Nahbeziehungen zwischen Freundschaft und Patronage: Zur Politik und Typologie affektiver Vergemeinschaftung [1 ed.] 9783737006156, 9783847106159


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German Pages [264] Year 2017

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Nahbeziehungen zwischen Freundschaft und Patronage: Zur Politik und Typologie affektiver Vergemeinschaftung [1 ed.]
 9783737006156, 9783847106159

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Freunde – Gönner – Getreue Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage

Band 12

Herausgegeben von Ronald G. Asch, Sabine Dabringhaus, Hans-Helmuth Gander und Dietmar Neutatz

Christian Müller / Silke Edinger / Cristian Alvarado Leyton (Hg.)

Nahbeziehungen zwischen Freundschaft und Patronage Zur Politik und Typologie affektiver Vergemeinschaftung

Mit 3 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5464 ISBN 978-3-7370-0615-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt

Silke Edinger, Christian Müller Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Sektion 1: Typologien sozialer Nahbeziehungen Silke Edinger August von Sachsen und die Nahbeziehung zu seinen Räten vor 1563

. .

17

Laura Ritter Das Netzwerk des Generalmajors Aleksej von Lampe in der russischen Emigrantenkolonie im Berlin der frühen 1920er Jahre . . . . . . . . . . .

37

Andr8 Reichert Freunde im Denken. Elemente zu einer Theorie der Personifikationen in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Iannis Carras Rethinking brotherhood. Merchants and monks in 18th century Ukraine

77

Sektion 2: Affektive Gemeinschaften Christian Kühner Freunde, Schmeichler und Verräter. Freundschaft im Spiegel der europäischen Hofmannstraktatistik der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . .

89

Sara Frenzen Affekte, Erinnerungen und Konturierungen – Das „Glühen“ der „trügerischen Gegenwart“ im „Mit-ein-ander-sein“ . . . . . . . . . . . . 109

6

Inhalt

Christian Müller „Mit manchen passiert es und mit manchen eben nicht“. Jazzimprovisation und affektive Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . 131 Mark Greengrass The Face of Friendship: The Ethics and Politics of Physiognomy in Renaissance Europe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ingo Rohrer Eine ethnologische Sichtweise auf Physiognomik – Kommentar

. . . . . 169

Sektion 3: Politiken der Gemeinschaft Nicola Tams Gespensterbriefe. Freundschaft zwischen Nähe, Distanz und Abwesenheit am Gegenstand einiger Briefe Derridas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Cristian Alvarado Leyton Leidensgemeinschaften und ,fiktive‘ Verwandtschaft als strategischer Essentialismus – die Abuelas de Plaza de Mayo . . . . . . . . . . . . . . . 197 Ringo Rösener Zur Aktualität des Vermögens zur Freundschaft – Dresdens PEGIDA, Clint Eastwoods Gran Torino und Hannah Arendts Gedanken zu Lessing

219

Heidrun Friese Gast/freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Silke Edinger, Christian Müller

Einleitung

Schon Aristoteles hat mit seiner Nikomachischen Ethik, in der er Freundschaft normativ als eine der für alle Menschen wichtigsten Tugenden beschreibt, den Grund für das abendländische Nachdenken über Freundschaft gelegt. Bis zum Einsetzen der Moderne dominierten scheinbar stabile, eigentlich ahistorischanthropologische Konstanten das Konzept von Freundschaft, die mittels psychologischer und typologischer Kriterien generalisierend auf die soziale Praxis bezogen wurden.1 Erst mit der Renaissance setzte die Berücksichtigung historischer, klassenbedingter, ideologischer und mentalitätsgeschichtlicher Faktoren im Nachdenken über Freundschaft als Nahbeziehung ein, zerbrach auch kategorisch die universelle Fassung von Freundschaft – ,Brechungen‘, die seither mitzudenken sind.2 So steht heute weiterhin die Frage nach den mit Beziehungen verbundenen Interessen in einem Spannungsfeld mit der Beschreibung von Freundschaft als zweckfreier Beziehung, die frei von jeglicher Kultivierung gegenseitiger Vorteile der Freunde und Freundinnen sei. Kann also Freundschaft ,nur‘ Freundschaft sein? Oder wann wird sie zur ,Patronage‘, also zu einer zwar persönlichen, aber asymmetrischen Nahbeziehung? Wie genau verhalten sich diese beiden Beziehungstypen zueinander? Und: Nimmt die Rede von Interessen nicht nur einen, wenn auch wichtigen Bestandteil von Nahbeziehungen in den Blick, ihre instrumentelle Seite? Wie verhält es sich mit Affekten als einem ebenso zentralen Bestandteil jedweder Beziehung, sei es auch in deren Negation, wie sie etwa für die vermeintlich affektfreien Bürokratien der Moderne charakteristisch ist? Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband nähert sich diesen bis heute zentralen Forschungsfragen im Hinblick auf Semantik und Praxis von Nahbeziehungen zwischen Freundschaft und Patronage in ihren kulturellen Zusammenhängen an. Affekte, Symbole, Rituale, Interaktionsformen und Selbstbeschreibungen von AkteurInnen in Nahbeziehungen werden untersucht, um drei 1 Hermand 2006: 1. 2 Hermand 2006: 1f.

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Silke Edinger, Christian Müller

auf die Affektivität von Nahbeziehungen bezogene Fragen zu reflektieren: Was machen wir eigentlich, wenn wir Typen oder gar Typologien sozialer Beziehungen konstruieren? Welche Bedeutung haben Affekte als gemeinschaftsformende Elemente? Welche Praktiken und Semantiken bringen bestimmte ,Politiken der Gemeinschaft‘ hervor? Der Band fasst die Ergebnisse der Abschlusskonferenz des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Freiburg geförderten Graduiertenkollegs „Freunde, Gönner, Getreue“ zusammen, die im Frühjahr 2015 stattfand. Seit 2006 hatte sich das Graduiertenkolleg der im Untertitel des Kollegs formulierten Aufgabe gewidmet, die „Praxis und Semantik von Freundschaft und Patronage in historischer, anthropologischer und kulturvergleichender Perspektive“ zu untersuchen. In zwei Förderphasen wurden dabei die Forschungsvorhaben von 44 DoktorandInnen und 9 Postdocs unterstützt. Zu den beteiligten Disziplinen gehörten Geschichte (alte, mittlere, neuere und neueste, ost- und außereuropäische), Philosophie, Politikwissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Literaturwissenschaft. Der vorliegende Sammelband ist das Produkt von Mitgliedern der dritten und letzten Kohorte des Kollegs, von DoktorandInnen, Postdocs, Fellows und GastwissenschaftlerInnen,3 und orientiert sich an der Gliederung der Abschlusstagung mit drei Sektionen:

Sektion 1: Typologien sozialer Nahbeziehungen Ein wichtiger Aspekt der Untersuchungen des Graduiertenkollegs stellt die Auseinandersetzung mit den Typologien sozialer Nahbeziehungen dar. Damit stand auch die Frage nach deren Zweck und Nutzen zur Debatte, gerade angesichts einer uns einenden Absage an die Erstellung überhistorischer oder kontextunabhängiger Idealtypen. Typologien dienen dazu, soziale Beziehungen vergleichbar zu machen. Dabei können in der Forschung übliche Parameter herangezogen werden, um eine Vergleichbarkeit möglich zu machen. Wie zentral ist etwa eine Person, wie gestaltet sich die Abhängigkeit zwischen Klient und Patron, wo stehen die Akteure und AkteurInnen im sozialen Netzwerk? Wie kommt das Machtinstrument ,Autorität‘ zur Geltung, an welchen Ritualen orientiert man sich, welche Traditionen werden gelebt oder bewusst außer Acht gelassen? Bilden Freunde und Gönner lediglich einen graduellen Unterschied innerhalb der Klasse der Nahbeziehungen? Wodurch ist eine Nahbeziehung überhaupt bestimmt? Handelt es sich um eine affektive Art der Beziehung oder gar um einen erst entstehenden Affekt, durch den sich die Beteiligten während 3 Für kollektive Arbeiten der ersten beiden Kohorten s. Descharmes et al. 2011 und Feikert et al. 2014.

Einleitung

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der Beziehung verändern? Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern sich der Begriff der Beziehung wandelt, wenn man ihn auf Gruppen anwendet. Ziel dieser Sektion ist es, Typen und Typologien sozialer Beziehungen zu präsentieren und ihr analytisches Potential zu diskutieren. So zeigt Silke Edinger in ihrem Aufsatz auf, wie wichtig es in der Regierung unter August von Sachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war, dass Kurfürst und Rat eine enge Nahbeziehung pflegten. Sie geht der Frage nach, wie zentral Vertrauen zwischen Herren und Diener für die frühneuzeitliche Regierung war. Laura Ritter unterscheidet in ihrem Beitrag über Aleksej von Lampe, einem Emigranten zur Zeit der russischen Revolution und führenden Militärvertreter im sogenannten ,russischen Berlin‘ der 1920er und 1930er Jahre, verschiedene Typen von Beziehungen. Dabei geben Lampes Tagebücher, die er zwischen 1913 und 1965 geführt hat, Auskunft über politische Ereignisse und Strukturen im Milieu der russische Emigranten in Berlin – und eignen sich als Quelle für die Herausarbeitung einer personenzentrierten Typologie, um die persönlich wahrgenommenen Differenzen von Nahbeziehungen nachzuzeichnen. Andr8 Reichert unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, den Freund als wichtige Denkfigur in der Philosophie aufzuzeigen und in seiner erkenntnistheoretisch produktiven Funktion zu beschreiben. Der ,Freund‘ wird dadurch auch als Begriffsperson und Fürsprecher sichtbar. Reichert entwickelt den Freund über eine einfache Dialogfigur hinaus zu einer Begriffsperson, die dazu beitragen kann, immanente utopische Potenziale im philosophischen Denken zu entfalten. Iannis Carras diskutiert anschließend anhand seiner Forschung über eine Bruderschaft in der Ukraine im 18. Jahrhundert die These von Jean-Luc Nancy, eine Gemeinschaft könne durch den Bezug zum Tod definiert und gleichzeitig zerrissen werden. Dabei zeigt Carras gleichzeitig ein Desiderat geschichtlicher Forschung auf: das Zusammengehen von Freundschaft und Wahlverwandtschaft, nämlich Bruderschaften. Gerade in Klöstern und anderen religiösen Gemeinschaften kann die historische Freundschafts- und Patronageforschung wichtige Erkenntnisse gewinnen.

Sektion 2: Affektive Gemeinschaften Der Titel der Sektion verweist auf die These, dass Praktiken der Vergemeinschaftung in einem engen Zusammenhang mit Affekten stehen. Deren Erscheinungsform ist demnach durch das affektive Erleben der Beteiligten bedingt. Mit einem solchen spezifischen Blick geht nicht zuletzt auch ein Fokus auf deren Prozesshaftigkeit und Temporalität einher. Tradierte Konzepte von Gemein-

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Silke Edinger, Christian Müller

schaft implizieren zumeist Annahmen einer homogenen und zeitlich überdauernden Zusammengehörigkeit der beteiligten Personen. In neueren Theorieund Forschungsansätzen wird stattdessen gerade die Heterogenität von Gemeinschaft/en betont und werden essentialistische Konzepte entsprechend in Frage gestellt. Gemeinschaften sind demnach als fluide Gebilde zu verstehen, die sich im steten Wandel befinden und zu jedem Zeitpunkt als kontingent beschaffen und unterschiedlich affiziert gedacht werden können. Sie sind somit vor allem in ihrem prozesshaften Charakter zu analysieren, also als in sozialen und kulturellen Praktiken ,hergestellte‘ Vergemeinschaftungen. In dieser Hinsicht befassen sich die Beiträge der Sektion mit Fragen wie: Welche historischen Entwicklungen der Bedeutsamkeit und Bewertung von Affekten lassen sich im Hinblick auf zeitlich und kulturell unterschiedliche Gemeinschaften feststellen? Gibt es Techniken und Strategien der Erzeugung und Regelung von Affekten im Zusammenhang mit politischen und machtspezifischen Praktiken? Wie entstehen Affekte in konkreten sozialen Interaktionen und welchen Einfluss haben sie auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung? Und schließlich: Welche Konsequenzen ergeben sich für einen um affektive Aspekte erweiterten Gemeinschaftsbegriff ? Christian Kühner untersucht in seinem Beitrag Hofmannstraktate des italienischen 16. und des französischen 17. Jahrhunderts, in denen es in erster Linie darum geht, wie ein Höfling am Hof reüssieren kann. Dabei spielt neben dem eigenen Verhalten auch die Auswahl der Freunde eine wichtige Rolle, die daher sorgfältig vorgenommen werden will, um sich vor Verrat und Täuschung zu schützen. Gleichzeitig reflektieren die Autoren dieser Werke philosophisch über das Thema Freundschaft, was die eingangs erwähnten, in der Renaissance einsetzenden Brechungen des Konzeptes von Freundschaft aufzeigt. Sara Frenzen berichtet über ihre in der kosovarischen Stadt Prizren durchgeführte Feldforschung, in der sie die Gruppendynamiken einer Stelzentheatergruppe beobachtete. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach den Möglichkeiten der Minimierung und Überwindung kultureller Konflikte zwischen Mitgliedern ehemals verfeindeter ethnischer Gruppen. Inspiriert durch die Anwendung poststrukturalistischer Theorieansätze wird der Vorschlag einer eigenständigen Perspektive auf die beteiligten Akteure und Akteurinnen erarbeitet, die starre Identitätskonstruktionen und rigide Freund-Feind-Dichotomien zu überwinden sucht. Christian Müller wirft in seinem Beitrag einen mikroanalytischen Blick auf situativ vergemeinschaftende Affekte in der Interaktionsdynamik improvisierender Jazzbands. Von besonderem Interesse sind dabei überraschende Momente, in denen die Musiker ihre eigene Vergemeinschaftung als plötzliches Ereignis erleben. Die Dynamik improvisierter Handlungskoordination zeigt sich somit in der affektiven Charakteristik der daraus emergierenden Sozialität.

Einleitung

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Mark Greengrass zeigt in seinem Artikel, wie sich im 17. Jahrhundert die Bentvueghels, ein deutsch-holländisch-flämisch-französisches Künstlerkollektiv, im fernen Rom gegen ihre Feinde zusammenschlossen. Von den 28 Gründungsmitgliedern sind bis heute Bilder erhalten. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf die damals übliche Praxis, aus der Physiognomie der Mitglieder Rückschlüsse auf ihre Charaktereigenschaften zu ziehen, die die mentalitätsgeschichtliche Präferenz für das Ahistorische anzeigt. Ingo Rohrer weist in seinem Kommentar zum Beitrag Greengrass’ auf das Potential einer ethnologischen Perspektive auf die Physiognomie hin, die im Westen von der anthropologischen Lehre eines ahistorischen menschlichen Charakters informiert wird. Er zeigt, dass es sich dabei um ein weiterhin wirkmächtiges und problematisches Konzept handelt.

Sektion 3: Politiken der Gemeinschaft Die dritte Sektion befasst sich mit der Frage, welche Praktiken und Semantiken als ,Politiken der Gemeinschaft‘ gefasst und analysiert werden können. So wie ,Politik‘ Herrschaft, Machtkampf, aber auch Freiheit, diplomatisches Gespräch oder utopische Kritik bedeuten kann, so kann ,Gemeinschaft‘ eine Weltgemeinschaft, eine Netzgemeinschaft oder auch partikulare personale Beziehungen meinen, die Gemeinschaft durch die Negation der ,eigentlichen‘ Gemeinschaft stiften. Alle Formen von Gemeinschaft werfen immer auch Fragen nach der Möglichkeit ihrer nicht-normativen Analyse auf: Welche Politiken und Normen gehen unterschiedlichen Auffassungen von Gemeinschaft voraus? Was sagen die Alltagspraktiken, die künstlerische und aktivistische Praxis über Gemeinschaften aus und wie verhalten sie sich zur Norm? Welche politischen Implikationen birgt ein Sprechen von und über ,Gemeinschaft‘? Wie können wir mit Semantiken und Praktiken von Gemeinschaft umgehen, die spezifische, nicht zuletzt auch repressive politische Interessen verfolgen? Diesen Spannungen von Mikro- und Makroebenen, Analysen und Normen, Beziehungen und Verhältnissen, von Politik und Gemeinschaft widmen sich die Beiträge der Sektion aus verschiedenen Perspektiven. Nicola Tams’ Anliegen ist es, Derridas Verständnis von ,Freundschaft‘ mit seinem Verständnis eines Briefwechsels zu vergleichen, bei dem Postkarten an das unbekannte Andere gesendet werden. So zeigt sie, wie bei Derrida Freundschaft in Zusammenhang mit dem Schriftlichen des Briefwechsels gebracht werden kann. Cristian Alvarado Leyton möchte in seinem Beitrag über die Abuelas de Plaza de Mayo aufzeigen, wie geteiltes Leid als soziales Phänomen Menschen dazu bewegen kann, verwandtschaftssprachlich gestaltete Beziehungen einzugehen.

