Intimität in mittelalterlichen Erzählungen. In: Appuhn-Radtke, Sibylle / Wipfler, Esther P. (Hrsg.): Freundschaft. S. 97-116.

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Vida von Guillem de Cabestaing – demonstriert, wie sich Boccaccios neue Strukturierung des bekannten Motivs in der Novelle auswirkt: Aus den klaren und typischen Verhältnissen der Vida und vor allem der moralisch eindeutigen Konstellation, die den eifersüchtigen und bösartigen Ehemann dem integren Liebespaar gegenüberstellt, ist in Boccaccios Novelle „ein komplizierter und problematischer Fall“152 geworden. Nicht nur muß die Frau hier erst zum Ehebruch überredet werden, sondern die beiden Männer sind auch befreundet, wodurch der Ehebruch um so schwerer wiegt. Unter diesen Umständen wird auf der einen Seite die Rache des Ehemanns verständlicher, und auf der anderen Seite können die Liebenden nicht mehr als alleinige Sympathieträger gelten. Diese Variante Boccaccios des altbekannten erotischen Dreiecks kann durchaus als Ausblick der Geschichte Tristans, Isoldes und Markes aufgefaßt werden. Kehren wir noch einmal zu Iwein und Laudine und zum höfischen Roman zurück, um am Text dieses Fallbeispiels exemplarisch die Problematik von Ehe und Liebe im Vergleich zur Freundschaft zu verdeutlichen. Bekannte Interpretationen des Romans wie die von Kurt Ruh sehen die Schuld allein bei Iwein, in seiner Nichteinhaltung des Termins der Rückkehr zu Laudine und seiner Pflichtvergessenheit gegenüber seiner Aufgabe, die Quelle zu verteidigen, die ihm mit der Tötung von Laudines Mann und der Hochzeit mit ihr zugefallen ist. Zudem weist Kurt Ruh darauf hin, daß Laudine nicht der sittlich-moralischen Wertung unterliegt, weil sie die „Herrin der Quelle und Herrin über ihren Gemahl“153 ist. „Sie hat ihn gewählt, sie bestimmt das Minneverhältnis, sie den Urlaub und dessen Termin. Sie vertritt Minne als ungeteilte Forderung, in ihrer Allgewalt.“154 Der Grund hierfür liegt in dem Motiv, das Laudines Handeln zu Grunde liegt: Die Tatsache, daß Laudine über eine Gewitterquelle gebietet, macht deutlich, daß es sich bei ihr ursprünglich um eine Brunnenfee handelt. In der höfischen Überformung dieses Märchenmotivs dient ein Ritter der Frau und beschützt die Quelle, wird er besiegt, so fällt die Herrin der Quelle an den Sieger und ebenso die Verteidigungspflicht. Die Frau aber ist es, die darüber bestimmt, ob er auf Aventiure ausziehen darf und wie lange. Hält er sich nicht an ihre Vorgaben, hat das schlimme Folgen für ihn,155 und eben das bekommt Iwein zu spüren. Peter Wapnewski sieht Iweins Schuld, die der Auslöser für seinen Wahnsinn ist, in seiner „Maßlosigkeit der Hingabe an [...] ritterliche Ver152 Neuschäfer, Hans-Jörg: Die ‚Herzmäre’ in der altprovenzalischen Vida und in der Novelle Boccaccios. Ein Vergleich zweier Erzählstrukturen. In: Poetica 2, 1968, S. 38-47, S. 38. 153 Ruh, Kurt: Zur Interpretation von Hartmanns Iwein. In: Kuhn, Hugo / Cormeau, Christoph (Hrsg.): Hartmann von Aue. Darmstadt 1973, S. 408-425, S. 418. 154 Ebd. S. 418. 155 Ebd. S. 418f.

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gnügungen“156 und „in der Maßlosigkeit des unbedachten Kampfes“157. Diese Sicht ist nicht unwidersprochen geblieben, insbesondere über Iweins Kampf mit Askalon und die Beschreibung „der herre Îwein jagte in âne zuht“158 gibt es eine lange Forschungsdiskussion.159 Dahinter steht die Annahme eines Programms des höfischen Romans, das vorsieht, Minne und Kampf in ein ausgeglichenes Verhältnis zu bringen, so daß der Held sowohl als Ehemann als auch als Ritter vorbildlich agiert. Auf der Strukturebene stellt Iweins Wahnsinn die Krise des Helden des Artusromans dar, die nach ersten Erfolgen in Kampf und Minne aufgrund der noch nicht erreichten persönlichen Vollkommenheit eintritt und den Wendepunkt des Geschehens markiert, indem der Held sich seiner Fehler bewußt wird und daraufhin in den Cursus der Bewährung eintritt, der ihn zurück in die Artusgesellschaft und zu seiner Minnedame führt.160 Eine andere Möglichkeit besteht allerdings darin, die Fristsetzung durch Laudine zu problematisieren. In dieser Lesart ist die Ehe Laudines mit Iwein eine Zweckehe, eine politische Heirat, die der Erhaltung des Besitzes der Frau und der Landesverteidigung gilt. Iwein hat Laudines Mann im Zweikampf getötet, und die Witwe heiratet ihn, da sie selbst nach hochmittelalterlichem Recht nicht waffenfähig ist, um einen neuen Landesherrn zu ihrem Schutz zu haben und nicht Beute eines land- und machthungrigen Nachbarn zu werden. Und wer könnte besser für diese Aufgabe geeignet sein, als der Bezwinger ihres Mannes, hat er doch in diesem Kampf seine Stärke und Überlegenheit demonstriert.161 In der Folge wird Iwein in gewisser Hinsicht ein Opfer Laudines und damit ein Opfer der Weibermacht,162 denn seine Demütigung und sein Wahnsinn163 156 Wapnewski, Peter: Deutsche Literatur des Mittelalters. Ein Abriß von den Anfängen bis zum Ende der Blütezeit. Göttingen 1990, 5. Aufl., S. 57. 157 Ebd. S. 57. 158 Iwein. 1056. 159 Vgl. u.a. Le Sage, David: „Ane zuht or Ane schulde“? The Question of Iwein’s Guilt. In: MLR 77, 1982, S. 100-113. 160 Daneben kann aber der Identitätsverlust eines Helden des Artusromans auch als Ausdruck der Krisenhaftigkeit der höfischen Gesellschaft selbst gelesen werden. Durch die Anklage Lunetes verliert Iwein auf einmal alles, was für ihn von Bedeutung ist: Minne, Ehre, Leben in der Artusgesellschaft. Vor allem der Verlust der êre ist einschneidend, definiert sich doch der Mann in einer agonal strukturierten Gesellschaft wie der des Hochmittelalters über den im Kampf erworbenen Ruhm. Der Mann aber, der seine Ehre verliert, hat in der höfischen Gesellschaft keinen Platz mehr und muß als Wahnsinniger im Wald leben. Ist er geheilt und seine Ehre wiederhergestellt, wird er wieder in seine alte Umgebung integriert. 161 Mertens, Volker: Laudine. 162 Die Listen der Weibermacht sind ein im gesamten Mittelalter wiederkehrendes Thema, das sich sowohl in bildlichen Darstellungen, in exempla-Sammlungen und in ehedidaktischen Texten findet. Der Mann, der zuläßt, daß seine Frau ihn beherrscht und kontrolliert, macht sich an ihrer superbia, ihrer Verletzung ihres Naturstandes als Frau, der die Unterordnung unter der Mann vorsieht, mitschuldig und wird mit der Demütigung seiner Person bestraft.

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resultiert aus seiner Nichteinhaltung des Vertrags mit Laudine oder besser gesagt, sein Versäumnis, ihre Bedingung zu erfüllen, führt dazu, daß sie den Ehevertrag aufkündigt. Zwar ist darauf verwiesen worden, daß diese Jahresfrist nicht Laudines Willkür zuzuschreiben sei, sondern dem geltenden Lehensrecht entspreche:164 Der Sachsenspiegel stellt für einen Fall wie den Laudines – es gibt keinen männlichen Erben – fest, ein Anwärter auf das Lehen habe binnen Jahresfrist seinen Anspruch beim Herrn nachzuweisen,165 und ein solcher möglicher Anwärter kann ein Mann sein, auf den die nicht lehensfähige Frau sich beruft. In dem Fall, daß der Mann die Gewähr für das Lehen übernimmt, kann die Frau das Gut behalten.166 Nur: kann man bei Laudines Reich von einem Lehen sprechen? Die Herzogin (Chrétien) bzw. Königin Laudine (Hartmann) ist Herrin ihres Reiches ebenso wie Dido, ein Oberlehnsherr weit und breit nicht in Sicht. Das Problem der Frauen ist weniger ein rechtliches als ein machtpolitisches: Sie brauchen einen Landesverteidiger, um ihr Land vor dem Zugriff Fremder zu schützen, die im Besitz einer Landesherrin ohne männlichen Waffenschutz leichte Beute wittern. Eine weitere Option, Ehe und Freundschaft, weibliche und männliche Sphäre, Natur und Kultur gegenüberstellen, bietet Walter Haugs Interpre-

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Für eine Lesart der Beziehung Iwein-Laudine im Sinne der Listen der Weibermacht spricht möglicherweise die Rezeption des Stoffes, der sich im Medienwechsel zeigt: Auf dem Maltererteppich ist Iwein als einer der Frauensklaven dargestellt, zusammen mit Aristoteles, Samson und Vergil. Iweins Wahnsinn ist ein vieldiskutiertes Problem der Hartmann-Forschung, was hier nicht umfassend dokumentiert werden kann. Daher sei nur auf einige wesentliche Beiträge zu dieser Frage verwiesen: Le Goff, Jacques: Lévi-Strauss in Brocéliande: Skizze zur Analyse eines höfischen Romans. In: Ders.: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart 1990, S. 171-200; Mohr, Wolfgang: Iweins Wahnsinn. Die Aventüre und ihr „Sinn“. In: ZdfA 100, 1971, S. 73-94; Wehrli, Max: Iweins Erwachen. S. 64-78; Quast, Bruno: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Kellner, Beate / Lieb, Ludger / Strohschneider, Peter (Hrsg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. (Mikrokosmos 64) Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 111-128; Müller, Jan-Dirk: Identitätskrisen im höfischen Roman um 1200. In: Moos, Peter von (Hrsg.): Unverwechselbarkeit. S. 297-323; Matejovski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a.M. 1996, S. 120-155; Schmitt, Wolfram: Der ‚Wahnsinn’ in der Literatur des Mittelalters am Beispiel des ‚Iwein’ Hartmanns von Aue. In: Kühnel, Jürgen / Mück, Hans-Dieter / Müller, Ursula / Müller, Ulrich (Hrsg.): Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. (GAP, Nr. 431) Göppingen 1985, S. 197-214; Krause, Burkhardt: Zur Psychologie von Kommunikation und Interaktion. Zu Iweins ‚Wahnsinn’. In: Kühnel, Jürgen / Mück, Hans-Dieter / Müller, Ursula / Müller, Ulrich (Hrsg.): Psychologie in der Mediävistik. S. 215-242. Braunagel, Robert: Die Frau in der höfischen Epik des Hochmittelalters. S. 31f. Eike von Repkow: Der Sachsenspiegel. Hrsg. v. Clausdieter Schott. Zürich 1984, § 6,2. Ebd. § 75,3.

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tation der arthurischen Sphären von Weiblichkeit und Männlichkeit.167 Danach verkörpert die Frau ebenso wie die wilde Natur die weibliche Sphäre.168 Dreimal verläßt Iwein heimlich den Artushof: Zuerst, um Gawein beim Brunnenabenteuer zuvorzukommen, dann nach Lunetes Erscheinen am Artushof und schließlich bei der Rückkehr zu Laudine. Zweimal führt ihn also der Weg, wenn auch jeweils nicht ohne Umwege und Hindernisse und in beiden Fällen unterstützt von Lunete, zu Laudine, einmal an den Rand der Zivilisation und in den Wahnsinn. In allen drei Fällen bewegt er sich weg aus der männlich-‚monastischen’ Welt des Artusreiches in die weibliche Sphäre der Natur,169 die sich als gefährlich erweist. All diese Deutungen haben ihre Berechtigung, aber hier soll eine andere Lesart angeboten werden, die sich auf das Spannungsverhältnis der Nahbeziehungen Liebe und Freundschaft konzentriert. Minnediskurs und Freundschaftsdiskurs werden im Iwein nebeneinander und miteinander narrativ entfaltet, in Lunetes und Gaweins Beratungen und Interventionen überkreuzen sich beide Beziehungsformen. Während im Erec die Liebe den roten Faden der Erzählung bildet, zu dem mit dem Auftauchen Guivreiz’ die Freundschaftserzählung hinzutritt, werden im Iwein Liebe und Freundschaft nahezu gleichzeitig präsentiert und steuern im narrativen Verlauf in unterschiedlicher Weise, aber gleichzeitig das Geschehen. Bei der Hochzeit Iweins mit Laudine wird Gawein als Iweins Freund eingeführt, und der Freundesrat führt dazu, daß Iwein mit Gawein auf Aventiure-Fahrt geht, statt bei seiner Frau zu bleiben. Iweins Wahnsinn entfernt ihn sowohl von Laudine als auch von Gawein. Mit dem Kampf für Lunete rettet Iwein sowohl die Zofe seiner Frau als daß er auch Gawein einen Freundschaftsdienst erweist, indem er ihn in diesem Kampf vertritt. Und schließlich geht der Freundeskampf, das Wiedererkennen der Freunde und ihre Versöhnung der Versöhnung Iweins mit Laudine voraus. Der Iwein ist somit auch ein Text über das Erzählen von Liebe und Freundschaft. Er macht ein Angebot, wie man eine Minnebeziehung und eine Freundschaftsbeziehung – nimmt man Lunete hinzu, sogar verschiedene Formationen von Freundschaft – narrativ gestalten kann, indem man beide Beziehungssysteme in Wechselwirkung treten läßt. Dabei bildet die eine Nahbeziehung jeweils die Folie für die andere. Beide Beziehungen werden als Krise und ihre Bewältigung/als Neuanfang erzählt, aber die 167 Haug, Walter: Die Rollen des Begehrens. Und siehe dazu: Paglia, Camilla: Sexual Personae. Art and Decadence from Nefertiti to Emily Dickinson. London, New Haven 1990. 168 Haug, Walter: Die Rollen des Begehrens. 169 Zum Thema Weiblichkeit, Natur und Kultur vgl. u.a. aus ethnologischer Perspektive: MacCormack, Carol P. / Strathern, Marilyn (Hrsg.): Nature, Culture and Gender. Cambridge u.a. 1980.

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Minne ist weitaus ambivalenter und als mit vielen Schwierigkeiten versehen gestaltet. Iweins und Gaweins Verhältnis wird als Freundschaft erzählt, die eine stabile Basis hat und sich daher auch in der Krise und in der Trennung bewährt und mit dem Wiederzusammentreffen und der unangefochtenen Bestätigung der Freundschaft endet. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ehe Iweins und Laudine einmal mehr als Liebesbeziehung, die vom Erzähler problematisiert wird. Zwar führt Iweins Weg zurück zu seiner Frau, aber das Grundproblem ist damit nicht gelöst, beide sind wieder am Ausgangspunkt angelangt, ihre Ehe- und Liebesgeschichte kann von vorn erzählt werden. Dadurch aber gewinnt diese Nahbeziehung ein besonderes Gewicht. Die Freundschaft der Männer kann als idealisierter Diskurs gelesen werden – wenn auch ironisch gebrochen – , der die amicitia perfecta im höfischen Roman mit den Mitteln der höfischen Literatur erzählt. Die Liebesgeschichte wird als Dilemma dargestellt, als Situation, die eine Entscheidung verlangt, und die Freundschaft dient als Vehikel, um den Konflikt ins Bild zu setzen. Was also ist vor diesem Hintergrund von der Verbindung Minne – Freundschaft zu halten? Für die Artusromane werden noch immer in erster Linie die Minne- und Eheverhältnisse diskutiert, und dabei ist auch, etwa von Jaeger,170 eine Übertragung der Tugendfreundschaft auf die Geschlechterbeziehung postuliert worden. Das ist zwar möglich, doch scheint es vielversprechender, die narrative Verschränkung von Liebe und Freundschaft in den Blick zu nehmen. Die Ehen im Iwein und Erec sind herrschaftskonstituierend, d.h. es geht sowohl um einen Ehe-, als auch um einen Minnediskurs,171 was etwa auch die Mabonagrin-Episode im Erec zeigt. Es zeichnet sich eine Konkurrenz bzw. Parallelführung der Beziehungen und der damit verbundenen Affekte ab: Die Freundschaft zwischen Männern wird weniger problematisiert als die Liebe zwischen Mann und Frau; in der Bindung der Männer geschieht zwar die Verwirklichung der virtus – Iweins Weg zurück zu Laudine geht über Gawein172 – aber geht doch zurück zu ihr. Eine Übertragung der Tugendfreundschaft auf die Geschlechterbeziehung im höfischen Roman, egal ob Ehe oder Minne, erscheint nicht überzeugend. Vielmehr werden Ehe und Minne im Kontrast dazu gestaltet, dort gibt es eklatante Probleme, und deshalb werden diese Verhältnisse auch ausführlich thematisiert. Die Hypothese, die sich

170 Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 184ff. 171 Zum Ehediskurs in Abgrenzung etwa vom Frauendiskurs siehe Schnell, Rüdiger: Geschlechtergeschichte, Diskursgeschichte und Literaturgeschichte. S. 343ff. 172 Vgl. dazu Thomas, Neil: Sir Gawein’s Interpretation of Iwein’s Transgression and the ‚Mabinogion’ Controversy. In: Reading Medieval Studies 13, 1987, S. 57-69.

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daraus für die folgenden Betrachtungen ergibt, lautet: die Tugendfreundschaft der Männer bildet eine Folie für die Minnebeziehung. 3.2 Homosoziale Bindungen Das bringt uns noch einmal zur Frage nach den ‚heterosozialen’ und ‚homosozialen’ Beziehungen, die nach der Position der Sexualität unterschieden werden. In historischen Studien, aber nicht nur dort, drückt sich immer wieder das Bedürfnis nach einer Abgrenzung von Männerfreundschaften und homoerotischen/homosexuellen Beziehungen aus. Eve Kosofsky Sedgwick eröffnet hier eine andere Perspektive, indem sie männliche Freundschaft und männliche homosexuelle Bindungen gemeinsam auf der einen Achse homosozialer Beziehungen verortet und beides als Ausdruck des „male homosocial desire“173 liest. Mit Bezug auf Foucault, der Sexualität als Mittlerdiskurs der Macht begreift, versteht sie die scharfe Grenzziehung zwischen homosozialen und homosexuellen Bindungen als Kennzeichen patriarchaler Gesellschaften, was nicht heißt, daß alle Mann-Mann-Verhältnisse auch tendenziell sexuelle Verhältnisse wären, sondern daß die mit der Heteronormativität einhergehende Homophobie und ihre strikte Unterscheidung homosozialer und homosexueller Beziehungen Konsequenz der patriarchalen Gesellschaftsordnung ist. Das männliche homosoziale Begehren kann z.B. in erotischen Dreiecksstrukturen aufgedeckt werden, in denen zwischen den Rivalen eine ebenso starke Bindung wie zur geliebten Frau besteht. Das Problem Homoerotik/Homosexualität kann bei der Freundschaftsanalyse nicht vollständig ausgeblendet werden, auch nicht mit dem Argument, es sei marginal für mittelalterliche Texte, weil die Texte für eine solche Lesart keine Hinweise liefern. Zugleich muß man aber fragen, ob es bei den Männerbeziehungen der höfischen Dichtung nicht eben um den Entwurf verbindlicher homosozialer Bindungen geht, die an den entsprechenden politisch-sozialen Diskursen und dem Konzept der Tugendfreundschaft partizipieren und gleichzeitig – auch aufgrund des zugrundeliegenden und mitgedachten Verständnisses männlicher Identität – homosexuelle Verhältnisse, die eine Sünde contra naturam und mit der virtus der Personen unvereinbar sind, ausschließen. Auch unterscheidet sich die volkssprachliche Literatur in dieser Frage von der lateinischen Dichtung mit ihrer emotionsreichen und homoerotischen Rhetorik, für die gelegentlich die Rede von der heterosexuellen Konstruktion homosexueller Ver-

173 Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men.

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hältnisse ist.174 Für diese Texte hat vor allem John Boswell in seinen Arbeiten175 die Auffassung vertreten, gelebte Homosexualität habe zumindest bis ins Hochmittelalter ihren gesellschaftlichen Platz behauptet, allerdings hat diese Perspektive eine kritische Bewertung erfahren und eine Reihe stärker differenzierender Arbeiten zum Thema nach sich gezogen. An dieser Stelle kann das weite Feld Homosexualität nicht erschöpfend behandelt werden, doch sollen zumindest einige für die Freundschaftsthematik wichtige Überlegungen skizziert werden.176 Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß homosexuelle Handlungen in allen Gesellschaften, zu allen Zeiten zu finden sind. Kulturen entwickeln auch hier unterschiedliche Vorstellungen und Muster, die durch politische und soziale Institutionen etc. weitergegeben werden und mehr oder weniger Denken und Handeln der Akteure beeinflussen. Was nun das Phänomen Homosexualität im Mittelalter betrifft, verweist Hergemöller zum einen darauf, daß „die mittelalterliche Quellenüberlieferung [...] selektiv, fragmentarisch und interpretationsbedürftig“177 ist und daher kein einfacher und direkter Bezug zwischen Quellenbelegen und Alltag hergestellt werden kann. Zum anderen sind die mittelalterlichen Vorstellungen und insbesondere die theologischen Diskurse „nicht von der Zweiteilung 174 Vgl.: Limbeck, Sven: Geschlechter In Beziehung: Die „heterosexuelle“ Konstruktion gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Mittelalter. S. 146-176. 175 Boswell, John: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century. Chicago, London 1980; Ders.: Same-Sex Unions in Premodern Europe. New York 1995. 176 Vgl. zu diesem Themenkomplex u.a. Johansson, Warren / Percy, William A.: Homosexuality. In: Bullough, Vern / Brundage, James A. (Hrsg.): Handbook of Medieval Sexuality. (Garland Reference Library of the Humanities, Bd. 1696) New York, London 1996, S. 155-189; Spreitzer, Brigitte: Die stumme Sünde. Homosexualität im Mittelalter (mit einem Textanhang). (GAP, Nr. 498) Göppingen 1988, die auch der Frage nachgeht, welche Rolle Homosexualität in mittelalterlichen fiktionalen Texten spielt und feststellt, daß die Thematisierung in Einklang mit den theologischen Argumentationsmustern steht (S. 77ff.); Bein, Thomas: Orpheus als Sodomit. Beobachtungen zur einer mhd. Sangspruchstrophe mit (literar)historischen Exkursen zur Homosexualität im Mittelalter. In: ZfdPh 109, 1990, S. 3355; Brall, Helmut: Homosexualität als Thema mittelalterlicher Dichtung und Chronistik.; siehe weiterhin die Arbeiten von Bernd-Ulrich Hergemöller: Hergemöller, Bernd-Ulrich: Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten. (Historische Einführungen, Bd. 5) Tübingen 1999 – hierin auch eine Kritik zu Boswell, S. 40ff.; Ders.: Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter. Hamburg 2000, 2. überarb. u. erg. Aufl.; Ders.: Grundfragen zum Verständnis gleichgeschlechtlichen Verhaltens im späten Mittelalter. In: Lautmann, Rüdiger / Taeger, Angela (Hrsg.): Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen. (Sozialwissenschaftliche Studien zur Homosexualität, Bd. 5) Berlin 1992, S. 9-38; Brundage, James A.: Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe. Chicago, London 1987, S. 212-214; Halperin, David: Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität. In: Kraß, Andreas (Hrsg): Queer denken. S. 171-220; siehe auch Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt a.M. 1981. 177 Hergemöller, Bernd-Ulrich: Sodom und Gomorrha. S. 72.

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in ‚Homosexualität’ und ‚Heterosexualität’ geprägt, sondern von der Dichotomie zwischen ‚Natur’ (Zeugungsförderlichkeit) und ‚Widernatur’ (Zeugungsfeindlichkeit)“178. Deshalb kann man nicht von Konzepten ausgehen, „die von der Vorstellung einer eigenständigen homosexuellen Kategorie oder eines ‚dritten Geschlechts’ bestimmt gewesen wären“179. Andreas Krass dagegen postuliert auch für das Mittelalter Homosexualität als eigenständige Größe und nutzt Sedgwicks Konzept der homosozialen Beziehungen zwischen Männern für seine Interpretation des Gürtels von Dietrich von der Glesse.180 Ob diese Sicht mittelalterlichen Texten gerecht wird oder eher ein Ausdruck postmodernen Wunschdenkens ist, kann hier nicht entschieden werden.181 Daß aber Homoerotik ein Konstrukt war, das reflektiert wurde, läßt sich u.a. daran ablesen, daß in der höfischen Literatur der Vorwurf der Homosexualität als strategisches Denunziationsmittel eingesetzt wird,182 so etwa im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, wenn Lavinias Mutter versucht, auf diese Weise Eneas zu verunglimpfen, da sie Turnus als Heiratskandidaten für ihre Tochter favorisiert. Und Rüdiger Krohn hat für Marke in Gottfrieds Tristan überzeugend gezeigt, daß schon der Verdacht der Homosexualität denunziert.183 Für den Komplex Freundschaft – Homosozialität – Homoerotik führt möglicherweise der nochmalige Blick auf höfisches und monastischklerikales Freundschaftsdenken und ihre Zusammenhänge weiter. Was Stephen Jaeger für die Entwicklung der curialitas gezeigt hat,184 gilt vielleicht ebenso für die Tugendfreundschaft, die auch als höfischmonastisches Freundschaftsideal eingeordnet werden kann. Der Freundschaftskult, der im Klosterbereich als Weiterführung antiker Freundschaftstheorien entwickelt wird, wird sowohl an den geistlichen wie an den weltlichen Höfen übernommen, d.h. die Verknüpfung und Überschneidung dieser beiden Lebenswelten bildet den Hintergrund, wenn über ein höfisches Freundschaftsmodell nachgedacht wird. Der Transfer aus dem Raum Kloster an die höfischen Zentren bedeutet aber auch eine andere Bewertung dieser Beziehungsstruktur. Von Beginn des institutionalisierten 178 Ebd. 179 Hergemöller, Bernd-Ulrich: Sodom und Gomorrha. S. 72. 180 Krass, Andreas: Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle. In: Ders. (Hrsg): Queer denken. S. 277-297. 181 Zu beachten wäre auch die Gattungsfrage. 182 Spreitzer, Brigitte: Die stumme Sünde. S. 88ff; Eneide S. 90ff; Hafner, Susanne: Maskulinität in der höfischen Erzählliteratur. S. 23ff. 183 Vgl. Krohn, Rüdiger: Erotik und Tabu in Gottfrieds ‚Tristan’: König Marke. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hrsg. v. Rüdiger Krohn, Bernd Thum, Peter Wapnewski. (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten; Bd. 1) Stuttgart 1979, S. 362-376. 184 Jaeger, C. Stephen: The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of courtly Ideals 939-1210. (The Middle Ages) Philadelphia 1985.

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Klosterlebens an wurde der Wert von Freundschaft, ihr Status sowie das Problem exklusiver Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft diskutiert,185 von Augustinus über Cassian bis zu den Zisterziensern. Trotz solcher Werke wie des Traktats von Aelred über die amicitia spiritualis bleibt die Klosterfreundschaft problematisch und wird mit Skepsis betrachtet – sie birgt die Gefahr und den Verdacht homosexuellen Begehrens und bedroht das Gemeinschaftsgefühl. Allein der Verdacht homosexueller Praktiken im Kloster sorgt für Beunruhigung wie beispielsweise das Capitulare missorum generale von 802 zeigt. Dort heißt es: Nam pervenit ad aures nostras oppinio perniciosissima, fornicationes et in habhominatione et inmunditia multas iam in monasteriis esse deprenehnsos. [...] ut unde maxima spe salutis omnibus christianis orriri crederent, id est de vita et castitate monachorum, inde detrimentum, ut aliquis ex monachus sodomitas esse auditum.186

Der Verweis auf die Gefahr der Homosexualität zeugt von einem Grundproblem der monastischen und klerikalen Sphäre in bezug auf interpersonale Beziehungen: Auf der einen Seite sind sexuelle Beziehungen zu Frauen ausgeschlossen, auf der anderen Seite bewirkt „das Wissen um die Existenz homoerotischer Anziehungskraft [...] offenbar massive Abwehrmechanismen, denen eine ‚double-bind-Struktur’ von vornherein immanent ist“187: Männer leben im geistlichen Bereich mit Männern zusammen, Homosexualität aber ist tabu.188 Der Unterschied im weltlich-höfischen Bereich besteht darin, daß diese prekäre Situation wegfällt; statt dessen dominiert hier ein anderes Konzept von Männlichkeit, in dem es für den Bereich der Sexualität die Frauen und die Möglichkeit der Ehe gibt, und beides ist nicht tabu, sondern sogar für die Herrschaft und vor allem der Sicherung dieser durch Erben erwünscht. Entsprechend erscheint männliche Freundschaft im Artusroman als eine enge und ethisch hochstehende Bindung, die der Geschlechterbeziehung überlegen ist und die als homosoziale, vielleicht auch als homoerotische, wohl aber nicht als homosexuelle Beziehung verstanden werden kann. Die Art der Betrachtung, die Sedgwick für die Analyse 185 McGuire, Patrick: Friendship and Community. 186 MGH Capit. I Nr. 33, S. 94f. In: Nonn, Ulrich (Hrsg.): Quellen zur Alltagsgeschichte im Früh- und Hochmittelalter. 1. Teil. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 40a) Darmstadt 2003, S. 206. 187 Spreitzer, Brigitte: Die stumme Sünde. S. 35. 188 Double-bind wird hier mit Klaus Theweleit folgendermaßen verstanden: „Double bind bezeichnet eine Situation, in der ein Mensch gleichzeitig zwei unausweichlichen Befehlen oder Anforderungen ausgesetzt ist, die sich gegenseitig aber widersprechen oder sogar unmöglich machen. Dazu kommt, daß er deren Gegensätzlichkeit nicht durchschauen kann.“. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Basel, Frankfurt a.M. 1986, S. 417.

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des ‚male bonding’ als ‚male desire’ vorschlägt, könnte sich hier als fruchtbar erweisen, nicht zuletzt, weil sie die starre Dichotomie heterosexuell/heterosozial – homosexuell/homosozial bzw. die Zuordnung heterosexuell/homophob – homosexuell/heterophob destabilisiert. In diesem Sinn ist die Freundschaft zwischen Iwein und Gawein als homosoziale und gerade nicht als homoerotische Beziehung zu lesen.189 3.3 Iwein und Lunete Unter dem Aspekt Nahbeziehungen kann noch eine dritte Konstellation im Iwein untersucht werden, nämlich die Beziehung zwischen Iwein und Lunete: Beide stehen in einem ‚freundschaftlichen’ Verhältnis zueinander. Als cross-sex-Beziehung, die von jeglichem erotischen Moment frei ist, ist diese Figuration ziemlich bemerkenswert. Beide setzen viel aufs Spiel für die Rettung des anderen, d.h. in hohem Maße liegt hier ein reziprokes Verhältnis vor, das auch begründet und auf das rekurriert wird: Lunete hilft Iwein, weil er sie am Artushof gut behandelt hat und sie riskiert dabei für den Mörder ihres Herrn die Gunst ihrer Herrin. Mit ihren Vorschlägen, Iwein zu heiraten und ihn so an Stelle des toten Askalon zum Brunnenherrn zu machen, handelt sie sich zunächst Laudines Zorn und Zurückweisung ein, bevor Laudine ihrem Rat folgt. Und ihr werden die Folgen dieser Heirat angelastet. Iwein wiederum rettet sie vor dem sicheren Tod, obwohl andere Verpflichtungen ihn bereits gefordert haben, da er sich für ihr Schicksal verantwortlich fühlt – die Asymmetrie rückt durch die performative Reziprozität in den Hintergrund. Diese Freundschaft wird in Gaweins Reaktion auf Lunete noch einmal gespiegelt: Er dankt ihr für die Hilfe und Unterstützung, die sie seinem Freund erwiesen hat. Daß aber diese Nahbeziehung zwischen Iwein und Lunete nicht einfach als Nutzfreundschaft mit gegenseitiger Hilfe im aristotelischen Sinn eingeordnet werden kann, zeigt schon der Umstand, daß sich die Charakterisierung dieses Verhältnisses direkt an die Reflexion der Iwein-Gawein-Freundschaft anschließt. An Iweins und Lunetes Freundschaft führt der Text vielmehr vor, daß affektive und nutzengeleitete Elemente zusammengehören: Beides prägt die Beziehung, und erzählerisch wird diese Nahbeziehung vom Beginn bis zum Schluß als funktionierend vorgeführt. Sie ist damit Scharnier und Folie für die Freundschaft zwischen Iwein und Gawein einerseits und die Liebe zwischen Iwein und Laudine andererseit; im Prinzip bildet sie auch 189 Nicola Kaminski sieht in dieser Nahbeziehung ein homoerotisches Verhältnis. Kaminski, Nicola: Männerliebe contra weibliche Autorschaft? Geteilte Spiele im „Iwein“ Hartmanns von Aue. In: Oxford German Studies 30, 2001, S. 26-51.

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für die Konstellation Laudine-Lunete bzw. für das parallel geführte Erzählen von Liebe und Freundschaft im Iwein eine Folie. Iwein und Lunete erfüllen beide das Kriterium der fides, der Treue – der eine springt für den anderen in gefährlichen Situationen ein und kann sich im Gegenzug auf die Hilfe des anderen verlassen – , gleichzeitig wird die Sprache der vriuntschaft, der Zuneigung und des Vertrauens für die Beschreibung dieser Nahbeziehung benutzt. Durch dieses Erzählen der Freundschaft der beiden werden die Defizite der anderen Nahbeziehungen sichtbar und in ihrer jeweilige Problematik deutlich: In der freundschaftlichen Dimension läßt Lunetes und Iweins Verbundenheit die Schwierigkeiten und Gefährdungen der Freundschaft Iwein-Gawein hervortreten – der Rat des Freundes, der gutgemeint, aber folgenschwer ist, die unterschwellige Rivalität, die zwar konstitutiv für die Freundschaft, aber auch Zeichen der Fragilität ist; vergleichbar für beide Nahbeziehungen ist dagegen der Verpflichtungscharakter. In der Dimension der cross-sex-Beziehung wiederum bildet dieses freundschaftliche und funktionierende Verhältnis den Hintergrund für die Ehe Iweins mit Laudine. Setzt man diese beiden Nahbeziehungen in Bezug zueinander, wird einmal mehr deutlich, wie die Geschlechterbeziehung problematisiert, auf diese Weise aber auch mit der größten Aufmerksamkeit bedacht wird. In ähnlicher Weise wie das freundschaftliche Verhältnis zwischen Iwein und Lunete ist auch das zwischen Tristan und Brangäne gestaltet. Brangäne rettet Tristan vor dem Rachebedürfnis der jungen Isolde und versucht die Liebenden am Hof zu schützen. Nach der Trennung der Liebenden am Hof dankt Tristan Brangäne: ‚Genâde, schoene!’ sprach Tristan. / ‚ine hân dâ keinen zwîvel an, / an iu sî triuwe und êre; / der zweier wart nie mêre / in einem herzen begraben. / solte ich dekeine sælde haben, / die solte ich iu wol kêren / ze fröuden und ze êren. / swie kumberlîche ez aber nu stê, / swie kûme sô mîn schîbe gê, / wiste ich, wie ich nu kunde / mîne tage und mîne stunde / ze iuwern fröuden hin gegeben, / ich wolte ouch deste kurzer leben: / des getrûwet unde geloubet mir!’ / weinende sprach er aber zir: / ‚getriuwe, sæligez wîp!’ / hie mite twanc er’s an sînen lîp / mit armen nâhe und ange: / ir ougen unde ir wange / kuste er mit maneger quâle / dicke und ze manegem mâle. / ‚schoene’, sprach er, ‚nû tuot wol / und alse der getriuwe sol / und lâzet iu bevolhen sîn / mich und die sorgærîn, / die sæligen Îsôte; / bedenket ie genôte / uns beide samet, sin unde mich.’190

Tristans Versicherung, er würde alles versuchen, um Brangäne ein wenig Freude zurückzugeben, antwortet auf ihr Bekenntnis, sie würde gern eigene Lebenszeit für die Liebenden opfern, wenn sie ihnen damit helfen 190 Alle Zitate nach folgender Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Hrsg. v. Karl Marold. Unverändert. 5. Abdruck n. d. 3., mit einem auf Grund v. Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt u. mit einem erw. Nachw. versehen v. Werner Schröder. Berlin, New York 2004, 14465-14493.

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könnte.191 Der Kuß als Geste der Freundschaft könnte auch als Symbol der geistigen Einheit der beiden in diesem Moment gedeutet werden,192 aber eine sehr viel profanere Lesart ist naheliegender: Brangäne ist in dieser Situation, in der Tristan Isolde kaum sieht, weil er Marke versprechen mußte, die Frauenräume des Hofes nicht aufzusuchen, nur ein „convenient substitute“193, eine Ersatz-Isolde, bei der er einmal all seine Frustration und Depression loswerden kann. Gegenseitige Abhängigkeit und Unterstützung lassen auch in dieser Beziehung den Standes- und Geschlechtsunterschied in den Hintergrund treten.

4. Fragen und Probleme Die nähere Analyse interpersonaler Bindungen im Iwein als Fallstudie zu den Nahbeziehungen der höfischen Epik hat zahlreiche Aspekte und mögliche Wege für die folgende systematische Untersuchung eröffnet. Um diese gut vorbereitet angehen zu können, sollen in einer Zwischenbestandsaufnahme sowohl Gedanken, die sich bislang als wichtig erwiesen haben, als auch Fragen und Probleme, die noch nicht behandelt wurden, kurz benannt werden. Im ersten Kapitel wurden bei den die Freundschaftsliteratur und -diskussion prägenden Dichotomien auch die von Freundschaft und Verwandtschaft genannt. Das Verhältnis bzw. die Überschneidungen dieser beiden Beziehungssysteme spielte im Iwein keine große Rolle, was jedoch nicht auf die gesamte höfische Epik zutrifft, wie etwa der Blick auf Wolframs Parzival zeigt. Generell muß nach Transgressionen zwischen Verwandtschaft, Liebe und Freundschaft gefragt werden. Was nun die Verwandtschaftsfrage betrifft, gilt es folgende Überlegungen im Kopf zu behalten:

191 Tristan. 14454-14464. 192 Deist, Rosemarie: The Description of Isolde and Iseut and Their Confidantes in Gottfried von Straßburg and Thomas de Bretagne. In: Biographical Bulletin of the International Arthurian Society 1997, S. 271-282, S. 278. 193 Rheingold Fuller, Miriam: Shadow, Support, and Surrogate: Brangein in the Tristan Legends. In: Tristania 21, 2001-2002, S. 13-41, S. 26.

4. Fragen und Probleme

153

Die literarische Familiendarstellung bietet zwar ein Vielgestaltiges unterschiedlichster familiengeschichtlicher Konstruktionen und Verwandtschaftskonstellationen, jedoch jeweils streng ‚fallbezogene’ Ausprägungen: zweckgerichtete Geschlechtergeschichten, strikt text- bzw. typenspezifische Verwandtschaftsfigurationen, eine sehr bewußte Auswahl in bezug auf historisch mögliche und relevante Aktionsfelder von Familie und Verwandtschaft und im ganzen weniger eine ‚historische’ Konkretisierung als eine eigene Konstruktionswelt literarischer Verwandtschaftsformationen, in der die unterschiedlichsten Figurationen entworfen und miteinander montiert werden.195

Für die Relation Verwandtschaft – Freundschaft194 ist dieser Umstand sicher nicht ganz unwichtig, ebenso wie die Frage, ob für andere Beziehungssysteme etwas Ähnliches zu vermuten ist. In der soziologischen/anthropologischen Literatur findet sich zudem regelmäßig die Aussage, Freundschaft sei eine erworbene Bindung im Gegensatz zur Verwandtschaft als zugeschriebener Beziehung. Unabhängig davon, daß diese Opposition generell einer kritischen Überprüfung nicht standhält, stellt sich für die Artusromane die Frage, ob diese Einteilung weiterhilft. Sehen wir in höfischen Texten den Erwerb, die Entstehung der Freundschaft, oder ist das Beziehungsgefüge nicht eher statisch und besteht schon, wenn die Protagonisten eingeführt werden? Gawein und Iwein werden als Freundespaar eingeführt. Im Artusroman besteht Freundschaft zwischen den Besten, kein auslösendes Moment, keine individuelle Begründung, keine Geschichte der Beziehung wird geschildert, was für uns befremdlich anmutet. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Tristan, da dort tatsächlich vorgeführt wird, wie freundschaftliche Nahbeziehungen entstehen, etwa bei Marke und Tristan oder Kaedin und Tristan. Die Krisenhaftigkeit von Freundschaft, die sich scheinbar im Zweikampf offenbart, steht der Krisenhaftigkeit von Liebe gegenüber. Aber die festere Basis, auf der die (Männer)Freundschaft wohl ruht, macht sie krisenfester. Das zeigt sich z.B. in Hartmanns Beschreibung der Antagonisten Iwein und Gawein vor ihrem Zweikampf: Liebe und Feindschaft existieren in ihrem Herzen nebeneinander als Resultat des Nichterkennens. Im Moment des Wiedererkennens gilt nur noch die gegenseitige Verbundenheit, nicht mehr die Gegnerschaft des Gerichtskampfes. Dagegen muß Laudine überlistet werden, damit Iwein zu ihr zurückkehren kann.

195 Peters, Ursula: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. S. 340. 194 Vgl. auch: Braun, Manuel: Versuch über ein verworrenes Verhältnis: Freundschaft und Verwandtschaft in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzähltexten. In: AppuhnRadtke, Sibylle / Wipfler, Esther P. (Hrsg.): Freundschaft. S. 67-96.

154

III Case Study Iwein

Wichtig ist weiterhin die räumliche Situierung von Nahbeziehungen, und das bedeutet, daß das Problem von Öffentlichkeit und Privatheit196 für Freundschaft eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Bereits in der Antike ist Freundschaft eine zugleich private und öffentliche Angelegenheit.197 Die Ausgestaltung dieser Verhältnisse und vor allem die Rolle von Emotionen hängen wesentlich davon ab, ob die Akteure sich in einem als privat oder öffentlich definierten Raum befinden. Gerd Althoff verweist darauf, daß für das Mittelalter ein Raum öffentlicher Kommunikation und entsprechender Verhaltensformen klar von einer privaten Sphäre mit eigenen Anforderungen an Emotionalität und Umgangsformen getrennt werden muß.198 Für die Darstellungen der Beziehungen in den Texten bedeutet diese Unterteilung, daß jeweils festgestellt werden muß, in welchem Raum die handelnden Personen sich aktuell bewegen. Verhalten sich Freunde, Liebende oder Verwandte unterschiedlich mit jeweils wechselnder Szenerie, lassen sich daraus nicht automatisch Rückschlüsse auf das Verhältnis bzw. auf das Verständnis des Verhältnisses ziehen. Vielmehr ist der Grund für das Verhalten möglicherweise in der Unterscheidung von öffentlicher und privater Kommunikation zu suchen. Interessant sind dabei vor allem die Grenzfälle und Überschneidungen. Hinzu kommt, was Stephen Jaeger für die Tugendfreundschaft festgestellt hat: „Ennobling love is primarily a public experience, only secondarily private”199. Daraus folgt, daß bei der Analyse Handlungen, Verhaltensweisen etc. vorrangig interessieren und daß es nicht darum geht, nach eventuellen tatsächlichen Gefühlen zu forschen, eine Frage, die sich ohnehin kaum beantworten läßt. Als letzter Punkt sei noch einmal auf die Relevanz von Genderkonstrukten für die verschiedenen Freundschaftskonstellationen verwiesen. Die männliche Freundschaft zwischen zwei mehr oder weniger gleichrangigen Artusrittern kann man dem Motiv der heroischen Männerfreundschaft bzw. männlichen Tugendfreundschaft zuordnen, allerdings sind sie zu unterscheiden von den Beziehungen in den Erzählungen vom Freundschaftsbeweis, in denen sich das Freundschaftsverhältnis durch Frauentausch und Opferung der Kinder bewähren muß. Welche Vorstellung von Männlichkeit setzt diese heroische Freundschaft voraus und was unterscheidet sie möglicherweise vom Amicus-Amelius-Motiv,200 also dem 196 Vgl. dazu u.a. Moos, Peter von: Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus. In: Melville, Gert / Moos, Peter von (Hrsg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. (Norm und Struktur, Bd. 10) Köln, Weimar, Wien 1998, S. 3-83. 197 Fiore, Benjamin: The Theory and Practice of Friendship in Cicero. S. 59. 198 Althoff, Gerd: Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. In: Benthien, Claudia / Fleig, Anne / Kasten, Ingrid (Hrsg.): Emotionalität. S. 82- 99, S. 82. 199 Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. S. 6. 200 Das ja Konrads von Würzburg Engelhard zugrunde liegt.

4. Fragen und Probleme

155

Athis-Prophilias-Freundschaftstypus? Und wie sind unter Umständen die Beraterfiguren gegendert? Die beschriebenen Aspekte markieren Orientierungspunkte für die Systematisierung der Bindungskonfigurationen, die im folgenden Kapitel systematisch beschrieben werden sollen.

IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik: Freundschaftstypologie – Muster und Diskurse und ihre außerliterarischen Referenzen Um die Frage zu beantworten, welche Konzepte oder Typologien von Freundschaft die höfische Literatur um 1200 präsentiert bzw. ob sie überhaupt spezifische Entwürfe für das Beziehungssystem Freundschaft enthält, müssen die Texte mit möglichen Referenzsystemen in Verbindung gesetzt werden. Was können wir unter Freundschaft im höfischen Roman im Hinblick auf die Kontexte verstehen, nach welchen Kriterien sollen solche Beziehungen klassifiziert werden? Ist nur die dyadische Beziehung wichtig bzw. sollte eine Analyse sich auf solche Zweierbeziehungen konzentrieren? Könnte man sagen, die Ritter der Artusgesellschaft sind durch eine Art Codex und damit durch Freundschaft – über etwaige Verwandtschaft hinaus – miteinander verbunden? In Kapitel II. wurden die Möglichkeiten, nach denen Freundschaft außerhalb der höfischen Epik um 1200 konzipiert und verstanden wird, aufgeführt und vorgestellt. Nachdem am Iwein bereits denkbare Optionen einer Kontextualisierung der dort auftretenden Nahbeziehungen ausprobiert wurden, soll im Folgenden eine systematisierende Analyse von Freundschaftstypen und weiterer Kontextdiskurse im Mittelpunkt stehen. Den Schwerpunkt bilden dabei die horizontalen Bindungen zwischen Männern – aus dem naheliegenden Grund, daß zu diesem Beziehungstyp das Textcorpus das meiste Material liefert. Für die Freundschaft zwischen Iwein und Gawein in Hartmanns bzw. Chrétiens Roman wurde eine Deutung bzw. Einordnung mit Hilfe der Vorstellung der amicitia spiritualis des monastisch-gelehrten Diskurses vorgenommen. Doch ist das nur eine mögliche Lesart männlichsymmetrischer Nahbeziehungen in der höfischen Epik. Neben der vergleichenden Analyse von männlichen Freundschaften, die diesem Muster zugeordnet werden können, sollen deshalb im Folgenden auch weitere denkbare Kontexte ausgelotet und beschrieben werden. Dem Ideal der zweckfreien, dyadisch-exklusiven Freundschaft, die durch die virtus der Beteiligten möglich wird und die entweder in der Übereinstimmung im weltlichen Wertehorizont oder in der Übereinstimmung in Gott wurzelt, ist die politische amicitia vielleicht nicht immer gegenüber, sondern an die Seite gestellt oder geht mit ersterer ein viel-

IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

157

schichtiges wechselseitiges Verhältnis ein, etwa indem das Ideal der Tugendfreundschaft als Diskurs für strategische Bündnisse in Anspruch genommen wird. Amicitia im politisch-sozialen Kontext meint einen politisch-pragmatischen Diskurs,1 der Freundschaft als strategische Partnerschaft und politische Allianz begreift, sowie generell soziale Beziehungen regelt, was affektive Momente einschließen kann aber nicht notwendig muß.2 Ganz grundlegend bedeutet Freundschaft zunächst die Abwesenheit von Feindschaft und damit Neutralität: Sich als Freunde zu bezeichnen, stellt sicher, daß keine feindseligen Handlungen beabsichtigt oder erwartet werden. Rivalität kann dadurch von Feindschaft in Freundschaft im Sinne einer negativen Treue überführt werden, d.h. man unternimmt nichts, was dem anderen schadet. In formalen wie persönlichen Bindungen lassen sich Nutzenaspekt und Loyalitätsgefühle oft nicht trennen, weil sich in den Nahbeziehungen utilitaristische und affektive Momente mischen, ohne daß die Beziehung auf das eine oder das andere festgelegt werden kann. Zudem liegt nicht selten eine Gleichzeitigkeit von symmetrischen und asymmetrischen Bindungen vor, wobei in den explizit vertikalen Bindungen der Hierarchiecharakter durch den Freundschaftsdiskurs verschleiert oder abgeschwächt werden kann. Freundschaftsgesten sind auch ein Mittel, Hierarchien unsichtbar zu machen, dem tiefer Stehenden das Gefühl zu vermitteln, auf Augenhöhe mit dem Gegenüber zu agieren. So kann etwa das homagium der Lehnsherrschaft, das klar die Hierarchie ausweist, in unbestimmteren Freundschaftsgesten aufgehoben3 und somit ein formaler Freundschaftsdiskurs auch für die Beziehungen zwischen Herr und Vasall benutzt werden. Entscheidend für alle diese Varianten von amicitia ist der Verpflichtungs- und Vertragscharakter. Die fides, die Treuebindung, ist sowohl in eher formalen Bindungen als auch in persönlichen Beziehungen ein wesentliches Merkmal, d.h. es geht immer um Loyalität und Reziprozität, denn die Verpflichtungen liegen auf beiden Seiten. Loyales Verhalten und Beziehungen, die auf Loyalität beruhten, waren wichtig und viel berufen, aber in der Praxis konnten Treuebindungen sehr relativ sein und unterla-

1 2 3

Garnier, Claudia: Amicus amicis, inimicus inmicis. S. 3ff. Eickels, Klaus van: Freundschaft im (spät)mittelalterlichen Europa: Traditionen, Befunde und Perspektiven. In: Oschema, Klaus (Hrsg.): Freundschaft oder „amitié“? S. 23–34, S. 33; Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde Getreue. Eickels, Klaus van: Von inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt. Die englischfranzösischen Beziehungen und ihre Wahrnehmung an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 10) Stuttgart 2002, S. 333.

158

IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

gen der Abwägung, wenn zwischen zwei oder mehr konkurrierenden Bindungen zu entscheiden war.4 Auch Gefolgschafts- und Klientelbeziehungen müssen in einen weiten Freundschaftsbegriff einbezogen werden. Die Gefolgsleute und Ratgeber am Hof eines Fürsten oder Königs können seine engsten Vertrauten sein, deren Loyalität und Unterstützung die Macht des Herrschers absichern. Eine solche Beziehung ist uns beispielsweise aus der Umgebung Friedrich Barbarossas überliefert. Im Falle Friedrichs besteht eine Verbindung zu Graf Rudolf von Pfullendorf, der in „41 Fällen an verschiedenen Orten am Hofe Barbarossas nachweisbar“5 ist. Aus dieser breiten urkundlichen Erwähnung kann auf eine besondere Verbundenheit der beiden geschlossen werden, die nicht auf großem Besitz oder einer besonderen Machtstellung des Grafen von Pfullendorf basiert – das hätte auch anderen Familien Nähe zum Kaiser gesichert –, sondern die Ursache der häufigen Anwesenheit am Hof muß „in einem persönlich engen Verhältnis“6 zu Friedrich liegen.7 Karl Schmid zeigt, daß der Graf schon vor der Wahl Friedrichs zum König sein Vertrauter war, ihm danach eng verbunden blieb und nach dem Tod seines einzigen Sohnes sogar sein Erbe an ihn abtrat.8 „Nicht häufig ist eine derartige Freundschaft so gut aus der Überlieferung zu fassen wie im Fall des im südschwäbischen Raum beheimateten Grafen Rudolf von Pfullendorf“9. Aber natürlich hatte diese Bindung auch klare politische Vorteile für Friederich: Mit Hilfe der Unterstützung von Anhängern der Staufer wie des Grafen Pfullendorf versuchte Barbarossa „ein Gegengewicht im Einflußgebiet der mächtigen Herzöge zu schaffen“10. Dafür war der Zugewinn an Territorium durch die Abtretung des Erbes des Grafen an ihn ein wichtiger Schritt. Das Beispiel zeigt in jedem Fall wie wichtig vertrauensvolle Nahbeziehungen, die über eine formale Bindung hinausgehen, für das politische Leben waren, ein Aspekt, bei dem bei aller Unterscheidung von modernen und vormodernen Gesellschaften

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Crouch, David: William Marshal. Court, Career and Chivalry in the Angevin Empire 11471219. (The Medieval World) London, New York 1990, S. 151. Schmid, Karl: Graf Rudolf von Pfullendorf und Kaiser Friedrich I. (Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte, Bd. 1) Freiburg 1954, S. 70. Ebd. S. 71f. Siehe auch Plassmann, Alheydis: Die Struktur des Hofes unter Friedrich I. Barbarossa nach den deutschen Zeugen seiner Urkunden. (MGH: Studien und Texte, Bd. 20) Hannover 1998, S. 141 u. S. 223. Schmid, Karl: Graf Rudolf von Pfullendorf und Kaiser Friedrich I. Opll, Ferdinand: Friedrich Barbarossa. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance) Darmstadt 1994, 2. Aufl., S. 241. Schmid, Karl: Graf Rudolf von Pfullendorf und Kaiser Friedrich I. S. 184.

IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

159

die Parallelen zur Organisation von Macht im 21. Jahrhundert kaum zu übersehen sind. Für das hier behandelte Textcorpus nicht ganz unwichtig ist weiterhin die Bedeutung oder eher die Funktionalisierung des Freundschaftsbegriffes für Gruppen von Adligen und ihr internes Beziehungsnetzwerk. So ist etwa für das Spätmittelalter die Verflechtung adliger Gruppen im weltgeistlichen Kontext beschrieben worden, wobei als eine Kategorie dieser Verflechtung Freundschaft genannt wird.11 Diese Freundschaft ist von einem „spezifischen Sozialethos getragen“12, wobei der Reziprozitätsgedanke in Form der Erwartung konkreter gegenseitiger Unterstützung keine geringe Rolle spielt und die Freundschaft vor allem unter dem Aspekt utilitaristischer Erwägungen steht: „in den Adelsgesellschaften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit [stand] […] die instrumentale Komponente von Freundschaft im Vordergrund“13, und das schloß die „Erwartung gegenseitiger Nützlichkeit der guten frunde“14 sowie festigende Quasirituale wie „Turniere, Saufgelage und Jagden“15 ein. Auch wenn dieser Aspekt des Netzwerkes und der Verflechtung in den zu untersuchenden höfischen Texten eine untergeordnete Rolle spielt, sollte er doch als Hintergrund personaler Bindungen im Adel nicht vergessen werden. Bevor aber die möglichen Kontexte im Mittelpunkt stehen, geht es zunächst um eine mögliche Freundschaftstypologie und um einen Durchgang durch die männlich-symmetrischen Nahbeziehungen innerhalb des Textcorpus. Für die Analyse des Iwein wurde bereits eine Einteilung von Nahbeziehungen zugrunde gelegt, die an dieser Stelle systematisiert werden soll, da sie sich als fruchtbar erwiesen hat. Folgende mögliche Grundtypen von Freundschafts-/Nahbeziehungskonstellationen in der höfischen Epik können unterschieden werden: I. männlich-symmetrisch IV. cross-sex-Beziehung II. männlich-asymmetrisch III. weiblich-asymmetrisch (weiblich-symmetrisch)

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Fouquet, Gerhard: Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350-1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel. (Teil 1). (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 57) Mainz 1987, S. 207. Reinhard, Wolfgang: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979, S. 38. Fouquet, Gerhard: Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350-1540). S. 208. Ebd. S. 208. Ebd. S. 208.

160

IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

Diese Typen sind nicht als feste Kategorien zu verstehen, sondern als Option, das Material zu ordnen, wobei als Kriterien gender und Hierarchisierung herangezogen werden. Vor allem für die besonders häufig vertretenen Personenkonstellationen kann und muß nach Subtypen und variierenden Ausgestaltungen gefragt werden. Das Kriterium der Symmetrie/Asymmetrie ist bei der Unterteilung nicht absolut. Auch in literarischen Texten gibt es oft eine versteckte Hierarchie in scheinbar symmetrischen Freundesbeziehungen; oft sind die Positionen der Agierenden nicht vertauschbar, was beispielsweise deutlich in der Freundesfigur Gawein zum Ausdruck kommt. Die cross-sex-Beziehung mit den beiden entscheidenden Fällen Iwein-Lunete und Tristan-Brangäne wurde bereits im letzten Kapitel vorgestellt und wird nicht weiter vertieft werden, um eine Konzentration auf die häufigeren und relevanteren Nahbeziehungstypen zu ermöglichen.16 Eine Typologie höfischer Freundschaft muß die Gattungen Roman und Heldenepik sowie ihre Subgattungen Artusroman, Tristanroman, Antikenroman etc. im Auge behalten, aber insgesamt ist das Ziel, sich nicht nur an den Gattungen zu orientieren, bzw. nur soweit, als daß sie einige typische Beziehungselemente bedingen, sondern nach den Konstellationen von Nahbeziehungen als solchen über die Gattungsgrenzen hinweg zu schauen.

1. Männlich-symmetrische Bindungen Die Gruppe männlich-symmetrischer Nahverhältnisse bedarf der weiteren Binnendifferen-zierung und der Zuordnung zu Subtypen bzw. verlangt den Blick auf die jeweilige individuelle Ausgestaltung, um den Partikularitäten jenseits der Erzählmuster und Strukturtypen gerecht zu werden. Im Folgenden wird eine mögliche Typologie vorgestellt, die unterschiedliche, auch sich überschneidende Formen männlicher horizontaler Bindungen zu systematisieren sucht. Horizontale Bindungen heißt hierbei nicht, daß jegliche Asymmetrien ausgeschlossen sind, diese können vielmehr sowohl 16

In Fortführung der Iwein-Analyse und im Anschluß an das zweite Kapitel könnten auch die Geschlechterbeziehungen der höfischen Epik mit dem Freundschaftsdiskurs gelesen werden (wie im zweiten Kapitel angesprochen), was hier aber nicht Gegenstand des Interesses ist.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

161

situativ als auch durchgehend relevant und anthropologisch wie sozial begründet sein. Sie sind jedoch klar von jenen asymmetrischen Männerbeziehungen getrennt, die als eigene Kategorie benannt wurden und zu denen Verhältnisse wie die zwischen Marke und Tristan, Artus und Gawein oder Gurnemanz und Parzival gehören. Denn bei diesen Bindungen ist die Asymmetrie konstituierendes und elementares Merkmal der Beziehung, während die hier mit symmetrisch etikettierten Nahverhältnisse zwar nicht frei von jeglicher Hierarchie und Ungleichheit sind, jedoch immer den Anspruch haben, gleichrangige/gleichwertige Partner zu präsentieren, d.h. beim Stichwort der Symmetrie müssen auch Egalität und Identität diskutiert werden. In der folgenden Unterteilung werden Differenzierungen vorgenommen, die zum Teil Erzählmustern und Intertextualität folgen, zum Teil die Struktur der Bindungen zu fassen suchen. Dabei wird analytisch getrennt, was sich in den Texten oft überlagert: 1. Exemplarische Freundschaft: Gawein und der jeweilige Protagonist: Gawein-Iwein (Iwein/Yvain), Gawein-Erec (Erec/Erec et Enide), GauvainLancelot (Lancelot), Gawan-Parzival (Parzival/Perceval), Gauvain-Alexander (Cligès), Gauvain-Cligès (Cligès) 2. Freundschaft und Begegnung: Freundschaften, die auf dem Weg des Helden geschlossen werden, meist mit vorausgehendem Zweikampf: Erec-Guivreiz (Erec/Erec et Enide), Erec-Mabonagrin (Erec/Erec et Enide), Parzival-Feirefiz (Parzival), Cligès-Gauvain (Cligès) 3. Freundschaft und Kampf: unzertrennliche Kampfgefährten/Waffenbrüder: Nisus-Euryalus (Eneasroman), Hagen-Volker (Nibelungenlied), Roland-Oliver (Chanson de Roland), Tristan-Kaedin (Gottfrieds und Thomas’ Tristan) 4. (politische) Freundschaft am Hof: Gefährten/„Freunde“ in der Sphäre des Hofes: Marjordo-Tristan, Tristan-Kaedin (Gottfrieds und Thomas’ Tristan), Gunther-Siegfried (Nibelungenlied) 5. Freundschaft und Verlust: Held und (jüngerer) Gefährte / Verlust des Freundes: Eneas-Pallas (Eneasroman), Achill-Patroklos (Troja-Romane), Roland-Oliver (Chanson de Roland), Polyneices-Tydeus (Roman de Thèbes) Die Beziehungen, die unter 1. und 2. subsumiert sind, orientieren sich an formalen, narrativen Kriterien, indem zum einen Gawein als zum festen Inventar der Artusromane gehörende Figur den einen, immer schon feststehenden Partner der Freundschaft darstellt und zum anderen die Zweikampfstruktur Berücksichtigung findet. Auch wenn für eine kulturhistorisch ausgerichtete Untersuchung Freundschaft in der höfischen Epik als kulturanthropologisches Phänomen interessiert und dafür beim Durchgang durch das Corpus die relevanten Nahbeziehungen aus den Texten

162

IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

herauspräpariert werden, darf dabei nicht übersehen werden, daß gerade wiederkehrende prominente Personenkonstellationen den Erzählkonventionen geschuldet sind,1 d.h. daß wir es mit strukturell bedingten Nahbeziehungen zu tun haben. Allerdings ändert das nichts daran, daß in jedem Fall zu fragen ist, wie die Struktur benutzt und funktionalisiert wird und welche Ergebnisse ein Vergleich der strukturell ähnlich gelagerten Bindungen bringt. Hierfür werden die Gawein-Freundschaften vergleichend in Blick genommen. Zwar kann durch die Zweikampfsituation eine Überschneidung für 1. und 2. vorliegen, doch zugleich sind entscheidende Unterschiede zwischen den Gawein-Beziehungen und den Freundschaften, die auf dem Weg des Hauptakteurs geschlossen werden, festzustellen. Die Punkte 3.-5. schauen eher auf die Art und Struktur der Freundschaft, auf typische Merkmale, die die Konstellation als solche greifbar machen: der Kampf als verbindendes Element, der Hof als Ort der Freundschaft und der Verlust des Gefährten im Krieg. Typ 5, der Held und sein (jüngerer) Gefährte, könnte etwa im Fall von Eneas und Pallas auch als asymmetrische Freundschaft eingeordnet werden, da Altersunterschied und Kampferprobtheit eine Hierarchie herstellen. Aber da unter den asymmetrisch-männlichen Nahbeziehungen vor allem die OnkelNeffe/Ersatzvater-Sohn-Bindung betrachtete werden soll und das entscheidende Kriterium für den fünften Typ – der Tod des Gefährten und die Trauer um ihn – in der Freundschaft Eneas-Pallas erfüllt ist, wird diese Beziehung unter den symmetrischen Bindungen eingeordnet, zumal wie bereits angesprochen die Frage der Hierarchie oft nicht eindeutig zu beantworten ist.2 Gender und Hierarchie sind zwei produktive Merkmale für eine Typologie der Nahbeziehungen und als formale Eigenschaften eine effektive Möglichkeit, das Material zu ordnen. Doch sind daneben weitere, zu diesen Kriterien quer laufende Aspekte zu berücksichtigen, die andere Momente der Differenzierung bedienen: Zweikampf, Überschneidung Verwandtschaft-Freundschaft, Nähe-Distanz, Verpflichtungscharakter bzw. Reziprozität, Beratung. Das Moment des Zweikampfes ist zentral für die unter 1. und 2. aufgelisteten Freundschaften, während Obligation und Reziprozität im Grunde für alle Typen zu diskutieren ist. Zweikampf als Bewährung oder konstituierendes Moment der Nahbeziehung spielt mehrfach eine Rolle: Iwein-Gawein, Parzival-Gawan, Parzival-Feirefiz, Erec-Guivreiz etc. Nähe/Distanz wie Beratung ist wiederum eine Möglichkeit, verschiedene Konstellationen innerhalb der Typen zu differenzieren und dabei die 1 2

Zu diesem Punkt vgl. u.a.: Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 6-45. Im Herzog Ernst beispielsweise unterscheidet Wetzel zwischen seinem Status als Gefolgsmann von Ernst und seiner Rolle als dessen Freund.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

163

räumliche Verortung der Freunde in den Texten oder die Figur des Freundes als Ratgeber zu untersuchen. In die Kategorie Freund als Ratgeber fallen u.a. Gawein, Tristan und Gurnemanz, was dann wiederum auch zu Überschneidungen innerhalb der Kategorien führt, die durch Symmetrie und gender konstituiert sind. Rat und Ratgebung als Moment von Freundschaft und/oder Gefolgschaft tritt in symmetrischen wie asymmetrischen Bindungen auf; vor allem in den weiblichen Beziehungen ist Beratung zweifellos ein zentrales Element, wie schon die nähere Betrachtung des Verhältnisses Laudine-Lunete klar gezeigt hat. Für alle diese männlich-symmetrischen Freundschaften ist vorab als Kontext noch eine Form der Institutionalisierung von männlichen Nahbeziehungen anzuführen, nämlich die Waffen- oder Blutsbrüderschaft,3 die zumindest in den Textzeugnissen eine weit verbreitete Formation von Beziehungen ist. “For a variety of reasons, and for persons in all walks of the military profession, brotherhood-in-arms was a commonplace connection.”4 Es gestaltet sich allerdings schwierig, sich aus historischer Perspektive dieser Form des male bonding im Hochmittelalter zu nähern, da es uns vor allem aus der höfischen Literatur oder höfisierter chronikaler Überlieferung bekannt ist und diese Quellen daher nur einen begrenzten Wert für die Aussage über eine mögliche Praxis solcher Beziehungen haben. Verträge und Eide solcher Verbindungen sind erst für das Spätmittelalter überliefert. Dennoch ist es interessant, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen: „the nature of this relationship is illuminating for historians as well as literary scholars, because it throws light [...] on the kind of personal bonds which, in the later middle ages, men of gentle birth understood and wished to contract”5. Keen beschreibt, allerdings für das 14. und 15. Jahrhundert, solche Paare, die zum Teil schriftlich fixiert eine solche Waffengemeinschaft eingingen, ein Zusammenschluß, der nicht für immer, sondern auf Zeit vereinbart wurde oder nur für eine gemeinsame Unternehmung.6 Gefolgschaft und Waffenbrüderschaft müssen also durchaus keine dauerhafte Gemeinschaft sein,7 und dabei ging es auch

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Vgl. auch Brown, Elizabeth A.R.: Ritual Brotherhood in Western Medieval Europe. In: Traditio 52, 1997, S. 357-381. Weiterhin zum Thema vgl. die anderen Artikel dieses Heftes: Brown, Elizabeth A.R.: Introduction. S. 261-283; Rapp, Claudia: Ritual Brotherhood in Byzantium. S. 285-326; Shaw, Brent D.: Ritual Brotherhood in Roman and Post-Roman Societies. S. 327-355. Keen, Maurice: Nobles, Knights and Men-at-Arms in the Middle Ages. London, Rio Grande 1996, S. 46. Ebd. S. 43. Ebd. S. 50. Die Idealisierung solcher Beziehungen in der älteren Forschung, vgl. etwa Riedemann, Anton: Lehnswesen und höfisches Leben in der altfranzösischen “Histoire de Guillaume le

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

weniger um ideale Freundschaften, sondern um materiellen Nutzen, genauer gesagt, um Gewinnmaximierung durch gemeinsame Turniererfolge: Waffenbrüderschaft kann als “commercial partnership”8 verstanden werden. Das wird uns im Folgenden noch in der Histoire de Guillaume le Maréchal begegnen. Auch die Tafelrunde Artus’, also die Ritter dieser Gemeinschaft oder dieses Hofes könnte man als Zusammenschluß von Waffenbrüdern verstehen – nicht umsonst finden die spätmittelalterlichen Ritterorden hier ihr literarisches Vorbild. Die Tafelrunde wäre dann eine Waffenbrüdergemeinschaft mit höfischen Regularien, die nicht Ausdruck eines ohnehin fragwürdigen Zivilisationsfortschritts sind, sondern Distinktion ermöglichen und die in Gawein ein Musterbild und in Keie die Gegenfigur bzw. die Karikatur vorführen.9 Um sich Freundschaft und damit horizontalen wie vertikalen Bindungen im Artusroman zu nähern, ist es ohnehin notwendig, kurz einen Blick auf die für den gesamten Artusstoff so wichtige Vorstellung von der Tafelrunde und ihren Rittern zu werfen. Egalität wird hier, zumindest dem Anschein nach, zum Prinzip erhoben, indem diese Gemeinschaft der Besten keine Hierarchie kennt und auch Artus als König Teil dieser ‚Runde’ ist. In sozialgeschichtlichen Interpretationen ist daraus das Bestreben des niederen Adels und der Ministerialität nach Aufstieg herausgelesen worden.10 Die Tafelrunde Arthurs symbolisiert in dieser Sicht die Gleichheit aller Ritter, unabhängig von ihrem tatsächlichen Status als mächtige Fürsten oder Angehörige des niederen Adels, die für alle Mitglieder dieser Gemeinschaft gilt, wenn sie sich einmal einen festen Platz erobert haben.11 Im Parzival ist von der „rîterlîch gesellekeit“12 die Rede, die die Mitglieder der Tafelrunde untereinander verbindet. Diese

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Maréchal“. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Frankreichs und Englands um die Wende des 12. Jahrhunderts. Münster 1938, ist inzwischen relativiert. Keen, Maurice: Nobles, Knights and Men-at-Arms in the Middle Ages. S. 46. Keie ist dabei durchaus als vielschichtige Figur zu verstehen: „Sie ist eine Negativ-Einheit im Sinne einer Gegenfigur, eines Provokateurs, eines Intriganten, einer Figur also, die höfisch ideales Verhalten ex negativo verkörpert“. Wenzel, Franziska: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein. In: Kellner, Beate / Lieb, Ludger / Strohschneider, Peter (Hrsg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. (Mikrokosmos: Beiträge zur Literaturwissenschaft u. Bedeutungsforschung, Bd. 64) Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 89-109. S. 93f. Vgl. auch Haupt, Jürgen: Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman. (Philologische Studien u. Quellen, 57) Berlin 1971. Siehe dazu u.a.: Kaiser, Gert: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Die Artusromane Hartmanns von Aue. (Schwerpunkte Germanistik) Wiesbaden 1978, 2.Aufl. Keen, Maurice: Chivalry. New Haven, London 1984, S. 30. Alle Zitate nach folgender Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdt. Text nach d. sechsten Ausg. v. Karl Lachmann, Übers. v. Peter Knecht, Einf. v. Bernd Schirok. Berlin, New York 1998, VI, 280, 16-18; 308, 26-29; 15, 774, 18-25.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

165

Idee der hierarchiefreien, egalitär organisierten Tafelrunde ist Teil des literarischen Ritterideals, “it was a popular concept, and found its literary expression early, when Wace, in the mid-twelfth-century Roman de Brut, described the Round Table set up by Arthur”13. Und nicht zuletzt in der Rezeption des Artusstoffes spielte die Tafelrunde immer eine große Rolle. Die höfischen Romane thematisieren die Beziehungen der Tafelrunde als Gruppe zum Protagonisten, allerdings, „Erec’s story, like Iwein’s, involves the Round Table, but the quest itself, the fulfillment of the hero’s destiny, is solitary.”14 Die Tafelrunde des Artushofes, die sicher auch für freundschaftliche Bindungen ihrer Mitglieder steht, ist also dem jeweiligen Hauptakteur gegenübergestellt, und damit ist auch Gawein als Personifizierung dieser Gemeinschaft, der regelmäßig als potentieller Freund begegnet, ihm zunächst gegenübergestellt. Diese Konfiguration des Artushofes ist der Ausgangspunkt für eine systematische Betrachtung männlicher Freundschaften in der höfischen Epik. 1.1 Männlich-symmetrische Freundschaften des Textcorpus’ im Überblick 1.1.1 Gawein-Freundschaften Die Fallstudie zu Nahbeziehungen hatte nicht nur deswegen den Iwein zum Gegenstand, weil dort besonders ausführlich die Freundschaft zwischen Iwein und Gawein thematisiert wird, sondern weil damit der gängigste Freundschaftstypus wichtiger Faktor der Handlung ist. Parzival drückt dieses Dilemma der konventionellen Erzählfigur Gawan als Freund des Protagonisten aus, wenn er sagt: „bistuz Gâwân? / wie cranken prîs ich des hân, / ob du mirz wol erbiutes hie! / ich hôrte von dir sprechen ie, / du erbütes ez allen liuten wol.“15 Die meisten Artusromane stellen Gawein entweder nur am Rande und als Selbstverständlichkeit oder eben breiter wie im Iwein als Freund des jeweiligen Haupthelden dar. Da Gawein/Gauvain also den ‚typischen’ Freund verkörpert, wobei diese Rolle eben wie bereits erwähnt nicht zu-

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Crouch, David: Strageties of Lordship in Angevin England and the Career of William Marshal. S. 2. McDonald, William C.: King Arthur and the Round Table in the Erec and Iwein of Hartmann von Aue. In: Kennedy, Edward Donald (Hrsg.): King Arthur. A Casebook. (Arthurian Characters and Themes, Bd. 1; Garland Reference Library of the Humanities, 1915) New York, London 1996, S. 45-70, S. 51. Parzival. VI, 304, 1-5.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

letzt den Erzählkonventionen geschuldet ist, soll er vorab kurz selbst als Figur im Mittelpunkt stehen. Gawein gilt als „paragon of worldliness“16, in seiner Person sind alle weltlichen Tugenden des höfischen Kosmos zusammengefaßt. In Chrétiens Erec et Enide „Gauvain first appears in what will turn out to be a markedly characteristic role in later texts, that is to say, as counsellor to Arthur.“17 Gauvain taucht also in Chrétiens erstem höfischen Roman in beratender Funktion für Artus auf, und in den folgenden französischen wie deutschen Artusromanen tritt er immer wieder in der Rolle des Beraters auf. Das bedeutet, daß er fest am Artushof verankert ist, er ist dessen mustergültiger Repräsentant. Das bedeutet aber auch, daß er sich fast immer im Umkreis des Artushofes bewegt oder in dessen Auftrag, für dessen Verteidigung unterwegs ist. Das hat Konsequenzen für die räumliche Verortung von Freundschaft, wovon noch gesondert zu reden sein wird. Die Freundschaft des Protagonisten eines Artusromans mit Gawein kann also – zumindest als wahrnehmbar für den Rezipienten – nur in diesem Umfeld vorgeführt werden bzw. der Artushof ist immer wieder der Ort des (erstmaligen) Zusammentreffens und Wiedersehens von Protagonist und Gawein nach langer Abwesenheit des ersteren oder der beiden. Oder aber die gemeinsame Turnierfahrt wie im Yvain/Iwein ermöglicht das Zusammensein. Entsprechend bedeutet Iweins Rückkehr zu Laudine dann auch das Zurücklassen des Freundes am Artushof, bei Parzival verhält es sich ähnlich. Mehr noch als Artus selbst und stets in Absetzung zu Keie repräsentiert Gawein eine bestimmte – literarische – Vorstellung höfischer Ritterlichkeit und höfischer Ideale. “But that particular conception does not preclude other inferior or superior values that may well complement or complete it. Gauvain speaks and acts as a knigth and for knights, and as such he is to be heeded by the typical Arthurian knight who aspires to chivalric fame”18. Was höfische Liebe und Ehe angeht, steht er in Opposition zu Lancelot, Iwein oder Erec, Gawein ist der Frauenheld des Artusromans schlechthin; allerdings fällt Wolframs Gawan dabei aus dem Rahmen. Gawein markiert die Position des Freundes schlechthin, d.h. so wie er die anderen seiner vielfältigen Funktionen in den Texten übernimmt, so ist seine Funktion in bezug auf die Protagonisten die des Freundes. Im Parzival beispielsweise wird die Integration des Helden in die Artusgesell16 17 18

Duggan, Joseph J.: The Romances of Chrétien de Troyes. New Haven, London 2001, S. 319f. Busby, Keith: Gauvain in Old French Literature. Amsterdam 1980, S. 50. Kelly, Douglas: Gauvain and Fin’ Amors in the Poems of Chrétien de Troyes. In: Thompson, Raymond H. / Busby, Keith (Hrsg.): Gawain. A Casebook. S. 117-123, S. 122f.