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Silke Edinger, Christian Müller

Diese Beziehungen – so die These mit kulturvergleichendem Verweis auf „shipmates“, ehemalige SklavInnen – generieren Handlungsmacht in repressiven Gesellschaftskontexten. Ringo Rösener nähert sich der PEGIDA-Bewegung, die im Winter 2014/15 entstanden ist, aus philosophischer Sicht. Dazu bedient er sich Hannah Arendts politischer Philosophie und eines Filmes von Clint Eastwood, um aufzuzeigen, dass Befreundetsein-Können ein unersetzliches politisches Vermögen darstellt. Heidrun Friese geht schließlich der wieder hochaktuellen Frage nach, wie Gastfreundschaft als Konzept gegen Nationalismus, populistische Bewegungen, Ressentiments und Feindseligkeit, gegen Alltagsrassismus und Xenophobie eingesetzt werden kann und wie wir diese als Ethik und Ethos leben können. In der Zusammenschau hebt der Sammelband die analytische Bedeutung von Affekten gegenüber anderen hervor, bestimmen sie doch nicht nur die Erfahrung von Beziehungen und Welt, sondern auch unsere wissenschaftlichen Versuche, über Zeiten und Weltregionen hinweg Beziehungstypen zu unterscheiden und Motive für gemeinschaftliches Handeln auszumachen. Insofern zeigt der Sammelband, dass das Nachdenken über Freundschaft, Patronage und Nahbeziehungen künftig womöglich eine zweite ,Brechung‘ benötigt, nunmehr auf der Subjektseite. Neben der Objektseite der Realität, den sozialen Prozessen und individuellen Handlungen, ist das soziale und kulturelle Verortetsein der Forscher und Forscherinnen relevant und gilt der Schlusssatz aus dem vorhergehenden Sammelband – „We shape the communities we inhabit, but we are also shaped by them: no man or woman is an island.“4 – auch für die forschenden Subjekte selbst.

Danksagungen Wir möchten uns bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die ideelle und finanzielle Unterstützung des Graduiertenkollegs herzlich bedanken. Auch möchten wir uns bei den beiden Sprechern des Kollegs, Ronald Asch und Dietmar Neutatz, bedanken sowie bei allen weiteren beteiligten Professorinnen und Professoren. Für die interne Koordination, Organisation und Unterstützung danken wir Michael Strauß, Thomas Wittkamp, Kristina Offterdinger, Aleksandra Pojda de P8rez und Alexandra Boguth. Besonderer Dank gebührt Andreas Haller für die ungemein engagierte Organisation der Abschlusstagung und Julia Wilm für die engagierte redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung des vorliegenden Sammelbandes. Wir danken allen BeiträgerInnen, TeilnehmerInnen und Gästen der Abschlusskonferenz. Gleiches gilt für alle beteiligten Post4 Adams et al. 2014: 24.

Einleitung

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docs und Fellows, deren Rat, Kritik und Unterstützung von unschätzbarem Wert für die Entstehung der Dissertationsarbeiten waren. Nicht zuletzt haben wir uns über die gute Zusammenarbeit mit Marie-Carolin Vondracek und Johanna-Thea Mohrmann von V& R unipress gefreut und möchten uns auch dafür herzlich bedanken.

Literatur Adams, Sharon/Sabrina Feickert/Anna Haut/Kathrin Sharaf (2014): Binding and Breaking. Mapping the Tissues of Communities. In: Sabrina Feickert et al. (Hg.): Faces of Communities. Social Ties between Trust, Loyalty and Conflict, Göttingen: V& R unipress, 9–25. Aristoteles (1983): Nikomachische Ethik, Stuttgart: Reclam. Descharmes, Bernadette/Eric Anton Heuser/Caroline Krüger/Thomas Loy (Hg.) (2011): Varieties of friendship. Interdisciplinary perspectives on social relationships, Göttingen: V& R unipress. Feickert, Sabrina/Anna Haut/Kathrin Sharaf (Hg.) (2014): Faces of Communities. Social Ties between Trust, Loyalty and Conflict, Göttingen: V& R unipress. Hermand, Jost (2006): Freundschaft. Zur Geschichte einer sozialen Bindung, Köln: Böhlau.

Sektion 1: Typologien sozialer Nahbeziehungen

Silke Edinger

August von Sachsen und die Nahbeziehung zu seinen Räten vor 1563

Dieser Aufsatz untersucht anhand exemplarischer Fälle die Zusammenarbeit des Kurfürsten August von Sachsen (1526–1586, Regierungsübernahme ab 1553) mit seinen Räten. Diese mikrohistorische Fallstudie soll in dichter Beschreibung Erkenntnisse darüber liefern, welche Bedeutung Vertrauen in einer frühneuzeitlichen Regierung hatte. Bisher ist in der Forschung ein Bild Augusts tradiert worden, er sei stets misstrauisch gewesen, ohne das anhand von Fallstudien belegen zu können. Und auch die Aussagen der allgemeinen Historiographie zur Kategorie Vertrauen in der Vormoderne sollen anhand dieser Ergebnisse überprüft werden. Die Zeit nach dem epochemachenden Jahr von 1555 im Heiligen Römischen Reich ist bisher seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorwiegend strukturell untersucht worden – unter dem Blickwinkel des Fundamentalprozesses der Konfessionalisierung mit den Stoßrichtungen ,Herausbildung des frühmodernen Staates‘ und ,Formierung einer disziplinierten Untertanengesellschaft‘.1 Nur wenige Studien haben bisher die politische Mikrogeschichte dieser Zeit untersucht.2 Aber gerade eine solche mikrogeschichtliche Betrachtung bringt die Chance mit sich, zu be- oder widerlegen, was die strukturellen Untersuchungen maßgeblich vorgeben. Forschungen, die die vorgegebenen Parameter berücksichtigen, die eine Patronagebeziehung definieren, aber das Individuelle des Raumes und der Zeit und nicht zuletzt der Akteure, der Figuren, nicht zu übersehen, sind deshalb für den historischen Erkenntnisgewinn äußerst geeignet. Dabei ist es dann wichtig, eben nicht nur an die Quellenarbeit heranzutreten mit dem Auge für das, was dort sicherlich zu finden ist, nämlich eine (affektfreie) asymmetrische Beziehung zwischen Patron und Klient, die dem Austausch von Schutz und Gegenleistung dient und deren Struktur durch die Verteilung von Potential, Macht und Einflussmöglichkeiten wesentlich vorge-

1 Klueting 2013: passim; Reinhard 1997. 2 Reinhard 2005: 136–144.

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Silke Edinger

geben ist.3 Denn gerade die vielfältige Überlagerung persönlicher und struktureller Machtverhältnisse in auf Dauer angelegten personalen Netzwerken wie einer frühneuzeitlichen territorialen Regierung kann Aufschluss über das Funktionieren und die Problematik von derartiger (Mikro-)Politik in der Vormoderne geben. Und das eben nicht nur strukturell sondern auch am einzelnen Beispiel belegbar. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen neben August selbst zwei seiner Räte – Hans von Ponickau und Ulrich Mordeisen, die im Wesentlichen die Zügel der Regierung in ihren Händen hielten.4 Dass zwischen den Räten und August eine Patronagebeziehung bestand kann man aus dem Umstand ableiten, dass die beiden in der jahrelangen Zusammenarbeit durchaus ein beträchtliches Vermögen mit der Duldung Augusts anhäufen konnten. Im Gegenzug leiteten die beiden die Regierungsgeschäfte zuverlässig und im Sinne des Kurfürstentums, wie gleich zu zeigen sein wird. Zunächst sollen die außen- und innenpolitischen Gegebenheiten und besonderen Modalitäten in Kursachsen beleuchtet werden, unter denen August seine Politik zu verrichten hatte. Das albertinische Sachsen hatte 1547 die Kurfürstenwürde erlangt, resultierend aus dem Sieg bei Mühlberg, als Moritz von Sachsen an der Seite des Kaisers den eigenen, protestantischen Glaubensgenossen eine vernichtende Niederlage zugefügt hatte.5 Moritz selbst hatte in den Jahren danach gegen seinen einstigen Verbündeten, Karl V., die Fürstenverschwörung angezettelt, die im Endergebnis eine empfindliche Niederlage für den Kaiser bedeutete – und auch den Anfang von dessen Ende als zeitgenössisch mächtigster Herrscher der Welt einleitete. Infolge dieser Ereignisse kam es zum Passauer Vertrag von 1552, in dem ein unbefristeter Religionsfrieden für die protestantischen Stände im Reich vereinbart wurde. Die Verhandlungen in Passau führte der Bruder und designierte Nachfolger Karls V., Ferdinand. Dieser hatte, im Gegensatz zu seinem Bruder, ein politisches Verständnis dafür, dass nur durch eine rechtliche Verankerung einer zweiten Religion das Reich befriedet und die Protestanten saturiert werden könnten. Das ändert nichts an Ferdinands persönlicher fester Verhaftung in der altgläubigen Religion. Im Wesentlichen hat der Passauer Vertrag, zumindest was die Einigung in der Religionsfrage betraf, den Augsburger Religionsfrieden vorweggenommen. Der Protestantismus war ab 1555 die zweite, anerkannte Religion im Reich, wenn auch der Vertrag eine katholische Schlagseite hatte.6 Kurz vor Unterzeichnung dieses Vertrags trat Karl V. als Kaiser zurück und 3 4 5 6

Pflücke 1972. Siehe auch Weber PazmiÇo 1991. Schirmer 2006: 597. Held 1997. Gotthard 2004: 483.

August von Sachsen und die Nahbeziehung zu seinen Räten vor 1563

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übergab seinem Bruder alle Regierungsgeschäfte – eine endgültige Spaltung der Religion konnte und wollte der Kaiser mit seinem Gewissen nicht vereinbaren.7 Diesen Erfolg für die Neugläubigen hat Moritz von Sachsen nicht mehr erlebt. Er war bei der Schlacht von Sievershausen 1553 tödlich verwundet worden und so musste sein jüngerer Bruder August – für ihn sehr plötzlich – die Amtsgeschäfte übernehmen. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass August in seiner bisherigen Erziehung nicht darauf vorbereitet worden war, eine Regierung einmal selbstständig zu führen – und dass sein Bruder mit Sicherheit als ein Ausnahmepolitiker bezeichnet werden kann. Denn nie zuvor oder danach hat es im Reich eine Translation der Kurfürstenwürde gegeben, dass nämlich Moritz mit seiner albertinischen Seitenlinie der Wettiner die bisher als Kurfürsten regierenden Ernestiner aus dieser herausgehobenen Position verdrängte. Moritz hatte die Umstände der Zeit zu nutzen gewusst und diesen Erfolg für sein albertinisches Geschlecht zum Tragen gebracht. Moritz war ein kühl kalkulierender Politiker, dessen Vabanquespiel um die Macht auch hätte scheitern können. Festzuhalten bleibt, dass Moritz bei seinem Tod August zum einen ein innenpolitisch gefestigtes und durch seinen Reichtum wirkmächtiges Territorium hinterließ, das finanziell (von den Kriegskosten einmal abgesehen) auf (einigermaßen) festen Fu¨ ßen stand. Jedoch – und das ist ein wichtiger Faktor – war es den Zeitgenossen durchaus nicht klar, ob die Kurfürstenwürde dauerhaft bei den Albertinern würde bleiben können. Eine Rückführung an die Ernestiner war zu jedem Zeitpunkt denkbar,8 und das hat sicherlich auch Einfluss auf manch politische Entscheidung genommen – so meine These. Schon zu der Regierungszeit Moritz von Sachsens war der Kreis seiner Räte relativ klein und übersichtlich.9 Das lässt sich an dem Verzeichnis des ausgezahlten Rätegeldes nachweisen. Die Zahl belief sich auf acht Personen, darunter Georg von Carlowitz und Ulrich Mordeisen, die auch unter August in kursächsischen Diensten standen. Ausgesucht wurden die Räte nach dem Kriterium der Sachkenntnis, der Zuverlässigkeit und des Leumunds – was sie einte, war der neue (evangelische) Glaube.10 Auch ihr regionales Herkommen gibt einigen Aufschluss, waren die albertinischen Räte doch meist um Dresden herum begütert.11 Ihrem Dienst gingen sie im Hoflager nach, sie hatten ein Zimmer im 7 8 9 10

Becker 2003: 190 und Rabe 1971. Schirmer 2006: 546. Schirmer 2006: 533. Die engsten Räte bildeten deshalb aber keinen homogenen oder monolithischen Block, das gilt auch für das neue Bekenntnis. Überdies bleiben mit Georg von Karlowitz und Simon Pistoris zwei Räte altgläubig – obwohl diese 1542 ,sub utraque‘ kommuniziert sein sollen. Dies stellte aber sicherlich mehr einen Kompromiss als ein wirkliches Bekenntnis zum Protestantismus dar, siehe Wartenberg 1988: 81, 88 und Schirmer 2006: 533. 11 Ponickau war beispielsweise auf Pomßen begütert, Mordeisen saß in Waltersdorff.

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Silke Edinger

Dresdener Schloss, nahmen ihre Mahlzeiten mit dem Kurfürsten ein und verrichteten ihren Dienst in der Ratsstube – es waren nicht immer alle Räte im Dresdener Schloss vor Ort, die Kanzleiordnung besagte aber, dass mindestens drei immer anwesend sein sollten.12 Im August 1547, also kurz nach der Übereignung der Kurfürstenwürde, erließ Moritz eine neue Kanzleiordnung, die sich auf die (im Vergleich zu anderen Territorien zeitgenössisch bereits rückständige) ernestinische Hofrats- und Kanzleiordnung stützte.13 Im Kern verwirklichte die neue Verordnung von Moritz das Kollegialitätsprinzip.14 Das Kollegialitätsprinzip besagt, dass es eine Anzahl von Mandatsträgern gibt, die gleichberechtigt fungieren und die gefasste Entschlüsse mit einer Stimme nach außen vertreten können. Vorher, unter Georg dem Bärtigen, hatte das Individualprinzip geherrscht, das die Macht im Wesentlichen beim Fürsten und dem Einfluss zweier seiner Räte belassen hatte.15 Die Einführung des Kollegialitätsprinzips bedeutete einen Modernisierungsschub für die kursächsische Regierung.16 Die Instruktionen Moritz’ für die daheim gelassenen Räte illustrieren, dass der Hofrat durchaus als vom Fürsten unabhängiges Organ arbeitsfähig war. Sie untergliederten das albertinische Sachsen in fünf Kreise, die die Zugehörigkeit der Ämter zu den einzelnen Kreisen bestimmte – die Unterteilung diente der Arbeitsteilung. Briefe wurden also nach regionaler Herkunft bearbeitet. Eine Unterteilung in Ressorts wie Militär, Finanzen, Religion oder Universitäten gab es nicht – und trotzdem war diese Kanzleiordnung eine Verbesserung zu den bestehenden Verhältnissen, wenn auch kein großer Wurf. Für die Herrschaftsverwirklichung waren die Instruktionen Moritz’ wichtiger und bedeutsamer als die Kanzleiordnung, weil sie die Details der einzelnen Zuständigkeiten regelten und konkrete Arbeitsanweisungen gaben. Sie räumten den Hofräten mehr Entscheidungsfreiheit ein und sahen eine gewisse Unterteilung in Amts- und Geschäftsbereiche vor. An der Spitze des Rates stand schon damals August und darin liegt aus meiner Sicht der Grund, dass sie unabhängiger von Moritz agieren konnten, da August eine Kontrollfunktion innehatte. Und darin findet sich meines Erachtens dann auch der Grund, warum August nach dem Tod seines Bruders den Hofstaat komplett übernahm. Es gab bereits eine Grundlage der jahrelangen Zusammenarbeit – und ein Vertrauensverhältnis. Auch diese komplette Übernahme eines Hofstaates hat es vorher und nachher in Sachsen so nicht gegeben. Im Folgenden möchte ich nun anhand von zwei Räten zeigen, wie die Zusammenarbeit unter August konkret funktionierte. 12 13 14 15 16

SächsHstA Dresden Loc.32 436 Rep. XXVIII, Nr. 31 Hofordnung von Kurfürst August. Kern 1905/07: 36f. Schirmer 2006: 720. Schirmer 2006: 720. Schirmer 2006: 721.