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schaft durch ihn möglich. Während Lancelot und Tristan die unglücklich Liebenden sind – vor allem im Lancelot steht Gauvain für ein rein männlich-ritterliches Ideal, während Lancelot als der liebende Ritter charakterisiert wird19 – oder Parzival der Gralssucher, steht Gawein für den vollkommenen Ritter und Helfer. Man könnte darin eine Rollenverteilung innerhalb des Artuskosmos sehen und wäre damit wieder bei einer narratologischen Perspektive, nach der Gawein eben genau die Position des Freundes einnimmt und seine Beziehung zum jeweiligen Haupthelden immer schon durch die Erzählstruktur vorgegeben ist. Gawein steht dabei für das Modell Freundschaft, das Stephen Jaeger als Maske des höfischen Adligen, als Performanz von Freundschaft beschreibt.20 Freundschaft ist für die Gaweinfugur also ein bestimmtes, freundschaftliches Verhalten, das Teil der höfischen Konvention ist. Dazu gehört ein festes Set von Verhaltensweisen, das je nach Situation angewandt und variiert wird: Gawein kann verständnisvoll und einfühlsam agieren, etwa im Zusammentreffen mit Parzival in der Blutstropfenepisode, er kann aus dem Schatz der eigenen Erfahrungen schöpfend beraten wie im Iwein, er kann aber auch überredend und lenkend wirken wie im Erec, und er gibt stets den Gefährten und Helfer, beispielsweise wenn er Lancelot bei der Suche nach Ginover begleitet. Fast immer wird er als tapfer und vollkommen im Zweikampf präsentiert, als höfisch im Umgang mit Fremden und Gegnern und als besorgt um das Wohlergehen des Freundes. Damit ist er Maßstab eines als Ideal begriffenen Verhaltens: “he [Gauvain] represents an ideal of conduct”21. Allerdings resultieren daraus auch Einschränkungen, besonders im Hinblick auf seine Eigenschaften als Freund. Er verkörpert spezifische Verhaltensmuster, die ihn zwar als vorbildlichen, vollendeten höfischen Ritter erscheinen lassen, die ihn aber auch in seinem Bewegungsradius und seinen Handlungen als Akteur von Freundschaft einschränken. Er kann dem Freund weder im Wahnsinn fern der höfischen Welt noch in der Liebesverzweiflung, die das Tabu des Ehebruchs verletzt, beistehen. Wird im Iwein der Freundschaft zwischen Gawein und Iwein vergleichsweise viel Raum gegeben, so fällt in anderen Artusromanen die Schilderung dieser Bindung wesentlich kürzer und konventioneller aus. Im Cligès wird eher formelhaft die Freundschaft zwischen Alexander und Gauvain angeführt: Nach der Ankunft Alexanders am Hof von Artus heißt es im Text: „A mon seignor Gauvain s’acointe / Et as autres par un 19 20 21

Looze, Laurence N. de: Chivalry qualified: The Character of Gauvain in Chrétien de Troyes’ Le Chevalier de la Charrette. In Romanic Review 74 (3) 1983, S. 253-259. Jaeger, Stephen C.: Ennobling Love. Nitze, William A.: The Character of Gauvain in the Romances of Chrétien de Troyes. S. 114.

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et un. / Mout se fet amer a chascun, / Nes mes sire Gauvains tant l’aimme, / Qu’ami et conpaignon le claimme.“22 Stellvertretend für alle anderen am Artushof wird Gauvain als Freund und Gefährte Alexanders genannt. In der gleichen Weise nimmt sich auch die Freundschaftsrhetorik zwischen Alexander und Artus aus.23 Das deckt sich durchaus mit anderen, außerliterarischen Textzeugnissen, etwa Chroniken, in denen Freundschaft formelhaft in der Anrede oder als Bezeichnung für Gefolgsleute und Verbündete benutzt wird, so beispielsweise in den Gesta Frederici Ottos von Freising. Dort ist etwa im Brief Heinrichs II. an Friedrich Barbarossa zu lesen: „Precordiali amico suo F.“24 Freundschaft als Willkommensformel, als Anbieten der Gastfreundschaft und Geste der Neutralität funktioniert auf dieser Ebene in höfisch-literarischen Werken ähnlich wie in historiographischen Texten. Ebenfalls im Cligès ist das Vererben von Freundschaft zu beobachten, nämlich wenn Cligès am Artushof auch in der Beziehung zu Gauvain in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Wie sein Vater ihn ermahnt hat, sucht Cligès den Artushof auf, um sich dort mit den Rittern in seinen Fähigkeiten zu messen. Cligès und Gauvain treffen im Turnier im Zweikampf aufeinander.25 Der Kampf der beiden realisiert ein Muster, das in ähnlichen Konstellationen immer wieder begegnet: Die ebenbürtigen Kontrahenten liefern sich einen ausgeglichenen, unentschiedenen Kampf, der schließlich von Artus unterbrochen wird mit der Aufforderung: „Traiiez vos an sus! / Mar i avra cop feru plus. / Mes feites pes, soiiez ami!“26 – die Gegner haben sich als ebenbürtig erwiesen, was die Grundlage für ihre gegenseitige Anerkennung und freundliche Gesinnung bildet. Diese Korrelation von Freundschaft und Zweikampf, die ein Kennzeichen höfischer Freundschaft ist, wird noch zur Sprache kommen. Aus der Wertschätzung des fremden Ritters wird eine freudige Begrüßung, besonders durch Gauvain, nachdem Cligès sagt, wer er ist: „Et mes sire Gauvains le sot, / Qui sor toz l’acole et

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Chrétien de Troyes: Cligès. Auf d. Grundl. d. Textes v. Wendelin Foerster, übers. u. kommentiert v. Ingrid Kasten. Berlin, New York 2006, 394-398: „Mit Herrn Gauvain befreundet er sich / und mit den anderen, einem nach dem anderen. / jedem macht er sich angenehm, / und sogar der Herr Gauvain liebt ihn so sehr, / daß er ihn Freund und Gefährte nennt.“. Vgl. etwa Cligès. 1452. Bischof Otto von Freising und Rahewin: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica. Übers. v. Adolf Schmidt, hrsg. v. Franz-Josef Schmale. (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters: Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 17) Darmstadt 2000, 4. Aufl., S. 406: “Seinem herzlich geliebten Freund Friedrich”. Cligès. 4917ff. Cligès. 4965-67: „Hört auf! / Ein einziger weiterer Schlag wird Unheil bringen. / Macht nun Frieden, werdet Freunde!“.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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conjot.“27 Die freundschaftliche Bindung findet hier außerdem ihre Basis in der verwandtschaftlichen, da Gauvain Cligès’ Mutterbruder ist. Daß in dieser Verwandtschaft jedoch nicht die erste Ursache der Bindung zwischen Gauvain und Cligès liegt, zeigt der Zweikampf, der die gegenseitige Wertschätzung ermöglicht und dem Erkennen des Verwandten vorangestellt ist. Etwas anders, auch ‚persönlicher’, liegen die Dinge in Chrétiens Lancelot. Lancelot und Gauvain sind gemeinsam unterwegs, um Ginover zu befreien, wobei Lancelot bei der Überwindung der zahlreichen und gefährlichen Hindernisse immer wieder als der Überlegene erscheint. Nicht nur überwindet er die Schwertbrücke, sondern sobald er die Köngin in Sicherheit weiß, macht er sich auf den Weg, um Gauvain zu suchen, der an der Unterwasserbrücke zu ertrinken droht. Daß man von den beiden als Freunden sprechen kann, wird allerdings erst an dieser Stelle explizit. Solange Gauvain zu Beginn des Romans dem Karrenritter nachreitet, ist von einer solchen Bindung nichts zu merken. Besonders deutlich wird aber dann die Bedeutung von Reziprozität für die Beziehung der beiden. So wie Lancelot sich zu seiner Such- und Rettungsaktion aufmacht, setzt er auf ähnliche Aktivitäten des Freundes, als er selbst in eine ausweglose Lage in der Gefangenschaft im Turm kommt. Dort beklagt Lancelot den scheinbar fehlenden Einsatz seines Freundes Gaweins: „Ha, Gauvains, vos qui tant valez, / Qui de bontez n’avez paroil, / Certes, duremant me mervoil / Por quoi vos ne me Űecorez! / Certes, trop i par demorez, / Si ne Űeites pas corteiŰie.“28 In dieser Anklage offenbaren sich zunächst die formalen Grundlagen ihrer Freundschaft, nämlich Wert oder Verdienst, wohl auch im Sinne des vir bonus, und die höfische Verpflichtung zur Hilfe und Unterstützung. Erst in einem zweitem Schritt geht es um die persönliche Bindung, die das affektive Moment einschließt, nämlich wenn Lancelot über wahre Freundschaft räsoniert, die sich erst in der Not bewährt: „Il ne vos an eŰt mie a tant / Qu’antrer an voilliez an la painne. / Li vilains dit bien voir qu’a painne / Puet an mes un ami trover! De legier puet an eŰprover / Au beŰoing qui eŰt buens amis.“29 Lancelot, der sich selbst immer wieder in Gefahr begeben hat, um den Freund zu suchen, fühlt 27 28

29

Cligès. 5057-58: „Und Herr Gauvain erfuhr es, / der ihn besonders herzlich umarmt und begrüßt.“. Chrestien de Troyes: Lancelot. Übers. u. eingel. v. Helga Jauss-Meyer. (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters, Bd. 13) München 1974, 6504-6509: „Ach, Gawein, Euer Wert ist so groß, Eure Tapferkeit unvergleichlich – ich frage mich wirklich voller Verwunderung, warum Ihr mir nicht helft! Ihr säumt allzu lange und kommt nicht Eurer höfischen Pflicht nach.“ (S. 323). Lancelot. 6520-6525: „Es liegt Euch eben nicht so viel daran, daß Ihr wegen mir Mühe auf Euch nehmen wolltet. Der Bauer sagt sehr richtig, daß man nur sehr schwer einen Freund finden kann. In der Not kann man leicht erproben, wer der wahre Freund ist.“ (S. 323f.).

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sich in seiner Notlage im Stich gelassen. Offenbar gibt es also eine klare Erwartungshaltung an den Freund, die in solchen Situationen auch artikuliert wird. Nach seiner Befreiung treffen Lancelot und Gauvain wieder zusammen, und der Text inszeniert bei dieser Gelegenheit, ähnlich wie in vergleichbaren Situationen anderer Artusromane, beispielsweise das Wiedererkennen und die Wiedersehensfreude Iweins und Gaweins nach ihrem Zweikampf, einen Moment großer spontaner Emotion. Es ist aber, und das ist keineswegs nebensächlich, ein Moment kommunizierten Gefühls in der Öffentlichkeit. Es geht daher auch nicht darum, in psychologisierender Interpretation herauszufinden, was die beiden tatsächlich füreinander empfinden oder nicht, ob hier die ‚tatsächlichen’ Gefühle der beiden sich ausdrücken, wie gelegentlich zu lesen ist – „It is perhaps at this moment that the friendship of the two knights really emerges for what it is (6788ff.) – a sincere and deep-felt emotion”30. Interessant ist an dieser Stelle nur, wie dieses Wiedersehen in seiner Emotionalität vorgeführt wird. Gauvain umarmt Lancelot als er ihn erkennt: A grant mervoille l’eŰgardoit / Por ce que Űi Űoudainnemant / EŰt venuz; et Űe je ne mant, / Mervoilles li Űont avenues / AuŰŰi granz con Ű’il fuŰt des nues / Devant lui chëuz maintenant; / Mes lors nel va riens detenant / Ne beŰoinz qu’il pöiŰt avoir, / Quant il voit que c’eŰt il por voir, / Qu’a terre ne Űoit deŰçanduz / Puis li a Űes braz eŰtanduz, / Si l’acole et Űalue et beiŰe.31

Gauvain gibt also scheinbar alle höfische Zurückhaltung auf und demonstriert durch sein öffentlichkeitswirksames Verhalten und die Demonstration körperlicher Nähe die enge Verbindung mit dem verschollenen, wiederaufgetauchten Lancelot. Ähnlich emotional-physisch verläuft die Begrüßung zwischen Gawein und Iwein, als sie sich nach dem Zweikampf erkennen: „diu swert wurfen sî hin / unde liefen ein ander an. / [...] sî underkusten tûsentstunt / ougen wangen unde munt. / Dô der künec die minne / und diu küneginne / von in zwein gesâhen, / und vriundes umbevâhen, / des wundert sî sêre“32. Das typische Repertoire der Freundschaftsgestik und physischen Demonstration von gegenseitiger Verbundenheit33 ist hier zur Schilderung 30 31

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Busby, Keith: Gauvain in Old French Literature. S. 65. Lancelot, 6810-6821: „Er [Gauvain] betrachtete ihn voller Erstaunen, da er so plötzlich aufgetaucht ist. Ehrlich gesagt, seine Verwunderung ist so groß, als ob er in diesem Augenblick vor ihn vom Himmel gefallen wäre. Aber als ihm klar wird, daß es wirklich Lanzelot ist, da hält ihn nichts, was er vorhaben könnte, zurück: er springt zu Boden, breitet die Arme vor ihm aus und umarmt, grüßt und küßt ihn.“. Iwein. 7496-7509. Eickels, Klaus van: Kuß und Kinngriff, Umarmung und verschränkte Hände. Zeichen personaler Bindung und ihre Funktion in der symbolischen Kommunikation des Mittelalters. In: Martschukat, Jürgen / Patzold, Steffen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „per-

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des Wiedersehens der Freunde herangezogen. Gauvain bietet Lancelot zudem an, den anstehenden Kampf mit Meleaganz – als Figur Inbegriff des Gegenentwurfs zu Freundschaft – stellvertretend zu übernehmen. Sehr viel knapper und eher auf der formalen Ebene wird im Erec die konventionelle Beziehung zwischen Gawein und Protagonist dargestellt. Im Grunde gibt es nur eine Situation, in der die Freundschaft zwischen dem Hauptakteur und Gawein überhaupt sichtbar wird. Nach dem ersten Kampf mit Guivzreiz trifft Erec zunächst auf Keie, dann auch auf Gawein, der von Artus angewiesen ist, Erec zur Artusgesellschaft zu bringen. Obwohl Erec ausdrücklich sagt, daß er die Artusgesellschaft nicht treffen kann und will, setzt Gawein alles daran, dieses Treffen dennoch zu arrangieren, indem er hinter Erecs Rücken Keie zurück zu Artus schickt und diesem ausrichten läßt, er solle sich zu der Stelle im Wald begeben, an der Erecs Weg vorbeiführen wird. Um Artus die dafür notwendige Zeit zu verschaffen, hält er Erec solange wie möglich hin und führt ihn geradewegs zu dem Punkt, an den Artus sich mit dem Hof begeben hat – Erec ist darüber alles andere als glücklich. Gawein inszeniert ein regelrechtes Täuschungsmanöver,34 damit Artus Erec treffen kann – ein zweifelhafter Freundschaftsdienst oder Gawein gar in der Rolle des falschen Freundes? Naheliegender ist es, davon auszugehen, daß für Gawein die Loyalität zu Artus in dieser Situation Priorität hat. Seine Position als Begleiter und Helfer und als ehrenwerter Gegner im Zweikampf wird im zweiten Teil des Werkes von Guivreiz eingenommen. Dieser begleitet Erec zur Joie de la curt-Aventiure und danach an den Artushof. Erecs Zusammentreffen mit Guivreiz und Mabonagrin wird im Zusammenhang mit der Rolle des Zweikampfes in diesen Beziehungen gesondert untersucht werden. Der letzte Fall in dieser Reihe der Gawein-Freundschaften ist der Parzival bzw. Perceval. Die Beziehung zwischen Gawan und Parzival in Wolframs Parzival nimmt innerhalb des Freundschaftstypus’ GaweinProtagonist eine Sonderstellung ein. Diese Konstellation erfüllt zunächst einmal das Muster, nachdem Gawein als Mustervertreter der Artusgesellschaft der Freund des Helden des jeweiligen Romans ist. Jedoch fällt diese Nahbeziehung aus dem üblichen Muster heraus, weil sie zum einen anders gestaltet ist als die anderen Gawein-Held-Freundschaften und weil zum anderen die Gawan-Figur selbst anders konzipiert ist, auch in ihrem Verhältnis zum Titelhelden. So wie Iwein und Gawein eine besondere Positi-

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formative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 19) Köln, Weimar, Wien 2003, S. 133-159; Krass, Andreas: Geschriebene Kleider. S. 309ff. Simpson, James R.: Troubling Arthurian Histories. Court Culture, Performance and Scandal in Chrétien de Troyes‘s Erec et Enide. (Medieval and Early Modern French Studies, 5) Oxford u.a. 2007, S. 329.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

on einnehmen innerhalb des Musters, so setzen sich Parzival und Gawan auf andere Weise deutlich davon ab. Abgesehen von der Entsprechung der konventionellen Erzählstruktur lassen sich erhebliche Unterschiede zu den Beziehungen Iwein-Gawein oder Gauvain-Lancelot feststellen. Vor allem in Wolframs Parzival ist Gawan nicht einfach Begleiterscheinung des Protagonisten, sondern er ist selbst der ‚andere’ Held. Wer den stets perfekten, aber dadurch auch konturlosen und ein wenig langweiligen, höfisch-vorbildlichen Musterritter erwartet – man denke an die von Kurt Ruh treffend beschriebenen „spezifischen Gawanqualitäten, wie sie ihm die bisherigen Artusromane attestieren, der Tapferste im Kampf, der perfekt Höfische, der Galante und Erfolgreiche im Umgang mit Damen“35 – , mag vielleicht von Wolframs Anlegung der Figur enttäuscht oder befremdet sein. Hier soll und kann nicht die Frage nach der Gawanfigur und ihrer Bedeutung für den Gesamttext erörtert werden,36 im Hinblick auf die Forschung sei nur festgestellt, daß die Gawanbücher des Parzival uns nicht einen zweiten Protagonisten zeigen, der nur auf weltlich-profaner Ebene nachvollzieht, was Parzival auf der spirituellen Ebene erlebt, sondern einen anderen Helden, dessen Erfahrungen und Bewährungen gleichberechtigt neben denen des Titelhelden stehen. Mit Parzival und Gawan werden uns zwei mögliche Daseinsformen präsentiert – im 21. Jahrhundert könnte man auch von Lebensentwürfen sprechen – , die in ihren Gemeinsamkeiten grundlegende Konstellationen und Strukturen widerspiegeln und in deren Differenzen unterschiedliche Handlungsoptionen durchgespielt sind. „So lange das Interesse der Parzivalforschung ganz auf die religiöse Problematik gerichtet war, hat der zweite Held des Romans wenig Beachtung gefunden.“37 Seitdem er Beachtung findet, wird er in der Regel mit dem vermeintlichen Haupthelden verglichen. Über das Verhältnis der Protagonisten Parzival und Gawan in Wolframs Roman ist viel geschrieben worden, und dabei stellte sich zum einen die Frage, ob beide auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen,38 oder ob Gawan lediglich das weltliche alter ego

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37 38

Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Zweiter Teil: ‚Reinhart Fuchs’, ‚Lanzelet’, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. (Grundlagen der Germanistik, 25) Berlin 1980, S. 104. Vgl. u.a. Homberger, Dietrich: Gawein. Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Artusepik. Bochum 1969, S. 130ff; Jones, Martin: The Significance of the Gawan Story in Parzival. In: Hasty, Will (Hrsg.): A Companion to Wolfram’s Parzival. (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture) Columbia 1999, S. 37-76. Bumke, Joachim: Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie. München 1970, S. 190. Mertens, Volker: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 1998, S. 138.

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Parzivals ist.39 Eine andere Position hat beispielsweise Wolfgang Mohr eingenommen, der in den beiden Helden nicht die auf zwei Figuren verteilte Ausprägung eines sittlichen und eines religiösen Prinzips sieht, sondern nur zwei in ihrer Gestaltung unterschiedliche Formen von Menschlichkeit.40 Tatsächlich kann Gawan nicht auf eine Ergänzung der Parzivalfigur in der Dimension des Artusrittertums reduziert werden. Auch die Auffassung, die Struktur des Doppelkursus’ erfordere im Gralsroman einen zweiten Helden, damit der traditionelle zweite Weg, der zurück an den Artushof führt, erfüllt werden kann, während der eigentliche Protagonist in der Auseinandersetzung mit Gott, die im Roman unsichtbar bleibt, seine Bestimmung erfährt, erscheint unbefriedigend.41 Statt dessen kann Wolframs Roman in der Weise gelesen werden, daß zwei unterschiedlich konzipierte Figuren, die innerhalb des Romangeschehens über strukturelle Gemeinsamkeiten verfügen, in grundlegenden Konstellationen vorgeführt werden, um so anthropologische Positionen zu verhandeln und die möglichen Daseinsformen in der höfischen Welt des Artusromans darzustellen und zu problematisieren. Oft hat man in Gawan in erster Linie den Minnehelden gesehen, aber auch wenn man Minne nicht für ein „Nebenthema in seiner Lebenssinfonie“42 hält, so ist doch hinter Gawans Frauenbegegnungen mehr zu vermuten als ein bloßes Abarbeiten der Formen höfischer Minne.43 Aber auch eine einfache Binäropposition von weltlicher Minne und Gottesminne – verkörpert von Gawan und Parzival – greift zu kurz. Gawan verkörpert die quasi menschliche Dimension im Parzival – erotische Leidenschaft, Furcht, Haß und Hoffnung.44 „He is the human hero, the protagonist who, despite his own shortcom39

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So etwa noch Walter Schröder: „Das bedeutet Spaltung der Person, die nun sozusagen geteilt wird: als Seelenwesen geht sie durch den Gralsbezirk, als Realwesen ohne weitere Problematik durch die reale Ritterwelt, und auf diesem letzten Weg heißt sie – Gawan.“ Vgl.: Schröder, Walter J.: Der dichterische Plan des Parzivalromans. In: Braune, Wilhelm / Paul, Hermann / Sievers, Eduard (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 74, 1952, S. 160-192, S. 184. Vgl. zu dieser Problematik auch: Czerwinski, Peter: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a.M., New York 1989, S. 133ff. Mohr, Wolfgang: Parzival und Gawan. In: Rupp, Heinz (Hrsg.): Wolfram von Eschenbach. (WdF, Bd. 67) Darmstadt 1966, S. 287-318. Siehe auch Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. (Hermaea: Germanistische Forschungen, NF, Bd. 94) Tübingen 2001, S. 157-164. Mertens, Volker: Der deutsche Artusroman. S. 105. Mohr, Wolfgang: Parzival und Gawan. S. 293. Siehe dazu u.a.: Dimpel, Friedrich Michael: Dilemmata: Die Orgeluse-Gawan-Handlung im „Parzival“. In: ZfdPh 120 (1) 2001, S. 39-59. Classen, Albrecht: Crisis and Triumph in the World of Medieval Knighthood and Chivalry: Gawan in Wolfram von Eschenbach’s Parzival. In: Thompson, Raymond H. / Busby, Keith (Hrsg.): Gawain. A Casebook. (Arthurian Characters and Themes, 8) New York, London 2006, S. 217-229, S. 228.

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ings and failings, fights for those in need and restores justice, happiness, and love to this world”45. Aufgrund dieser Position, die Gawan in Wolframs Text einnimmt, kann er nicht wie in den anderen Artusromanen nur als Begleiter und Helfer des Protagonisten verstanden werden, sondern der Freundschaftsdiskurs dient hier vor allem dazu, die Verbindung zwischen beiden Haupthelden herzustellen, und es geht um die Thematisierung oder auch Problematisierung der „Fähigkeit [...], reziproke Beziehungen auf höfische Weise überhaupt eingehen zu können“46. Parzivals und Gawans erstes entscheidendes Zusammentreffen ist Gawans Auftritt in der Blutstropfenszene. Seine richtige Einschätzung der Situation führt nach den beiden vorangegangenen Zweikämpfen Parzivals mit Segramors und Keie zur Deeskalation und führt Parzival an den Artushof. Bei der Festtafel der Artusgesellschaft sitzen sie nebeneinander, was wohl vor allem als Auszeichnung des Roten Ritters zu verstehen ist. Beim Abschied der beiden vom Artushof und voneinander geben sie sich gegenseitig gute Wünsche mit auf den Weg: „dô kust in mîn hêr Gâwân: / dô sprach der manlîche / ze dem helde ellens rîche / ‚ich weiz wol, friwent, daz dîn vart / gein strîtes reise ist ungespart. / dâ geb dir got gelücke zuo“47, und Parzival erwidert die Wünsche: „friunt, an dînes kampfes zît / dâ nem ein wîp für dich den strît“48. Beide Helden scheinen hier in gegenseitiger Verbundenheit und Freundschaft vorgeführt49, allerdings ist diese Verabschiedung im Gestus der Freundschaft auch formal-höfisch und damit ähnlich wie die Begrüßungsszenen im Cligès. Parzival und Gawan treffen erst – wie Iwein und Gawein – unerkannt im Zweikampf wieder aufeinander, und die Reziprozität löst sich beinahe auf, da Parzival als der körperlich Überlegene erscheint: nu hoeret wie diu tjost ergienc. / hurteclîche, unt doch alsô, / si möhtens bêde sîn unvrô. / erkantiu sippe unt hôch geselleschaft / was dâ mit hazlîcher kraft / durch scharpfen strît zein ander komen. […] die tjoste brâhte iewedriu hant, / daz die mâge unt die gesellen / ein ander muosen vellen / mit orse alle nider50

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Ebd. S. 228. Haferland, Harald: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 10) München 1989, S. 205. Parzival. VI, 331, 22-27. Parzival. VI, 332, 9-10. Wynn, Marianne: Parzival und Gâwân: Hero and Counterpart. In: Groos, Arthur / Lacy, Norris J. (Hrsg.): Perceval / Parzival. A Casebook. (Arthurian Characters and Themes, 6) New York, London 2002, S. 175-198, S. 177. Zu narratologischen Aspekten der Gawan-Bücher vgl. u.a. Neugart, Isolde: Wolfram, Chrétien und das Märchen. Erzählstrukturen und Erzählweisen in der Gawan-Handlung. (Europäische Hochschulschriften; Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1571) Frankfurt a.M. u.a. 1996. Parzival. XIV, 680, 10-21.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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Nachdem Parzival den Freund und Verwandten erkannt hat, wirft er sein Schwert weg und verflucht sich selbst. Gawan aber stellt über sie beide und ihren Kampf fest: „‚so was ez reht: / hiest krumbiu tumpheit worden sleht. / hie hânt zwei herzen einvalt / mit hazze erzeiget ir gewalt. / dîn hant uns bêde überstreit: / nu lâ dirz durch uns bêde leit. / Du hâst dir selben an gesigt, / ob dîn herze triwen phligt’“51. Parzival hat sich selbst im Kampf gegen Gawan überwunden, hat gegen beide gesiegt, was ihre unauflösliche Verbindung52 zeigt, und daß ihre Wege aufeinanderbezogen sind. Der Identitäts-Diskurs wird hier benutzt, um ihre Einheit, ihre einvalt zu betonen. Das wird noch durch ein Geste Gawans unterstrichen, der Parzival nach dem Zweikampf in ein Gewand ähnlich seinem eigenen kleidet.53 Im Repertoire der Freundschaftsgesten verweist ein solcher Kleidertausch auf die Ähnlichkeit und Einheit der Freunde.54 Mit welchem Freundschaftsdiskurs läßt sich die Beziehung zwischen Wolframs Gawan und Parzival lesen? Da beide auf Gralssuche gehen, scheint die amicitia spiritualis hier noch vielmehr eine mögliche Folie zu bilden. Aber wenn man nur die Begegnungen des Textes selbst zum Maßstab nimmt, läßt sich kaum mehr als freundliche Aufgeschlossenheit dem anderen gegenüber und Respekt konstatieren. Man könnte auch die Dopplung von Verwandtschaft und Freundschaft, die anläßlich des Zweikampfes betont wird, als Rhetorik abtun, doch der zweimalige Verweis darauf sollte nicht zuletzt auch unter erzählökonomischen Aspekten Beachtung finden. Gerade im Parzival Wolframs, der Verwandtschaft als Prinzip so betont und damit zugleich aber auch relativiert,55 ist Freundschaft eine Möglichkeit, bestimmte Beziehungen, in diesem Fall die, die die beiden Hauptakteure verbindet, zu exponieren. 1.1.2 Freundschaft am Hof: Tristan und Nibelungenlied Der Tristan Gottfrieds und Thomas’ bietet eine Reihe von Nahbeziehungen, die unter dem Stichwort männliche Freundschaft zu diskutieren sind. Da ist zum einen das Beziehungsnetz am Marke-Hof mit dem falschen Freund Marjodo, zum anderen Tristans Verhältnis zu Kurwenal, seinem Lehrer und Begleiter, und schließlich Tristan und Kaedin. Wie sieht es 51 52 53 54 55

Parzival. XIV, 689, 25-30, 690, 1-2. Wynn, Marianne: Parzival und Gâwân. S. 193. Krass, Andreas: Geschriebene Kleider. S. 320. Ebd. S. 318ff. Da fast alle Figuren in irgendeiner Weise verwandtschaftlich miteinander verbunden sind, verringert sich die Verbindlichkeit und Bedeutung von Verwandtschaft durch diese Allgegenwart des Beziehungssystems.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

überhaupt mit dem Modell des falschen Freundes aus? Wo betrügen Freunde einander und hat es Konsequenzen für die Freundschaft? Diese Fragen und Marjodo werden im Zusammenhang mit der Beziehung Tristan-Marke und (asymmetrischen) Freundschaften am Hof näher betrachtet werden, hier geht es zunächst nur um Tristan und Kaedin. Tristan kommt nach Arundel und schließt mit Kaedin, dem Sohn des Herzogs, Freundschaft. Er läßt sich über den Krieg und den Stand der Dinge berichten und schickt dann eine Botschaft nach Parmenien zu Ruals Söhnen, daß er Hilfe braucht. Mit Hilfe der Männer, die ihm aus Parmenien geschickt werden, kann Tristan in Arundel erfolgreich in die Auseinandersetzungen zugunsten des Herzogs eingreifen. Durch den geschickten Kriegszug mit seinen Gefolgsleuten und den Leuten Kaedins hilft Tristan scheinbar uneigennützig in Arundel und erwirbt sich so auch an diesem Hof Ansehen. Doch dahinter kann man durchaus auch Kalkül sehen. Eine Rückkehr an den Marke-Hof und in seine dortige Position inklusive der Aussichten auf die Herrschaft als Erbe scheint kaum denkbar, in Parmenien hat er alle Besitzrechte an die Söhne Ruals abgegeben, auch wenn seine Unterstützung von dort seinen noch bestehenden Einfluß suggeriert. Er muß sich also neu etablieren, was ihm in Arundel glänzend gelingt. Seine Verankerung am Hof findet ihren Ausdruck in dem Treueeid, den sich Tristan und Kaedin schwören: „si zwêne wâren under in / alle stunde und alle zît / enwette unde enwiderstrît / wider ein ander dienesthaft: / triuwe unde geselleschaft / gelobeten sî zwene under in zwein / und behielten ouch die wol inein / unz an ir beider ende.“56 Die Heirat Tristans mit Kaedins Schwester ist dann ein weiterer Schritt in dieser Allianz. „Männer heiraten [...] ebenso, um freundschaftliche Schwäger zu bekommen wie Ehefrauen.“57 Im Fall von Tristan könnte man reformulieren, Männer verheiraten ihre Schwestern, um freundschaftliche Schwäger und Verbündete zu bekommen. Kaedin ist froh über den neuen schlagkräftigen Verbündeten und begreift die Bindung an Tristan als eine Absicherung seines Herrschaftsgebiets. Folgerichtig sieht er in der Zuneigung seiner Schwester zu Tristan eine Möglichkeit, den Gefährten am Hof zu halten, der sich als so nützlich und hilfreich erwiesen hat: „sô hete ouch er mit ime verant / sîn urliuge über al daz lant.“58 Es sind also auf beiden Seiten vor allem pragmatische Überlegungen, die eine Freundschaft befördern. Tristan als Verbündeter bedeutet größere Sicherheit für Kaedin und die Herrschaft in Arundel, und Kaedin als Schwager sichert Tristan eine einflußreiche Position bei Hof. Selbst die nicht vollzogene Ehe ändert 56 57 58

Gottfried von Straßburg: Tristan. 18748-18755. Brain, Robert: Freunde und Liebende. S. 216. Gottfried von Straßburg: Tristan. 19099-100.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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nichts an der Beziehung, beide bleiben in Thomas’ Tristanroman oder vielmehr in dessen Rekonstruktion Freunde, als Kaherdin davon erfährt, daß Tristan nicht mit seiner Schwester schläft.59 Mit dieser Beziehung zwischen Tristan und Kaedin, die durch Loyalität gekennzeichnet ist, wird natürlich auch ein Gegenbild zu den intriganten Freundschaften am Marke-Hof entworfen. Dennoch ist es in erster Line eine strategische Allianz, die durch eine Heirat befestigt wird. Mit dem Nibelungenlied bewegt sich das Nachdenken über Freundschaft auf ein Textfeld, das sich von den bisher besprochenen höfischen Romanen unterscheidet, dessen Differenzen aber nicht einfach mit der Opposition höfischer Roman – Heldenepik umrissen sind. Allerdings kann an dieser Stelle nicht das vieldiskutierte Thema von höfischem und heldenepischem Erzählen im Nibelungenlied60 erörtert werden. Es geht vielmehr darum, wesentliche Nahbeziehungen des Textes und ihre Diskursivierung im Vergleich zum restlichen Textcorpus zu analysieren. Die Schwierigkeit bei diesem Werk besteht vor allem darin, daß es schon per se Treue-, Gefolgschafts- und Freundschaftsbindungen zum Gegenstand hat, diese aber anders codiert sind als Nahbeziehungen der höfischen Romane. Personale und formale triuwe-Bindungen61 überlagern und verschränken sich miteinander – vor allem der zweite Teil des Werkes berichtet von konkurrierenden Loyalitäten und Treuekonflikten62 – , was eben nicht zuletzt auf die erwähnten verschiedenen Erzählstränge, die der Text in sich vereint und ausstellt, zurückzuführen ist. Richtungsweisend für die Analyse von Freundschafts- und Gefolgschaftsbeziehungen im Nibelungenlied ist schon der Beginn des Textes, nämlich der ‚Loyalitätskatalog’, der dort vorgestellt wird. Gleich in der ersten Aventiure werden die Helden benannt, die im Dienst von Gunther, Gernot und Giselher stehen: Daz was Tronege Hagene und ouch der bruoder sîn, / Dancwart der vil snelle, von Metzen Ortwîn, / die zwêne marcgrâven Gêre und Ekkewart, / Volkêr von Alzeye, mit ganzem ellen wol bewart. // Rûmolt der kûchenmeister, ein ûz erwelter degen, / Sindolt und Hûnolt, diese herren muosen pflegen / des hoves unt der êren, der drîer künege man. / si heten noch manegen recken, des ich genen59 60

61 62

Für die Analyse der Beziehung Tristan-Kaherdin bei Thomas vgl. Hyatte, Reginald: The Arts of Friendship. S. 91ff. Siehe dazu u.a.: Haug, Walter: Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied. In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 293-307; Hoffmann, Werner: Das Nibelungenlied – Epos oder Roman? Positionen und Perspektiven der Forschung. In: Knapp, Fritz Peter (Hrsg.): Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Heidelberg 1987, S. 124-151. Gentry, Francis G.: Triuwe and vriunt in the Nibelungenlied. S. 45ff. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. S. 153ff.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

nen niene kan. // Dancwart der was marschalc; dô was der neve sîn / truhsæze des küneges, von Metzen Ortwîn. / Sindolt der was schenke, ein ûz erwelter degen. / Hûnolt was kamerære: si kunden hôher êren pflegen.63

Diese Aufzählung von Gefolgsleuten und ihren Ämtern führt gleich zu Beginn des Textes einen ganzen Komplex von Loyalitäten und horizontalen wie vertikalen Beziehungen vor. Das Agieren der einzelnen Personen ist abhängig von einem ganzen Netzwerk von Bindungen sowie von ihrer jeweiligen Position darin.64 Eine besondere Position in diesem Geflecht und dieser Hierarchie personaler Bindungen nimmt zweifellos Hagen ein, der nicht ohne Grund die Namensreihe anführt. Dieses wohlgeordnete Beziehungsgefüge aus Verwandtschaft, Herrschaftsbindungen und Freundschaft, etwa in Form von Waffenbrüderschaft, sprengt Siegfried, und der Fortgang des Textes zeigt, daß er weder integriert noch die Ordnung nach seinem Tod wieder hergestellt werden kann. Die Kampfansage bei Siegfrieds Ankunft und deren Ablehnung zeigt, daß sein Verständnis von Herrschaft und sozialer Stellung als Resultat von persönlichem Kampferfolg mit den „komplexeren Herrschaftsstrukturen des Wormser Hofs“65 nicht vereinbar ist. Der König muß als berechtigter Herrschaftsträger seine Position nicht im persönlichen Zweikampf beweisen.66 Für Siegfried dagegen – und ebenso für Brünhild – besteht legitime Herrschaft darin, sie erfolgreich im Kampf verteidigen zu können.67 In der Forschungsliteratur ist diese dritte Aventiure mit Siegfrieds Herausforderung und der Reaktion der Burgunden ein vieldiskutiertes Problem.68 Während die ältere Forschung darin vor allem einen Rest der heroischen Tradition sah, der unhöfisch und daher deplaziert wirke,69 oder aber Erklärungen in 63 64 65 66 67 68 69

Alle Zitate nach folgender Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mhd. Text u. Übertragung. Hrsg., übers. mit einem Anhang versehen v. Helmut Brackert. Frankfurt a.M. 2001, 27. Aufl., 911. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 153. Müller, Jan-Dirk: Sivrit: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes. In: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 7, 1974, S. 85-124, S. 93. Müller, Jan-Dirk: Sivrit: künec – man – eigenholt. S. 97. Bekker, Hugo: The Nibelungenlied. A Literary Analysis. Toronto 1971, S. 72ff. Zur Diskussion der älteren Forschungsliteratur zur vielinterpretierten Ankunftsszene Siegfrieds in Burgund vgl.: Falk, Walter: Das Nibelungenlied in seiner Epoche. Revision eines romantischen Mythos. (Germanische Bibliothek, 3. Reihe) Heidelberg 1974, S. 40-45. Stellvertretend sei hier auf Karl Bertau verwiesen, der die Szene als älteren, unhöfischen Stoffrest wertet: Bertau, Karl: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter I. München 1972, S. 731; siehe weiterhin: Ehrismann, Otfried: Siefrids Ankunft in Worms. Zur Bedeutung der 3. Aventiure des Nibelungenliedes. In: Bellmann, Günter / Eifler, Günter / Kleiber, Wolfgang (Hrsg.): Festschrift für Karl Bischoff zum 70. Geburtstag. Köln, Wien 1975, S. 328-356, S. 343ff; Göhler, Peter: Das Nibelungenlied. Erzählweise, Figuren, Weltanschauung, literaturgeschichtliches Umfeld. Berlin 1989, S. 81; Haug, Walter: Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied.

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der Figurenpsychologie,70 in den zeitnahen politischen Umständen im Reich71 oder, auf der literarischen Ebene, im Vergleich mit dem Artusroman und seinem ritterlichen Leistungsanspruch72 suchte, ist man inzwischen dazu übergegangen, die Stelle sowohl textimmanent als auch mit Blick auf die Kontexte, etwa den von Herrschaftslegitimation im 12. Jahrhundert und „politische Ratio“73, als konsequent und plausibel im Gesamtbild des Textes zu interpretieren.74 Bezieht man diese Stelle auf die Nahbeziehungen, so ist festzustellen, daß hier eine Asymmetrie ins Bild gesetzt wird, für die sich im weiteren Verlauf kein Ausgleich findet und die ihre ‚Lösung’ erst in Siegfrieds Tod findet. Wie ist die Beziehung zwischen Gunther und Siegfried zu charakterisieren? Es muß sehr fraglich scheinen, ob der Held Siegfried mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten und Kräften, verstärkt durch Tarnmantel und Nibelungenschatz,75 überhaupt Freund der Burgunder auf Augenhöhe werden kann oder ob die ständig von ihm Deklassierten, vor allem Gunther, nicht Mißtrauen und Vorsicht walten lassen und schließlich den immer Überlegenen nur noch als Bedrohung wahrnehmen und entsprechend handeln. Siegfrieds gönnerhafte Hilfe, seine offen zur Schau getragene Überlegenheit und die Dankbarkeitsverpflichtung, durch die insbesondere Gunther durch Siegfrieds tatkräftige Unterstützung bei der Brautwerbung und bei der Hochzeit gebunden ist, können eigentlich nur zu Demütigung und zu dem aus dem Gefühl der Ohnmacht und Abhängigkeit erwachsenen Wunsch führen, sich des übermächtigen Freundes zu entledigen. Siegfrieds Integration am Burgundenhof scheitert an seiner Außergewöhnlichkeit, allein schon seine Anwesenheit wird als Bedrohung 70 71 72 73 74

75

So sieht Friedrich Panzer in Siegfried den schüchternen Jungen, der seine Unsicherheit in der fremden Umgebung durch vorlautes Verhalten kompensiere: Panzer, Friedrich: Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt. Stuttgart 1955, S. 309. Haymes, Edward R.: Das Nibelungenlied. Geschichte und Interpretation. München 1999, S. 70. Ebd. S. 71 Schiewer, Hans-Jochen: Das Nibelungenlied als Hofroman. Ein Konzept der Verschriftlichung. In: Literaturstraße 3, 2002, S. 57-77, S. 68. Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. S. 170-177; Voorwinden, Norbert: Ich bin ouch eine recke und solde krône tragen. Zur Legitimation der Herrschaft in der mittelalterlichen Heldendichtung. In: Ebenbauer, Alfred / Keller, Johannes (Hrsg.): 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und die Europäische Heldendichtung. (Philologica Germanica, 26) Wien 2006, S. 275-294; Ingeborg Cavalié sieht in Siegfrieds Herausforderung den Auslöser für Hagens Gegnerschaft, d.h. die Stelle muß als Motivierung für Hagens Handeln begriffen werden, und auf diese Weise lenkt der Autor bereits im ersten Teil des Nibelungenliedes die Aufmerksamkeit auf Hagen: Cavalié, Ingeborg: Die umstrittene Episode in der dritten Âventiure des „Nibelungenlied“: Sîfrits „Widersage“ an die Burgunden. In: ZfdPh 120 (3) 2001, S. 361-380, bes. S. 375 u. 380. Bzw. kann diese ‚Ausrüstung’ als Ausdruck, als Materialisierung seiner Außergewöhnlichkeit verstanden werden.

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erlebt,76 auch wenn er scheinbar durch die Heirat mit Kriemhild eingebunden wurde bzw. alles erreicht hat, was er wollte.77 Aber auch die Freundschaft eines solchen Überhelden ist auf die Dauer kaum zu ertragen, selbst wenn man seine Hilfe braucht: „Größe solcher Art ist weder integrierbar noch tolerierbar“78. Die Ritter der Artusromane sind trotz ihrer Freundschaften einsame Helden, aber sie können in die Hofgesellschaft integriert werden. Siegfried dagegen ist ein einsamer Held, für den das nicht möglich ist, seine Einsamkeit kostet ihn das Leben.79 Kann man mit jemandem wie Siegfried eine freundschaftliche Ebene erreichen, wenn Egalität von vornherein ausgeschlossen ist? Asymmetrie ist an sich kein Hinderungsgrund, den Freundschaftsdiskurs anzuwenden, im Gegenteil bietet das vielmehr eine Möglichkeit, das Beziehungsgefüge in seiner Hierarchie offener, unbestimmter zu lassen. Nach außen bleibt dann zwar der unterschiedliche Status, nach innen aber ist er aufgehoben und erlaubt eine Kommunikation auf Augenhöhe – den „Vorschein von Gleichheit“80 –, die dem Rangniederen eine eventuelle Demütigung erspart. Siegfried aber, und das ist das Problem, agiert genau entgegengesetzt. Ist er, was den gesellschaftlichen Status betrachtet, nicht höhergestellt als die Burgunderherrscher Gunther, Gernot und Giselher, so tritt er doch ihnen gegenüber, besonders in seiner Interaktion mit Gunther, stets als der Überlegene auf – aufgrund seiner Körperkräfte. Wenn hier die höfische ‚Zivilisierung’ des Helden ins Feld geführt wird, die ihn beispielsweise dazu veranlaßt, Gunther an der Quelle den Vortritt zu lassen,81 so scheint 76

77 78 79 80

81

Armstrong, Marianne Wahl: Rolle und Charakter. Studien zur Menschendarstellung im Nibelungenlied. (GAG, Nr. 221) Göppingen 1979, S. 202; Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. (Klassiker Lektüren, Bd. 5) Berlin 2005, 2. überarb. u. erg. Aufl., S. 85; Miklautsch, Lydia: Müde Männer – Mythen: Muster heroischer Männlichkeit in der Heldendichtung. In: Ebenbauer, Alfred / Keller, Johannes (Hrsg.): 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. S. 241-260, S. 254f. Siehe auch Jackson, W. T. H.: The Hero and the King. An Epic Theme. New York 1982, S. 37-54. Armstrong, Marianne Wahl: Rolle und Charakter. S. 230. Zur Frage des Helden im Epos und im Roman siehe u.a. Fuchs, Stephan: Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. S. 42ff.; Jauss, Hans-Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. S. 244ff. Czerwinski, Peter: Das Nibelungenlied. Widersprüche höfische Gewaltreglementierung. In: Frey, Winfried / Raitz, Walter / Seitz, Dieter (Hrsg.): Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16 Jahrhunderts. Bd. 1: Adel und Hof – 12./13. Jahrhundert. (Grundkurs Literaturgeschichte) Opladen 1979, S. 49-87, S. 58. Schulze, Ursula: Siegfried – ein Heldenleben? Zur Figurenkonstitution im ‚Nibelungenlied’. In: Meyer, Matthias / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.): Literarische Leben. S. 669-689, S. 678. Zur Widersprüchlichkeit Siegfrieds und zur Mischung höfischer und heldenepischer Momente siehe auch Nagel, Bert: Das Nibelungenlied. Stoff – Form – Ethos. Frankfurt a.M. 1970, 2. Aufl., S. 151f. Nagel verweist darauf, daß die Figuren des Nibelungenlieds nicht auf „exemplarische Eindeutigkeit“ hin angelegt seien. (S. 271).

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das wenig plausibel, läßt Siegfried doch Gunter nur den Vortritt, nachdem er zuvor beim Wettlauf einmal mehr seine unendliche physische Überlegenheit demonstriert hatte.82 Doch nicht nur aufgrund seines anthropologischen Status’ ist eine Freundschaft zwischen Gunther und Siegfried, die über eine formale Bindung hinausgeht, fraglich. Siegfried wiederholt mehrfach, daß er nicht wegen Gunther bereit ist, bei der Werbung Brünhilds zu helfen, sondern nur wegen seiner Liebe zu Kriemhild und der Aussicht, sie zu heiraten. So erklärt er sich nur mit dem Hinweis auf Kriemhild für den Botendienst nach der Rückkehr aus Island bereit.83 Fraglich ist ebenso, ob Siegfrieds Stellvertreter-Kampf mit Brünhild, der Gunter den Ehevollzug ermöglicht, als „Freundesdienst“84 zu bewerten ist.85 Zwar betrügt er Gunter nicht, aber er markiert durch Mitnahme von Ring und Gürtel seine Beteiligung, so daß dieser Umstand seiner Frau und damit in der Konsequenz der Öffentlichkeit nicht verborgen bleibt. Nach dem Streit der Königinnen bleibt der Skandal, wenn auch nicht öffentlich, so doch für die direkt Beteiligten bestehen, der Hof wird nun zum Schauplatz von Intrigen, denen Siegfried zum Opfer fällt,86 denn er vertraut auf die triuwe der vriunde.87 Dabei wird ihm nicht nur die Schmach Brünhilds zum Verhängnis, sondern auch, daß Hagen Gunther eine größere Machtfülle im Falle von Siegfrieds Tod in Aussicht stellt und ihn damit vom Mord am Verbündeten überzeugen kann.88 Die interessanteste Figur im Nibelungenlied im Zusammenhang mit Freundschaft und Treuebindung ist zweifellos Hagen. Er begegnet wie82

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Für einen Forschungsüberblick zur Siegfriedfigur vgl. Hoffmann, Werner: Das Siegfriedbild in der Forschung. (Erträge der Forschung, Bd. 127) Darmstadt 1979 sowie Ders.: Siegfried 1993. Bemerkungen und Überlegungen aus den Jahren 1978-1992. In: Mediävistik 6, 1993, S. 121-151. Nibelungenlied, 388. Jan-Dirk Müller verweist darauf, daß Siegfried sich zwar deutlich von den anderen Männern und Vasallen Gunthers absetzt, aber sein Minnedienst auch mehr und mehr Dienst für den Hof bedeutet und ihn schrittweise in die Herrschaftsstruktur eingliedert – bis hin zur Standeslüge in der Werbung um Brünhild. Siehe Müller, Jan-Dirk: Sivrit: künec – man – eigenholt. S. 99-104. Rollnik, Tatjana Judith: Personenkonstellationen in mittelhochdeutschen Heldenepen. Untersuchungen zum „Nibelungenlied“, zur „Kudrun“ und zu den historischen DietrichEpen. (Europäische Hochschulschriften; Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1764) Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 26. Zur Brautwerbung siehe Strohschneider, Peter: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‚Nibelungenlied’. In: Harms, Wolfgang / Müller, Jan-Dirk (in Verb. m. Susanne Köbele u. Bruno Quast) (Hrsg.): Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 43-75. Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. S. 84. Schulze, Ursula: Siegfried – ein Heldenleben? S. 680. Falk, Walter: Das Nibelungenlied in seiner Epoche. S. 183ff.

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derholt in der Funktion des einflußreichen Ratgebers, er ist eine zwischen Verräter, falschem Freund, treuem Gefolgsmann und den Waffenbruder Rächenden oszillierende Figur. Hagen ist eine widersprüchliche Figur, auch wenn die Forschung sich immer wieder um Harmonisierung der Gegensätze bemüht hat,89 um in ihm mal den „Typ des verantwortungsvollen Staatsmannes“90, mal den Einzelgänger, der vor allem im eigenen Interesse handelt,91 zu sehen. Gegenüber Siegfried ist er der falsche Freund, als Gefolgsmann der Burgunden ist er loyal bis in den Tod – „als Vertreter einer Position im Herrschaftsgefüge handelt er völlig konsequent“92. Hagen hat die Funktion des Beraters und ersten Vasallen am Burgundenhof, und als Freund und Berater ist er auch deshalb dort so wichtig, weil Gunther93 und seine Brüder oft unentschlossen und wenig tatkräftig auftreten.94 Rivalität und Gegnerschaft Hagens gegenüber Siegfried resultieren aus seiner Erkenntnis, daß dieser trotz des Freundschaftsbündnisses mit den Burgunden eine bleibende Gefahr darstellt. Siegfrieds Herausforderung bei seiner Ankunft in Worms95 und sein unmittelbar darauf folgendes „Einschwenken in die Rolle eines vriundes“96 haben ihn wenig vertrauenswürdig erscheinen lassen. Mit der Brautwerbung Brünhilds übernimmt Siegfried Hagens Aufgabenbereich und verdrängt ihn damit von seiner Position. Hagens Verrat ist sowohl die Folge von Haß und Feindschaft, die er als freundschaftliches Verhalten gegenüber Siegfried und Kriemhild tarnt, in bezug auf den übermächtigen Gefährten als auch seiner Treuebindung an die Burgunderkönige.97 89

90 91 92 93

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Siehe dazu: Heinzle, Joachim: Zweimal Hagen oder: Rezeption als Sinnunterstellung. In: Ders. / Waldschmidt, Anneliese (Hrsg.): Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1991, S. 21-40, S. 30. Bostock, J. K.: Der Sinn des Nibelungenlieds. In: Rupp, Heinz (Hrsg.): Nibelungenlied und Kudrun. (WdF, 54) Darmstadt 1976, S. 84-109, S. 97. Hoffmann, Werner: Das Nibelungenlied. (Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur) Frankfurt a.M. 1987, S. 74. Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. S. 94. Zu Gunters Passivität und Versagen als König vgl. Wisniewski, Roswitha: Das Versagen des Königs. Zur Interpretation des Nibelungenliedes. In: Schmidtke, Dietrich / Schüppert, Helga (Hrsg.): Festschrift für Ingeborg Schröder zum 65. Geburtstag. (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur; Sonderhefte, Bd. 95) Tübingen 1973, S. 170-186. Armstrong, Marianne Wahl: Rolle und Charakter. S. 166. „Indem Siegfried bei seiner Ankunft in Worms die Burgunden zum Kampf herausfordert, handelt er genau wie die jungen Ritter der Artusromane, die kampfheischend vor der Tafelrunde des Königs erscheinen.“ Armstrong, Marianne Wahl: Rolle und Charakter. S. 199. Schulze, Ursula: Siegfried – ein Heldenleben? S. 678. Auch wenn Hagen zunächst nicht als Gegner Siegfrieds in Erscheinung tritt, so wird er es spätestens nach dem Königinnenstreit, wenn nicht schon früher, und sein Rat etwa, Siegfried gegen die Sachsen kämpfen zu lassen, erklärt sich aus rein strategischen Überlegungen. Siehe: Bekker, Hugo: The Nibelungenlied. S. 118ff.

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Das Problem der Nahbeziehungen im Nibelungenlied resultiert nicht zuletzt aus dem Umstand, daß die Figuren nicht mehr in ihren Rollen aufgehen.98 Sie treffen nicht nur rollenkongruente Entscheidungen, sondern nutzen individuelle Freiräume, was nicht ohne Auswirkungen auf ihre Beziehungen zu anderen bleibt. So kann Siegfried sich als Freund und Verbündeter am Hof gerieren und zugleich immer wieder betonen, daß er das nicht aus einer Treueverpflichtung heraus tut, sondern weil er sich wegen Kriemhild dazu entschlossen hat. Zudem kommt im Nibelungenlied ein weiterer Diskurs, nämlich der der idealisierten Treue von Gefolgschaftsbindungen ins Spiel, der nicht in vergleichbarer Weise in den Artusromanen auftritt und der die Konflikte, die aus konkurrierenden Loyalitätsverpflichtungen erwachsen können, vor Augen führt – in der Person Rüdigers kommt das par excellence zum Ausdruck. Er muß sich zwischen seiner Lehnsbindung gegenüber Etzel und seiner freundschaftlichen Verbundenheit gegenüber den Burgunden entscheiden. Die Übergabe seines Schilds an Hagen bedeutet, daß „dieser Akt nicht Zeichen der Freundschaft, sondern [...] die Freundschaft selbst“99 ist. Man kann in diesem Diskurs den konservativen Anspruch an Bindungen in Zeiten wechselnder Allianzen sehen, man kann ihn aber genauso auch als Problematisierung von Loyalität begreifen. Resümierend bleibt zu den Freundschaftsbindungen im Nibelungenlied festzuhalten, daß drei Ebenen oder vielleicht besser drei Komplexe unterschieden werden können: die generelle übergeordnete Thematik von personalen wie formalen Treue- und Gefolgschaftsbeziehungen und ihren Konflikten, exemplarisch verkörpert von Rüdiger, sowie die Beziehungsstruktur ganzer Gefolgschaftsgruppen; das anthropologische Problem der (Un)Möglichkeit einer Freundschaft mit dem Helden Siegfried, und schließlich die sich von anderen Bindungen abhebende Waffenbrüderschaft zwischen Hagen und Volker. Anschlußfähig an die männlichsymmetrischen Nahbeziehungen der höfischen Romane ist vor allem diese letztgenannte Bindung. 98

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Haug, Walter: Montage und Individualität im Nibelungenlied: In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. S. 326-338, S. 333: „anders als die arthurischen Figuren sind die Personen im Nibelungenlied nicht mehr schlicht mit ihren Rollen identisch; sie spielen vielmehr ihre Rollen bis zu einem gewissen Grade, ja die Rollen stehen in einem bestimmten Rahmen zur Verfügung, und sie sind strategisch vertauschbar. Sigfrid spielt den Vasallen, Gunther spielt den großen König, den starken Werber und Ehemann; Kriemhild spielt die Hunnenkönigin. Und es ist dieser Spielraum zwischen Person und Rolle, in dem sich das Neue etabliert, der Innenraum, von dem her irrationale Beweggründe nach unfaßbaren psychischen Mustern zunächst punktuell, dann radikal die Führung übernehmen“. Wapnewski, Peter: Hagen. In: Storch, Wolfgang: Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang. Katalog zur Ausstellung vom 5.12.1987-14.02.1988. München 1987, S.1415, S. 15.

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1.1.3 Der Verlust des Gefährten: Eneasroman und Chanson de Roland In König Euander findet Eneas einen Verbündeten, frei nach dem Motto, die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde, denn Euander hat noch eine Rechnung mit Turnus offen. Zudem haben wir damit wieder einen Fall von vererbter Freundschaft vor uns: Bereits Euander und Anchises waren einander freundschaftlich verbunden. Pallas, Euanders Sohn, wird zum Ritter geschlagen und von seinem Vater Eneas als Gefährte für den Kriegszug gegen Turnus mitgegeben, zusammen mit weiteren Männern als Verstärkung von Eneas’ Heer. Eine Freundschaftsgabe besiegelt den Bund: Eneas schenkt Pallas einen Ring, den Turnus ihm vom Finger zieht, nachdem er ihn erschlagen hat. Diese Leichenschändung wird ihm im Kampf mit Eneas zum Verhängnis, denn beim Anblick des Rings zögert Eneas nicht länger den Feind zu töten. Der Ring ist Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit – „daz gab ime Ênêas / dorch trouwe und dorch fruntschaft, / dorch minne und dorch gesellschaft“100 – und damit eine Version des „höfischen Kleidergeschenks“101 als Gabentausch unter Freunden, und er ist eine Variante der „Institutionalisierungsriten“102 für eine Nahbeziehung. Die Beziehung zwischen Eneas und Pallas steht hier in der Rubrik der männlich-symmetrischen Bindungen, sie könnte aber auch als asymmetrische Beziehung eingeordnet werden, da in Eneas wohl doch der Ältere und Erfahrenere zu sehen ist, während im Text immer wieder die Rede vom jungen Pallas oder von Eneas und dem jungen Pallas ist. Aber auch ohne diese Textsignale ist von einer Differenz hinsichtlich Alter und Erfahrung auszugehen: Eneas hat bereits in Troja gekämpft, ist von dort geflohen und nach der Dido-Episode schließlich in Italien gelandet, während Pallas erst für den Krieg gegen Turnus zum Ritter geschlagen wurde.103 Auch in Eneas’ Totenklage wird dieses Verhältnis sichtbar: Eneas 100 Im folgenden zitiert nach: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mhd. / Nhd. Nach d. Text v. Ludwig Ettmüller übers., mit einem Stellenkommentar u. Nachw. v. Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, 207, 14-16 (7604-06). 101 Krass, Andreas: Geschriebene Kleider. S. 320. 102 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. (Soziale Welt, Sonderband 2) Göttingen 1983, S. 183-198, S. 192. 103 Bei Vergil übergibt Euander Aeneas seinen Sohn, damit er unter dessen Führung das Kriegshandwerk lerne. Der Text wird nach folgender Ausgabe zitiert: Vergil: Aeneis. Lateinisch / Deutsch. In Zusammenarbeit m. Maria Götte hrsg. u. übers. v. Johannes Götte; mit einem Nachw. v. Bernhard Kytzler. München, Zürich 1994, 8. Aufl., 9. Buch, 515-17.

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macht sich Vorwürfe, daß er besser auf Pallas hätte aufpassen müssen, schließlich war er noch so jung, keine siebzehn Jahre.104 Der Tod des jüngeren Gefährten ist – wie in den Trojaromanen – ein Anlaß der Inszenierung großer Emotionalität und Intensität:105 Eneas wirft sich weinend auf den Leichnam und gibt sich so sehr seinem Schmerz hin, daß seine Gefolgsleute ihn mit Gewalt von der Totenbahre fortziehen und ihm Unmännlichkeit vorwerfen „unze in sîne wîse man / mit gwalde dar von brâchen / und im zû sprâchen / ein teil zorenlîche, / daz der hêre rîche / sîn dink sô kintlîch ane vienk / und solhen jâmer begienk.“106 Ähnlich wie in den mittelalterlichen Trojaromanen, für die Krass die Totenklage als zentrales Moment der Freundschaft und als Augenblick der resümierenden Retrospektive einordnet, liegen die Verhältnisse im Eneasroman. Eneas lobt in seiner Klage all die Vorzüge und Fähigkeiten des Toten und stattet ihn mit allen Attributen aus, die den vorbildlichen Helden auszeichnen: schônez bilde, reiner degen! / waz ich in korzen stunden / tugende an dir hân vunden, / manheit unde sinne, / trouwe unde minne, / kûnheit unde mannes rât / und willich herze zû der tât, / gûte liste unde grôze kraft! / dû wâre stâte und ernisthaft, / milde und reinmûte. / dû hetest side gûte / und aller tugende genûch, / mêr dan der dich dâ slûch / [...] jâ wart von mûter nie geboren / dehein kint von dîner jugende, / daz mêr hete tugende, / frîgez herze, helt balt.107

Dreimal hebt die Klage die Tugend des toten Pallas hervor, und so wird auf einen Freundschaftsdiskurs rekurriert, dessen Grundlage die virtus eines Mannes ist: Der Bessere ist im Kampf gegen Turnus gefallen. Wie in den Trojaromanen kommt die Freundschaft zwischen Eneas und Pallas erst in der Retrospektive, nämlich in der Klage um den toten Freund wirklich zur Geltung, indem über den Gefallenen gesprochen wird – auf diese Weise ist die Beziehung im Nachhinein thematisiert. Besonders hervorstechend ist das Moment der Verantwortung: Eneas fühlt sich mitschuldig am Tod von Pallas, er hätte im Kampf besser auf ihn achthaben müssen. Sein Vater hat ihn in seine Obhut übergeben, und nun muß er ihn tot zurückschicken. Folgerichtig rächt Eneas den Erschlagenen. Dieses Moment der Verantwortung ist auch zentral in der Totenklage der Aeneis, die Schuld gegenüber Euander und der frühe Tod des Pallas, der als ungerecht und tragisches Schicksal empfunden wird, werden

104 Eneasroman. 219, 2-3 (8076-77). 105 Vgl. zu den Klagen um Pallas: Schubert, Martin J.: Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik. Rolandslied, Eneasroman, Tristan. (Kölner Germanistische Studien, Bd. 31) Köln, Wien 1991, S. 148f. 106 Eneasroman. 219, 8-14 (8082-88). 107 Ebd. 218, 20-219, 1 (8054-75).