August von Sachsen und die Nahbeziehung zu seinen Räten vor 1563

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Zwei Räte: Hans von Ponickau und Ulrich Mordeisen „Ich habe einen grossen Potentaten kannt, der stalte seine cammersachen alle auf ein eintzliche, ansehnliche person, die hatte die vorwaltung genzlich allein in ihren Händen.“17

Dieses Zitat stammt von Melchior von Osse, dem Kanzler Johann Friedrichs, des letzten ernestinischen Kurfürsten. Johann Friedrich ist gemeint mit dem Potentaten; die Person, die die Verwaltung gänzlich in ihren Händen hielt, war Hans von Ponickau. Ponickau war 1532 Kammermeister im ernestinischen Sachsen und baute die Machtbefugnisse dieses Amtes sukzessive weiter aus (die ohnehin beträchtlich waren) und drängte dabei den Landrentmeister von Taubenheim an die Seite. Alle Fäden der Finanzverwaltung liefen bei ihm zusammen, er war der maßgebliche Rat und für alle Ausgaben des ernestinischen Kursachsens verantwortlich.18 Das ist eine enorme Machtposition für einen Mann wie Ponickau, zumal er aus keinem einflussreichen Geschlecht stammte. Er baute ab den 1530er Jahren mit Duldung des Kurfürsten seinen Besitz über die Jahre systematisch aus und schaffte es bis zum Jahr 1558, 18 Dörfer sein eigen zu nennen. Ein typischer Aufsteiger des 16. Jahrhunderts. 1547 fiel Ponickau bei Johann Friedrich in Ungnade und wurde seiner Dienste enthoben. Grund dafür war, dass ihm Johann Friedrich die Mitschuld an der vernichtenden Mühlberger Niederlage gab. Pikant daran ist, dass Ponickau danach fast nahtlos in albertinische Dienste übernommen wurde. Hintergrund dafür ist aber weniger möglicher Verrat oder Spionage als vielmehr die Tatsache, dass er als Kreditgeber für die Albertiner fungierte – so wird er zum Beispiel in einer Quelle von 1549 als Dativus bezeichnet, ein zeitgenössisches Wort für Geldgeber, das scherzhaft bis abschätzig gemeint ist.19 Mit Akzeptanz im albertinischen Adel konnte Ponickau zunächst nicht rechnen – doch im Laufe der Zeit wurde das Verhältnis besser. Sein politisches Comeback datiert auf 1555, als August ihn zu seinem Kammerrat ernannte, zusammen mit Ulrich Mordeisen. Dies wird in der sächsischen Landesgeschichte gerne umschrieben als Geburtsstunde des Kammergemachs.20 Ponickau ist es gelungen, auch im albertinischen Sachsen die Finanzpolitik von der Person des Fürsten loszulösen. Das ist allerdings nicht allein auf egoistische machtpolitische Motive zu reduzieren, vielmehr behinderten die Fürsten die

17 18 19 20

Hecker 1922: 317. Schirmer 2006: 333. Hermann/Wartenberg 1992: 454. Schirmer 2006: 388.

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Bürokratisierung und Institutionalisierung und damit eben auch die Planungssicherheit der Räte.21 In der Praxis hat Ponickau zumindest unter August die Finanzgeschäfte selbstständig abgewickelt: So geht es in einem Fall um den Wiederaufbau eines Dorfes, das um Pfingsten 1562 abgebrannt sein muss. Neben den zerstörten Wohnhäusern geht es auch um die Erstellung einer Scheune und etlicher Tore. Da die Dorfgemeinschaft der Meinung ist, zum Wiederaufbau unabdinglich Holz zu benötigen, wendet sie sich in einer Supplikation an den Kurfürsten. Dieses Schreiben ist zunächst von Ponickau gelesen worden; er berichtet nun August von der Sachlage, so wie sie ihm geschildert wurde. In seinem Schreiben führt er aus, was er zu tun gedenke, um herauszufinden, ob tatsächlich ein Bedarf von Seiten der Dorfbewohner bestehe – und wie hoch dieser dann ausfiele: „Demnach hat der Schosser alhier erbetenn zu sich zihn ezliche Werkhuten vonn maurernn unnd zimmer Leuttenn uf meinen befehlich sich dahin gegenn schilda [Name des Dorfes] verfugt, die Brandtstadt mit fleiß besichtigte, abgemessenn und nebenn dem Maurrernn und zimmerleuttenn meinen ungeverlichen uberschlack gemacht […] Was er alsdan von holtz zu entlicher verfurunge seiner gebaude befarffenn wurde unnd noth halbenn haben muste. Wie dan Euer Churf. g. auf beiliegender verzeichnus gnedigst zuerfarenn.“22

Ponickau schickt Maurer und Zimmerleute in das Dorf, um den Schaden zu sichten und die Kosten für dessen Behebung zu schätzen. In einem späteren Schreiben kommt er zu folgendem Ergebnis: „E churf. g. wirdt nit wol umbgehen konnen Inen das gesuchte holtz willigenn, Auch uf ein Jar lang mit der Tranksteuer vorshenen zulassen Da nun E churf. g. Inen solches alleß auß gnaden willigenn versehen, So habe Ich Eurer befehliche In E. churf. g. zu underzeichnen und denn Boten damit abzufertigen lassen wissen“.23

Ponickau hat also im Namen des Kurfürsten das Anliegen der Dorfgemeinschaft nach Holz und einer Reduzierung der Tranksteuer bewilligt – und der Kurfürst muss das Schreiben nicht gegenzeichnen. Der Bote wird von Ponickau beauftragt, die Genehmigung zu überbringen. Der Brief endet mit der bekannten Floskel: „Dies alles habe ich e. churf. gn. underthenigst nicht vorhalten wollen“, die nichts anderes besagt, als dass er den Kurfürsten lediglich informiert, wie er den Antrag der Bürger des Dorfes Schilda beschieden hat. Und das muss auch im Sinne Augusts gewesen sein, denn eine Anweisung, wie

21 Schirmer 2006: 391. 22 SächsHStA Dresden, Loc. 08573/05 fol. 36f. 23 SächsHStA Dresden, Loc. 08573/05 fol. 36f.

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in dem Fall zu verfahren sei, liegt nicht vor: „E.churf. g. werden nicht umhin kommen“ zeigt die Kompetenz, die Ponickau ganz selbstverständlich innehat. In einem anderen Fall geht es um eine Schuldensumme von 6000 Gulden. Die zentralen Finanztermine waren die beiden Märkte, der Oster- und Peter-undPauls-Markt, die in Leipzig bzw. Naumburg stattfinden.24 Der hier betroffene Schuldner ist nun zunächst nicht in der Lage, die erste Rate in Höhe von 1000 Gulden zurückzuzahlen und hat sich deshalb an Ponickau gewandt, um eine Stundung seines Anliegens zu erbitten. Dieser schreibt dann auch einen Brief an den Kurfürsten, berichtet ihm vom Anliegen des Schuldners und bittet um Erlaubnis, die Anfrage positiv bescheiden zu dürfen. Gleichzeitig – ohne die Antwort Augusts abzuwarten – schreibt er dem Schuldner, er habe sich an den Kurfürsten gewandt: „Euer Antwort uff unser Schreiben haben wir heute empfangen, unnd nicht unnderlassen dem Churfusrten zu Sachsen, unserem gnedigen herrn davon underthenigst bericht fur zuwerden, wiewol sich nun S churf. g. unzweiflich versehen, E. g. wurde an verlegunge der ersten eintausent taler, dem verschinenn Osterrmark nicht mangell haben furstehen lassenn.“25

Hier ist Ponickau sich schon sicher, dass dem Angebot des Schuldners, die Verschiebung der Rückzahlung der ersten Rate genügen zu können. Eine Antwort von August ist auch in diesem Fall nicht überliefert. Ponickau bewilligt dieses Anliegen, wie er in einem zweiten Schreiben dem Schuldner mitteilt und stellt einen neuen Wechsel aus – und lässt den Kurfürsten wissen, dass der betreffende Schuldner „solcher uffschibung gewurdik“26 sei. Also auch hier wird die Kompetenz und Entscheidungsfreiheit Ponickaus unterstrichen – er entscheidet aus eigenem Gutdünken, und nicht zuletzt diese Tatsache kann ein Grund dafür sein, dass er über die Jahre die Akzeptanz des albertinischen Adels gewann. So geht es in einem anderen Schreiben um die Türkensteuer. Ponickau berichtet, dass einige Ritter bei ihm vorgesprochen und eine Proposition verfasst hatten, in der sie beteuerten, dass aufgrund ihrer geringen Steuereinnahmen ihr Anteil am Romzugsgeld anteilmäßig geringer ausfallen müsse. Statt 6 Pfennige pro Schock27 als Abgabe abzuführen, sollten nun vielmehr Bürger und Bauern je vier Pfennige und die Ritter zwei Pfennige zahlen. Ponickau sieht zum einen die Notwendigkeit der Verringerung der Gebühren für die Ritter, zum anderen stellt er folgende Rechnung auf: Wenn die Bauern und Bürger je 4 Pfennige geben und die Ritter je 2, dann wäre das in der Summe weniger als wenn Bürgern und Bauern pro Kopf 6 Pfennige entrichteten – und so 24 25 26 27

Held 1999: 104. SächsHStA Dresden loc 10004/313 fol. 26. SächsHStA Dresden loc 10004/313 fol. 26. SächsHStA Dresden loc 10004/313 fol. 26.

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könnte am Ende neben anderer Steuereinnahmen die angestrebte Summe von 100 000 Florentinern (F) nicht zusammenkommen. Ponickau rechnet dann auch vor, wieviel zu Moritz’ Lebzeiten im Jahr 1552 an Beiträgen entrichtet wurde, um auf die damals benötigte Summe von 200 000 F zu kommen. Denn ein Teil der erhobenen Steuern sollte dann eben auch für die Türkenhilfe verwandt werden. Zugleich macht Ponickau deutlich, dass er momentan davon ausgeht, dass sich die Endsumme auf 100 000 F belaufen solle und fordert den Kurfürsten auf, ihm dies zu bestätigen. Hier wird deutlich, wie sehr der Rat auch im Sinne des Kurfürstentums mitdachte und zum Wohle dessen und im Sinne des Kurfürsten handelte. Insgesamt können wir an den drei Beispielen sehen, dass Ponickau in seinem Amt sehr kompetent fungierte – und dem Kurfürsten gegenüber eine detaillierte Berichterstattung all dessen was er tat, pflegte. Es lässt sich nicht mehr eindeutig nachvollziehen, ob die Schreiben von Ponickau tatsächlich beantwortet wurden – ob also eine Genehmigung erteilt wurde oder ob es bei den Schreiben vielmehr darum ging, den Kurfürsten lediglich über getroffene Entscheidungen zu informieren. Darauf deutet zumindest die Floskel: „dies alles habe ich E churf. G. underthenig nicht furhalten (vorenthalten) wollen“ hin. So bezieht sich die Korrespondenz zwischen beiden darauf, was er zu machen gedenkt oder bereits erledigt hat. Nicht im Sinne einer Rechtfertigung, eher im Sinne einer Darlegung, was passiert ist. Eine Eingriff in die Kompetenz Ponickaus lässt sich nicht feststellen.28 Beim zweiten Rat, der hier untersucht wird, handelt es sich um Ulrich Mordeisen. Mordeisen war bürgerlich, Doktor der Rechte. Dass Mordeisen bürgerlicher Herkunft war, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass er einer äußerst wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus dem Fränkischen entstammte und Jura in Padua studiert hatte – ein zeitgenössisches Elitephänomen.29 Nach seiner Promotion 1543 wurde er zunächst außerordentlicher Professor in Wittenberg und dort zwei Jahre später Rektor. Er vertrat bereits 1543 das kurfürstliche ernestinische Sachsen beim Reichskammergericht und stand ab 1546 in deren Diensten, also vor der Translation der Kurfürstenwürde auf den albertinischen Teil der sächsischen Herrscherdynastie. Unter Moritz von Sachsen 1549 wurde er Kanzler und vertrat Kursachsen bei den Verhandlungen um den Passauer Vertrag und war sogar in die Pläne der Fürstenverschwörung von 1552 eingeweiht.30 Er hatte mit Ponickau zusammen die Aufsicht über die Rentkam-

28 Die bisher von mir untersuchten Quellen zeichnen seriell dieses Bild ab. Ob sich noch Beispiele finden lassen, wo ein Eingriff in die Kompetenz stattfindet, lässt sich zum momentanen Zeitpunkt nicht sagen. 29 Mörke 1985: 117. 30 Hermann 2003: 183–193.

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mer – kontrollierte also mit diesem zusammen die Ausgaben des gesamten Territoriums.31 Mordeisen war zweifelsohne ein enger Vertrauter des Kurfürsten. Beispielsweise vertrat er auf dem Regensburger Reichstag 1557 die kursächsischen Interessen. Die Instruktion, die August für seinen Rat diktieren ließ, enthält viele Handlungsspielräume. So wurde Mordeisen einerseits damit beauftragt, Sympathien und Wohlwollen Kursachsens gegenüber dem Kaiserhaus zu transportieren; auf der anderen Seite sollte er sich bei der Abstimmung der Türkensteuer an dem Votum der anderen Kurfürsten, Fürsten und Stände orientieren, damit niemand auf den Verdacht käme, dass es wegen dieser Steuer eine geheime Absprache zwischen König Maximilian und August gegeben habe. Genau das war aber der Fall – sonst müsste es in der Instruktion nicht ausdrücklich geschrieben stehen: „Unnd hirinnen hetten wir nicht gescheucht, das und ezliche in den argwohn gefast, als hetten wir uns gegen Irer kon. mat in der unterrede so wir mit Irer kon Mayt [Königliche Majestät] zu Leutmeritz gehabt etwas sonderlichs verpflichtet.“32 Mordeisen war also nicht nur Geheimnisträger, sondern bekam auch eine vergleichsweise hohe eigene Entscheidungsfreiheit. Er genoss hier das Vertrauen des Kurfürsten August – genau wie das auch unter der Herrschaft Moritz’ der Fall gewesen war,33 war er doch einer der Architekten des Passauer Vertrages. Er war es auch, der Kursachsen bei den Wormser Religionsgesprächen vertrat – und der in der Hauptsache den Schriftverkehr mit Melanchthon führte. Ihn verband auch ein reger Informationsaustausch mit Ulrich Zasius, dem kaiserlichen Rat.34 Es ist ein Brief überliefert, in dem August Mordeisen mitteilt, er sei erkrankt – und instruiert ihn, die Korrespondenz zu öffnen und „besten vleisses zu verrichten“ – also die Amtsgeschäfte alleine weiterzuführen. Nur die Dinge, die ausdrücklich „unser Resolution“, so August, benötigten und ohne ihn nicht „geordnet werden konnten“, bat er, ihm per Post zuzusenden.35 Im Sommer 1564 schrieb Zasius, der bereits erwähnte kaiserliche Vizekanzler, an den Dresdener Hof, dass ein Schreiben verfasst werden müsse – August oder Mordeisen sollten dies tun, Mordeisen wird quasi als Surrogat des Fürsten behandelt. Auch das ist ein Beleg dafür, dass das enge und vertraute Verhältnis beider den Zeitgenossen durchaus bekannt war und entsprechend gewürdigt wurde. Ich denke, all diese Beispiele zeigen sehr deutlich, dass August sich voll und ganz auf Mordeisen verlassen, ihm also Vertrauen geschenkt hat. Mit Ponickau verband ihn sicherlich ein persönliches Nahverhältnis, das ich 31 32 33 34 35

Schirmer 2006: 720. SächsHStA Loc 0293, fol. 10. Hermann 2007: 242. Pflüger 2005: 208. SächsHStA Loc 293, fol. 32.

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auch als Freundschaft bezeichnen würde. Die Bestallung Ponickaus fand auf Mordeisens Geheiß hin statt. Die gesamte Bestallungsakte ist entweder in seiner Handschrift geschrieben oder, wenn vom Kanzleischreiber geschrieben, mit handschriftlichen Notizen Mordeisens versehen und sein Wohlwollen Ponickau gegenüber wird darin mehr als deutlich. Im Sächsischen Staatsarchiv ist auch der Schriftwechsel zwischen beiden hinterlegt. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit 1547–1563 kooperierten sie vertrauensvoll und im kollegialen Austausch. Allerdings unterschieden sich die Aufgabengebiete der beiden voneinander. Mordeisen war eigentlich Kanzler, fungierte aber, besonders unter August, meist in Reichs- bzw. außenpolitischen Angelegenheiten und trat als Diplomat in Erscheinung.36 Bei Ponickau und Mordeisen liefen, wie gezeigt, die Fäden der Macht zusammen und spätestens seit Ponickau auch Einsicht in die Begnadigungsschreiben und Bestallungsakten bekam – also die gesamte Personalpolitik Kursachsens – und diese damit indirekt auch beeinflussen konnte, besaßen sie zusammen eine Machtvollkommenheit innerhalb des sächsischen Territoriums, die bis dato in einer sächsisch-kurfürstlichen Regierung beispiellos war und deren Auswirkungen sich erst in meiner Dissertation deutlich zeigen lassen werden.37 Mordeisen und Ponickau haben kollegial zusammengearbeitet – und manchmal enger, als dem Kurfürsten lieb sein konnte. So wartete August dringend auf ein Schreiben von Wolf Mulichs und fragte bereits in der Kanzlei nach – Mordeisen entschuldigte sich für die Verzögerung der Zustellung an den Kurfürsten: „Das Wolf Mulichs schreiben e churf. g. so langsam zukamen hat sich daher zugetragen, das di brif erstlich gegen dresen darnach gegen pombsen und folgens hiher –mir zugeschickt.“38 Der Brief wurde also von der Kanzlei aus zunächst zu Ponickau nach Pomßen, dann nach Waltersdorff und dann erst zu August gesandt – und deshalb habe sich die Ankunft verzögert.39 Dies Beispiel zeigt schon, dass die beiden auch im persönlichen Umgang mit dem Kurfürsten durchaus ihren Handlungsspielraum nutzen, was in folgenden Beispielen noch deutlicher wird: Ponickau, der ja erst nach der Mühlberger Niederlage in albertinische Dienste gekommen war, war auch nach 1555 im kursächsischen Adel nicht unumstritten, wie folgender Vorgang anschaulich macht. In der Schreibergasse in Dresden hatte Ponickau sein Stadthaus und wohnte darin, wenn er in Dresden war. Nun 36 37 38 39

Pflüger 2005: 264. Kaiser 1944: 65. SächsHStA Loc 0293 fol. 46. Zwischen Dresden und Pomßen liegen etwa 100 km, zwischen Pomßen und Waltersdorff etwa 90 km. Für die damalige Zeit sind das Strecken, die für Boten nicht unerhebliche Entfernungen darstellen – mindestens eine, wenn nicht zwei Tagesreisen pro Strecke sind hier anzusetzen.