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von Aeneas beklagt. 108 Allerdings geht es in Vergils Werk weniger um die freundschaftliche Bindung zwischen Aeneas und Pallas als vielmehr um den strahlenden Jüngling selbst. Zudem ist Aeneas nicht in ähnlicher Weise emotional inszeniert, er bricht nicht ohnmächtig über der Totenbahre zusammen.109 Im Roman d’Eneas ist in der Totenklage der Akzent etwas anders gesetzt. Zwar bricht Eneas auch dort vor Schmerz ohnmächtig über dem Toten zusammen,110 aber sein Verhalten wird im Text nicht als unmännlich bewertet, es scheint den angemessenen Rahmen nicht zu überschreiten. Die Klage selbst ist aber bereits hier gegenüber der antiken Vorlage deutlich ausgebaut. Nisus/Euryalus, Eneas/Pallas sowie Achill/Patroklos – sie sind alle Freundespaare der Antikenromane, deren Geschichte einen tödlichen Verlauf nimmt und die über die Merkmale tragisches Ende, Totenklage und starke Affekte111 codiert sind, dennoch müssen sie für eine Typologie höfischer Freundschaft differenziert werden. Die Unterschiede wurden schon in der kurzen Gegenüberstellung Eneas-Pallas und Nisus-Euryalus deutlich: Die Beziehung der letzteren ist ganz auf Egalität und Einheit ausgerichtet, da Nisus und Euryalus in einer klar symmetrischen Beziehung präsentiert werden, die Identität und Egalität der Partner betont, nicht zuletzt im gemeinsamen Tod. Weiterhin ist die Beziehung gegenüber Vergils Aeneis ausgebaut; dort scheint zudem Euryalus der Jüngere zu sein: „Nisus erat portae custos, acerriums armis, / [...] et iuxta comes Euryalus, / [...] ora puer prima signans intonsa iuventa. / his amor unus erat, pariterque in bella ruebant“112. Eneas und Pallas dagegen erfüllen eher das Schema Held und jüngerer Gefährte, das im frühen tragischen Tod des Jüngeren auch die Ungleichheit beider vorführt. Pallas Tod verweist auch auf den Zusammenhang von Anwesenheit/Abwesenheit und Freundschaft. Fast immer gibt es gemeinsame und getrennte Wege in den männlichen Freundschaften der höfischen Epik; die Abwesenheit oder der Tod des einen gibt dem anderen Anlaß, über die Beziehung und den Freund zu räsonieren. Das kommt am deutlichsten in den Totenklagen zum Ausdruck, die als Medium des Nachrufs auf den Freund und der Trauer um ihn ein eigenes Erzählmuster dafür darstellen, 108 Aeneis. 11, 42-58. 109 Ähnlich verhält es sich auch im Roman de Thèbes: Polyneices trauert um den im Kampf erschlagenen Tydeus. 110 Le Roman d’Eneas. Übers. u. eingel. v. Monica Schöler-Beinhauer. (Klassische Texte des romanischen Mittelalters, Bd. 9) München 1972, 6209-6213. 111 Krass, Andreas: Achill und Patroclus. S. 68. 112 Aeneis. 9, 176-182: „Nisus hielt am Tor die Wacht, ein trefflicher Streiter, [...] neben ihm hielt Euryalus Wache, [...] ungeschoren noch trug er im Flaum der Jugend sein Antlitz. Innige Freundschaft verband sie; vereint stets rückten zum Kampf sie.“.

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aber auch Lancelot klagt über den Freund Gauvain, der ihm scheinbar nicht zu Hilfe kommt. Totenklage und Verlust des Freundes führt uns noch einmal zum einsamen Helden. Bereits im Iwein-Kapitel wurde die Frage gestellt, inwieweit der Held der höfischen Romane überhaupt Freunde, Gefährten und Helfer braucht.113 Einerseits sind die Hauptakteure dieser Texte auf sich gestellt, ihr Schicksal interessiert uns, und sie bewältigen scheinbar unlösbare Aufgaben aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten. Andererseits entrinnen sie besonders gefährlichen Situationen durch die Hilfe anderer – Iwein etwa wird von Lunete und dem Löwen unterstützt, Erec immer wieder von Enite, Gott kämpft auf Tristans Seite – und sie werden uns als Freunde vorgeführt. Eine Möglichkeit, wie das Verhältnis von Held und Freundschaft beurteilt werden kann, zeigen uns vielleicht eben die Konstellationen der Eneas- und Trojaromane. Im Tod des (jüngeren) Gefährten, der in der Totenklage als Idealbild des Kriegers und Freundes gezeichnet wird, und im Zurückbleiben des Protagonisten wird die Einsamkeit des Helden114 inszeniert. Jan-Dirk Müller spricht von der „latente[n] Asozialität des Heros“115, die in Freundschafen oder Waffenbrüderschaften überdeckt und ausgeglichen wird, und das trifft durchaus nicht nur auf die Heldenepik zu. Im Grunde werden Patroklos wie Pallas auf dem Weg ihrer Freunde Achill und Eneas geopfert – sie sterben in dem Kampf, der zum Triumph des anderen führen soll. Unzertrennliche Gefährten wie Nisus und Euryalus sterben gemeinsam. Aber die Haupthelden der höfischen Epik sind auch ohne die Freunde erfolgreich. Der Unterschied zu den Chansons de geste, beispielweise dem Rolandslied, aber auch zum Nibelungenlied liegt klar auf der Hand: Besteht dort die Tragik des Geschehens darin, daß der Held (bzw. das Freundespaar) selbst stirbt bzw. durch Hinterlist umgebracht wird und von Freunden, Gefolgsleuten oder der Ehefrau betrauert oder auch gerächt wird, so ist es in den Eneasund Trojaromanen umgekehrt – der Protagonist überlebt, der Freund stirbt an seiner Seite. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der männlichen Freundschaften, die auch, aber nicht allein entlang der Gattungsgrenzen Heldenepik und höfischer Roman verlaufen, sollen durch einen Abstecher zum Chanson de Roland– zweifellos ein Text höfischer Epik, der allerdings anderen Mustern und Traditionen verpflichtet ist als die Artusromane Chrétiens und Hartmanns – noch einmal verdeutlicht werden. In Roland 113 Siehe Kap. IIII. 1. Iwein: Case Study. 114 Stephan Fuchs beschreibt diese Situation für Willehalm. Fuchs, Stephan: Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. (Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Bd. 31) Heidelberg 1997, S. 339ff. 115 Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. S. 98.

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und Oliver begegnet uns das ideale Freundschaftspaar,116 das als Kriegergemeinschaft, als Bild der „ständisch bestimmten Kampfgemeinschaft“117 in Szene gesetzt ist. Es ist eine rein statische Beziehung, deren Anfang und früheren Verlauf wir nicht kennen – ähnlich wie bei Gawein und Iwein – und die damit einen Typus verkörpert, bei dem die Freunde immer schon zusammengehören und zusammen im Text auftreten. Nur das Ende der Freundschaft durch den Tod wird als Möglichkeit dessen geschildert, die enge Verbundenheit, die Intensität der gegenseitigen Emotion zu inszenieren. Diese Freundschaft ist eine heroisch-sentimale Bindung, die auf das gemeinsame Sterben im Kampf und für die ‚richtige’ Seite hinausläuft. In der Charakterisierung der beiden wird die Verbindung von freundschaftlicher Verbundenheit und Kampfgenossenschaft explizit: „Rollant est proze Oliver est sage; / Ambedui unt me[r]veillus vasselage. / Puis que il sunt as chevals e as armes, / Ja pur murir n’eschiverunt bataille.“118 Roland und Oliver stehen im Grunde für zwei Erscheinungsformen der gleichen Person – die sapienta-et-fortitudo-Formel verweist darauf:119 Roland ist der tapfere, geradezu leichtsinnige Gefährte, Oliver ist klug und umsichtig,120 er ist es, der Roland mahnt das Horn zu blasen, um Karl zu Hilfe zu rufen. Der tödliche verwundete Oliver ruft nach Roland, beide begegnen sich noch einmal, dem Tod schon nahe, doch das Kampfgeschehen trennt sie wieder. Der Tod des Freundes ist der zentrale Reflexionsmoment der Beziehung. Roland klagt um den toten Freund und resümiert ihre Freundschaft: Or veit Rollant que mort est sun ami, / Gesir adenz, a la tere sun vis, / Mult dulcement a regreter le prist: / ‚Sire cumpaign, tant mar fustes hardiz! / Ensemble avum estet e anz e dis; / Nem fesis mal ne jo nel te forsis. / Quant tu es mor[t], dulur est que jo vif!’/ A icest mot se pasmet li marchis / Sur sun ceval que cleimet Veillantif.121 116 Vgl. dazu auch Kay, Sarah: Chansons de geste in the Age of Romance. Political Fictions. Oxford 1995, S. 147ff. 117 Ertzdorff, Xenia von: Höfische Freundschaft. S. 37. 118 Alle Zitate nach: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übers. u. komment. v. Wolf Steinsieck. Stuttgart 1999, 1093-96: „Roland ist tapfer und Olivier ist klug. Beide sind sie von vollendeter Ritterlichkeit. Sobald sie zu Pferd und in Waffen sind, werden sie keiner Schlacht ausweichen, und sollten sie dabei sterben.“. 119 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Bern, München 1967, 5. Aufl., S. 184: „Fortitudo und sapientia erscheinen manchmal auf zwei Personen verteilt [...]. Das Ideal bleibt aber ihre Verschmelzung in einer Person, so im Waltharius”. 120 Zur sapientia-et-fortitudo-Formel in der Heldenepik als Ergebnis des Einflusses christlicher Ethik siehe See, Klaus von: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung. Frankfurt a.M. 1971, S. 165. 121 Das altfranzösische Rolandslied. 2024-2032: „Nun sieht Roland, daß sein Freund tot ist. Er liegt bäuchlings auf der Erde mit dem Gesicht nach unten. Mit leiser Stimme beginnt er, ihn zu beklagen: ‚Herr und Gefährte, zu Eurem Unglück wart ihr so kühn. Viele Jahre und

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Die Trauer um den toten Freund bringt nochmals die Einheit der Freunde zum Ausdruck. Ihre gegenseitige Verbundenheit, die sich darin zeigt, daß der eine nicht ohne den anderen sein will, wird ebenso betont wie die Dauerhaftigkeit der Bindung und die Haltung, dem anderen stets nur Gutes zu wünschen und nicht zu schaden. Die Betroffenheit bei Roland angesichts des toten Freundes, die sich auch physisch äußert, ähnlich wie bei Eneas, führt zu Rachegedanken gegenüber den Feinden und Selbstaufgabe.122 Nach dem Tod Olivers hört Roland den Hilferuf Gautiers und stürzt sich erneut in den Kampf, zusammen mit den beiden letzten Überlebenden Gautier und dem Erzbischof. Die Szenerie könnte kaum pathetischer und heroischer anmuten: drei Helden gegen Tausende von Sarazenen. Roland kehrt zu Olivers Leiche zurück und bringt ihn zu den anderen Toten, damit Turpin diese segnet. Dann überwältigt ihn die Trauer erneut, und er wird ohnmächtig. Nachdem mit Turpin schließlich der letzte Gefährte gestorben ist, stirbt auch Roland. Inmitten des Schlachtgeschehens wird der Fokus des Betrachters ganz auf die Emotionen des Protagonisten gelenkt, auf Roland, der nach und nach alle seine Freunde auf dem Schlachtfeld verliert. Diese Freundschaftsdemonstration dient vor allem der Überhöhung der Rolandsfigur, was bedeutet, daß das Motiv des Freundespaares, das zusammen in den Kampf zieht, für die Inszenierung des tragischen Helden funktionalisiert wird. 1.1.4 Kampfgefährten und Waffenbrüder Beliebt sind im Mittelalter wie schon in der Antike Verweise auf berühmte Freundespaare wie Orest und Pylades, Theseus und Peirithoos oder Nisus und Euryalus. Ein prägnantes Beispiel von Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter in diesem Punkt liefert der frühhöfische Eneasroman Heinrichs von Veldeke. Heinrich stellt uns bei der Schilderung der Kämpfe, die Tage waren wir zusammen. Du hast mir nichts Böses zugefügt, und ich habe dir kein Unrecht angetan. Nun, da du tot bist, ist es mir schmerzlich zu leben.’ Bei diesen Worten wird der Markgraf ohnmächtig Auf seinem Pferd, das er Veillantif nennt.“. 122 Einen etwas anderen Akzent in der Totenklage setzt das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Zwar bekennt auch hier Roland, daß seine Kräfte angesichts des toten Freundes nachlassen, aber seine Totenklage kreist vor allem um Olivers Ansehen: „disiu werlt muoz zergân, / daz siu dir nicht gelîches gewinnet. / alsô der kaiser dich nu vindet, / sô claget er dich grimme, / sô wainet Karlinge ir liebe gebornen.“. Roland beklagt nicht so sehr seinen persönlichen Verlust als den großen Krieger, den die Franken verloren haben. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mhd./ Nhd. Hrsg., übers. u. komment. v. Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993.

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Eneas in Italien zu bestehen hat, ein typisches literarisches Freundespaar vor: die Trojaner Nisus und Euryalus, die als Kampfgefährten unzertrennlich sind. Entsprechend dem antiken Vorbild des Textes, der Aeneis, werden die beiden Freunde mit Zuschreibungen charakterisiert, die an die klassische Freundschaftsrhetorik erinnert, die die Freunde Seite an Seite kämpfen läßt: „wir sîn ein lîb und ein geist / mit willen und mit werken.“123 heißt es oder: „wir sîn ein fleisch und ein blût“124. Ähnlich sind die beiden auch im Roman d’Eneas beschrieben.125 Die mittelalterlichen Versionen bauen die Beschreibung der Freundschaft aus: In der Aeneis ist sie zwar erwähnt, und im gemeinsamen Tod bzw. Nisus’ Rache und Opferung nach dem Tod des Freundes drückt sich die Zusammengehörigkeit des Paares aus,126 aber es wird nicht in vergleichbarer Weise der antike/christliche Freundschaftsdiskurs der einen Seele in zwei Körpern bemüht. Sowohl im französischen als auch im deutschen Eneasroman wird viel mehr Raum auf die Charakterisierung des Verhältnisses der Freunde zueinander verwandt. In den zitierten Passagen klingt deutlich das antike Ideal an, das Freundschaft als eine Seele in zwei Körpern beschreibt. Mit den Worten „nû uns got hât ein lîb gegeben, / wir soln beide ensament leben / und ouch ensament sterben.“127 lassen die beiden sich auf ein waghalsiges Unternehmen ein, das sie nicht überleben. Euryalus wird erschlagen und ebenso Nisus, als er den toten Freund rächen will. Während in der Aeneis und im französischen Eneasroman der nächtliche Überfall des feindlichen Heeres durch Nisus und Euryalus nur die Möglichkeit eröffnen soll, sich einen Weg zu Eneas zu bahnen, um diesen zurückzuholen,128 wird in Heinrichs von Veldeke Text die Heldentat der beiden Freunde – möglichst viele Feinde im Schlaf zu erledigen – zum Selbstzweck, der beide das Leben kostet. Die Szene, ihrer ursprünglichen Funktion beraubt, wird dadurch im deutschen Eneasroman zu einer Demonstration von Tapferkeit und Freundschaft. Dargestellt wird hier eine symmetrische Beziehung, in der Kriterien wie Loyalität, Zuneigung, Vertrauen, Reziprozität vollkommen erfüllt sind. Dem höfischen Publikum wird hier ein Ideal vorgeführt, dessen Bezug zu antiken Freundschaftsvorstellungen unübersehbar ist. Die Einzelfiguren verschwinden nahezu vollständig hinter der Zweierbeziehung – ein entscheidender Unterschied zu anderen Typen männlich-symmetrischer Freundschaft, auch zu der zwischen Eneas und Pallas, dem zweiten Freundespaar des Enearomans. 123 124 125 126 127 128

Eneasroman. 181, 20-21 (6570-71). Ebd. 182, 10 (6600). Roman d’Eneas. 4909-4918; 4945-4949. Aeneis. 9, 425-449. Eneasroman. 182, 17-19 (6607-6609). Aeneis. 9, 234-245; Roman d’Eneas. 4989-5024.

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Im Nibelungenlied zeigt sich auch die andere Seite der Freundschaft: Die reziproke, loyale Beziehung präsentiert uns der Text in der Freundschaft zwischen Hagen und Volker,129 die sich gegenseitig unbedingte und uneingeschränkte Loyalität zusichern: ‚Nu saget mir friunt Volkêr, ob ir mir welt gestân, / ob mit mir wellent strîten die Kriemhilde man? / daz lâzet ir mich hoeren, als liep als ich iu sî. / ich wone iu immer mêre mit triuwen dienstlîchen bî.’ / ‚Ich hilfe iu sicherlîchen’, sprach der spilman. / ‚ob ich uns hie engegene sæhe den künec gân / mit allen sînen recken, / die wîle ich leben muoz, / so entwîche ich iu durch vorhte ûz helfe nimmer einen fuoz.’130

Die Waffenbrüderschaft der beiden kann als „der idealisierte Gegenentwurf zur Perversion verwandtschaftlicher und zur Katastrophe herrschaftlicher Bindungen“131 gesehen werden. Beide bindet nur das gegenseitige Treueversprechen, keine Verwandtschaft noch andere vorgegebene Verpflichtungen. „Am vollkommensten ist vriuntschaft, wo sie sich von allen andersartigen sozialen Bindungen gelöst hat.“ Beide halten gemeinsam Wache,132 und die Freundschaft bewährt sich im Kampf der Hunnen gegen die Burgunden:133 „Volkêr unde Hagene geschieden sie nie, / niwan in einem sturme an ir endes zît.“134 War Hagen bis dahin immer in einen größeren Personenkreis funktional eingebunden, als Vasall und wichtigster Ratgeber Teil der Herrschaftsstruktur der Burgunden, so steht nun ganz die dyadische Beziehung zu Volker im Vordergrund, Hagen wird im Kampf am Hof Etzels als Freund eines einzelnen Gegenübers inszeniert. 1.2 Walter Map: De nugis curialium An dieser Stelle soll mit Walter Maps De nugis curialium eine Option der Kontextualisierung aus der Perspektive der klerikalen Hofsatire für die männlich-symmetrischen Freundschaftspaare gezeigt werden. Der Text 129 Siehe dazu u.a.: Ehrismann, Otfrid: Strategie und Schicksal – Hagen. In: Wunderlich, Werner (Hrsg.): Literarische Symbolfiguren. Von Prometheus bis Švejk. Beiträge zu Tradition und Wandel. (Facetten deutscher Literatur: St. Galler Studien, Bd. 1) Bern, Stuttgart 1989, S. 89-115, S. 104ff; Wapnewski, Peter: Hagen: ein Gegenspieler? In: Cramer, Thomas / Dahlheim, Werner (Hrsg.): Gegenspieler. (Dichtung u. Sprache, Bd. 12) München, Wien 1993, S. 62-73, S. 67; Mahlendorf, Ursula R. / Tobin, Frank J.: Hagen: A Reappraisal. In: Monatshefte f. deutschen Unterricht 63 (2) 1971, S. 125-139, v.a. S. 134; Kaiser, Gert: Deutsche Heldenepik. In: Krauss, Henning (Hrsg.): Europäisches Hochmittelalter. (Neues Hb. der Literaturwissenschaft, Bd. 7) Wiesbaden 1981, S. 181-216. 130 Nibelungenlied. 1777-1778. 131 Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. S. 98. 132 Nibelungenlied. 1830ff. 133 Ebd.. 1975ff. 134 Ebd. 1805, 2-3.

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wird noch in Zusammenhang mit der Hofkritik als einem möglichen Kontextdiskurs für Freundschaft am Hof von Interesse sein, insbesondere für Gottfrieds Tristan, hier soll es aber zunächst um die umfangreichste abgeschlossene Erzählung innerhalb des Werkes gehen bzw. um zwei Erzählungen, die beide Freundschaftsgeschichten sind und einmal wahre, einmal falsche Freundschaft vorführen. Walter Map erzählt die Geschichte von Sadius und Galo, die Geschichte einer Freundschaft am Hof. Sadius ist der Neffe des Königs von Asia, Galo ein Fremder, der am Hof als Ritter dient: „Erat autem Sadius regis Asianorum nepos, in cuius ipsi pariter palacio militabant“135. Diese beiden werden als vorbildliches Freundespaar bei Hof eingeführt – in einem Text, der neben unterhaltsamen HofGeschichten vor allem Hofkritik und -satire zum Gegenstand hat: Sadius et Galo, moribus etate forma pares, et armorum eruditi sciencia priscique generis nobilitate preclari, paribus alterutrum se diligebant et honestis amoribus, unde satis inter aduersa probati, remotis erant et proximis exemplar et prouerbium. Gaudent enim ea felicitate fideles amicicie, quod inter bonos conseruate laudes eciam ab inimicis extorqueant.136

Eine vorbildliche, zuverlässige Freundschaft bringt offenbar Ehre und Ruhm – ein Umstand, der wohl auf vergangene Freundschaftsvorstellungen zutrifft, für moderne Freundschaftsauffassungen dagegen kaum mehr typisch ist. Man rühmt sich vielleicht mit seinen prominenten Freunden, aber findet man als Freundespaar besondere Anerkennung für anhaltende Treue in der Freundschaft? Oder steht da nicht gleich der Verdacht mangelnder Kritikfähigkeit und fehlender Distanz vor der Tür? Auch Iweins und Gaweins Freundschaft wurde als Pluspunkt für die Ehre der beiden bewertet. Unverbrüchliche Loyalität fördert ebenso wie Erfolge im Zweikampf gegen angesehene Gegner den eigenen Ehrzuwachs als symbolisches Kapital. Damit ist ein Freundschafts- und Ehrdiskurs impliziert, der nicht nur auf die Leistungen des Akteurs, sondern auch auf die Qualität seiner Bindungen zu Personen seines Umfeldes schaut. Sadius ist der Liebling des Königs, während Galo dagegen das Objekt der Begierde der Königin darstellt, deren Nachstellungen er sich mit Hilfe des Freundes zu entziehen sucht. Das Begehren der Königin schlägt jedoch in Haß und Rachsucht um, als sie sich abgewiesen sieht. Als Galo traurig und schweigsam an der Festtafel des Königs sitzt, zwingt sie ihn, 135 Walter Map: De nugis curialium. / Courtiers’ trifles. Hrsg. u. übers. v. M. R. James. (Oxford Medieval Texts) Oxford 1994 (Neudruck), S. 212: „Now Sadius was the nephew of the king of Asia (in whose palace both were knights of equal rank)“. 136 De nugis curialium. 210f.: „Sadius und Galo, compeers in character, age, and looks, skilled in the lore of arms and of ancient and distinguished lineage, loved each other with equal and pure affection, and well proved as they were in contests, were an example and proverb to all both near and far. For this is the happy reward of faithful friendships, that when they subsist among the good they wring praise even from enemies.”.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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sein Geheimnis zu offenbaren. Galo berichtet von einer verfehlten Aventiure, in deren Folge er nun, ein Jahr später, für eine Frau mit einem Riesen kämpfen muß. Sadius bietet an, für ihn in den Kampf zu ziehen. Die Königin gießt Spott und Hohn über Galo aus und läßt ähnliches für den bevorstehenden Kampf erwarten. In der Vorbereitung des Kampfes beschließen die Freunde, ihre Rüstungen zu vertauschen, und so gewinnt Galo den Kampf gegen den Riesen in Sadius’ Rüstung, während dieser in Galos Rüstung zusieht.137 Dieser Tausch der äußeren Identität wird erst durch eine Gesichtswunde, die Galo als den tatsächlichen Kämpfer bezeichnet, für die Öffentlichkeit sichtbar. Die Narbe wird so zum einzigen Distinktionsmerkmal138 der beiden in einer Freundschaftsgeschichte, deren zentrales Element Ähnlichkeit/Gleichheit ist. Die Erzählung enthält unübersehbar Elemente des höfischen Romans, vor allem wirken verschiedene Freundschaftsmotive zusammen.139 Im dritten Teil der Geschichte steht der Tausch der Rüstung für den Tausch der Identität, womit ein Motiv der mittelalterlichen Freundschaftsgeschichten aufgerufen ist, in denen ein Rollentausch zwischen zwei Freunden oder Brüdern stattfindet. Die bekannteste mittelalterliche Variante dieser Erzählung ist die von Amicus und Amelius.140 Walter Maps Geschichte präsentiert eine Freundschaft am Hof, die sich gegen alle Intrigen und Hindernisse bewährt und die Königin als Verliererin und überaus negative Figur entwirft. Man kann daher in der Erzählung auch einen Gegenentwurf zum Tristan- und Lancelotstoff und ihren amourösen Dreiecken von König, Königin und Liebhaber sehen. Doch diese „eulogy of loyalty and friendship“141 wird relativiert durch die Geschichte, die ihr in De nugis curialium folgt, nämlich die über die Freundschaft zwischen Parius und Lausus. Beide sind Ritter am Hof des König Ninus, eine ähnliche Konstellation wie bei Sadius und Galo also, aber der äußeren Gleichheit der beiden steht ihre innere Ungleichheit gegenüber: Während Lausus nur das Beste für den Freund will, beneidet dieser ihn um alle vermeintlichen Vorteile, etwa die Gunst des Königs, und verfällt schließlich darauf, den Freund umzubringen, um seinen Platz einzunehmen. „Inuidet ergo latenter Lauso Parius, iusto nequam, miti peruersus, et tractatibus obscenis insistit peruigil, quomodo, quando, qua possit arte

137 De nugis curialium. S. 236. 138 De nugis curialium. S. 244. 139 Für eine Analyse der Geschichte und ihrer Beziehung zur höfischen Dichtung vgl.: Bennett, R. E.: Walter Map’s Sadius and Galo. In: Speculum 16 (1) 1941, S. 34-56. 140 Bennett, R. E.: Walter Map’s Sadius and Galo. S. 54. 141 Bennett, R. E.: Walter Map’s Sadius and Galo. S. 56.

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nocere.”142 Parius verkörpert die Figur des falschen Freundes, des Verräters, der den Freund hinterlistig mit einem vergifteten Gewand tötet und sich dann untröstlich über dessen Tod zeigt. „Queruntur et flent omnes, sed omnes excedunt lacrimas lamenta proditoris“143. Als der König den Sohn des toten Lausus zu sich holt und ihn – in der Obhut von Parius – zu seinem neuen Günstling macht, setzt Parius wiederum alles daran, das Verhältnis zwischen König und Favorit zu zerstören und schließlich den Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, was ihm auch beinahe gelingt: „Parius igitur fere uotem assecutus fraudis nefarie locum eius frequens occupat, accedentem arcet et arguit, et quasi defectus eius implere cupiens, altero uocato subitus aduolat, castigacionibus consiliis et suis interposicionibus eum longe detinet“144. Schließlich aber fliegt die Intrige auf, Parius wird überraschend umgebracht – eine Deus-ex-machina-Lösung – , und der König reinstalliert seinen Favoriten. Beide Erzählungen variieren den gleichen Kern. Zwei Ritter am Hof bilden ein Freundschaftspaar, der eine der Neffe des Königs oder von ihm aus anderen Gründen bevorzugt – man denke an Gawein oder Tristan – , der andere formal ihm gleich und sein Gefährte, aber ohne die enge Beziehung zum Herrscher. Galo und Sadius sind loyal, ihre Freundschaft übersteht die Feindschaft der Königin, weil im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der jeweils andere steht und nicht eine mögliche Verbesserung der eigenen Position. Parius dagegen denkt nur an die eigene Person und will daher allein den Platz des Freundes einnehmen und setzt seine Intrige in Gang – Neid auf den Freund ist seine Motivation. Zwar scheint das Ende von Parius und Lausus zu signalisieren, Verrat am Freund zahlt sich nicht aus, oder nur kurzfristig, aber das Nacheinander der beiden Freundschaftserzählungen verdeutlicht auch die Relativität eines in hohem Maße idealisierten Beziehungskonzepts. Der loyalen Freundschaft folgt der Verrat auf dem Fuße, und gerade am Hof kann man sich seiner Freunde nicht sicher sein.

142 De nugis curialium. S. 228: „Thus Parius secretly envied Lausus; the vile envied the righteous, the froward the kind, and ever on the watch pursued him with foul trailings, seeking how, when and by what device he might do him hurt.”. 143 Ebd. S. 250: „All mourn and weep, but the lamentations of the traitor overpass the tears of all.“. 144 Ebd. S. 254: „Parius, who had now almost gained the end of his vile deceit, often took the boy’s place, sent him away and blamed him when he approached, and as if anxious to supply his shortcomings, would rush quickly to the king when he called for the other, kept him at a distance by rebukes, by advice, and by interposing himself”.

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1.3 Adlige Beziehungsstrukturen in historiographischen Befunden als möglicher Kontext: Waffenbrüder, strategische Partner, Gefolgsleute Eine andere Option, diese männlichen Freundschaften der höfischen Epik zu kontextualisieren, als sie mit dem lateinisch-geistlichen oder dem lateinisch-antik-paganen amicitia-Diskurs zu lesen – wie am Iwein vorgeführt – oder mit Texten der lateinischen Hofkritik, besteht darin, die historiographische Überlieferung zu Rate zu ziehen. Die Benennung oder Beschreibung von persönlichen Treuebindungen im Gefolge eines Herrn in Chroniken des 12. Jahrhunderts bieten möglicherweise eine wichtige Referenz zur Einordnung der männlichen Nahverhältnisse. Ebenso können Bündnisse junger Adliger, die gemeinsam Turniere besuchen, und damit verbunden die Institution der Waffenbrüderschaft zur Erweiterung des Verständnishorizonts herangezogen werden. Dabei geht es nicht darum, direkte Rückschlüsse in Hinblick auf eventuelle reale Nahbeziehungen aus den historiographischen Quellen zu ziehen, was ohnehin unmöglich ist, und diese auf die Texte der höfischen Epik zu übertragen. Vielmehr interessiert dabei, ob und in welcher Art und Weise das Thema dort behandelt, ob und wie Freundschaft oder eine vergleichbare Bindung konzeptualisiert wird und wie sich solche Befunde mit den höfischen Texten ins Verhältnis setzen lassen. In der chronikalen Überlieferung des 12. Jahrhunderts eignen sich dafür u.a. zwei Werke, die Chronik der Grafen von Hainaut (Hennegau) und die Geschichte der Grafen von Guines und der Herren von Ardres, die auch sonst als kulturhistorische Quellen von großem Interesse sind, da sie die Organisation von Herrschaft, Klientelbeziehungen, aber auch ausführliche und farbige Turnierschilderungen enthalten. 1.3.1 Chronicon Hanoniense und Historia comitum Ghisnensium Die Chronik von Hainaut – Chronicon Hanoniense – wurde von Giselbert von Mons (ca. 1140/50-1224) verfaßt, der zunächst Hofkaplan in Hainaut war und über weitere Ämter bis hin zum Kanzler des Grafen von Hainaut aufstieg. Die Chronik schrieb er nach dem Tod seines Gönners Graf Balduin V. (1195) in den Jahren 1195-96.145 Die Chronik ist vor allem eine interessante Quelle für Klientelbeziehungen und Herrschaftsorganisation. Dabei tritt wie auch in anderen, ähnlich gelagerten Texten ein grundsätzli145 Gilbert of Mons: Chronicle of Hainaut. Übers. u. komment. v. Laura Napran. Woodbridge 2005, S. xxviif.

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ches Dilemma zu tage, nämlich das Problem gleichzeitiger konkurrierender Verpflichtungen und Treuebindungen in Beziehungen mit verschiedenen Herren. Zugleich stehen die selben Akteure vor dem Problem, Herrschaft in ihrem eigenen Bereich zu organisieren, sich der Treue der eigenen Vasallen und mächtigerer Verbündeter zu versichern: Im Chronicon Hanoniense wird das in einem Verteidigungsfall der Grafschaft Hainaut deutlich, in dem der Graf auf seine guten Beziehungen zum Grafen von Flandern setzt: Audiens autem comes Hanoniensis comitum Campanie cum tot et tantis probissimis militibus in malum suum adventurum […] comitum Flandrensem adiit, quem apud Riholt prope Sanctum Audomarum invenit, cuius auxilium tamquam sui domini et amici et confederati humiliter requisivit, ut super hereditate sua et filiorum suorum et honore suo ei subveniret.146

Der Lehnsherr wird als Freund und Verbündeter um Hilfe gebeten, also um Schutz, der sich reziprok zum consilium et auxiulium des Vasallen verhält. Das ist eine Möglichkeit der chronikalen Texte, Freundschaft als Konzept von Gegenseitigkeit und Loyalität in Anspruch zu nehmen, ungeachtet vorhandener Asymmetrien. Eine weitere ist die Benennung von Beziehungen zwischen erstgeborenen adligen Söhnen und ihren Gefährten, wie sie uns in der Geschichte der Grafen von Guines und Herren von Ardres begegnet. Die Historia comitum Ghisnensium entstand wahrscheinlich fast im gleichen Zeitraum wie die Chronik von Hainaut, nach 1194. Ihr Verfasser, Lambert von Ardres (gestorben nach 1203), war vermutlich Kaplan in Ardres und vielleicht ein entfernter Verwandter der Familie. Der Text ist in 11 Handschriften überliefert, von denen die älteste aus dem 15., die anderen aus dem 16.-18. Jahrhundert stammen. Erzählt wird in der Chronik die Geschichte der Grafen von Guines und der Herren von Ardres sowie die gemeinsame Geschichte der beiden Familien nach der Verbindung zwischen Balduin II und Christina von Ardres 1176. Lambert benutzt für seine Darstellung gängige Muster der zeitgenössischen Familienchronik und übernimmt Stereotype, wie sie im Hochadel durch die höfische Kultur üblich geworden sind und nun auch ihren Niederschlag beim niederen Adel finden.147 Lambert schreibt eine vorbildliche Famili146 Gisleberti Chronicon Hanoniense. Hrsg. v. Wilhelm Arndt. MHG SS, Bd. 21, S. 562, 2935; Übersetzung: Chronicle of Hainaut. S. 123: “The count of Hainaut, hearing that the count of Champagne would come for his harm with so many and such great and virtuous knights, went [...] to the count of Flanders whom he found at Rihoult near Saint-Omer. He humbly requested his help as his lord, friend and ally, to come to his aid concerning his and his sons’ inheritance and his honor.”. 147 Plassmann, Alheydis: Ahnherren als Vorbilder. Gesellschaftliche Muster in der Geschichte der Herren von Ardres des Lambert von Ardres. In: Happ, Sabine / Nonn, Ulrich (Hrsg.):

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engeschichte, die in ihrer Konzeption und Benutzung von Topoi deutlich auf die Anlehnung an die entsprechenden Chroniken des Hochadels verweist.148 Besonders wichtig ist wiederum das flandrische Grafengeschlecht – wie die Grafen von Hainaut suchen auch die Grafen von Guines die Nähe zu Flandern. So wird beispielsweise die Freundschaft zwischen Balduin I. und den Grafen von Flandern in Kapitel 30 von Lambert hervorgehoben: „pia recordationis Ghisnensis Comes Balduinus, Flandrensis Comitis Karoli cognatus et fidelis amicus“149. Auch hier wird offensichtlich das Bündnis mit einem Mächtigeren gesucht, nicht zuletzt zum eigenen Schutz. Die Verbindung der beiden Familien drückt sich auch darin aus, daß Arnold II von Guines und V von Ardres, Sohn Baldwins II von Guines (ca. 1170-1220), als junger Mann am flandrischen Hof erzogen wird.150 Als Erstgeborener und Erbe der Herrschaft wird Arnold als Jüngling an den Hof von Philip, Graf von Flandern (1168-1191), zur Ausbildung geschickt. Als er schließlich den Wunsch äußert, zum Ritter geschlagen zu werden und dafür die Erlaubnis von Philip bekommt, an den Hof seines Vaters zurückzukehren, heißt es im Text: „ad patrem in patriam apud Ghisnas cum suo de Salperwico Eustacio convolavit“151. Das läßt darauf schließen, daß dieser Eustacius schon gemeinsam mit ihm in Flandern war und nun mit ihm zurückkehrt. In Guines wird Arnold zum Ritter geschlagen, zusammen mit anderen jungen Adligen, und geht danach auf Turnierfahrt mit dem Gefährten, der schon vorher als sein Begleiter ausgewiesen wurde: „Ab illo ergo die torniamenta frequentando, multas provincias et multas regiones fere per biennium non omnino sine patris auxilio et patrocinio circuivit, et comes ei individuus semper adhæsit Salperwicensis Eustacius.”152 Und weiter

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Vielfalt der Geschichte. Lernen, Lehren und Erforschen. Festgabe für Ingrid Heidrich zum 65. Geburtstag. Berlin 2004, S. 167-181. Ebd. S. 180. Im Folgenden zitiert nach: Lamberti Ardensis: Chronicon Ghisnense et Ardense. Hrsg., mit Anm. u. franz. Übers. v. Godefroy Menilglaise. Paris 1853, Kap. 30, S. 75; alle Überstetzungen nach folgender Ausgabe: Lambert of Ardres: The History of the Counts of Guines and the Lords of Ardres. Hrsg. u. übers. v. Leah Shopkow. (Middle Ages Series) Philadelphia 2001: „Count Baldwin of Guines of pious memory, the kinsman and loyal friend of Count Charles of Flanders“ (S. 76). Lamberti Ardensis: Chronicon Ghisnense et Ardense, Kap. 90, S. 197f; The History of the Counts of Guines and the Lords of Ardres. S. 123. Chronicon Ghisnense et Ardense. Kap. 90, S. 199; The History of the Counts of Guines and the Lords of Ardres: „he hastened with his man Eustace of Salperwick to his father in Guines.“ (S. 124). Chronicon Ghisnense et Ardense. Kap. 91, S. 203; The History of the Counts of Guines and the Lords of Ardres: „And so from that day, for almost the next two years, he travelled around many provinces and regions participating in tournaments – not entirely without his

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

heißt es über Arnolds Unternehmungen: “Eustacius quoque de Salperwico et Hugo de Malnis inseparabiles eius fuerunt socii et commilitones”153. Der junge Graf ist also in Begleitung seiner Freunde unterwegs, die als Waffenbrüder und Gefährten bezeichnet werden. Diese Freunde werden noch an einer weiteren Stelle erwähnt, nämlich als Arnold ihre Unterstützung braucht. Ida, Gräfin von Boulogne, wird von Reynold von Dammartin entführt und bittet Arnold um Hilfe, der daraufhin seine Gefährten zusammenruft: “associans sibi fidelissimos amicos et socios Eustacium de Salperwico et Hugonem de Malnis milites, Balduinum de Malnis et Engelramun de Brunesbergh armigeros, Thomam etiam Bach rerum et sumptuum provisorem, Drogolinum quoque et Willemotum Anglicum gartiones”154. Alle diese Darstellungen sagen zwar wenig über die Binnenstruktur dieser Beziehungen zwischen dem Grafen und seinen Begleiter oder Gefolgsleuten aus, aber allein, daß sie thematisiert werden, ist von Interesse. Eine Erklärung könnte in den auch in anderer Hinsicht zu verzeichnenden Anklängen bei Lambert an die höfische Literatur155 liegen. Ein Übergang zwischen Fiktion und Geschichte ist im 12./13. Jahrhundert in beide Richtungen zu konstatieren, wobei allerdings die klare Trennung „fiktionaler“ höfischer Texte und „historiographischer“ Schriften156 ein Problem darstellt. Generell finden Elemente höfischer Literatur Eingang in die Werke von Geschichtsschreibern, und auf der anderen Seite geben sich am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts literarische Texte den Anschein des Chronikalen, d.h. höfische Vorstellungen und Muster sind nicht an die literarischen Gattungen gebunden, sondern werden zum Merkmal nicht-literarischer Werke.157 So könnte es sich auch für den

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father’s help and support – and Eustace of Salperwick always clung to him as his companion.” (S. 124). Ebd. Kap. 92, S. 203; The History of the Counts of Guines and the Lords of Ardres: „Eustace of Salperwick and Hugh of Moulle were also Arnold’s inseparable companions and comrades in arms.” (S. 125). Ebd. Kap. 95, S. 211; The History of the Counts of Guines and the Lords of Ardres: „He gathered his most faithful friends and companions to him – the knights Eustace of Salperwick and Hugh of Moulle, the men-at-arms Baldwin of Moulle and Enguerrand of Brunembert, also Thomas Bach, the provisioner of goods and funds, and also the mercenaries Drogolin and Willemot the Englishman” (S. 127f.). Holmes, Urban T.: The Arthurian Tradition in Lambert d’Ardres. In: Speculum 25 (1) 1950, S. 100-103. Siehe dazu u.a.: Knapp, Fritz Peter: Historiographisches und fiktionales Erzählen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. In: Wolfzettel, Friedrich: (Hrsg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. S. 3-22; Wenzel, Horst: Höfische Geschichte. S. 70. Wenzel, Horst: Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters. (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte, Bd. 5) Bern, Frankfurt a.M., Las Vegas 1980, S. 7. Vgl. auch: Spiegel, Gabrielle M.: Romancing the Past. The Rise of Vernacular Prose Historiography in

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Freundschaftsdiskurs verhalten. Ob die historiographischen Quellen darüber hinaus etwas zum Thema beisteuern können, soll der nächste Text zeigen. 1.3.2 L’Histoire de Guillaume le Maréchal Als drittes historiographisches Zeugnis soll ein Text herangezogen werden, der in der Forschung auch als ‚Ritterbiographie’ bezeichnet wird, die Histoire de Guillaume le Maréchal, der erste biographische Text dieser Art in Französisch und zugleich ein wichtiges Zeitdokument. Dieser Text soll ausführlicher betrachtet werden, da er ein interessantes Bild männlichadliger Freundschaft oder besser Gefolgschaft entwirft. Das Werk schildert das Leben von Guillaume le Maréchal, Baron von Pembroke, der etwa zwischen 1145 und 1219 lebte. Daß diese seine „Biographie“ geschrieben und überliefert wurde, ist nicht unwesentlich, denn Guillaume spielte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und zu Beginn des 13. eine durchaus wesentliche Rolle in der angevinischen Politik. Zunächst hatte er eine wichtige Position als unverzichtbarer und treuer Gefolgsmann Heinrichs II. inne, dessen Sohn, der junge König, in seine Obhut gegeben wurde. Seine Lebensgeschichte ist Beispiel einer erstaunlichen Karriere: Vom kleinen mittellosen Adligen zum Draufgänger in jungen Jahren verschaffte er sich Ansehen durch seine Erfolge in Kriegszügen und im Turnier. Durch diese Leistungen und den damit einhergehenden Zuwachs an finanziellen Mitteln, etwa durch Lösegelder von Turniergeiseln, wurde sein gesellschaftlicher Aufstieg rasant befördert, und da er sich zudem als treuer Vasall des Königs Verdienste erwarb, konnte er schließlich eine reiche englische Erbtochter heiraten und wurde Berater der Krone sowie Regent Englands, solange Heinrich III. noch minderjährig war. Die Biographie ist vermutlich im Jahrzehnt nach Guillaumes Tod entstanden im Auftrag von Guillaumes Sohn. Über den Autor ist nichts weiter bekannt als der Name Johann – Jean, und es ist davon auszugehen, daß er Kleriker war, der sich für sein Werk auf schriftliche Quellen zum Leben des Marschalls und Augenzeugenberichte stützte. Als Quelle ist die Histoire nicht unproblematisch, schon allein, weil sie erkennbar panegyrische Züge hat,158 wenn Guillaume als bester Ritter aller Thirteenth-Century France. (The New Historicism: Studies in Cultural Poetics, 23) Berkeley, Los Angeles, Oxford 1993. 158 Siehe zu diesem Punkt und weiterhin zur Einordnung der Quelle: History of William Marshal. Hrsg. v. Anthony J. Holden, engl. Übers. v. S. Gregory, Kommentare u. Anm.. v. David Crouch. Bd. 3: Intruduction, Notes, Indices. (Anglo-Norman Text Society, Occasional Publications Series, Nr. 6) London 2006, S. 39, S. 3ff.

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Zeiten deklariert wird. Nicht zu übersehen ist außerdem der Einfluß höfischer Romane, der Text kann auch als „eine Ritterbiographie im volkssprachigen Gewand höfischer Dichtung“159 bezeichnet werden, die die Lebensgeschichte samt allen Geschehnissen und Personen mit Elementen der höfischen Literatur wie Turnierkämpfen, persönlicher Tapferkeit und Integrität erzählt.160 Der Leser hat es hier also mit ähnlichen Überschneidungen, vielleicht sogar noch in stärkerem Maße, von historiographischchronikalen und literarisch-fiktiven Erzählweisen zu tun wie in den Chroniken Lamberts und Giselberts. Die Art und Weise, wie Guillaumes Leben erzählt wird, ist „romanhaft, sein Leben ähnelt sehr dem eines abenteuerlustigen Ritters“161. Diese Fiktionalisierung der Lebensgeschichte in Anlehnung an den höfischen Roman bewirkt eine Überhöhung, die Guillaume le Maréchal, ausgestattet mit Zügen eines Artusritters, als exemplarisch für seine Zeit erscheinen läßt.162 Da allerdings für das Leben des Marschalls, ausgenommen die Jugendjahre, auch andere Zeugnisse existieren,163 können durch den Vergleich mit anderen Quellen Erfindungen und Vorurteile sichtbar gemacht werden, und trotz der Einschränkungen ist der Text ein einzigartiges Zeugnis für das Leben eines weltlichen Adligen und eine Quelle, die Auskunft über adliges Leben im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert gibt.164 Hinsichtlich der Textart gibt es wenig Vergleichbares, die Arbeitsweise des Autors ist einerseits davon geleitet, Guillaume in einem möglichst vorteilhaften Licht erscheinen zu lassen und in seinen Handlungen zu rechtfertigen, andererseits jedoch trägt er sorgfältig Material zusammen und recherchiert die Ereignisse im Leben des Marschalls.165 159 Peters, Ursula: Ritterbiographie und Familiengeschichte. Das Beispiel der ‚Histoire de Guillaume le Maréchal’. In: Heinzle, Joachim (Hrsg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. (Germanistische Symposien; Berichtsbände, 14) Stuttgart, Weimar 1993, S. 180-199, S. 199. 160 Ebd. S. 199. 161 Stanesco, Michel: Mittelalter und erzählende Identität. Anmerkungen über den Dialog zwischen Fiktion und Geschichte. In: Mertens, Volker / Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Fiktionalität im Artusroman. 3. Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15.02.1992. Tübingen 1993, S. 1-10, S.10. 162 Stanesco, Michel: Mittelalter und erzählende Identität. S. 6. 163 David Crouch verweist vor allem auf die Urkunden des Marschalls, die Aufschluß über seine Aktivitäten als Landbesitzer und politischer Gefolgsmann sowie die materielle Seite seiner Beziehungen zu seinen Anhängern geben. Crouch, David: William Marshal. Court, Career and Chivalry in the Angevin Empire 1147-1219. (The Medieval World) London, New York 1990, S. 5. 164 Crouch, David: William Marshal. S. 8. Vgl. auch Painter, Sidney: William Marshal. Knighterrant, Baron, and Regent of England. Baltimore 1967. 165 Crouch, David: The Hidden History of the twelfth Century. In: The Haskins Society Journal 5, 1993, S. 111-130.

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Das dargestellte Leben des Marschalls erzählt viel darüber, wie adlige politische Macht gegenüber dem englischen König funktionierte oder welche Dynamik Allianzen haben können.166 Und wir erfahren einiges über Nahbeziehungen und ihr Funktionieren. Zwar sind dabei Familie und Verwandtschaft wichtig, aber als interpersonale Beziehungen stehen sie durchaus nicht über allen anderen Bindungen, wie gelegentlich in der Forschung zu lesen ist.167 Der bemerkenswerte Aufstieg des Marschalls hat – so jedenfalls stellt es der Text dar – seine Ursachen in seinem sicheren Umgang mit Pferd und Waffen, seinen Turniererfolgen und seiner Abenteuerlust, aber ebenso in seiner Fähigkeit, Allianzen zu schmieden und verläßliche Bündnisse einzugehen: „The Marshal did have an enviable capacity for making friends; something that stood him in good stead in his political career.”168 Da dieser Punkt von entscheidendem Interesse für die Analyse ist, verdient er eine nähere Betrachtung mit Hilfe ausführlicherer Darstellung der entsprechenden Textstellen. Seine ‚Biographie’ gibt weniger über das jeweilige Zustandekommen einer Freundschaft, eines Bündnisses Auskunft, aber immer wieder werden in der Histoire Gefährten und Freunde des Marschalls benannt, etwa Roger de Gaugy, von dem es heißt: D’un autre chevalier vos di, / Preisé d’armes, proz e herdi / E enprenant e artilos, / Mais qu’auques esteit coveitos, / Misire Rogier de Gaugie: / N’out de Diepe tresque a Baugie / Plus gaaingnant ne plus vassal / Fors Willaume li Mareschal. / Por la proësce que out en sei / Ert de la maisnie le rei. / Quant il out veü e apris / Le grant gaaing e le grant pris / Del Mareschal, tot a custume / Coveitise aprent e alume / Son cuer, si li dist e enseingne / Que al Mareschal s’acompaigne, / Kar l’om ne puet s’amender non / D’acompaingnier boen compaignon. / Qui se puet aider de deus meins, / Por ce ne valt il mie meins; / Se l‘une falt e l’autre fiert, / Plus tost en a ce que il quiert. / De compaignie la le preia; / Li Mareschal li otreia / Sa compaignie voluntiers, / Kar tant esteit boens chevaliers / Qu’il sout bien qu’il n’enpirreit mie / D’aver si bone conpaingnie.169 166 167 168 169

Crouch, David: William Marshal. S. 150ff. Esmark, Kim: Man of Honor. S. 71. Crouch, David: William Marshal. S. 158. History of William Marshal. Hrsg. v. Anthony J. Holden, übers. v. S. Gregory, komment. v. David Crouch. Bd.1: Text and Translation. (II. 1-10031). (Anglo-Norman Text Society, Occasional Publications Series 4-6) London 2002, 3381-3408: “I want to speak now of another knight, a brave and doughty man, renowned for feats of arms, venturesome and clever, but inclined to be greedy. I speak of Sir Roger de Jouy. There was no man between Dieppe and Baugé more successful at winning booty or more valorous, with the exception of William Marshal. Because of the prowess that was his, he belonged to the young King’s household. When he had seen and been informed of the rich booty and the great reputation that the Marshal had won, as usual his heart was kindled and fired by Greed, who urged and advised him to join the Marshal, since a man could not but better his situation by joining company with a worthy companion. A man who has an extra hand to help him is worth no less for that; if one makes a strike where the other misses, the quicker he achieves his ob-

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Zwar fehlen nicht die üblichen Superlative in der Beschreibung der ritterlichen Fähigkeiten Rogers, abgesehen davon aber haben wir hier eine eher zurückhaltende Schilderung. Mit klarem Kalkül aus Gier und Prestigestreben sucht Roger de Gaugy die Gesellschaft des Marshals, er rechnet sich aus, mit ihm (materiell) erfolgreich Turniere zu bestehen – zwei fähige Ritter vermögen mehr als einer. Und offenbar ist es durchaus nicht ehrenrührig, mit einem Gefährten gemeinsam bei Turnieren aufzutreten; in einem trotz aller höfisch-literarischen Stilisierung näher am historiographischen Schreiben orientierten Text wird die homosoziale Männerbeziehung anders konzeptionalisiert oder doch mit anderen Akzenten versehen. Sie konkretisiert sich vor allem in gegenseitiger Unterstützung und Hilfe im Turnier oder Krieg.170 Im aristotelischen Dreier-Schema der Freundschaft, das Tugend-, Nutzen- und Lustfreundschaft unterscheidet, wäre dieser Beziehungstyp zwischen William und Roger der Lust-, vor allem aber der Nutzenfreundschaft zuzuordnen. Jedoch ist sehr fraglich, ob eine solche wertende Einteilung einen tatsächlich produktiven Maßstab für einen Text wie die Histoire liefern kann. Zumal die Trennung von utilitaristischen und affektiv-idealen Momenten für Freundschaft in dieser Zeit (und nicht nur in dieser) eine künstliche ist. Der Text erzählt weiter, wie die beiden zusammen auf Turnierfahrt gehen: Deus anz compaingnie tindrent; / Mais unques en place ne vindrent / Que plus gaaing ne lor venist / Coment q’as autres avenist, / Qu’a sis des autres ou a uit. / [...] Qu’entre Pentecoste e Quaresme / Pristrent chevalers cent e treis, / Estre chevals, estre herneis, Dont unkes cil ne tindrent conte / Qui s’entremistrent de l’aconte ; Isi avint icist afeires.171

Ein klar definiertes Ziel verbindet die beiden Männer für eine begrenzte Zeit, zwei Jahre will man zusammen unterwegs sein – Iwein war ein Jahr mit Gawein auf Turnierfahrt –, um von der vereinten Schlagkraft zu profitieren. Man schließt sich zusammen, um gemeinsam auf Turnieren einen möglichst großen Gewinn einzufahren – Gefangene mußten von Verwandten und Gefolgsleuten mit Lösegeld freigekauft werden oder die jective. He begged the Marshal to let him join him, and the Marshal readily granted his request to join, for he was such a good knight that the Marshal well knew he would lose nothing by having such a worthy companion.”. Zu Roger de Jouy vgl. auch die Anm. zu 3385: History of William Marshal. Bd. 3: Intruduction, Notes, Indices. S. 78. 170 History of William Marshal. 16895-97. 171 History of William Marshal. 3409-3425: They fought side by side for two years, and they never once came to a tournament without making greater gains, whatever might happen to other men, than six or eight others did. [...] that between Lent and Whitsuntide they took a hundred and three knights prisoner. And that is not to mention the horses and equipment which were never taken into account by those who took it on themselves to make a tally. That was the way it went.”.

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Geiseln zahlten selbst, hinzu kamen Waffen, Pferde und Ausrüstung. Vermutlich war es unter praktischen Gesichtspunkten sinnvoll und effizienter, sich zu zweit oder in einer Gruppe auf eine solche Unternehmung zu begeben. Zwar darf man den Zahlen wohl nicht ohne weiteres Glauben schenken, die Histoire spricht u.a. von 103 gefangen genommenen Rittern,172 aber die Darstellung des Textes zielt darauf, diese Partnerschaft als ein effektives Unternehmen zu präsentieren. Da die Turniere in der Lebensbeschreibung einen großen Raum einnehmen und wie eben gesehen Anlaß für die Benennung von strategischen Freundschaften sind, müssen sie selbst und die Art ihrer Erwähnung kurz in den Blick genommen werden. Insbesondere die Turnierbeschreibungen der Histoire sind im Zusammenhang mit den Turnierschilderungen der höfischen Romane Chrétiens de Troyes zu sehen.173 Schon die Tatsache, daß die Turnieraktivitäten des Marschalls soviel Raum bekommen, hat nicht zuletzt mit dem ritterlichen Ideal zu tun, wie es in den Romanen Chrétiens präsentiert wird. Um eine Verbindung zwischen diesem Ideal und Guillaumes Turnierkämpfen herzustellen, benutzt der Autor der Histoire sprachliche Muster und Motive der höfisch-epischen Turnierdarstellungen.174 Diese sprachliche Annäherung kann aber nicht über die bestehenden Unterschiede zwischen Turnierpraxis der Zeit und Chrétiens, Hartmanns sowie Wolframs Beschreibungen hinwegtäuschen. In der literarischen Variante kämpfen die Beteiligten um Ruhm und Ehre, während es in den realen Turnieren um Beute, um Gefangene, Pferde, Waffen und Ausrüstung ging, also handfeste materielle Interessen im Vordergrund standen.175 Der Ruhm ist die Folge solcher ertragreicher Unternehmungen. Entsprechend werden auch die materiellen Erfolge des Marschalls in der Histoire benannt. Generell ist allerdings auch zu konstatieren, daß Turniere nicht wie in den höfischen Romanen das vorrangige Interesse von Königen oder Prinzen waren – unter Heinrich II. wurde das Turnier in England wieder verboten, nachdem es unter seinem Vorgänger kurzzeitig erlaubt war, nur im französischen Teil seines Herrschaftsgebiets blieb es zugelassen – , sondern jüngeren Söhnen nicht sehr vermögender adliger Familien die Gelegenheit gaben, sich selbst zu beweisen, sich einen Namen und Geld zu machen. Insofern ist der Marschall typisch für die 172 History of William Marshal. 3420-21. Siehe auch die Anm. zu 3424: History of William Marshal. Bd. 3: Intruduction, Notes, Indices. S. 79. 173 Benson, Larry D.: The Tournament in the Romances of Chrétien de Troyes and L’Histoire de Guillaume le Maréchal. In: Andersson, Theodore M. / Barney, Stephen A. (Hrsg.): Contradictions: From Beowulf to Chaucer. Selected Studies of Larry D. Benson. Aldershot 1995, S. 266-293. 174 Ebd. S. 288. 175 Ebd. S. 283; Fleckenstein, Josef (unter Mitw. v. Thomas Zotz): Rittertum und ritterliche Welt. Berlin 2002, S. 210.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

Generation junger landloser, aber erfolgshungriger Adliger, die juvenes176, wie Georges Duby sie beschrieben hat, wobei allerdings der Text weniger auf ein Abbild sozialer Wirklichkeit zielt, sondern das literarische Konstrukt der jeunes-Figur177 bedient. Junge adlige Männer schließen sich zusammen und begeben sich auf eine Fahrt von Turnier zu Turnier, auf der Suche nach Prestige und Geld. Oder Gruppen von Männern eines Herrn – Bischofs, Königs, Fürsten178 – sind mit ähnlichen Motiven unterwegs wie William, der mit seinen Rittern den jungen König Heinrich in den 1170er zu Turnieren begleitet.179 Mit Blick auf diese Differenzen zwischen literarisch-fiktivem Text und der Lebensgeschichte des Marschalls, die neben der Darstellung Williams als höfischem Ritter auch weniger romanhafte, dem Alltag nähere Schilderungen enthält, kann die Histoire, wenn auch nicht als ‚wirklichkeitsgetreue’ neutrale Beschreibung, so doch auch nicht einfach im Sinne einer höfischen Rittererzählung als Instrument adlig-politischer Familiengeschichtsschreibung aufgefaßt werden.180 Zumindest muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß der Text Einblicke in die adlige Lebensweise und die politisch-sozialen Verhältnisse bietet, deren Darstellung zwar vom höfisch-epischen Erzählen beeinflußt und in starkem Maße „literarische[s] Programm“181 ist, zugleich aber auch für diese Dichtung einen Kon-Text markiert. Doch zurück zu William und seinem Turnierpartner Roger de Gaugy. Eine affektiv aufgeladene Freundschaftsbeziehung ist sicher um einiges entfernt von der pragmatischen Bindung, die der Marschall und Roger der Histoire zufolge eingehen. Doch lassen sich auch anders gelagerte Beispiele anführen. In der Beschreibung der Gefährten des Marschalls und seinen Bindungen zu ihnen sind durchaus Abstufungen feststellbar, d.h. es finden sich Beziehungen, bei denen zumindest auch von einer emotionalen Seite die Rede ist, so zum Beispiel bei Jacques d’Avesnes, der Guillaume auf eine Reise nach Köln zum Schrein der Heiligen Drei Könige begleitet, „Qui molt l’eime emolt desire.“182 Weiterhin sind auch dauerhafte Bindungen zu verzeichnen. Ist die Turnier-Partnerschaft mit Roger de Gaugy 176 Duby, Georges: The Chivalrous Society. Übers. v. Cynthia Postan. London 1977, S. 120. 177 Peters, Ursula: Von der Sozialgeschichte zur Familienhistorie. Georges Dubys Aufsatz über die Jeunes und seine Bedeutung für ein funktionsgeschichtliches Verständnis der höfischen Literatur. In: Dies.: Von der Sozialwissenschaft zur Kulturwissenschaft. S. 153-177. 178 Benson, Larry D. (with Juliet Barker): The Medieval English Kings and the Tournament. In: Andersson, Theodore M. / Barney, Stephen A. (Hrsg.): Contradictions: From Beowulf to Chaucer. S. 83-99, S. 91. 179 Benson, Larry D. (with Juliet Barker): The Medieval English Kings and the Tournament. S. 91. 180 Peters, Ursula: Ritterbiographie und Familiengeschichte. S. 183. 181 Peters, Ursula: Von der Sozialgeschichte zur Familienhistorie. S. 172. 182 History of William Marshal. 6181: “for he had great love for him and greatly desired it.”.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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auf zwei Jahre begrenzt, so finden sich an anderer Stelle auch Namen von Gefährten, die offenbar über viele Jahre mit dem Marschall unterwegs waren. Dazu gehören Baldwin de Béthune, „Qui li esteit plus que veisin“183, und Hugh de Hamelincourt – beide tauchen wiederholt im Text auf, denn sie sind Mitglieder der Gruppe, die zum Haushalt des jungen Königs gehört und der auch William angehört. Nach Heinrichs Tod sind sie weiterhin gemeinsam unterwegs: Puis couvint que li bacheler / Qui enor voleient aquerre / Alassent querant par la terre / [...] Tant qu’il vindrent en Normandie, / [...] ou avoiement / Oïrent d’un torneiement. / Dedenz la vile sunt venu, / Si que li Mareschal i fu / E dan Baudeuin de Betune, / Qui molt ert bien de sa commune, / E Hue de Hamelincort, / Dunt la renomee uncor cort.184

Baldwin de Béthune wird wiederholt in der Histoire genannt und gehört wohl zu denen, die eine engere, nicht nur auf Allianzen und politischtaktischen Überlegungen basierende Freundschaft mit dem Marschall pflegten. Diese freundschaftliche Verbundenheit rührte aus der gemeinsamen Zeit im Haushalt des jungen Königs her, als beide noch landlose Aufsteiger waren.185 Baldwin hält auch zu ihm, als er in Ungnade beim König fällt,186 und hilft bei der Rückkehr in die Hausgemeinschaft des jungen Königs. Neben dem Verweis auf die Loyalität des Freundes geht es dem Text bei der Beschreibung dieser Affäre von 1182 aber auch darum zu zeigen, daß eine Karriere wie die des Marschalls nicht ungefährlich sein konnte und falsch spielende Rivalen auf den Plan rief. Der Vorwurf des Ehebruchs mit Margaret, der Frau des Königs, ist den Intrigen von Feinden und sogenannten Freunden am Hof zuzuschreiben.187 Weiterhin scheint der alte Marschall eine enge Verbindung zu Eimeri de Saint-Maur gehabt zu haben, jedenfalls werden diesem auf seinem Sterbebett in der Histoire folgende Worte zugeschrieben: „’E molt amai sa companie / En cest siecle e en ceste vie, / E encor m’en voil tenir pres / Si que nos jeson pres a pres; / E Dex nos dont la companie / En la ce183 History of William Marshal. 6820: “who was more to him than a neighbour”. 184 History of William Marshal. 7186-7200: “After that those young knights still looking to win fame and glory had to go in search of it throughout the land, [...] until they arrived in Normandy, [...] where they had heard that a tournament was to take place. They entered the town, the Marshal being one of their number, along with Baldwin de Béthune, a close friend of his, and Hugh de Hamelincourt, whose reputation is still with us.”. 185 Crouch, David: William Marshal. S. 158. 186 Duby, Georges: Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter. Übers. v. Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M. 1986, S. 150. 187 Crouch, David: Strageties of Lordship in Angevin England and the Career of William Marshal. In: Harper-Bill, Christopher / Harvey, Ruth (Hrsg.): The Ideals and Practices of Medieval Knighthood. II. Papers from the third Strawberry Hill Conference 1986. Woodbridge 1988, S. 1-25, S. 4.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

lestïene vie!’“188 Und die Histoire berichtet, daß der Marschall nach seinem Tod, wie er es selbst gewollt hatte, neben dem Freund beerdigt wurde.189 Die Beispiele aus der Geschichte des Marschalls scheinen zu suggerieren, daß solche pragmatisch-kalkulierenden und/oder auch emotionalen adligen Männerfreundschaften durchaus nicht untypisch für die Zeit waren,190 möglicherweise legen sie nahe, daß solche oder ähnliche Beziehungen, wie sie dieser Text nennt und beschreibt, einen Freundschaftsdiskurs bilden, der einen Bezug zur Praxis hat. Oder zumindest ist zu überlegen, warum sowohl die höfische Literatur als auch Texte wie die Biographie des Marschalls, abgesehen von einer möglichen gegenseitigen Beeinflussung in Stil, Topoi und verwendeten Erzählmustern, das Konzept männlicher Freundschaft thematisieren und stilisieren: In beiden Textbereichen scheint es ein Interesse an diesen Konstellationen und ihrer exponierten Darstellung zu geben. Freund und Gefährte – diese Kombination in der Benennung taucht sowohl in den Romanen als auch in historiographischen Texten bei Lambert von Ardres, Giselbert von Mons oder in der Histoire de Guillaume le Maréchal auf. Das soll nicht als Indiz für eine einfache und direkte Gleichsetzung der geschilderten Nahbeziehungen gewertet, sondern als Option verstanden werden, die Werke des Textcorpus vor dem Hintergrund der hier benannten historiographischen Quellen und umgekehrt zu lesen. Das bietet neben dem monastisch-gelehrten amicitiaDiskurs eine weitere Möglichkeit der Einordnung von Freundschaft in der höfischen Epik. Das bedeutet, daß auch Beziehungen wie die zwischen Iwein und Gawein oder Nisus und Euryaus trotz ihrer Idealisierung auch als strategische Partnerschaften, Waffenbrüderschaften im Turnier oder als nützliche, weil gegenseitige Unterstützung versprechende Bindungen gelesen werden können. Haben zuletzt die Referenzen und Kontexte der männlichsymmetrischen Bindungen im Mittelpunkt gestanden, wird im Folgenden der Blick wieder auf die höfische Dichtung selbst gelenkt. Dabei interessieren zunächst der Genderaspekt sowie weitere anthropologische Fragen nach Ehre und Zweikampf.