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hatte er eine neue Mauer errichten lassen, die dann, anders als zuvor, am Haus von seinem Nachbarn Hans Gaul abschloss, also das Grundstück Ponickaus um einige Zentimeter erweiterte. Nun hatten die Nachbarn unter der Führung von Gaul eine Supplikation an den Kurfürsten verfasst und sich darüber beschwert, dass Ponickau ohne Absprache sein Grundstück erweitert hatte. August übersandte die Beschwerde wiederum an Ponickau, der in einem vierseitigen Schreiben Stellung nahm, warum die Mauer genau so gebaut werden musste – als Gründe gab er an, dass die Lücke als Müllplatz benutzt worden und somit ein „Hort des Gestankes“ gewesen sei – und dass durch seine neue Bauweise die Feuergefahr gebannt werden konnte. Entscheidend für mich ist allerdings, dass Ponickau sich über Folgendes beschwerte: „So hette Inenn auch wol geburtt do sie solches herausruckens mit der Maure Ir(ß) so grosse beschwerung gehabt das si mich derhalben Im anfange angesprochenn unnd ersucht unnd mit der clage an Rath auch folgends an E churf. g. nicht so lange gewartet hettenn bis die Mawer (Mauer) so gar hoch aufgefurth und die krat steine an dem Mewerlein (Mäuerlein) der häuser gangsbereit an zulegen angefangenn wordenn“.40

Er sagt damit, dass sie ihn selbst darauf hätten ansprechen können, wenn es sie denn so gestört hätte, dass die Mauer sein Grundstück erweitere – sie aber so lange gewartet hätten, bis die Mauer gebaut war und eine Revidierung mit etlichem Mehraufwand verbunden sei. Das zeigt, dass Ponickau mit seinen Nachbarn nicht friedlich zusammenlebte. Diese Tatsache wird dann auch unterstrichen in seiner Aussage, dass, sollten sich Gaul und Konsorten erneut beschweren, er ihnen „das unnutze Maul zuklappen wolle“.41 Das klingt sehr umgangssprachlich und entspricht sicher nicht der Diktion, die man sich zwischen Rat und Kurfürst vorstellt. Nach meiner Quellenlektüre sehe ich darin aber weniger eine verbale Entgleisung – ich würde das eher als ein Zeichen großer Vertrautheit zwischen Ponickau und August von Sachsen ansehen, zumal Ponickau auch 17 Jahre älter war und sich dies somit eher herausnehmen konnte als etwa ein gleichaltriger oder jüngerer Rat Augusts. Jedenfalls wurde die Mauer gebaut. Und auch Ulrich Mordeisen nimmt sich Freiheiten: In einem Brief geht es darum, dass Mordeisen sich nach einer Reise in Dresden einfinden soll, er beschließt aber nun kurzfristig, zunächst nach Waltersdorff, seinem Stammsitz zu reisen. Diese Entscheidung trifft er selbstständig, eine Begründung führt er nicht an. Er schlägt dem Kurfürsten dann als Gelegenheit für ein persönliches Treffen folgende Option vor : Der Kurfürst möge sich doch bei ihm in Waltersdorff einfinden, da er ja ohnehin auf Reisen sei und 40 SächsHStA Dresden Loc. 41503, Rep. 59, Lit. D, Nr. 1718. 41 SächsHStA Dresden Loc. 41503, Rep. 59, Lit. D, Nr. 1718.

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dabei jage – und bei der Gelegenheit das gejagte Wildbret zum Verzehr mitbringen könne.42 Auch das zeugt von davon, dass keine Berührungsängste zum Kurfürsten vorzuliegen schienen. Wie wir sehen, lässt sich das Verhältnis zwischen August und seinen Räten nur schwierig verorten. Zum einen scheinen die beiden ihre Kompetenz und die damit verbundenen Spielräume zu nutzen zu wissen, zum anderen finden wir eine genaue und detaillierte Berichterstattung über alle getroffenen Entscheidungen. Wir finden also Vertrauen und gleichzeitig Kontrolle. Wie sich nun das Verhältnis zu seinem Rat ändern kann, wenn August das Vertrauen verlor, kann am Beispiel von Ulrich Mordeisen gezeigt werden, der 1565 aller seiner Ämter enthoben und auf Waltersdorff festgesetzt wurde. Was genau zu seiner Entlassung führte, ist bis heute nicht eindeutig anhand von Quellen belegt. In der Neuen Deutschen Biographie kann man nachlesen, August habe verhindern wollen, dass Ulrich Mordeisen zu mächtig wird – und mit seiner Entlassung auch beabsichtigt habe, den Einfluss des Adels zu beschneiden, so der Forschungsstand von 1996.43 Ein kurzer Artikel in den Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins aus dem Jahr 2000 stellt es so dar, dass Mordeisen überraschend unter Hausarrest gestellt worden sei, weil er am Wiener Hof die Befehle der Kurfürstin Anna hintertrieben bzw. nicht ausgeführt habe.44 Diese Feststellung wiederum beruht nicht auf eigenen Quellenforschungen des Autors, sondern wurde dem Lexikoneintrag bei Zedler von 1736 entnommen.45 In den Akten der Bestrickung (Gefangennahme) Mordeisens ist von beidem nicht die Rede, vielmehr blieb die Anschuldigung zunächst diffus und kann eher anhand der Schreiben Mordeisens, die er seiner Entlastung halber verfasst hat, rekonstruiert werden. In seinem ersten Schreiben vom 12. Mai 1565 – er war am Tag vorher festgesetzt worden – schrieb er an August: „dass mich mein gnediger her gebraucht und aber nhumehr solche hendel und sachen andern zuvorichten befholen. Demnach so gerede und gelob ich, das alle und die handelungen und sachen auch alles anders so die churf. g. mir vertrauet oder sonst billich in gehaimb gehalten werden sol, ich di zeit meines lebens keinem menschen wer der auch sein mochte erofnen.“46

Hier betonte Mordeisen, dass das Vertrauen, das August in ihn gesetzt hatte, von seiner Seite nicht missbraucht worden sei und er auch in Zukunft die Dienstgeheimnisse wahren werde. Das heißt, dass Mordeisen sich hier durchaus seiner Vertrauensstellung bewusst war – und in seinem Schreiben seine Loyalität, die 42 43 44 45 46

SächsHStA Loc 0293 fol. 44. Herrmann 1997. Lauterbach 2000: 53. Zedler 1739: Spalte 1594. SächsHStA Dresden Loc. 07192/02 fol.13.

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noch über seine Dienstzeit hinausging, in die Waagschale warf, um seine Eignung und Charakterstärke noch einmal zu betonen. Was aus dem Schreiben aber auch hervorgeht, ist ein gewisses Moment der Überraschung auf Seiten Mordeisens, so schrieb er doch, dass sein Herr nun andere mit seinen Aufgaben betraut habe – das wiederum zeigt auf, dass selbst er über die wahren Gründe seiner Entlassung im Ungewissen war. Nach seiner Entlassung 1565 bis zu seinem Tod 1573 hat sich Mordeisen in einer Vielzahl von Briefen an die Gemahlin des Kurfürsten, Anna von Dänemark, gewandt – und darin seine Unschuld beteuert, jedoch bleibt auch hier der Grund seiner Bestrickung meist nur am Rande erwähnt. In einem Schreiben allerdings steht: „Aber es hat es gleichwol der Almechtige also geschickt das sich solchs meines unglucks niemandts hoher erfreuet als erstlich s. churf. g. selbst hochste widerwertige di Grumbachische aufrurer und flacianische rott47, umb die ichs auch di warheit zubekomen wol vordient dan ich denselben, wie s.churf. g. gnedigst wol bereut, iderzeit zum hochsten zuwider gewest.“48

Das heißt, Mordeisen wies darauf hin, dass gerade die Feinde des Kurfürsten – die Grumbachschen Verschwörer49 – von seiner Entlassung am meisten profitierten, und das führte er als Beweis an, eben nicht ein Teil derer zu sein, und er distanzierte sich von den Vorgängen um Grumbach und den Flacianern, was er für notwendig zu erachten schien. Daraus folgere ich, dass zumindest der Vorwurf im Raum stand, Mordeisen könne sich mit den Verschwörern gemein gemacht haben. Dies jedoch bestritt er vehement – sieben Jahre lang, bis er starb. „mein gnst. h. (hat) sein gnadt und gunst von mir abgewendet und mich vorstrickt p. dadurch dan ein ider dem ich zuvor in meinem dinst nicht zugefallen gethan, bequemheit gehabt sein mutlein an mir zukulen.“50

Hier deutet Mordeisen an, dass er durch seine Entlassung Schutz und Schirm des Landesherrn verloren habe, was seinen Widersachern nun die Gelegenheit gebe, an ihm Revanche zu üben. Das zeigt zum einen, dass auch Mordeisen am Hof in seiner Funktion zumindest Widersacher, wenn nicht gar Feinde gehabt haben

47 Die ,flacianische rott‘ bezieht sich auf eine religiöse Gruppe, zurück gehend auf Matthias Flacius (1520–1575), die im Augsburger Religionsfrieden nicht verankert war und innerhalb Kursachsens verfolgt wurde. 48 SächsHStA Dresden Loc. 07192/02 fol. 44. 49 Es bleibt unklar, um welche Personen es sich hier handelt.Bei den Grumbachschen Händeln handelt es sich um einen Landfriedensbruch, der zum Anlass genommen wurde, die Rivalität des Hauses Wettin untereinander noch einmal aufleben zu lassen. Zu den Grumbachschen Händeln siehe Orloff 1869/70. 50 SächsHStA Dresden Loc. 07192/02 fol.32.

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muss. Und auch, dass diese nun, da es ihnen möglich war, sich an Mordeisen rächten. Wer genau Mordeisens Widersacher waren, kann nicht rekonstruiert werden – jedoch müssen sie sich im Umfeld Dresdens bzw. der Hofkanzlei finden. In der Bestrickungsakte Mordeisens finden sich mehrere Schreiben, die in verschiedenen Handschriften an die Kanzlei gerichtet wurden, jedoch ohne Umschlag bzw. Adressfeld – was darauf hindeutet, dass die Schreiben persönlich übergeben worden sein müssen. Adressiert sind diese Beschwerden an den Kurfürsten und ähneln sich im Wortlaut sehr auffällig. Die konkreten Vorwürfe an Mordeisen sind u. a., er habe sich der Kungelei schuldig gemacht und abschätzig vom Kurfürsten gesprochen. Schreiben, zu deren Herausgabe man ihn aufgefordert hatte, habe er unvollständig herausgegeben – und sogar von einigen Kopien behalten. Und da alle Schreiben am 11. Mai 1565 die Kanzlei erreichten, ist mit einiger Sicherheit von einer Intrige gegen Mordeisen auszugehen. Zeitgenössisch war üble Nachrede gegen den Territorialfürsten gerade wegen der Wichtigkeit des Vertrauens zwischen Fürst und Diener ein schwerwiegender Vorwurf. Von noch größerer Tragweite ist der Vorwurf, Mordeisen habe von den Schreiben aus der Kanzlei Kopien behalten. Denn, warum sollte er das tun und zu welchem Vorteil? Diese Frage kann nur spekulativ beantwortet werden. Letztlich ging es darum, Mordeisen zu diskreditieren. Da Mordeisen bereits am Tag nach dem Eintreffen der Schreiben entlassen wurde, liegt der Verdacht nahe, dass genau diese Schreiben zu seiner Entlassung führten. Meines Erachtens war das Schicksal Mordeisens aber schon vorher besiegelt – und die Schreiben wurden nur zum Anlass genommen, ihn seiner Ämter zu entheben. Wie genau sich das im Einzelnen zugetragen hat, ist leider nicht mehr zu rekonstruieren und es wird sich wohl um mündliche Absprachen gehandelt haben. Auch Mordeisen selbst spricht von einer Intrige gegen ihn51 – er spricht von seinen Feinden, die sich gegen ihn verschworen haben. Hieronymus Kiesewetter, Hans von Ponickau und Kammersekretär Hans Jenitz spricht er allerdings ausdrücklich auch weiter sein Vertrauen aus. So plötzlich wie bisher in der Forschung dargestellt,52 erfolgte seine Entlassung allerdings nicht. Bereits im März 1565 verließ ein Schreiben die Dresdner Kanzlei, in dem sich der Kurfürst irritiert über ein nicht näher benanntes Verhalten Mordeisens zeigte – dessen prompte Entschuldigung aber dann sehr wohlwollend entgegennahm.53 Ebenfalls im März 1565, also gut sechs Wochen vor seiner Entlassung, teilte August seinem Jägermeister Cornelien von Ruchlebenn mit, dass er „nicht gemeindt Ime [nicht geneigt sei], ihm [Mordeisen] einige Rehe Jagt der 51 SächsHStA Dresden, Loc. 07192/02 fol.13. 52 Junghans 2007: 237. 53 SächsHStA Dresden, Loc. 0321 fol 96.

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orte weiter zu gestatten, oder noch zugebennn“. Mordeisen wurde also das Recht entzogen, Rehe zu jagen.54 Um die Relation klarzumachen: Jagdrechte waren Reservatrechte und wurden im 16. Jahrhundert nur an bestimmte, privilegierte Personen gegeben – und gerade August von Sachsen hat sich gerne höchstpersönlich um die Vergabe bemüht. Entsprechend war die Erlaubnis zur Jagd, aber eben auch die Entziehung dieser Rechte keine Kleinigkeit – und schon ein deutlicher Hinweis auf das sich verschlechternde Verhältnis zwischen Kurfürst und Rat. Im Kopialbuch des mit August in einem Vertrauensverhältnis stehenden Kammersekretärs Hans Jenitz finden wir einen Eintrag vom 2. April des Jahres 1565. Hier wurde ein Schreiben an Mordeisen verfasst, das ihn dazu aufforderte, den Schriftwechsel mit dem Diplomaten Hubert Languet herauszugeben. Unter dem Adressaten ist dann geschrieben, das Schreiben sei „uffs [aufs] geheiß seiner churf. gnaden muntlich durch Hans Jenitz“ zu überbringen.55 August sah sich getrieben, seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen – indem er seinen Kammersekretär persönlich dorthin schickte. Er vertraute ihm nicht mehr. Ob es eine begründete Annahme gab, Mordeisen würde die Briefe nicht herausgeben, lässt sich aus dieser Anweisung nicht schließen – aus den schriftlichen Äußerungen Mordeisens ist das auch nicht zu vermuten. Trotzdem auch hier ein Anhaltspunkt, dass bereits vor der Entlassung das Vertrauensverhältnis keinen Bestand mehr hatte. Die Entlassung von Mordeisen erfolgte 1565, bereits zwei Jahre vorher hatte er das Kammergemach, dem Ponickau und Mordeisen ja vorstanden, aufgelöst. Ponickau, der 1508 geboren war, verließ die Dienste des Kurfürsten und zog sich aufs Altenteil zurück. Mordeisen blieb bis 1565. Warum genau das Kammergemach aufgelöst worden war, bleibt auch unklar. Wahrscheinlich scheint aber zu sein, dass August die Kontrolle über die Geldeinnahmen an seine Person ziehen wollte – ein mögliches Motiv kann sein Misstrauen sein. Es wurde deutlich, dass August von Sachsen durchaus Vertrauen zu seinen Räten hatte und ihnen die Leitung der Regierungsgeschäfte überließ – sich gleichzeitig aber über getroffene Entscheidungen (bis hin zur Vergabe von zwei Baumstämmen56) berichten ließ. Vertrauen lief also nicht ohne das Instrument der Kontrolle ab. Die Motive für die von ihm gesehene Notwendigkeit der Berichterstattung mögen in folgenden Tatsachen begründet liegen. August hatte zum einen keine Ausbildung genossen, die ihn auf sein Amt vorbereitetet hatte. Daraus mag eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Regierungsgeschäften resultiert sein. Zudem hatte er zu Lebzeiten seines Bruders mit seiner eigenen Hofhaltung in Merseburg zwei Jahre hintereinander ein deutliches Defizit er54 SächsHStA Dresden, Loc. 38591, Rep. 18, Freiberg, Nr. 0043. 55 SächsHStA Dresden, Loc. 0321 fol 104. 56 SächsHStA Dresden, Loc. 0313, fol 14.

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wirtschaftet – und wurde aufgrund dessen von Moritz wieder nach Dresden geholt. Diese Tatsachen könnten dafür gesorgt haben, dass August sich unsicher in seiner Position fühlte und vor allem verhindern wollte, dass er noch einmal die Peinlichkeit einer defizitären Hofhaltung zu verantworten hätte.57 Wilhelm von Hessen, ein Zeitgenosse Augusts, wird die Aussage in den Mund gelegt, August entscheide nichts ohne seine Räte58. Unabhängig davon, ob diese Aussage gerechtfertigt ist, so zeigt sie doch, dass das enge Verhältnis Augusts zu seinen Räten zeitgenössisch bekannt war und nicht davon ausgegangen wurde, dass er Entscheidungen nach eigenem Gutdünken traf – oder treffen konnte? Wenn es so war, dass August sich auf die Ratschläge seiner Räte so sehr verlassen hat, wie von Wilhelm behauptet, dann sicherlich vor allem in seinen außenpolitischen Engagements. Gerade deswegen war August für die Durchsetzung seiner Politik auf Vertrauen zu seinen Räten angewiesen bzw. ohne Vertrauen konnte eine enge Zusammenarbeit und damit Politik nicht gelingen – soweit meine These, auf die ich gleich zurückkommen werde. Deshalb konstatiere ich, dass Vertrauen für eine frühneuzeitliche Regierung unabdingbar war, denn: In dem Moment, in dem das Vertrauen erschüttert war, hatte dies Konsequenzen für das Dienstverhältnis, wie hier gezeigt wurde. Deshalb halte ich die in der historischen Forschung geäußerte Annahme, es sei gerade die Aufwertung von Vertrauen die eine Auflösung des starren, ständisch gegliederten vormodernen Staates erlaubt haben, in meinem Beispiel für widerlegt. In einer frühneuzeitlichen Gesellschaft mögen ständische Ordnungen und Rollenvorgaben verbindlicher gewesen sein. Jedoch war die Beziehung zur Obrigkeit durch diese Gegebenheiten eben nicht eindeutig geregelt, sondern vielschichtig und beruhte auf der Voraussetzung von gegenseitigem Vertrauen und Treue.59 Gerade in einer vormodernen Regierung60 ist das persönliche Nahverhältnis aus meiner Sicht sehr viel wichtiger als in einer modernen Regierung. Sachliche Diensttreue, wie Max Weber es nennt, ist ja eben gerade nicht ausreichend, wie wir sehen können.61 Ausmaß und Inhalt der persönlichen Dienertreue sind eben nicht durch bloße Regeln begrenzt. Bei Ulrich Mordeisen 57 Joel 1898: 291. 58 Pflüger 2005: 48. 59 Ute Frevert konstatiert: „Auf einer allgemeinen Ebene können wir sagen, dass die Aufwertung von Vertrauen die Auflösung einer ständischen Gesellschaftsordnung spiegelt und begleitet – einer Ordnung, die rechtlich klar kodifiziert und hierarchisch durchgliedert war. In einer solchen Gesellschaft herrschten relative Sicherheit und Überschaubarkeit: Was Mitglieder eines Standes durften, war verbindlich geregelt. Auch die Beziehung zur Obrigkeit gab keine Rätsel auf. Man schuldete ihr Gehorsam und Treue; umgekehrt war der Herrscher gehalten, die Treue seiner Untertanen mit einer guten Regierung zu vergelten.“, Frevert 2007: 6. 60 Reinhard 2003. 61 Weber 2009: 66.

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können wir von einem stetigen Aufstieg und einem plötzlichen Fall sprechen, der allerdings aus meinen bisherigen Erkenntnissen nicht auf einem persönlichen Fehlverhalten des Akteurs gründet. Deshalb folgere ich: 1. Vertrauen ist ein konstitutives Element einer frühneuzeitlichen territorialen Regierung. 2. Ein bürgerlicher Rat wie Mordeisen steht und fällt mit dem Vertrauen seines Herrn. Mit Vertrauen sind ein Aufstieg und der Ausbau der eigenen Macht möglich, ohne nichts. Ich betone hier das Wort bürgerlich, weil sich die Aussage bei adligen Hofbeamten relativiert. 3. Ich würde also mit Max Weber sagen: Dienertreue ist streng persönlich auf den Herrn bezogen – und beruht auf gegenseitigem Vertrauen. Und damit sage ich auch, dass Vertrauen nicht erst im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann, sondern bereits im 16. Jahrhundert genau so wichtig war – ganz unabhängig vom Staatsmodell62. Welche Bilanz lässt sich nun aber für die Regierung Augusts ziehen? Das lässt sich auf verschiedenen Ebenen bewerten Zum Beispiel die durch die Reformation vorgenommene Glaubensspaltung, ermöglichte es den Territorien bzw. deren Landesherren, ihre Macht nach innen zu konsolidieren – was unter August in Sachsen sicherlich gelungen ist, dessen Regierung außerordentlich gut funktionierte. Die Frage, die noch zu beantworten wäre, ist, welche Rolle bei diesem Gelingen er selbst und welche die Räte übernommen haben? Die Homogenisierung der Glaubensrichtung durch die Konkordienformel ist sicher ein Erfolg der Regierungszeit Augusts. Demgegenüber steht eine außenpolitische Agonie – je nachdem, welche Perspektive man hier einnehmen möchte bzw. welche Priorität man setzt. So könnte man die Friedenssicherung innerhalb des Territoriums und des Reiches als wichtiger einstufen als außenpolitische Erfolge – aber auch eine andere Blickrichtung hat ihre Berechtigung. Man könnte auch fragen, ob das mächtige Sachen unter August seine Führungsrolle als protestantische Macht im Reich zugunsten der guten Beziehungen zum Kaiserhaus unausgefüllt lies. Über die Quellen, die ich für die Arbeit an meiner Dissertation heranziehe, wird sich das Geschehen in Sachsen besser einordnen lassen. Mit anderen Worten: Für eine frühneuzeitliche Regierung bzw. deren Erforschung müssen also unbedingt Figuren und Strukturen in Beziehung zueinander gesetzt werden, um zu verstehen, wie die Politik gelingen kann – und 62 Frevert 2013: 25ff. und Frevert 2007. Frevert behauptet, erst nach der Französischen Revolution habe sich ein Wandel abgezeichnet. Doch die Aussagen von ihr lassen sich ohne weiteres auch für das 16. Jahrhundert belegen.

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gerade in dieser Frühform von Staatlichkeit ist die prägende Rolle der individuellen Nahbeziehung nicht zu unterschätzen. Staatlichkeit war im späten 16. Jahrhundert weitgehend und vorwiegend personal konstituiert. Der Territorialfürst war die zentrale Integrations- und Konsensfigur – und gegen seinen Willen war auf Dauer weder politisch noch konfessionell eine Alternative zu seinen Vorstellungen durchzusetzen. Insofern kann der Gesichtspunkt Vertrauen dazu dienen, Figuren und Strukturen in Einklang zu bringen.

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Laura Ritter

Das Netzwerk des Generalmajors Aleksej von Lampe in der russischen Emigrantenkolonie im Berlin der frühen 1920er Jahre „Mit Tränen in den Augen schauten wir nach Russland, das sich allmählich unserem Blick entzog. Wenn das für immer so bleibt, beginnt die emigrantische Periode unseres Lebens. Gott bewahre!“1 Aleksej von Lampe 11.–12. 01. 1920

Mit diesen Worten verließ der russische Generalmajor Aleksej Aleksandrovicˇ von Lampe im Januar 1920 seine Heimat Russland. Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem anschließenden Bürgerkrieg floh Aleksej von Lampe mit seiner Familie vor den Bolschewiki nach Konstantinopel. Auf der Überfahrt von Odessa nach Istanbul notierte er die eingangs zitierten Worte in seinem Tagebuch. Dem Eintrag zufolge hegte Lampe zu diesem Zeitpunkt noch die Hoffnung, dass die Flucht nicht in einer dauerhaften Emigration enden würde. Für seine Frau und Tochter sollte dies jedoch der letzte Anblick Russlands sein und auch er kehrte nur noch einmal dienstlich auf die Krim zurück. Von August 1920 bis 1945 lebte die Familie in Berlin, wo Lampe der Militärvertreter des Oberbefehlshabers der Weißen Bewegung ,General Vrangel‘, war. Berlin war nach der Oktoberrevolution zu einem der großen russischen Emigrationszentren geworden: Bei einer Gesamteinwohnerzahl von circa 4 Millionen lebten in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre etwa 300.000 bis 600.0002 Russen in der deutschen Hauptstadt. Die russische Emigrantenkolonie dehnte sich besonders im Westen Berlins aus, was diesem den Beinamen ,Russisches Berlin‘, ,Charlottengrad‘3 oder ,Petersburg am Wittenbergplatz‘4 einbrachte. Aufgrund seiner Position als Militärvertreter sowie seiner zahlreichen Aktivitäten und Vereinstätigkeiten in kulturellen, politischen aber auch journalis-

1 Alle Übersetzungen aus dem russischen Original wurden von der Verfasserin angefertigt. 2 Die tatsächliche Zahl der russischen Flüchtlinge lässt sich schwer kalkulieren, da viele Akten und Aufzeichnungen während des Zweiten Weltkrieges zerstört wurden. Dies gilt insbesondere für die Akten des Roten Kreuzes. Eindeutig lässt sich ein Ansteigen der Flüchtlingszahlen zwischen 1919 und 1923 vermerken. Bis 1933 nehmen die Zahlen dann vor allem auf Grund der wirtschaftlichen Lage in Berlin konstant ab. 3 Belyj 1987: 29. 4 Batalin 1931.

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tischen Kreisen der Emigrantenkolonie stellt Aleksej von Lampe eine zentrale Persönlichkeit im Russischen Berlin dar, der vielfältige Beziehungen sowohl zu anderen Emigranten als auch zu Deutschen unterhielt. Somit kann er als Untersuchungssonde für die russische Lebenswelt der zwanziger Jahre in der deutschen Hauptstadt verstanden werden. Dies gilt umso mehr, als dass Aleksej von Lampe von seinem Eintritt in die Kaiserliche Militärakademie in St. Petersburg 1913 bis ins hohe Alter, bis 1965 – er starb 1967 – regelmäßig Tagebuch geführt hat, dessen Umfang während seiner Emigration bis Mitte der 1920er Jahre beständig zunahm.5 Dieses Tagebuch stellt eine äußerst interessante und vielfältig nutzbare Quelle dar, da Lampe in ihnen weniger sein Gefühlsleben festhielt, als vielmehr eine umfassende Beschreibung des Russischen Berlins sowie der Geschehnisse der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus präsentierte. Auch der bedeutendste Forscher zum Russischen Berlin, Karl Schlögel, konstatiert, dass das Tagebuch des Generalmajors die gewissenhafteste Chronik der russischen Emigration in Deutschland sei.6 Aleksej von Lampe selbst hielt in seinem Tagebuch den Charakter desselben wie folgt fest: „Tata7 hat heute gefragt, ob ich im Tagebuch über mein persönliches Leben schreibe und nachdem sie erfahren hat, dass dies selten der Fall ist, hat sie völlig richtig festgestellt, dass es eigentlich mittlerweile kein Tagebuch mehr ist, sondern Aufzeichnungen oder Memoiren. Es ist möglich, dass dem so ist, aber ich denke, dass ich nicht einmal unbewusst irgendwelche Absichten hatte, ich folgte einfach meinem Leben, also brauchte ich meine Idee, Aufzeichnungen oder Tagebuch zu führen, wobei es einerlei ist, wie man es nennt, Hauptsache man lässt nichts von dem Erfahrenen aus.“8

Der Ausdruck ,Tagebuch‘ (russ: dnevnik) wird in der folgenden Untersuchung dennoch beibehalten, da Aleksej von Lampe diesen selbst konsequent verwendete. In seinen detaillierten und fast täglichen Einträgen vermerkte Lampe zum einen seine zahlreichen Treffen mit Bekannten oder Kollegen und zum anderen kulturelle und politische Aktivitäten innerhalb der russischen Emigrantenkolonie. 5 Der Hauptteil von Lampes Nachlass liegt heute im Russischen Staatsarchiv (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (GARF)). Der Bestand Aleksej Aleksandrovicˇ fon Lampe (GARF. Fond. 5853. Opis. 1) umfasst 70 Akteneinheiten, die sowohl sein von 1919 bis 1943 jährlich abgelegtes Tagebuch als auch seine jährlich und thematisch strukturierten Papiere und Korrespondenzen umfassen. Im Bakhmeteff Archive of Russian and East European Culture (BAR), New York, befindet sich ebenfalls ein Teil von Lampes Nachlass. Die 59 Boxen der Aleksei Aleksandrovich von Lampe Papers (BAR Ms Coll/Lampe) umfassen neben der Korrespondenz auch sein Tagebuch von 1945 bis 1965. Das Tagebuch über seine Zeit als Militärvertreter in Ungarn wurde 2012 herausgegeben: Kolontari 2012. 6 Schlögel 2007: 121. 7 Kosename für seine Ehefrau Natal’ja Michajlovna von Lampe (1890 – Todesdatum unbekannt). 8 Tagebuch vom 20. 03. 1920. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 2, l. 51.

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Das Russische Berlin wurde in der Forschung zwar bereits intensiv untersucht, der Schwerpunkt lag jedoch vor allem auf den russischen Literaten oder dem kulturellen Leben innerhalb der Emigrantenkolonie.9 Aleksej von Lampe und sein Tagebuch wurden ebenfalls in kurzen Aufsätzen untersucht, diese gehen jedoch über eine biographische Skizze bzw. einen Überblick über das Tagebuch nicht hinaus.10 Den sozialen Strukturen innerhalb des Russischen Berlins oder deren Bedeutung und Funktion für die Konstituierung der Emigrantenkolonie und den Alltag innerhalb derselben wurde in der Forschung bisher wenig bis keine Aufmerksamkeit zuteil. Neben den Klischees über russische Adelige, die ihren Lebensunterhalt als Taxifahrer oder Chauffeure verdienen mussten, lassen sich lediglich gegensätzliche Thesen über die soziale Zusammensetzung verzeichnen: So spricht Schlögel von einer „[…] sozial und kulturell ziemlich buntgemischte[n] Gesellschaft, die mehr oder weniger alle Stände, Klassen und Gruppen des vorrevolutionären Rußlands repräsentierte und nicht nur eine bestimmte Schicht, etwa die Aristokratie“11. Wipert von Blücher hingegen charakterisiert die russische Emigrantenkolonie wie folgt: „Das russische Emigrantum in Berlin war eine Pyramide, von der nur die Spitze übriggeblieben war. Es fehlten die unteren und mittleren Volksschichten, die Arbeiter und Bauern, Handwerker und kleinen Kaufleute. Stattdessen waren Offiziere, Beamte, Künstler, Finanziers, Politiker und Mitglieder der alten Hofgesellschaft vertreten.“12

Neben den verschiedenen Annahmen über die soziale Zusammensetzung der russischen Emigrantenkolonie wird dieser in der Forschung auch eine Abgeschlossenheit gegenüber der deutschen Mehrheitsbevölkerung attestiert: „Die russische Kolonie in Berlin bildete in Wilmersdorf und Charlottenburg eine Art „Stadt in der Stadt“. Man lebte dort in Pensionen, zur Untermiete, in billigen Hotels und, wer es sich leisten konnte, in eigenen Wohnungen. […] Die ,Stadt‘ besaß ihre eigene Infrastruktur mit Schulen, wissenschaftlichen Instituten, der russisch-orthodoxen Kirche, der Vertrauensstelle, zahlreichen Vereinen, Geschäften und Restaurants. Was außerhalb dieser kleinen Welt geschah, wurde kaum registriert.“13

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, diese bisherige Skizzierung der sozialen Ordnung innerhalb der russischen Emigrantenkolonie in Frage zu stellen. Zum einen werden daher die im Tagebuch dargestellten einzelnen Beziehungen des Generalmajors Aleksej von Lampe herausgearbeitet. Durch die Betrachtung derselben können auf Grund von Lampes starker Vernetzung innerhalb der Emigrantenkolonie verschiedene Typen von Beziehungen identifi9 10 11 12 13

Siehe insbesondere Schlögel 2007; Schlögel 1997; Sorokina 2003; Flejsˇman 2006. Sˇkarenkov 1995; Sˇirokova 2001; Sˇirokova 2000. Schlögel 2007: 105. Blücher 1951: 53. Dodenhoeft 1993: 57f.