188 History of William Marshal. Bd. 2: Text and Translation (II. 10031-end), 18421-18426: “’I greatly loves his company in this our life on earth, and I wish even now to be close to him by lying side by side. May God grant that we remain companions in the life eternal!’”. 189 History of William Marshal. 19043-19046. 190 Meddings, John: Friendship among the Aristocracy in Anglo-Norman England. In: Harper-Bill, Christopher (Hrsg.): Proceedings of the Battle Conference 1999. (AngloNorman Studies, 22) Woodbridge 2000, S. 187-204, S. 198.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

207

1.4 Gender und Freundschaft Ein wesentlicher Aspekt, unter dem Freundschaft nicht nur im Mittelalter, sondern generell und auch in der höfischen Literatur betrachtet werden muß, ist die Genderfrage. Bekanntlich stellt Augustinus in seinem Genesiskommentar fest, daß Frauen nur für die Reproduktion der Gattung geschaffen wurden; zur Geselligkeit, für die Arbeit, für Gespräche dagegen wäre ein zweiter Mann besser gewesen. Damit sind die gender studies und vor allem die Genderdiskussion der Mediävistik auch für das Thema Freundschaft angesprochen, die hier aber keinesfalls vollständig, sondern nur in entsprechenden Ausschnitten einbezogen werden kann.191 Die gender studies sind als Konsequenz der women’s studies zu verstehen, was nicht die scharfe Abgrenzung von letzteren, sondern eher eine Schwerpunktverschiebung hin zum Geschlechterverhältnis bedeutet. Dahinter steht die Einsicht, daß statt den Fokus nur auf die Frauen zu richten, „vielmehr die Beziehungen der Geschlechter zueinander zu klären seien“192. Die dafür etablierte Trennung von sex und gender zielt darauf, den Kausalzusammenhang von biologischem Geschlecht (sex) und soziokultureller Konstruktion von Sexualität (gender) aufzubrechen und auf diese Weise nicht mehr Geschlechterdifferenzen einfach fortzuschreiben, sondern Einsichten in die sozial und kulturell bedingten Konstruktionen und Wirkungsweisen von Geschlechtsidentität zu gewinnen. Auf der Suche nach den Ursachen und den Prozessen der Konstituierung der Opposition und Hierarchisierung von Männern und Frauen, Heterosexuellen und Homosexuellen geraten dann nicht nur mehr Konzepte von Weiblichkeit in den Blick, sondern – mit der Entwicklung der men’s studies – auch solche von Männlichkeit. Allerdings hat die sex-genderUnterscheidung berechtigte grundsätzliche Kritik erfahren, da mit ihr erneut die Gefahr auf den Plan tritt, die durch sie gebannt werden sollte. Das Konzept von gender als einer soziokulturellen Geschlechtsidentität im Unterschied zum biologischen Geschlecht scheint nämlich das Postulat eines vorkulturellen unveränderbaren Körpers zu implizieren, auf den die kulturellen Zuschreibungen projiziert werden. So stellt Judith Butler fest: „It would make no sense, then, to define gender as the cultural interpreta191 Siehe dazu u.a. Bennewitz, Ingrid / Kasten, Ingrid (Hrsg.): Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. (Bamberger Studien zum Mittelalter, Bd. 1) Münster, Hamburg, London 2002; Schnell, Rüdiger: Geschlechtergeschichte, Diskursgeschichte und Literaturgeschichte. Eine Studie zu konkurrierenden Männerbildern in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: FMSt 32, 1998, S. 307-364. 192 Hof, Renate: Die Entwicklung der Gender Studies. In: Bußmann, Hadumod / Hof, Renate (Hrsg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995, S. 2-33, S. 4.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

tion of sex, if sex itself is a gendered category.“193 Butlers Lösung des Problems besteht darin, das sex-gender-System zu radikalisieren, indem sie die Trennung aufhebt: Geschlechtsidentität und anatomische Gegebenheiten haben nichts miteinander zu tun, da auch der Körper kulturelle Formation ist. Diese Vorstellung ist kontrovers diskutiert worden, vor allem wegen ihrer Konsequenzen für die Natur-Kultur-Opposition. Entscheidend ist jedoch, sich von einer Sichtweise zu lösen, in der „Sexualität [...] entweder kulturell konstruiert und veränderbar oder biologisch determiniert und festgelegt“194 ist. Insgesamt hat sich die sex-gender-Unterscheidung in vielerlei Hinsicht als produktiv erwiesen und kann daher – kritisch reflektiert und eingebettet in eine Diskussion über Kultur – für die Erforschung gegenwärtiger und vergangener Geschlechterverhältnisse genutzt werden, allerdings nicht ohne die immer wieder notwendige Verständigung über den gender-Begriff und die sex-gender-Relation. Wichtig ist es, gender nicht als feststehende Entität, sondern als dynamisch, variabel, situativ und performativ zu begreifen. Warum aber ist gender ein Aspekt von Freundschaft? Die Frage kann an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden, es sollen daher nur einige wenige Überlegungen skizziert werden. Auf einer ersten allgemeinen Ebene ist zu konstatieren, daß Freundschaften als interpersonale Beziehungen nicht unabhängig von der Identität der Beteiligten gedacht werden können, und Teil der Identität ist die sexuelle Identität. Daher befaßt sich etwa die Entwicklungspsychologie mit dem gender-Aspekt von Freundschaften.195 Auf einer zweiten Ebene ist davon auszugehen, daß in interkultureller und historischer Perspektive Freundschaftsdiskurse geschlechtsspezifische Stereotype aufweisen. Als Beispiel sei an die europäische historisch-philosophische Tradition bis hin zu Montaigne erinnert, in der wahre Freundschaft mit Frauen ausgeschlossen wird. Auch heute ist etwa im Alltagsgebrauch Freundschaft wieder gegendert, allerdings eher andersherum: The images of friendships in both myth and everyday life were historically maledominated. They were characterized in terms of bravery, loyalty, duty, and heroism. This explains why women were often seen as not capable of having ‘true’ friendships. But today the images of ideal friendships are often expressed in

193 Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London 1990, S. 7. 194 Hof, Renate: Die Entwicklung der Gender Studies. S. 24. 195 Siehe etwa: Gender and Friendship. Merill-Palmer-Quarterly 53 (3) 2007.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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terms of women’s traits: intimacy, trust, caring, and nurturing, thereby excluding the more traditional men from true friendship.196

Offenbar sind die kulturellen Zuschreibungen für Freundschaftsfigurationen nicht zuletzt gender-Zuschreibungen, und möglicherweise implizieren historisch/kulturell unterschiedliche Freundschaftsauffassungen und – praxen jeweils andere Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit. In der Geschichte der Freundschaftskonzepte haben wir es u.a. mit zwei Stereotypen zu tun, die unter dem Aspekt von gender gefaßt werden können: zum einen die männlich-heroische Freundschaft, die Kriegergemeinschaft der Heldenepik bzw. die an der antiken vera amicitia ausgerichtete männliche Tugendfreundschaft und zum anderen defizitäre weibliche und cross-gender-Beziehungen, die ‚wahre Freundschaft’ nicht erreichen. 1.4.1 Heroische Freundschaft und ihre Konzeptualisierung von Männlichkeit Längst hat das gender-Konzept auch in historische und literaturwissenschaftliche Arbeiten Einzug gehalten. Dabei hat einerseits eine Übernahme des sex-gender-Modells und seine Funktionalisierung in den einzelnen Fächern stattgefunden, andererseits wurde und wird diskutiert, ob auf die sogenannte Vormoderne dieses Modell überhaupt anwendbar ist. Thomas Laqueur hat in seiner Studie Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud197 die These postuliert, die Unterscheidung von sex und gender sei für die Vormoderne nicht zutreffend. „Ein Mann oder eine Frau zu sein, hieß, einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch, die eine oder andere zweier organisch unvergleichlicher Ausprägungen des Sexus zu sein.“198 Laqueur geht bis zur Zeit der Aufklärung von einem ‚Ein-Geschlecht-Modell’199 aus, in dem biologischer und kultureller Aspekt der Geschlechtsidentität zusammenfallen, d.h. Männlichkeit und Weiblichkeit werden nicht nach spezifischen anatomisch-organischen Merkmalen differenziert, sondern nur nach ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Positionen: 196 Nardi, Peter M.: “Seamless Souls”. An Introduction to Men’s Friendships. In: Ders. (Hrsg.): Men’s Friendships. (Research on Men and Masculinites Series, Bd. 2) Newbury Park, London, New Delhi 1992, S. 1-14, S. 1. 197 Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt, New York 1992. Zu den Veränderungen des Geschlechterdiskurses und der Entwicklung einer weiblichen ‚Sonderanthropologie’ im 18. Jahrhundert vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt, New York 1991. 198 Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. S. 20. 199 Ebd. S. 20.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

„Anders gesagt, vor dem 17. Jahrhundert war der Sexus noch eine soziologische und keine ontologische Kategorie.“200 Diese Vorstellung hat allerdings inzwischen ausführliche Kritik erfahren und ist relativiert worden.201 Zwar hat Stephen Greenblatt in seiner Interpretation von Shakespeares Twelfth Night die Bedeutung des Ein-Geschlecht-Modells für das elisabethanische Weltbild herausgearbeitet. Daneben aber gibt es Studien zu mittelalterlicher Literatur, die die Relevanz des sex-gender-Modells für diese Texte aufzeigen.202 Aber unabhängig davon, ob man Laqueurs Einschätzung teilt oder nicht oder ob man von vormodernen/mittelalterlichen Körperbildern und Geschlechterinszenierungen ausgeht, die sich deutlich von neuzeitlichen unterscheiden,203 oder dieses für überstrapazierte Alteritätsvorstellungen hält, ist es erforderlich, über gender in historischer Perspektive nachzudenken. Für diese Diskussion über gender als historische Kategorie war u.a. der Beitrag von Joan W. Scott wirkungsmächtig, der zwar kontrovers aufgenommen wurde, sich aber dennoch als hilfreich erwiesen hat und daher im Folgenden kurz vorgestellt wird. Scott definiert gender folgendermaßen: “gender is a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relationships of power”204. In dieser Definition von gender ergeben sich nach Scott vier damit zusammenhängende Aspekte: 1. Kulturell generierte Bilder und Symbole, die ganz unterschiedliche, auch sich widersprechende, Konzepte und Repräsentationen implizieren 200 Ebd. S. 20f. 201 Spreitzer, Brigitte: Störfälle. Zur Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdif-ferenz(en) im Mittelalter. In: Bennewitz, Ingrid / Tervooren, Helmut (Hrsg.): Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper’ und ‚Geschlecht’ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Internationales Kolloquium der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft und der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, Zanten 1997. (Beihefte zur ZfdPh, 9) Berlin 1999, S. 249-263 und vor allem: Cadden, Joan: Meanings of Sex Difference in the Middle Ages. Medicine, Science, and Culture. (Cambridge History of Medicine) Cambridge 1993. 202 Vgl. etwa Bauschke, Ricarda: Sex und gender als Normhorizonte im ‚Moritz von Craûn’. In: Bennewitz, Ingrid / Tervooren, Helmut (Hrsg.): Manlîchiu wîp, wîplîch man. S. 305-325. 203 Vgl. Bennewitz, Ingrid: Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters. In: Bennewitz, Ingrid / Kasten, Ingrid (Hrsg.): Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. (Bamberger Studien zum Mittelalter, Bd. 1) Münster, Hamburg, London 2002, S. 1-10, S.4. 204 Scott, Joan W.: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: Dies.: Gender and the Politics of History. (Gender and Culture) New York 1988, S. 28-50, S. 42; zu Scotts Gender-Begriff und dessen Rezeption siehe Honegger, Claudia / Arni, Caroline (Hrsg.): Gender. Die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott, Geschichte und Politik: Beiträge zum Symposion anläßlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott. Zürich 2001.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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(Eva und Maria als die beiden Pole einer christlichen weiblichen Typologie). Die Frage ist: Welche Bilder werden angesprochen, wie und in welchen Kontexten? 2. Normative Konzepte, die die Interpretation der Bedeutung der Symbole bestimmen und die ihre Reichweite und metaphorische Möglichkeiten zu begrenzen suchen; als Ergebnis erscheinen oft feste Binäroppositionen – diese normativen Setzungen beruhen aber auf dem Verschweigen oder Unterdrücken von Alternativen, die dominante Position wird als die einzig mögliche und als Ergebnis eines sozialen Konsenses statt eines Konflikts behauptet. Diese scheinbar zeitlosen Setzungen gilt es zu hinterfragen und den Charakter der Debatten aufzudecken, die zu diesen normativen Konzepten führen. 3. Politische Fragen und Einbeziehung sozialer Institutionen und Strukturen, um für 2. die jeweilige historische politisch-sozialeökonomische Situation herauszuarbeiten; dafür müssen Familienstrukturen, Bildung und Erziehung, Arbeitsverhältnisse und Politik erfaßt werden. 4. Subjektive Identität: die Psychoanalyse stellt eine Theorie für die Reproduktion von gender bereit, eine Beschreibung der „transformation of the biological sexuality of individuals as they are enculturated“205; in historischer Perspektive aber müssen die Prozesse untersucht werden, durch die gender-Identitäten konstruiert werden, um diese dann in Beziehung zu Handlungspraxen, sozialen Organisationsformen und den jeweils historisch spezifischen kulturellen Repräsentationen zu setzen.206 In der historischen Analyse von gender geht es dann um die Frage, wie sich diese vier Aspekte zueinander verhalten. Dabei ist davon auszugehen, daß auch historische gender-Diskurse keine starren Gebilde oder eindeutig sind, sondern daß gender ein mehrdeutiges, variables, situatives und performatives Moment ist, daß immer wieder Aushandlungsprozessen der Beteiligten unterliegt. Auch aufgrund der engen wissenschaftlichen Verbindung von women’s studies und gender studies wird der gender-Begriff zum Teil immer noch verkürzt und als Synonym für Frauen verwendet.207 Auch gender als historische Kategorie richtet den Blick vorwiegend auf die Frauen, so daß Ute Freverts Frage nach den Männern in dieser Hinsicht mehr als berechtigt ist: „Und Männer? Sind sie auch ein Geschlecht, oder haben sie nur eines?

205 Rubin, Gayle: The Traffic in Women. Notes on the Political Economy of Sex. In: Reiter, Rayna R. (Hrsg.): Towards an Anthropology of Women. New York, London 1975, S. 157210, S. 189. 206 Scott, Joan W.: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. S. 43f. 207 Ebd. S. 31.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

Immerhin legt die Rede vom „anderen“, vom „zweiten“ Geschlecht nahe, daß es auch das eine, das erste gibt.“208 Spätestens jedoch mit der Etablierung der men’s studies sind auch zunehmend Männer und damit auch die Geschichte der Männlichkeit(en) ins Visier geraten,209 womit dann auch für das starke Geschlecht das Ende der Selbstverständlichkeiten erreicht ist: „Mannsein und Männlichkeit haften nicht primär am Körper, sondern es sind kulturelle Konstrukte, die große soziale Differenzierungen und zeitlich-räumliche Variationen aufweisen.“210 In Freuds Wort vom Rätsel der Weiblichkeit, das durch die (männlichen) Analytiker gelöst werden müsse, weil es sich selbst nicht lösen könne,211 kommt in nuce das Denkmuster zum Ausdruck, das lange zu einer ausschließlichen Konzentration auf Frauen und Weiblichkeit als Forschungsfeld geführt hat und den Mann in den „toten Winkel der Aufmerksamkeit“212 geraten ließ. Doch mittlerweile ist dem Rätsel der Weiblichkeit das Rätsel der Männlichkeit an die Seite gestellt worden, was zu Verunsicherung, Irritationen, ‚Krisen der Männlichkeit’ und zu der Frage „Wann ist der Mann ein Mann?“213 geführt hat. Die veränderte Situation zeigt sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einer Vielzahl neuer und alter Männerbilder in Film, Literatur, Werbung und Popkultur – Softies neben Muskelhelden, androgyne, transsexuelle Männer neben treusorgenden Vätern und fremdgehenden Ehemännern, homosexuelle Frauenversteher neben Machos alter Schule. Doch verweist dieser Facettenreichtum männlicher Inszenierung möglicherweise weniger auf die Lust an Spiel und Maskerade als auf die „Verunsicherung, mit der Männer auf den Verlust ihrer alten Rollenbilder und ihrer traditionellen Rechte, Aufgaben und Sicherheiten reagieren“214 – der gender trouble ist 208 Frevert, Ute: Männergeschichte oder die Suche nach dem ‚ersten’ Geschlecht. In: Hettling, Manfred / Huerkamp, Claudia / Nolte, Paul / Schmuhl, Hans-Walter (Hrsg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. München 1991, S. 31-43, S. 31. 209 Vgl. u.a. Pussert, Annette: Auswahlbibliographie: Männerbilder und Männlichkeitskonstruktionen. In: Zeitschrift f. Germanistik, NF 12 (2) 2002, S. 358-369. 210 Frevert, Ute: Männergeschichte oder die Suche nach dem ‚ersten’ Geschlecht. S. 42. 211 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933). In: Gesammelte Werke 15. Chronologische geordnet, unter Mitw. v. Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hrsg. v. Anna Freud u.a. London 1940-1952, S. 120. 212 Stephan, Inge: Im toten Winkel. Die Neuentdeckung des ‚ersten Geschlechts’ durch men’s studies und Männlichkeitsforschung. In: Benthien, Claudia / Stephan, Inge (Hrsg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen von Männlichkeit vom Mittelalter bis zur Gegenwart. (Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe, 18) Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1135, S. 12. 213 Erhart, Walter / Herrmann, Britta (Hrsg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart, Weimar 1997. 214 Erhart, Walter / Herrmann, Britta: Der erforschte Mann? In: Dies. (Hrsg.): Wann ist der Mann ein Mann? S. 3-31, S. 6.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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heute nicht zuletzt male trouble215. Das Maskerade-Konzept, das mittlerweile für Männlichkeits- wie für Weiblichkeitsinszenierung diskutiert wird, erweist sich in mancher Hinsicht zudem als nicht unproblematisch, da sich oft darin weniger Subversion und Parodie zeigen, wie Butler meint, als vielmehr das Wirken von Machtstrukturen und weil hinter manchen Männlichkeitsmaskeraden nur die Neuauflage der alten Dichotomien steckt. Untersuchungen zur Geschichte der Männlichkeit und der Homosexualität sowie die damit einhergehende Infragestellung der Heteronormativität, wie sie u.a. die gay und queer studies angeregt haben, lassen deutlich werden, daß offenbar immer wieder eine Verständigung darüber notwendig wird, was ein Mann ist. Studien wie Theweleits Männerphantasien216 bieten die Möglichkeit neuer, weitgespannter Perspektiven auf männliche Identität, und die zahlreichen Forschungen der men’s studies zu Aspekten von Männlichkeit, ihrer Maskerade und historisch-kultureller Wandelbarkeit zeigen zudem, daß männliche Identität sich durch eine Vielzahl von kulturellen und sozialen Zuschreibungen ergibt. Das prädestiniert die Literaturwissenschaft für die Erforschung dieses Feldes: Wenn nämlich Männlichkeit und Männer sich aus vielen verschiedenen Zuschreibungen konstituieren – oder gerade daran scheitern –, so kann Literaturwissenschaft genau die Prozesse verfolgen und offen legen, mit denen solch unterschiedliche Männlichkeiten durch Zeichen, Symbole, Erzählungen und Inszenierungen hergestellt werden.217

So kann etwa ein literarisch wirkmächtiges, weil lange tradiertes Motiv wie das des männlichen Freundschaftsbeweises auf seine Instrumentalisierung spezifischer männlicher Genderkonstrukte hin befragt werden. Die literarischen männlichen Freundschaftsinszenie-rungen können vor dem Hintergrund der Forschungen zu male bonding, Homosozialität, Männerbünden und Homosexualität gelesen werden und geben selbst wieder Auskunft über das männliche doing gender, wenn man die impliziten Genderinszenierungen, die diesen Texten zugrunde liegen, als solche offenlegt. Bereits im Iwein-Kapitel wurde darauf verwiesen, daß dem Versuch einer strikten Trennung von Männerfreundschaften und homoerotischen bzw. homosexuellen Beziehungen eine andere Möglichkeit, diese Bindungen zu lesen, an die Seite gestellt werden kann. Sedgwicks Konzept des „male homosocial desire“218 hebt die Opposition von männlicher Freundschaft und männlichen homosexuellen Bindungen auf zugunsten eines 215 Penley, Constance / Willis, Sharon (Hrsg.): Male Trouble. Minnesota 1993; SolomonGodeau, Abigail: Male Trouble. A Crisis in Representation. London 1997. 216 Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bände. Frankfurt a.M. 1980. 217 Erhart, Walter / Herrmann, Britta: Der erforschte Mann? S. 16. 218 Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

Verständnisses, daß beide Nahverhältnisse als homosoziale Beziehung auffaßt. Statt der Opposition von homosozial und homosexuell, die Ausdruck der patriarchalen Gesellschaftsordnung, ihrer Heteronormativität und ihrer tendenziellen Homophobie ist, eröffnet sich auf diese Weise eine Perspektive, die andere Zugänge und Lesarten von (literarischen) männlichen Nahverhältnissen, Begehren und Freundschaft ermöglicht. Das männliche homosoziale Begehren zeigt sich etwa in erotischen Dreiecken, bestehend aus der geliebten Frau und den männlichen Rivalen, die auch untereinander eine starke Bindung haben. In der höfischen Epik können eine Reihe solcher erotischen Dreiecksstrukturen ausgemacht werden: Gawein-Iwein-Laudine,219 GauvainLancelot-Ginover, Guivreiz-Erec-Enite oder Sadius-Galo-Königin. In dieser Perspektive, die die homosoziale Bindung zwischen Freund und Gefährte betont, steht der Protagonist im Mittelpunkt der Bemühungen um seine Gegenwart und Aufmerksamkeit sowohl von der Frau wie vom Freund, wobei nicht gesagt ist, ob der Freund derjenige ist, der scheitert220 oder am Ende Erfolg hat. „The position of women is not at issue, but power within patriarchal structures. Romance’s ‘obligatory heterosexuality’ is thus nearly always inscribed within a structure of homosocial desire”221. Das Ideal der männlich-heroischen Freundschaft taucht bis hin zu Schillers Bürgschaft in verschiedenen Epochen und unterschiedlichen Gattungen auf und wird dabei immer wieder neu funktionalisiert und variiert. Die höfische Epik um 1200 bedient sich ebenfalls dieses Modells männlicher Freundschaft. Eine der Fragen, die sich bei der Analyse dieser literarischen Freundschaftsinszenierungen und ihrer Kontexte stellen, ist die nach der gender-Bedingtheit dieses Freundschaftskonzepts. Welche Imaginationen von Männlichkeit korrespondieren der heroischen Freundschaft oder andersherum: wie wirkt sich diese Freundschaftsauffassung auf die gender-Identität der Handelnden aus? Schaut man auf die Kontexte der höfischen Epik, scheinen die Ausgangspunkte der gender-Konstruktion der Helden dieser Texte, vor allem der Artusromane, schnell gefunden: die Kreuzzüge, die Ideologie des miles christi, eine nach den Prinzipien von Ehre und Konkurrenz ausgerichtete aristokratische Elite, die Auseinandersetzungen zwischen Partikular- und Zentralgewalt etc. Gewalt, Tugend, Ehre und vielleicht Liebe als ‚zivilisierendes’ Element sind dann die Bausteine des Idealbild des Ritters, der für Ruhm und Ehre kämpft, Witwen und Waisen hilft, als Lohn seiner Mühen 219 Johnson, Joe E.: Once there were two true friends. Idealized Male Friendship in French Narrative from the Middle Ages through the Enlightenment. Birmingham (Alabama) 2003, S. 34ff. 220 Ebd. S. 46. 221 Gaunt, Simon: Gender and Genre in Medieval French Literature. S. 85.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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eine schöne (und landbesitzende) Frau erobert und auf diese Weise der ideale Freund seines ritterlichen Gefährten ist. Die ersten beiden Punkte von Scotts gender-Konzept, die kulturellen Repräsentationen und normativen Vorstellungen, wären damit zum Teil schon benannt, müßten aber noch kritisch hinterfragt werden, und hinzu kommt die politisch-sozialökonomische Situierung sowie die Frage nach der Identität der Figuren. Ob aber die oben genannten Schlagworte tatsächlich für die männliche Identitätskonstitution in der höfischen Epik zutreffen, wie sich der genaue Zusammenhang von männlicher Freundschaft und gender-Identität in den Artusromanen darstellt und was sich daraus eventuell für das Modell männlich-heroischer Freundschaft folgern läßt, diesen Fragen soll hier soweit wie möglich nachgegangen werden. Die männliche Identität hinter dieser heroischen Freundschaft umfaßt Status- und Reputationsdenken einer adligen Elite, in der permanenter Wettbewerb herrscht, die Hierarchisierung von (Männer)Freundschaft und Liebe und ein prekäres Verhältnis zu Gewalt.222 Der Ritter ist der Mann in Rüstung und Waffen, der nur als solcher ebenbürtiger Freund ist. Ein Beispiel dafür findet sich gleich zu Beginn in Hartmanns Erec, wenn es dort heißt, Erec war ohne Rüstung unterwegs und daher nackt wie eine Frau: „wan Êrec was blôz als ein wîp“223. Und die zahlreichen Freundeskämpfe stehen ebenfalls ganz im Zeichen dieser männlich-ritterlichen Identität. Der Artusroman präsentiert uns ein ambivalentes Bild: In den Männerfreundschaften stehen Konkurrenz und das Einander-Verbunden-Sein nebeneinander; wir haben einerseits die Konstellation des verläßlichen und vertrauten Freundes, der zugunsten des Anderen von sich selbst absieht, und andererseits gleichzeitig ein Männlichkeitsideal, das permanente Bewährung im Wettbewerb mit anderen – auch den Freunden – und damit die Konzentration auf den eigenen Status fordert. Diese Männerfreundschaften im Artusroman sind im Grunde ein Paradox: sie bedienen sich des Musters des selbstlosen aufopfernden Freundes, der Verpflichtungen für seinen Freund übernimmt, ihm über alle Trennungen hinweg verbunden bleibt. Zugleich aber sind Ehre und Reputation entscheidend für die Ebenbürtigkeit der Freunde, und diese werden in der ständigen Konkurrenz der Besten erworben. Das Von-sich-selbst-Absehen zugunsten des Freundes, das zentral für die heroische Freundschaft ist, steht ihren Voraussetzungen – ebenbürtige Männer, die permanent auf das eigene Ansehen bedacht sind – diametral entgegen. Die Männlichkeitsvor222 Für die Moderne gibt es bereits Untersuchungen zum Verhältnis von Krieg und männlicher Freundschaft. Vgl. dazu u.a.: Cole, Sarah: Modernism, Male Friendship, and the First World War. Cambridge 2003. 223 Erec. 103.

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stellung, die Voraussetzung der heroischen Freundschaft ist, steht in antagonistischem Verhältnis zu der männlichen Identität, die Resultat der Freundschaft ist. Dieses Paradox wird auf der konzeptuellen Ebene nicht gelöst – die Frage bleibt daher, welche Lösung des Problems die Texte auf der Ebene der Handlungspraxen jeweils präsentieren. Eine mögliche Ursache dieser paradoxen Konstruktion liegt im – literarischen – Motiv des Freundschaftsbeweises und des heroischen Freundschaftspaares, das gemeinsam alle Gefährdungen besteht. Dieser Diskurs bildet ein Element des Deutungshorizonts von Nahbeziehungen zwischen den Artusrittern, wenngleich das Modell selbst nicht in den Artus- oder Tristanromanen bemüht wird. Dieses Modell präsentiert ein Freundespaar (manchmal auch ein Brüderpaar), das sich durch seine äußere wie innere Ähnlichkeit, also durch Identität und Egalität auszeichnet. Ihre Bewährungsprobe erfährt die Freundschaft im einfachen oder doppelten Freundschaftsbeweis. Das Motiv ist in der mittelalterlichen Literatur in den Bearbeitungen von Amicus und Amelius weit verbreitet; extreme Prüfungen und Bewährungsproben finden sich auch in anderen Freundschaftserzählungen wie etwa in der Geschichte von Lantfrid und Cobbo in den Cambridger Liedern.224 Möglicherweise wirkt diese Tradition der Freundschaftserzählung im Hintergrund der höfischen Romane, zugleich aber konstituieren diese Texte andere Umgebungen und Voraussetzungen für ihre Freundschaftskonstellationen, woraus sich das benannte Paradox ergibt. In der Beziehung Iwein-Gawein wird das Problem im ersten Teil durch den Ehrverzicht Gaweins gelöst. Auf der gemeinsamen Turnierfahrt, zu der Gawein nach der Hochzeit geraten hat, setzt er alles daran, daß der Kampfesruhm dem Freund zufällt: her Gâwein was der höfschste man / der rîters namen ie gewan: / engalt er sîn, daz was im leit; / wan er alle sîn arbeit / im ze dienste kêrte, / wier im sînen prîs gemêrte. / swâ sî turnierens pflâgen, / des sî niht verlâgen, / dâ muose selch rîterschaft geschehen / die got mit êren möhte sehen: / dâ vürdert er in in allen wîs / und alsô gar daz im der prîs / aller oftest beleip225

Diese Option gibt es im Grunde aber nur für den Musterritter Gawein, der dadurch eher noch Ehre gewinnt als verliert, daß er dem Freund den Vortritt läßt. Aber auch die beiden Kämpfe Erecs mit Guivreiz können vor diesem Hintergrund gesehen werden: Indem beide einmal Sieger sind, einmal unterliegen, ist der Ausgleich hergestellt, und die männliche Ehre bleibt unangetastet. Diese Lösung des Paradoxes männlicher Identität und Freundschaft im Zweikampf wird noch näher zu erläutern sein. 224 Siehe Kap. II. 225 Iwein. 3037-3049.

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Die Frage nach den gender-Konzepten hinter den Männerfreundschaften der höfischen Epik ist auch insofern interessant, als daß davon auszugehen ist, daß weder in den politischen und gesellschaftlichen Diskursen der Zeit um 1200 im allgemeinen noch in den Texten der höfischen Kultur im engeren Sinn eine einzige und in sich homogene Vorstellung von (adliger) Männlichkeit existiert. So wie Kultur nicht homogen ist, so sind es auch nicht gender-Konzeptionen. Und so wie mittelalterliche medizinische und naturphilosophische Diskurse nicht nur ein Modell der Geschlechter, geschweige denn eine eindeutige Systematik von gender-Rollen kennen,226 so wenig ist mit nur einem gender-Modell in der höfischen Kultur zu rechnen. Und wenn man weiterhin von einem dynamischen genderBegriff ausgeht, der gender als situativ und performativ und in Abhängigkeit von der Gattung begreift, so kann nicht mit einem oder mehreren statischen Männlichkeits-(oder Weiblichkeits-) entwürfen gerechnet werden. Schon der Blick auf die Beziehung Iwein-Gawein demonstriert, daß die Beteiligten in dieser Männer-Freundschaft nicht einem gender-Entwurf zuzuordnen sind. Während für Iwein mit der Heirat seine männliche Identität um das Element der Herrschaft und Herrschaftssicherung sowie des Ehemanns erweitert wird und in Konflikt gerät mit der Männlichkeit des aventiure-Ritters, bleibt Gawein ungebunden und nur dem Artushof und seinen Werten verpflichtet. Seine männliche Identität konstituiert sich weiterhin durch Erfolg im Kampf und mustergültiges höfisches Verhalten. 1.4.2 Homosozialität und Ritterschaft An dieser Stelle muß noch einmal der Problemkreis von Homosozialität, Homoerotik und Männerfreundschaft angesprochen werden, der bereits im Iwein-Kapitel thematisiert wurde. Vor allem für die Antikenromane mit ihren emotionsgeladenen Totenklagen um den Freund, aber nicht nur dort, stellt sich das Thema der Homosozialität/Homoerotik. Sowohl für außereuropäische als auch für vormoderne Kulturen wie das Mittelalter findet sich in den Fällen von Homosozialität schnell der Hinweis auf die Alterität und auf die Rolle öffentlicher sozialer Gestik, die, so die oft zu lesende These, keine Kongruenz von körperlicher Geste und Emotion beansprucht,227 was aber zu hinterfragen ist. Und bemerkenswert ist die Reflexhaftigkeit, mit der auf die andersartige Kultur verwiesen wird, in der die homosozialen Praktiken verordnet werden. Dabei ist die Frage nach dem Wie des male bonding und nach homosozialen 226 Cadden, Joan: Meanings of Sex Difference in the Middle Ages. S. 2. Zu heroischer Männlichkeit siehe u.a. Miklautsch, Lydia: Müde Männer – Mythen. 227 Eickels, Klaus van: Kuß und Kinngriff, Umarmung und verschränkte Hände.

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männlichen Nahverhältnissen wesentlich bei der Untersuchung von Freundschaft und könnte eben auch die Frage nach denkbaren Grenzen von Freundschaften sein. Das aber ist nur möglich, wenn das Spannungsverhältnis von Freundschaft/Körperlichkeit, Homoerotik/Homosozialität in der mittelalterlichen Gesellschaft einbezogen wird. Die Ethnologie liefert uns Beispiele, wie in außereuropäischen Kontexten die für uns selbstverständlichen Grenzen und Merkmale von Freundschaften anders konzeptualisiert werden. Körperliche Nähe ist beispielsweise in Ghana ein fester Bestandteil von männlichen Freundschaftsbindungen; so praktizieren die südghanaischen Nzema heiratsähnliche Rituale, die die Freundschaft unter Männern initiieren und besiegeln. Dazu gehört eine Verschränkung von Liebes- und Freundschaftsdiskurs: Die Freunde ‚verlieben’ sich nicht nur ineinander, sondern teilen auch nicht selten das Bett miteinander, ohne daß dabei sexuelle Handlungen stattfinden.228 Freundschaft zwischen Männern bedeutet hier also ausdrücklich Intimität, körperliche Nähe und eine enge emotionale Bindung, die eheähnlich institutionalisiert wird. Auch wenn homoerotische Aspekte möglicherweise in dieser Konzeptionalisierung und Ritualisierung der homosozialen Beziehung eine Rolle spielen, sollte das dennoch nicht zu einer Verwechslung oder Gleichsetzung dieser Bindung mit einer homosexuellen Beziehung oder gar Homosexualität führen. Die mittelalterliche öffentliche politische Sphäre kennt ebenfalls sehr körperbetonte Freundschaftsgesten – darauf wurde bereits im IweinKapitel verwiesen229 – zwischen Männern – Könige, die in einem Bett schlafen, Adlige, die sich an den Händen halten und zur Begrüßung küssen.230 Diese körperliche Nähe symbolisiert und stärkt personale Bindungen; Kuß und Umarmung gleichgeschlechtlicher Partner findet sich in vielen Texten und Bildern als übliche Gesten von Liebe und Freundschaft, wobei in diesem durch die intimen Gesten geschaffenen Raum der Freundschaft der permanente Zwang zur Statusdarstellung aufgehoben ist.231 Auch hier geht es um homosoziale Gesten, die Verbundenheit und Verbindlichkeit demonstrieren sollen, nicht um homosexuelle Handlungen. Klaus van Eickels geht dieser Frage anhand der Beziehung Richards I. von England und Philipps II. von Frankreichs nach,232 die auch immer wieder im ‚Verdacht’ der Homosexualität stand. 228 Nardi, Peter M.: Gay Men’s Friendships. Invincible communities. (Worlds of Desire) Chicago u.a. 1999; Vortrag Eric A. Heuser / Caroline Krüger: Freundschaft: anthropologische Aspekte – ein interdisziplinäres Mosaik. (Aufsatz in Vorbereitung). 229 Siehe Kap. III. 1. 230 Eickels, Klaus van: Kuß und Kinngriff, Umarmung und verschränkte Hände. 231 Ebd. S. 157f. 232 Eickels, Klaus van: Von inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt. S. 341ff.

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Homoerotik kann eine mögliche Komponente mittelalterlicher wie frühneuzeitlicher männlicher Freundschaft sein, aber darauf liegt nicht der Hauptakzent, wie unsere moderne Überbetonung und Überbewertung von Sexualität suggeriert: „there is in friendship a force of desire that cannot be fulfilled, [...] a desire that is more compelling and intangible than the sexual”233. Es geht um das homosoziale Begehren, dessen Erfüllung in der Freundschaft gesucht wird. Begehren ist dabei im Sinne von Eve Sedgwick zu verstehen: „I will be using ‚desire’ [...] not for a particular affective state or emotion, but for the affection or social force, the glue, even when its manifestation is hostility or hatred or something less emotively charged, that shapes an important relationship.“234 Dieser Punkt der Homosozialität verdeutlicht noch einmal die anthropologische Dimension der Männerfreundschaft: Auf der einen Seite steht die Austarierung von Gewalt und Macht, auf der anderen Seite die Neutralisierung von Sexualität bzw. die Legitimierung einer Form des homosozialen Begehrens in der Gruppe von Männern, die nicht im Gegensatz zu einem heterosexuellen Männlichkeitsentwurf steht. Männerbünde sind zunächst einfach dadurch gekennzeichnet, daß keine Frauen dabei sind.235 Der Ausschluß von Frauen ist wesentliches Merkmal und konstituierendes Element der Männergruppe. Bei der Diskussion der gender-Konzeption männlicher Freundschaft in der höfischen Epik spielt ein weiterer Aspekt eine besondere Rolle, nämlich der des Rittertums. Unbeachtet der breiten und kontroversen Diskussion über die Ursprünge des Rittertums, um seine Entwicklung etc. scheint eines doch klar zu sein: daß der Ritter zuallererst „a professional of mounted warfare“236 ist, der oft zugleich auch Vasall und damit abhängig von seinem Herrn ist. Nimmt man das ernst, dann geht es nicht mehr um die Erfüllung hoher ethischer Ideale, sondern um die Ausführung von Aufgaben, die mit Waffen und Pferden zu erledigen sind,237 bzw. die ethischen Werte und Tugenden, die den Ritter und Helden der höfischen Epik auszeichnen, sind relativ und eignen auch Personen, die Verräter 233 MacFaul, Tom: Male Friendship in Shakespeare and his Contemporaries. S. 18. 234 Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Man. S. 2. 235 Wenn doch, führt das zu Problemen, wie die Verleumdung William Marschalls zeigt, dem „Freunde“ eine Affäre mit der Frau des Königs nachsagten. 236 Haidu, Peter: The Subject of Violence. The Song of Roland and the Birth of the State. Bloomington, Indianapolis 1993, S. 54. 237 Vgl. Dazu weiterhin: Hasty, Will: Art of Arms. Studies of Aggression and Dominance in Medieval German Court Poetry. (Beiträge zur Älteren Literaturwissenschaft) Heidelberg 2002, vor allem zum ritterlichen Kampf S. 31ff; Dallapiazza, Michael / Anichini, Federica / Bravi, Francesca (Hrsg.): Krieg, Helden und Antihelden in der Literatur des Mittelalters. Beiträge der II. Internationalen Giornata di Studio sul Medioevo in Urbino. (GAG, Nr. 739) Göppingen 2007.

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sind und damit scheinbar nicht mehr dem höfischen und/oder ritterlichen Wertekanon entsprechen. “Chivalry, in any case, was an ideal to be aimed at and not one that was well kept in a more violent age.”238 Das zeigt sich im Chanson de Roland in der Figur des Verräters, der ebenso Ritter ist wie Roland und Oliver und wie sie mutig und geschickt im Umgang mit Waffen und dazu mit einem ausgeprägten Ehrgefühl ausgestattet ist.239 Die wichtigen Protagonisten des Chansons de Roland erfüllen ihre jeweiligen Rollen, die ihnen das Erzählmuster auferlegt, aber sie sind alle Ritter inklusive der dafür charakteristischen Eigenschaften: Stärke, Mut, Fertigkeiten im Umgang mit Pferden und Waffen, Loyalität und Ehrgefühl.240 In ihren unterschiedlichen, auch entgegengesetzten Handlungsweisen benutzen sie alle dasselbe Repertoire: „it is a knightly system of repetition and difference that they perform [...] it is their specific systematicity, that degree of identity and diffraction of the same set of values, that brings about the disaster at Roncevaux“241. Ähnliches ließe sich für die Artusromane konstatieren – strahlende Helden, die sich nicht immer höfisch und ritterlich im Sinne ritterlicher Ideologie, wie Haidu sie beschreibt,242 verhalten, und Antihelden, die durchaus am ritterlichen Wertekanon partizipieren. Eine vergleichbare Wertneutralität läßt sich auch für Guillaume le Maréchal feststellen: Ritterschaft bedeutete für einen Mann wie ihn vor allem, ein guter Reiter sowie mutig und erfahren im Gebrauch seiner Waffen zu sein.243 Und was heißt das für Freundschaft, ist auch sie dadurch relativiert? Und wie ist dann Aristoteles’ Frage, ob auch die Bösen Freunde haben können, zu beantworten? Wenn Freundschaft an Ritterschaft gebunden ist, bleibt sie, vor allem als strategische Partnerschaft, als Waffenbrüderschaft oder politische Allianz nicht nur denen mit lauteren Absichten vorbehalten. Allerdings sind solche problematischen Freundschaften in der höfischen Literatur in der Regel zum Scheitern verurteilt, was an Gunter und Siegfried oder Marjodo und Tristan zu beobachten ist.

238 239 240 241 242 243

Mosse, George L.: The Image of Man. S. 19. Haidu, Peter: The Subject of Violence. S. 66ff. Ebd. S. 84. Ebd. S. 84. Ebd. S. 53ff. Esmark, Kim: Man of Honor. Aspects of medieval knightly Identity in the Verse Biography of William the Marshall. In: McGuire, Brian Patrick (Hrsg.): The Birth of Identities. Denmark and Europe in the Middle Ages. Kopenhagen 1996, S. 69-91, S. 82.

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1.5 Ehre und Zweikampf als Elemente männlich-heroischer Freundschaft Der Zweikampf präsentiert sich sowohl in der höfischen Epik als auch in den entsprechenden Kontextdiskursen als vielgestaltig. Dennoch können drei wesentliche Formen ausgemacht werden, nämlich die mit Waffen geführte Auseinandersetzung mit einem Feind, das Turnier oder der Gerichtskampf. Insbesondere die beiden letztgenannten sind als Mechanismus der Gewaltregulierung, als Entwicklungs- oder Konfliktmodell und im Zusammenhang der Geschichte des Duells diskutiert worden. Das Duell ist „als verabredeter, nach bestimmten Regeln mit tödlichen Waffen ausgefochtener Ehrenzweikampf ein Kind der Frühen Neuzeit“244. Aber den Zweikampf um Ehre kennt auch die höfische Epik. Ging es in realen Turnieren des Hochmittelalters auch um materiellen Gewinn, so kreisen die literarischen Darstellungen nur um das persönliche Ansehen und die Tapferkeit und Stärke der Gegner. So wird denn auch der Zusammenhang zwischen Duell und mittelalterlichen Formen der Auseinandersetzung festgemacht an Fehde, gerichtlichem Zweikampf und Turnier.245 Im Turnier aber ist zunächst kein Ausdruck der Feindschaft zu sehen, sondern es ist ein offener „Wettstreit“246 um Ehrgewinn. Aus der militärischen Veranstaltung wurde im Hoch- und Spätmittelalter ein spielerischer Wettstreit in höfischem Rahmen. In diesem Rahmen funktioniert das Turnier „als Kampfspiel [...] [und] Gesellschaftsspiel“247, und als solches gehört es in die „Sphäre der Freundschaft, die nur den begrenzten Kampf erlaubt“248. Die Wechselwirkung zwischen literarischer Darstellung und realen Turnierkämpfen249 muß nicht eigens betont werden, denn schon in der Lebensbeschreibung von William Marschall ist dieser Aspekt deutlich geworden. In der Gedankenwelt der höfischen Romane sind Ritterschaft und Turnier eng verknüpft:250 Die Turniere und Zweikämpfe 244 Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991, S. 19. 245 Ebd. S. 20. 246 Ebd. S. 22. 247 Fleckenstein, Josef: Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland. In: Ders. (Hrsg): Das ritterlicher Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 80) Göttingen 1985, S. 229-256, S. 244. 248 Fleckenstein, Josef: Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland. S. 234. 249 Jackson, William Henry: Das Turnier in der deutschen Dichtung des Mittelalters. In: Fleckenstein, Josef (Hrsg.): Das ritterlicher Turnier im Mittelalter. S. 257-295,S. 278. 250 Ebd. S. 262f.

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nehmen in den Texten deswegen einen so prominenten Platz ein, weil mit ihnen der wichtige Ehrgewinn, der immer mit Öffentlichkeit, mit der Anerkennung durch das Publikum verbunden ist,251 für die Akteure einhergeht. Die Verbindung zwischen Duell und Zweikampf kann also weniger über Gegnerschaft als über den Begriff der Ehre252 hergestellt werden. Für die mittelalterliche adlige Elite sind Tapferkeit und Ehre zweifellos zentrale Werte, wobei Ehre „ ‚Eingebundenheit in die Tradition fester Normen’, äußeres ‚Ansehen’, soziale ‚Position’, [...]‚Freiheit und Besitz’, ‚Recht’“253 meint; „sie ist die ‚Figura’ des adligen Mannes in der Gesellschaft“254. Ehre soll hier im Folgenden mit Pierre Bourdieu als ‚symbolisches Kapital’255 verstanden werden, das in der Verschwendung im Kampf entsteht.256 Der Begriff der Ehre257 betrifft das Subjekt selbst, seine Beziehung zu anderen, zur Gruppe, zu der es gehört, und die Wertung seiner Handlungen und Verhaltensweisen258 – man beachte die Parallelen zum Freundschaftsbeg-

251 Ebd. S. 276. 252 Vgl. dazu Zunkel, Friederich: Ehre. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 1-63; Scheyhing, Robert: Ehre. In: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte. Berlin 1971. Bd. 1, Sp 846f.; Vogt, Ludgera: Die Modernität der Ehre. In: Ethik und Sozialwissenschaft 10 (3) 1999, S. 335-344. Im gleichen Heft dazu Ehrismann, Otfried: „Die Ehre ist – die Ehre“, oder: zur Innen- und Außen-Perspektive der Ehre. S. 348-350 sowie Schuster, Peter: Die Modernität der Ehre: historische Zweifel. S. 370-372; Haubrichs, Wolfgang: Ehre und Konflikt. Zur subjektiven Konstitution der adligen Persönlichkeit im früheren Mittelalter. In: Gärtner, Kurt / Kasten, Ingrid / Shaw, Frank (Hrsg.): Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Tübingen 1996, S. 35-58. 253 Müller, Achatz von: Schauspiele der Gewalt. Vom Zweikampf zum Duell. In: Schultz, Uwe (Hrsg.): Das Duell. Der tödliche Kampf um die Ehre. Frankfurt a.M., Leipzig 1996, S. 1233, S. 17. 254 Müller, Achatz von: Schauspiele der Gewalt. S. 17. 255 Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übers. v. Günter Seib. Frankfurt a.M. 1987, S. 218ff; Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1976, S. 11ff. und S. 335ff., bes. S. 345-357. 256 Friedrich, Udo: Die ‚symbolische Ordnung’ des Zweikampfs im Mittelalter. In: Braun, Manuel / Herberichs, Cornelia (Hrsg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. München 2005, S. 123-158. 257 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft. S. 31: „Was man das Ehrgefühl nennt, ist nichts anderes als die kultivierte Disposition, der Habitus, der jedes Individuum in die Lage versetzt, von einer kleinen Anzahl implizit vorhandener Prinzipien aus alle die Verhaltensformen, und nur diese, zu erzeugen, die den Regeln der Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung entsprechen, und zwar dank eines solchen Erfindungsreichtums, wie ihn der stereotype Ablauf eines Rituals keineswegs erfordern würde.“. 258 Vogt, Ludgera / Zingerle, Arnold: Zur Aktualität des Themas Ehre und zu seinem Stellenwert in der Theorie. In: Diess. (Hrsg.).: Ehre. S. 9-34, S. 16.

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riff – also „Identität [...], Status [...], Moralität“259. Die Ehre des Ritters der höfischen Epik260 ist sowohl das Ergebnis von Zuschreibungen als auch von Verhaltensweisen des Einzelnen, die im Einklang mit dem Normenhorizont seiner Umgebung stehen und entsprechend bewertet werden.261 Erwerb von Ehre als symbolisches Kapital funktioniert in der Öffentlichkeit des Kampfes, denn Repräsentation ist hierfür die Bedingung.262 Daß Iweins Kampf mit Gawein unentschieden endet, bedeutet auf der Ebene der Ehrökonomik, daß beide symbolisches Kapital akkumulieren können. Dieser Kampfausgang stellt den einzig möglichen Kompromiß zwischen Freundschaft und der Ehrlogik dar, nach der die Niederlage des einen den Ehrzuwachs des anderen verkörpert.263 Insgesamt wird im Iwein ein Konzept von Ehre präsentiert, das „durch Sozialität und den Dienstgedanken geprägt ist. Diese Institution ist aber nur deshalb funktionsfähig, weil der nutzenorientierte Grundmechanismus der Ehre weiterhin in Kraft bleibt“264. Darüber hinaus kann das Iwein-Gawein-Verhältnis sowie seine Ambivalenz von Freundschaft und Kampf auch mit dem Verhältnis Iwein-Laudine parallelisiert werden,265 das in noch stärkerer und problematischerer Weise zwischen Nähe und Distanz schwankt, was einmal mehr deutlich werden läßt, daß Freundschaft als Nahbeziehung in den Kontext anderer wichtiger Nahbeziehungen wie in diesem Fall der Minne/Ehebeziehung gestellt werden muß. Welche kulturellen Muster von Zweikampf werden in den Freundschaftskämpfen bedient, und welche Rolle spielt dabei der Aspekt der Ehre? „Im Handlungsverlauf der Epen nimmt der Zweikampf breiten Raum ein und markiert fast immer Schlüsselstellen wie die Bewältigung von Kontingenz, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Hierarchisie259 Ebd. 260 Vgl. dazu auch Fischer, Hubertus: Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns ‚Iwein’. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 3) München 1983. 261 Vogt, Ludgera / Zingerle, Arnold: Zur Aktualität des Themas Ehre und zu seinem Stellenwert in der Theorie. S. 17. 262 Vogt, Ludgera: Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des „Imaginären“ am Beispiel zweier literarischer Texte. In: Vogt, Ludgera / Zingerle, Arnold (Hrsg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Frankfurt a.M. 1994, S. 291-314, S. 303. 263 Vgl. ebd. S. 303. 264 Ebd. S. 300f. 265 Sieverding, Norbert: Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram. Seine Bewertung im „Erec“ und „Iwein“ und in den Gahmuret- und Gawan-Büchern des „Parzival“. Heidelberg 1985, S. 127: „Hartmann gestaltet das Verhältnis zwischen Iwein und Gawein als beispielhafte Zweier-Beziehung zwischen Rittern. Bezüge zum Konflikt zwischen Iwein und Laudine werden dabei durch die Verwendung der gleichen Schlüsselwörter hergestellt und durch die ähnliche Thematik.“.

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rung sozialer Geltung oder die Verteilung von Frauen“266. In der Analyse des Iwein und der Freundschaft zwischen Iwein und Gawein wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Begegnungen der Freunde bzw. die Reflexion ihrer Beziehung wichtige Stationen des Textes markieren, und daß der Zweikampf der beiden den Höhepunkt des Freundschaftsweges und des Textes insgesamt darstellt.267 Udo Friedrich verweist darauf, daß die literarische Darstellung von Zweikämpfen Ausdruck dahinterliegender, vielschichtiger kultureller Deutungsmuster ist: „Der Zweikampf kann damit als Paradigma für die Wirksamkeit der symbolischen Ordnung aufgefaßt werden, die ganz unterschiedlich kodiert sein kann.“268 Entsprechend lassen sich auch für die Freundeskämpfe verschiedene Konfigurationen ausmachen. So läuft die Initiation zu einer möglichen Freundschaft zwischen Erec und Guivreiz sowie Erec und Mabonagrin über den Zweikampf bzw. stellt die Formalie Freundschaft nach dem Ende der Auseinandersetzung mit Waffen sicher, daß man zu einem neutralen bis freundlichen Umgang miteinander kommen kann. Der zweite GuivreizKampf, der mit der Niederlage Erecs endet, bedeutet keine Krise der Freundschaft, weil Erec selbst seine Kampfbereitschaft als Torheit erkennt. Besonders hervorstechend ist die erotische Sprache in der Beschreibung des Kampfes zwischen Erec und Mabonagrin: hie huop sich herzeminne / nâch starkem gewinne. / si minneten sunder bette: / diu minne stuont ze wette, / sweder nider gelæge; / dem wart der tôt wæge. / mit scheften si sich kusten / durch schilte zuo den brusten / mit solher minnekrefte / daz die eschînen schefte / kleine unz an die hant zekluben / und daz die spiltern ûfe stuben.269

Die für beide Seiten lebensgefährliche Konfrontation wird mit Ausdrücken belegt, die sonst die Sphäre größter Anziehungskraft bezeichnen, was sicher auch mit dem Hintergrund dieses Kampfes, der Liebesabgeschlossenheit von Mabonagrin und seiner Dame zusammenhängt. Die unentschiedenen Zweikämpfe – Iwein-Gawein, Parzival-Gawan, CligèsGauvain –, denen zumeist eine alter-ego-Konstruktion der Freundschaft der Beteiligten zugrunde liegt, heben die Egalität, vielleicht auch Spiegelbildlichkeit der Freunde hervor.270 266 Friedrich, Udo: Die ‚symbolische Ordnung’ des Zweikampfs im Mittelalter. S. 127. 267 Der Blick auf die Erzählperspektive verdeutlicht, daß es weniger um den Rechtsstreit in diesem Kampf geht, als „um das Problem des Kampfes zwischen Freunden“. Siehe: Hübner, Gert: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im „Eneas“, im „Iwein“ und im „Tristan“. (Bibliotheca Germanica, 44) Tübingen, Basel 2003, S. 144. 268 Friedrich, Udo: Die ‚symbolische Ordnung’ des Zweikampfs im Mittelalter. S. 127. 269 Erec. 9106-9117. 270 Vgl. zum Zweikampf auch: Huber, Christoph: Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den ‚Erec’-Romanen Chrétiens und Hartmanns und zum ‚Prosa-Lancelot’. In: Gärtner, Kurt / Kasten, Ingrid / Shaw, Frank (Hrsg.): Spannungen und Konflikte mensch-

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In all diesen Zweikämpfen, besonders in den Gerichtszweikämpfen in dieser Reihe, geht es um den „Typus theatralischer Gewalt“271. Der Kampf bringt dabei zum Vorschein, was sonst unsichtbar bliebe. „Verborgen sind [...] die beiden Hauptakteure: das Recht und die Ehre. Sie erscheinen erst im eigenen Sieg bzw. der Niederlage der anderen Seite. Die Enthüllung des Verborgenen kann somit überhaupt als der eigentliche Sinn des rituellen Konflikts gelten.“272 Überträgt man das auf die Zweikämpfe der Texte der höfischen Epik, um die es hier geht, ergibt sich folgendes Bild: Bei Iwein und Gawein haben wir einen komplizierten Fall, denn das Recht ist auf der Seite der Schwester, die Iwein vertritt, die Ehre aber auf beiden Seiten, wie der unentschiedene Kampfausgang zeigt. Beide haben sich gleichwertig erwiesen, das Recht aber, um das es in diesem Gerichtskampf ging, wird dann erst in Artus’ Urteil offenbar. Ebenso verhält es sich in Cligès’ Kampf im Turnier mit Gauvain, der ebenfalls beendet wird, als die Gleichwertigkeit der Kämpfenden feststeht und daher eine Fortführung als unnötig erscheint. Das ist auch vor dem Hintergrund der agonalen Grundstruktur interessant, bei der am meisten Ehre durch den Sieg über einen möglichst sehr angesehenen Gegner zu erringen ist.273 Die Ehrökonomik wird hier dadurch in Gang gehalten, daß es für Gauvain ein Bedürfnis und eine Ehre ist, sich mit Cligès im Turnierkampf zu messen, und für beide einen Zugewinn an Ehre bedeutet. Auch der Kampf zwischen Parzival und Gawan wird abgebrochen, als Parzival den Namen des Freundes und Verwandten erfährt,274 doch ist zu diesem Zeitpunkt seine Überlegenheit bereits deutlich geworden, Gawan kann sich nur noch mit Mühe aufrecht halten. Hier erfährt diese Freundschaft eine Situation der Asymmetrie, allerdings kann man darin auch den Ausgleich für die bis dahin bestehende Asymmetrie sehen, die dadurch markiert war, daß Gawan den vollendeten Artusritter repräsentierte, während der Tor Parzival erst die Gepflogenheiten der Ritterwelt lernen mußte. Was die Konstellationen Iwein-Gawein und Parzival-Gawan strukturell verbindet, ist die Einführung der Beziehung und die Wiederbegegnung im Zweikampf. Wie bereits ausgeführt wurde,275 treten für den Rezipien-

271 272 273 274 275

lichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. S. 59-73; Jones, Martin H.: Schutzwaffen und Höfischheit. Zu den Kampfausgängen im ‚Erec’ Hartmanns von Aue. In: Gärtner, Kurt / Kasten, Ingrid / Shaw, Frank (Hrsg.): Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. S. 74-90. Müller, Achatz von: Schauspiele der Gewalt. S. 22. Ebd. S. 23. Zu Ehre und Agonalität siehe auch Haferland, Harald: Höfische Interaktion. S. 73ff. Zur Frage des Erkennens siehe Green, Dennis H.: The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival. Cambridge u.a. 1982, S. 226f. Siehe Kap. III, 1.1.

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ten – in der narrativen Abfolge – Iwein und Gawein im Iwein zunächst nicht als Freunde, sondern als mögliche Rivalen für das Brunnenabenteuer in Erscheinung, und am Ende von Iweins aventiure-Weg steht dann der Gerichtskampf der beiden, der im Moment des (Wieder-) Erkennens beendet wird. Die Begegnung Parzival-Gawan steht ebenfalls im Zeichen eines potentiellen Zweikampfes, da Parzival in seinem Trance-Zustand bereits Segramors und Keie aus dem Sattel gehoben hat, als Gawan auf den Plan tritt, die Situation erfaßt und so einen weiteren Zusammenstoß verhindert.276 Wenn sie dann wieder aufeinandertreffen, geschieht das wie im Iwein im Zweikampf, auch wenn es sich dabei um ein Mißverständnis handelt. Ebenso steht die erste Begegnung Gauvains mit Cligès im Zeichen des Turniers, also des spielerischen Wettkampfs, der aber immer den vollen Einsatz aller Kräfte und Geschicklichkeiten verlangt und deshalb Ehre für beide Parteien verspricht. Mit dieser Struktur könnte auch die Beziehung Erec-Guivreiz gelesen werden, die mit ihrem merkwürdig gedoppelten Zweikampf einiges Kopfzerbrechen bereitet.277 Sind die zweimalige Begegnung Erecs mit Guivreiz und die beiden Zweikämpfe als Synonym einer Entwicklung Erecs oder einer Entwicklung der Beziehung zu lesen? Beide Begegnungen können als Darstellung der Defizite Erecs gedeutet werden, bei der ersten Herausforderung Guivreizs verhält er sich feige, weil er den Kampf vermeiden will, das zweite Mal ist ein Kampf in seiner Situation unangemessen.278 Dorothea Klein liest den Erec als Erzählung männlicher Initiation, bei der die Guivreiz-Kämpfe eine Stufe darstellen.279 Für den zweiten Kampf gibt es nach Klein keinen wirklichen Anlaß, er habe den Sinn, Erec ein kritischeres Verhältnis zum Einsatz von Gewalt beizubringen.280 276 Auch in Bearosche kann ein Zusammenstoßen der beiden verhindert werden. 277 Zum ritterlichen Zweikampf siehe u.a. Dirscherl, Ulrike: Ritterliche Ideale in Chrétiens „Yvain“ und im mittelenglischen „Ywain and Gawain“. Von „amour courtois“ zu „trew luf“, vom „frans chevaliers deboneire“ zum „man of mekyl myght“. (Sprache und Literatur: Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik, Bd. 33) Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 175ff. 278 Sieverding, Norbert: Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram. S. 46f. u. S. 57f. Sieverding stellt einen Bezug zwischen dem Paar Erec-Enite und den Aventiure-Kämpfen her: „Die erste Begegnung des Paares mit Guivreiz hat also die Funktion festzustellen, ob Erec und Enite als Paar bereits wieder dem von ihnen vor dem ‚verligen’ erreichten Standard zu entsprechen vermögen.“ (S. 46); Vgl. weiterhin: Jones, Martin H.: Changing Tack or Showing Tact? Erec’ Self-Criticism in the Second Encounter with Guivreiz in Hartmann von Aue’s Erec. In: Honemann, Volker / Jones, Martin H. / Stevens, Adrian / Wells, David (Hrsg.): German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Century. Studies presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday. Tübingen 1994, S. 229-243. 279 Klein, Dorothea: Geschlecht und Gewalt. Zur Konstitution von Männlichkeit im ‚Erec’ Hartmanns von Aue. In: Meyer, Matthias / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.): Literarische Leben. S. 433-463. 280 Ebd. S. 457f.

1. Männlich-symmetrische Beziehungen

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Eine andere Möglichkeit, diesen gedoppelten Zweikampf als Veränderung der Nahbeziehung zu deuten, besteht darin, ihn im Zusammenhang mit dem Männlichkeitsideal höfischer Epik zu lesen. Der erste Kampf steht in diesem Sinn im Zeichen von Reziprozität als gegenseitiger Anerkennung.281 Die freundschaftliche Wendung nach dem Kampf beruht auf der Annahme, einen ebenbürtigen höfischen Gegner gehabt zu haben. Nur wer ein vollkommener höfischer Ritter ist, kann zum Freund werden und sich als solcher erweisen. Der zweite Kampf Erecs mit Guizreiz hätte dann eben die Funktion, diesen Nachweis zu erbringen. Der Freundeskampf ist somit symbolisch aufgeladen: Es geht gar nicht um eine tatsächliche Konfrontation der beiden, sondern dem Rezipienten wird gesagt, daß die Tatsache, daß sie nun noch mal – unerkannt – miteinander kämpfen, demonstriert, daß sie ebenbürtige Gefährten sind. Iwein und Gawein, Parzival und Gawan282 kämpfen als Freunde miteinander, und so müssen Erec und Guivreiz nach diesem Muster eben auch als Freunde miteinander kämpfen,283 nachdem sie schon als Fremde und Gegner sich gemessen haben. Was hier vorgeführt wird, ist die „Synchronisierung von Rivalität und Freundschaft“284. Statt eine Veränderung im Sinne einer Entwicklung des Verhältnisses Erec-Guivreiz in den Zweikämpfen zu sehen, ist aber ebenso denkbar, daß hier zwei verschiedene, kulturell unterschiedlich codierte Zweikampfund Konfliktregulierungsmodelle vorgeführt werden. Zunächst trifft der Protagonist auf einen Unbekannten, der ihn herausfordert, und entsprechend präsentiert uns der Text den ersten Zweikampf als Auseinandersetzung mit einem Gegner / Feind. Beim zweitenmal treffen zwei Freunde aufeinander, die durch gegenseitige Anerkennung der Kampfesleistung bereits Gefährten geworden sind. Steht also die erste Begegnung ganz im Zeichen gegnerischen Wettstreits, in dem vor allem Erec seine Tapferkeit beweisen muß und in dem die Gleichwertigkeit der Kämpfenden im Vordergrund steht, so ist die zweite Auseinandersetzung Folge der Freundschaft, denn Guivreiz ist unterwegs, um Erec zu suchen. Für den durch die Verletzung des ersten Kampfes geschwächten Erec ist es daher keine Schande, vom Freund aus dem Sattel gehoben zu werden, entscheidend ist nicht der Ausgang des Waffengangs, sondern daß Erec sich diesmal ohne 281 Haferland, Harald: Höfische Interaktion. S. 129f. 282 Für Parzival und Feirefiz gilt das auch. 283 Siehe auch Mindnich, Ann: male bonding – Männerfreundschaft und ritterlicher Zweikampf in Bertholds von Holle „Demantin“. In: Baisch, Martin / Haufe, Hendrikje / Mecklenburg, Michael / Meyer, Matthias, Sieber, Andrea (Hrsg.): Aventiuren des Geschlechts. S. 233-258. 284 Hasebrink, Burkhard: Erecs Wunde. Zur Performativität der Freundschaft im höfischen Roman. In: Oxford German Studies 38, 2009, S. 1-11.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

zu zögern zum Kampf entschließt und ihm nicht wie in der ersten Begegnung auszuweichen sucht. Damit hat er sich als würdiger Gefährte des neuen Freundes erwiesen. Es geht hier eben nicht „[a]rchaische Kampfeslust [...] unmittelbar über in die herzlichsten Freundschaftsbekundungen“285. Um Ehre geht es auch in der Herausforderung Gunters zum Zweikampf durch Siegfried bei seiner Ankunft in Worms. Dabei kollidieren jedoch unterschiedliche Ehrauffassungen: Gunters Ehre leitet sich aus seinem Königtum ab, hinter das er als Person zurücktritt. Siegfrieds Ehrkonzept beruht auf physischer Stärke und Überlegenheit, mittels deren er jederzeit seine Position verteidigen kann, sie ist individuell und ganz von seiner Person abhängig.286 Aber auch Siegfrieds Ehre ist vom Hof abhängig, und zwar insofern, daß Hagen mit seinen Erzählungen von Siegfrieds Taten dessen Ehre und Ruhm für den Hof präsent werden läßt. Zusammenfassend kann konstatiert werden, daß der Zweikampf vor Gericht oder im Turnier mit der Freundschaft der Protagonisten vereinbar ist, weil dabei gar nicht die Nahbeziehung der Kontrahenten verhandelt wird, sondern vielmehr Kampffähigkeit, Ehre und Tapferkeit. Ebenso aber führt das Turnier oder der Zweikampf in nuce die Ambivalenz männlicher Freundschaft im höfischen Roman vor: Der Andere ist immer zugleich der potentielle Freund und der potentielle Rivale.287 Die Dynamik und die Transgression von Freundschaft werden auf diese Weise in der Zweikampfsituation besonders deutlich demonstriert. Der Zweikampf kann als Ausdruck von Rivalität und Antagonismus, als Konfrontationsmoment gelesen werden und damit als Krise der Freunde, die unerkannt miteinander kämpfen. Aber das ist, wie gezeigt wurde, nicht die einzige Möglichkeit, den Freundeskampf zu interpretieren. 285 Gephart, Irmgard: Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue Erec. (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung, Bd. 8) Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 56. 286 Zur Ehre im Nibelungenlied vgl. u.a. Falk, Walter: Das Nibelungenlied in seiner Epoche. S. 100-114. 287 Im Wolfdietrich wird das eindrucksvoll illustriert: Wolfdietrich und Ortnit sind ein Beispiel dafür, wie aus Rivalen Freunde werden – Einheit und Identität der Freunde werden über den Tausch der Rüstungen symbolisiert.

2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Beziehungen

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2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen Konnten für den Bereich der Männerfreundschaften auf der horizontalen Bindungsebene eine große und facettenreiche Bandbreite von Nahbeziehungen beschrieben werden,305 für die sich sehr unterschiedliche Kontexte anbieten, fällt die Bestandsaufnahme weiblicher Nahbeziehungen wesentlich knapper und begrenzter aus. Die höfischen Romane stellen Ehe und höfische Liebe und damit die Geschlechterbeziehung sowie daneben die männliche homosoziale Bindung in den Mittelpunkt. Bindungen oder gar Freundschaften zwischen Frauen bleiben dagegen marginalisiert. Zwar leiden die Texte kaum unter einem Mangel an weiblichem Personal oder Auftritten von interessanten einzelnen Frauenfiguren oder auch Gruppen von Frauen. Bei ersterem denke man nur an Ginover, Laudine, Isolde, Orgeluse, Cundrie, Enite, Dido, Fenice, bei letzterem an die Frauen in Brandigan oder an den weiblichen Hofstaat um Arnive auf Schastel marveille im Parzival. Doch stehen dabei in der Regel nicht die Beziehungen der Frauen untereinander im Vordergrund, außer in der typischen Konstellation von Herrin und Vertrauter, also in der asymmetrisch-weiblichen Beziehung wie wir sie in den Paaren Dido-Anna, Laudine-Lunete, Isolde-Brangäne oder FeniceThessala präsentiert finden. Vielmehr werden in den genannten Fällen eines weiblichen Hofstaats Gruppen von Frauen im Sinne höfischer Repräsentation dargestellt. Noch schwieriger wird es bei der Suche nach weiblich-symmetrischen Bindungen. Bei der Begegnung Enites mit Ginover könnte man davon sprechen, doch nimmt sich Ginover Enites in eher mütterlicher Art an. Und nur eine kurze Episode markiert die zunächst durch Mißtrauen und Konkurrenz charakterisierte Begegnung zwischen Enite und Mabonagrins Dame, die dann nach Erecs Sieg durch Enites Initiative freundschaftliche Züge annimmt. Eher noch stößt man in den heldenepischen Texten auf symmetrischfreundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen. Im Nibelungenlied begegnen sich Kriemhild und Brünhild zunächst freundlich-aufgeschlossen oder in der Kudrun stellen sich Ortrun und Hildburg gegen den Willen der Königin Gerlint auf die Seite Kudruns, die unter Gerlints Drangsalierung leidet.

305

Zu den horizontalen Bindungen treten dann unter IV. 3. noch die männlichen Beziehungen der vertikalen Ebene hinzu.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

Ein weiteres Problem besteht darin, diese wenigen Konstellationen vergleichbar den männlichen Bindungen in den historischen Kontext einzuordnen. Vor allem für den weltlichen Bereich gestaltet es sich schwierig, hochmittelalterliche Textzeugnisse ausfindig zu machen, die einen möglichen Beitrag dazu enthalten. So liegt etwa Christines de Pizan theoretisches Werk Le Livre de la Cité des Dames zeitlich deutlich später und muß zudem in Anlage und Thematik als ein Sonderfall gelten. Christine stellt dezidiert weibliche Solidarität und konstruktive Beziehungen zwischen Frauen in den Mittelpunkt ihres Textes, so schon gleich zu Beginn: Drei Frauen erscheinen Christine und sagen ihr, ihr komme es zu, eine Stadt der Frauen zu errichten: „Du aber, teure Freundin, verdienst es, in deiner Verwirrung und Traurigkeit von uns aufgesucht und getröstet zu werden.“306. Aber nicht nur für mittelalterliche Kontexte ist es schwierig, Aussagen über weibliche Nahbeziehungen zu treffen, insgesamt hat das Thema weibliche Freundschaft in historischen Untersuchungen bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren,307 und das bedeutet, daß kaum Modelle308 für Beziehungen zwischen Frauen außerhalb der gängigen heteronormativen Perspektiven zur Verfügung stehen. Sucht man weibliche Pendants zu den berühmten männlichen Freundschaftspaaren in Literatur und Geschichte, muß man feststellen, daß es sie nicht gibt. Nicht, weil sich keine Texte finden, die Nahbeziehungen zwischen Frauen darstellen, sondern weil diese nicht in dem Maße wie männliche Freundschaften in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind. Sicherlich liest man von Frauenfreundschaften bei Rousseau, Jane Austen oder Samuel Richardson, aber es sind keine bekannten, unter dem Stichwort Freundschaft kanonisierten Paare wie etwa Orest und Pylades oder Achill und Patroklos. Und in anderen, neuzeitlichen Hochkonjunkturphasen von Freundschaft wie in der Empfindsamkeit oder der Romantik gibt es prominente Frauen in den Freundschaftskreisen, aber sie sind in der Rezeption oft nur Randfiguren bzw. interessieren in ihren Beziehungen zu den jeweiligen Männern. Auch beim Medienwechsel ergibt sich kaum ein anderes Bild: Das einzige halbwegs bekannte befreundete weibliche Filmpaar sind Thelma und Louise in dem gleichnamigen Film.

306 Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. Aus d. Mittelfranz. übers., mit einem Kommentar u. einer Einl. versehen v. Margarete Zimmermann. Berlin 1986, S.41. 307 So liegt etwa eine Studie für das Viktorianische England vor: Marcus, Sharon: Between Women. Friendship, Desire, and Marriage in Victorian England. Princeton, Oxford 2007. 308 Vgl. hierzu u.a.: Trask, Haunani-Kay: Eros and Power. The Promise of Feminist Theory. Philadelphia 1986.

2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen

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Janet Todd untersucht weibliche Freundschaften in der englischen und französischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts309 und unterscheidet dabei für ihre Analyse fünf Formen von weiblicher Freundschaft, die fünf Grundtypen markieren, sich aber untereinander überschneiden können: emotionale (sentimentale), erotische, manipulative, politische und soziale Freundschaften.310 Grundlage der emotionalen Freundschaft ist „a close, effusive tie, revelling in rapture and rhetoric“311; die erotische Nahbeziehung basiert auf physischer Anziehung und der entweder sporadischen oder dauerhaften Erfahrung homosexueller Liebe; in der manipulativen Bindung hat eine Frau Macht über eine andere und benutzt und kontrolliert sie; und politische Frauenfreundschaften schließlich haben einen stärker öffentlichen Charakter und sind auf gemeinsame Aktivität ausgerichtet. Vor allem die ersten beiden Typen sind eher einem privaten Bereich zuzuordnen und richten sich gegen Konventionen und Institutionen, während die soziale Freundschaft eher gegenseitige Unterstützung innerhalb der gesellschaftlichen Gegebenheiten verspricht.312 Für die mittelalterliche Literatur existiert keine vergleichbare Systematisierung, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil das spärliche Material eine solche Kategorienbildung und die entsprechende Zuordnung von Freundschaften zwischen Frauen zu diesen Kategorien schwierig macht. Todds Einordnungen geschehen anhand der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und können daher nicht unbesehen übernommen werden, sie sollen aber zumindest teilweise als Orientierung für die folgenden Betrachtungen dienen. 2.1 Symmetrische Beziehungen zwischen Frauen Eine der wenigen Episoden in den Epen und Romanen, in denen zumindest sporadisch eine symmetrische Beziehung zwischen zwei Frauen sichtbar wird, ist die Annäherung und schließlich Versöhnung zwischen Enite und Mabonagrins Frau. Nach Erecs Sieg nähert sich Enite der Dame, um sie in ihrem Leid zu trösten: „manec wehselmære / sageten si dô / von liebe und ouch von leide / und geselleten sich dâ mite / nâch wîplîchem site.“313. Bei Chrétien steht dagegen vor allem die Entdeckung der Verwandtschaft der beiden Frauen im Vordergrund. 309 310 311 312 313

Todd, Janet: Women’s Friendship in Literature. New York 1980. Ebd. S. 3. Ebd. Ebd. S. 3f. Hartmann von Aue: Erec. 9707-9711.

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IV Nahbeziehungen in der höfischen Epik

Ist hier von Freundschaft ‚weiblicher Art’ die Rede? „Frauen unter sich – das meint durchaus auch ein spannungsvolles Beziehungsgefüge, das erst über die Bewältigung der Konkurrenzangst zur Freundschaft wird.“314 Konkurrenz spielt somit offenbar sowohl in den männlichen wie in den weiblichen Nahbeziehungen eine nicht unbedeutende Rolle, wenn sie auch in den Kämpfen der Männer prägnanter zum Ausdruck kommt. Entscheidend ist, daß die Konkurrenz der Männer im Zweikampf, in der direkten Konfrontation, sichtbar gemacht und dort ausgehandelt und überwunden wird, während die weibliche Konkurrenzangst der Lösung von außen bedarf. Zudem suchen Frauen, so zeigt es zumindest der Erec, eine Situation, die andere Frauen ausschließt, so daß Konkurrenz durch Präsenz gar nicht erst eintreten kann. Um Konkurrenz in Gestalt von Rangordnung geht es auch im Nibelungenlied: Ein weiteres Beispiel für die Interaktionsebene weiblichsymmetrischer Nahbeziehungen ist das Verhältnis und vor allem die Auseinandersetzung zwischen Kriemhild und Brünhild. Die Braut Gunthers wird von Ute und Kriemhild herzlich am burgundischen Hof aufgenommen, die Begrüßung bei der Ankunft von Brünhilde ist eine freundschaftliche, wobei dieses freundschaftliche Verhalten als sozial-politische Interaktionsform zu verstehen ist, ebenso wie der Königinnen-Streit. Die unterschiedlichen Perspektiven der Frauen auf ihren eigenen Status und den der anderen veranlassen den Streit, bei dem es um die Frage der Symmetrie oder Asymmetrie, um die Hierarchisierung von Beziehungen jenseits der personalen Ebene geht. Die durch die Standeslüge315 in Gang gesetzte Konkurrenz und scheinbare Asymmetrie führt dazu, daß das anfangs distanziert-freundliche Verhältnis in offene Feindschaft umschlägt. Anthropologisch gesehen aber steht Brünhild ebensowenig auf einer Stufe mit Kriemhild wie Siegfried mit Gunther.316 Ausgestattet mit übergroßen physischen Kräften und magischem Wissen ist sie ein Fremdkörper in Burgund, ihre Heirat ist im Grunde ein Abstieg: In Island war sie Alleinherrscherin, als Gunthers Frau ist sie zwar Königin, hat aber ihre Unabhängigkeit und mit der Virginität auch ihre Kräfte eingebüßt – an 314 Giloy-Hirtz, Petra: Frauen unter sich. S. 86. 315 Vgl. dazu u.a.: Schulze, Ursula: Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man. Bedeutung und Deutung der Standeslüge und die Interpretierbarkeit des ‚Nibelungenliedes’. In: ZfdA 126 (1) 1997, S. 32-52; auf der Ebene der Deutung kann der Grund für Brünhildes Zorn in Siegfrieds Verletzung des Königtums gesehen werden, sie fühlt sich getäuscht und wünscht deshalb seinen Tod. Siehe dazu Bekker, Hugo: The Nibelungenlied. S. 69ff., S.134. 316 Vgl. dazu Schulze, Ursula: Brünhild – eine domestizierte Amazone. In: Bönnen, Gerold / Gallé, Volker (Hrsg.): Sagen- und Märchenmotive im Nibelungenlied. Dokumentation des Symposions von Stadt Worms und Nibelungen-Gesellschaft Worms e.V. vom 21.23.09.2001. Worms 2002, S. 121-141.