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ziert, deren Bedeutung für Lampe und seine Emigrationserfahrung herausgearbeitet sowie mögliche Funktionen oder Instrumentalisierung jener Typen untersucht werden. Dadurch kann eine neue Perspektive auf die soziale Ordnung der russischen Emigrantenkolonie präsentiert werden. Zum anderen können Lampes Beziehungen die These der Abgeschlossenheit des Russischen Berlin in Frage stellen, da Aleksej von Lampe nicht nur in Hinblick auf seine Beziehungen in seinem Tagebuch verdeutlichte, dass er durchaus wahrgenommen hat, „was außerhalb dieser kleinen Welt geschah“14. Im Folgenden wird zunächst ein biographischer Abriss Lampes erfolgen, um seine Emigrationserfahrung zu verorten und seine verschiedenen Beziehungen zu kontextualisieren. In einem nächsten Schritt werden mittels verschiedener Kategorien und Merkmale15 einzelne Beziehungstypen herausgearbeitet, um Aleksej von Lampes komplexes soziales Beziehungsgeflecht strukturieren und verstehen zu können.16 Die dadurch entstehende Typologie kann dann Aufschluss über Bedeutungen oder Funktionen der sozialen Beziehungen Lampes geben. Daraufhin wird gezeigt, wie sich das Russische Berlin zusammengesetzt und inwiefern es sich konstituiert hat. Zeitlich konzentriert sich die Untersuchung auf die Hochphase des Russischen Berlins in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, da ein Großteil der russischen Emigranten ab Mitte der zwanziger Jahre weiter nach Paris oder Prag emigrierte, wodurch sich die russische Lebenswelt und die soziale Ordnung innerhalb der Emigrantenkolonie bedeutend veränderte.

Kurzbiographie Aleksej von Lampes Aleksej von Lampe wurde am 18. Juli 1885 im russischen Verzˇbolovo geboren und entstammte einer deutschen Familie, die zur Zeit der Napoleonischen Kriege aus Hamburg nach Russland ausgewandert war. Lampe schlug, wie seine Vorfahren, eine militärische Laufbahn ein und gründete nach der Oktoberrevolution 1917 gemeinsam mit anderen zaristischen Offizieren eine Freiwilligenarmee zum Kampf gegen die Bolschewiki.17 1920 flüchtete er, wie eingangs 14 Dodenhoeft 1993: 58. 15 Um die Vielzahl an Namen und Treffen im Tagebuch des Generalmajor einzugrenzen, wurden einige Ausschlusskriterien festgelegt: Zum einen gilt eine regionale Begrenzung auf die Stadt Berlin, so dass beispielsweise Lampes Dienstreisen zum Generalstab der Weißen Armee nicht berücksichtigt werden. Zweitens muss ein Austausch von Angesicht zu Angesicht vorliegen, so dass eine reine Nennung von Namen oder Geschehnisse nach dem Hörensagen ebenfalls herausfallen. 16 Kluge 2000. 17 Sˇirokova 2000.

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erwähnt, mit seiner Familie nach Konstantinopel. Im August desselben Jahres berief der Oberbefehlshaber der Weißen Truppen, General Vrangel’, Lampe als seinen Stellvertreter nach Berlin, wo er jedoch nur bis Mitte September blieb. Anschließend wurde ihm die Militärvertretung in Kopenhagen übertragen, im März 1921 folgte eine weitere Versetzung nach Budapest. Am 1. Mai 1922 übertrug Vrangel‘ Lampe zusätzlich die Vertretung in Berlin. In der Emigration wurde Lampe 1923 vom Oberbefehlshaber der Weißen Truppen zum Generalmajor befördert. Vrangel’ gründete im darauffolgenden Jahr die Rossijskij ObsˇcˇeVoinskij Sojuz (ROVS), die Allrussische Militärunion, welche die Weiße Armee in der Emigration organisieren und kampfbereit halten sollte. Aleksej von Lampe wurde zum Vorsitzenden der II. Abteilung der ROVS in Deutschland und Ungarn ernannt.18 1928 verstarb General Vrangel’ und Aleksandr Kutepov übernahm den Vorsitz der ROVS. Dieser setzte die Finanzierung der II. Abteilung in Berlin nicht fort, so dass Lampe Ende der zwanziger Jahre auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen war, wie seine Arbeit als Statist in den Filmstudios Babelsberg oder die Gründung seiner Firma für Filmberatung.19 1933 erlitt Lampe einen doppelten Schicksalsschlag: Zum einen wurde er aufgrund eines Spionageverdachts zugunsten Frankreichs von der Gestapo verhaftet und in München interniert und zum anderen lag seine Tochter im Sterben, die Ende der zwanziger Jahre an Tuberkulose erkrankt war. Dennoch entschied sich Aleksej von Lampe für eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten, da er darin die einzige Möglichkeit für die russischen Emigranten sah, einen Sieg über die Bolschewiki zu erringen.20 Aus Angst vor dem Zugriff durch die Rote Armee floh Lampe gegen Ende des Krieges mit seiner Frau nach Lindau an den Bodensee, wo er eine Vertretung des Russischen Roten Kreuzes eröffnete.21 1948 zog die Familie Lampe nach München und 1950 weiter nach Paris. In Frankreich übernahm Aleksej von Lampe die Vertretung der I. Abteilung der ROVS und wurde 1957 vom scheidenden Vorsitzenden General Archangel’skij zu dessen Nachfolger ernannt. Diese Position hatte Lampe bis zu seinem Tod 1967 inne.22

18 19 20 21 22

Kolontari 2012: 15. Sˇirokova 2000. Sˇirokova 2001. Kolontari 2012: 16. Kolontari 2012: 16.

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Typologie sozialer Beziehungen des Generalmajors Aleksej von Lampe Im Folgenden werden mittels einer Typologisierung die verschiedenen sozialen Beziehungen des Generalmajors Lampe untersucht. Nach Kuckartz gilt: „Die Typenbildung als Verallgemeinerungsstrategie ist, so gesehen, eine quasi ,natürliche‘ Strategie der Mustererkennung und Verallgemeinerung, die von Individuen auch im Rahmen des Alltagslebens praktiziert wird.“23 Daher ist davon auszugehen, dass Aleksej von Lampe seine Beziehungen im Tagebuch bereits unbewusst typisiert hat. Durch die Analyse der Tagebuchaufzeichnungen konnten sechs verschiedene Beziehungstypen herausgearbeitet werden, bei denen es sich um so genannte natürliche Typen handelt. Die Konstruktion dieser Art von Typen erleichtert den Umgang mit einzelnen Personen sowie Gruppen, da der natürliche Typ zwar möglichst homogen sein sollte, er aber auch Varianzen aufweisen kann, so dass nicht alle Personen exakt mit dem Muster übereinstimmen müssen.24 Hierbei handelt es sich erstens um Aleksej von Lampes Familie, zweitens um seine Freunde, drittens um seine Militärkameraden, viertens um seine Kollegen, fünftens um seine Feinde sowie sechstens um seine Gönner und Klienten.

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Familie

Aleksej von Lampes Familie umfasste eine überschaubare Anzahl an Personen: Seine Ehefrau Natal’ja Michajlovna, Tata, seine Tochter Evgenija Alekseevna, genannt Zˇenja, sowie seine Schwester Vera Aleksandrovna Mel’nickaja25, geborene Lampe, und deren Ehemann Nikolaj Michajlovicˇ Mel’nickij26. Zunächst lässt sich festhalten, dass sich Aleksej von Lampe trotz seiner tiefen Überzeugung von der Weißen Sache zum Wohl seiner Familie gegen eine aktive Beteiligung im Kampf gegen die Bolschewiki und bewusst für die Flucht entschied. Der Sorge um seine Frau und seine Tochter galt Lampes höchste Priorität. So schrieb Aleksej von Lampe im November 1919 kurz vor der Emigration in seinem Tagebuch: 23 Kuckartz 2006: 4048. 24 Kuckartz 2006: 4052. 25 Vera Aleksandrovna Mel’nickaja (geb. von Lampe), (1889–1960), lebte in der Emigration mit ihrem Mann Nikolaj Mel’nickij im Königreich Serbien, Kroatien und Slowenien, in Ungarn sowie in Frankreich und widmete sich hauptsächlich gesellschaftlichen und wohltätigen Aufgaben, Kolontari 2012: 78. 26 Nikolaj Michajlovicˇ Mel’nickij (1887–1965): Militär der russischen Armee und Regimentskamerad Lampes, Kolontari 2012: 78.

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„Aber Tata und Zˇenja27 muss ich aus dem herausführen, was war, für sie opfere ich alles und für ihre Rettung habe ich alles in meiner Kraft stehende unternommen. Und wenn dann sterben wir alle zusammen. […] Ich habe absolut keine Angst vor dem Tod, aber Armut und Not für Tata und Zˇenja – das ist das allerschlimmste.“28

An diesem Eintrag lässt sich der Stellenwert, den seine Familie für Aleksej von Lampe hatte, ablesen, alleine wäre er bereit gewesen, zu sterben, die Folgen für Frau und Tochter hingegen wären für ihn unerträglich gewesen. Die Entscheidung zum Schutz seiner Familie zu emigrieren, reflektierte Aleksej von Lampe 1923 wieder in seinem Tagebuch, wobei er erneut zu dem Schluss kam, dass er 1920 zutiefst richtig gelegen habe, seinem Instinkt zu folgen und um jeden Preis und unter Lebensgefahr für die Familie die Ausreise nach Konstantinopel zu veranlassen.29 Dieses hohe Schutzbedürfnis seiner Familie gegenüber wurde zusätzlich durch Zˇenjas schlechten Gesundheitszustand verstärkt, deren Tuberkulose-Erkrankung in den 1920er Jahren zunehmend zu Tage trat. In den unruhigen Zeiten der Weimarer Republik steigerte sich das Bedürfnis seine Familie zu schützen weiter : So schrieb Lampe im August 1923, als die Angst vor einem kommunistischen Umsturz in Berlin unter den Emigranten zunahm, dass er seine Familie lieber in Sicherheit wisse: „Aber trotzdem würde ich bevorzugen, dass sie außerhalb der Stadt blieben – ich bin in schweren Zeiten viel ruhiger, wenn ich keine Angst um sie haben muss! Und wenn sie hier sind, bin ich viel zu nervös, das ist natürlich klar!“30 Am Vorabend seiner Dienstreise nach Budapest im Dezember 1923 steigerte sich diese Unruhe noch erheblich, wobei er nebenbei eine interessante Wahrnehmung von den deutschen Kommunisten präsentierte: „Es beunruhigt mich sie [Tata] und Zˇenja in Berlin alleine zu lassen, aber ich habe volles Vertrauen, dass bis zu meiner Rückkehr nichts passieren wird, erstens sind die Kommunisten sehr geschwächt, und zweitens, wie wenig lustig das auch sein mag, aber ich glaube, dass die Deutschen keine Feiertage für den Aufstand verschwenden! Das entspricht nicht ihrem Charakter.“31

Aleksej von Lampes Schwester Vera lebte 1923 mit ihrem Mann Nikolaj in Estland, besuchte ihre Familie jedoch regelmäßig in Berlin. Bei diesen Treffen wurde die enge Bindung der beiden Geschwister sehr deutlich. So berichtete Lampe am 25. Juli 1920: „Ich war sehr froh, Vera und Nikolaj zu sehen, viel Wasser ist unter der Brücke geflossen […]. Den ganzen Abend haben wir ge-

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Kosename für seine Tochter Evgenija Alekseevna von Lampe (1913–1933). Tagebuch vom 07. 11. 1919. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 1, l. 114. Tagebuch vom 25.–26. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 50. Tagebuch vom 02.–03. 08. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 27. Tagebuch vom 01. 12. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 13, l. 51.

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sessen und geredet, einander unterbrechend, wir konnten uns nicht satt reden.“32 Den Charakter der familiären Beziehungen verdeutlicht Aleksej von Lampe in seinem Tagebuch durchweg durch gefühlsbetonte Einträge. Insbesondere die enge Beziehung zu seiner Frau zeigte sich in Zeiten von Krankheiten deutlich, in denen die Eheleute sich bedingungslos zur Seite standen.33 Während einer Typhuserkrankung 1919 hielt Aleksej von Lampe in seinem Tagebuch folgende Worte über seine Nächsten fest: „Vom Typhus erholen sich nicht alle. So will ich in dieser Minute Tata für alle Freuden des Lebens dankbar sein, dass sie mir die Ehe mit ihr und unser gemeinsames, 12jähriges Leben geschenkt hat. Ich bin grenzenlos glücklich […]. Mein Leben lang habe und werde ich nur Tata lieben, in der jüngsten Vergangenheit wurde ich darin nur bestärkt. Möge der Herr Tata […] und die kleine Zˇenjusˇka segnen, welche ich mit ganzem Herzen liebe, wie ein Teil Tatas und für welche ich mein ganzes Leben dankbar sein werde.“34

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Aleksej von Lampes familiäre Beziehungen sein wichtigster Bezugspunkt in der Emigration waren, da sie nicht zuletzt auch der Anlass für diese darstellten. Seine Familie lässt sich deshalb als Lampes Motivation und Antrieb für seine Handlungen und Entscheidungen für und in der Emigration betrachten. Diese Form der Beziehung Lampes ist von großer emotionaler Nähe und einem starken Verantwortungsbewusstsein bestimmt. Dass es sich hierbei um affektive Beziehungen handelte, lässt sich auch durch den Stil der Tagebucheinträge belegen, die in der Regel von großer Sachlichkeit geprägt sind, in Bezug auf die Familie jedoch auch sprachlich von großer Intimität zeugen.

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Freunde

Obwohl Aleksej von Lampe in seinem Tagebuch niemals die ausdrückliche Zuschreibung der ,Freundschaft‘ (russ. druzˇba) verwendete, lassen sich aufgrund der Intensität und Häufigkeit der Treffen mit einigen Personen zumindest Rückschlüsse darauf ziehen, dass Lampe diesen Personen freundschaftlich zugetan war. Zu diesem kleinen Kreis gehören sein Assistent Nikolaj Nikolaevicˇ ˇ ebysˇev35, der Jurist und Philosoph Aleksej Aleksandrovicˇ Il’in36 sowie der C 32 33 34 35

Tagebuch vom 25. 07. 1920. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 3, l. 18. Tagebuch vom 28.–30. 11.1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 13, l. 47. Tagebuch vom 1.–2. 07. 1919. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 1, l. 6. ˇ ebysˇev (1865–1937): Jurist und Politiker. 1921 wurde er Berater für Nikolaj Nikolaevicˇ C politische Angelegenheiten bei Aleksej von Lampe. Er war Vorsitzender der Vereinigung

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Politiker und ehemaliger Führer der Partei der Oktobristen Aleksandr Ivanovicˇ Gucˇkov37. ˇ ebysˇev bezeichnete Aleksej von Seinen Assistenten Nikolaj Nikolaevicˇ C Lampe als einen liebenswürdigen und aufmerksamen Menschen, mit dem er ˇ ebysˇev eine ähnliche politische Überzeugungen teilte.38 Darüber hinaus spielte C besondere Rolle in Lampes literarischem Wirken, da er letzteren dazu antrieb, nicht nur das Tagebuch regelmäßig zu führen, sondern zusätzlich an einem Werk über die Weiße Bewegung zu arbeiten.39 Den aus Moskau ausgewiesenen Professor Aleksej Aleksandrovicˇ Il’in betrachtete Aleksej von Lampe zunächst kritisch, da er nicht freiwillig emigriert war und er ihm daher Nähe zu den Bolschewiki unterstellte. So war die erste Begegnung zwischen den beiden in Il’ins Haus in Grunewald im Januar 1923 von Misstrauen geprägt: ˇ ebysˇev bei Il‘in in Grunewald und wir haben lange mit ihm und „Abends war ich mit C seiner Frau gesprochen. Sie fragten uns sehr lange nach der Armee und ich sie nach ihrem Leben, ich habe ihm viel erzählt! Ihren Aussagen nach waren die ganzen fünf Jahre, die sie in der Professorenkolonie gelebt haben, ein Kampf gegen die Bolschewiki, weil sie auch ,weiß‘ dachten usw. Er kam mir aufrichtig vor, aber dann hat mir der Gedanke daran, woher er 60.000 Mark hat, um die Wohnung zu bezahlen, das heißt fünf Dollar, die Stimmung verdorben, ja sogar die Koinzidenz, dass sein Haus dem leiblichen Bruder Trotzkis gehört.“40

Ende Januar erschien ein Artikel in der russischen Emigrantenzeitung Novoe Vremja [Neue Zeit], die Lampes Befürchtungen über die ausgewiesenen Professoren bestätigte, woraufhin Aleksej von Lampe Il’in zur Aufklärung zu sich bestellte:

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russischer Juristen, Mitglied des Vorstands der Berliner monarchistischen Vereinigung. 1923 wurde er von General Vrangel’ zum Vorsteher seiner zivilen Kanzlei in Belgrad ernannt, die er bis August 1926 leitete. Danach lebte er in Paris, Goldin 2006: 743. Aleksej Aleksandrovicˇ Il’in (1883–1954): Russischer Religionsphilosoph und Jurist. Wurde 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesen. In der Emigration lebte er in Deutschland, wo er Professor am Russischen Wissenschaftlichen Institut war, ab 1938 lebte er in der Schweiz. Man zählt Il’in zu den führenden Ideologen der Weißen Emigration, Goldin 2006: 667f. Aleksandr Ivanovicˇ Gucˇkov (1862–1936): Politiker. Vor der Oktoberrevolution war er Mitglied der Staatlichen Duma und Führer der Partei der Oktobristen. Er spielte eine aktive Rolle bei der Abdankung Nikolajs II. und war Kriegs- und Marineminister der Provisorischen Regierung. In der Emigration seit 1919, Kolontari 2012: 26. Tagebuch vom 07.–12. 03. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 93; Tagebuch vom 31.08.–02. 09. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 56. Tagebuch vom 25.–28. 08. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 46. Tagebuch vom 15. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 42.