2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen

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einen Mann, der ihr nicht ebenbürtig ist und sie nur durch List gewonnen hat. Symmetrie zwischen den beiden Frauen wird in dieser Hinsicht durch die Negativzeichnung beider als Amazone und Teufelin hergestellt, die durch ihre destruktiven Kräfte und Aktivitäten die gesellschaftliche Ordnung bedrohen.317 Ein Beispiel funktionierender weiblich-symmetrischer Nahbeziehungen liefert dagegen die Kudrun. Kudrun wird von der potentiellen Schwiegermutter Gerlint degradiert und für niedere Arbeiten herangezogen, weil sie sich weigert, ihren Sohn Hartmut zu heiraten. Hier ist zunächst die weibliche Nahbeziehung ex negativo dargestellt, nämlich durch die potentielle Schwiegermutter, die ihre Machtposition ausschließlich dazu benutzt, der jungen Frau das Leben schwer zu machen. Weibliche Solidarisierung begegnet Kudrun in Ortrun, Hartmuts Schwester, der sie ihr an die Seite stellt, in der Hoffnung, die Freundschaft mit ihr könne sie umstimmen. Schon die Begrüßung Ortruns durch Kudrun hebt sie heraus – sie ist die einzige, die von Kudrun bei ihrer Ankunft in Ormanie mit einer physischen Geste, mit einem Kuß begrüßt wird. Hinzu kommt die Figur der Hildburg: Sie bittet darum, Kudrun beim Waschen helfen zu dürfen, und die Frauen verbünden sich als Leidensgenossinnen gegen Gerlint. Diese aus Mitgefühl und Solidarität geschlossene Freundschaft ist frei von Nutzenerwägungen, sondern vielmehr mit Nachteilen für Hildburg verbunden und hebt sich damit deutlich von den anderen, negativ gezeichneten Nahbeziehungen ab. Die Solidarisierung Ortruns und Hildburgs mit Kudrun markiert die Kooperation der Frauen, die im deutlichen Gegensatz zum Verhalten der verfeindeten Parteien und des gewalttätigen Konflikts des Epos’ steht.318 Weibliche freundschaftliche Beziehungen funktionieren damit in der Heldenepik als Solidarisierung in der Not.319

317 Schulze, Ursula: Amazonen und Teufelinnen. Darstellungsmodelle für Brünhild und Kriemhild im Nibelungenlied. In: Kronberger, Silvia / Müller, Ulrich (Hrsg.): Leonore = Fidelio. Die Frau als Kämpferin, Retterin und Erlöserin im (Musik-)Theater. (Wort und Musik: Salzburger Akademische Beiträge, 56) Anif/Salzburg 2004, S. 104-116. 318 Nolte, Theodor: Das Kudrunepos – ein Frauenroman? (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 38) Tübingen 1985, S. 56. 319 Zu Weiblichkeitsentwürfen in der Kudrun im Vergleich mit Frauenfiguren in anderen zeitgenössischen Textgattungen siehe u.a. Nolte, Theodor: Unde daz si waere ein wîp unwandelbaere: Weibliche Rollenbilder des ‚Kudrunepos’ im Vergleich mit hagiographischen und höfischen Frauenentwürfen. In: Tristram, Hildegard L. C. (Hrsg.): New Methods in the Research of Epic / Neue Methoden der Epenforschung. (Script Oralia, 107) Tübingen 1998, S. 223-249.

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2.2 Asymmetrische weibliche Beziehungen: Die Figur der Confidente Unter dem Stichwort weibliche Nahbeziehung/Freundschaft muß für die höfische Epik vor allem das Verhältnis zwischen Herrin und Confidente diskutiert werden, so wie das für den Iwein bereits vorgeführt wurde. Auch diese Nahbeziehung ist am Hof lokalisiert bzw. erwächst aus den Strukturen und Stratifizierungen der Hofgesellschaft und kann zunächst einmal als Vertrauensverhältnis charakterisiert werden, dessen wichtigste Merkmale unbedingte Loyalität sowie Beratung und Unterstützung sowohl in politischen Fragen wie in Liebesangelegenheiten sind. Lunete, Anna, Brangäne, weniger ausgeprägt auch Thessala im Cligès erfüllen das Rollenbild der Vertrauten, der Confidente,320 deren Vorbilder in der antiken Literatur zu suchen sind. Auch bei weiblichen Nahbeziehungen greifen also Erzählmuster – Anna, Lunete und Brangäne sind als Vertraute ihrer Herrin Ausdruck einer narratologischen Konstellation. Das bedeutet, auch hier ist von literarischen Mustern mit wiederkehrenden typischen Konstellationen einerseits und Interaktion dieser Nahbeziehungen mit den Kontexten der Zeit andererseits auszugehen. Auf der Textebene finden sich deutliche Signale der strukturellen Ähnlichkeit der Vertrauten, besonders für Lunete und Brangäne: Beide werden mit dem gleichen Attribut, dem Mond321 bedacht, ein Epitheton, das Virginität und Wissen als wesentliche Eigenschaften aufruft. Wurde im letzten Abschnitt festgestellt, daß es für die männlichen Helden trotz Freunden und Helfern kennzeichnend ist, daß sie letztlich doch alleinige Akteure ihrer Abenteuer sind, da es um ihren Weg geht, so gehört im Gegensatz dazu zum Bild der weiblichen Protagonistinnen in der Regel die Vertraute, die Freundin. Zwar hat beispielsweise Tristan in Kurvenal einen Unterstützer, dessen Beziehung zu ihm strukturell eine ähnliche Beziehung wie die von Brangäne zu Isolde ist, aber dennoch lassen sich grundsätzliche Unterschiede ausmachen. Tristan agiert viel unabhängiger von Kurvenal als Isolde von Brangäne; in gleicher Weise verhält es sich für Laudine und Lunete. Lunete ist als Vertraute in allen wichtigen Phasen an Lunetes Seite präsent, während Iwein über weite Strecken auf sich gestellt ist – auch in der Interaktion mit Laudine trotz Lunetes Hilfe. Die wechselseitigen Abhängigkeiten in den asymmetrischen 320 Deist, Rosemarie: Gender and Power. S. 96. 321 Deist, Rosemarie: Sun and Moon: Constellations of Character in Gottfried’s Tristan and Chrétien’s Yvain. In: Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Arthurian Romance and Gender. S. 5065.

2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen

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Beziehungen der Frauen untereinander sind größer, ihre Handlungen enger miteinander verwoben. Wenn es in Konrads von Megenberg Ökonomik um die Struktur des weiblichen Hofes geht, die wir in etwa, wenn auch nicht ungebrochen, in der Organisation der Verhältnisse Laudine-Lunete, Dido-Anna, weniger vielleicht bei Isolde-Brangäne, erkennen können und in den Kanonisationsakten der hl. Elisabeth eine mögliche enge emotionale und vertrauensvolle Bindung zwischen Herrin und Hofdame deutlich wird, so zielt die Darstellung der Herrin-Vertrauten-Beziehung in der höfischen Epik vor allem auf die Problematik, also auf die Schattenseite dieses Verhältnisses. Das zeigt sich insbesondere in der Gestaltung der weiblichen Nahbeziehung im Iwein und im Tristan. Damit leisten die literarischen Texte eine Diskussion über weibliche Nahverhältnisse, die in anderen Textbereichen kaum geführt wird. 2.2.1 Fenice und Thessala Auch im Cligès ist die Struktur von Protagonistin und ihrer Vertrauten realisiert, allerdings in etwas anderer Form. Thessala ist die ältere Dienerin Fenices, die nur punktuell als Helferin ihrer Herrin und als Helferin der Liebenden auftritt. Chrétien hat hier das antike Vorbild der Amme und Zofe benutzt und für seinen Roman mehr oder weniger konventionell gestaltet. Thessala ist die mit Heilkräutern und magischen Tränken vertraute Alte, die ihr Wissen zum Wohlergehen ihrer Herrin einsetzt und dabei Listen und Täuschungsmanöver nicht scheut. Sie kommt ins Spiel, als Fenice sich in Cligès verliebt und einen Ausweg zwischen Ehe und Liebe sucht. Fenice versucht zwar, ihre Liebe geheimzuhalten, doch Thessala entgeht ihr verändertes Wesen nicht. Sie bemerkt sofort, wie schlecht es ihrer liebeskranken Herrin geht und dringt in sie mit dem Verweis auf ihre heilkundlichen und magischen Fähigkeiten. Fenice vertraut sich ihr schließlich an und schildert die Symptome ihrer Krankheit. Thessala erkennt darin die Liebeskrankheit, und nachdem sie erfahren hat, daß Fenice Cligès liebt und deshalb nicht die Frau des Kaisers werden will, weist sie ihr einen Ausweg aus dem Dilemma. Diese Unterredung führt das Vertrauensverhältnis der beiden vor: „La pucele aimme et loe et prise / Ceste bonté et cest servise. [...] La pucele sa mestre croit / Et mout s’i fie et asseüre. / L’une a l’autre fiance et jure, / Que cist consauz iert si teüz, / Que ja n’iert an avant seüz.“322. Die wesentlichen Konstituenten dieser 322 Cligès. 3217-3236: „Die junge Dame liebt und lobt und schätzt diese Hilfe und diesen Dienst. [...] Die junge Dame glaubt ihrer Meisterin, sie vertraut ihr sehr und ist sich ihrer

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Beziehung sind also wechselseitiges Vertrauen und die absolute Loyalität der Amme. Das ist auch daran ablesbar, daß zwar der Kaiser Fenice in Thessalas Obhut gegeben hat, doch diese sich nach der Aufforderung Fenices, ihr dabei zu helfen, nicht Alis Frau zu werden,323 nur noch ihrer Herrin verpflichtet fühlt.324 Fenice vergewissert sich ihrer Verschwiegenheit, verbietet ihr, mit irgend jemanden über das zu reden, was sie ihr erzählt325 und nennt erst dann den Namen des heimlich Geliebten. Dieser Verlauf des Gespräch ist nicht unähnlich dem bei Dido und Anna – auch Dido schildert der Schwester erst ihre Liebesqualen, bis sie schließlich auf das Drängen Annas hin den Namen nennt. Noch einmal hilft Thessala den Liebenden, nämlich als es darum geht, Fenices Tod zu inszenieren, und sie pflegt ihre Herrin auch nach den Mißhandlungen durch die Ärzte. Wirkt Fenice in der ersten Interaktion mit Thessala hilflos und auf die Hilfe der Amme angewiesen, so scheint sie diesmal selbstbestimmt und Herrin der Lage – sie läßt Thessala kommen und gibt ihr klare Anweisungen: „Quant Fenice sa mestre voit, / Lors cuide estre tote garie, / Tant l’aimme et croit et tant s’i fie.“326. Das bedeutet, daß sich hier eine Entwicklung des Verhältnisses vollzieht, indem sich Fenice von ihrer Vertrauten emanzipiert. Thessala unterscheidet sich deutlich von den anderen Figuren der Vertrauten, sie steht mehr als diese in der antiken Tradition der Amme und Dienerin: Sie hat Fenice von klein auf aufgezogen und ist erfahren in Magie und anderen dunklen Künsten.327 Alles Handeln Thessalas ist nur auf Fenices Wohlergehen ausgerichtet, sie hat nicht die leisesten Bedenken, den Kaiser mit Hilfe ihres Zaubertranks zu betrügen, denn die einzige wichtige Instanz für sie ist Fenice.328 Ihre Rolle und Aufgabe besteht in der völligen Unterordnung unter die Wünsche der Herrin ohne Anspruch auf eine eigene Position.329 Und zudem wird für diese Beziehung keine Krise, keine Problematisierung erzählt, was sie deutlich von den anderen Paaren, vor allem Lunete-Laudine und Brangäne-Isolde unterscheidet.

323 324 325 326 327 328 329

sicher. Die eine versichert und schwört der anderen, diesen Plan geheim zu halten, damit er nicht bekannt wird.“. Cligès. 3194-95. Deist, Rosemarie: Die Nebenfiguren in den Tristanromanen Gottfrieds von Straßburg, Thomas’ de Bretagne und im ‚Cligès’ Chretiens de Troyes. S. 24f. Cligès. 3126-3129. Cligès. 6302-6304: „Als Fenice ihre Meisterin erblickt, glaubt sie schon ganz gesund zu sein, so se.r liebt sie Thessala und glaubt und vertraut ihr.“. Cligès. 3002-3010. Deist, Rosemarie: Die Nebenfiguren in den Tristanromanen Gottfrieds von Straßburg, Thomas’ de Bretagne und im ‚Cligès’ Chretiens de Troyes. S. 24f. u. 43. Ebd. S. 46f.

2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen

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2.2.2 Dido und Anna Dido und Anna erfüllen das Schema der asymmetrischen weiblichen Nahbeziehung zunächst scheinbar unkompliziert. Die Vertraute ist hier zugleich Schwester, was strukturell aber im Grunde keinen Unterschied macht, allenfalls etwas die Asymmetrie mindert. Weniger vielschichtig erweist sich die Beziehung deshalb, da sie nicht in gleicher Weise wie die zwischen Laudine und Lunete oder Isolde und Brangäne in die Krise gerät und wieder hergestellt und stabilisiert werden muß, sondern von Dido im Moment ihrer Entscheidung zu sterben im Grunde beendet wird. Dido agiert unabhängiger von ihrer Vertrauten, auch wenn sie deren Rat sucht, und im Gegensatz beispielweise zu Laudine handelt Dido gegenüber der Vertrauten ganz aus eigenem Antrieb. Jedenfalls liefert uns der Text nicht wie bei Hartmann oder Chrétien Hinweise darauf, daß ihr Verhalten von Stimmungen und Reaktionen ihres Hofes gesteuert wird, was auch nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß der Erzähl-Fokus bei Heinrich von Veldeke in der Dido-Episode fast ausschließlich auf Dido, Eneas und Anna liegt. Was Anna mit Lunete und Brangäne unmittelbar verbindet, ist ihre Rolle als Beraterin in Liebesangelegenheiten. So wie Lunete Iwein und Laudine zweimal erfolgreich zusammenführt und Brangäne die Liebe von Isolde und Tristan ermöglicht, so rät Anna Dido dazu, Eneas ihre Liebe zu gestehen und ihn an sich zu binden. Angesichts des Leidens ihrer liebeskranken Schwester scheint ihr eine Erfüllung dieser Liebe das Beste zu sein. Doch welches Gewicht hat Annas Rat oder anders gefragt: Hätte Dido nicht auch ohne ihre Hilfe alles daran gesetzt, Eneas für sich zu gewinnen? Anna scheint mehr Spiegel der inneren Vorgänge Didos zu sein, eine Gesprächspartnerin, die mit ihren Argumenten eine Entscheidung forciert. Das Gespräch der beiden Schwestern ist die zentrale Szene in der Darstellung ihres Verhältnisses zueinander und soll daher in den unterschiedlichen Nuancen, die deutscher und französischer Eneasroman in der Gestaltung dieser Beziehung aufweisen, untersucht werden. Geplagt von Liebesqualen entfernt sich Dido nach einer schlaflosen Nacht von allen ihren Frauen und Zofen und sucht allein die Schwester auf. Sie vertraut ihr an, in Eneas verliebt zu sein, weshalb sie zu sterben fürchte, da sie aus Treue für Sicheus keinen anderen Mann lieben dürfe. Im Roman d’Eneas rät Anna der Schwester zur neuen Liebe, die alte Liebe und Treue zum toten Gatten sei töricht, sie hat lange gedauert330 und ist nun unnütz geworden. Zudem bringt Anna das wesentliche machtpoliti330 Roman d’Eneas. 1327ff.

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sche Argument: Sie verweist auf die Gefährdung für Didos Herrschaft und Besitz, die von aggressiven Nachbarn ausgeht, sie braucht einen Mann an ihrer Seite, der sie durch seine Waffenfähigkeit als Landesherrin unterstützen und verteidigen kann,331 denn es droht die Gefahr eines Mehrfrontenkrieges. Dido werde von allen Seiten von Feinden bedrängt, da sie keinen von diesen Männern zum Mann erwählt hat.332 Und Anna bringt noch ein weiteres Argument für die Verbindung mit Eneas – Dido sei gegen diese Liebe machtlos, sie könne dagegen ohnehin nichts ausrichten333, also sei es nur vernünftig, diesem übermächtigen Gefühl nachzugeben. Ähnlich verläuft das Gespräch schon in Vergils Aeneis: Anna sieht einen politischen Vorteil in der Verbindung Didos mit Aeneas und verweist ebenfalls auf die Gefährdung der Herrschaft durch die Nachbarn, und fügt dem noch hinzu: Warum solle Dido einen Mann verschmähen, den sie doch liebt?334 Dido folgt diesem Rat der Schwester. Nachdem aber klar ist, daß Eneas sie verlassen wird, zieht sie Anna nicht mehr ins Vertrauen. Sie befiehlt der Vertrauten nur mit falschen Erklärungen, einen Scheiterhaufen zu errichten. Anna, die Didos wahre Absichten nicht durchschaut, führt die Befehle aus und kommt erst zurück, als es zu spät ist – Dido hat sich bereits in das Schwert gestürzt und liegt auf dem Scheiterhaufen. Anna bezichtigt sich selbst, die Schwester getötet zu haben – sie führte ihre Befehle aus ohne zu ahnen, was sie bedeuteten.335 Bei Vergil schickt Dido Anna noch einmal zu Aeneas, damit sie ihn umstimme. Erst als auch das erfolglos bleibt, trifft sie die Vorbereitungen für ihren Tod und schließt Anna aus ihrem Plan aus. Auch bei Heinrich von Veldeke vertraut sich die liebeskranke Dido der Schwester an, auch hier wird die Heimlichkeit der Unterredung der beiden Frauen betont: Dido zieht sich mit Anna allein zurück, um ihr von der unerfüllten Liebe zu erzählen, allerdings fällt es ihr schwer, der Vertrauten zu offenbaren, wer der Mann ist. Wie im Roman d’Eneas argumentiert Anna in bezug auf den toten Gatten. Sie hält Didos Treue für den toten Sicheus für übertrieben, es sei Zeit, sich wieder dem Leben zuzuwenden. Allerdings fehlen hier die Hinweise auf die unmittelbaren Vorteile für die Landesherrschaft, die die erneute Verbindung mit einem Mann bedeuten würde. Annas Rat konzentriert sich ganz auf den Zustand Didos und auf die Vorzüge, die Eneas ihrer Ansicht nach aufweist. Nachdem Anna erfahren hat, daß Eneas der Mann ist, in den sich Dido verliebt hat, 331 332 333 334 335

Roman d’ Eneas. 1347-52. Roman d’ Eneas. 1353-64. Roman d’ Eneas. 1371-73. Vergil: Aeneis. 4. Buch, 31-53. Roman d’ Eneas. 2091.

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geht sie zu konkreten Handlungsanweisungen über: Sie rät Dido herauszufinden, wie es um seine Gefühle für sie bestellt ist, vielleicht sei er ebenfalls verliebt in sie und zeige es nur nicht, weil er sich als Mann besser beherrschen könne. Das Verhältnis ist deutlich anders gestaltet. Anna tritt sehr viel selbstbewußter, fordernder auf, sie unterbricht die Rede der Schwester immer wieder durch Fragen und urteilende Einwürfe. Sie sagt ihr, was richtig ist und was zu tun sei. Kaum das die Schwester ihr von der heimlichen Liebe berichtet hat, übernimmt sie den führenden Part im Gespräch – sie drängt Dido, nicht mehr vom Sterben zu reden, sondern ihr den Namen des Mannes zu nennen: Lâzet diese rede sîn / unde tuot den rât mîn, / daz is mêre wîsheit. / saget mir die wârheit: / wer is der sâlige man, / deme got der êren gan / daz ir in welt minnen? des bringet mich innen. / ich will û râten dar zû / beidiu spâte unde frû, / wande ich û wol gûtes gan. / waz ob ich solhen rât kann / dâ ir mite berihtet sît. / nû saget mir in, des is zît.336

Bereitwillig gibt Dido daraufhin alle Zurückhaltung auf und begibt sich ganz in Annas Hände: „ichn wil ûch niht helen, / swester, ich wil û bevelen / mîne êre und mîn leben. / ir solt mir rât dar zû geben.“337 Sie macht ihre ganze Existenz als Frau und Herrscherin vom Rat der Schwester abhängig und ist nach anfänglichem Zögern bereit, deren Vorschlägen zu folgen. Im Verlauf des Gesprächs vollzieht sich also eine Umkehrung der Rollenverteilung und der Hierarchie: Erscheint zunächst Dido als die Aktive, die Anna ins Vertrauen zieht, weil sie sich von ihr Hilfe erhofft, so wird sie während der Unterredung mehr und mehr auf eine passive Rolle beschränkt, die über ihr Unglück jammert und tausend Einwände hat, aber wenig tat- und entschlußfreudig wirkt. Anna hingegen, die als Vertaute ausgewählt wird und somit den Part der Zuhörerin hat, übernimmt währenddessen die Gesprächsführung, analysiert rational und überlegt die Situation, stellt Fragen und bewertet das Verhalten Didos und präsentiert ihr schließlich konkrete Handlungsanweisungen zur Lösung des Problems. Das Ende des Gesprächs ist durch die Einheit und Einigkeit der Schwestern markiert, die erst in dem Moment wieder aufgehoben wird, als Eneas Dido verläßt. Im Gegensatz zu Laudine macht Dido die Schwester nicht für die Ereignisse verantwortlich und sieht in ihrem Rat nicht die Ursache der eingetretenen Situation, sie klagt vielmehr sich selbst an, delegiert also nicht ihre Verantwortung als Herrscherin. Wie in der antiken und französischen Vorlage schließt Dido aber die Schwester und Vertraute bei ihrer letzten und wichtigsten Entscheidung aus. Sie verheimlicht ihre wahren 336 Eneasroman. 55, 1-14 (1507-1520). 337 Eneasroman. 55, 15-18 (1521-1524).

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Absichten, weil sie sicher sein kann, daß Anna alles daransetzen würde, um sie von ihrem Entschluß zu sterben abzubringen. Kein Mangel an Vertrauen liegt hier also vor, aber es findet auch keine Einbeziehung mehr statt. Man kann diesen Beziehungsverlauf analysieren, indem man ihn mit der anderen wichtigen Bindung der Didoepisode, nämlich der zwischen Dido und Eneas kontrastiert. Je weiter sich Dido auf Eneas einläßt und in Abhängigkeit zu ihm verfällt, desto weiter entfernt sie sich von ihrer Schwester. Auf dem Höhepunkt dieser Liebesverfallenheit, als Eneas sie verläßt, ist sie isoliert, da zu den beiden für sie wichtigsten Personen nur noch eine formale Beziehung besteht: sie fleht Eneas an zu bleiben und verwünscht sich selbst, ohne damit etwas zu erreichen, und Anna erteilt sie Anweisungen, ohne ihr den wahren Grund dafür zu nennen. Im Vergleich beider Beziehungen lassen sich weitere strukturelle Ähnlichkeiten feststellen: Didos Bindung sowohl zu Anna als auch zu Eneas ist von der Aufgabe ihrer Souveränität gekennzeichnet.338 Im vertraulichen Gespräch mit der Schwester offenbart sie ihre heimliche Liebe zum Trojaner Eneas und wird dabei als Sklavin ihrer Gefühle vorgeführt. Sie fällt zurück auf das Bett339 – im Roman d’Eneas fällt sie sogar in Ohnmacht340 – und klagt über ihre Schlaflosigkeit und schlechte körperliche Verfassung. Dido handelt noch selbst, als sie Anna von den anderen Hofdamen wegführt, um allein mit ihr zu reden. Doch danach übernimmt Anna die Initiative, zunächst, um alles über den Zustand ihrer Schwester zu erfahren, und dann, um sie zu beraten und das weitere Vorgehen zu entwerfen. Anna bringt Dido dazu, ihr den Namen des Geliebten zu nennen, sie ist Herrin der Situation, analysiert Didos Lage und sagt ihr schließlich, wie sie weiter vorgehen soll, um nicht noch unglücklicher zu werden. Anna also behält die Übersicht und Handlungsfähigkeit, zu der die liebeskranke Dido nicht mehr in der Lage ist. Anna versichert Dido ihrer guten Absichten und demonstriert, daß sie weiß, was ihre Herrin nun tun muß, „ich enwil ûch niht triegen: / welt ir bedwingen ûwern mût, / ich bewîse ûch, wie ir baz tût.“341, und präsentiert ihr sogleich den ersten Schritt, wobei die wirForm zeigt, daß sie die Sache der Schwester zu ihrer eigenen macht: „wir soln des beginnen / daz wir in ûwer minnen / solen innen bringen“342. 338 Monika Schausten verweist darauf, daß Dido, die in ihrer Position als Herrscherin Eneas überlegen wirkt, durch die Minne jedoch zur Unterlegenen wird. Schausten, Monika: Gender, Identität und Begehren: Zur Dido-Episode in Heinrichs von Veldeke „Eneit“. In: Bennewitz, Ingrid / Tervooren, Helmut (Hrsg.): Manlîchiu wîp, wîplîch man. S. 143-158, S. 153. 339 Eneasroman. 53, 28 (1454). 340 Roman d’Eneas. 1278, 1324. 341 Eneasroman. 56, 22-24 (1568-70). 342 Eneasroman. 56, 25-27 ( 1571-73).

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Dido wirkt unentschlossen, einerseits möchte sie auf den Vorschlag der Vertrauten eingehen, andererseits fürchtet sie bei einer allzu offenen Mitteilung ihrer Gefühle gegenüber Eneas um ihre Ehre. Aber Anna, die die Schwester für ihre mangelnde Konsequenz tadelt, weiß auch hier einen Ausweg. Freundliches Verhalten ohne allzu direkt zu werden, ist der richtige Weg, um mehr über Eneas’ Gefühle herauszufinden. In ähnlicher Weise ist Dido auch während des Gewitters auf der Jagd nicht mehr Herrin der Lage. Im Gegensatz zur Königin, die die Minnekrankheit quält, handelt Eneas aus der Situation heraus. Erst als er und Dido Schutz vor dem Unwetter suchen, wird sein Begehren durch Didos Schönheit geweckt: „do nam der herre Eneas / die frԁwen under sin gewant. / wol gischaffen er sie vant, / er begreif sie mit den armen. / do gebunde ime irwarmen / als sin fleis und sin blut. / do heter manlichen mut, / da mite giwan er di obirn hant, / der frԁwen er sich underwant.“343 Was folgt, kann im Grunde nur als Vergewaltigung344 gelesen werden, was den deutschen Eneasroman deutlich sowohl von Vergil, der auf diese Szene nicht im Detail eingeht, als auch von der französischen Vorlage unterscheidet. Der Vergleich mit dem Roman d’Eneas an dieser Stelle zeigt, daß Heinrich von Veldeke mit größerer Explizitheit für den Rezipienten darstellt, wie die Vorgänge einzuordnen sind: „cil fait de li ce que li semble, / ne li fait mie trop grant force, / ne la reïne ne s’estorce, / tot li consent sa volenté; / pieça que’el l’aveit desirré.“345. Dagegen heißt es im deutschen Eneasroman: „minnecliche er sie bat, / daz siv in gewerte, / des siv selbe gerte. / idoch sprach siv da wider, / und er legite sie da nider, / als ez Venus geriet. / si enmohte sich erwern niht. / er tet daz er wolde, / so daz er ir hulde / manliche behielt.“346 Diese Deutung wird unterstützt zum einen durch die sich anschließende Jagdmetaphorik – Dido gleicht einem erlegten Tier – , zum anderen durch den Ort. Statt in einer Höhle oder Grotte wie in den Vorlagen suchen Dido und Eneas Schutz unter einem Baum. Der Baum aber gehört zu den klassischen Bestandteilen des locus amoenus, der charakteristisch für die Minnedarstellung der Lyrik ist,347 besonders für die Pastorelle, in der die Liebesvereinigung in der Regel eine Vergewaltigung ist, wie zahlreiche Lieder der Carmina Burana belegen.

343 Eneasroman. V. 1834-42. 344 Vgl. Brandt, Wolfgang: Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der ‚Eneide’. Ein Vergleich mit Vergils ‚Aeneis’. (Marburger Beiträge zur Germanistik 29) Marburg 1969, S. 134. 345 Roman d’Eneas. 1522-26: „jener tut mit ihr, was er will, / er tut ihr keineswegs zu große Gewalt an, / noch verweigert sich die Königin, / sie gewährt ihm gänzlich seinen Willen; / seit langem hatte sie ihn begehrt.“. 346 Eneasroman. 1846-1855. 347 Man denke an Walthers von Vogelweide Under der linden.

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Auch hier also überläßt Dido den aktiven Part ihrem Gegenüber und überläßt sich ihren Emotionen. Die Fixierung auf Eneas ist durch die sexuelle Vereinigung endgültig besiegelt und der Selbstmord ist nur die tragische Konsequenz daraus.348 Hier aber zeigt sich ein entscheidender Unterschied der Beziehung Didos zu Anna gegenüber ihrer Beziehung zu Eneas. Im Verhältnis zur Vertrauten gewinnt Dido das Heft der Handlung zurück, indem sie allein den Entschluß faßt, sich umzubringen, ohne die Schwester einzuweihen, sie zugleich aber als Werkzeug für diesen Plan zu benutzen. Zum Abschluß der Beratungsszene hebt der Text die Einmütigkeit der Frauen hervor – „Der rât was gescheiden. / den frouwen den was beiden / vil vaste des ze mûte, / daz sie mit allem gûte / des hêren wole phlâgen, / und ob si daz gesâgen / und ob sie des worden innen, / daz her deheiner minnen / an frowen Dîdôn gerûchte“349 – , am Ende schickt Dido die Schwester mit einer Lüge fort, mit der Folge, daß beide Frauen nun ganz unterschiedliche Ziele verfolgen: Anna, in dem Glauben Dido zu helfen, von der unseligen Liebe zu Eneas loszukommen, trifft alle angeordneten Vorbereitungen, die Königin dagegen wartet nur, bis die Vertraute gegangen ist, um allein zu sterben. In ihrem letzten Monolog spricht Dido von Eneas und sich selbst, nicht aber von Anna. Hat zuvor die räumliche Nähe der Frauen ihr Verhältnis bestimmt, so dominiert bei Didos Selbstmord die räumliche Distanz: Anna klopft bei ihrer Rückkehr an die verschlossene Tür und sieht die tote Dido nur durch ein Loch der Tür auf dem Scheiterhaufen liegen. Auf diese Weise wird die im Laufe der

348 Dido ist Opfer der Liebeskrankheit. Für die Darstellung von Didos Liebe nimmt der Text – ebenso wie für Lavinias – das Modell der Liebe als Krankheit in Anspruch. Schlaflosigkeit, Wechsel von Kälte und Hitze und ständiges Denken an den Geliebten kennzeichnen Didos Zustand, der sie dazu bringt, eine Situation herbeizuführen, in der sie mit Eneas allein ist, gemäß dem Grundsatz, daß Minne nur durch Minne geheilt werden kann. Die Schlüsselszene für die Didominne ist daher der Jagdausflug. Hinter der Jagdszene und dem daraus resultierenden Liebeswahn der Königin steckt die bereits in der Antike gängige und im Mittelalter bis hin zu Shakespeare weit verbreitete Auffassung, daß die Sexualität der Frau ausgeprägter und weniger kontrollierbar sei und durch sexuellen Kontakt jeglicher Art – auch eine Vergewaltigung – ausgelöst werde. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum Dido nach der Vergewaltigung Eneas völlig verfällt und ihre Liebe zu ihm pathologische Züge annimmt, deren radikalster Ausdruck der Selbstmord ist und der zweifellos als Liebeskrankheit bezeichnet werden kann. Die Vergewaltigung führt dazu, daß Dido ihr Begehren ausschließlich auf Eneas richtet. Das antike Konzept der Liebeskrankheit – vor allem im Hinblick auf Plutarch und Galen – erfährt so in der Gestaltung der Didoepisode durch Heinrich von Veldeke eine entscheidende Änderung: zwar löst auch hier die unglückliche, unerfüllte Liebe die Liebeskrankheit aus, aber erst die gewaltsam herbeigeführte sexuelle Vereinigung hat die völlige Fixierung Didos auf Eneas zur Folge. Daher kann sie nicht ertragen, daß Eneas sie verläßt und bringt sich um. (Siehe auch: Krüger, Caroline: Dido – Herrscherin im Liebeswahn. In: Freiburger Universitätsblätter 2009, 183, S. 57-74). 349 Eneasroman. 57, 21-29 (1607-15).

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Liebesaffäre eingetretene Entfernung und Entfremdung der Frauen auch räumlich und visuell dargestellt.350 2.2.3 Isolde und Brangäne Das wohl komplexeste Beispiel in dieser Reihe ist zweifellos das Verhältnis zwischen Isolde und Brangäne, so wie es uns in Thomas’ und insbesondere in Gottfrieds Tristan vorgeführt wird. Gottfried gibt der Figur der Brangäne deutliche Konturen und Tiefe, indem er Überlieferungsstränge zusammenführt, ihr Verhalten plausibel motiviert und die enge Verbindung zu Isolde stärker ausarbeitet.351 Brangäne selbst sowie ihr Bindung an Isolde verdienen also vor allem in Gottfrieds Ausführung einige Aufmerksamkeit, denn in dieser Beziehung wird die ganze Ambivalenz und Vielschichtigkeit weiblicher Freundschaft im höfischen Roman ausgelotet.352 Kann und soll man aber diese Nahbeziehung überhaupt – wie auch die anderen Herrin-Confidente-Bindungen, aber beim Tristan drängt sich die Frage am deutlichsten auf – unter dem Stichwort Freundschaft diskutieren oder schließt das hierarchisierte Verhältnis der beteiligten Personen eine solche Zuordnung von vornherein aus? Werner Schröder nennt das Verhältnis zwischen Brangäne und Isolde ‚Freundschaft’, was in seinen Augen den Mordanschlag Isoldes als ohnehin schwerwiegende Tat noch schlimmer mache353 und betont, daß Isolde noch in dem Moment, als sie Brangäne in den Tod schickt, betrügt, indem sie einen „Freundschaftsdienst“354 von ihr erbittet – Brangäne soll für Isolde Kräuter sammeln, da diese vorgibt, sich nicht wohl zu fühlen. Das Problem, das sich hier stellt, ist die Frage nach dem Spannungsverhältnis

350 In der Aeneis kommt es nicht zu diesem Ausschluß der Öffentlichkeit, Didos Frauen sehen, daß sie sich in das Schwert fallen läßt, auf ihre Klage hin eilt Anna gleich zu der Sterbenden. Vgl. Aeneis, 4. Buch, 663-687. Anna klagt darüber, daß die Schwester sie nicht mitgenommen hat in den Tod, beschwört ihre Einheit. Vergil: Aeneis. 4. Buch, 677-679. 351 Nellmann, Eberhard: Brangaene bei Thomas, Eilhart und Gottfried. Konsequenzen aus dem Neufund des Tristan-Fragments von Carlisle. In: ZfdPh 120 (1) 2001, S. 24-38, bes. S. 32 u. 35. 352 Rasmussen, Ann Marie: The Female Figures in Gottfried’s Tristan and Isolde. In: Hasty, Will (Hrsg.): A Companion to Gottfried von Straßburg’s “Tristan”. (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture) Rochester, Woodbridge 2003, S. 137-157, S. 137. 353 Schröder, Werner: Isoldes Mordanschlag auf Brangaene im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg. In: Ders.: Kleinere Schriften, Bd. 5: Über Gottfried von Straßburg. Stuttgart 1994, S. 85-103, S. 89-92. 354 Ebd. S. 90.

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zwischen Freundschaft und Asymmetrie.355 Das Ideal und Postulat westlicher Kultur, Freundschaft bestehe nur zwischen Gleichen und sei eine private, auf gegenseitiger Sympathie basierende, zweckfreie Beziehung, nicht aber eine Bindung zu Abhängigen, geprägt von Herrschafts- und Nutzendenken, verstellt sowohl in gegenwärtiger, vor allem interkultureller, als auch in historischer Perspektive den Blick für den Facettenreichtum, die Variabilität und die Widersprüchlichkeit von Freundschaftsdiskursen und Freundschaftspraktiken. Dieses Verständnis hat aber dazu geführt, daß Freundschaft als Nahbeziehung zwischen Partner aufgefaßt wird, die auf Augenhöhe agieren, und die damit als Beziehung der horizontalen Ebene zugeordnet werden kann, während Bindungen zwischen Ungleichen auf der vertikalen Ebene liegen und entsprechend als Gefolgschafts-, Patronage- oder Herrschaftsverhältnisse klassifiziert werden müssen. Doch diese eindeutige Zuordnung funktioniert in der Praxis eher selten. Der Gefolgsmann kann auch der Freund sein, der deshalb besonders loyal ist. Hinzu kommt ein politisches Freundschafts- und Treueverständnis, das Freundschaft als Unterlassung aller Handlungen definiert, die dem anderen schaden könnten. Weiterhin wäre zu fragen, ob Symmetrie im jeweiligen Kontext sozial, politisch oder anthropologisch verstanden wird. Sozial und politisch betrachtet herrscht mehr oder weniger Symmetrie zwischen Siegfried und den Burgunderkönigen, aber anthropologisch gesehen haben wir es mit einer klaren Asymmetrie zu tun. Die Zofe oder Vertraute wiederum steht zunächst in einem eindeutigen Herrschaftsverhältnis zu ihrer Herrin, nur schließt das auf der Ebene des Binnenverhältnisses eine freundschaftliche Beziehung aus? Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht eine Abgrenzung notwendig ist, weil sonst am Ende alles Freundschaft heißt. Ein freundschaftliches Verhältnis ist ebenso wenig einfach mit Freundschaft gleichzusetzen wie eine asymmetrische Bindung mit Gefolgschaft. Im Falle der weiblichen und männlichen asymmetrischen Verhältnisse wird also vor allem von Nahbeziehungen die Rede sein, um nicht die Frage nach der Klassifikation, die vielleicht gar nicht die entscheidende ist, in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr geht es darum, beispielsweise die Beziehung zwischen Isolde und Brangäne zu beschreiben und zu analysieren, um sowohl ihren strukturellen Merkmalen im Zusammenhang mit den anderen HerrinVertraute-Verhältnissen als auch ihren Besonderheiten auf die Spur zu kommen. 355 In Kap. I. wurde bereits darauf auf das Problem von Symmetrie und Asymmetrie als Merkmal der Diskussionen über Nahbeziehungen verwiesen.

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Brangäne ist der irischen Königsfamilie eng verbunden,356 sogar mit ihr verwandt – niftel, auch wenn das letztlich nicht im Vordergrund steht, denn die Nahbeziehung kann auch ohne den Verwandtschaftsaspekt gelesen werden. Dieser ist vor allem wohl als Hinweis zu verstehen, daß auch Brangäne von hoher Abkunft ist. Vor allem ist Brangäne unauflöslich mit Isolde und damit seit dem Minnetrank mit Tristan und Isolde verbunden. Anläßlich der Versöhnung der beiden nach Isoldes Mordanschlag beschreibt der Erzähler ihre Beziehung folgendermaßen: Nu daz diu künigîn Îsôt / Brangænen in der endenôt / getriuwe unde stæte / und an ir muote hæte / durnehte in alle wîs bekannt / und in dem tegele gebrant / unde geliutert alse ein golt, / sît des was Brangæn unde Îsolt / von herzen und von sinne / so getriuwe und sô geminne / daz nie niht under in beiden / ir dinges wart geschei-den: / si wâren mit ein ander dô / ir muotes unde ir herzen frô. / Brangæne was des hoves dô wol, / der hof der was ir lobes vol: / si was geminne in allen; / sine truoc niemanne gallen / ûzen noch innerhalp der wât. / si was râtgebe unde rât / des küneges unde der künegîn. / ze kamere kunde niht gesîn, / Brangæne enmüese ez wizzen. / ouch was sî verflizzen / ze dieneste Îsolde: / si diende ir, swie si wolde / an Tristande ir amîse.357

Nachdem Isolde Brangänes unbedingte Loyalität erfahren hat, ist das Verhältnis vertrauter als zuvor, wobei Isolde hier als Akteurin benannt wird, Brangänes Rolle bleibt passiv – so als würde sie das neue Vertrauen und die gesteigerte Zuneigung ihrer Herrin ebenso hinnehmen wie den perfiden Mordversuch zuvor. Kein Vorwurf wird von ihrer Seite erhoben, keine Frage gestellt, Brangäne geht zur Tagesordnung über, und das heißt, die Liebe zwischen Tristan und Isolde und den Ehebruch geheimhalten. Beide Frauen werden als einander eng verbunden geschildert, Brangäne hat den exklusiven Zugang zum Königspaar, indem sie zum einen als Ratgeberin fungiert, zum anderen den Zugang anderer zu Marke und Isolde kontrolliert, und sie ist die Verbündete der Liebenden. Hier ergeben sich Parallelen zu Lunete, was die herausgehobene Stellung in der Kommunikationskette des Hofes betrifft, besonders, weil Brangäne die verbotene Liebe und den fortwährenden Ehebruch ermöglicht und deckt und zugleich für alle Beteiligten die höfische Fassade wahrt. Für die Betrachtung der Beziehung zwischen Isolde und Brangäne sind vor allem drei Szenen zentral, von denen die beiden letzten zudem zusammenhängen und hier besonders interessieren: Brangänes Eingreifen zugunsten Tristans nach der Entdeckung seiner Identität, der Brauttausch

356 Jackson, W.T.H.: The Role of Brangaene in Gottfried’s Tristan. In: The Germanic Review 28 (4) 1953, S. 290-296, S. 290f. 357 Gottfried: Tristan. 12939-12965.

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und Isoldes Mordanschlag.358 Brangäne wird zuerst eingeführt als wichtige Helferin in der Drachentöterszene, die weiß, was zu tun ist, und sie ist diejenige, die Isolde davon abhält, Tristan aus Rache zu töten.359 In all diesen und den späteren Szenen, in denen es um eine Entscheidung geht, handelt sie wohl überlegt, vernünftig und stets loyal.360 Nur als Isolde sie bittet, sie bei Marke in der Brautnacht zu vertreten, zögert sie zunächst, gibt dann aber aus Schuldgefühl nach. Hier sieht man im übrigen bereits die Grenzen der Asymmetrie: Isolde befielt ihrer Vertrauten nicht, sie bittet sie um Hilfe, wie man vielleicht eine Freundin bittet. Der Dreh- und Angelpunkt ist aber zweifellos die existentielle Krise dieser Nahbeziehung, Isoldes Mordversuch. Dieser Anschlag auf Brangäne ist viel interpretiert und diskutiert worden, vor allem im Hinblick darauf, welches Licht diese Szene auf Isolde, aber auch auf Brangäne wirft, was sie über das Verhältnis der beiden zueinander sagt und wie sie im Gesamtkontext des Romangeschehens zu bewerten ist. Der Mordversuch Isoldes ist u.a. als eine der „amoralischen Konsequenzen“361 der Tristanliebe gewertet worden: die Liebe zwischen Tristan und Isolde überschattet alle anderen Nahbeziehungen und birgt Gefahren für ihre engsten Vertrauten, denn „sie sät Mißtrauen zwischen Marke und Tristan, zwischen Isolde und Brangäne“362. Man weiß nicht, wie Gottfried die Beziehung zwischen Isolde und Brangänge weiter gestaltet hätte, aber der Blick auf Thomas’ Tristan zeigt,363 daß für Brengvein der Anschlag auf ihr Leben keinesfalls vergessen ist. Als Brengvein durch Kariados Verleumdung glaubt, sie sei an Kaherdin verschachert worden, klagt sie Ysolt an und wirft ihr dabei auch den Mordanschlag vor: „Membre vus u vus m’enveiastes: / A ocire me cummandastes; / [...] Cel forfez fud tut pardoné / Mès ore est il renovelé / Par traisun e par l’engin / Que fait avez de Kaherdin.“364 358 Vgl. dazu auch Mälzer, Marion: Die Isolde-Gestalten in den mittelalterlichen deutschen Tristan-Dichtungen. Ein Beitrag zum diachronischen Wandel. (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) Heidelberg 1991, S. 149ff. 359 Hollandt, Gisela: Die Hauptgestalten in Gottfrieds Tristan. Wesenszüge – Handlungsfunktion – Motiv der List. (Philologische Studien und Quellen, 30) Berlin 1966, S. 41ff. 360 Jackson, W.T.H.: The Anatomy of Love. The Tristan of Gottfried von Straßburg. New York, London 1971, S. 161. 361 Mieth, Dietmar: Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik. Mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. (Tübinger theologische Studien, Bd. 7) Mainz 1976, S. 165. 362 Ebd. S. 165. 363 Siehe zu den Unterschieden in der Gestaltung der Figuren: Deist, Rosemarie: Die Nebenfiguren in den Tristanromanen Gottfrieds von Straßburg, Thomas’ de Bretagne und im ‚Cligès’ Chretiens de Troyes. S. 14-48. 364 Thomas: Tristan. 1281-1296: „Erinnert Euch, wo Ihr mich hinschicktet: / Mich zu töten, befahlt Ihr! / [...] Diese Schandtat war ganz und gar vergeben, / aber jetzt ist das wieder

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Gottfrieds Text läßt wenig Zweifel daran, wie das Verhalten Isoldes einzuschätzen ist, er nennt sie eine „mortraete“365, und damit liegt zumindest ein Erzähler-, wenn vielleicht auch nicht ein Autorurteil über Isolde vor.366 In der älteren Forschung wird die These vertreten, daß die Episode des Mordanschlags auf Brangäne eigentlich nicht in Gottfrieds Erzählkonzept und Erzählweise paßt und eher eine ältere Schicht der Stofftradition repräsentiert und vom Autor nur aus Respekt vor der Überlieferung übernommen wurde.367 Jedoch scheint diese Argumentation nicht überzeugend, da nachgewiesen werden konnte, daß Gottfried im Vergleich mit seinen Vorlagen ohne Beschönigung und rücksichtslos das Geschehen darstellt.368 Jaeger verweist auf die Motivtraditionen, die mit der Episode verbunden sind: Brangänes Bedrohung und Rettung kann dann als Variation des Motivs der unschuldig Leidenden gelesen werden,369 das dem Publikum des 12. Jahrhunderts wohl vertraut war, etwa aus Heiligenlegenden weiblicher Märtyrer oder der Fiktionalisierung solcher Geschichten wie im Armen Heinrich und der Griseldis-Geschichte. Brangäne, so Jaeger, benutzt dieses Muster, um dem Tod zu entgehen, sie spielt mit ihrer Geschichte die „persecuted innocent“370 und erregt so das Mitleid der Täter. Doch zurecht ist hiergegen eingewandt worden, daß Brangäne nicht auf eine „Griseldis-Rolle“ reduziert werden kann,371 da die Figur dafür als zu vielschichtig erscheint und sie zudem zu sehr in den gesamten Handlungsverlauf und die damit einhergehenden schuldhaften Verstrickungen eingebunden ist.372 Von einer Prüfung und Bewährung Brangänes kann höchstens auf der symbolischen Ebene gesprochen werden, denn Isoldes Absicht ist eindeutig, sie will die Mitwisserin aus dem Weg räumen, nicht

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aufgefrischt worden / durch den Verrat und den Betrug, / den Ihr mir mit Kaherdin angetan habt.“. Gottfried: Tristan. 12727 u. 12877. Keck, Anna: Die Liebeskonzeption in den mittelalterlichen Tristanromanen. Zur Erzähllogik der Werke Bérouls, Eilharts, Thomas’ und Gottfrieds. (Beihefte zur Poetica, 22) München 1998, S. 179f. Siehe auch Ferrante, Joan M.: The Conflict of Love and Honor. The Medieval Tristan Legend in France, Germany and Italy. (De Proprietatibus Litterarum, Series Practica, 78) the Hague, Paris 1973, S. 45. So argumentiert etwa Wilhelm Hertz in den Anmerkungen seiner Übersetzung: Hertz, Wilhelm: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde. Stuttgart 1894, S. 530. Jaeger, Stephen C.: The Testing of Brangaene: Cunning and Innocence in Gottfried’s Tristan. In: Journal of English and Germanic Philology 70 (2) 1971, S. 189-206, S. 189; Schröder, Werner: Isoldes Mordanschlag auf Brangaene im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg. Jaeger, Stephen C.: The Testing of Brangaene. S. 197-202. Ebd. S. 203. Lienert, Elisabeth: sô getriuwe und sô geminne. Über Helferfiguren in Gottfrieds Tristan. In: Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen und Literaturen 243 (158. Jg.) 2006, S. 259-75, S. 260f. Ebd. S. 260f.

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sie testen. Erst als ihr die Knechte Brangänes Botschaft überbringen, bereut sie ihr Vorhaben und ist um so mehr erleichtert, als sie hört, daß Brangäne lebt: „Ambivalence is her chief attribute.“373 Nicht nur wirkt Isoldes Verhalten befremdlich, es scheint auch unüberlegt,374 da Brangäne zwar einerseits Mitwisserin und somit eine potentielle Gefahr darstellt, andererseits sie aber auch die einzige ist, die über den Minnetrank Bescheid weiß und gegebenenfalls die Liebenden entlasten kann.375 Was aber kann für Isolde ins Feld geführt werden? Besonders die harschen Urteile über sie, wie etwa jenes von Werner Schröder, das – überspitzt formuliert – lautet, nur die leidenschaftliche Liebe einer Frau könne so weit führen,376 erscheinen einseitig. Zu berücksichtigen ist die völlige Abhängigkeit Isoldes von Brangänes Loyalität. Und ist nicht Brangäne schuld an der verhängnisvollen Liebe, weil sie nachlässig im Umgang mit dem Liebestrank war und ihn nicht sicher genug verwahrt hat? Jackson porträtiert sie als unfähig nachzuvollziehen, was sich zwischen Tristan und Isolde abspielt und als Repräsentantin der konventionellen höfischen Liebe, von der sich Gottfrieds Entwurf deutlich absetzt.377 Dagegen stehen die Urteile, die in Brangäne das leuchtende Beispiel, die eigentliche Verkörperung des Ideals der weiblichen Heldin des Romans sehen378 und damit das Vorbild, in dessen Richtung Isolde sich entwickelt und dessen ethische Ausrichtung die Entwicklung der Liebe Tristans und Isoldes antizipiert.379 Brangänes Rolle ist bei Gottfried erweitert gegenüber den Vorlagen,380 sie denkt und handelt rational, wobei höfische êre für sie den entscheidenden Wert darstellt, nach dem sie ihr Handeln und ihren Rat für Isolde auslegt.381 Brangäne kann so als der Inbegriff des Höfischen verstanden werden, als Ideal des vollkommenen höfischen Verhaltens,382 373 Dick, Ernst S.: Gottfried’s Isolde: Coincidentia Oppositiorum? In: Tristania 12 (1-2) 1986/87, S. 15-24, S. 16. 374 So argumentiert etwa Rasmussen, daß Isolde noch zu naiv und unsicher sei, um zu begreifen, wie angewiesen sie auf Brangänes Solidarität ist. Siehe Rasmussen, Ann Marie: The Female Figures in Gottfried’s Tristan and Isolde. S. 147. 375 Keck, Anna: Die Liebeskonzeption in den mittelalterlichen Tristanromanen. S. 40. 376 Schröder, Werner: Isoldes Mordanschlag auf Brangaene im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg. S. 100. 377 Jackson, W.T.H.: The Role of Brangaene in Gottfried’s Tristan. S. 291 u. 293. 378 Caples, C.B.: Brangaene and Isold in Gottfried von Straßburg’s Tristan. In: Colloquia Germanica 9, 1975, S. 167-176; Rheingold Fuller, Miriam: Shadow, Support, and Surrogate. S. 41. 379 Caples, C.B.: Brangaene and Isold in Gottfried von Straßburg’s Tristan. S. 174. 380 Tax, Petrus W.: Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. Studien zum Denken und Werten Gottfrieds von Straßburg. (Philologische Studien und Quellen, 8) Berlin 1971, 2. erw. Aufl., S. 53. 381 Ebd. S. 55. 382 Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007, S. 101.

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das Isolde erst noch lernen muß. Sie ist ohne Schuld, auch wenn sie aktiv am Betrug Markes beteiligt ist, da ihr Handeln Resultat ihrer triuwe zu Isolde ist;383 sie ist, so die Argumentation, damit eine in sich kohärente Figur, deren wichtigste Eigenschaft ihre „Wachsamkeit“384 und damit Hilfe für die Liebenden ist. Aufgrund dessen fühlt sie sich schuldig daran, daß Tristan und Isolde den Minnetrank getrunken haben und willigt daher auch in den Brauttausch ein. Brangänes – ebenso wie Kurvenals – Loyalität überschreiten die formale Treuebindung. Die „triuwe der Helferfiguren, die einen der Leitwerte des ‚Tristan‘ exemplifiziert“385, führt die eine entscheidende Ebene von triuwe im Tristan386 vor, nämlich triuwe als Bindung an eine konkrete Person in Unterscheidung von triuwe als lehnsrechtliche Verpflichtung,387 die im Tristan gleichfalls eine wichtige Rolle spielt. Diese Treuebindung hängt eng zusammen mit dem Problem der ‚Außen- und Innennorm’388 als Maßstab der Handlungsweise der Figuren, wie es von Rüdiger Schnell vorgeführt wird, – der Ehe als Außennorm wird die Liebe der edelen herzen als Innennorm entgegengesetzt.389 Und ebenso bildet dann Brangänes persönliche Treue für Isolde die Innennorm gegenüber ihren Pflichten innerhalb der Hofgesellschaft als Außennorm. Im Zusammenhang der Verstrickung der Figuren in Entscheidungsprozesse im Tristan ist die Rolle des Zufalls hervorgehoben worden – eine als catena fatalis390 strukturierte Handlung entlastete die Figuren. Ohne diesen Aspekt zu vernachlässigen sind aber dagegen auch die zahlreichen Stellen anzuführen, in denen es um persönliche Entscheidungen und um Verantwortung für das Geschehen geht, etwa wenn Brangäne sich als die

383 384 385 386 387 388

Hollandt, Gisela: Die Hauptgestalten in Gottfrieds Tristan. S. 50f. Ebd. S. 51. Lienert, Elisabeth: sô getriuwe und sô geminne. S. 266. Mieth, Dietmar: Dichtung, Glaube und Moral. S. 184ff; Lienert, Elisabeth: sô getriuwe und sô geminne. S. 262, S. 266f. Schnell, Rüdiger: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds „Tristan und Isold“ als erkenntniskritischer Roman. (Hermaea: Germanistische Forschungen, NF, Bd. 67) Tübingen 1992, S. 28f.: „Innennormen sind Wertvorstellungen, die der einzelne Mensch auf der Basis von Freiwilligkeit und rechter intentio zu Leitprinzipien seines Handelns macht“, im Tristan, so Schnell, sind das Aufrichtigkeit (triuwe), Freiwilligkeit, Selbstlosigkeit, Mitleid, Dankbarkeit und Liebe (S. 29f.). „Außennormen sind Normen, Werte, Prinzipien, die von außen her an den einzelnen Menschen herangetragen werden, ihn auf ein bestimmtes Verhalten verpflichten wollen“. (S. 30). 389 Dagegen argumentiert u.a.: Keck, Anna: Die Liebeskonzeption in den mittelalterlichen Tristanromanen. S. 44. 390 Vgl. dazu: Worstbrock, Franz Josef: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds ‚Tristan’. In: Haug, Walter / Wachinger, Burghart (Hrsg.): Fortuna. (Fortuna Vitrea, Bd. 15) Tübingen 1995, S. 34-51.

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Schuldige in bezug auf den Minnetrank bezeichnet.391 Auch die Entscheidungen bei konkurrierenden Loyalitätsverpflichtungen und nicht zuletzt die Liebe Tristans und Isoldes sind vor diesem Hintergrund des Zusammenspiels von Zufall und Intention zu sehen. Die durch den Trank ausgelöste Liebe kann als Verkettung fataler Ereignisse gelesen werden, doch besiegelt wird sie erst durch Tristans bewußte Entscheidung für Isolde.392 Als Kontext ist hier von Forschung insbesondere auf die intentio-Ethik Abaelards393 verwiesen worden. Diese Problematik der intentio ist nicht nur für die Liebenden heranzuziehen, sondern auch für die anderen Figuren und ihre Entscheidungen in Nahbeziehungen. Bei Brangäne muß man, gerade im Hinblick auf die triuwe- und intentio-Problematik, eben auch ihre andere Seite sehen. Mit ihrer Hilfe wird das Lügen- und Betrugsgeflecht ins Werk gesetzt, sie unterstellt ihr Handeln der Außennorm der Skandalvermeidung am Hof ebenso wie ihrer unverbrüchlichen Loyalität für Isolde. Begreift man Isoldes Vorgehen als Versuch, sich dessen zu entledigen, was auch als Verhaltensweisen, die Brangäne verkörpert, verstanden werden kann, nämlich List, Intrige und Betrug, so bedeutet das Überleben der Vertrauten und die Versöhnung der beiden Frauen, daß Isolde diese Werkzeuge nun doch als unverzichtbar erachtet.394 Brangäne ist vielleicht eine gefährliche Mitwisserin, zugleich aber bedeutet Isoldes enge Beziehung zu ihr auch die Möglichkeit von „Nähe und Intimität“395, die mit Brangänes Tod unweigerlich verschwinden würde. Eine Option der Interpretation der Versöhnung ist daher, nicht, daß Brangäne sich bewährt oder Isolde etwas bewiesen hat – ihre Treue, Verschwiegenheit – , sondern Isolde lernt etwas über sich selbst, und darin liegt die Bedeutung dieser Episode396: „she [Isolde] gains the all-important insight that whatever the future may bring [...] she cannot and will not do without what Brangaene represents.“397 391 Lienert, Elisabeth: sô getriuwe und sô geminne. S. 264f. 392 Gottfried: Tristan. 12503-12506: „’solte diu wunneclîche Îsôt / iemer alsus sîn mîn tôt, / sô wolte ich gerne werben / umbe ein êweclîchez sterben.’“. 393 Vgl. Fromm, Hans: Gottfried von Straßburg und Abaelard. In: Schmidtke, Dietrich / Schüppert, Helga (Hrsg.): Festschrift für Ingeborg Schröder zum 65. Geburtstag. S. 196216. 394 Ferrante, Joan M.: The Conflict of Love and Honor. S. 44f; Wenzel, Horst: Die Zunge der Brangäne oder die Sprache des Hofes. In: Buschinger, Danielle (Hrsg.): Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. (Mélanges de littérature médiévale et de linguistique allemande offerts à Wolfgang Spiewok à l'occasion de son soixantième anniversaire par ses collègues et amis) Amiens 1988, S. 357-367, S. 364f. 395 Wenzel, Horst: Die Zunge der Brangäne oder die Sprache des Hofes. S. 364. 396 Bekker, Hugo: Gottfried von Straßburg’s Tristan: Journey through the Realm of Eros. (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture) Columbia 1987, S. 187. 397 Ebd. S. 187.

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Die Problematisierung der Beziehung zwischen Herrin und Confidente und eine mögliche Kontextualisierung kann mit dem nochmaligen Rückgriff auf Walter Map illustriert werden. Ein ambivalentes Verhältnis Herrin-Vertraute ist auch in seiner Geschichte von Sadius und Galo zu beobachten: Die Königin schickt in ihrer Liebesqual ihre Kammerzofe los, um Galo zu testen und bereut in einem Anfall von Eifersucht diesen Entschluß sofort wieder. Wie bereits erwähnt, bewährt sich die Freundschaft zwischen Sadius und Galo darin, daß sie gemeinsam den Nachstellungen der Königin zu entgehen suchen, die in Galo verliebt ist. Um den Freund aus der mißlichen Lage zu befreien und ihn zugleich vor dem Zorn der Königin zu schützen, der die Folge einer Zurückweisung wäre, verfällt Sadius auf ein Täuschungsmanöver: Er vertraut der Königin an, daß Galos Männlichkeit ihm den Dienst versage und er daher, selbst wenn er wollte, dem Begehren der Frauen nicht entsprechen könne. Die Königin in ihrer unglücklichen Liebe aber bleibt mißtrauisch und schickt eine ihrer Damen zu Galo, um herauszufinden, ob Sadius die Wahrheit gesagt hat. Doch kaum ist das Mädchen gegangen, versehen mit genauesten Instruktionen, sich als ihre Herrin auszugeben, überfallen die Königin Zweifel. Was, wenn das Mädchen die Gunst der Stunde nutzt und sich selbst mit Galo vergnügt? Je länger sie den Bericht ihrer Zofe erwartet, desto sicherer wird sie, daß sie betrogen wird. Als das Mädchen schließlich – viel zu spät in den Augen ihrer Herrin – zurückkommt und erzählt, daß sie zurückgewiesen wurde, glaubt die Königin ihr nicht und bestraft sie: „Et crinibus arreptam pessumdedit pugnisque lesam et pedibus fere semimortuam sociis assignauit obseruandam cautissime, ne quicquam ei liceat“398. Da sie selbst nichts sehnlicher wünscht als Galo zu verführen, ist sie davon überzeugt, daß auch ihre Zofe, einmal mit Galo allein, ihn ebenfalls begehren und die Liebe zu dem Mann über die Treue zu ihrer Herrin stellen wird. Alle Beteuerungen der Zofe nutzen nichts, der Bericht einer anderen Zofe, das Mädchen habe sich sorgfältig hergerichtet, bevor sie zu Galo gegangen ist, überzeugt die Königin endgültig von der Untreue ihrer Vertrauten. Anfängliches Vertrauen schlägt hier um in völliges Mißtrauen und Haß, was die harte Bestrafung der – unschuldigen – Zofe zur Folge hat. Von dieser Erzählung ist es nicht weit zur höfischen Epik, der Vergleich mit Isolde und Brangäne im Tristan drängt sich geradezu auf. Brangäne vertritt ihre Herrin in der Brautnacht bei Marke und muß danach das tiefe Mißtrauen Isoldes erfahren. Isoldes Argwohn gegenüber Brangäne speist sich aus 398 Walter Map: De nugis curialium. S. 222: „And she seized her by the hair and maltreated her, and wounded her with fists and feet, and handed her over halfdead to her companions, to be strictly watched and have no licence allowed her.”.

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ähnlichen Motiven und Vermutungen wie sie Walter Maps Königin gegenüber ihrer Kammerfrau hegt: Hie mite sô nam si in ir muot / und bedâhte alle ir dinc: / sît nieman ir hælinc / unde ir trügeliste / niwan Brangæne wiste, / enwære sî dan eine / sô dörftes iemer kleine / gesorgen umbe ir êre. / si sorgete sêre / und vorhte harte starke, / Brangæne ob sî ze Marke / dekeine liebe hæte, / daz sî im kunt tæte / ir laster unde ir mære, / als ez ergangen wære.399

Da Brangäne mit Marke geschlafen hat, könnte sie sich auch ihn verlieben und ihm den wahren Hergang der Ereignisse verraten, Tristan und Isolde wären dann nicht mehr sicher. Brangäne ist die einzige Mitwisserin, von ihr allein hängt Isoldes Ehre ab. Isolde denkt dabei nur an ihre eigene Lage und ihre mögliche Gefährdung, bei ihren Unterstellungen und Befürchtungen ist kein Platz für ein Nachdenken über Brangänes Situation oder das, was Isolde ihr mit dem Brauttausch zugemutet hat.400 Das hat zu einer zum Teil sehr negativen Bewertung und zu schärfsten Verurteilungen Isoldes geführt401, ebenso aber zu Entschuldigung und Erklärung ihres Verhaltens. Walter Maps Königin wie Isolde agieren ganz im Sinne misogyner Vorstellungen ihrer Zeit, wie sie insbesondere in theologischen Texten zum Ausdruck kommen. Ihr Mißtrauen gegen die Untergebenen resultiert aus der Auffassung, daß die weibliche Sexualität ausgeprägter und weniger kontrollierbar sei und zudem, wenn sie erst geweckt ist, immer nach Erfüllung strebt. Ausgelöst wird sie durch jede Art sexuellen Kontakts, auch den unfreiwilligen wie bei Brangäne. Das Zusammensein mit Marke, so Isoldes unausgesprochene Schlußfolgerung, könnte also Brangänes Loyalität gegenüber ihrer Herrin in Frage stellen, d.h. Isolde mißtraut ihrer engsten und einzigen Vertrauten: Freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen, das zeigt sich hier, sind immer auch durch ihre Relation zur männlichen Sphäre und selten nur aus sich heraus definiert. Diese Ambivalenz von Identität, Nähe und Gefährdung im Verhältnis IsoldeBrangäne, die unter anderem mit dem Problem von verborgen und öffentlich in der Sphäre des Hofes402 zusammenhängt, findet ihren exemplarischen Ausdruck im ‚Körpertausch‘ der Brautnacht und in Brangänes Verschwiegenheit: „Als Körper, der die Königin vertritt, ist sie aber auch die

399 Gottfried: Tristan. 12698-12712. 400 Keck, Anna: Die Liebeskonzeption der mittelalterlichen Tristanromane. S. 179. 401 Schröder, Werner: Isoldes Mordanschlag auf Brangaene im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg; Keck, Anna: Die Liebeskonzeption der mittelalterlichen Tristanromane. S. 40 u. 179f.; Tax, Petrus W.: Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. S. 74ff. 402 Wenzel, Horst: Die Zunge der Brangäne oder die Sprache des Hofes.

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Stimme (zunge), die den Schein der êre gefährden könnte, in der sich die Königin am Hofe eingerichtet hat“403. Mit Blick auf Isolde und Brangäne wie auch die anderen HerrinConfidente-Verhältnisse kann für die weiblichen Nahbeziehungen konstatiert werden, Liebe gefährdet Freundschaft. Wird in den Dreieckskonstellationen wie Gawein-Iwein-Laudine oder Gawein-Lancelot-Ginover doch zumindest eine Balance von Freundschaft und Liebe angestrebt, bzw. sich die Männerfreundschaften gegenüber der Geschlechterbeziehung zu behaupten sucht, so setzen die Frauen offenbar andere Prioritäten. Für Isolde hat ihre Ehre und damit das geheimzuhaltenden Leben von Ehe und Liebesaffäre Vorrang vor Brangänes Leben und damit vor Isoldes Bindung an sie, Laudine läßt Lunete die Schuld an ihrem Ehedesaster zuschreiben und versucht ihre eigene Position am Hof zu retten, und Dido benutzt Anna nur noch als Werkzeug, als sie von Eneas verlassen wird. Man kann diese Negativzeichnung natürlich misogynen Tendenzen zuschreiben, was sicher auch Teil der Erklärung ist. Aber in diesen hierarchischen Beziehungen geht es eben auch um Macht und Manipulation, um Mitwisser und Helfer. Man kann die Beziehung zwischen Brangäne und Isolde als enge, emotionale Vertrauensbindung lesen, in der die Vertraute der Herrin selbst dann treu bleibt, wenn diese sie umbringen will und sich nach überstandener Krise sofort mit ihr versöhnt – eine Demütigung der anderen, die wohl nur schwer zu ertragen ist. Man kann die Bindung auch einfach als hierarchische verstehen, in der Rollen und Aufgaben klar verteilt sind und Brangäne aufgrund ihrer Stellung im gesellschaftlichen ordo gar keine andere Möglichkeit hat, als loyal zu ihrer Herrin zu sein und den Befehlen der irischen Königin, die der Zofe ihre Tochter anvertraut, zu entsprechen. Entsprechend wäre ihre Nachlässigkeit bei der Aufbewahrung des Minnetranks zu tadeln; und weiterhin wäre dann nur nach ihrem Rang und ihren Pflichten zu fragen, nicht nach Freundschaft im Sinne einer individuell-persönlichen emotionalen Beziehung zu Isolde. Man kann aber diese Bindung auch als komplizierte Nahbeziehung lesen, in der es – ähnlich wie bei Laudine und Lunete – sowohl um Vertrauen und Emotionen als auch um Macht, Kontrolle und Manipulation geht. Hinzu kommen die unterschiedlichen Weiblichkeitsentwürfe, die hier sehr raffiniert eingesetzt werden: Figuren wie Brangäne, Anna oder Lunete verkörpern nicht nur in Vollendung das Ideal der höfischen Frau, sondern entsprechen überhaupt viel mehr einer patriarchalen Ideologie der Weiblichkeit als ihre Herrinnen. Denn diese sind eigenwillig, manchmal unberechenbar wie Laudine, anfällig für amouröse Abenteuer, auf Rat und Unterstützung einer umsichtigeren Untergebenen angewiesen, egoistisch 403 Ebd. S. 361.

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und nur allzu bereit, die Vertraute fallenzulassen oder loszuwerden, wenn diese gefährlich werden könnte oder ihr Rat sich als erfolglos erwiesen hat. Sie entsprechen damit allzusehr misogynen klerikalen Weiblichkeitskonzepten, während ihre Untergebenen, also Frauen in einer dienenden Funktion, dem gegenüber viel besser wegkommen. Die Figur der Confidente erfüllt – nicht nur höfische – Vorstellungen des Weiblichen, am meisten in der hier behandelten Reihe Brangäne. Anna, Lunete, vor allem aber Brangäne, die das Muster übererfüllt, stehen für Demut, Geduld, Zurückhaltung, Aufopferungsbereitschaft, Loyalität bis zur Selbstaufgabe, Schönheit, Klugheit, Keuschheit, Aufrichtigkeit, ein vornehmes und vertrauenswürdiges Wesen, und eine dienende Funktion. Erst diese Eigenschaften ermöglichen die dauerhafte Beziehung zu ihren Herrinnen. 2.3 Homosoziale Beziehungen zwischen Frauen Wurden bei den Freundschaften zwischen Männern in den vorherigen Abschnitten der Stellenwert homosozialer Bindungen betont, so stellt sich die Frage, inwieweit das auch bei der Kontextualisierung der weiblichen Nahbeziehungen zu berücksichtigen ist.404 Einen Bezugspunkt bildet dabei wie bei den männlichen Nahbeziehungen der monastische Kontext. Auch in den hoch- und spätmittelalterlichen Nonnengemeinschaften ist das Ideal der christlichen amicitia spiritualis präsent bzw. wird praktiziert, auch wenn keine Rezeption der theoretische Texte, etwa Aelreds Freundschaftstraktat, wie in den zisterziensischen Mönchskonventen stattfindet.405 Ein Beispiel für weibliche Freundschaften im geistlichen Bereich406 ist Hildegard von Bingen und ihr Briefwechsel mit anderen Nonnen. Diese Briefe, in denen Hildegard oft als die Ältere, Erfahrene auftritt, die spirituelle Unterweisung gibt, können exemplarisch als Beispiel unterschiedlicher

404 Vgl. dazu auch Pabst, Bernhard: Die Rolle von Frauen in literarischen Freundeskreisen des Mittelalters. In: Kürkel, Boris / Licht, Tino / Wiendlocha, Jolanta (Hrsg.): Mentis Amore Ligati. S. 347-362. 405 Brückner, Undine: Freundschaft zwischen Nonnen. In: Oxford German Studies 36 (2) 2007, S. 195-211, S. 196f., S. 203ff. 406 Allgemein zu Nonnen/Frauenkonventen und ihrer Rolle siehe u.a. Schlotheuber, Eva / Flachendecker, Helmut / Gardill, Ingrid (Hrsg.): Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland. Beiträge zur interdisziplinären Tagung vom 21.-23.09.2005 in Frauenchiemsee. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 235; Studien zur Germania Sacra, Bd. 31) Göttingen 2008.

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freundschaftlicher Beziehungen zu anderen Frauen407 gelesen werden. Zwar scheint es im Vergleich zu Konrads von Megenberg Ökonomik und den Kanonisationsakten der Hl. Elisabeth sehr viel schwieriger, diese Texte als Kontexte der hier dargestellten weiblichen Nahbeziehungen aufzufassen, da hier eine andere Ausgangssituation vorliegt, dennoch wird auch in dieser Kommunikation zwischen Hildegard und ihren Mitstreiterinnen Freundschaft verhandelt. Ulrike Wiethaus nennt als Hildegards wichtigste weibliche Briefpartner Gertrude von Stahleck, Elisabeth von Schönau und Richardis von Stade und ordnet diese Freundschaften in Anlehnung an Todds Kategorien als soziale (Gertrude), politische und professionelle (Elisabeth) sowie sentimentale Freundschaft (Richardis) ein.408 Mit ersterer verband Hildegard eine reziproke Bindung, da sie Gertrude aufgrund finanzieller Zuwendungen verpflichtet war und diese wiederum bei ihr nach ihrem Klostereintritt Rat und Unterweisung suchte.409 Elisabeth von Schönau war wie Hildegard Visionärin, was in dieser Beziehung das entscheidende verbindende Element konstituierte.410 Die Briefe, die Hildegard mit den drei Frauen wechselte, zeugen von gegenseitiger Unterstützung, Austausch wie auch persönlichen Konflikten, und sie leisten offenbar einen wichtigen Beitrag zu der Lebensführung, die die Frauen gewählt haben. In ihrer Untersuchung zu weiblichen Heiligen in Italien im 13. Jahrhundert verweist Elizabeth Petroff auf die wichtige Rolle von weiblichen Freundschaften im Leben der Heiligen: The relationship of the saint to the divinity of Christ is mediated by the feminine. The female saints in heaven are continually acting in collusion with the would-be saint on earth, giving her advice, pointing out new directions, consoling her, bringing her healing and confidence in her vocation. And in the convents or at home, the future saint had female companionship. Almost every saint’s life tells of a profound relationship with a woman friend411

Diese Freundschaften zwischen Nonnen im Kloster schlossen zum Teil mit großer Selbstverständlichkeit auch physische Nähe und Berührungen ein, die Unterstützung, Trost und Ermutigung boten.412 Das ist wohl auch für Hildegard und ihre Briefpartnerinnen zu konstatieren, wobei sich bei den drei genannten Frauen, mit denen sie in regelmäßigem Kontakt stand, 407 Wiethaus, Ulrike: In Search of Medieval Women’s Friendships. Hildegard of Bingen’s Letters to Her Female Contemporaries. In: Dies.: Maps of Flesh and Light. The Religious Experience of Medieval Women Mystics. Syracuse 1993, S. 93-111. 408 Ebd. S. 99-105. 409 Ebd. S. 100. 410 Ebd. S. 102f. 411 Petroff, Elizabeth: Consolation of the Blessed. Millerton (N.Y.) 1979, S. 35. 412 Petroff, Elizabeth: Consolation of the Blessed. S. 36.

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durchaus Unterschiede in Hinblick darauf feststellen lassen, in welchem Maße Hildegard jeweils persönlich und emotional involviert war. Eine besondere, emotional aufgeladene Beziehung verband Hildegard von Bingen mit Richardis von Stade,413 von der Hildegard in ihrer Autobiographie berichtet: „Nam cum librum Scivias scriberem, quandam nobilem puellam, [Richardis] [...] in plena caritate habebam, sicut Paulus Timotheon, que in diligenti amicitia in omnibus his se mihi coniunxerat, et in passionibus meis mihi condulit, donec ipsum librum complevi“414. Diese Freundschaft, in der Hildegard als geistliche Mutter der Jüngeren agierte, erfuhr einen schmerzlichen Bruch, als Richardis das Kloster Hildegards verläßt, um selbst Äbtissin zu werden. Hildegard versucht sie zurückzuholen, ermahnt sie und schreibt: Heu me mater, heu me, filia, quare me dereliquisti sicut orphanam? Amavi nobilitatem morum tuorum et sapientiam et castitatem et tuam animam et omnem vitam tuam [...] Nunc plangant mecum omnes, qui habent dolorem similem dolori meo, qui habuerunt in amore Dei talem caritatem in corde et in mente sua ad hominem, sicut et ego habui in te, qui in momento illis raptus est, sicut et tu mihi abstracta es.415

Hildegard appelliert an Richardis Charakter, den sie immer verehrt hat wegen seiner Vorzüge, und sie setzt die Freundschaft, vor allem ihr eigenes Gefühl für die Jüngere als Druckmittel ein – allerdings ohne Erfolg. Dieses Verhältnis Hildegards zu Richardis scheint ein besonderes gewesen zu sein,416 da Hildegard auffällig viel Emotion und Engagement investierte. „Hildegard and Richardis enjoyed not only emotional but also mutual

413 Brückner, Undine: Freundschaft zwischen Nonnen. S. 209f. 414 Zitiert nach: Schrader, Marianna / Führkötter, Adelgundis: Die Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen. Quellenkritische Untersuchungen. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 6) Köln, Graz 1956, S. 133; Übersetzung nach: Hildegard von Bingen: Briefwechsel. Nach den ältesten Handschriften übers. u. nach den Quellen erläutert v. Adelgundis Führkötter. Salzburg 1965, S. 94: „Als ich das Buch Scivias schrieb, war ich einer adligen Nonne [Richardis] [...] in voller Liebe zugetan, so wie Paulus Timotheus. Sie hatte sich mir in allem durch liebende Freundschaft verbunden und litt in meinem Leiden mit mir, bis ich das Buch vollendet hatte.“. Zum Briefwechsel Hildegards vgl. auch: Acker, Lieven van: Der Briefwechsel der Heiligen Hildegard von Bingen. Vorbemerkungen zu einer Edition. In: Revue Bénédictine 98, 1988, S. 140-168. 415 Ebd. S. 137; Übersetzung nach: Hildegard von Bingen: Briefwechsel. S. 98: „Weh mir Mutter, weh mir Tochter! Warum hast du mich wie eine Waise zurückgelassen? Ich habe den Adel deiner Sitten geliebt, deine Weisheit und deine Keuschheit, deine Seele und dein ganzes Leben [...] Nun sollen alle mit mir klagen, die Schmerz leiden gleich meinem Schmerz; die aus Gottes Liebe in ihrem Herzen und Gemüt Liebe zu einem Menschen trugen, wie ich sie zu dir gehabt – einem Menschen, der ihnen in einem Augenblick entrissen ward, so wie du mir entrissen worden bist.“. 416 Wiethaus, Ulrike: In Search of Medieval Women’s Friendships. S. 105.

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intellectual and spiritual enrichment.“417 Gelegentlich ist auch von einer erotisch aufgeladenen Beziehung zwischen den beiden die Rede.418 Das führt an dieser Stelle zur Frage nach der Rolle erotischer weiblicher Freundschaft. Ist für die männlichen Nahbeziehungen die Frage der Homosozialität und Homoerotik erörtert worden, kann dieser Bereich auch bei den weiblichen Bindungen nicht völlig ausgeblendet werden, auch wenn er an dieser Stelle nicht vertieft diskutiert, sondern nur einige wenige Stichworte angesprochen werden sollen. Von normativer Seite ist es schwierig, klare Aussagen zu weiblicher Homosexualität im Mittelalter ausfindig zu machen, ebenso wie in der Renaissance – auch dort sind vor allem historische Fälle überliefert.419 Rabbinische Kommentatoren gehen davon aus, daß weibliche Homosexualität gegen Gottes Gebot ist, auch wenn es dazu keine direkten Aussagen in der Schrift gibt. Vermutlich nehmen sie dabei auf die Stelle im Deuteronomium (22,5) Bezug, wo das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts verboten wird.420 Im 12. Jahrhundert wiederholen Kanonisten lediglich ältere Strafbestimmungen für lesbische Verhältnisse.421 Von den einflußreichen christlichen Autoren äußert sich Augustinus zu dieser Frage, wenn er über die Lebensweise von Nonnen schreibt. Er empfiehlt ihnen, statt nur zu zweit in Dreiergruppen zusammen und unterwegs zu sein, um fragwürdiges Verhalten von vornherein auszuschließen. Weiterhin gibt er Anweisungen für ihr Verhalten untereinander und über Schlafgewohnheiten, die einen zu engen körperlichen Kontakt ausschließen und zugleich ein möglichst hohes Maß an Sozialkontrolle sicherstellen. Weibliche Homosexualität im Mittelalter erscheint also in doppelter Hinsicht marginalisiert: durch die Quellen und durch die Forschung.422 Weder für die mittelalterlichen Autoren noch für die Mediävisten ist diese Frage im Fokus, und so begegnet uns bei diesem Thema ein doppeltes Schweigen. Mit Blick auf die hier angesprochenen weiblichen Nahbezie417 Wiethaus, Ulrike: In Search of Medieval Women’s Friendships. S. 109. 418 Vgl. Schibanoff, Susan: Hildegard of Bingen and Richardis of Stade: The Discourse of Desire. In: Sautman, Francesca Canadé / Sheingorn, Pamela (Hrsg.): Same Sex Love and Desire among Women in the Middle Ages. (The New Middle Ages) New York 2001, S. 49-83; Maddocks, Fiona: Hildegard von Bingen. The Woman of Her Age. London 2001, S. 103f. 419 Brückner, Undine: Freundschaft zwischen Nonnen. S. 209. 420 Brundage, James A.: Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe. S. 57. 421 Ebd. S. 213. 422 Murray, Jacqueline: Twice Marginal and Twice Invisible. Lesbians in the Middle Ages. In: Bullough, Vern / Brundage, James A. (Hrsg.): Handbook of Medieval Sexuality. S. 191222, vgl. auch die Literaturhinweise S. 218-222; weibliche Homsexualität und ihre Bewertung Antike / spätantikes Christentum: Brooten, Bernadette, J.: Love between Women. Early Christian Responses to Female Homoeroticism. (The Chicago Series on Sexuality, History, and Society) Chicago, London 1996; siehe auch weiterhin Rich, Adrienne: Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence. In: Signs 5 (4) 1980, S. 631-660.

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hungen ist das auch nicht unverständlich: Dido, Laudine, Isolde stehen ganz klar unter dem Gebot der Heteronormativität, sie sind in ihrer Sexualität durch die Beziehung zu männlichen Partnern definiert, und es scheint schlicht abwegig, homoerotische Untertöne aus den HerrinVertraute-Beziehungen herauslesen zu wollen und das soll hier auch nicht versucht werden. Erotische weibliche Freundschaft ist offensichtlich eine Leerstelle des höfischen Romans, nicht weil die Zeit solche Verhältnisse nicht gekannt hätte, sondern weil sie zum einen wohl uninteressant waren, da generell die männlichen Aktivitäten im Vordergrund stehen, und weil sie zum anderen möglicherweise sehr viel stärker tabuisiert sind als homoerotische Verhältnisse zwischen Männern. Was sich aber in beiden sehr verschiedenen Textbereichen findet, sind emotionale Abhängigkeiten und Ambivalenzen, Freundschaft als Unterstützung und manipulative Beziehung. Wie bei den Beziehungen der Männer untereinander geht es im Grunde auch nicht um mögliche eindeutig homoerotische oder homosexuelle Verhältnisse, sondern ebenfalls um homosoziale Bindungen. 2.4 Die Vertraute als Broker Rosemarie Deist verweist auf die Tradition der antiken weiblichen Ratgeberfiguren, die in den höfischen Romanen wiederaufgenommen wird.423 Diese Figuren sind immer auch Ratgeberinnen in Liebesangelegenheiten und Kupplerinnen. So ist es beispielsweise in Euripides’ Hippolytos die Amme, die bei Phaidra die Ursache der Krankheit erkennt und sie dazu bringt, Hippolytos ihre Liebe zu gestehen, bzw. sie selbst zieht Hippolytos ins Vertrauen. Ähnliches findet sich bei Ovid und Vergil. Diese Figur der Amme, der Vertrauten und Maklerin in erotischen Fragen, die eine wichtige Position in den antiken Dramen einnimmt,424 geht ein in das kulturelle Erbe, das mittelalterliche wie neuzeitliche literarische Texte weitergestalten. Eine Möglichkeit der Analyse dieser literarischen Figur liegt darin, sich ihr und den damit verbundenen weiblich-asymmetrischen Beziehungen anthropologisch zu nähern, indem man die Position der Vertrauten als die des Brokers begreift. Was aber ist unter diesem Begriff des Brokers zu verstehen? Jeremy Boissevain faßt den Begriff folgendermaßen: „a social broker places people in touch with each other either directly or indirectly for

423 Deist, Rosemarie: Gender and Power. S. 11-23. 424 Ebd. S. 25-47.

2. Weiblich-asymmetrische/-symmetrische Bindungen

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profit“425. Der Broker kontrolliert “second order resources”426, also strategisch wichtige Kontakte, den Zugang zu Gönnern und einflußreichen Persönlichkeiten – also denjenigen, die direkten Zugang zu den ‚first order resources’ (Geld, Macht, Land, Jobs, Spezialwissen) haben – und benutzt und vermittelt diese Kontakte zu seinen Gunsten.427 Der Broker besetzt eine strategische Schlüsselposition in einem Netz sozialer Beziehungen, betrachtet als Kommunikationsnetzwerk,428 mit der klaren Erwartung von Gegenleistungen von denjenigen, die von seinen Kontakten profitieren. Drei wichtige Voraussetzungen sind zu nennen, die bestimmte Personen für andere, für ganze Netzwerke, zu Brokern machen: Zentralität, Zeit, Macht.429 Das bedeutet, er muß an wichtigen Positionen innerhalb eines Kommunikationsnetzwerkes situiert sein bzw. an der Verbindungsstelle verschiedener Netzwerke; er muß die zeitlichen Freiräume haben, seine Beziehungen zu nutzen und entsprechend seiner Pläne zu manipulieren; und er muß Einfluß auf die Personen haben, die die Ressourcen erster Ordnung verwalten. Der Gedanke des Profitierens des (weiblichen) Brokers scheint den gängigen Charakterisierungen Lunetes und vor allem Brangänes entgegenzustehen. Brangäne wird wiederholt als vollendet höfisch, treu bis zur Selbstaufgabe, uneigennützig und den Liebenden bedingungslos ergeben geschildert. Doch ist das nur eine mögliche Perspektive, die eine andere, ebenfalls durch den Text gegebene Lesart nicht ausschließt. Zwar scheinen Brangäne und Lunete nicht unmittelbar von ihren Diensten zu profitieren (und das auch nicht in erster Linie anzustreben), aber eine Auswirkung ihrer Transferleistungen läßt sich dennoch beobachten. Eine Gegenleistung für die Dienste des Brokers muß nicht sofort erfolgen. Die Latenz des Gabentauschs führt vielmehr dazu, daß die Reziprozität der Transaktion oftmals zeitversetzt erfolgt. Und der Profit des Brokers muß nicht als materieller Wert gedacht werden, sondern kann die Form von Statuserhöhungen, Informationen, Diensten oder einfach Anerkennung annehmen,430 was bei den Vertrauten durchaus der Fall ist. Das Kapital der Vertrauten als Broker besteht im Vertrauen, das die Herrin in sie setzt und das auf der in der Vergangenheit bewiesenen Zuverlässigkeit und Nützlichkeit beruht. Bei allen höfischen Attributen, die den Vertrauten zugewiesen werden, darf nicht übersehen werden, daß sie vor allem strate425 Boissevain, Jeremy: Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions. (Pavilion Series; Social Anthropology) Oxford 1974, S. 148. 426 Ebd. S. 147f. 427 Ebd. S. 147f. 428 Ebd. S. 148f. 429 Ebd. S. 155-158. 430 Boissevain, Jeremy: Friends of Friends. S. 159.

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gisch handeln, und dabei ihre Herrin, damit aber auch immer sich selbst im Auge haben. Lunete wird in der Handschrift B vorteilhaft verheiratet, Brangäne bekommt in Thomas’ Tristanroman Kaherdin als Geliebten – beide profitieren also letztendlich von ihrer Rolle als Broker. Ihre Brokerposition liegt dabei auf zwei Ebenen: Einmal in der Vermittlung zwischen den Liebenden, was besonders deutlich bei Lunete zutage tritt, und zum anderen in der Kommunikation zwischen dem Paar und der Hofgesellschaft. Die Vertrauten agieren als Makler, d.h. ihre Hauptaufgabe ist eine Stabilisierung der aktuellen Situation. Diese Rolle kommt Lunete wie Brangäne oder Anna zu, da sie den exklusiven Zugang zu ihren Herrinnen haben und das Ansehen des Hofes genießen. Lunetes Position ist erst in genau dem Moment gefährdet, in dem der Hof ihr das Vertrauen aufgrund des Versagens Iweins, den sie am Hofe eingeführt hat, entzieht und Laudine sie nicht stützt. Lunetes Rolle ist eine aktive, sie rettet Iwein und fädelt die Verbindung mit Laudine und schließlich auch die Versöhnung des Paares ein, Anna und Brangäne reagieren vor allem auf Situationen, die sie selbst nicht herbeigeführt haben. Zwar wird uns Brangäne stets als Handelnde und Eingreifende präsentiert, doch vor allem dann, wenn Schaden zu begrenzen ist, wenn es darum geht, weiteres Unheil zu verhüten oder Vorkehrungen zum Schutz zu treffen: Sie ermöglicht die Liebe zwischen Tristan und Isolde, nachdem beide den Minnetrank getrunken haben und die Zeichen der Liebeskrankheit nicht zu übersehen sind, sie instruiert Isolde für die Ausfragemanöver Markes, nachdem Isolde im Gespräch mit dem König einen Fehler begangen hat etc. Die Initiative zum Brauttausch geht von Isolde aus, Brangäne willigt widerstrebend ein, weil sie sich schuldig gegenüber den Liebenden fühlt, und ebenso ist es Isolde, die sich nach ihrem vereitelten Mordversuch mit dem Opfer ihres Mißtrauens versöhnt. Brangäne verfügt über Einfluß und Macht, auch gegenüber Isolde, aber sie nutzt sie kaum für sich selbst, jedenfalls nicht in der Weise, wie man es erwarten könnte. Sie zieht ihren Gewinn aus Isoldes Abhängigkeit und ihrer daraus resultierenden Schlüsselrolle. Sie hat den Überblick über die öffentliche wie die heimliche, ‚private’ Situation. Ein wesentlicher Aspekt dieser asymmetrischen Bindungen zwischen Frauen, auch in Hinblick auf die Rolle der Vertrauten als Broker, ist offensichtlich, daß diese Beziehungen nicht zuletzt Beratungsverhältnisse darstellen. Die Beratung der Herrin durch ihre Vertraute folgt dabei einem wiederkehrenden Muster: Dido, Laudine, Isolde, Fenice befinden sich in einer schwierigen, unübersichtlichen Situation, die sie offensichtlich nicht allein bewältigen können. In allen vier Fällen geht es dabei um einen Mann. Dido und Fenice werden von Liebeskrankheit gequält und sehen

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sich großen Hindernissen auf dem Weg zur Erfüllung ihrer Liebeswünsche gegenüber. Laudine muß nach dem Tod ihres Mannes das dadurch entstandene Machtvakuum wieder füllen, und Isolde steht zwischen Liebe und Ehe. Die Herrin, zumal als Herrscherin oder aber in einer prekären Konstellation einer Dreiecks-Beziehung zwischen Mann-Ehefrau und Geliebtem wie im Fall Isoldes, ist auf jemanden angewiesen, dem sie vertrauen kann, der sie möglichst uneigennützig berät und der in jedem Fall loyal ist. Der Notwendigkeit, eine/n Vertraute/n zu haben, steht die Gefahr gegenüber, einen vielleicht unberechenbaren Mitwisser an seine Seite zu holen. Diese Gefahr kann minimiert werden, indem eine vertrauenswürdige Person ausgesucht wird, die sich bereits als loyal erwiesen hat oder aufgrund ihrer Position oder ihrer persönlichen Verbundenheit ein Interesse an Wohlergehen und Erfolg der Herrin hat. Motivation und Effekt einer solchen Bindung liegen also für die Herrin auf der Hand: Sie hat eine vertrauenswürdige Beraterin, die auch mit heiklen Angelegenheiten betraut werden kann und die stets in ihrem Sinne agiert. Welchen ‚Gewinn’ aber hat die Vertraute, welchen Nutzen zieht sie aus der Beziehung? Oder geht sie ganz im Dienst für die Herrin auf? Auch bei einer möglichen engen emotionalen Bindung lassen sich konkrete Auswirkungen für die Vertraute konstatieren. Ihr Mit-Wissen gibt ihr Macht und Kontrolle, die Beziehung zu ihrer im Status höher gestellten Herrin dynamisiert sich im Binnenverhältnis, denn diese ist nun auf sie angewiesen, d.h. in der Binnenperspektive des Nahverhältnisses agieren die beiden auf Augenhöhe. Das wurde bereits für Lunete und Laudine vorgeführt, für Brangäne und Isolde gilt es in noch gesteigertem Maße. Doch auch in der Außensicht ergeben sich klare Vorteile für die Vertraute. Sie nimmt gegenüber anderen Mitgliedern der Hofgesellschaft eine exklusive, herausgehobene Position ein. Sowohl bei Lunete als auch bei Brangäne wird darauf im Text ausdrücklich hingewiesen, wenn beide als Beraterin und als mit ausschließlichem Zugang zur Herrscherin bzw. zum Königspaar charakterisiert werden. Allerdings birgt diese Sonderstellung auch Risiken. Neid und Mißgunst anderer, sich benachteiligt fühlender Hofmitglieder können Intrigen und damit Gefährdungen für Vertraute und Herrin nach sich ziehen. Bei Lunete tritt das in ihrer Verurteilung klar zu tage, bei Brangäne liegen die Dinge insofern etwas anders, da Isolde sie an den Hof mitgebracht hat und sie sich dort Ansehen erwirbt, und ihre Anwesenheit somit auch ein Ergebnis der erfolgreichen Brautwerbung Tristans ist. Die Stellung der Vertrauten ist also eine ambivalente: Einerseits mit exklusivem Wissen und Macht ausgestattet, ist sie doch zugleich den wechselnden Stimmungen des Hofes ausgesetzt und in dieser Situation abhängig vom Wohlwollen und Einfluß ihrer Herrin.

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Brangänes Situation ist im Vergleich zu Anna und Lunete noch einmal eine besondere. Sie ist mit Ihrer Herrin an den fremden Hof nach Cornwall gekommen, und das bedeutet, sie ist in ihrer Stellung, ihrem persönlichen Schicksal ausschließlich auf Isolde, vielleicht noch auf Tristan angewiesen. Auch wenn der Text von ihrer Beliebtheit und herausgehobenen Position spricht, ändert das wenig an ihrer tatsächlichen Isolation. Dieser Umstand läßt die Beziehung Isolde-Brangäne besonders prekär erscheinen. Fällt Brangäne in Ungnade bei Isolde, kann sie sich auf niemanden sonst verlassen und ist weit entfernt von ihrer Heimat. Das erklärt wenigstens zum Teil auch Isoldes Vorgehen beim Mordanschlag auf Brangäne: Sie macht sich offenbar keine Gedanken, ob ein plötzliches Verschwinden ihrer Zofe am Hof auffallen und wie es bewertet würde. Zwar sichert sie sich mehrfach ab und läßt die Knechte mehrfache Treueide schwören, doch weitere Konsequenzen nach dem geplanten Tod der Vertrauten werden nicht von ihr bedacht. Brangäne wiederum ist auf das Mitleid ihrer potentiellen Mörder angewiesen. Nach ihrer glücklichen Rettung und der Versöhnung der beiden Frauen beschreibt der Text die Bindung als noch enger und vertrauensvoller als vorher, durch die Krise gestärkt, doch kann man das durchaus hinterfragen. Vielleicht ist Brangäne durch den versuchten Mord auch ‚diszipliniert’ worden. In Thomas’ Tristan gibt es wie bereits angesprochen einen Rückbezug zum Mordanschlag als Brengvein sich erneut von Isolde betrogen fühlt und mit ihr abrechnet. Sie droht damit, den Betrug bei Marke aufzudecken, d.h. die Episode des Mordanschlags ist damit bei Thomas nicht isoliert, was möglicherweise ein Hinweis darauf ist, daß auch Gottfried diese Frage weitergeführt hätte.431 Mit der Bindung Isolde-Brangäne haben wir eine Nahbeziehung vor uns, die sicher freundschaftliche Elemente einschließt, die aber vor allem im Zeichen gegenseitiger Abhängigkeit, Macht, Kontrolle und Mißtrauen sowie daraus resultierenden ambivalenten Emotionen gelesen werden muß. Emotionale, manipulative und soziale Freundschaft bilden hier ein kompliziertes Gebilde. Es reicht nicht, weder in Thomas’ Tristanroman noch in Gottfrieds, Brangäne eindimensional als Freundin Isoldes zu klassifizieren, mit der Begründung, daß sie nicht nur Zofe, sondern auch Vertraute und Beraterin ist und wiederholt ihre Loyalität beweist.432 Vielmehr müssen auch die Spannungen und Krisen als wesentlicher Bestandteil dieser Beziehung, und nicht als Störfaktoren gesehen werden. 431 Schröder, Werner: Isoldes Mordanschlag auf Brangaene im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg. S. 100f. 432 Vgl. Bertolet, Craig: ‚Pur Amisté e Pur Franchise’ : The Theme of Friendship in Thomas’s Tristan. In: Buschinger, Danielle / Spiewok, Wolfgang (Hrsg.): Tristan Studien: Die TristanRezeption in den europäischen Literaturen des Mittelalters. (Wodan 19, Serie 3; Tagungsbände u. Sammelschriften 7; Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 4) Greifswald 1993, S. 15-27, S. 17.

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2.5 Vertrauen und Emotionalität, Beratung und Geheimnis Die Frage des Vertrauens wurde bereits mehrfach als Aspekt von Freundschaft und interpersonalen Beziehungen angesprochen, insbesondere in der Figur der Vertrauten. Jedoch ist zu fragen, inwieweit unser Vertrauensbegriff eine moderne Vorstellung ist und was mit dieser Begrifflichkeit in historischer Perspektive wird. Vertrauen hat eine Geschichte, Vertrauen und Treue können als „Gefühlshaltungen“433 mit Veränderungen in dieser Geschichte aufgefaßt werden, und Freundschaft ist ein Fall von „Nahvertrauen“434. Hier stellt sich zunächst wie schon beim Freundschaftsbegriff das Problem der Semantik. Im Althochdeutschen findet sich das Verb ga/getruen/gitruwen, das vertrauen, hoffen, erhoffen oder jemandem in einer Sache Glauben schenken bedeutet,435 auch sich verlassen auf, sich anvertrauen und sich verbünden.436 Im Mittelhochdeutschen finden sich zwei verwandte Verben, die in diesen Bedeutungskreis gehören, vertrûwen, vertriuwen und trûwen, triuwen. Getrûwen/Getriuwen heißt soviel wie versprechen, geloben, jemandem die Treue versprechen, auch ehelich trauen.437 Unser heutiges anvertrauen – jemandem etwas oder eine Person anvertrauen – steckt darin und verweist somit auf den Aspekt von Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit. Trûwen/triuwen kann mit trauen, glauben oder hoffen übersetzt werden.438 In beiden Wörtern steckt triuwe, was bereits auf Treue, Treubindung etc. hinweist. Im Unterschied zum modernen Vertrauensbegriff muß der eher verpflichtende Charakter, die Verbindlichkeit und auch die Treue, die nicht zuletzt im rechtlichen Sinn gemeint ist, dieser Begriffe hervorgehoben werden. Ähnlich wie bei den Begriffen, die freundschaftliche Beziehungen bezeichnen können, sollen auch hier die lateinischen Wörter in den Blick genommen werden. Das lateinische fides bedeutet zunächst einmal ganz allgemein Glaubwürdigkeit, Standhaftigkeit und Treue.439 Darüber hinaus markiert fides einen wichti433 Frevert, Ute: Vortrag vom 14.07.08 im Rahmen der Ringvorlesung Freundschaft und Patronage des DFG-Graduiertenkollegs 1288 Freunde, Gönner, Getreue. 434 Frevert, Ute: Vertrauen – eine historische Spurensuche. S. 48. 435 Schützeichel, Rudolf: Althochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 2006, 6. erw. Aufl. 436 Starck, Taylor / Wells, J. C.: Althochdeutsches Glossenwörterbuch. ga-/getruen/gitruwen entspricht damit dem lat. innitor, credo, foedero. Komplementär existiert auch missitruen/-truwen (mißtrauen, argwöhnen, zweifeln), entsprechend den lat. Verben diffido, suspicor, despero. 437 BMZ. Bd. 4. Sp 110b. 438 BMZ. Bd.4. Sp. 109a-111a. 439 Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert.

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gen Begriff im römischen Rechtsdenken440, gehört also genau wie triuwe in der engeren Bedeutung in den Rechtskontext. Beide Begriffe – der lateinische wie der volkssprachliche – drücken die verpflichtende Bindung im Gefolgschaftsdenken des Lehnswesens aus. Zudem bezeichnet fides ein zentrales Element der amicitia, so wie triuwe in enger Beziehung zu vriuntschaft und geselleschaft steht. In das Feld, das unser Begriff des Vertrauens abdeckt, gehören im Lateinischen neben fides noch die Bezeichnungen confidentia, fiducia, die sich mit Zuversicht, Vertrauen – das entsprechende Verb (con)fidere mit sich verlassen auf jemanden, vertrauen, bauen auf – übersetzen lassen.441 Diese Zweiteilung des Vertrauensbegriffs findet sich noch heute im Englischen, dem mit trust und confidence ebenfalls zwei Wörter für Vertrauen zur Verfügung stehen, die unterschiedliche Aspekte bezeichnen. Diese kurzen Ausführungen zeigen bereits, daß Vertrauen insbesondere Vertrauen in die Loyalität des Gegenübers bezeichnet, daß es einen engen Zusammenhang mit Nahbeziehungen gibt, und das Vertrauen für das Mittelalter ebensowenig selbstverständlich ist wie für die Neuzeit. Ginge man aber davon aus, daß im Mittelalter zumindest das Vertrauen in Personen ausgeprägter war als das in Institutionen, würde das einen großen Stellenwert für personale Bindungen bedeuten. Bei allen historischen Veränderungen und kulturellen Variablen kann an dieser Stelle Simmels Beschreibung von Vertrauen als „die Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen“442 auch für mittelalterliche Texte herangezogen werden. Vertrauen ist ein zentrales Moment in den höfischen Nahbeziehungen, und es ist davon auszugehen, daß dieses Moment sowohl Vertrauen in Freunde als individuelle Personen als auch in ritualisierte Freundschaftspraktiken umfaßt. Die politische amicitia etwa funktioniert nach bestimmten Regeln, die beide Seiten kennen und auf die sie daher vertrauen können; die amicitia spiritualis dagegen will die innersten Seelenregungen des Freundes wissen, Vertrauen ist hier also vollkommen subjektzentriert. Ist Vertrauen in höfischer Literatur aber auch wie in späteren Epochen443 ein Freundschaftsbeweis? Vor allem im Bereich des Hofes spielt die Frage des Vertrauens und der Aufrichtigkeit eine Rolle, denn hier ist es wichtig, den wahren Freund vom Schmeichler und Heuchler, oder noch gefährlicher, vom falschen Freund, der eigentlich Feind ist, zu unterscheiden. Inmitten der Hofintrigen ist es insbesondere für den Herrscher, aber 440 Weltecke, Dorothea: Gab es „Vertrauen“ im Mittelalter? S. 77. 441 Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. 442 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. (Georg Simmel: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 11) Frankfurt a. M. 1992, S. 393. 443 Frevert, Ute: Vertrauen – eine historische Spurensuche. In: Dies. (Hrsg.): Vertrauen. S. 766.

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auch für im Rampenlicht stehende Akteure entscheidend, einen zuverlässigen Vertrauten zu haben, mit dem man offen und ohne taktische Vorbehalte reden und sich beraten kann. Diese Aspekte werden vor allem in der Tristan-Marke-Beziehung zu diskutieren sein. Thematisiert oder vielmehr problematisiert wird Vertrauen bzw. Mißtrauen vor allem in den weiblich-asymmetrischen Nahbeziehungen. Die männlich-symmetrischen Bindungen haben in dieser Hinsicht wenig zu bieten: Iwein scheint Vertrauen in Gaweins Rat und die dahinter stehenden möglichen Absichten zu haben; Lancelot klagt zwar Gauvain an, daß er ihn in seiner mißlichen Lage im Stich lasse, aber kann man sagen, er fühle sich in seinem Vertrauen in den Freund enttäuscht? Der eindeutigste Fall ist sicher der Verrat an Siegfried im Nibelungenlied. Siegfried hat auf die Treueeide der vriunde vertraut und wird heimtückisch ermordet. Nicht mit dem Vertrauensaspekt gleichzusetzen, aber damit verbunden sind wiederum die schon angedeuteten Fragen nach Öffentlichkeit/Privatheit sowie Performativität von Nahbeziehungen, die bereits thematisiert wurden. Die weiblichen asymmetrischen Beziehungen werden alle als schon bestehende eingeführt, hier stehen Vertrauen und Krise im Vordergrund sowie die tatsächliche Interaktion der Frauen, d.h. die Beziehung als solche wird thematisiert. Schon der Begriff der ‚Vertrauten’ verweist auf das Element, das zentral für diese Beziehungen ist: das Vertrauen. Eng verbunden mit diesem Nahvertrauen der Herrin in ihre Untergebene ist die Treue, die triuwe. Das Vertrauen der Herrin ist vor allem das Vertrauen in die Loyalität und die Verschwiegenheit der Confidente. Konstituierend für ihre exklusive Bindung ist nicht zuletzt das Geheimnis, das beide teilen. Exemplarisch hierfür ist zweifellos Isoldes und Brangänes Geheimnis des Minnetrankes und des Brautnachtbetruges – Brangäne soll sterben, weil Isolde den Geheimnisverrat fürchtet. Und wegen eines möglichen Geheimnisverrats richtet sich Isoldes Mißtrauen gegen die Vertraute. Anna teilt mit Dido das Geheimnis der Liebe zur Eneas bevor es nach dem Jagdausflug öffentlich wird. Thessala ist Geheimnisträgerin der Liebenden – sie stellt den Trank her, der Alis vorgaukelt, mit Fenice zu schlafen. Lunete allein weiß zunächst um Iweins Identität – ein Geheimnis, das zusammen mit ihrer Unterstützung ihre freundschaftliche Beziehung zu ihm konstituiert. In diesem Fall teilt sie das Geheimnis mit ihrer Herrin. Das bereits in Kapitel I als zentrales Merkmal von Freundschaft benannte Spannungsmoment von Freiwilligkeit – Verpflichtung444 tritt in den Nahbeziehungen der Zofe und ihrer Herrin in der Perspektive von Vertrauen und Treue besonders 444 Siehe Kap. I. 2.1. Sozialwissenschaftliche Ansätze, S. 12 u. Friese, Heidrun: Freundschaft. S. 23.

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deutlich hervor. Politisch und rechtlich gesehen stehen die Vertrauten in einem klar untergeordneten Verhältnis, sie sind zum Dienst verpflichtet. Dennoch gibt es immer wieder Momente der Entscheidung auf Seiten der Vertrauten für die Bindung: wenn Brangäne auch angesichts ihres Todes Isoldes Geheimnis wahrt und diese das durch ihre verschlüsselte Botschaft wissen läßt; wenn Lunete auch nach der Auslieferung Laudines an den Truchseß die Versöhnung ihrer Herrin mit Iwein herbeiführt. Resümierend ist festzustellen, daß in den hier analysierten asymmetrischen weiblichen Beziehungen zwar ein Ideal der Vertrauten bzw. die Varianten dieses Ideals durchgespielt werden, aber kein exemplarischer Entwurf weiblicher ‚Freundschaft’. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zeigt sich im Gegensatz von weitgehend positiv gestalteten Figuren wie Anna, Lunete und Brangäne einerseits und der doch eher problematischen oder doch zumindest ambivalenten und uneindeutigen Beziehung zu ihren Herrinnen andererseits. Man kann in den Beziehungen zwischen Herrin und Confidente Konfigurationen von Vertrauen, Krise und Stabilisierung sehen. Man kann sie aber auch als Geschichten von Emanzipation lesen, Emanzipation der Herrin von ihrer Untergebenen.445 Die Vertraute, auf deren Rat die Königin angewiesen ist, mit deren Hilfe schwierige Situationen bewältigt und Probleme gelöst werden, der Mißtrauen entgegengebracht wird, weil ihr Wissen ihr Macht gibt, die sich aber als loyal erweist, diese Vertraute wird schließlich nicht mehr gebraucht. Je mehr Isolde Täuschung und List lernt, desto mehr tritt Brangäne in den Hintergrund. Im Moment des Todes ist Dido allein, Anna, die in der Unterredung über Eneas so forsch auftritt und das Gespräch lenkt, bleibt vom Akt der Selbstvernichtung ausgeschlossen. Lunetes Geschichte endet in der Handschrift B damit, daß sie Laudines Herrschaftsbereich verläßt, um zu heiraten – auf Veranlassung Laudines. Die treue Begleiterin, die immer in der Nähe der Herrin war, verschwindet aus ihrer Umgebung, die Entscheidungen werden nun ohne sie getroffen. Die Abhängigkeit Laudines oder Isoldes, die zu Aggression und der beinahen Zerstörung des Verhältnisses geführt hat, ist damit beendet. Damit ist am Ende die ursprüngliche Hierarchie wiederhergestellt: Die Herrin als Vertreterin der stärkeren Position innerhalb der Beziehung aufgrund ihrer politisch-sozialen Stellung hat das Heft der Handlung wieder in der Hand und kann daher auch die Aufhebung der Bindung einseitig herbeiführen. Der Vertrauten bleibt dann nur noch der Posten der Zuschauerin (Anna) oder der Ausführenden der getroffenen 445 Im Falle Thessalas und Fenices könnte man davon sprechen, daß Fenice die anfängliche Hilflosigkeit ablegt und unabhängier agiert, allerdings bleibt sie nach den Mißhandlungen auf die Pflege der Amme angewiesen.

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Entscheidungen (Lunete, Brangäne). Und dennoch bleiben diese Beziehungen insgesamt betrachtet immer dynamische hierarchische Verhältnisse, wobei das am deutlichsten in der Beziehung zwischen Laudine und Lunete hervortritt. Aber auch Brangäne wird als an Erfahrung, höfischen Umgangsformen und Wissen Isolde überlegen gezeigt, ebenso wie Thessala, auch wenn diese ihren Wissens- und Erfahrungsvorsprung ganz in den Dienst der Herrin stellt. Anna dagegen ist nur als Liebesberaterin in der Rolle der Überlegenen. So klar die Rollen aus der Perspektive von Status und Macht verteilt zu sein scheinen, so flexibel agieren die weiblichen Figuren auf der interpersonalen Ebene und so dynamisch sind die Beziehungen im Binnenverhältnis. Und auch hier werden dafür unterschiedliche Diskurse neben-, mit- und gegeneinander eingespielt.

3. Männlich-asymmetrische Bindungen 3.1 Onkel und Neffen, Vaterfiguren, Erzieher Die höfische Epik erzählt von der komplexen, oft schwierigen Beziehung der Geschlechter, gelegentlich auch von der Freundschaft zwischen Artusritter und Zofe, von den symmetrischen Verbindungen zwischen Männern, die zwischen Gefährtenschaft und Rivalität changieren und von den asymmetrischen freundschaftlichen Beziehungen der Protagonisten zu männlichen Erzieher-, Onkel- oder Vaterfiguren. Neben den Konstellationen Gawein-Held und Herrin-Vertraute ist das auf der Ebene der mit Freundschaft zu beschreibenden Nahverhältnisse die dritte, literarischen Konventionen entsprechende, Beziehungsform. Besonders das OnkelNeffe-Verhältnis ist ein wiederkehrendes Muster dieser Texte, sowohl in der Heldenepik als auch in den höfischen Romanen: Roland und Karl, Willehalm und Vivians, Artus und Gawein, Parzival und Gurnemanz bzw. Parzival und Trevrizent, Cligès und Gauvain, Herzog Ernst und Kaiser Otto, Tristan und Marke. Die literarische Ausgestaltung des Avunkulats zeigt in der Regel eine enge Bindung zwischen Onkel und Neffe. Innerhalb dieser Reihe wird hier hauptsächlich die Beziehung zwischen Marke und Tristan interessieren, da sie im Vergleich mit den anderen genannten männlichen asymmetrischen Verhältnissen einige entscheidende Besonderheiten aufweist. Sie ist eine eminent politische Bindung, in ihrer Darstellung findet – in stärkerem Maße als etwa bei Gawein und Artus – eine Überlagerung unterschiedlicher Nahbeziehungsdiskurse statt, Verwandtschaft, Freundschaft, Verhältnis Herrscher-Favorit, homosozial-homoerotische Bindung, das Erziehungs- bzw. Beratungsverhältnis ist hier umgekehrt – Tristan ist mit

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seinen höfischen Fertigkeiten Marke überlegen – und die Beziehung der beiden wird als eine problematische, von Krisen und Betrug bedrohte erzählt. Bereits im Zuge der Analyse der männlich-symmetrischen Beziehungen wurde darauf verwiesen, daß gesellschaftliche Strukturen und ihre Organisation durch die Beziehungen zwischen Männern geregelt werden, sowohl horizontal wie vertikal, d.h. homosoziale Bindungen werden dafür genutzt, Herrschaftsräume zu schaffen unter Ausschluß von Frauen, aber auch, um bestimmte Beziehungen zu bestimmten Männern zu favorisieren. Das gilt auch für die in diesem Abschnitt näher anzuschauenden asymmetrischen Bindungen, die Politik wie personale Bindungen, Verwandtschaft als auch Freundschaft einschließen. Allerdings treten hier in stärkerem Maße als bei den symmetrischen Beziehungen zwischen Männern die Fragen von Dynastie, Verwandtschaft und Familie446 auf den Plan, was nicht zuletzt den Besonderheiten und Eigengesetzlichkeiten der literarischen Texte geschuldet ist. Es geht also um die Beziehung zwischen Onkel und Neffe bzw. die zwischen (Ersatz)Vater und Sohn, wobei diese Bindungen nicht unter dem Vorzeichen Verwandtschaft gelesen werden sollen/müssen. Wesentliche Aspekte dieser Verhältnisse sind Erziehung, Brautwerbung, Dynastie, auch hier wieder die Dynamik der Hierarchie, Vertrauen sowie Beratung. Die Interaktion ist auf den Hof und die Hofgesellschaft konzentriert, das (problematische) Verhältnis HerrscherGünstling bildet einen Hintergrund für Beziehungen wie die zwischen Marke und Tristan. Die Onkel-Neffe-Beziehung und hierbei vor allem das Avunkulat, also das Verhältnis von Mutterbruder und Schwestersohn, ist ein gängiges Schema sowohl in der Heldenepik als auch in den höfischen Romanen.447 Zugleich wird in historiographischen Zeugnissen, von deren Wechselwirkungen mit fiktiven Texten bereits die Rede war, der junge Mann vorgestellt, der am Hof eines Verwandten, Onkels oder Gönners erzogen wird: Guillaume le Maréchal geht an den Hof eines Verwandten für eine standesgemäße Erziehung und Ausbildung, und in der Chronik Lamberts von Ardres wird der junge Arnold beim Grafen von Flandern erzogen. Wie bereits in den vorangegangen Untersuchungen liegt also das literarische Muster einer Nahbeziehung vor, das in komplexer und mehrdeutiger Weise den historischen Kontextquellen korrespondiert. Charakteristisch für diesen Beziehungstyp ist ein erziehungsähnliches Verhältnis. Exemplarisch 446 Vgl. dazu Peters, Ursula: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder.; Schmid, Elisabeth: Familiengeschichten und Heilsmythologie. 447 Vgl. u.a. Beekes, Robert S. P.: Uncle and Nephew. In: The Journal of Indo-European Studies, Bd. 4, Nr. 1, 1976, S. 43-78; Nitze, William A.: The Sister’s Son and the Conte del Graal. In: Modern Philology 9 (3) 1912, S. 291-322.

3. Männlich-asymmetrische Bindungen

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begegnet das bei Parzival und Gurnemanz sowie seinem Onkel mütterlicherseits, Trevrizent. Auch bei Marke und Tristan findet der Neffe an den Hof des Onkels. Doch bildet dieses Verhältnis die Ausnahme unter den Onkel-Neffen-Beziehungen, da hier die Asymmetrie von Bildung und Wissen umgekehrt ist: Tristan ist der umfassend höfisch Gebildete, der als Wunderkind am Markehof bestaunt wird. 3.1.1 Die Frage der Verwandtschaft Das Verhältnis von Verwandtschaft und Freundschaft wurde bereits im ersten Kapitel thematisiert, wobei auf das Neben- und Miteinander dieser Beziehungssysteme verwiesen wurde. Diese Überlegungen zum Verhältnis von Freundschaft und Verwandtschaft werden wichtig, wenn man sich das prominente Beispiel einer komplexen Zweierbeziehung der höfischen Literatur um 1200 vor Augen führt, das hier besonders interessiert, nämlich Marke und Tristan in Gottfrieds Tristanroman. Das Verhältnis der beiden scheint durch die familiäre Bindung hinreichend charakterisiert, zumal wenn man berücksichtigt, daß es sich um die besondere Beziehung des Avunkulats handelt: Marke ist Tristans Mutterbruder. Im Zentrum dieses Abschnitts steht diese Onkel-Neffe-Beziehung.448 Nun scheint der Verweis auf die offensichtliche Verwandtschaftsbindung eine Analyse unter der Überschrift Nahbeziehung oder gar Freundschaft überflüssig zu machen. Doch muß man diese vielschichtige und spannungsreiche Beziehung tatsächlich oder nur unter dem Vorzeichen der Verwandtschaft lesen? Ähnlich wie die Mediävistik hat sich die Ethnologie lange mit Familien- und Verwandtschaftsbindungen beschäftigt und Freundschaft diesem Beziehungssystem gegenübergestellt. Mittlerweile ist aber man dort – und ebenso in der Mediävistik – zu der Einsicht gelangt, daß diese Opposition nicht absolut ist.449 Verwandtschaft macht Freundschaft nicht überflüssig, und Familienbindungen sind weder in der Vormoderne noch in der Postmoderne Garant für freundlich-friedliche Beziehungen. Wenn die gesellschaftliche Elite untereinander durch ein vergleichsweise enges Netz von Verwandtschaft – natürlich wie künstlich – verbunden ist, wird der Anspruch, der an Freundschaftsbindungen gestellt wird, ungleich höher, da diese ganz bewußt und gezielt eingegangen werden und sich auf diese Weise von den bereits etablierten familiären Beziehungen abheben. Die Grundlage einer solchen Freundschaft kann durchaus ein 448 Vgl. dazu auch Kullmann, Dorothea: Verwandtschaft in epischer Dichtung. S. 131-141. 449 Grätz, Tilo /Meier, Barbara / Pelican, Michaela: Zur sozialen Konstruktion von Freundschaft. S. 7.

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Verwandtschaftsverhältnis sein, und es ist sogar naheliegend, eine engere Bindung zu jemandem aus dem eigenen verwandtschaftlichen Umfeld herzustellen, aber das Wesen der so entstandenen Freundschaft und die Erwartung an sie unterscheidet sich von rein verwandtschaftlichen Verhältnissen, wenn es auch zweifellos schwierig ist, bei der Überschneidung dieser Nahbeziehungen in jedem Fall das eine vom anderen zu unterscheiden und das jeweilige Verhalten der Akteure auf eines der beiden Beziehungssysteme zurückzuführen. So wie der durch Freundschaft verbundene Gefährte als Teil der Familie betrachtet werden kann oder auch etwa durch Heirat tatsächlich in die Familie integriert wird, so kann auch der Verwandte – der Cousin, der Neffe – zum Vertrauten werden. Diese Dynamik der Nahbeziehungssysteme und die Überbietung von Verwandtschaft durch Freundschaft wurde bereits in der Iwein-Passage deutlich, die Iweins und Gaweins Verhältnis zueinander beschreibt.450 Aus soziologischer Perspektive beschreibt Graham Allan das Verhältnis zwischen Familien- und Freundschaftsbeziehungen: „While our culture accepts that precedence should normally be given to family members, especially to one’s spouse and children, loyalty and commitment to close friends is taken to be a moral virtue.”451 In dieser Beschreibung schwingt noch viel der kulturellen historischen Freundschaftsdiskurse mit – die bewußte Entscheidung für den Freund, die dann auch Loyalität und Unterstützung impliziert und diese freiwillig eingegangenen Verpflichtungen zu entscheidenden Werten der Nahbeziehung macht. Dennoch soll nicht unterschlagen werden, daß Familie und Verwandtschaft durchaus beherrschende Themen in der höfischen Epik sind. Deutlichstes Beispiel hierfür ist Wolframs Parzival, in dem im Grunde jeder mit jedem verwandt ist.452 Aber was bedeutet das dann eigentlich noch? Impliziert die Allgegenwart von Familie und Verwandtschaft nicht zugleich ihre Problematisierung und Relativierung?

450 Kap. III: Iwein: Case Study. 451 Allan, Graham: Friendship. Developing a sociological perspective. (Studies in Sociology) New York u.a. 1989, S. 13. 452 Siehe auch Brall, Helmut: Familie und Hofgesellschaft in Wolframs Parzival. In: Kaiser, Gert / Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 03.-05.11.1983. (Studia humaniora, 6) Düsseldorf 1986, S. 541-583.

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3.1.2 Herrscher, Onkel und väterlicher Erzieher: Kaiser Otto, Artus und Gurnemanz Eine wichtige wiederkehrende Konstellation dieses Onkel-NeffenVerhältnisses ist in den Artusromanen die Beziehung zwischen Artus und Gawein, die nicht einfach als ‚private’ verwandtschaftliche Beziehung eingeordnet werden kann. Vielmehr kann man feststellen, daß Gawein ein „intimate personal and political relationship with Arthur”453 hat. Vor allem aber ist er Funktionsträger der Artusgesellschaft, und in bezug auf Artus übernimmt er wesentliche Eigenschaften, die eigentlich mit dem König selbst assoziiert werden: “it is Gauvain who, according to Chrétien, supplies the strength and judgment that Arthur lacks”454. Kehren wir noch einmal zu Wolframs Parzival zurück. Hier erhält man einigen Aufschluß über Artus und Gawein, wenn man sich erneut die Parallelen und Unterschiede zwischen Parzival und Gawan vor Augen führt. Gawan und Parzival wachsen in gegensätzlichen Welten auf, aber ihnen ist gemeinsam, daß für ihre Positionsbestimmung innerhalb der höfischen Gesellschaft die mütterliche Linie ausschlaggebend ist. Parzivals Weg führt in die Gralsburg seines Onkels mütterlicherseits, und Gawan, König Lots Sohn, wächst am Hof des Bruders seiner Mutter, am Hof von König Artus auf. Da König Artus’ Sohn verschwunden ist und man von ihm nichts weiß, müssen wir in seinem Neffen den prädestinierten Nachfolger für den Thron sehen. Gawan qualifiziert sich für diese Rolle, indem er seine Verwandtschaft der mütterlichen Linie aus Clinschors Burg befreit und zurück an den Artushof führt. Nachdem Kundrie mit ihren Vorwürfen gegen Parzival die höfische Freude der Tafelrunde bereits zerstört hat, erscheint Kingrimursel und fordert Gawan zum Zweikampf in Schamfanzun. Die Artusgesellschaft ist entsetzt, und Beacurs will für seinen Bruder Gawan in den Kampf ziehen, da die Vorwürfe offensichtlich ungerechtfertigt sind und daher niemand Gawans Leben gefährdet sehen möchte. Mit Parzival verliert die Tafelrunde zwar einen strahlenden Ritter, doch der Verlust Gawans ist wesentlich höher zu veranschlagen, denn sein Tod würde bedeuten, daß Artus keinen Nachfolger mehr hat. Wie bereits ausgeführt, ist Gawan als sein Neffe nach dem Verschwinden seines eigenen Sohnes der Thronprätendent. Zudem muß Gawein immer dann seine Fähigkeiten einsetzen, wenn im Hause Artus Familienprobleme auftreten, konkret, wenn wieder einmal Ginover entführt wird (Lancelot, Iwein). Das heißt, er ist für Artus und 453 Busby, Keith: Gauvain in Old French Literature. S. 51. 454 Nitze, William A.: The Character of Gauvain in the Romances of Chrétien de Troyes. In: Thompson, Raymond H. / Busby, Keith (Hrsg.): Gawain. A Casebook. S. 103-115, S. 109.

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seinen Hof nicht nur Musterritter und Ersatzsohn, sondern auch eine Art Feuerwehr für Notfälle aller Art. Die Asymmetrie der Beziehung in Statusfragen, die aus Artus’ Königtum resultiert, wird durch die umgekehrte Asymmetrie der Aktivität wieder ausgeglichen. Was im Verhältnis ArtusGawein, das ohne Zweifel eine freundschaftliche Dimension enthält, dominiert, ist Beratung, Repräsentation und Unterstützung im Sinne von Dienst für den König – Gawein übernimmt die klassische Beraterrolle. Auf der narrativen Ebene werden im Grunde königliche Funktionen auf ihn ausgelagert: Betrachtet man Artus und Gawein als zwei Seiten der gleichen Medaille, so verkörpert Gawein den aktiven Part. Haben wir mit Artus und Gawein also eine dynamische asymmetrische Beziehung vor uns, in der Rat und Vorbildlichkeit dem Jüngeren zukommen, so begegnet uns der väterliche Freund exemplarisch in Gurnemanz, der Parzival im Schnellverfahren standesgemäß erzieht. Parzival gelangt zu Gurnemanz, „dem houbetman der wâren zuht“455, und dieser begrüßt ihn mit den Worten: „Sît ir durch râtes schulde / her komen, iwer hulde / müezt ir mir durch râten lân, / und welt ir râtes volge hân.“456. Der seltsame Gast wird von Gurnemanz’ Leuten wie ein exotisches Tier betrachtet. Seine offensichtlich vornehme Herkunft und sein ansprechendes Äußeres wollen nicht mit seiner wunderlichen, der Rüstung unangemessenen Kleidung zusammenpassen. Gurnemanz läßt den Unbekannten essen und schlafen, um ihm dann eine ausführliche ‚Erziehungs- und Verhaltensrede’ zu halten.457 In geradezu rührender Weise nimmt er sich des Jüngeren an, ohne dabei seine Souveränität zu verlieren. Wie ein besorgter Vater kümmert er sich selbst um Parzivals Verletzungen: „sîn underwant sich Gurnemanz. / sölch was sîn underwinden, / daz ein vater sînen kinden, / der sich triwe kunde nieten, / möhtez in niht paz erbieten. / sîne wunden wuosch unde bant / der wirt mit sîn selbes hant.“458 In väterlicher Weise nimmt sich Gurnemanz des vaterlosen Parzivals an, allerdings nicht ganz selbstlos und nicht ohne Hintergedanken. Er sieht in ihm einen potentiellen Schwiegersohn und damit Sohnersatz und möchte ihn auf diese Weise in seine Familie integrieren. In Gurnemanz, in gewisser Weise auch in Trevrizent, begegnet uns eine Figur, die bis zu Goethes Wilhelm Meister den Platz der Erzieher/Vaterfigur einnimmt, die plötzlich, aber nicht unbedingt zufällig den Weg des Helden kreuzt, ihm Ratschläge gibt und den Verlauf auf diese Weise bestimmt oder doch zumindest mitsteuert. Es geht um den Erzieher, der 455 Parzival. III, 162, 23. 456 Parzival. III, 163, 3-6. 457 In Chrétiens Perceval beginnt Gornemanz Perceval gleich nach seiner Ankunft im Kampf zu unterrichten. Chrétien de Troyes: Perceval. 1433ff. 458 Parzival. III, 165, 8-14.

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als Freund auftritt, eine Verbindung, die den Themenkomplex Beratung und Freundschaft berührt und im weiteren sich fortsetzt bis hin zu den Erziehungsratgebern der Neuzeit, in denen der Autor als väterlicher Freund des heranwachsenden Mannes auftritt. Wie bereits schon bei Artus und Gawein angesprochen, haben wir es hier mit den Nahbeziehungen ‘Ungleicher’ zu tun. Ebenso wie bei den weiblichen asymmetrischen Beziehungen stellt sich auch hier die Frage nach Asymmetrie und Freundschaft. Es liegt beim Älteren, Ranghöheren, das Verhältnis als ein freundschaftliches zu gestalten und so das formalisierte Verhältnis oder das durch Verwandtschaft gegebene durch eine exklusive Vertrauensbindung oder auszeichnende Zuneigung und Zuwendung zumindest im Binnenverhältnis in Freundschaft zu überführen. Ein drittes Paradigma der asymmetrischen männlichen Bindung in den höfischen Texten findet sich im Herzog Ernst. Hier mischen sich politische und persönlich-verwandtschaftliche Aspekte, wobei diese Benennung keine strikte Trennung impliziert: Verwandtschaft ist in der mittelalterlichen Gesellschaft, zumal auf der Ebene der adligen Elite, kaum unpolitisch. Ernst und Kaiser Otto stehen nach dessen Heirat mit Adelheid, Ernsts Mutter, in einem freundschaftlichen Verhältnis: Der junge Herzog ist der Favorit des Kaisers am Hof, der sein enges Verhältnis zu ihm demonstriert, indem er auf seinen Rat hört und ihm sein volles Vertrauen schenkt. Das ruft Neider wie Heinrich auf den Plan. Er trachtet danach, diese Bindung zu zerstören, um selbst die Gunst und Bevorzugung des Herrschers zu erlangen. Um dieses Ziel zu erreichen, denunziert er Ernst bei Otto unter Berufung auf einen Gewährsmann: sô wizzet wærlîche, / daz er iuch von dem rîche / vil gerne wil verstôzen. / er wil sich dir genôzen / in adel und an rîcheit. / daz müet mich, herre, und ist mir leit. / ez hât gemachet dîn golt. / die fürsten sint im alle holt. / du maht al dîn êre verliesen. / woldest du dir, herre, kiesen / einn getriuweren trût?459

Zunächst scheint der Kaiser nicht auf den Intriganten hereinzufallen, denn er ist überzeugt von der Treue des Herzogs. Nur „nît“ und „haz“460 seien die Ursache solcher üblen Nachrede, der Kaiser aber kenne Ernst und vertraue ihm, auch hätte er ihm in der Vergangenheit nie Grund zu Mißtrauen gegeben, und diese Beschuldigungen hätten offensichtlich nur den Zweck, das gute Verhältnis zu zerrütten.461 Doch Heinrich ist raffiniert und hartnäckig: Er führt den Unwillen des Kaisers, den Warnungen 459 Alle Zitate nach folgender Ausgabe: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In d. mittelhochdeutschen Fassung B nach d. Ausgabe v. Karl Bartsch mit d. Bruchstücken d. Fassung A hrsg., übers., mit Anm. u. einem Nachw. vers. v. Bernhard Sowinski. Stuttgart 1970, 681-691. 460 Herzog Ernst. 722-23. 461 Herzog Ernst. 724-748.

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Glauben zu schenken, darauf zurück, daß Herzog Ernst ihn schon so manipuliert habe, daß Otto nur ihm, nicht aber Heinrich in Zuneigung verbunden sei.462 Nachdem der Kaiser überzeugt ist, rät Heinrich ihm sogleich, was nun zu tun ist: Niemand darf etwas erfahren, damit Ernst nicht gewarnt wird. Die Folge ist ein jahrelanger verheerender Krieg zwischen dem Kaiser und Ernst, ausgelöst durch eine Intrige, Mißtrauen, fehlende Kommunikation und eine Kaskade wechselseitiger Reaktionen auf die Aktivitäten der Gegenseite. Damit wird im Gegensatz zu den vorher benannten Bindungen das Scheitern dieser Beziehung vor Augen geführt, das seine Ursache nicht zuletzt in konkurrierenden Diskursen von Freundschaft, Macht und Nahbeziehungskonstellationen am Hof hat. Bei diesen bisher skizzierten Bindungen wurden einzelne Aspekte und Probleme angesprochen und hervorgehoben, die in der folgenden asymmetrischen männlichen Nahbeziehung, nämlich dem Verhältnis zwischen Marke und Tristan, in ihrem komplexen Zusammenspiel und ihrer Überlagerung, vor allem in Gottfrieds Text, gleichsam wie unter einem Brennglas zu beobachten sind. In der Darstellung und Problematisierung dieser Beziehung, die Verwandtschaft, Freundschaft, politisches Beratungsverhältnis, Herrscher-Favorit-Beziehung und Konkurrenz zugleich ist, treffen die wesentlichen Diskurse interpersonaler Bindungen zusammen und werden in ihrer Ergänzung, Überschneidung sowie Verschränkung sichtbar. 3.1.3 Marke und Tristan Der Tristan erzählt von ganz unterschiedlichen männlichen Nahbeziehungen: von Kurvenal, dem Erzieher und Helfer Tristans, von Rual, der Vasall und (väterlicher) Freund sowohl für Riwalin als auch für Tristan ist, von Kaedin, dessen Freundschaft Tristan nach dem Verlassen Cornwalls gewinnt und von Marjodo, dem falschen Freund und Intriganten am Markehof. Kurvenal erweist sich als stets loyaler Begleiter, bleibt aber eine Randfigur. Vor allem aber Rual wird als der Inbegriff politischer wie persönlicher Treue vom Erzähler nach dem Tod von Riwalin dargestellt: Riuwe unde stætiu triuwe / nâch friundes tôde ie niuwe, / dâ ist der friunt ie niuwe: / daz ist diu meiste triuwe. / Swer nâch dem friunde riuwe hât, / nâch tôde triuwe an ime begât, / daz ist vor allem lône, / deist aller triuwe ein krône.463 462 Herzog Ernst. 752-55. 463 Der Text wird im folgenden zitiert nach: Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Hrsg. v. Karl Marold. Unveränd. 5. Abdruck nach d. dritten, mit einem auf Grund v. Friedrich Rankes Kollationen verb. krit. Apparat besorgt u. mit einem erw. Nachw. v. Werner Schröder. Berlin, New York 2004, 1789-1796.

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In dieser asymmetrischen Bindung, die mit Tristan ihre Neuauflage erlebt, vermischen sich personale Beziehung und Herrschaftsverhältnis, wobei erstere nicht zuletzt in Ruals Trauer um Riwalin deutlich wird, die als deutliche Anknüpfung an das klassische antike Ideal, daß Freundschaft ewig dauert und über den Tod hinausreicht, indem der tote Freund und damit die Freundschaft erinnert wird, geschildert ist. Diese Trauer um den Toten als erinnerndes Gedenken bedeutet Treue, die im Sinne christlicher Memoria über die Freundschaft der Lebenden hinausreicht – und sich entsprechend auf den Sohn vererbt. Als Vaterfigur für Tristan wird Rual durch Marke abgelöst,464 doch im Gegensatz zum Treueverhältnis Ruals ist die Beziehung Marke-Tristan vielschichtig und ambivalent. Sie ist die männliche Nahbeziehung im Tristan, die erzählerisch den größten Raum einnimmt und die daher hier im Mittelpunkt stehen soll. Markes Verhältnis zu Tristan ist bei der Untersuchung von Nahbeziehungen in höfischen Texten um 1200 von besonderem Interesse, weil sich in dieser Konstellation Bindungen überlagern, die auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert sind und damit unterschiedliche Verhaltenserwartungen und Verpflichtungen implizieren. In der Narration des Textes läßt dieser Umstand eine Vielzahl unterschiedlicher Diskurse zu Wort kommen, und das führt nicht nur zu Komplexität in der Gestaltung dieser Beziehung, sondern auf der Ebene der Geschichte vor allem zu Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten infolge von Tristans Ehebruch mit Isolde. Oder, um es mit Walter Haug zu formulieren: „Im ‚Tristan’ sind Gut und Böse, Schön und Häßlich auf keine Ordnung bezogen. Was geschieht, kann gleichzeitig das eine wie das andere sein. Hierin liegt das moralisch Provozierende des Werkes.“465. Um ein umfassendes Verständnis der Konstellation Marke – Tristan zu bekommen, ist es notwendig, die Analyse bei der Vorgeschichte, bei der Geschichte von Tristans Eltern Riwalin und Blanscheflur zu beginnen, die nicht zuletzt in typologischer Beziehung zur Liebe Tristans und Isoldes steht, indem sie diese präfiguriert.466 Betrachtet man die Oberflächenstruktur, also die Ebene der Geschichte, erzählt uns der Autor hier von einem unglücklichen Liebespaar: Der einzige Ausweg für die Liebenden scheint darin zu bestehen, daß Riwalin die schwangere Blanscheflur mit 464 Siehe dazu auch Storp, Ursula: Väter und Söhne. Tradition und Traditionsbruch in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters. (Item Mediävistische Studien, 2) Essen 1994, S. 189-200. 465 Haug, Walter: Für eine Ästhetik des Widerspruchs. In: Palmer, Nigel F. / Schiewer, HansJochen (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. S. 211-228, S. 227. 466 Im Sinne einer außerbiblischen Typologie, wie sie Friedrich Ohly beschreibt (Ohly, Friedrich: Außerbiblisch Typologisches.).

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sich nimmt und heiratet. Verläßt man aber diese erste Ebene und konzentriert sich auf die Strukturen, die den geschilderten Ereignissen zugrunde liegen, läßt sich feststellen, daß diese Elterngeschichte von einem Brautraub erzählt. Die anthropologische Literatur würde hier mit Endogamie und Exogamie argumentieren. Damit ist möglicherweise ein Grundproblem angesprochen, daß den gesamten Text durchzieht: die Unvereinbarkeit der zugeschriebenen und erworbenen Beziehungen, um diesen Gegensatz aus Kapitel I aufzugreifen, aber nicht im Sinn einer Opposition verwandtschaftlicher und nichtverwandtschaftlicher Bindungen, sondern eher im Sinn der von Rüdiger Schnell postulierten Außen- und Innennormen,467 nur bezogen auf die Nahbeziehungen. Vielleicht ist die Konzentration auf Verwandtschaft tatsächlich insofern einseitig, als daß Freundschaft und Liebe andere, insbesondere moralisch andere Verpflichtungen implizieren, die man bewußt, aus eigener Entscheidung eingeht (im Sinne einer abaelardschen Intentionsethik) und die das Beziehungssystem Familie und Verwandtschaft ergänzen, unterlaufen oder überbieten können: Tristans Entscheidung für Isolde, Markes Festhalten an Tristan als Erbe können in diesen Zusammenhang gestellt werden. Diese Entscheidung kann dann auch zugunsten eines Verwandten fallen, und trotzdem bewegt sich die Beziehung auf einer anderen Ebene – für Marke und Tristan ist das möglicherweise zu berücksichtigen. Allerdings bedeutet das nicht zwangsläufig eine Hierarchisierung der Nahbeziehungssysteme, sondern verweist darauf, daß diese auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Verwandtschaftsrelationen sind zunächst einmal klassifikatorische Kategorien, d.h. sie sagen noch nicht unbedingt etwas über den konkreten Einzelfall und insbesondere über die Qualität der jeweiligen spezifischen Bindung aus, und das ist entsprechend auch für die Anwendung dieser anthropologischen Kategorien auf mittelalterliche literarische Texte zu berücksichtigen. Diese Problematik von Verwandtschaft – auch im Sinne des rechtlichen Status – und freiwillig eingegangenen Beziehungen deutet sich also bereits in der Vorgeschichte an, und sie setzt sich in der Beziehung Marke-Tristan sowie auf wiederum ganz andere Weise in der Liebe Tristans und Isoldes fort. Der Hintergrund des de-facto-Brautraubs erklärt auch das Verhalten von Rual nach dem Tod von Riwalin und Blanscheflur. Tristan wird als Kind des Marschalls aufgezogen, um seine eigentliche Herkunft vorerst zu verbergen, schließlich kann niemand wissen, wie Marke auf die Entfüh-

467 Schnell, Rüdiger: Suche nach Wahrheit. S. 28ff.

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rung seiner Schwester reagieren wird. Der Text schweigt dazu und antizipiert damit auch hier das spätere Geschehen: Marke verhält sich passiv.468 Unklar ist auch, ob Tristan legitimer Erbe seines Vaters ist, da er zwar ehelich geboren, jedoch nicht ehelich gezeugt ist. Auch bleibt die Frage, ob überhaupt eine vollgültige Eheschließung vorliegt.469 Erst nachdem Tristan bereits an Markes Hof aufgenommen ist, enthüllt Rual die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse, wohl, weil er keine negativen Reaktionen mehr befürchtet. Darüber hinaus stellt dieser Auftritt Ruals eine klassische literarische Szene dar, nämlich die Offenbarung der Herkunft des Helden, des scheinbar Fremden, der in Wahrheit unwissend den Weg zu seiner Familie gefunden hat. Nachdem Tristans tatsächliche Herkunft bekannt ist, ändern sich Charakter und Status seiner Beziehung zu Marke: Die besondere verwandtschaftliche Bindung des Avunkulats470 findet ihren Ausdruck in der Schwertleite und im Leben am Hof als Neffe des Königs. Den Plan, nach Irland zu fahren, um von Isolde geheilt zu werden, bespricht Tristan mit Marke „als ein friunt sînem friunde tuot“471, was sowohl die verwandtschaftliche wie die freundschaftliche Ebene meinen kann. Und der Umstand, „daß der Ehebruch mit Isolde eine flagrante Abweichung von der Verhaltensnorm gegenüber dem Avunkulus bedeutet, läßt den zentralen Konflikt des Tristan-Romans noch schärfer hervortreten“472. Zwar wird mit der Marke-Tristan-Beziehung die klassische OnkelNeffe-Beziehung, konkret das Verhältnis zum Mutterbruder aufgegriffen, jedoch durchbricht Gottfried zugleich wieder das traditionelle Erzählschema, indem er charakteristische Merkmale dieses Schemas verändert. In den chansons de geste und der mittelhochdeutschen Heldenepik tritt der Onkel, der avunculus, als der weise und erfahrene väterliche Mentor auf, der sich um den jungen, oft über das Ziel hinausschießenden Neffen sorgt. Bei Gottfried scheinen zumindest partiell die Rollen vertauscht: In schwierigen Situationen trifft Tristan kühl abwägend weitreichende Entscheidungen, während Marke ängstlich und unentschlossen wirkt. Im englischen Sir Tristem und der nordischen Tristan-Saga, die beide wie Gottfried Thomas’ Tristanversion als Vorlage benutzt haben, ist dieses Ver468 Kerth, Thomas: Marke’s Royal Decline. In: Stevens, Adrian / Wisby, Roy (Hrsg.): Gottfried von Straßburg and the Medieval Tristan Legend. Papers from an Anglo-North American Symposium. (Arthurian Studies 23; Publications of the Institute of Germanic Studies, 44) Cambridge 1990, S. 105-116, S. 113. 469 Vgl. Combridge, Rosemary Norah: Das Recht im ‚Tristan’ Gottfrieds von Straßburg. (Philologische Studien und Quellen, 15) Berlin 1964, S. 32f. 470 Nolte, Theodor: Das Avunkulat in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Poetica 27, 1995, S. 225-253. 471 Gottfried: Tristan. 7318. 472 Nolte, Theodor: Das Avunkulat in der deutschen Literatur des Mittelalters. S. 238.