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„In ,Novoe Vremja‘ erschien ein Artikel bezüglich der aus der Sovdepija41 ausgewieˇ ebysˇev und senen Professoren, in dem all das wiederholt wird, was Nikolaj Nikolaevicˇ C ich in den Minuten des Zweifelns über sie dachten! Wir haben heute Professor Il’in zu mir eingeladen und wir wollen, dass er uns über diesen Artikel Aufschluss gibt! Interessant ist, dass er uns sagen wird, dass es sich darum handelt, dass selbst die Professoren übereinander Galle verspritzen. So sagte Il‘in mir, dass er Cvetkov nicht traut und wem noch, daran erinnere ich mich nicht.“42

Der Hinweis darauf, dass auch die Professoren sich untereinander bekriegten, verdeutlicht die innere Zerrissenheit der russischen Emigration besonders. Aleksej von Lampe schienen Il’ins Argumente zu überzeugen, denn seine Vorbehalte ihm gegenüber nahmen ab und es entspann sich ein regelmäßiger und intensiver Austausch zwischen den beiden. Mit dem Politiker Aleksandr Ivanovicˇ Gucˇkov teilte Lampe – trotz unterschiedlicher politischer Ansichten – gemeinsame Vorstellungen über die Positionierung und die Zukunft der Weißen Bewegung, die vor allem das Festhalten an der Monarchie beinhaltete. Die zahlreichen Treffen dieses Vierergespanns zeichneten sich neben gemeinsamen Ausflügen ins Berliner Umland besonders durch intellektuelle Gespräche über die gegenwärtige Situation innerhalb der russischen Emigrantenkolonie, die politische Lage in Deutschland und in Sowjetrussland sowie die Zukunft der Weißen Bewegung aus. Die vier Personen engagierten sich in diversen emigrantischen Einrichtungen, auf deren Ausrichtung sie Einfluss nehmen wollte, weshalb sie sich auch strategisch untereinander absprachen. Dazu zählten unter anderem das Russische Wissenschaftliche Institut43 und die diversen monarchistischen Einrichtungen und Organe in Berlin.44 Der intellektuelle Austausch kann somit als das Hauptcharakteristikum dieser Freundschaft bezeichnet werden, die beinahe Züge eines Beraterstabs trug. Trotz einiger Differenzen oder anfänglicher Vorbehalte traf sich das Vierergespann regelmäßig zu Diskussionen, aber auch zu Freizeitaktivitäten, so dass zumindest 41 Sovdepija ist abgeleitet von Sovet deputatov [Abgeordnetenrat] und eine unter den russischen Emigranten gebräuchliche Bezeichnung für Sowjetrussland bzw. die Sowjetunion. 42 Tagebuch vom 20.–24. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 48. 43 Das Russische Wissenschaftliche Institut (RWI) in Berlin wurde 1923 gegründet und ist zwischen Schule und Universität angesiedelt. Das RWI wurde staatlich gefördert, weshalb es unpolitisch sein und in Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas stehen musste. Das Ziel des RWI war laut Satzung das „Studium der russischen geistigen und materiellen Kultur und die Verbreitung der Kenntnisse hierüber unter Russen und Ausländern und außerdem die Gewährung des Beistandes der russischen Jugend zwecks Erlangung des Rechts, die Hochschulen in Deutschland zu besuchen“. Die Lehrenden fanden sich vor allem unter den 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesenen Wissenschaftlern, Dodenhoeft 1993: 89ff. 44 Tagebuch vom 29. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 56; Tagebuch vom 01. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 57.

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gegenseitige Wertschätzung vorhanden war. Die vier genannten Personen schlossen sich trotz unterschiedlicher politischer Überzeugungen und Gründe für die Emigration zusammen, die Ablehnung des Bolschewismus scheint hier der einende und identitätsstiftende Faktor zu sein. In der Abgrenzung zu einem gemeinsamen Feind, dem Anderen, bildete sich also dieser Beziehungstyp heraus.

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Militärkameraden

Zu den militärischen Verbindungen des Generalmajors Lampe zählen vor allem Mitglieder der ROVS oder Anhänger der Weißen Bewegung. Zu nennen sind hier Dmitrij Nikolaevicˇ Potockij45, Andrej Grigor’evicˇ Sˇkuro46 und Vasilij Vital’evicˇ Sˇul’gin47 (ROVS) sowie Pavel Rafailovicˇ Bermont-Avalov48 (Weiße Bewegung). Dmitrij Nikolaevicˇ Potockij stand Aleksej von Lampe eher kritisch gegenüber, da dieser die Absicht hatte, sich als Spion für die Weiße Bewegung bei den Bolschewiki in Deutschland zu betätigen, wobei er sich Aleksej von Lampe zufolge aber sehr ungeschickt anstellte und es somit zum Nachteil der Weißen Bewegung gereichen würde.49 Andrej Grigor’evicˇ Sˇkuro zählte zum rechten Lager der russischen Emigration und visierte die Gründung einer faschistischen Vereinigung an, die den aktiven Kampf um die russische Heimat zum Ziel haben sollte. Dies entsprach zwar nicht Aleksej von Lampes Gesinnung, Sˇkuros Vorhaben verfolgte er den45 Dmitrij Nikolaevicˇ Potockij (1880–1949): Generalmajor und Mitglied der Weißen Bewegung. Von 1920 bis 1923 Militärvertreter Vrangel’s im Königreich Serbien, Kroatien und Slowenien, Kolontari 2012: 19. 46 Andrej Grigor’evicˇ Sˇkuro (1887–1947): Generalleutnant der Kubaner Kosaken. Er wurde von Denikin zum General ernannt. In der Emigration lebte er in Frankreich. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges beschäftigte er sich mit dem Aufbau und der Organisation kosakischer Einheiten für eine Division der SS. Nach dem Krieg wurde er von den Engländern an die Sowjetunion ausgeliefert, 1947 wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet, Kolontari 2012: 362f. 47 Vasilij Vital‘evicˇ Sˇul’gin (1878–1976): Politiker, der ebenso wie Gucˇkov eine Rolle bei der Abdankung Nikolajs II. spielte. Sˇul’gin war 1918 wie Lampe an dem Aufbau der Freiwilligenarmee beteiligt. Ab 1920 lebte er in der Emigration in Jugoslawien, wo er 1944 festgenommen und den Sowjets ausgeliefert wurde. 1956 wurde Sˇul’gin freigelassen und 1976 starb er in Vladimir, Goldin 2006: 749f. 48 Pavel Rafailovicˇ Bermont-Avalov (1877–1964/1974): Generalmajor der russischen Armee und Teilnehmer am Bürgerkrieg. In der Emigration lebte er in Deutschland, wo er einer der Führer der russischen nationalsozialistischen Bewegung (ROND) war. Zunächst arbeitete er mit den deutschen Nationalsozialisten zusammen, brach aber 1941 abrupt mit ihnen und emigrierte in die USA, Kolontari 2012: 218. 49 Tagebuch vom 17.–18. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 43; Tagebuch vom 06. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 63.

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noch mit Interesse, da der Einsatz für die Heimat Lampes erklärtes Ziel war.50 Sˇkuro engagierte sich ebenso wie Lampe im Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf bei Berlin51, doch trotz dieser Gemeinsamkeit intensivierte sich der Kontakt zwischen den beiden nicht, da Sˇkuro ein überzeugter Anhänger des Großfürsten Kirill Vladimirovicˇ war, der als Cousin des letzten Zaren Nikolaus II. den Thron für sich beanspruchte.52 Aleksej von Lampe hingegen unterstützte den Großfürsten Nikolaj Nikolaevicˇ bei seinem Thronanspruch, der ebenfalls ein Cousin Nikolaus II. war. Mit Vasilij Vital’evicˇ Sˇul’gin war Aleksej von Lampe bereits in Russland bekannt gewesen, besonders während des Bürgerkrieges trafen sich die beiden häufig in der Stadt Carizyn.53 Obwohl die beiden eine gemeinsame Überzeugung teilten, wollte Lampe den Kontakt zu Sˇul’gin auf Grund persönlicher Ansichten nicht intensivieren.54 Über Pavel Rafailovicˇ Bermont-Avalov dachte Aleksej von Lampe, dass er aufrichtig, anständig und bescheiden sei und für den alten Führer der Weißen Bewegung war er stets voller Bewunderung. Dennoch war Lampe der Meinung, dass Bermont aufgrund seiner Naivität und seines Abenteurertums keine zukünftige Rolle in der Weißen Bewegung spielen würde.55 Die Treffen mit diesen Personen beinhalten fast ausschließlich Diskussionen über die gegenwärtige Lage und die Zukunftsaussichten der Weißen Bewegung wie auch der ROVS, über die jedoch unter den Militärs kein Konsens herrschte. Die russische militärische Emigration bestand aus vielen verschiedenen Strömungen und focht diverse innere Kämpfe aus, die sich auch in den militärischen Beziehungen Aleksej von Lampes widerspiegelten. Daher ist für diese Kameradschaft vor allem die Überzeugung des Antibolschewismus, die den Zusammenhalt der Weißen Bewegung förderte, charakteristisch. Kennzeichnend für diesen Typ sozialer Beziehung ist ebenfalls die Rangordnung der Militärs, die auch in der Emigration und insbesondere in der ROVS noch immer von Bedeutung waren. Daher handelt es sich hierbei nicht zwangsläufig um gleichberechtigte Beziehungen. Dennoch zeichneten sich diese interessanterweise häufig 50 Tagebuch vom 05.–06. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 36. 51 Das Lager Wünsdorf war ein Kriegsgefangenenlager für russische Offiziere des Ersten Weltkriegs, in dem in erster Linie Offiziere der Bermondt-Armee untergebracht waren. Es wurde vom Russischen Roten Kreuz unter der Leitung von Fedor Sˇlippe betreut. Mit finanziellen Mitteln des amerikanischen YMCA wurde in Wünsdorf eine technische Schule errichtet. Nach seiner Auflösung als Lager wurden die Baracken an das Russische Rote Kreuz verpachtet und 1923 lebten dort immer noch etwa 300 Russen, Baur 1995. 52 Tagebuch vom 08.–14. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 37; Tagebuch vom 03.–10. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 66. 53 Tagebuch vom16.–20. 04. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 36. 54 Tagebuch vom 03.–10. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 60–61. 55 Tagebuch vom 03.–10. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 65.

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durch besondere Stabilität aus, da aufgrund von gemeinsamer militärischer Ausbildung oder Kriegserfahrungen eine besondere Form der Verbundenheit und Kameradschaft entstanden war, die jedoch nicht zwangsläufig zu einer Affektbildung führen musste. Dieser Beziehungstyp stellt darüber hinaus insofern eine Besonderheit dar, als dass er Lampes Netzwerk auf weitere Emigrationsorte wie Paris oder Belgrad erweiterte.

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Kollegen

Aleksej von Lampes berufliche Kontakte umfassen Theodor Sˇlippe56, den Leiter des Russischen Roten Kreuzes in Deutschland, und Sergej Botkin57, den Leiter der Vertrauensstelle für russische Flüchtlinge58, welche die russische Botschaft in Berlin ersetzte. Letzteren beschrieb Lampe nach ihrem ersten gemeinsamen Treffen in Berlin als nicht sonderlich sympathisch: „Tagsüber war ich bei Botkin, unserem diplomatischen Vertreter. Ein knapper Eindruck: Farblos, dem Blick nach krank und Pessimist.“59 Neben den beiden genannten russischen Vertretern gehörte aufgrund von Lampes Tätigkeit als Militärvertreter der Weißen Bewegung ebenfalls der ungarische Militärvertreter in Berlin, Ferenc Abele, zum Typ der Kollegen60. Mit diesem diskutierte Aleksej von Lampe in erster Linie innere Angelegenheiten der Emigrantenkolonie in Berlin sowie die politische Situation in Deutschland und die davon abhängende Positionierung der Emi-

56 Fedor Vladimirovicˇ Sˇlippe (1874–1951): Vorsitzender der Russischen Gesellschaft des Roten Kreuzes in Berlin, Kolontari 2012: 190. 57 Sergej Dmitrievicˇ Botkin (1869–1945): Russischer Diplomat. Von 1919 bis 1920 vertrat er in Deutschland die Russische Gesellschaft des Roten Kreuzes und die Regierungen Kolcˇaks und Denikins. Von 1920 bis 1933 leitete er die Vertrauensstelle für russische Flüchtlinge in Deutschland, die von der deutschen Regierung anerkannt war. 1933 verließ er Deutschland und starb 1945 in Paris, Kolontari 2012: 378f. 58 Die Vertrauensstelle für russische Flüchtlinge in Deutschland war die zentrale Anlaufstelle für die Emigranten in Berlin. Diese war aus der zaristischen Botschaft und der Russischen Delegation hervorgegangen. Letztere wurde zunächst offiziell nicht anerkannt, war aber de facto die Vertretung der Russen in Deutschland. Nach dem Abschluss des Vertrags von Rapallo wurde die Delegation in Vertrauensstelle umbenannt. Ihre Tätigkeiten sind nicht genau bekannt, aber wahrscheinlich erteilte sie ebenso wie die Delegation Einreisegenehmigungen, stellte Pässe aus, übersetzte Dokumente und beglaubigte diese Übersetzungen. Außerdem koordinierte sie die verschiedenen emigrantischen Einrichtungen in Berlin, Dodenhoeft 1993: 36f. 59 Tagebuch vom 06. 08. 1920. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 3, l. 36. 60 Ferenc Abele (wahrscheinlich Ferenc Abele von und zu Lilienberg) (1875–1928): Ungarischer Generalleutnant und Diplomat. In den 1920er Jahren geheimer Militäragent Ungarns in Berlin, Kolontari 2012: 188.

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granten. Inhalt der Gespräche waren insbesondere die Lage im Ruhrgebiet sowie die Gefahr eines kommunistischen Umsturzes.61 Die Beziehungen zwischen Lampe und seinen Kollegen waren zweckgebunden und ihr Entstehen allein auf die beruflichen Aktivitäten zurückzuführen. Hinsichtlich dieser Beziehungen ist Lampes Wortwahl in seinem Tagebuch deskriptiv und trocken, was bedeutet, dass Affekte eine nachrangige Bedeutung hatten. Interessanterweise ist für diese Gruppe charakteristisch, dass sich ihre Mitglieder immer wieder in den Vorständen der verschiedenen Emigrantenorganisationen finden lassen. Dies lässt den Schluss zu, dass es nur ein kleiner Personenkreis war, der die Belange der Emigrantenkolonie nach innen und nach außen regelte. Aleksej von Lampes berufliche Beziehungen waren für ihn von großer Bedeutung, da diese es ihm ermöglichten, seine persönlichen Interessen zu verfolgen, sich aktiv in die Emigrantenkolonie einzubringen und seine eigene Position und seinen Einfluss innerhalb derselben zu stärken. So konnte Lampe durch seine zahlreichen Vorstandsämter in emigrantischen Organisationen und Vereinen die gemeinsam mit Freunden und Kameraden entwickelten Vorstellungen und Vorhaben umsetzen. Außerdem ermöglichten ihm jene Ämter auch, den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen und somit seinem größten Anliegen nachzukommen.