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hältnis nicht so eng und emotional gestaltet wie bei Gottfried, was bedeutet, daß das Verhältnis Marke-Tristan bei Gottfried nicht einfach mit dem Verweis auf das Avunkulat und dessen Implikationen bzw. seine Tradition in der Literatur (vor allem in den chansons de geste/in der Heldenepik) erklärt und klassifiziert werden kann.473 Die Gottfried-Forschung hat wiederholt die Möglichkeit einer homoerotisch gefärbten Beziehung zwischen Marke und Tristan diskutiert, vor allem mit Blick auf Markes stark affektive Bindung an seinen Neffen. Rüdiger Krohn sieht eine „Diffamierungsstrategie“474 Gottfrieds am Werk, der dezente, aber gezielte Hinweise auf eine latente Homosexualität des Königs plaziert, um auf diese Weise Markes Integrität in Zweifel zu ziehen und die Liebenden im Gegenzug positiv davon abzuheben. Die gesetzten Signale sind nicht eindeutig, reichen aber scheinbar aus, um den König zu diskreditieren. Diese Interpretation setzt allerdings voraus, daß es Gottried tatsächlich darum geht, eine positive Bewertung seiner beiden Protagonisten und ihres Verhaltens beim Publikum zu erreichen, eine Deutung, die nur eine mögliche ist. Rainer Gruenter verweist in diesem Zusammenhang auf das Problem des Favoriten,475 das noch zu vertiefen sein wird. Ein Indikator der Besonderheit der Beziehung ist ihre erste Begegnung, ein weiterer Markes Angst um Tristan vor dem Morold-Kampf: „Der guote künic Marke / dem gie der kampf sô starke / mit herzeleide an sînen lîp, / daz nie kein herzelôsez wîp / die nôt umb einen man gewan.“476. Hier wird sogar die Hierarchie umgekehrt, denn die Sporen legt Tristan „sîn friunt Marke / und sîn getriuwer dienestman“477 an. In der Interpretation des von Marke verwendeten ‚geselle’ spricht Rüdiger Krohn in seinem Kommentar von der erotischen Komponente dieser Bezeichnung478, besonders wenn man sie im Zusammenhang mit der syntakti473 Man könnte allerdings mit dem Avunkulat als literarischem Motiv speziell in der mittelhochdeutschen und französischen Literatur argumentieren; in der englischen Literatur ist diese Struktur nicht in dem Maße präsent, wohl aber in der skandinavischen. Diese Divergenzen scheinen gegen ein mechanisches Gleichsetzen von Avunkulat als Struktur und der Gestaltung des Marke-Tristan-Verhältnisses bei Gottfried zu sprechen. 474 Krohn, Rüdiger: Erotik und Tabu in Gottfrieds ‚Tristan’: König Marke. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hrsg. v. Rüdiger Krohn, Bernd Thum, Peter Wapnewski. (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten; Bd. 1) Stuttgart 1979, S. 362-376, S. 371. 475 Gruenter, Rainer: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gotfrids Tristan und Isold. In: Ders.: Tristan-Studien. Hrsg. v. Wolfgang Adam. (Beihefte zum Euphorion, 27) Heidelberg 1993, S. 141-158. 476 Gottfried: Tristan. 6525-6529. 477 Gottfried: Tristan. 6552-53. 478 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachw. v. Rüdiger Krohn. Stuttgart 1998, 5. Aufl. Bd. 3: Kommentar, Nachwort und Register. S. 81f.

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schen Figur des ‚dû der mîn und ich der dîn’ – ein Wortspiel, das bereits im Prolog und in der Geschichte von Tristans Eltern benutzt wird – und Markes erstem Eindruck von Tristan479 sieht. Beides, sowohl die Benennung als geselle als auch das Wortspiel, sind jedoch als vermeintliche Marker einer erotisch anmutenden Beziehung zu relativieren. Friedrich Ohly hat gezeigt, daß die Formel du bist min, ich bin din sich in ganz verschiedenen Kontexten mittelalterlicher Texte findet, und nicht in erster Linie eine Verlobungsformel ist oder nur für die Geschlechterbeziehung oder eine in irgendeiner Form erotische Beziehung in Anspruch genommen, sondern auch für Bindungen zwischen Männern oder Frauen verwendet werden kann.480 Sie ist vielfältig zu deuten und findet sich sowohl in der Mystik als auch in der Liebeslyrik, im geistlichen wie weltlichen Bereich und kann auch die „hohe Freundschaft unter Männern bis zur Totenklage“481 meinen. Entsprechend kann man ihre Verwendung auch an dieser Stelle des Tristan interpretieren. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, daß für den mittelalterlichen Rezipienten durch die offensichtliche Parallelität der sprachlichen Umschreibung mit den erotischen Beziehungen zwischen Riwalin und Blancheflur und Tristan und Isolde Markes Verhältnis zu Tristan ins Zwielicht gerückt erscheint. Spielt womöglich eine gegen Ende des 12. Jahrhundert stärkere Ablehnung der Homosexualität eine Rolle, die sich in größerer Aufmerksamkeit von theologischer Seite ausdrückt?482 Petrus Cantor etwa widmet der Frage der Sodomie in seiner Schrift Verbum abbreviatum ein ausführliches Kapitel, was von einer gewachsenen Sensibilität zu zeugen scheint. Stephen Jaeger verweist dagegen auf die ritualisierte Gefühls- und Freundschaftsrhetorik am mittelalterlichen Hof,483 vor deren Hintergrund man das Verhältnis Markes zu Tristan sehen müsse. Diese Annahme eines freundschaftlichen Verhältnisses könnte die Frage nach den homoerotischen Untertönen relativieren, da die Sprache der Liebe und die der Freundschaft um 1200 kaum zu unterscheiden sind. Die Frage dabei ist, ob Markes und Tristans Verhältnis zueinander nur durch die bestehende Verwandtschaft, das Avunkulat, bestimmt und charakterisiert wird. Dagegen spricht unter anderem die Sonderstellung, die Tristan schon bald nach seiner Ankunft am Hof Markes aufgrund seines vollendet höfischen Ver479 Gottfried: Tristan. 3239ff. 480 Ohly, Friedrich: Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich. In: Schmidt, Ernst-Joachim (Hrsg.): Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder zum 60. Geburtstag. Berlin 1974, S. 371-415, bes. S. 382. 481 Ebd. S. 401. 482 Brundage, James A.: Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe. S. 313f. 483 Jaeger, Stephen C.: Mark and Tristan: The Love of Medieval Kings and their Courts. In: in hôhem prîse. A Festschrift in Honor of Ernst S. Dick. Hrsg. v. Winder McConnell. (GAP, Nr. 480) Göppingen 1989, S. 183-197.

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haltens und seiner Fähigkeiten einnimmt, noch bevor das verwandtschaftliche Verhältnis bekannt ist. Markes Zuneigung und Vertrauen in Tristan gipfelt schließlich in seiner Nachfolgeregelung zugunsten des Neffen. Wie aber kann diese Freundschaft jenseits der Homosexualitätsdebatte kontextualisiert werden? 3.2 Freundschaft und Hofkritik Der Zusammenhang von Freundschaft und Raum ist wiederholt schon angeklungen. Da in der höfischen Epik ganz verschiedene Räume literarisch gestaltet sind, verändert sich auch der Freundschaftsdiskurs entsprechend seiner Situierung in einem dieser Räume und Sphären. Die Situation des Hofes ist im Artusroman präsent durch den Artushof, und auch im Nibelungenlied sind der Burgundenhof und der Hof Etzels Orte der thematisierten Nahbeziehungen. Allerdings erzählen Artusromane wie Iwein, Erec, Lancelot weniger von den Freundschaften am Hof selbst, sondern von der Trennung und dem Wiedersehen der Freunde auf dem Weg des Protagonisten. Dagegen ist im Tristan der Hof Markes, in geringerer Weise dann auch der Hof Kaedins, der Schauplatz des Erzählens von Nahbeziehungen. Dieser Umstand fällt vor allem dann ins Gewicht, wenn man davon ausgeht, daß dieser Raum Hof, insbesondere wie er uns im Tristan begegnet, nämlich als „eine Größe [...], die über bloß lokale Dimensionen weit hinausgeht“484, die entsprechenden Kontextdiskurse auf den Plan ruft. Wichtigster Kontext dieser horizontalen, insbesondere aber der vertikalen Beziehungen am Markehof ist die klerikale Hofkritik. Die antihöfischen Werke können als Bezugspunkt dienen, weil sie das Beziehungsgeflecht am Hof und die aus Macht, Gunst und Kalkül erwachsenden Konstellationen thematisieren, so wie der Tristan in besonderer Weise Herrschaft und die damit einhergehende politische Dimension von freundschaftlichen Verhältnissen einerseits und die Ebene der personalen Bindung andererseits balanciert und problematisiert. Zwar wird in der Elterngeschichte Tristans der Hof in Cornwall als vorbildlicher höfischer Herrschaftssitz eingeführt und später auch in die Nähe der Artusidealität gerückt, ebenso aber wird dieser Hof als der Ort der Täuschung und Dissimulatio sowie der rücksichtslosen Ambitionen inszeniert. Eine Möglichkeit, die Nahbeziehungen im Tristan, vor allem in Gottfrieds Version zu lesen, besteht deshalb darin, sie im Kontext der Hofkritik, insbesondere deren Sicht auf höfische Nahbeziehungen, sowie 484 Kolb, Herbert : Der Hof und die Höfischen. Bemerkungen zu Gottfried von Straßburg. In: ZfdA 106 (3), 1977, S. 236-252, S. 236.

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der Diskussion über Herrscher und Favorit zu sehen. Besonders Figuren wie Marjodo und Melot scheinen den gängigen Topoi hofkritischer Schriften vom Schmeichler, verschlagenen Höfling und Heuchler, der nur seinen eigenen Vorteil statt des Erfolgs des Fürsten und des Gemeinwohls verfolgt, zu entsprechen. Doch wäre es sicher zu einfach, die Beziehung Marke-Tristan, die Hofintrigen, Marjodo und Melot eindimensional als Bestätigung und literarische Illustration klerikaler Verurteilungen des Hoflebens zu verstehen. Die Verschränkung des hofkritischen Diskurses, wie er im 12. Jahrhundert im Policraticus Johannes’ von Salisbury, bei Giraldus Cambrensis, Peter von Blois und Walter Map oder im Architrenius des Johannes de Hauvilla, „ein[em] satirisch-didaktische[n] Epos des 12. Jahrhunderts“485 begegnet, mit dem Diskurs der Nahbeziehungen im Tristan ist vielschichtig und widersprüchlich. Um sich diesen Ambivalenzen zu nähern, ist es zunächst notwendig, einen Blick auf wichtige Akteure der antihöfischen, hofkritischen Stoßrichtung um 1200 zu werfen.486 Im 12. Jahrhundert hat vor allem der Hof Heinrichs II. Plantagenêt und dessen Hofgeistliche die Aufmerksamkeit der Hofkritiker gefunden, was allerdings nicht heißt, daß die Werke eines Johannes von Salisbury oder Peter von Blois als Beschreibung des englischen Königshofes zu lesen wären; vielmehr stehen diese Autoren in einer bis ins Frühmittelalter zurückreichende Tradition antihöfischer Topoi.487 Neben Johannes von Salisbury, Peter von Blois und Johannes de Hauvilla ist hier Walter Map zu nennen, dessen Werk De nugis curialium bereits mehrfach thematisiert wurde. Walter Map entstammte einer Waliser Familie und machte als Angehöriger des Weltklerus Karriere am englischen Hof, wo er zum Haushalt des englischen Königs Heinrich II. gehörte. Als sein Hauptwerk gilt die satirische Schrift über das Hofleben, De nugis curialium, vermutlich zwischen 1180 und 1191 entstanden.488 In dieser „kompilierten Anekdotensammlung“489 schreibt Walter über den Hof aus der Sicht des Höflings, und auch wenn er dabei nicht dem moralisierenden Urteil der gängigen klerikalen Tradition folgt, so ist seine beißende Satire 485 Johannes de Hauvilla: Architrenius. Mit einer Einleitung u. Anm. hrsg. v. Paul Gerhard Schmidt. München 1974, S. 9. 486 Siehe dazu auch u.a. Szabó, Thomas: Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung. In Fleckenstein, Josef (Hrsg.): Curialitas. S. 350-391. 487 Köhn, Rolf: „Militia Curialis“. Die Kritik am geistlichen Hofdienst bei Peter von Blois und in der lateinischen Literatur des 9.-12. Jahrhunderts. In: Zimmermann, Albrecht (Hrsg.): Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters. (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 12/1) Berlin, New York 1979, S. 227-257, S. 229. 488 Walter Map: De nugis curialium. Introduction, S. xxivf. 489 Uhlig, Claus: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, NF 56) Berlin, New York 1973, S. 105.

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in ihrer kritischen Haltung doch mehr als deutlich, was allerdings den Unterhaltungswert seines Werks nicht herabsetzt.490 Das Werk, das in nur einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist, wurde offenbar nicht weit verbreitet, zumindest als Ganzes, aber zweifellos wurden einzelne amüsante und beliebte Geschichten daraus weitererzählt sowie in andere Werke aufgenommen. Die bunte Mischung aus Hofsatire und Polemik wendet sich nicht nur gegen das Hofleben, sondern darüber hinaus auch gegen die Orden, vor allem gegen die Zisterzienser, und das Werk enthält daneben unterhaltsame Geschichten mit bekannten Motiven, die Walter abwandelt und verändert. Die – geistliche – Hofkritik der Zeit sieht im Hof einen Ort der Laster und weltlichen Vergnügungen, des politischen Opportunismus und des rücksichtslosen Strebens der Höflinge nach eigenem Vorteil, Macht und materiellem Gewinn. Schmeichelei, Heuchelei und Intrigen beherrschen den Alltag. Walters Hofsatire nimmt diese Topoi auf und illustriert sie mit Geschichten, weshalb der Text auch als frühes Beispiel des Genres Exempla gelten kann491 – Historia und Fiktion bilden ein unterhaltsames Potpourri von einem Höfling für Höflinge.492 In den hofkritischen Äußerungen finden sich zahlreiche Ähnlichkeiten mit Johannes von Salisbury, von dessen Untertitel des Policraticus der Titel für Walters Werk stammt, aber im Gegensatz zum Policraticus ist De nugis curialium kein Fürstenspiegel und keine politische Theorie. Bei seinen Zeitgenossen war Walter Map vor allem als Verfasser höfischer literarischer Werke bekannt, die ihm auch in der älteren Forschung zugeschrieben wurden, als deren Autor er jedoch heute nicht mehr gilt. Jedoch muß außer De nugis curialium, das als Werk wohl auch kaum zirkulierte, anderes von ihm bekannt gewesen sein, was ihn als Autor berühmt machte. Die Geschichte von Sadius und Galo zeigt ihn als glänzenden Geschichtenerzähler, der Stil und Inhalt des höfischen Romans mit Hofkritik und einer Invektive gegen Frauen in bester klerikaler Tradition zu verbinden weiß.493 Das verwundert insofern nicht, wenn man bedenkt, daß Walter unter Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien am englischen Hof wirkte, also in der Blütephase des Chrétienschen Romans, und er hat möglicherweise seinen Teil zur Verbreitung der neuen Literatur beigetragen.494 490 Ebd. S. 105. 491 De nugis curialium. Introduction, S. xxxiv. 492 Zum Aufbau von De nugis curialium sowie weitere Anmerkungen zum Text vgl. Hinton, James: Walter Map’s De Nugis Curialium: Its Plan and Composition. In: PMLA 32 (1) 1917, S. 81-132; Hinton, James: Notes on Walter Map’s De Nugis Curialium. In: Studies in Philology 20 (4) 1923, S. 448-468. 493 De nugis curialium. Introduction, S. xxi. 494 De nugis curialium. Introduction, S. xxiii.

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Walter Map schreibt über den Hof wie Augustinus über die Zeit, nämlich das er zwar am Hof lebe und über ihn schreibe, aber eigentlich nicht wisse, was der Hof sei.495 Er vergleicht den Hof mit der Hölle und kommt zu dem Schluß, wenn auch der Hof nicht mit der Hölle gleichzusetzen sei, so sei er wie dieser doch ein Ort der Bestrafung: „Infernam aiunt locum penalem. Quid si presumam audax effectus, et temerarie dicam curiam non infernum, sed locum penarum?“496 Nach einigen weiteren Vergleichen mit berühmten Höllenqualen resümiert Walter seine Erfahrungen mit dem Hof: Hec de curia que uidimus testamur. Obuolucionem autem ignium, densitatem tenebrarum, fluminum fetorem, stridorem a demonibus magnum dencium, gemitus exiles et miserabiles a spiritibus anxiis, uermium et uiperarum et anguium et omnis reptilis tractus fedos, et rugitus impios, fetorem, planctum et horrorem, per singula si per allegoriam aperire uelim, in curialibus non desunt michi significaciones ; sed longioris sunt temporis quam michi uacare uideam.497

Für alle finsteren Charakteristika, die mit der Hölle assoziiert werden, Feuer, Dunkelheit, Gestank, Ungetier, Hoffnungslosigkeit und Schrecken ließen sich, so Walter, Entsprechungen im Hofleben finden. Auch die Qualen der Höflinge sind bedacht: Sie werden mit Tantalus und Sisyphos verglichen. Und auch die Klage über die Falschheit und Verlogenheit der Hofgesellschaft fehlt nicht – der Hof, so ein gängiger Topos der Hofsatire und Hofkritik, der sich auch bei Walter findet, ist ein Ort der Täuschungen und Verstellungen: „Huiusmodi sunt lusus curie, et tales ibi demonum illusiones“498. Besonders interessant für das Thema Nahbeziehungen ist, wie Walter über das Leben am Hof und das schwierige Verhältnis zwischen dem Fürsten und den Höflingen spricht, immer mit Blick auf den englischen 495 De nugis curialium. S. 2: “’In tempore sum et de tempore loquor,’ ait Augustinus, et adiecit: ‘nescio quid sit tempus.’ Ego simili possum admiracione dicere quod in curia sum, et de curia loquor, et nescio, Deus scit, quid sit curia.” ; ”’In time I exist, and of time I speak,’ said Augustine, and added, ‘What time is I know not.’ In a like spirit of perplexity I may say that in the court I exist and of the court I speak, and what the court is, God knows, I know not.”. 496 De nugis curialium. S. 8:“Hell, it is said, is a penal place; and if I may presume so far, in an access of boldness, I would rashly say that the court is, not hell, but a place of punishment.”. 497 Ebd. S. 14: “So far I bear witness concerning the court of what I have seen. But, for the rolling flames, the blackness of darkness, the stench of the rivers, the loud gnashing of the fiend’s teeth, the thin and piteous cries of the frightened ghosts, the foul trailings of worms and vipers, of serpents and all manner of creeping things, the blasphemous roarings, evil smell, mourning and horror – were I to allegorize upon all these, it is true that correspondence are not wanting among the things of the court, but they would take up more time than I have at my disposal.”. 498 De nugis curialium. S. 34: “Such are the tricks of the court, and such the deceits of devils that take place there“.

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Königshof. Man könne den Herrscher nicht für die Unzulänglichkeiten des Hoflebens verantwortlich machen – es sei kaum möglich, störungsfrei einem so großen Haushalt vorzustehen, da es schon Schwierigkeiten bereite, einen kleinen Haushalt zusammenzuhalten.499 Er selbst, Walter, versuche ein guter Herr zu sein, so daß es seinen eigenen Gefolgsleuten an nichts fehle, diese aber versuchten im Gegenzug, alles aus der Beziehung zum Herrn herauszuholen, was nur möglich sei und ihn zu betrügen, wo immer sie könnten, „qui menciendo deceperit inter alios ridet, quia derisit dominum“500. Am schlimmsten, so Walter, sind die eigenen Neffen, die im Haushalt leben, sie seien seine schlimmsten Feinde und betrachteten den gesamten Besitz ihres Onkels im Grunde als ihren eigenen.501 Auch der übliche Verweis auf die am Hof herrschende Korruption fehlt nicht.502 Eigentlich gebe es bei Hof nur einen Diener – den Fürsten – und viele Herren, dem der Kopf des Hofes zu dienen habe, und die eigentlich ihm dienen sollten, sind die wahren Herren.503 Ein grundlegender Text in diesem Zusammenhang, der antihöfische Tradition und große Kenntnis des Hofes sowie seinen normativen Entwurf zusammenführt, ist zweifellos Johannes’ von Salisbury504 Policraticus, ein Werk, das in sich Elemente des Fürstenspiegels, der politischen Theorie und der Hofkritik aus der Perspektive des gelehrten Klerikers vereint.505 Der Text gilt als einer der wichtigsten und einflußreichsten Texte des Mittelalters überhaupt,506 seine Bedeutung wird bereits in seiner Verbreitung und Überlieferung deutlich. Das Werk wurde und wird oft in die Reihe der specula principum gestellt, die im 13. Jahrhundert sehr verbreitet sind, aber diese Einordnung greift zu kurz. Der Policraticus geht über einen Fürstenspiegel hinaus, indem er eine systematische Analyse der politischen Praxis liefert507 und somit die erste mittelalterliche Abhandlung zur 499 Ebd. S. 16. 500 Ebd.: “He who has lied successfully goes and laughs among his fellows, to think he has got round the master“. 501 Ebd. S. 22. 502 Ebd. S. 12. 503 Ebd. S. 24. 504 Zu Johannes von Salisbury vgl. Nederman, Cary J.: John of Salisbury. (Medieval and Renaissance Texts and Studies, Bd. 288) Temple 2005; Wilks, Michael (Hrsg.): The World of John of Salisbury. (Studies in Church History, Subsidia 3) Oxford 1984. 505 Zum Policraticus und seine Einordnung in Johannes’ von Salisbury Werk siehe Nederman, Cary J.: John of Salisbury. S. 51-63. 506 Iohannis Saresberiensis: Policraticus. I-IV. Hrsg. v. K.S.B. Keats-Rohan. (Corpus Christianorum: Continuatio Mediaeualis, 118) Brepols 1993, Introduction, S. VII. 507 Iohannis Saresberiensis: Policraticus. Introduction, S. ix; zur Frage der Einordnung des Policraticus als Fürstenspiegel vgl. u.a. Berges, Wilhelm: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde; MGH, 2) Leipzig 1938, S. 3ff.; Kleineke, Wilhelm: Englische Fürstenspiegel vom Policraticus Johanns

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Politik darstellt:508 Es geht Johannes um die Ethik des guten Regierens und der Regierungsunterstützung, und dafür nimmt er all das, was er vom Hof- und Höflingsleben kennt und verachtet, in sein “moralist’s handbook of everyday politics“509 auf, wobei auch satirische Züge und Kritik an der Regierung Heinrichs II. nicht fehlen. Vor allem die ersten drei Bücher setzen sich kritisch mit dem Leben am Hof, mit der höfischen Kultur und ihren Charakteristika wie etwa der Jagd oder der Schmeichelei der Höflinge auseinander.510 Johannes entwirft den Staat als organisches Gebilde, dessen Kopf der Herrscher ist. Alle Glieder, auch der Fürst, haben in diesem Gemeinwesen ihre Aufgabe, und es ist ihre Pflicht, sich in ihrem Handeln in diesen Organismus einzuordnen.511 Die Lenkung des Staates soll, so der Policraticus, durch Vernunft gesteuert sein,512 und dieser im 12. Jahrhundert verstärkten Betonung der Ratio entspricht „das Ideal des Vernunftkönigtums“513. Johannes’ Vorstellung vom Staat und seiner Ordnung ist eine hierarchische: Der Herrscher steht an der Spitze, soziale Schichten und Institutionen sind entsprechend ihrer Funktion ihm untergeordnet.514 Er dient der göttlichen Gerechtigkeit und gewährleistet so die weltliche Ordnung: „Publicae ergo utilitatis minister et aequitatis seruus es princeps, et in eo personam publicam gerit, quod omnium iniurias et dampna sed et crimina omnia aequitate media punit.“515 Diese Vorstellung hat ihre Parallele im

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von Salisbury bis zum Basilikon Doron König Jakobs I. Göttingen 1937; Liebeschütz, Hans: Mediaeval Humanism in the Life and Writings of John of Salisbury. (Studies of the Warburg Institute, Bd. 17) London 1950, S. 23 u.a.; Kerner, Max: Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policraticus. Wiesbaden 1977, S. 132-149; Uhlig, Claus: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. S. 41; zur Fürstenspiegeltradition im Frühmittelalter siehe u.a. Anton, Hans Hubert: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit. (Bonner Historische Forschungen, Bd. 32) Bonn 1968. Nederman, Cary J.: John of Salisbury. S. 51; The Statesman’s Book of John of Salisbury. Being the Fourth, Fifth, and Sixth Books, and Selections from the Seventh and Eighth Books, of the Policraticus. Übers. u. eingel. v. John Dickinson. (Political Science Classics) New York 1927, wiedergedr. 1963, Introduction, S. xvii. Policraticus. Introduction, S. x; für die Verbindungen zwischen Metalogicon und Policraticus siehe S. xiff; zur Einordnung des Policraticus in die politische Theorie vgl. Berman, Harold J.: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition. Cambridge (MA), London 1983, S. 276-288. Zur Hofkritik im Policraticus siehe Uhlig, Claus: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. S. 39-54; Kerner, Max: Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policraticus. S. 158-170. Kleineke, Wilhelm: Englische Fürstenspiegel vom Policraticus Johanns von Salisbury bis zum Basilikon Doron König Jakobs I. S. 34. Berges, Wilhelm: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 49. Ebd. S. 50. Struve, Tilman: The Importance of the Organism in the Political Theory of John of Salisbury. In: Wilks, Michael (Hrsg.): The World of John of Salisbury. S. 303-317, S. 309. Policraticus. IV 2, S. 238, 15-18.

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menschlichen Organismus. Für den Herrscher bedeutet dieser Vergleich, daß er als einziger über der Gesellschaft steht und die Rolle eines medicus rei publicae hat, der handeln muß, wenn die Ordnung gestört wird.516 „Disturbances occurred when one member raised itself above the others without being authorised to do so, thus endangering the functioning of the State.“517. Solch eine Störung ist wie eine Krankheit, die der Fürst – wie ein Arzt, medicinaliter518 – heilen muß.519 Entsprechend gravierend ist ein Defekt des ‚Kopfes’ dieses Organismus’, eine Schwäche des Herrschers, denn diese hat Auswirkungen auf den ganzen Staat.520 Hier kann die Verbindung zu Marke und Tristan gesehen werden: Die klare Hierarchie von Herrschern und Untergebenen, Herr und Ratgeber wird in dieser Beziehung auf den Kopf gestellt. In der Krise oder doch defensiven Situation, in der sich Marke angesichts der Tributforderungen befindet, ist es Tristan, der sich entschließt zu handeln und die Ausgangsbedingungen grundlegend zu verändern. Das scheint im Widerspruch dazu zu stehen, wie Marke als König im Text eingeführt wird, nämlich als entschlossener und mächtiger Schlichter der Fehden und gewaltsamen Streitigkeiten des Adels. Schon hier zeigt sich die Ambivalenz des Gottfriedschen Romans, der den Diskurs des idealen Herrschers sowohl im Hinblick auf normative Entwürfe, wie den des Policraticus oder der Fürstenspiegeltradition, als auch auf literarischer Ebene in der Perspektive auf die Artusidealität aufnimmt und zugleich aber seine Herrscherfigur in Abkehr von diesen Konzepten vorführt, als Negativbild, ohne diesen Widerspruch auf der narrativen Ebene aufzulösen. Es ist wichtig, daß Johannes trotz aller Zitate und antiker Verweise vor dem Hintergrund seiner Zeit und seiner Erfahrungen argumentiert; er kritisiert den englischen Hof und seine Verwaltung unter Heinrich II,521 indem er die dort herrschende Korruption der Hofbeamten angreift,522 die mit Schmeichelei und Bestechung ihre Ziele verfolgen und somit eine denkbar schlechte Umgebung für den Herrscher darstellen. Seine Kritik gilt vor allem den Ehrgeizigen und den Neidern, die andere denunzieren, und deren ambitio Johannes als schlimmstes und typisch höfisches Laster 516 Struve, Tilman: The Importance of the Organism in the Political Theory of John of Salisbury. S. 311. 517 Struve, Tilman: The Importance of the Organism in the Political Theory of John of Salisbury. S. 311. 518 Policraticus. IV 8, S. 262, 8-9. 519 Policraticus. V 2, S. 283, 11ff.; V 9, S. 322, 14ff. 520 Policraticus. VI 25, S. 73, 26ff. 521 Uhlig, Claus: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. S. 51. 522 Alle Angaben nach folgender Ausgabe: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum. libri VIII. Hrsg. v. Clemens C. I. Webb. 2 Bde. Oxford 1909, V 10, S. 323ff.

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tadelt. Diese Verurteilungen laufen auf den topischen Gegensatz von Höfling und Philosoph hinaus: Ego enim contempno quae illi aulici ambiunt, et quae ego ambio illi contempnunt. Mirare magis quare non praecido, aut rumpo funem, si alias solui non potest, qui me in curialibus nugis tamdiu enuit et tenet adhuc tantae obnoxium seruituti. Iam enim annis fere duodecim nugatum esse taedet et penitet me longe aliter institutum; et quasi sacratioris philosophiae lactatum uberibus ablactatumque decuerat ad philosophantium transisse cetum quam ad collegia nugatorum.523

Doch dieser Gegensatz vom Philosoph als dem Gelehrten und dem Höfling als jemandem, der sich nur weltlichen Spielereien hingibt, bedeutet nicht die unversöhnliche Opposition von höfischer und klerikal-gebildeter Sphäre. Vielmehr geht es darum, den „’litterati’ unter den Höflingen [...] moralisches Verhalten zu vermitteln“524. Das Laster der ambitio wird auch von Johannes de Hauvilla gegeißelt. Im Architrenius steht der Berg der Ehrgeizigen für das Leben am Hof,525 ambitio steht in Verbindung mit cupiditas und vor allem superbia, und der Höfling wird als jemand geschildert, der nur auf sein eigenes Fortkommen, auf seine Karriere am Hof bedacht ist – hier kann eine Parallele zu Tristan gezogen werden, wenn man ihn als Karrieristen am Markehof versteht. Johannes von Salibury beschäftigt sich mit den Schmeichlern und Neidern im dritten Buch des Policraticus526 und bemüht dafür Terenz und insbesondere dessen Figur des Parasiten Gnathon aus seiner Komödie Enuchus527. Solche Figuren finden sich in der Umgebung des Herrschers, dem sie durch ihr Verhalten nur schaden. Damit kommt Johannes auf das Grundproblem des Textes zu sprechen: Der eigentlich gute Herrscher erscheint durch die Fehler und Korrumpierbarkeit seiner Höflinge herabgesetzt, seine Regierung ist fragwürdig und nicht mehr an der Tugend ausgerichtet.528 Der Eunuchus wird für Johannes zum exemplum529 für Loyalität und ihre Käuflichkeit am Hof: „Omnis enim res quae in commercium uenit ab uno transit ad alium, et ditiorem et auidiorem comitatur emptorem.“530

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Policraticus. I 1, S.14, 5-14. Kerner, Max: Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policraticus. S. 161. Johannes de Hauvilla: Architrenius. IV 2, 8, 13-17. Policraticus. III 3, S. 177, 9ff. Policraticus. III 4, S. 178, 9ff. Vgl. Kerner, Max: Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policraticus. S. 164. 529 Siehe dazu: Moos, Peter von: The Use of exempla in the Policraticus of John of Salisbury. In: Wilks, Michael (Hrsg.): The World of John of Salisbury. S. 207-261. 530 Policraticus. VIII 4, S. 240, 17-18.

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Als eine der ersten höfischen Unarten nennt Johannes von Salisbury die Jagd.531 Hintergrund dieser Kritik, auch wenn Johannes darauf kaum direkten Bezug nimmt, ist möglicherweise die große Jagdleidenschaft der englischen Könige seiner Zeit.532 (Johannes klagt: „Haec sunt temporibus nostris liberalia nobilium studia.“533) Grundsätzlich ist die Jagd zwar notwendig für die Nahrungsbeschaffung, das gesteht Johannes dem Hof zu,534 aber eine zu große Beschäftigung sei der Menschlichkeit abträglich.535 Wenngleich hier noch eine weitere Einordnung dieser Kritik in Johannes’ Politik- und Staatsauffassung notwendig ist,536 so wird doch deutlich, daß er die Jagd zwar nicht gänzlich ablehnt, aber die ausgeprägte Jagdleidenschaft des zeitgenössischen englischen Hofes deutlich kritisiert und damit Jagen als höfische Beschäftigung und die Protagonisten der Jagdkunst in Zweifel zieht. Mit dieser kritischen Einschätzung des Klerikers lesen sich die Passagen des Tristan, die die Jagd und dazugehörende Handlungen zum Gegenstand haben, ganz anders, nämlich nicht mehr nur als Ausweis der höfischen Vornehmheit. Tristan wird bekanntlich in Cornwall als professioneller Jäger eingeführt, der die höfische Kunst der Bast beherrscht und damit Staunen und Respekt auslöst.537 Und auch darüber hinaus werden immer wieder Bezüge zur Jagd im Tristan hergestellt:538 Isolde wird als federspil bezeichnet und Marke geht wiederholt auf die Jagd. Andererseits ist diese kritische Perspektive für die höfischen Romane zu relativieren, kennt doch vor allem der Artusroman die Jagd als festen Bestandteil höfischen Lebens, etwa wenn der Erec Chrétiens mit der Jagd nach dem weißen Hirschen beginnt. So kann man sicher selbst bei einer klerikalen Perspektive auf die höfische Literatur nicht davon ausgehen, daß die Jagd an sich ein Negativmoment darstellt, sondern sie ist zunächst als Bestandteil höfischen Lebens und Repräsentation zu verstehen. Doch im Tristan kann ihr ein 531 532 533 534 535 536

Policraticus. I 4, S. 21ff. Uhlig, Claus: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. S. 41f. Policraticus. I 4, S. 23, 20-21. Policraticus. I 4, S. 22, 8-19. Policraticus. I 4, S. 24, 11-13, u. S. 26, 17-20. Siehe dazu Kerner, Max: Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policraticus. S. 165ff. 537 Allerdings verweist Herbert Kolb darauf, daß Tristan zwar bei Marke als Jäger eingeführt wird, aber dann kaum noch dessen Begleiter auf der Jagd ist. Kolb, Herbert: Ars venandi im ‚Tristan’. In: Huschenbett, Dietrich / Matzel, Klaus / Steer, Georg / Wagner, Norbert (Hrsg.): Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Tübingen 1979, S. 175-197, 195. 538 Tomasek, Tomas: Die Utopie im ‚Tristan’ Gotfrids von Straßburg. (Hermaea, N.F., Bd. 49) Tübingen 1985, S. 74f.

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anderer Stellenwert als etwa im Artusroman zugewiesen werden, da sie an prominenten Stellen auftritt: wie bereits erwähnt bei Tristans Ankunft in Cornwall, beim ersten Verdacht Markes gegenüber Tristan und Isolde, während des Aufenthalts in der Minnegrotte; hinzu kommen die wiederkehrenden Jagdmetaphern. Diese Häufung ist geeignet, den Markehof in einem nicht unbedingt positiven Licht erscheinen zu lassen, jedenfalls wenn man den Text im Zusammenhang der Hofkritik sieht. Und diese Reihe läßt sich noch fortsetzen: Neben der Jagd kritisiert Johannes von Salisbury weitere höfische Aktivitäten wie Schauspielerei, Musik und Saitenspiel sowie das Würfelspiel – auch als Musiker tut sich Tristan bekanntlich hervor – all diese Dinge führen zur vanitas und sind deshalb gefährlich.539 3.3 Marke und Tristan – Herrscher und Favorit Der Tristan erzählt – neben der Ausbildung und dem Aufstieg Tristans und natürlich der Liebesgeschichte – vom Aufstieg und Fall eines Günstlings und von der Ambivalenz, vielleicht sogar Unmöglichkeit einer – politischen – Freundschaft zwischen Herrscher und Favorit. Sowohl Marke als auch Tristan sabotieren durch ihr Verhalten den Erfolg einer solchen Beziehung und destabilisieren das Gesellschaftsgefüge am Hof, und umgekehrt verhindern spezifische Konstellationen des Hofes eine dauerhafte Freundschaft zwischen König und potentiellem Nachfolger. Die exklusive Bindung, die sich zwischen Marke und seinem Neffen entwickelt, noch bevor die Verwandtschaft aufgedeckt wird, und die ihren Höhepunkt in Markes öffentlicher Ankündigung Tristan zu seinem Erben und Nachfolger zu küren erreicht, stört die komplizierten Balancen des Hofes. Tristan ist als Vertrauter und Berater über alle anderen Hofmitglieder mit vergleichbaren Positionen gestellt und konzentriert daher in seiner Person und Position Macht und Einfluß. Zudem muß er dem Hof als Eindringling von außen erscheinen, der plötzlich das Machtgefüge in Cornwall zu seinen Gunsten und zum Nachteil einheimischer Adliger verändert. Als im Grunde unehelicher Sohn Riwalins und Blancheflurs wird er in seiner Herkunft erst durch Markes Aufnahme am Hof und seiner offiziellen Anerkennung der familiären Bindung vollständig legitimiert. Das muß geradezu zwangsläufig Neider und Rivalen auf den Plan rufen. 539 Zu nennen wäre auch Giraldus Cambrensis’ De principis instructione, geschrieben um 1217. Giraldus ist wie Johannes von Salisbury ein Vertreter gegenhöfischer Tendenzen und der Hofkritik, sein Werk kann als Fürstenspiegel eingeordnet werden, das in seiner Ethik für den guten Fürsten didaktisch angelegt ist und eine Tugendlehre präsentiert. Vgl. auch Uhlig, Claus: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. S. 56.

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Nicht nur bedroht Tristan die gewohnte Ordnung, er erscheint der Hofgesellschaft zweifellos durch seine Fähigkeiten und sein Wissen auch als deutlich überlegen, während zugleich nicht klar ist, was eigentlich die Absichten dieses jungen Mannes sind, der wie aus dem Nichts in Cornwall auftaucht, sich als der Neffe des Königs entpuppt und von diesem zum absoluten Günstling gemacht wird. Vielleicht benutzt er seine Fertigkeiten und vollendete höfische Erziehung nur, um sich Markes Zuneigung und Vertrauen zu erschleichen, mit dem Ziel, die Macht an sich zu reißen – so könnte der nachvollziehbare Verdacht der Getreuen und Berater am Markehof lauten.540 Die Probleme die sich aus dieser Konstellation ergeben, liegen in den Zusammenhängen von Nahbeziehung und Herrschaftslegitimation. Reicht für die Erbfolge einer Herrschaft das Vertrauen des amtierenden Herrschers? Tristans Verwandtschaft mit Marke, auch wenn es um die besondere Bindung des Avunkulats geht, steht zunächst nicht im Vordergrund, denn den Favoritenstatus erreicht er schon, bevor Marke weiß, daß er sein Neffe ist.541 Tristan kann also in den ‚Fall des Günstlings’ eingeordnet werden – zumindest ist das eine durch den Text getragene Lesart, wenngleich auch diese Lesart nicht widerspruchsfrei ist. Zunächst aber sind ein paar Worte zum Phänomen des Favoriten zu verlieren. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Gunstbezeugung des Herrschers, um die sich die Mitglieder der Hofgesellschaft bemühen. Der Günstling genießt in besonderer Weise die Gunst seines Herren und kann daher als „normbrechende Einzelfigur“542, aber ebenso als „normgemäße Figur des Vertrauten und des Freundes“543 verstanden werden, und das bedeutet, daß eine GönnerFavorit-Beziehung immer eine Gratwanderung zwischen normkonform und normbrechend ist, abhängig von der jeweiligen Wahrnehmung der 540 Zu dieser Problematik vgl. auch Küsters, Urban: Liebe zum Hof. Vorstellungen und Erscheinungsformen einer ‚höfischen’ Lebensordnung in Gottfrieds Tristan. In: Kaiser, Gert / Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. S. 141-176. 541 Neben diesen politischen und normativen Kontextualisierungen kann die Markefigur auch in literarische Traditionen eingeordnet werden: McDonald, William C.: King Mark: Gottfried’s Version of the Ovidian Husband-Figure. In: Forum for Modern Language Studies 14 (3) 1978, S. 255-269. 542 Paravicini, Werner: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. In: Hirschbiegel, Jan / Paravicini, Werner (Hrsg.): Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. 8. Symposium der ResidenzenKommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Stadt Neuburg an der Donau, der Katholischen Universität Eichstätt- Ingolstadt und dem Deutschen Historischen Institut Paris. Neuburg an der Donau, 21.-24.09.2002. (Residenzenforschung, Bd. 17) Ostfildern 2004, S. 13-20, S. 17. 543 Ebd. S. 17.

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Umwelt. Dabei ist der Günstling im allgemeinen und im engeren Sinn zu unterscheiden. Letzterer monopolisiert tatsächlich den Zugang zum Fürsten und muß entsprechend mit der Aggression seiner Konkurrenten rechnen: „Die übergroße Nähe des Favoriten zum Herrscher ist auch ein zentraler Grund für die moralisierende Kritik an seiner Rolle.“544. Seine Macht macht ihn unberechenbar, er steht unter dem Verdacht, selbst die Herrschaft übernehmen zu wollen, und bedroht somit die hergebrachte Ordnung.1 Die Hochkonjunktur des Favoriten steht im Zusammenhang mit einer absoluten Monarchie oder einer Monarchie, die ein solches Machtmonopol für sich in Anspruch nimmt,2 aber Grundzüge des Verhältnisses Herrscher-Günstling lassen sich auch für eine frühere Zeit feststellen, wenn auch das Phänomen des Favoriten als solches im Hochmittelalter nicht die Rolle spielt wie in der Frühen Neuzeit. Der Tristan Gottfrieds zeigt jedoch, wohin eine solche Freundschaft zwischen König und Favorit führen kann und er wirft die Frage nach der – legitimen – Rolle dieser Freundschaft auf. Was macht den Favoriten in historischer Perspektive aus? Er ist charakterisiert durch „eine persönliche und tendenziell exklusive Gunst des Herrschers, die über das übliche Vertrauen gegenüber wichtigen Amtsträgern hinausgeht. Diese Gunst beruht vielfach auf persönlicher Freundschaft oder Zuneigung, die unter Umständen auch eine erotische Komponente besitzen kann, [...] gelegentlich auch bei den Favoriten männlicher Herrscher.“3 Das liest sich nahezu wie eine Beschreibung der Beziehung zwischen Marke und Tristan. Folgendermaßen beschreibt Marke, wie er sich Tristans Platz am Hof vorstellt: Tristan, hoere her! / an dir ist allez, des ich ger, / dû kanst allez, daz ich wil, / jagen, sprâche seitspil. / nu suln ouch wir gesellen sîn, / dû der mîn und ich der dîn. / tages sô suln wir rîten jagen, / des nahtes uns hie heime tragen / mit höfischlîchen dingen: / harphen, videln, singen, / daz kanstu wol, daz tuo du mir; / sô kan ich spil, daz tuon ich dir, / des ouch dîn herze lîhte gert: / schoeniu kleider unde phert, / der gibe ich dir, swie vul du wilt: / dâ mite hân ich dir wol gespilt. / sich, mîn swert und mîne sporn, / mîn armbrust und mîn guldîn horn, 544 Asch, Ronald G.: Schlußbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. 18 Thesen. In: Hirschbiegel, Jan / Paravicini, Werner (Hrsg.): Der Fall des Günstlings. S. 515-531, S. 527. 1 Zum Favoriten in der Frühen Neuzeit vgl. Elliott, John H. / Brockliss, L.W. B. (Hrsg.): The World of the Favourite. New Haven, London 1999. 2 Asch, Ronald G.: „Lumine solis.“ Der Favorit und die politische Kultur des Hofes in Westeuropa. In: Kaiser, Michael / Peÿar, Andreas (Hrsg.): Der zweite Mann in Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 32) Berlin 2003, S. 21-38, S. 37. 3 Asch, Ronald G.: Schlußbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. S. 517.

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/ geselle, daz bevilhe ich dir; / des underwint dich, des phlic mir / und wis du höfisch unde frô.4

Die exklusive Beziehung wird also durch eine Art ‚Gabentausch’ markiert: Tristan bekommt für sein Saitenspiel und seine höfischen Künste wertvolle materielle Dinge in seine Obhut, die seinen Status – Kaufmannssohn und Spielmann – deutlich erhöhen, nachdem Marke ihn bereits zu seinem Jägermeister gemacht hat. Der König übergibt ihm seine Waffen, seine Sporen und sein Horn zur Aufsicht und macht über die damit verbundenen offiziellen Pflichten hinaus deutlich, daß er Tristan stets an seiner Seite wünscht. Das mittelalterliche Herrscherideal kennt den guten und gerechten König und seinen umsichtigen, selbstlosen Beraters, während dem für die Zeit der Renaissance und der Frühen Neuzeit gern die Karrieristen am Hof und ihre rücksichtslose Durchsetzung gegen Rivalen gegenübergestellt werden. Aber letzterem scheint der Tristan viel eher zu entsprechen, und gemessen an der hochmittelalterlichen Idealvorstellung erscheint vor allem Tristan selbst als Figur negativ oder doch zumindest ambivalent, versucht er doch nicht einfach Beraters des Königs zu sein, sondern mittels seiner erstaunlichen Fähigkeiten und seines Wissens Karriere am Hof zu machen, wobei sein jugendliches Alter im Grunde gegen eine solche Beraterposition spricht, die Erfahrung voraussetzt. In Hinblick auf den Altersunterschied und das Onkel-Neffe-Verhältnis würde sich die Beziehung ja auch eher in das in diesem Abschnitt behandelte Schema vom väterlichen Freund und Erzieher und jungem Schützling einordnen. Aber Tristan sprengt aufgrund seiner Ausbildung und seines Verhaltens – und nicht zuletzt weil Marke ihn als Favoriten behandelt – dieses Muster. Nicht Marke erzieht ihn, sondern Tristan gibt dem Hof höfischen Glanz. Was die gängige Onkel-Neffe oder Patron-Klient-Beziehung mit Tristan und Marke verbindet, ist die Schwertleite. Sobald Tristan an Markes Hof etabliert ist, schlüpft er erfolgreich in die Rolle des Ratgebers und politisch einflußreichen Günstlings. Er rät Marke zur Konfrontation mit Morold, um die langjährige Abhängigkeit zu beenden und stellt sich selbst zum Zweikampf, er rät auch zur Brautwerbung, als die Stimmung am Hof umschlägt und sich gegen Markes Nachfolgepläne und vor allem gegen Tristan richtet und Marke zunächst nicht nachgeben will, nicht so sehr, weil Tristan das für das Beste für seinen König hält, sondern weil er Angst hat.5 Der ‚lantlôse’ Tristan besitzt nach seiner Rückkehr nach Cornwall keine eigene Macht im Sinne einer eigenen Landesherrschaft mehr,6 das 4 5 6

Gottfried: Tristan. 3719-3739. Siehe dazu: Jaeger, Stephen C.: The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan: Notes toward a Sociology of Fear in Court Society. In: JEGP 83, 1984, S. 46-66. Wobei das im Widerspruch zu seiner Truppenrekrutierung für Kaedin steht.

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überläßt er Ruals Söhne, d.h. er setzt alles auf eine Karte, nämlich auf die Nachfolge in Cornwall – ein riskantes Manöver, wie sich dann bald zeigt: Der „Karrierist“7 Tristan gibt seinen eigenen Herrschaftsbereich auf, um Marke zu beerben, muß aber angesichts der sich gegen ihn kehrenden Stimmung am Hof den Rückzug antreten. Tristans Karriere am Hof Markes folgt dem Gesetz von Aufstieg und Fall des Favoriten, wie er sich an vielen historischen Beispielen vor allem im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit belegen läßt. Auf den rasanten Aufstieg – als Landfremder, der in der adligen Gesellschaft Cornwalls nur durch seinen Status als Markes Neffe seinen Platz hat – folgt die Machtakkumulation und schließlich der Höhepunkt mit der Ernennung zum Thronfolger. An diesem Punkt entzündet sich der Widerstand der Hofgesellschaft und Tristan muß um sein Leben fürchten. Neid und Mißgunst des Hofes auf Tristans Erfolg wird als allgemeine Stimmung des Hofes geschildert:8 künec unde hof, die wâren dô / ze sînem willen gereit, / biz sich diu veige unmüezekeit, / der verwâzene nît, / der selten iemer gelît, / under in begunde üeben, / der hêrren vil betrüeben / an ir muote und an ir siten, / daz si in der êren beniten / unde der werdekeite, / die der hof an in leite / und al daz lantgesinde. / si begunden vil swinde / reden ze sînen dingen / und in ze mære bringen, / er wære ein zouberære.9

Tristans Erfolg in all seinen Unternehmungen – der Kampf gegen Morolt, die Heilung durch Isolde in Irland – lassen Mißtrauen und Haß entstehen, der Erfolg, der ihn so offensichtlich über die anderen Mitglieder der Hofgesellschaft erhebt und ihm Markes uneingeschränkte Gunst verschafft, schürt Neid und Antipathie, seine Sonderstellung stört das Gefüge des Hofes. Mit der Brautwerbung ist der Abstieg eingeleitet – Tristan gilt nun zumindest offiziell nicht mehr als Thronanwärter. Der weitere Abstieg vollzieht sich im Ehebruch, mit dem Andauern der Affäre zwischen Isolde und Tristan, was mit dem Verlust von Markes Vertrauen in seinen Günstling einhergeht. Der Absturz ist endgültig, als Tristan und Isolde entdeckt werden und Tristan daraufhin den Hof verlassen und damit alle Ambitionen in Bezug auf den Markehof aufgeben muß. Entscheidend für den Favoriten ist die Kopplung von Freundschaft und Politik in der Beziehung zum Herrscher,10 und genau das ist bei Marke und Tristan zu beobachten: Das Verhältnis der beiden läßt sich nicht 7 8 9 10

Schiewer, Hans-Jochen: Erzählen vom Hof. In: Freiburger Universitätsblätter 2009, 183, S. 9-15, S. 14.. Vgl. Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. S. 206. Gottfried: Tristan. 8320-8335. Asch, Ronald G.: „Lumine solis.“ S. 35.

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trennen in eine privat-freundschaftliche bzw. verwandtschaftliche und eine politische Beziehung, in der Tristan als Berater des Königs auftritt. Die Probleme entstehen vielmehr gerade aus der Vermischung dieser Sphären und der Uneindeutigkeit der Statusunterschiede. Das führt zu einem wesentlichen Problem der Herrscher-GünstlingBeziehung. Der Grundsatz der Gleichheit als Voraussetzung für Freundschaft ist hier von vornherein ausgeschlossen, und das bedeutet, zumindest unter normativen Gesichtspunkten, daß der Favorit im Grunde nicht der Freund des Königs sein kann.11 Das Gleichheitspostulat der Idealvorstellung Freundschaft, von der Antike dem Mittelalter vererbt, hat zur Folge, daß Freundschaft mit Blick auf den Rang des Günstlings zu einer „politischen Kategorie“12 wird. Dennoch ist im Zusammenhang mit der Analyse des Verhältnisses zwischen Fürst und Günstling auch immer die Dimension der ‚persönlichen’ Freundschaft thematisiert worden, wobei in der Regel mit einer klaren Trennung zwischen Freundschaft, vor allem Freundschaft im ‚heutigen Sinn’, und möglichen freundschaftlichen Dimensionen in ansonsten asymmetrischen, durch den Herrschaftsdiskurs dominierten Verhältnissen argumentiert wird. Der Politikwissenschaftler James C. Scott charakterisiert die Beziehung zwischen Gönner und Günstling/zwischen Patron und Klient mit Rückgriff auf anthropologische Forschungen folgendermaßen: The patron-client relationship – an exchange relationship between roles – may be defined as a special case of dyadic (two-person) ties involving a largely instrumental friendship in which an individual of higher socioeconomic status (patron) uses his own influence and resources to provide protection or benefits, or both, for a person of lower status (client) who, for his part, reciprocates by offering general support and assistance, including personal services, to the patron.13

Scott spricht diesen Beziehungen also durchaus nicht die freundschaftliche Qualität ab, was einmal mehr darauf verweist, daß die gängige Trennung zwischen Nutzen und Affekt in Hinblick auf Freundschaft fraglich ist, bei der man aus westlich-moderner Perspektive schnell geneigt ist, die sogenannte Nutzenfreundschaft als ‚nicht richtige’ Freundschaft abzuqualifizieren. Gerade bei Marke und Tristan wird deutlich, daß Nutzen und Neigung nicht zu trennen sind – beide profitieren zunächst von der gegenseitigen Beziehung, und auf Markes Seite gibt es zudem eine starke 11 12 13

Siehe dazu u.a.: Feros, Antonio: Twin Souls: Monarchs and Favourites in Early Seventeenth-Century Spain. In: Kagan, Richard L. / Parker, Geoffrey (Hrsg.): Spain, Europe and the Atlantic World. Essays in Honour of John H. Elliott. Cambridge 1995, 27-47, S. 31. Asch, Ronald G.: Schlußbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. S. 517. Scott, James C.: Patron-Client Politics and Political Change in Southeast Asia. In: The American Political Science Review 66 (1) 1972, S. 91-113, S. 92.

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affektive Bindung an Tristan. Ob dieser ähnlich empfindet, muß offen bleiben,14 zumindest aber verhält er sich absolut loyal. Was die Beziehung zwischen Marke und Tristan so komplex erscheinen läßt, ist der Umstand, daß neben dem Verwandtschaftsdiskurs und dem Diskurs des Favoriten auch das antike amicitia-Ideal appliziert werden kann. In Ciceros Laelius ist die wahre Freundschaft an die virtus des römischen vir bonus gebunden15, das bedeutet, der wahre Freund kann nur derjenige sein, der über Tugend verfügt. Bereits im Tristan-Prolog geht es genau um diese Verbindung von Tugend, rechtem Handeln und Nahbeziehungen.16 Tristan, dessen umfassende Bildung und Fertigkeiten besonders hervorgehoben werden, ist Träger der virtus, und Markes Hof wiederum wird als Zentrum des höfischen Lebens vorgestellt, an den Riwalin kommt, um von Marke zu lernen. Marke und Tristan scheinen also prädestiniert für die amicita perfecta. Doch das kollidiert mit den Statusunterschieden, die zwar im Binnenverhältnis aufgehoben werden können, nach außen aber bestehen bleiben. Tristan aber erscheint auch nach außen als der politisch Handelnde, als derjenige, der wichtige Entscheidungen trifft und Marke läßt das zu. Und zudem erscheint Marke in seiner amicitia für Tristan, verstanden als Jaegers ‚ennobling love’ als defizitärer Partner: Es findet eine Umkehrung der Verhältnisse statt, weil nicht der charismatische Körper des Älteren, des Königs, das Vorbild für den Jüngeren ist, sondern Tristan zieht sowohl durch seine äußere Erscheinung als auch durch seine höfischen Umgangsformen und vielfältigen Begabungen die bewundernde Liebe des Älteren, Ranghöheren auf sich. Die Figurenkonstellation Marke-Tristan führt die Komplexität eines freundschaftlichen Herrscher-Günstlings-Verhältnisses vor Augen. Aber Favoriten, Personen in besonders einflußreichen Positionen, vor allem informell, gab es am Hof seit der Antike. Was macht nun Markes Verhalten so problematisch? Historische Untersuchungen, beispielsweise über die Vergabe von Geschenken am französischen Hof Karls VI., zeigen, daß Personen besondere Gunsterweise in Form materieller Zuwendungen erfahren konnten, deren Position in der höfischen Rangfolge nicht der Art und dem Umfang der Geschenke entsprach, bei denen sich also öffentlicher Rang und tatsächliche Stellung unterschied. Deutlich wird hier ein Nebeneinander von offizieller Hierarchie, die auch nicht verändert wird, und inoffiziellen dynamischen Strukturen von Beziehungen, mit denen der Fürst bestimmte 14 15 16

Diem, Albrecht: nu suln ouch wir gesellen sîn – Über Schönheit, Freundschaft und mannmännliche Liebe im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Tristania 19, 1999, S. 45-95. Zur christlichen Transformation dieses Ideals vgl. Kapitel II. Im Begriff der morâliteit werden diese Vorstellungen weitergeführt.

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Personen anderen vorziehen konnte.17 Dieses Nebeneinander erlaubt die Aufrechthaltung der öffentlichen höfischen Rangordnung und somit die Wahrung des Gesichts für alle Beteiligten. Genau diese Regel aber verletzt Marke: Er beschenkt ihn nicht nur auf das großzügigste, sondern er macht den jungen Kaufmannsohn und Spielmann in aller Öffentlichkeit zum Jägermeister und seinem ‚gesellen’. In den Augen seiner Hofgesellschaft muß das einen klaren Affront darstellen, doch zunächst scheint sie es angesichts von Tristans Ausnahmeerscheinung hinzunehmen – Tristan ist beliebt und gern gesehen.18 Doch als Tristan dann auch zum Thronfolger aufsteigt, ist die Grenze des Hinnehmbaren klar überschritten. Markes Berater wenden sich klar gegen den Plan, daß Marke auf eine Heirat und damit eigene Kinder verzichtet und Tristan als seinen Nachfolger einsetzt. Dahinter stehen zweifellos Haß und Neid auf den Auserwählten, ebenso können aber auch realpolitische Überlegungen eine Rolle spielen: Es muß als riskanter Plan erscheinen, nur einen potentiellen Erben zu haben, was ist, wenn dieser vor Marke stirbt? Der König selbst ist dann möglicherweise zu alt für eine Heirat. Andererseits ist Marke vor und bei Tristans Ankunft in Cornwall erbenlos und hat noch keinerlei Vorbereitungen für eine Hochzeit und somit für einen Nachfolger getroffen, mit Tristan wäre die Sicherung der Herrschaft somit gegeben, wenn auch die direkte Erbfolge unterbrochen wäre. Tristan erkennt, daß Marke zu weit gegangen ist und will seinerseits angesichts der Stimmung am Hof nicht sein Leben aufs Spiel setzen. Tristans Angst angesichts der Feindseligkeit gegen ihn am Hof führt zu seiner Bitte an Marke, ihn nicht länger als Erbe auszurufen, sondern zu heiraten. Als Marke das ablehnt, stellt Tristan ihn vor die Wahl: Entweder läßt er sich auf Tristans Plan ein oder der Neffe verläßt den Hof. Jaeger hat auch in diesem Verzicht Tristans und seinen Plänen, den Hof zu verlassen einen Bezug zur zeitgenössischen Hofkritik und ihren Empfehlungen, den Hof zu fliehen, um wieder ein tugendhaftes Leben führen zu können, gesehen.19 Bisher wurden die Aspekte skizziert, mit denen sich die MarkeTristan-Beziehung als typisches Herrscher-Favorit-Verhältnis lesen läßt, aber die Besonderheit des literarischen Textes besteht eben darin, daß er Diskurse unterläuft und Mehrdeutigkeiten produziert. Das ist auch in der Darstellung der Nahbeziehung zwischen Marke und Tristan der Fall. Als Voraussetzung für die Entwicklung eines besonderen Vertrauens- und Gunstverhältnisses zwischen Herrscher und Favorit gilt die Anwesenheit 17 18 19

Hirschbiegel, Jan: Zur theoretischen Konstruktion der Figur des Günstlings. In: Hirschbiegel, Jan / Paravicini, Werner (Hrsg.): Der Fall des Günstlings. S. 23-39, S. 23. Gottfried: Tristan. 3740ff. Jaeger, Stephen C.: The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan.

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des potentiellen Günstlings bei Hof20 – Tristan aber kommt von außerhalb, noch dazu als gesellschaftlicher Außenseiter. Das entspricht einerseits dem Topos des Aufsteigers, der von außen kommt und in kürzester Zeit eine Spitzenposition einnimmt, und andererseits verläuft aber dieser Weg quer zur Favoritenlaufbahn, wie ihn hofkritischer oder historiographischer Diskurs zeichnen. Tristan hebt sich ab von der Hofgesellschaft und ist eben nicht ihr Produkt, er erobert nicht durch geschickte Politik oder Einschleichen in die herrscherliche Gunst seinen Platz bei Marke, sondern durch seine Kunst, seine ganze Erscheinung, seine virtus und die Faszination, die dadurch von ihm ausgeht. Auch das antihöfische Zerrbild des Günstlings als berechnendem Ratgeber, der seinen eigenen Vorteil nie aus den Augen verliert und nur scheinbar den Fürsten selbstlos berät, läßt sich kaum auf Tristan übertragen. Denunziert die Kritik am Favoriten diesen gern als bösen Ratgeber,21 so zeigt sich hier die Ambivalenz des Gottfriedschen Tristan: Im Gegensatz zu anderen Hofmitgliedern ist der Favorit als loyaler Ratgeber dargestellt, der Markes Machterhalt und Wohl im Auge hat und dafür auch in den Kampf zieht: In der Morold-Frage nimmt Tristan dezidiert eine andere Position als der König ein, entgegen den anderen Hofmitgliedern, die in ihrer Konkurrenz um die Gunst des Herrschers vor allem „opportunistisches Verhalten“22 an den Tag legen. Bis zum Minnetrank ist Tristan der loyalste und zuverlässigste Neffe, den man sich nur vorstellen kann. Zwar ist er durch Marke in den Status des Favoriten erhoben, doch er verhält sich eben bis zum Minnetrank nicht wie der Höfling, den die antihöfischen Werke kritisieren, sondern absolut zuverlässig und hilfreich: Er wagt als einziger den Kampf mit Morold und befreit durch seinen Sieg Markes Reich von den Tributverpflichtungen. Mit seinen höfischen Fähigkeiten sorgt er für Glanz an Markes Hof, und schließlich begibt er sich für seinen Onkel auf Brautschau. Sogar noch in der Liebe zu Isolde dient er Marke, indem er ihn in der Gandinepisode vor der unausweichlichen Schande rettet, die mit dem Verlust Isoldes einhergehen würde – auch wenn Tristan dabei nicht zuletzt im eigenen Interesse handelt. Ein weiterer Einwand gegen eine von Tristan geplante Karriere an Markes Hof ergibt sich aus der Rolle des Zufalls. So geschieht etwa die Aufdeckung von Tristans Identität eher zufällig.23 Zwar ist es 20 21 22

23

Hirschbiegel, Jan: Zur theoretischen Konstruktion der Figur des Günstlings. In: Hirschbiegel, Jan / Paravicini, Werner (Hrsg.): Der Fall des Günstlings. S. 34. Asch, Ronald G.: Schlußbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. S. 526. Winterling, Aloys: „Hof”. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. In. Butz, Reinhard / Hirschbiegel, Jan / Willoweit, Dietmar (Hrsg.): Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. (Norm u. Struktur, Bd. 22) Köln, Weimar, Wien 2004, S. 77-90, S. 81. Worstbrock, Franz Josef: Der Zufall und das Ziel. S. 40.

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nicht so, daß die Handelnden jeweils keine andere Wahl hätten, und sicher ist das Zusammenspiel von zufälligen, schicksalhaften Ereignissen und den Entscheidungen, die die davon betroffenen Personen treffen zu berücksichtigen, doch besonders für den ersten Teil des Tristan ist der Zufall eine entscheidende Größe. „So stellt sich die Vita Tristans in ihrer ersten Phase als eine – mit Boethius zu sprechen – catena fatalis dar.“24. Von Zufällen und Verkettungen von Umständen sind maßgeblich die hier untersuchten Nahbeziehungen betroffen: Die komplexen Zufälle, auffälligste und tragende Konstanten des Handlungsprozesses, beseitigen stets unerwartet Schein und enthüllen Wahrheit; sie verändern damit maßgeblich zugleich Korrelation und Konstellation der Figuren. Bezogen auf Schein und Wahrheit treffen sie die durchgehende zwiespältige Grundschicht des Romans.25

Der literarische Text nimmt damit eine Ambivalenz und Doppelbödigkeit vorweg, die in den folgenden Jahrhunderten in theoretischen und didaktischen Werken über den Hof aufgegriffen und explizit gemacht werden: Der Ausblick in die Frühe Neuzeit verdeutlicht, daß sich etwa in Hoftraktaten die Zwiespältigkeit fortsetzt, die der hochmittelalterliche Tristan mit literarischen Mitteln vorführt. Die Hofmanns- und Favoritenliteratur am Ende der Renaissance und zu Beginn des 17. Jahrhunderts entwirft sowohl positive als auch negative Bilder des Günstlings. Virgilio Malvezzis Werk Über Ruhm und Fall des Conte Duca D’Olivarez (Ritratto del privato politico christiano) entwickelt ein Bild gegenseitiger Zuneigung zwischen Fürst und Günstling. Im Favoriten sieht er „den einzigen Freund des Herrschers“26 in einer höfischen Gesellschaft, in der eine große Distanz zwischen Fürst und seiner Umgebung am Hof herrscht,27 und in der der Fürst wenigstens einen Vertrauten braucht. Dagegen findet sich in den italienischen Hofmannstraktaten, etwa bei Lorenzo Ducci, eine sehr kritische Betrachtung des Günstlings.28 Dieser wird dort als ein Schmeichler entlarvt, der jederzeit seine Zuneigung und Ergebenheit demonstriert, jedoch einen Mangel an Autorität seitens des Fürsten sofort für seinen persönlichen Vorteil nutzt.29 Bei Castiglione andererseits ist der vollkommene Hofmann Erzieher und Berater des Herrschers – eine Charakterisierung, die man ebenso wie die des gerissenen Karrieristen für Tristan in Anspruch nehmen kann. Zwar gehört das in eine spätere Epoche, aber wenn man in dieser Per24 25 26 27 28 29

Ebd. S. 41; Boethius: Trost der Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Aus d. Lat. v. Ernst Neitzke. Frankfurt a.M, Leipzig 1997, S. 276. Worstbrock, Franz Josef: Der Zufall und das Ziel. S. 50. Asch, Ronald G.: „Lumine solis.“ S. 35. Asch, Ronald G.: „Lumine solis.“ S. 35. Ebd. S. 36. Ebd. S. 36.

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spektive auf den Markehof blickt, läßt sich unter Umständen doch die eine oder andere Parallele feststellen. Die Porträtierung der Hofgesellschaft Cornwalls bleibt widersprüchlich und zwiespältig. Zwar erhebt die Darstellung des Markehofs zunächst den Anspruch höfischer Idealität,30 doch ebenso werden das Versagen dieses Hofes und seines Herrschers sowie die Schattenseiten des Hoflebens in der Negativzeichnung dieser Hofgesellschaft deutlich. Im Zuge des Aufenthalts der Liebenden in der Minnegrotte wird ihr Leben mit dem Artushof verglichen31 und so mit dem Markehof kontrastiert. Und dennoch bleibt das Ideal des Höfischen mit dem Hof als Haupthandlungsplatz32 verbunden, personifiziert wiederum in Tristan und Isolde. Der Vergleich mit der Artusidealität führt zu dem grundlegenden Spannungsverhältnis des höfischen Romans, das Gottfried eindrucksvoll in Szene setzt: „er [Gottfried] hat die vitale und auf sich selbst nicht verzichten wollende Liebe von Tristan und Isolde direkt in den Artushof hineingesetzt und dann vorgeführt, was daraus werden mußte“33. Tristan ist im Grunde ein Gawein, der mit Ginover ein Verhältnis hat und zugleich als Artus’ engster Berater und zweiter Mann im Staat agiert. Marke wird zu Beginn des Textes als „rex iustus et pacificus“34 ins Bild gesetzt:35 Er hat das Land befriedet, die Lokalfehden geschlichtet und auf diese Weise seine Herrschaft organisiert. Sein Hof zieht junge Männer wie Riwalin an, die sich von einem Aufenthalt einen Zuwachs an persönlicher Ehre versprechen. Das aber steht im Gegensatz zu Markes Verhalten angesichts der Gerüchte über den Ehebruch am Hof, seiner Passivität und Unentschlossenheit. Marke ist bei Gottfried sowohl würdiger Repräsentant der Macht als auch zweifelnder Freund und Ehemann.36 Auch hier zeigt sich, daß der Tristan hinsichtlich der Nahbeziehungen am Hof nicht einfach hofkritische Tendenzen widerspiegelt. In den klerikalen hofkriti30 31 32 33 34 35 36

Gottfried: Tristan. 445ff., 483ff. u. 520ff. Siehe zu Gottfrieds Technik der „Desillusionierung” für den Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit des Markehofes Tomasek, Tomas: Die Utopie im ‚Tristan’ Gotfrids von Straßburg. S. 48ff. Gottfried: Tristan. 16863-16867, 16900-16905. Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. S. 205. Simon, Ralf: Thematisches Programm und narrative Muster im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdPh 109 (2) 1990, S. 354-380, S. 377. Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. S. 205. Gottfried: Tristan. 420ff. u. 5015ff. Batts, Michael: The Role of King Marke in Gottfried’s Tristan – and elsewhere. In: Stevens, Adrian / Wisby, Roy (Hrsg.): Gottfried von Straßburg and the Medieval Tristan Legend. S. 117-126, S. 124; Ina Karg macht hinsichtlich der erzählerischen Perspektive deutlich, daß die Markefigur paradox und widersprüchlich angelegt ist, weil sie das Ergebnis einer Rollenmontage darstellt: Karg, Ina: Die Markefigur im ‘Tristan’. Versuch über die literaturgeschichtliche Position Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdPh 113, 1994, S. 66-87, bes. S. 76 u.86.

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schen Schriften kann zwar auch der Fürst negativ und in einem überaus kritischen Licht gezeichnet sein, aber in der Regel zeigen diese Texte den Herrscher – als politischen Funktionsträger – als in seiner Integrität und Herrschaftsfähigkeit bedroht durch seine korrumpierte und pervertierte Umgebung. Doch der Tristan Gottfrieds zeigt den Herrscher als Teil der pervertierten Ordnung. Marke macht sich nicht nur mit den Intriganten Marjodo und Melot gemein, er selbst wird zur Negativfigur des Hofes. Wenn also zu Beginn Parallelen zu Artus aufgerufen wurden, so gleicht Marke in der Ehebruchsgeschichte in mancher Hinsicht Gunter:37 Sie verbindet ihre Passivität angesichts der Vorwürfe und Gerüchte sowie des Brautnachtbetrugs, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, und die Niedergeschlagenheit des Königs ist bei Gunter wie bei Marke zu beobachten. Angesichts der Verdächtigungen gegen Tristan und Isolde am Hof beschreibt der Bischof von Thamise den Hof als Ort der Gerüchte und Verleumdungen, als Ort, wo Lüge und Wahrheit sich kaum unterscheiden lassen.38 Das deckt sich mit der klerikalen Hofkritik der Zeit, etwa bei Johannes von Salisbury oder Johannes de Hauvilla.39 Vor allem diejenigen Hofmitglieder, die Ämter und Funktionen haben, machen keine gute Figur – Marjodo, Melot und nicht zuletzt der König selbst. Das bedeutet, daß das Ideal des Hofes ebenso durch Gottfried aufgerufen wird wie die Kritik des Hofes,40 was sich bereits ankündigt, wenn der Jäger Tristan als hoveman41 bezeichnet wird, und es ist wohl kaum zutreffend, in Gottfried den unparteiischen Beobachter zu sehen.42 Beides, das Ideal wie die Kritik, finden ihren Ausdruck und ihre Ursache im Favoriten Tristan, der durch seine Anwesenheit beide Seiten des Hofes zum Vorschein bringt. Sorgt er zunächst für zusätzlichen Glanz und realpolitische Fortschritte, so entzündet sich an ihm im folgenden der Stimmungsumschwung der Hofgesellschaft. Von Rivalitäten und Kabalen unter den Höflingen am Hof Markes ist zunächst keine Rede, alles konzentriert sich auf Tristan. In ihm findet das Intrigenspiel seinen Auslöser, und Personen wie Marjodo und Melot treten nicht früher als nach Markes Heirat auf den Plan. Der Zwerg Melot wird erst als Vertrauter des Königs eingeführt – „daz was dem kü37 38 39 40 41 42

Krohn, Rüdiger: Gunther, Gernot und Giselher. In: Storch, Wolfgang: Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang. Katalog zur Ausstellung vom 5.12.198714.02.1988. München 1987, S. 16-18, S. 17. Gottfried: Tristan, 15380ff. u. 15456ff. Vgl. Jaeger, Stephen C.: The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan. Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. S. 206. Gottfried: Tristan. 3485. Siehe Konecny, Silvia: Tristan und Marke bei Gottfried von Straßburg. In: Leuvense Bijdragen 66, 1977, S. 43-60, S. 56.

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nege heinlîch“43 – , nachdem Marjodo Tristans Geheimnis entdeckt hat und sich Melots Hilfe bedient. Melot und Marjodo verkörpern in Gottfrieds Erzählen vom Hof die Nachtseite, indem sie den Part der intrigierenden Höflinge übernehmen, wobei Melot das Werkzeug eines enttäuschten Freundes wird, das aber nicht nur den Liebenden zusetzt. „Melot is also Mark’s serpent, not just the lovers’“44: Er vergiftet für alle die Atmosphäre und macht sowohl den Liebenden als auch dem König das Leben schwer. Im Gegensatz zu Tristan erweisen sich Melot und Marjodo als schlechte Berater des Königs, denn sie sind nicht in der Lage, schnell Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse zu leisten, sondern schüren nur immer wieder den Verdacht des Ehebruchs und säen Mißtrauen. Freundschaft und falsche Freundschaft am Hof hängen, nicht nur in der literarischen Darstellung, eng zusammen mit der Intrige und der Figur des Intriganten. Marjodo ist der Neider und Feind, der sich als Freund gibt, um so dem Konkurrenten möglichst wirkungsvoll zu schaden. Er denunziert den Freund beim König, aber nicht, weil er ein loyaler Berater und Gefolgsmann seines Herrn ist, sondern um den Freund, von dem er sich verraten fühlt, und vor allem Isolde zu desavouieren;45 er benutzt Marke nur für seinen persönlichen Rachefeldzug, denn sein Handeln entspringt aus der Verletzung seines männlichen Egos. Dabei ist Marjodo durchaus keine eindimensionale Negativfigur wie Melot. Zunächst haben Marjodo und Tristan durchaus eine harmonische, freundschaftliche Beziehung – bis zur nächtlichen Entdeckung des Paares durch Marjodo. Die erzählerische Perspektive dabei – “Der Rezipient schleicht dem Protagonisten an der Seite des Freundes hinterher“46 – führt vor Augen, was für ein Schlag Tristans Geheimnis für seinen Freund ist. Aus dem loyalen Freund Marjodo wird der falsche Freund, der den anderen verrät, nachdem er dessen Affäre mit Isolde entdeckt hat – in die er selbst verliebt ist. Seine Wut und Enttäuschung resultieren weniger aus der Erkenntnis, daß Tristan seinen Onkel, den König betrügt, sondern daß er ihn, seinen Gefährten betrogen und mit der Frau ein Verhältnis hat, mit der Marjodo selbst gern zusammen wäre. Marjodo47 ist ab diesem Moment also ebensowenig loyaler Vertrauter des Königs wie der Betrüger Tristan, sondern 43 44 45

46 47

Gottfried: Tristan. 14254. Bekker, Hugo: Gottfried von Straßburg’s Tristan. S. 208. Vgl. auch Fritsch-Rößler, Waltraud: Falsche Freunde, Markes Ohren und der Autor als Intimus. Zweifelhafte amicitia im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Marci-Boehncke, Gudrun / Riecke, Jörg (Hrsg.): „Von Mythen und Mären“ – Mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie. Festschrift für Otfrid Ehrismann zum 65. Geburtstag. Hildesheim, Zürich, New York 2006, S. 80-93, S. 84 u. 87 Hübner, Gert: Erzählform im höfischen Roman. S. 329. Vgl. zu Marjodo auch Bekker, Hugo: Gottfried von Straßburg’s Tristan. S. 196-203.

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will nur Genugtuung für sich selbst. Für Tristan wird er zum schlimmsten Feind, weil er sich weiterhin als Freund gibt. Folgendermaßen kommentiert der Erzähler zu Marjodo: noch nie kein angest alsô grôz / als der valsche hûsgenôz: / ich meine daz zer valscheit, / der friunde friundes bilde treit / und in dem herzen vîent ist, / daz ist ein freislîch mitewist; / wan der treit alle stunde / daz honec in dem munde, / daz eiter, dâ der angel lît; / dâ blæt der eiterîne nît / dem friunde misselinge / an iegelîchem dinge, / daz er gehoeret unde gesiht / und enhüetet nieman vor im niht. / swer aber offenbâre / dem vînde sîne vâre / ze schaden breitet unde leit, / des enzel ich niht ze valscheit; / die wîle er vîent wesen will, / die wîle enschadet er niht ze vil. / swenne er sich heinlîche dar, / sô neme der man sîn selbes war.48

Der schlimmste Feind ist der, der Freundschaft heuchelt. Und damit ist, und zwar nicht als Charakterisierung des Ehebrechers, sondern desjenigen, der unter normativ-moralischen Aspekten durchaus im Recht ist, der gängige antihöfische Topos der Verlogenheit des Hofes und der Dissimulatio49 seiner Höflinge aufgerufen, der die Instabilität, wenn nicht gar Unmöglichkeit dauerhafter, aufrichtiger Nahbeziehungen am Hof demonstriert. Allerdings wird die Wertvorstellung Freundschaft gerade durch diese Negierung einmal mehr betont: Marjodo und Melot sind die Negativfolie für Ruals, Kurvenals und Brangänes unerschütterliche Treue. Die Gottfriedsche Passage der Dissimulatio weist große Ähnlichkeit mit der Darstellung des Hofes im Architrenius’ des Johannes de Hauvilla auf.50 Im vierten Buch steht der Berg des Ehrgeizes für das Hofleben: Illic ingluvies, illic Venus effluit, illic / Texitur occulto studio dolus, emula veri / Fabula prevelat fidei periuria peplo. / Pacis habent vultus odii secreta, venenum / Fraudis amiciciam tenui mentitur amictu. / Occulit immanes animos clemencia vultus. / Pectoris asperitas risu pretexta sereno, / Interius fervens laqueos innodat et hamos / Curvat in insidias, rabiemque in pectore fixam / Armat in omne nefas. non est, quod abhorreat aule / Incola, delictum: facie describit amicum, / Hostem mente premit; linguam dulcedine lactat, / Mentis amara tegens; animo blanditur operto, Ledit in occulto; presenti parcit amico, / Vulnerat absentem; quicquid presencia pacis / Spondeat, a gladio non est absencia tuta. // Nulla fides aule, nulla est reverencia, nullus / Committendo modus. viciis indulget, honestum / Ambicione premit [...] Mobilis et nullos solide complexus amicos, / Mente vagus dubia, nullis nisi fedius uti / Federibus novit, odiis alternat amores, 48 49

50

Gottfried: Tristan. 15055-15076. Siehe dazu: Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. S. 305-315; Asch, Ronald G.: Der Höfling als Heuchler? Unaufrichtigkeit, Konversationsgemeinschaft und Freundschaft am frühneuzeitlichen Hof. In: Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V., 10) Köln, Wien 2007, S. 183-203. Vgl. zum Architrenius auch Roling, Bernd: Das Moderancia-Konzept des Johannes de Hauvilla. Zur Grundlage einer neuen Ethik laikaler Lebensbewältigung. In: FMSt 37, 2003, S. 167-258.

3. Männlich-asymmetrische Bindungen

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/ Mutat amicicias, has exuit, induit illas, / Quosque minus constanter amat, constancius odit. / Vagit amicicie teneris infancia cunis, / Gracior ad veteres numquam perducitur annos / Nec senii matura sapit; fastidia ferret, / Si senio marceret anus. dum spirat odorum / Primicias, expirat amor, sic aula diurnos / Eligit et tractos ultra fastidit amicos.51

Der Hof ist für Johannes der Inbegriff der Falschheit, Verschlagenheit und Dissimulatio der Höflinge, der Ort, wo die Laster zu Hause sind und Ehrgeiz und Selbstbezogenheit jede ehrliche Gefühlsbekundung verhindern und man daher niemandem trauen kann: Freundschaft am Hof ist falsche Freundschaft. Mit Blick auf Marjodo und Melot scheint der Tristan diese Kritik zu illustrieren, doch ist sein Hof eben auch der Aufenthaltsort der Liebenden – in den sie integriert sein wollen – und Schauplatz ihrer Listen und ihres fortwährenden Betrugs. Nicht die Norm und ihr Bruch, sondern vielmehr die „Dekonstruktion der Opposition von Norm und Transgression und damit die Kulturimmanenz auch der Transgression“52, wie Rainer Warning dargelegt hat, wird in Gottfrieds Ambivalenz-Strategie und den Kreisbewegungen seines Textes sichtbar, und das gilt nicht nur für die Liebe, sondern auch für die Freundschaft. Zusammenfassend ist zu konstatieren, daß die Tradition hofkritischer Werke im 12. Jahrhundert als Kontext männlicher Nahbeziehungen im Tristan verstanden werden kann, aber nicht in eindeutig affirmativer Wei51

52

Johannes de Hauvilla: Architrenius. IV 13, 322-340, 365-375, S. 189-191; Übersetzung nach: Johannes de Hauvilla: Architrenius. Hrsg. u. übers. v. Winthrop Wetherbee. (Cambridge Medieval Classics, 3) Cambridge 1994, S. 106f.: “Here gluttony and lechery abound, here deceit is wrought by secret arts, falsehood strives to resemble truth, and perjury shrouds itself in the mantle of good faith. Lurking hatred wears a face of peace, and the poison of fraud disguises itself in a thin cloak of friendship. A humane countenance hides inhuman thoughts. The cruel spirit, veiled by a serene smile but seething inwardly, sets its snares and barbs its hooks for treachery, and the madness that infests the bosom is ready for any wicked action. There is no crime that the courtier shuns: he presents the face of a friend, burying enmity in his heart, imbuing his tongue with sweetness to conceal the bitterness of his mind. His outward expression offers a caress, but he wounds in secret, and though he spare a present companion he will attack an absent one. Whatever pledges of peace one gains in his presence, in absence one is not safe from his dagger. There is no trust at court, no reverence, no limit to what can be done. It indulges vice, and keeps down integrity in favor of ambition. [...] Fickle, embracing no one in sincere friendship, inconstant in his anxiety, the courtier has no use for promises unless to debase them; he shifts from love to hatred as he changes friendships, shaking off one to put on another, and though his love is inconstant, he is constant in hatred. His friendship is like a feeble infant that squalls in her cradle, never so favored as to survive to later years, or attain the ripeness of age. Should she become an old woman, withered with age, she would incur his contempt. Even as it inhales the scent of its first fruits, love expires. So too the court prefers friendship of a day, and scorns those that endure longer.”. Warning, Rainer: Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im Tristan. In: Neumann, Gerhard / Warning, Rainer (Hrsg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie. (Rombach Wissenschaften; Reihe Litterae, Bd. 98) Freiburg 2003, S. 175-212, S. 187.

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se. Das Hofleben stellt in der klerikalen Hofkritik von Johannes von Salisbury über Peter von Blois, Giraldus Cambrensis und Johannes de Hauvilla bis hin zu Walter Map, wenn dort auch mit verschobenem Akzent, den Ort der falschen Freunde, der geheuchelten Sympathie, des getäuschten Vertrauens und der hinterhältigen Schmeichelei dar. Nur daß Tristan – als Günstling – bis zum Minnetrank diese Negativtopoi eben nur sehr bedingt verkörpert, dafür um so mehr die Hofgesellschaft, und auch in der Minnegeschichte hinterlassen vor allem Figuren wie Marjodo und Melot einen ungünstigen Eindruck. Sowohl den Tristan als auch die Texte der satirischen Hofkritik als auch einen Text der politischen Theorie wie den Policraticus beschäftigt – in unterschiedlicher Gewichtung – die Frage Beziehungen der Herrschers zu seiner Umgebung der gute Fürst was ist gute und gerechte Herrschaft aber während es Johannes von Salisbury um einen theoretischen Entwurf politischer Ordnung geht und der klerikalen Hofkritik um eine Polemik gegen die weltlich-höfische Lebensform in Abgrenzung von der geistlichen/monastischen, um Kritik und Satire der höfischen Gepflogenheiten, kann der literarische Text gerade nicht auf eine Lesart festgelegt werden. Der Tristan ist kein Spiegel hofkritischer Diskurse, sondern setzt sich mit diesen auseinander und läßt dabei eine Ambivalenz im Umgang mit der antihöfischen Tradition erkennen. Idealisierung und Negativzeichnung des Hofes laufen neben- und ineinander, und Tristan als die vollkommene Personifizierung von hövescheit ist zugleich der beste Repräsentant höfischen Lebens als auch deren größtmögliche Perversion. Eine einseitige Zuordnung der gängigen Negativattribute des antihöfischen Diskurses wird ihm daher nicht gerecht. Tristan kann eben sowohl als der perfekte Hofmann, der alle höfischen Fertigkeiten beherrscht und dem hövescheit als positives Attribut zugeordnet ist, interpretiert werden als auch als der kühl kalkulierende Karrierist, der sich einen Aufstieg am Markehof verspricht, als auch als der vollkommene Liebende. Und entsprechend ambivalent und mehrdeutig ist auch seine Freundschaft mit Marke. Hier überlagern sich Diskurse adliger Freundschaft, Diskurse des gutes Regierens und der Herrschergunst sowie hofkritische Diskurse. Wenn der Iwein nicht zuletzt von Freundschaft erzählt, um die Problematik der Geschlechterbeziehung vor Augen zu führen, so zeigt der Tristan Gottfrieds, daß sowohl Liebe als auch Freundschaft ambivalent erzählt werden können, beide Nahbeziehungen werden problematisiert und lassen sich nicht mit der Opposition Norm und Transgression beschreiben.

V. Zusammenfassung und Ergebnisse1 Literarische Texte können eine Spielwiese für kulturanthropologische Themen sein, sie montieren unterschiedlichste Kontextdiskurse, probieren aus, produzieren Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen. Möglicherweise bilden sie auch einen eigenen spezifischen Diskurs für ein Thema aus – für Rüdiger Schnell bedeutet höfische Liebe der Diskurs der höfischen Liebe, so wie er sich erst in und durch die höfische Literatur herausbildet.2 Sie sind jedoch trotz ihres besonderen Status als fiktive Texte nie losgelöst von den Texten und Diskursen, den kulturellen Dynamiken und Zirkulationen ihrer Umgebung: „the work of art is the product of a negotiation between a creator or a class of creators, equipped with a complex, communally shared repertoire of conventions, and the institutions and practices of society”3. Es geht darum, ein kulturanthropologisches Thema wie Freundschaft bzw. seinen Diskurs in der höfischen Dichtung „mit den verschiedensten Traditionssträngen thematisch vergleichbarer Diskurse“4 zusammen zu lesen. Entsprechend war es das Anliegen, vor allem in Kapitel III und IV, die Freundschaftsdiskurse und -typen durch eine Anbindung an mögliche und relevante außerliterarische Referenzsysteme einzuordnen und in ihrer Wirkungsweise zu verstehen. Denn erst wenn Freundschaft in der höfischen Epik zusammen mit Texten anderer Bereiche – Historiographie, Legende, Ökonomik, Hofkritik, theologische Traktate – , die auch die Freundschaftsthematik verhandeln, gelesen werden, können Funktionen und Besonderheiten der fiktiven Werke sichtbar werden. Kapitel II bereitete die Basis für diese Kontextualisierung, indem sowohl ein Überblick über wesentliche Freundschaftsdiskurse um 1200 gegeben wurde als auch antik-pagane und christliche Freundschaftsvorstellungen sowie deren Spannungsverhältnis von amicitia und caritas als Verstehensvoraussetzung rekapituliert wurden.

1 2 3 4

Für Anregungen und Kritik geht der freundschaftliche Dank an Judith Theben und Nadine Krolla. Schnell, Rüdiger: Die ‚höfische’ Liebe als ‚höfischer’ Diskurs über die Liebe. In: Fleckenstein, Josef (Hrsg.): Curialitas. S. 231-301. Greenblatt, Stephen j.: Towards a Poetics of Culture. In: Ders.: Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture. New York, London 1990, S. 146-160, S. 158. Peters, Ursula: Mittelalterliche Literatur am Hof und im Kloster. S. 183.

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

Die theoretischen Überlegungen in Kapitel I setzten bei den Aspekten an, die für eine Analyse von Nahbeziehungen wesentlich sind: Freundschaft als symmetrisches und/oder asymmetrisches Verhältnis, die Ausgestaltung von Reziprozität und Loyalität, die Frage nach Emotionalität und Vertrauen, Zweck- versus Tugendfreundschaft bzw. die Spannung von Nutzen und Neigung sowie die Überlagerung und Verschränkung von Freundschaft mit anderen Nahbeziehungssystemen wie Verwandtschaft und Liebe. Die Frage der Symmetrie/Asymmetrie erschöpft sich dabei nicht in der Konstatierung der nach außen sichtbaren Statusgleichheit oder -ungleichheit, sondern, wie sich vor allem in den weiblichasymmetrischen Nahbeziehungen gezeigt hat, ist auch das Binnenverhältnis der Akteure von großem Interesse, da situative Dynamiken zur Verschiebung oder sogar Umkehrung des Verhältnisses führen können. Blickt man noch einmal auf Kapitel I und das in der Diskussion über Freundschaft virulente Oppositionspaar Moderne – Vormoderne zurück, so läßt sich zumindest in Hinsicht auf die höfischen Epik feststellen, daß der freiwilligen, privat-affektiven Zweierbeziehung der Moderne – sofern das nicht auch nur den normativen Diskurs beschreibt – nicht die vormoderne institutionalisierte Solidaritäts- oder Gefolgschaftsbeziehung gegenübergestellt werden kann. Vier Grundformen lassen sich für eine Typologie von Freundschaft in der höfischen Epik um 1200 ausmachen, wobei sich die Merkmale gender und Symmetrie als fruchtbar erwiesen haben: männlich-symmetrische und -asymmetrische, weiblich-asymmetrische und cross-sex-Beziehungen. Eine untergeordnete Rolle spielen weiblich-symmetrische Bindungen. Allerdings ist diese Einteilung nicht als starre Systematik zu verstehen, sondern als Abstraktion und Analyseinstrument für die Texte. Sie will keine Kategorienbildung sein, in der alle Nahbeziehungen restlos aufgehen, und bezieht daher Subtypen wie Mischformen, Überschneidungen und die unterschiedliche Relevanz der einzelnen Typen ein. Innerhalb dieser Grundformen haben die Nahbeziehungen der höfischen Epik, insbesondere die symmetrischen Freundschaften zwischen Männern, eine große Bandbreite von Freundschaftskonstellationen zu bieten, mit denen unterschiedlichste Strukturen realisiert werden. Die Genderspezifik drückt sich darin aus, daß Freundschaft in der Heldenepik, aber auch im höfischen Roman in der Hauptsache als Beziehung zwischen Männern verhandelt wird. Freundschaft kann hier Freundschaft auf Distanz, also getrennte Wege, die sich an entscheidenden Stellen wieder kreuzen, bedeuten, der Freund nimmt dann abwechselnd die Rolle des Begleiters, des Abwesenden und des Antagonisten ein. Freundschaft kann als gemeinsamer Weg außerhalb des Hofes, aber auch als Gemeinschaft am Hof erzählt werden;

V Zusammenfassung und Ergebnisse

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ebenso kann sie als Diskurs in der Begegnung potentieller Rivalen oder als formale Interaktionsform eingesetzt sein. Bei einer Typologisierung dieser Freundschaften stellt sich unweigerlich die Frage nach der Gattung. Unterschiede lassen sich zwischen Heldenepik und höfischem Roman, aber auch zwischen Artus-, Antiken- und Tristanroman feststellen: Das Herrin-Vertraute-Verhältnis mit seiner literarischen Figur der Amme/Kupplerin ist typisch für die Antiken-, Artusund Tristanromane; die Freundschaften Gaweins mit dem Protagonisten sind Kennzeichen der Artusromane; das Freundespaar als Kampfgemeinschaft ist mit Roland und Oliver im Chansons de Roland ebenso präsent wie im Antikenroman mit Nisus und Eurylus oder Eneas und Pallas. Gleichzeitig aber sind auch Gemeinsamkeiten über die Gattungsgrenzen hinweg zu verzeichnen. Heldenepik und Antikenroman ist die Totenklage um den Freund oder jüngeren Gefährten gemeinsam: Rolands Trauer um Oliver ist in ihren Gesten und ihrer Emotionalität genauso gestaltet wie Eneas’ Verhalten angesichts des toten Pallas oder Polyneices’ Trauer um Tydeus im Roman de Thèbes. Tristanroman wie Nibelungenlied – was nicht die sonstigen grundsätzlichen Unterschiede überdecken soll – erzählen vom Scheitern der Freundschaft am Hof. Die männlich-asymmetrische Beziehung in Gestalt der Onkel-Neffe-/Ersatzvater-Sohn-Beziehung ist gattungsübergreifend sowohl in der Heldenepik (Karl-Roland) als auch im höfischen Roman präsent, wobei sie im Artusroman, in der Beziehung ArtusGawein, eher statisch auftritt, wohingegen sie im Tristanroman, vor allem in Gottfrieds Version, dynamisiert und problematisiert wird.5 Insgesamt gesehen bedeutet das, daß die Freundschaftsdiskurse der Texte in Beziehung zur jeweiligen Gattung stehen und auch von der jeweiligen Stoffgeschichte abhängen, jedoch ist das nur ein Kriterium ihrer Ausgestaltung und ihres Funktionierens. Eine Typologie ‚höfischer’ Freundschaft, wie sie vorgeschlagen wird, versteht sich als formale Ordnung und zielt nicht darauf, einem Typ jeweils ein Muster oder einen Diskurs zuzuordnen. So ist etwa für die Gawein-Freundschaften mit dem jeweiligen Protagonisten der Rückgriff auf Cicero6 eine Möglichkeit und ebenso die Anlehnung an den geistlichmonastischen Bereich und ihre amicitia spiritualis, die wiederum bei Aelred von Rievaulx selbst an Cicero wie auch an den spätantiken christlichen Freundschaftsdiskurs eines Cassian anknüpft. Besonders im Iwein sind diese Lesarten denkbar, auch wenn sie durch die ironische Brechung der Figuren nicht nur affirmativ, sondern auch als Kontrast funktionieren. Und gerade die Gawein-Freundschaften können auch in Abkehr von die5 6

Ähnlich wie im Herzog Ernst. Ertzdorff, Xenia von: Höfische Freundschaft. S. 47.

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

sem Freundschaftsideal als pragmatisch-politische Verbindungen gelesen und damit in Anschluß an politische amicitia-Konzeptionen, wie sie in historiographischen Zeugnissen begegnen, eingeordnet werden. In den Artusromanen, besonders in der Gestalt Gaweins, bezeichnet Freundschaft ein Vehikel der Identitätsbildung. Charakteristisch dabei ist das Changieren bzw. die Spannung zwischen Exklusivität und Exemplarität der Freundschaften Gaweins mit dem Helden: Einerseits bildet diese Beziehung eine Konstante in der Narration der Texte, andererseits wird die jeweilige Freundschaft Gaweins mit dem Protagonisten als vorbildlich und besonders herausgehoben. Entscheidend ist die Homosozialität in diesen männlichen Freundschaften. Das homosoziale Begehren wird in der Freundschaft mit dem als ebenbürtig erkannten Mann erfüllt und findet seinen höchsten Ausdruck im Zweikampf. Das Paradox eines Männlichkeitsentwurfs, dem Agonalität und Ehrakkumulation durch Kampferfolg zugrunde liegt, und der Freundschaft als einem Diskurs des alter-ego und der Zuneigung und Unterstützung für den anderen, löst der unentschiedene oder abgebrochene Zweikampf, indem er Ehrgewinn für beide Beteiligten ermöglicht und Freundschaft und Konkurrenz im Moment des Wiedererkennens im Kampf zusammenführt. Diesem Modell, das für Erec und Guivreiz, Gawein und Iwein, Gawan und Parzival zutrifft, können weitere an die Seite gestellt werden: die unzertrennlichen Kampfgefährten Hagen und Volker im Nibelungenlied, Roland und Oliver im Chansons de Roland oder Nisus und Euryalus im Eneasroman, die falsche Freundschaft Marjodos für Tristan sowie der Verrat Hagens und Gunters an Siegfried und die pragmatische Nutzenfreundschaft Tristans und Kaedins. Die männlich-asymmetrischen Beziehungen, die vor allem in der Onkel-Neffe-Bindung realisiert werden, sind insbesondere am Beispiel von Marke und Tristan in Gottfrieds Tristan untersucht worden, da diese Beziehung das vielleicht komplexeste Beispiel dieses Typs ist. Grundsätzlich zeichnet sich diese Nahbeziehung durch Erziehung und väterliche Beratung auf Seiten des Älteren sowie Loyalität und Dienst des Jüngeren aus. Zunächst scheint das zwar auch bei Marke und Tristan der Fall, aber bereits die erste Begegnung zwischen dem Jäger Tristan und dem Herrscher Marke verweist auf die Umkehrung dieses Verhältnisses, die am Hof in Tristans Rat und entschlossenem Handeln sowie seiner Überlegenheit in höfischen Fertigkeiten zum Ausdruck kommt. Die Beziehung zwischen den beiden, die sowohl unter dem Vorzeichen des Avunkulats, mit homoerotischen Untertönen als auch im Sinne des Herrscher-FavoritVerhältnisses gedeutet werden kann, fügt sich zudem in das Spannungsgefüge Tristan-Marjodo-Marke-Melot ein, das sich mit dem Diskurs der falschen Freundschaft am Hof und der Dissimulatio, also mit der klerika-

V Zusammenfassung und Ergebnisse

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len Hofkritik lesen läßt, ohne daß allerdings die Zuordnung der Figuren und der Negativtopoi eindeutig wäre. Vielmehr werden hier Ambivalenzen deutlich, die auch in anderer Hinsicht, etwa für das Minnegeschehen, den Text kennzeichnen. Auch für die weiblichen Nahbeziehungen lassen sich prinzipiell symmetrische und asymmetrische Verhältnisse unterscheiden. Allerdings zeigt sich hierin die Abhängigkeit der Darstellung von der Gattung: Freundschaften, bei denen man in bezug auf den sozialen Status von Symmetrie sprechen kann, finden sich fast ausschließlich in der Heldenepik, beispielsweise in der Kudrun; diese zeichnen sich vor allem durch Gegenseitigkeit und Solidarität aus. Das Nibelungenlied bildet einen Sonderfall, insofern, daß die Interaktion zweier Königinnen – Kriemhild und Brünhild – erzählt wird, die sich zwar sozial-politisch gesehen auf der gleichen Ebene begegnen, anthropologisch betrachtet das Verhältnis aber asymmetrisch konzipiert ist. Freundschaft meint hier kein personales Verhältnis, sondern tritt als Diskurs des formalen Umgangs der Frauen miteinander auf, der vom Diskurs offener Feindschaft und schließlich dem Ende jeglicher Interaktion der beiden Frauen abgelöst wird. Asymmetrische weibliche Bindungen werden dagegen im Antiken-, Artus- und Tristanroman in Gestalt der Herrin-Confidente-Beziehung thematisiert. Das bedeutet – da Beziehungen, die die Merkmale Symmetrie und Gleichheit erfüllen, sich im wesentlichen auf Fälle in der Heldenepik oder auf wenige Episoden im höfischen Roman wie die Begegnung Enites mit der Frau Mabonagrins beschränken – , daß die freundschaftliche Dimension weiblicher Nahverhältnisse hauptsächlich in den Bindungen zwischen Herrin und ihrer Vertrauten, die eine Verwandte sein kann, in Szene gesetzt wird. Bei diesen Verhältnissen zwischen Herrin und Confidente kann man in Analogie zu den männlichen Nahbeziehungen ebenfalls von homosozialen Beziehungen sprechen. Trotz der äußerlichen Hierarchie wird für diese Bindungen der Diskurs von Ähnlichkeit und Reziprozität benutzt: Sowohl Lunete als auch Brangäne werden mit ähnlichen Attributen und Eigenschaften beschrieben wie Laudine und Isolde. Reziprozität allerdings ist vor allem als gegenseitige Abhängigkeit und Kontrolle gestaltet. Die Vertraute ist Beraterin sowohl in Liebesdingen wie in politischen Angelegenheiten, ohne daß sich das eine immer vom anderen trennen ließe, ihre Position kann auch als die des Brokers beschrieben werden. Als Mittlerin von Kommunikationsleistungen und Kontakten besetzt sie eine Schlüsselstelle, eine Position, die sich im günstigsten Fall auch für sie selbst auszahlt, wenn ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sind. Doch das Erzählen vom Funktionieren dieser Bindung im Sinne von Leistung und Nutzen ist nur die eine Seite. Gleichzeitig werden diese Beziehungen

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

problematisiert und in ihrer Krisenhaftigkeit vorgeführt – so wie der Zweikampf konstitutives Element der männlich-symmetrischen Freundschaften ist, der auf ihre Gleichheit verweist, so sind die Krisen und Spannungen bei den Frauen nicht störende Negativseiten, sondern fester Bestandteil dieser ambivalenten Bindungen. Der Unterschied zu den männlichen Nahbeziehungen besteht darin, daß für deren Protagonisten der Kampf in das Wiedererkennen überführt wird, während Lunete und Brangäne aus ihrer durch Laudine und Isolde verursachten Todesgefahr nur von außen gerettet werden können. In diesen überaus dynamischen, situativen Nahbeziehungen, die zwischen Vertrauen, Gefährdung und Stabilisierung changieren, mischen sich affektive, instrumentellmanipulative und politische Momente. Die hier betrachteten cross-sex-Beziehungen – Iwein und Lunete, Tristan und Brangäne – sind ebenfalls asymmetrische Beziehungen, jedenfalls vom sozialen und politischen Standpunkt aus betrachtet. Aber auch hier ist eine Dynamik der Angleichung zu beobachten: Die gegenseitige Hilfe Iweins und Lunetes und Brangänes Hilfe für Tristan und Isolde bringen die Akteure im Binnenverhältnis auf Augenhöhe. Freundschaft wird in diesen Nahverhältnissen als Konzept benutzt, um eine Beziehung zwischen Mann und Frau in einen Diskurszusammenhang zu stellen, der nicht durch die erotische Geschlechterbeziehung gekennzeichnet ist. Der Bindung wird damit ein Konzept gegeben, daß vergessen läßt, daß sich hier Angehörige unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Standes begegnen.

1. Aspekte von Freundschaft: Räumliche Situierung, Vertrauen, Emotionen Ein Punkt, auf den bereits verwiesen und der für die meisten Nahbeziehungen der höfischen Epik relevant ist, ist der der Dynamik und Statik von Beziehungen: Zwischen den Artusrittern ist Freundschaft zunächst ein Zustand, der aber im Handlungsverlauf nach Bestätigung und äußerer Sichtbarkeit verlangt. Was Artus- und Tristanroman anbieten, ist weniger eine Freundschaftserzählung als ein Abschreiten von Stationen, an denen unterschiedliche Seiten und Aspekte der Beziehung zum Vorschein kommen und anthropologische Optionen vorgeführt werden. Im Zweikampf offenbart sich die Performanz der Freundschaft: Er ist sowohl Bewährung in der Krise als auch zugleich Austausch symbolischen Kapitals7 und damit ein Freundschaft stiftendes Moment, der den ritterlichen Habitus 7

Friedrich, Udo: Die ‚symbolische Ordnung’ des Zweikampfes im Mittelalter. S. 128ff.

1. Aspekte von Freundschaft

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stärkt, der wiederum Grundlage der Tugendfreundschaft ist. Der Blick auf Erecs zweiten Kampf mit Guivreiz hat das deutlich gezeigt: Erst dieser erneute Zweikampf erweist sie als vollgültige Gefährten und Freunde. Verwiesen sei hier noch einmal auf die fünf Typen männlichsymmetrischer Freundschaften, die für das untersuchte Textcorpus unterschieden werden können.8 Ein weiterer Aspekt ist der der räumlichen Situierung, der sich bereits teilweise in der Typenbildung widerspiegelt. Die funktionierenden Freundschaften, von denen erzählt wird, spielen sich meistens außerhalb des Hofes ab. Freundespaare sind kaum für längere Zeit gemeinsam am Hof, mit der Ausnahme Tristans und Kaedins. Doch ist diese Beziehung am Hof durch Tristans Betrug an Kaedins Schwester getrübt. Die Kehrseite hingegen fehlt in den Texten nicht: Was mit Freundschaften am Hof passiert, zeigen im Tristan Marjordo und Melot und in gewisser Hinsicht in den Artusromanen Keie. Auch das latente Konkurrenzverhältnis, das unterschwellig die Beziehungen der Artusritter untereinander bestimmt, findet zum einen in Iweins Befürchtung, Gawein könne ihm beim Brunnenabenteuer zuvorkommen, und zum anderen in den Zweikämpfen von Freunden und Verwandten seinen Ausdruck. Als außerliterarische Referenz funktioniert hier die klerikale Hofkritik, etwa eines Walter Maps, der in seinem Werk De nugis curialium von einer funktionierenden und einer scheiternden Freundschaft am Hof erzählt. Der Aspekt der räumlichen Situierung von Nahbeziehungen weist aber noch weitere Facetten auf. Ohne Zweifel kann man im Artus- wie im Tristanroman private und öffentliche Räume unterscheiden. Die Mahnrede Gaweins an seinen Freund ist dann einer eher vertrauten intimen Sphäre zuzuordnen, in der ein persönlicher Rat erteilt wird, der dem Wohl und dem Ansehen des Freundes dienen soll. Der Zweikampf dagegen, zumal der, der als Gerichtskampf ausgetragen wird, gehört in die öffentliche Sphäre. Von einer anderen Seite zeigt sich das Problem öffentlich-privat in der Beziehung Dido-Anna im Eneasroman. Vor ihrem Selbstmord schickt Dido alle Hofdamen weg bis auf Anna, die ihr zunächst behilflich sein soll, dann schickt sie jedoch auch diese fort, um sich fern jeder Öffentlichkeit das Leben zu nehmen, d.h. wir haben es hier mit dem „Motiv einer schrittweisen Reduktion von Öffentlichkeit“9 zu tun, bei der die „Isolation der verlassenen Frau [...] also eine spezielle Form der Nichtöffentlichkeit“10 darstellt.

8 9 10

Vgl. Kapitel IV. Brandt, Rüdiger: Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 15) München 1993, S. 190. Ebd. S. 191.

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

Über die Situation am Hof kommt ein weiteres relevantes Problem der Nahbeziehungen in den Blick, nämlich der Aspekt des Vertrauens. Dieser Punkt wird nahezu ausschließlich in den Verhältnissen der Frauen untereinander sichtbar11 und zwar, indem er problematisiert wird. Mißtrauen ist Isoldes Motiv, Brangäne zu töten, und auffällig ist auch Laudines passive Haltung gegenüber der in Bedrängnis geratenen Lunete. Das Moment des Vertrauens ist gerade in diesen Beziehungen dann auch wieder mit der Frage nach Symmetrie und Asymmetrie verknüpft. Ähnlich schwierig wie der Aspekt des Vertrauens ist die Frage nach Freundschaft und Emotionalität12. Nicht ohne Grund wurde in der Analyse nicht nach den ‚tatsächlichen’ Empfindungen der Freunde bzw. derjenigen, die die Texte als Freunde vorführen, gefragt. Was für andere mittelalterliche Quellen und Texte gilt, ist für die literarischen Werke in gesteigertem Maße der Fall, nämlich daß wir immer nur Zeugen der Ausdrucksseite von Emotionen sind und nur die jeweilige Darstellung von Emotionen auch im Zusammenhang mit Freundschaft oder anderen Nahbeziehungen analysieren können. So wie es auch nicht weiterführend ist zu fragen, ob Guillaume le Maréchal tatsächlich ein guter, enger, vertrauter Freund seiner in der ‚Biographie’ erwähnten Gefährten war, sondern welcher Freundschaftsdiskurs wozu eingesetzt wird und was wir daraus schließen können, so müssen wir auch in bezug auf die Freundschaften der höfischen Epik fragen, die noch viel weniger als vielleicht die Histoire de Guillaume le Maréchal geeignet sind, aus ihnen Rückschlüsse auf die tatsächlichen Praktiken im Umgang mit Nahbeziehungen um 1200 zu ziehen, welche Diskurse zu welchem Zweck genutzt werden. Eine umfassende Analyse der Emotionsdarstellung der Nahbeziehungsakteure konnte hier nicht geleistet werden, es sei daher nur noch auf einige Stichworte verwiesen: Besonders interessant sind in diesem Kontext Begrüßung und Abschied sowie Wiedererkennensszenen. Erwähnt wurden die Inszenierung von Emotionen in der Begrüßung zwischen Gauvain und Lancelot, Iwein und Gawein und der Kleidertausch als Element des Identitätsdiskurses bei Parzival und Gawan.13 Hier werden die affektive Seite der Freundschaft und die enge Verbundenheit der Akteure öffentlich demonstriert. Von Markes Emotionen für Tristan dagegen wird erzählt, um ihn auf diese Weise in ein zwiespältiges Licht zu rücken. In den Verhältnissen zwischen Herrin und Confidente spielen Emotionen oder Repräsentationen von Emotionen ebenfalls eine Rolle, in unterschiedlicher Funktion. Laudine gerät in Zorn über Lunetes Vorschlag, der 11 12 13

Und außerdem im Tristan in der Figur Markes. Schnell, Rüdiger: Historische Emotionsforschung. FMSt 38, 2004, S. 173-276. Althoff, Gerhard: Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters.

1. Aspekte von Freundschaft

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Mörder ihres Mannes wäre ein geeigneter Kandidat für die neu anstehende Gattenwahl. Lunetes Todesangst wiederum steht in seltsamem Gegensatz zu Laudines emotionsloser Passivität angesichts des ihrer Vertrauten drohenden Scheiterhaufens. Dido offenbart Anna ihre Gefühle ebenso wie Fenice gegenüber Thessala. Brengveins Wutausbruch angesichts des scheinbaren erneuten Verrats Isoldes offenbart die angespannte Situation im Verhältnis der beiden unter der scheinbar harmonischen, versöhnten Oberfläche. In Annas Totenklage um Dido ist eine Parallele zu den Totenklagen in den Eneas- und Trojaromanen und der Heldenepik zu sehen: Die Beziehung wird noch einmal aus der Retrospektive beschworen und der Verlust der geliebten Person beklagt. Charakteristisch für diese genannten Beispiele der Emotionsdarstellung und generell für die weiblichen Nahbeziehungen ist das Zwiegespräch, das Sich-der-Anderen-Öffnen und Vertrauen schenken. Das Gespräch über Emotionen, der anderen das Innere zu offenbaren oder auch zu verschließen und damit „the dialectic of expressiveness and protectiveness“14 ist hier zu beobachten. Damit korrespondiert auch die vor allem im Verhältnis Dido-Anna angesprochene Frage nach räumlicher Distanz und Nähe. Läßt sich bei vielen der männlichen Freundschaften entweder ein gemeinsames Auftreten, also ständige räumliche Nähe, oder aber getrennte Wege, die an wichtigen Punkten immer wieder zusammentreffen, also räumliche Distanz konstatieren, so liegen die Dinge bei den Frauen ein wenig anders. Herrin und Vertraute halten sich im gleichen räumlichen Umkreis auf, am Hof, ohne jedoch notwendigerweise immer zusammenzusein. So teilt Brangäne mit Isolde die Kammer, bleibt aber zurück als Tristan und Isolde in die Minnegrotte aufbrechen. Lunete ist für Laudine außerhalb des Hofes in politischen wie persönlichen Missionen unterwegs, Anna wird im entscheidenden Moment von Dido fortgeschickt. Größte Nähe und ebenso die größte denkbare Distanz, wenn Lunete und Brangäne bewußt in Lebensgefahr gebracht werden, korrespondieren dem Wechselgefälle der emotionalen Verhältnisse der Frauen zueinander. Das bedeutet, diese weiblichen Freundschaften werden als sich verändernde Nahbeziehungen vorgeführt, in denen sich die Dynamik von Nähe und Distanz auch im Raum ausdrückt. Nimmt man die Emotionsdarstellung zum Maßstab, erscheinen die Königinnen im Vergleich mit ihren Vertrauten in keinem besonders guten Licht. Anna, Lunete und Brangäne werden wiederholt in ihrer Zuneigung für die Herrin, in ihrer Sorge und ihrer Trauer oder Angst beschrieben. Dido, Isolde und Laudine scheinen dagegen deutlich weniger emotionale Energie auf ihre Begleiterinnen zu konzentrieren oder sich auch nur annähernd genauso für ihr Wohl zu interes14

Rawlins, William: Friendship matters. S. 273.

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

sieren – was aber andererseits auch nicht ihre Aufgabe im literarischen Funktionsgefüge ist.

2. Strukturmodelle von Freundschaft: Similaritäts-/Identitätsprinzip versus Komplementärprinzip Neben Aspekten wie Männlichkeit, Ehre, Zweikampf und Vertrauen, ihrem Verhältnis zu Freundschaft sowie der historischen Einbettung stellt sich an dieser Stelle auch noch einmal die Frage nach Strukturmodellen von Freundschaft, die sich kontextunabhängig in Varianten quer durch die Literatur- und Kulturgeschichte der Freundschaftsdiskurse ziehen und damit auch ein Faktor für die Einordnung der Freundschaftskonstellationen der höfischen epischen Texte sind. Nähert man sich dem Thema Freundschaft und der Diskussion über die Bedingungen ihres Entstehens und Bestehens, so stellt sich die Frage, wer potentieller FreundesKandidat ist, welche Faktoren in der Praxis der interpersonalen Beziehungen die Wahl des Freundes beeinflussen und welche Konzeptualisierung dieses Problem erfährt. Freundschaft kann sowohl im alltagssprachlichen Gebrauch als auch in der historisch-philosophischen Diskussion als eine Gemeinschaft von Menschen begriffen werden, die sich in Charakter, Interessen, Familie und Lebenssituation ähneln oder die sich aufgrund ihrer Unterschiede in diesen Umständen, die als Bereicherung, weil Ergänzung erlebt werden, anziehen. Diese beiden Modelle werden im Folgenden als Similaritäts- bzw. Identitätsprinzip und Komplementärprinzip bezeichnet. Nach dem Similaritäts- oder Identitätsprinzip sind unsere Freunde Menschen, die uns ähneln und mit denen wir daher schnell eine gemeinsame Sprache finden. Nach dem Komplementärprinzip sind Freunde eher die Menschen, die sich deutlich von uns unterscheiden, aber uns aufgrund ihrer entgegengesetzten Eigenschaften ergänzen. Möchten wir also in Freunden vor allem uns selbst wiederfinden, uns spiegeln, oder zieht uns genau das andere an, das, was wir vielleicht bei uns selbst vermissen und deshalb beim Freund so schätzen? Ciceros und Aristoteles’ Freundschaftstheorien propagieren die Gemeinschaft von Gleichen insofern, als wahre Freunde sich in der virtus, in ihrer Tugend gleichen müssen, das christianisierte Freundschaftskonzept fordert Übereinstimmung im Glauben – recta fides. Glaubt man einer aktuellen psychologischen Studie der Universität Leipzig, ist die Lösung dieser alten Frage denkbar banal und erteilt beiden Möglichkeiten eine Absage: Zu Freunden werden diejenigen, „die prakti-

2. Strukturmodelle von Freundschaft

315

scherweise gerade in der Nähe waren, als man sie kennenlernte“15. Räumliche Nähe entscheide darüber, mit wem wir in unserem Umfeld näheren Kontakt aufnehmen. Das setzt allerdings schon voraus, daß wir uns in einem Umfeld bewegen, in dem wir mit Leuten zusammentreffen, die uns von vornherein in Bildung, Einkommen oder Interessen relativ ähnlich sind.16 Im Grunde wird das Problem der Auswahl auch nur verschoben, denn auch in unserem näheren räumlichen Umfeld sind wir nicht automatisch mit jemandem befreundet. Nun kann räumliche Nähe als Zufallsgenerator für Freundschaft keinesfalls auf die höfische Epik und ihre Kontexte übertragen werden, aber es schärft noch einmal die Frage nach der Rolle des Raumes für Nahbeziehungen und führt zu den wesentlichen Strukturen, die konstituierend wirken. Selbstverständlich unterliegt Freundschaft in den höfischen Romanen nicht dem Zufall der räumlichen Nähe, jedoch ist wie schon angesprochen zu beobachten, daß die Verortung im Raum für Freundschaft durchaus eine Rolle spielt. Räumliche Nähe kann dabei sowohl als ein Teilen der gleichen gesellschaftlichen Sphäre, als auch ganz wörtlich als ein Sich-Aufhalten am gleichen Ort, etwa dem Artushof, verstanden werden. Interessanter aber ist die Frage, ob jenseits von räumlicher Nähe nicht doch auch das Similaritäts- bzw. Identitätsprinzip und das Komplementärprinzip eine Rolle spielen. Die Frage nach auf Ähnlichkeit oder auf Ergänzung angelegten Nahbeziehungen stellt sich auch immer für literarische Freundschaftsentwürfe, und die mittelalterliche höfische Epik bildet dabei keine Ausnahme. Wirft man zunächst einen Blick auf literarische Freundschaftsmotive und mögliche Varianten in der textuellen Darstellung von Nahbeziehungskonstellationen außerhalb wie innerhalb des hier untersuchten Textcorpus’, so läßt sich schnell konstatieren, daß sowohl das Similaritäts-/Identitätsprinzip als auch das Komplementärprinzip als konzeptuelle Grundlage verarbeitet sind. Freundschaften vom Athis-Prophilias-Freundschaftstypus, der auf dem Identitätsprinzip beruht, sind Gegenstand des Engelhard Konrads von Würzburg, Freundschaftsbeweise und Austausch der Identität, der aufgrund der Ähnlichkeit funktioniert, finden sich in den Gesta Romanorum, in Walter Maps Geschichte von Sadius und Galo in De nugis curialium, in den zahlreichen Bearbeitungen des Amicus-Amelius-Motivs sowie mit Nisus und Euryalus im französischen wie deutschen Eneasroman. Im Chanson de Roland dagegen findet das Komplementärprinzip in Form des sapientia-etfortitudo-Topos’ Verwendung: Roland ist besonders tapfer, Oliver weise

15 16

Marschall, Joachim: Gelegenheit macht Freunde. In: Die Zeit, Nr. 37, 04.09.2008, S. 38. Ebd.

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

und besonnen.17 Etwas anders gelagert könnte man bei Eneas und Pallas vielleicht auch von einer Komplementärstruktur sprechen – der junge Königssohn, hungrig nach Ruhm und ehrgeizig im Kampf, und der heimatlose, etwas ältere und erfahrenere Trojaner, in dessen Obhut der Jüngere steht. Insgesamt scheint das Identitätsprinzip öfter benutzt, Ähnlichkeit als Hinweis auf Nähe und Vertrautheit favorisiert zu werden, was auch nicht verwunderlich ist, wenn man an die antike alter-ego-Konzeption denkt oder an die Semantik, nach der Freunde einander verbunden sind wie Brüder oder an die Institution der Blutsbrüderschaft. Das Identitätsprinzip ist attraktiv, weil es ein Modell anbietet, das die Egalität und Symmetrie der Freunde in besonderer Weise betont, selbst wenn es eine soziale Hierarchie gibt. Was aber läßt sich in Hinblick auf diese zwei Basisdiskurse zur Gestaltung von Freundschaft in den höfischen Artusromanen sagen? Auffällig ist, daß sich die männlich-symmetrischen Nahbeziehungen keinem der beiden Modelle eindeutig zuordnen lassen. Ist es eher Ähnlichkeit, eher Ergänzung was die Freundschaft von Iwein und Gawein, Lancelot und Gawein oder Erec und Guivreiz bestimmt? Es scheint, als würde diese Opposition als Ordnungskategorie hier nicht greifen. Zwar kann man beispielweise Gauvains und Lancelots Bindung als nach dem Komplementärprinzip gestaltet ansehen, wenn man Gauvain als den Repräsentanten der weltlich-höfischen Sphäre auffaßt, der sich den Konventionen entsprechend verhält, und Lancelot als den hoffnungslos Liebenden,18 der für seine verbotene Leidenschaft Wege geht, die sich für Gauvain ausschließen, etwa die Besteigung des Karren. Oder Iwein, der Frau und Herrschaft erwirbt sowie auf seinen Bewährungsstationen sich für andere statt nur für den eigenen Ruhm einsetzt und damit im Gegensatz steht zu Gawein, der als der ewige Junggeselle das Aventiure-Rittertum verkörpert. Jedoch lassen sich für diese Freundespaare ebenso die Gemeinsamkeiten und ähnliche Facetten aufzählen: Sie sind alle Artusritter und werden entsprechend mit den üblichen Attributen versehen: Sie sind tapfer, geschickt und erfolgreich im Kampf, höfisch im Benehmen, von großer äußerer Schönheit und jung. Sicher könnte man sagen, Freundschaft im Artusroman ist zuerst Freundschaft zwischen Guten und damit zwischen Gleichen, doch das wäre zu einfach und würde den Figuren nicht gerecht. Am ehesten funktioniert die Komplementärstruktur vielleicht bei Gawan und Parzival. Der beste Artusritter, vollendet höfisch und gewandt im 17 18

Vgl. von See, Klaus: Was ist Heldendichtung? In: Ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters. (Skandinavistische Arbeiten, Bd.6) Heidelberg 1981, S. 154-193, S. 187. Deist, Rosemarie: Gender and Power. S. 222.

2. Strukturmodelle von Freundschaft

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Umgang, aufmerksam für die Befindlichkeiten anderer und weitsichtig in seinen Handlungen – wenn man von der Antikonie-Episode und der Werbung um Orgeluse absieht – steht dem weltfernen Tor gegenüber, dem elementare Kenntnisse höfischer Manieren und jegliche sonstige Erfahrenheit und erlernte Fähigkeit fehlen, der dafür aber mit großer Kraft jeden Zweikampf dominiert und schließlich auch Gawan fast in die Knie zwingt. Oder man stellt wiederum höfische aventiure und Gottesminne und damit einen weltlichen und einen religiösen Helden gegenüber. Doch auch hier lassen sich in der Gralsuche, im Erwerb von Frau und Herrschaft wieder ausreichend Gemeinsamkeiten finden. Die horizontalen männlichen Nahbeziehungen könnten auf diese Weise weiter durchdekliniert werden, was aber kaum zu anderen Ergebnissen führen würde. Offenbar lassen sich diese Freundschaften nicht in die beiden gängigen Schemata des Similaritäts-/Identitätsprinzips oder Komplementärprinzips pressen. Sie setzen sich damit deutlich von anderen literarischen Freundschaftsentwürfen der Zeit ab und entwerfen ein eigenes und vielfältiges Bild von Freundschaft, das nicht einem klaren Strukturmuster folgt, so wenig wie es sich an einen einzigen Freundschaftsdiskurs der möglichen Referenzsysteme anbinden läßt. Möglicherweise haben deshalb die Freundschaften der hochmittelalterlichen Romane auch in den Kanon von literarischen Freundschaftsmotiven keinen Eingang gefunden, so wie außerhalb der Mediävistik der philosophischhistorische Freundschaftsdiskurs das 12. Jahrhundert in der Regel ignoriert und von den paganen antiken und vielleicht noch spätantikchristlichen Freundschaftskonzepten in die Renaissance oder gleich zu Michel Montaignes berühmtem Freundschaftsessay springt. Diese höfischen Freundschaften basieren auf einer komplexen Konzeption, die an verschiedenen Diskursen der Kontexte partizipiert, und wenn etwas Spezifisches für die Darstellung von Freundschaft in der höfischen Epik zu konstatieren ist, dann ist es diese Verschränkung der Diskurse. In seiner Studie Male Friendship in Shakespeare and his Contemporaries interpretiert Tom MacFaul den Ausspruch Amiens in As You Like It ‚Most friendship is feigning’ (II, 7 185) dahingehend, daß er ihm neben dem Allgemeinplatz der Shakespeare-Zeit, Freundschaft sei keine vertrauenswürdige Sache, eine weitere Bedeutung abgewinnt. Hinter der Desillusionierung, die Freundschaft als Ideal im Alltag erfährt, könnte die tiefere Erkenntnis stecken, „that friendship is a fictional relationship, artificial rather than natural, despite Humanist attempts to make it into the most natural of human relationships“19. Freundschaft wird gedeutet als Erfin19

MacFaul, Tom: Male Friendship in Shakespeare and his Contemporaries. Cambridge u.a. 2007, S.1.

318

V Zusammenfassung und Ergebnisse

dung und Fiktion, auch im Sinne von Freundschaft als – literarischem – Text. Dahinter steckt nicht zuletzt der Gedanke, daß Freundschaft auch immer das Set von Geschichten einer Zeit ist, die über Freundschaft erzählt werden. Dieser Gedanke kann auch fruchtbar werden, wenn man den Blick auf die parallelen, konkurrierenden oder sich widersprechenden Freundschaftsdiskurse lenkt, die die höfische Literatur in sich vereint, und das Verhältnis dieser sich überlagernden Konzepte näher zu bestimmen versucht. Wie in der Analyse der Beziehung Gawein-Iwein deutlich wurde, kann die Bindung zwischen Gawein und dem Protagonisten des jeweiligen Artusroman mit dem christlichen oder dem antik-paganen Konzept der Tugendfreundschaft gelesen werden. Das funktioniert vor allem auf der deskriptiven Ebene, also durch die Zuschreibungen von Attributen, durch die die Akteure als vorbildliche Freunde imaginiert werden. Zugleich aber greift auf der Handlungsebene ein pragmatischer Diskurs, der Freundschaft als strategische Partnerschaft vorstellt und weniger die affektividealisierte Seite in den Vordergrund rückt als die gegenseitigen Verpflichtungen. Dieser Diskurs kann ersteren durchaus unterlaufen bzw. sorgt für Ambivalenzen und eine ironische Gebrochenheit der Figurenbeziehungen im Text, die oft unaufgelöst bleiben. Man könnte das auch auf die verschiedenen Rezeptionsmöglichkeiten bzw. auf die Publikums- und Autorseite übertragen: Entsprechend der Vorbildung auf beiden Seiten kann die Beziehung wahrgenommen und eingeordnet werden. Natürlich ist es auch möglich, in der Überblendung der Diskurse eine utopische oder ideologische Konzeption zu sehen. Im ersten Fall wird in den idealisierten Freundschaften ein Vor- und Gegenbild zu gesellschaftlichen Realitäten entworfen, im zweiten bekommen die politisch-pragmatisch motivierten Bindungen eine idealisierende Verpackung, die im Dienst einer (ritterlichen) normativen Vorstellung männlicher vertikaler wie horizontaler Beziehungen steht. In jedem Fall aber bleibt die Konzeptualisierung von Freundschaft mehrdeutig: Der Freundschaftsdiskurs hat zwar einen eindeutig wichtigen Platz in der Narration der Texte, neben und mit dem Minnediskurs, aber die Optionen seiner Anbindung an die Kontextdiskurse sind vielfältig und lassen deshalb eine Pluralität von Lesarten der Freundschaftsbeziehungen zu.

3. ‚Höfische‘ Freundschaft

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3. ‚Höfische‘ Freundschaft? Haben wir mit Freundschaft ein „eigenständige[s] Konzept personaler Bindung“20 vor uns, oder werden mit diesem Begriff „bestimmte Aspekte der eigentlich durch Verwandtschaft oder Herrschaft bestimmten Bindungen“21 thematisiert? Diese Frage des Historikers an seine mittelalterlichen Quellen kann, etwas abgeändert, auch auf die literarischen Texte übertragen werden: Welchen Raum nimmt das Erzählen von Freundschaft ein, ist es klar getrennt von anderen Nahbeziehungen oder überschneidet es sich mit diesen, was wird möglicherweise durch die Inanspruchnahme von Freundschaftsdiskursen thematisiert und problematisiert? Die höfische Literatur könnte der Ort sein, an dem insbesondere in den Mann-Mann-Beziehungen Freundschaft als personale affektive, auf Gegenseitigkeit beruhende Bindung narrativ entfaltet wird. Ist in den anderen Textbereichen, die als Kontexte in der Analyse benannt wurden, Freundschaft meist ein Teilaspekt eines übergeordneten Diskurses oder Beziehungssystems – im monastischen Raum ist sie eingebettet in die caritas und das Streben nach dem gottgefälligen Leben, der vita contemplativa, am Hof bezeichnet amicitia als ‚ennobling love’ einen Verhaltenscodex, in politisch-sozialen Bindungen funktioniert amicitia als Teil des Herrschaftsdiskurs, als Formulierung von Klientelbeziehungen – , so lenkt die volkssprachliche höfische Literatur, ähnlich wie die lateinische, das Augenmerk auf die dyadischen Freundschaftspaare entsprechend der literarischen Tradition, vergleichbar dem Erzählen von antiken Freundschaftspaaren. Was läßt sich in bezug auf die Freundschaftsdiskurse über den Funktionsaspekt von Literatur als Diskursraum für etwas, was es so sonst in der Volkssprache nicht gibt, sagen, was leistet Literatur hier? Bieten die literarischen Texte ein Forum für die Diskussion der Diskurse? Welchen Stellenwert hat Freundschaft im Konzert der Diskurse in den Texten, werden andere, grundsätzliche Thematiken über Freundschaft verhandelt? Es präsentieren sich in der höfischen Dichtung diese historisch-anthropologischen Themen in ganz unterschiedlicher, oft geradezu verquerer Zuspitzung, die erst durch einen vergleichenden Blick auf ihre Behandlung in anderen Quellentypen in ihrer jeweiligen Funktionalisierung, ihrer programmatischen Aussagekraft, ja Brisanz erfaßt werden können [...]22

20 21 22

Oschema, Klaus: Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Freundschaft oder „amitié“? S. 7-21, S. 13. Ebd. Peters, Ursula: Mittelalterliche Literatur am Hof und im Kloster. S. 180.

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V Zusammenfassung und Ergebnisse

Könnte man also davon ausgehen, daß ‚höfische’ Freundschaft, ähnlich wie Schnell das für die höfische Liebe vorgeschlagen hat, in den fiktionalen Texten mit einem eigenen Wertesystem auftritt, als spezifischer Diskurs mit eigenen narrativen Gesetzmäßigkeiten, der sich deutlich von den verschiedenen Referenzsystemen abhebt? Freundschaft wird in der höfischen Dichtung als Diskurs eingesetzt, der über andere Bindungsformen hinausreicht und unabhängig von solchen Elementen wie erotischem Begehren, Verwandtschaften oder gegenseitigem konkreten Nutzen ist – , sie kann aber genauso als Diskurs auftreten, der das alles einschließt. Über Freundschaft können andere Themen verhandelt werden, wie Liebe und Ehe, Herrschaftsorganisation oder höfische Interaktion: Im Tristan wird über den Freundschaftsdiskurs mehrfach Herrschaftsorganisation diskutiert, im Iwein stellt Freundschaft die unproblematischere Beziehung im Vergleich zur Minne dar. Eine ‚Leistung’ der höfischen Epik ist möglicherweise die Konzeptualisierung von Nahbeziehungen zwischen Frauen, die in der Tat eine ‚Lücke’ schließt, wenn man auf das spärliche Material der außerliterarischen Referenzen schaut. Allerdings muß hierbei berücksichtigt werden, daß die Freundschaften zwischen Herrin und Vertrauter nicht zuletzt eingebunden sind in die literarische Tradition solcher weiblichen Nahbeziehungen zurück bis zur Figur der Amme oder Kupplerin in der antiken Komödie; ähnliches gilt für das ideale männliche Freundschaftspaar, für das es ebenfalls eine lange (literarische) Tradition gibt. Höfische Epik ist nicht in erster Linie Freundschaftsliteratur, denn Freundschaftskonstellationen sind nicht wie etwa in anderen Texten, zum Beispiel den Ami und Amile-Erzählungen, einziger und zentraler Gegenstand des Erzählens. Und das bedeutet, daß die höfischen Texte auch nicht einem Erzähltyp der literarischen Freundschaftsmotive folgen – der Freundschaftsbeweis, in Form des Frauentausches bzw. der Brautabtretung und das Opfern des eigenen Lebens bzw. das der Kinder für den Freund, spielt zumindest als geläufiges Muster keine Rolle. Freundschaft ist ein Aspekt höfischen Erzählens, eingeordnet in die Thematisierung von Nahbeziehungen unterschiedlichster Art. In der Betrachtung des Iwein wurde deutlich, daß Liebes- und Freundschaftsdiskurs in der Narration miteinander verschränkt werden; der Roman kann daher in dieser Perspektive auch als ein Text gelesen werden, der vorführt, wie Liebe und Freundschaft neben- und miteinander erzählt werden können. Das bedeutet aber nicht, daß der Freundschaftsdiskurs komplementär zum Minnediskurs ist. Auch wenn den Kontextdiskursen der heterosexuellen Beziehung und der Freundschaft zwischen Männern eine gemeinsame Semantik und Ikonographie, eine Sprache und Rituale, die nicht amicitia von amor unterscheidet, eignet, sind diese beiden Nahbeziehungssysteme in den

3. ,Höfische‘ Freundschaft

321

fiktiven Texten auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, wobei das eine Nahverhältnisse durch heteronormative Sexualität, das andere durch Homosozialität charakterisiert ist. ‚Höfische’ Freundschaft, etwa im Sinne Xenia von Ertzdorffs,23 oder eine „höfische Freundschaftsidee“24 als eigener Diskurs, der sich genau beschreiben und charakterisieren und somit von anderen, außerliterarischen Freundschaftsdiskursen um 1200 eindeutig abgrenzen ließe, existiert nicht, oder nur als formale Kategorie, insofern damit Freundschaftsverhältnisse in der höfischen Literatur zu bezeichnen wären. Auch eine Gegenüberstellung höfischer und heldenepischer Freundschaft geht an den Gegebenheiten der Texte vorbei, was nicht heißt, das die Gestaltung von Nahbeziehungen und die Bezüge zu den Kontexten nicht auch gattungsabhängig und gattungsspezifisch wäre. Und es bedeutet auch nicht, daß nicht Besonderheiten und ein je spezifisches Sprechen über Freundschaft den literarischen Texten eigen wären, wie etwa der Freundeskampf oder die Krisenhaftigkeit weiblicher Freundschaft. Entscheidend ist aber die Mehrdeutigkeit des literarischen Freundschaftsdiskurses in der Anbindung an die Kontextdiskurse und das Plädoyer für die Individualität der Texte. Das der antiken Tradition entsprechende Idealmodell der von Gleichheit und gegenseitiger Wertschätzung getragenen Freundschaft wird von den höfischen Texten in Anspruch genommen, aber ebenso problematisiert und mit anderen Modellen, etwa der politisch-pragmatisch motivierten Freundschaft überblendet. Das läßt sich sowohl für die symmetrischen wie für die asymmetrischen Verhältnisse beobachten: Iweins und Gaweins Beziehung wird sowohl unter Rückgriff auf den Diskurs der amicitia perfecta bzw. amicitia spiritualis erzählt als auch im Hinblick auf Freundschaft als Option der Gruppen- und Allianzbildung, als Zweckbindung mit gegenseitigen Verpflichtungen. Oder ein idealisierter Freundschaftsdiskurs, gespeist aus christlich-antiken Vorstellungen, der Cicero-Rezeption und literarischen Motiven wird an bestimmten Stellen eingespielt und verschwindet dann aber auch wieder aus dem narrativen Geschehen, was besonders im Iwein und im Lancelot zu beobachten ist. Insbesondere das männliche Freundschaftspaar speist sich einerseits aus literarischen Motiven und den jeweiligen Stofftraditionen und montiert andererseits zeitgenössische Nahbeziehungsdiskurse. Auch am Beispiel von Gottfrieds Tristan konnten diese Diskursüberlagerungen und damit einhergehenden Mehrdeutigkeiten beispielhaft vorgeführt werden. Tristan und Marke verbindet eine emotional stark aufgeladene personale Bindung, die durch Verwandtschaft fundiert, aber davon 23 24

Ertzdorff, Xenia von: Höfische Freundschaft. S. 36. Krass, Andreas: Geschriebene Kleider. S. 309.

322

V Zusammenfassung und Ergebnisse

nicht abhängig ist und die mit den gängigen Formeln von Liebe und Freundschaft erzählt wird. Zugleich aber ist diese Bindung in den Rahmen des Diskurses von Herrscher und Favorit und damit in den Rahmen von Herrschaftsorganisation gestellt, und die Darstellung ihres Umfelds geprägt durch den Diskurs der klerikalen Hofkritik und dem Verweis auf falsche Freundschaft. Die höfische Epik montiert die unterschiedlichen Freundschaftsdiskurse und spielt mit ihnen; sie benutzt Freundschaft, um daran andere Nahbeziehungen, vor allem Liebe, aber auch Verwandtschaft, zu profilieren und zu problematisieren. Im Gegensatz zu den Texten der Kontextdiskurse geht es um die Performativität von Freundschaft, weniger um ihre Reflexion. Zur Charakteristik der Diskursivierung von Freundschaft in den höfischen literarischen Texten um 1200 eignet sich deshalb am besten das Begriffspaar Ambivalenz und Koexistenz. Abschließend sei noch ein Ausblick für die weitere Analyse von Freundschaft in der höfischen Literatur versucht. Zu vertiefen wären die hier angesprochenen Fragen nach der Stellung des Freundschaftsdiskurses in den höfischen Texten, nach Leistung und Funktion der Literatur für das Thema. Weiterhin wären die Sedimentschichten der einzelnen Freundschaftskonstellationen, beispielsweise im Nibelungenlied, zu untersuchen: Welche Diskurse und Konfigurationen werden mit dem Stoff tradiert, wo kommen die Bezüge her? Als ein weiterer Kontext ist die lateinische Literatur – Ruodlieb, Waltharius, Ecbasis captivi – von Interesse; aus kulturanthropologischer Perspektive könnte der Diskursivierung von Emotionen in den Freundschaftsbeziehungen weiter nachgegangen werden. Und schließlich wäre eine Fortführung der Analyse für das 13. Jahrhundert wünschenswert, bei der es u.a. darum ginge, Veränderungen in den Freundschaftskonstellationen/-funktionen und ihrer Figurenzeichnung, ein lohnendes Objekt ist zweifellos die Gawein-Figur, nachzuspüren.

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