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Feinde

Die Feinde des Generalmajors Aleksej von Lampe stellen einen weiteren Beziehungstyp dar, da diese ebenfalls Einfluss auf seinen Handlungsspielraum und insbesondere auf das Eingehen neuer Beziehungen hatten. Hierbei handelt es sich erstmals nicht mehr um einzelne Personen, sondern um die politische Gruppe der Bolschewiki sowie den deutschen Vorwurf, dass Lampe frankophil sei und Spionage für Frankreich betreibe. Diesem Vorwurf und der damit verbundenen unterstellten Spionage für Frankreich sah sich ein Großteil der russischen Emigration in Berlin ausgesetzt, da vor allem die russische Oberschicht traditionell frankophil erzogen worden war. So berichtete Aleksej von Lampe beispielsweise Ende Januar 1923 von der Verhaftung des russischen Oberst Bibikov : „Gleichzeitig verstärkt die Stimmung gegen die Franzosen alles und, wie immer, wird wieder auf die Russen geschlagen. Neulich wurde Oberst Valerian Bibikov verhaftet, mit sehr rauer Handhabung gegen ihn, unter dem Vorwurf der Spionage gegen die Deutschen für die Franzosen! Warum er zu den entrechteten Russen erfasst wird, wenn 61 Tagebuch vom 27.-28. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 52; Tagebuch vom 18.–20. 06. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 11, l. 66.

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es jetzt durch den totalen Zerfall am einfachsten ist, dass die Deutschen für gutes Geld selbst handeln!!“62

Doch Oberst Bibikov war nicht das einzige Opfer dieses Vorwurfes, auch Lampe selbst sah sich diesem mehrfach ausgesetzt, wie es aus einem Tagebucheintrag von April 1923 hervorgeht: „Und außerdem habe ich erfahren, dass mir von den Deutschen vorgeworfen wird, dass ich mit der Entente arbeite! Gut gelaufen! Der einzige Militärvertreter, den ich sehe, ist der ungarische [Ferenc Abele], mit den Franzosen habe ich nur Visitenkarten ausgetauscht, wobei sie mir ihre nicht gegeben haben, und ich ging nur auf Befehl Millers zu ihnen, und wo die Engländer sind, weiß ich nicht mal! Das ist die altbewährte Methode der Verleumdung!“63

Doch es blieb nicht beim Vorwurf der Frankophilie oder generellen Ententefreundlichkeit, denn gleichzeitig wurde Aleksej von Lampe von französischer Seite Germanophilie und Spionage für die Gegenseite unterstellt, was seinen Handlungsspielraum sowohl in Deutschland als auch in Frankreich erheblich eingrenzte.64 Der Bolschewismus war nicht nur eine Bedrohung für die russische Heimat, sondern verfolgte die Russen auch bis in die Emigration, insbesondere nachdem 1922 der deutsch-russische Vertrag von Rapallo65 unterzeichnet worden war. Durch diesen waren die Bolschewiki nun in der Lage, Druck auf die deutsche Regierung auszuüben und somit gegen die russischen Emigranten in Deutschland vorzugehen. Die deutsche Regierung kam diesem Wunsch jedoch nur insofern nach, als dass beispielsweise die russische Vertrauensstelle in Berlin ihre Pässe fortan anders betiteln musste, diese jedoch weiterhin ausstellen durfte.66 Die Bolschewiki und besonders ihre Agenten wurden mit der Zeit jedoch immer aktiver in der deutschen Hauptstadt. So musste Aleksej von Lampe im April 1923 feststellen, dass einer seiner Angestellten von den Bolschewiki unter Druck gesetzt worden war, Informationen über die Vertreter der russischen Emigration weiterzugeben.67 Auch über die Existenz von diversen bolschewistischen Agenten in den Emigrantenorganisationen in Berlin wurde Lampe in Kenntnis

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Tagebuch vom 31.01.–01. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 57. Tagebuch vom 16.–20. 04. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 11, l. 23. Tagebuch vom 23.–24. 04. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 19. Der Vertrag von Rapallo legte die Grundlagen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland. Nach dem Abschluss des Vertrages wurden die russischen Emigranten staatenlos und waren nun gänzlich auf die Russische Vertrauensstelle angewiesen, die wiederum aus dem Botschaftsgelände ausziehen musste, das Sowjetrussland zur Verfügung gestellt wurde, Dodenhoeft 1993: 32, 132. 66 Tagebuch vom 01.–04. 03. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 77. 67 Tagebuch vom 05.–07. 04. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 11, l. 12.

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gesetzt, was seinen Handlungsspielraum und sein Vertrauen in Personen maßgeblich beeinflusste.68

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Gönner und Klienten

Zu Beginn der zwanziger Jahre war die Situation für die russischen Emigranten in Berlin sowohl politisch als auch ökonomisch nicht leicht, vor allem die Auseinandersetzungen mit den Wohnungsämtern oder die Frage nach Passausstellungen und -verlängerungen erschwerten ihren Alltag, insbesondere nach dem Verlust der russischen Staatsangehörigkeit 1922.69 Wenn man von diesen Abhängigkeiten einmal absieht, befand sich Aleksej von Lampe aufgrund seiner Position und seines regelmäßigen Einkommens in einer relativ komfortablen Situation, bis 1923 wurde lediglich ein Verhältnis identifiziert, in dem Aleksej von Lampe die Rolle des Klienten einnahm: Als der bereits erwähnte Angestellte 1923 von den Bolschewiki bezüglich der Freigabe von Dokumenten unter Druck gesetzt wurde, war er auf die Unterstützung der deutschen Behörden angewiesen, die sich als deutlich hilfreicher als die russische Vertrauensstelle in Berlin erwiesen.70 In seiner Rolle als Patron wurde Aleksej von Lampe innerhalb des Jahres 1923 mehrfach aktiv. So lieh er verschiedenen Emigranten Geld, wie beispielsweise dem Militär Efimovskij71, oder vermittelte ihnen Arbeit, wie dem deutschen Major des Generalstabs, Major Franz72. Besonders interessant ist hier, dass Aleksej von Lampes Einsatz oder Fürsprache sich nicht nur auf die russischen Emigranten in seiner Umgebung konzentrierten, sondern offenbar auch für hilfesuchende Deutsche, mit denen er bekannt war. Sein Engagement in der Invaliden- sowie in der Offiziersvereinigung kann ebenfalls als Form der Patronage betrachtet werden. Aleksej von Lampe setzte sich nicht nur für die alltäglichen Belange der beiden Einrichtungen bzw. Organisationen ein, wie etwa die Einrichtung einer gut zu erreichenden Kantine73, sondern kümmerte sich auch um die Probleme der einzelnen Mitglieder, wie zum Beispiel den Lohn der Offiziere:

68 Tagebuch vom 20.–21. 08. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 42. 69 Tagebuch vom 15.–17. 07. 1922. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 8, l. 118; Tagebuch vom 31.07.–02. 08. 1922. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 9, l. 7. 70 Tagebuch vom 05.–07. 04. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 11, l. 12. 71 Tagebuch vom 22. 11. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 13, l. 43. 72 Tagebuch vom 04.–08. 08. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 28. 73 Tagebuch vom 20.–24. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 47; Tagebuch vom 29.–30. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 55.

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„Ich rechne damit, dass meine Offiziere sich niemals darauf einlassen, obwohl ihre materielle Lage mit jedem Tag schlimmer wird. Jetzt erhält mein Offizier 122 Franken, das heißt 150.000, ein Facharbeiter 400.000, und der jüngste Angestellte der sowjetischen Botschaft 600.000 Mark! Das ist das Leben. Und 100.000 Mark sind jetzt buchstäblich die Lebenshaltungskosten in Berlin!“74

Darüber hinaus setzte Aleksej von Lampe sich auch für die russischen kriegsgefangenen Offiziere in den Lagern Wünsdorf und Scheuen-Celle75 und diejenigen ein, die nach der Entlassung aus der Haft nicht mehr nach Sowjetrussland zurückkehren wollten.76 Das von ihm besuchte Lager Scheuen-Celle beschrieb Aleksej von Lampe wie folgt: „Ich bin ins Lager Sˇejn-Zelle [Scheuen-Celle] gefahren. Die Baracken befinden sich auf einem Flugplatz, auf dem die Reparationskommission zwei steinerne Gebäude gesprengt hat. Die Baracken sind kalt, vom Bahnhof sind es zwei Werst, gegenwärtig kostet Hin- und Rückfahrt nach Berlin in der 3. Klasse 1000 [Mark], man erlebt eine vollkommene Abgeschiedenheit! Sie leben schlecht, sie verdienen mit Mühe einen Groschen. Der General der Infanterie des Generalstabsgeneral, Markov, einst Stabschef des Irkutsker Gebiets, und dann der Armee, stickt Kreuzstich… seine Frau trägt das Brennholz selbst über fünf Werst… insgesamt 71 Militärs, davon 46 Kader, immer mehr alte Menschen, die jetzt in einem Klub vereint sind… Klatsch und Gezänk […]. Das Leben ist hart, aber, und das Gott sei Dank, immerhin gibt es ein Dach…“77

Dieses trostlose Bild des Kriegsgefangenenlagers motivierte Aleksej von Lampe, sich verstärkt für die russischen Offiziere einzusetzen, so dass er beispielsweise Tanzveranstaltungen organisierte, deren Einnahmen den Kriegsgefangenenlagern zugutekamen. Eine ähnliche Motivation bot die Beerdigung des ehemaligen Militärs Palicyn, die in absoluter Kärglichkeit stattgefunden hatte, da die Mittel der Hilfsorganisationen begrenzt waren. Hierzu schrieb Lampe im Februar 1923: „Gestern haben wir Palicyn begraben, das Begräbnis war sehr schlecht – der Sarg hinreichend, wurde zum Haus getragen, und den Verstorbenen trugen sie von der 5. Etage in einem Laken zum Sarg! […] Und ich habe dafür keine Mittel und russische Institutionen wie das Rote Kreuz und Botkin haben direkt jegliche Hilfe bei der Beerdigung abgelehnt, weil ,es schon nicht für die Lebenden reicht‘! Ich denke, dass man mir die Schuld für die Kärglichkeit der Beerdigung zuschreiben muss!“78

An diesem Eintrag wird deutlich, dass auch Aleksej von Lampes Möglichkeiten der Unterstützung begrenzt waren. Er scheint aber der Ansicht zu sein, dass er 74 Tagebuch vom 14.–18. 03. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 98. 75 Scheuen-Celle war ebenfalls ein Lager für russische kriegsgefangene Offiziere des Ersten Weltkriegs. 76 Tagebuch vom 08.–14. 01. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 37. 77 Tagebuch vom 25.–30. 06. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 11, l. 78–79. 78 Tagebuch vom 21.–22. 02. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 10, l. 76.

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die Verantwortung für die russischen Militärs habe, da er die Schuld für dieses nicht standesgemäße Begräbnis bei sich sucht. Weitere Tagebucheinträge hinterlassen den Eindruck, dass dieses selbst zugeschriebene Versagen Lampes als Motivation dafür diente, den Emigranten verstärkt zu helfen. So tauchten im Verlauf des Jahres 1923 weitere – allerdings anonymisierte – Personen auf, denen Lampe bei der Flucht aus Sowjetrussland mit Dokumenten oder Geld half.79 Da diese Personen jedoch nur mit ihrem Anfangsbuchstaben markiert sind, wird nicht ersichtlich, ob es sich um Bekannte Aleksej von Lampes handelte oder ob er diesen womöglich auch aus Eigennutz geholfen hatte. Über eine unbekannte russische Frau schrieb er beispielsweise am 25. Juli 1923: „Vielleicht ist es irgendwann nützlich, dass ich ihr geholfen habe!“80

Schlussbetrachtung Die Typologisierung der sozialen Nahbeziehungen des Generalmajors Lampe ermöglicht zunächst eine Systematisierung seiner zahlreichen Kontakte innerhalb des Russischen Berlins. Mit Hilfe der sechs ermittelten Beziehungstypen wird ein erster Eindruck vermittelt, welche Bedeutungen die einzelnen Beziehungen für Aleksej von Lampe persönlich sowie für seine Emigrationserfahrung hatten. Darüber hinaus werden seine Motivationen, Entscheidungen oder auch Handlungsspielräume innerhalb des Russischen Berlins deutlich, die durch Familie, Freunde oder Ressentiments gegen ihn mitbestimmt wurden. Obwohl die bisher analysierten Beziehungstypen Aleksej von Lampes zum jetzigen Stand der Gesamtuntersuchung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, können für die erste Hälfte der zwanziger Jahre einige Schlüsse über ihre Bedeutung gezogen werden: Zum einen weisen die verschiedenen Beziehungstypen Aleksej von Lampes in den frühen 1920er Jahren nur wenige Gemeinsamkeiten auf. Lediglich die geteilte Überzeugung des Antibolschewismus eint alle Gruppierungen. Das ist jedoch keine überraschende Erkenntnis, da diese in der Regel der Grund für die Emigration war. Zum anderen pflegte Aleksej von Lampe in der Emigration nur wenige Nahbeziehungen. Diese waren in erster Linie familiär begründet oder bis auf wenige Ausnahmen schon vorrevolutionär entstanden. Aleksej von Lampe verstand es aber, sich diese bereits vorhandenen Beziehungen zu Nutze zu machen, seine eigene Position zu stärken und seinen Einfluss innerhalb der Emigrantenkolonie zu vergrößern. Seine in Berlin neu geknüpften Nahbezie-

79 Tagebuch vom 01.–03. 07. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 6. 80 Tagebuch vom 25. 07. 1923. GARF. F. 5853. Op. 1. D. 12, l. 22.

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hungen sind vor allem auf die vor Ort gegründeten emigrantischen Organisationen zurückzuführen. Außerdem wird der Anschein erweckt, dass Aleksej von Lampe sich aufgrund seiner Ausbildung und seiner Position in Berlin vor allem in militärischen Kreisen bewegte. Wenn man jedoch weitere Ausschnitte des Tagebuchs berücksichtigt, wird deutlich, dass er sich auch in anderen Bereichen, wie etwa der Wissenschaft oder dem Journalismus aktiv einbrachte. So lässt sich im Russischen Berlin kaum ein Verein oder eine Organisation finden, in der Aleksej von Lampe nicht engagiert war oder sich beteiligt hat, was die aktive Gestaltung seines Handlungsspielraums unterstreicht. Möchte man nun die über den Generalmajor Lampe getroffenen Aussagen auf die gesamte Emigrantenkolonie in Berlin übertragen, stellt sich zunächst die Frage, welche Bedeutung die sozialen Beziehungen in der Emigration hatten. Für ankommende Flüchtlinge waren diese auf den ersten Blick von unschätzbarem Wert, da der Berliner Westen rasant russifiziert worden war und die von Emigranten selbst gegründeten Hilfsorganisationen Unterstützung leisteten. In der Betrachtung der singulären Beziehungen wird aber deutlich, dass diese überwiegend bereits vorrevolutionär entstanden waren, das heißt dass sich die russische Emigrantenkolonie vor allem mittels bereits bestehender Beziehungen konstituierte. Dabei ist bemerkenswert, dass es den Emigranten in Berlin gelang, eine Form von Gemeinschaft aufzubauen, die vielleicht zweckgebunden gewesen sein mag, aber gegenseitige Unterstützung generierte und ein russisches kulturelles Leben erschuf, das die Verbindung zur Heimat aufrecht erhielt und teilweise sogar ausbaute. Die sozialen Beziehungen in der russischen Emigrantenkolonie scheinen zu Beginn der zwanziger Jahre in erster Linie eine Brückenfunktion zur Vergangenheit, aber auch zu einer möglichen, zukünftigen Gestaltung Russlands, einzunehmen. Vermutlich nahm diese Brückenfunktion in den darauffolgenden Jahren beständig ab, je weiter der Zeitpunkt der Emigration zurücklag und die Konsolidierung der Sowjetunion zunahm. Wenn man nun die eingangs zitierten Thesen über die soziale Zusammensetzung der russischen Emigrantenkolonie in Berlin erneut betrachtet, erscheint Blüchers Metapher der Pyramidenspitze schlüssiger als Schlögels Aussage, dass alle Schichten und Stände vertreten waren. Die Typologie der sozialen Beziehungen Aleksej von Lampes zeigt deutlich, dass Angehörige der unteren Schichten keine Rolle für den Generalmajor oder die Emigrantenkolonie spielen – sei es im alltäglichen Leben oder nur in der Präsenz in den Tagebuchaufzeichnungen. Die Untersuchung der einzelnen Beziehungstypen hat aber auch ergeben, dass „die russische Stadt in der Stadt“81 zwar durchaus vorhanden, ihre Abgeschlossenheit vom Rest Berlins hingegen nicht der Fall war. Aleksej von 81 Dodenhoeft 1993: 57.

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Laura Ritter

Lampe war neben den Emigranten auch mit Deutschen, Behörden sowie Militärvertretern anderer Nationen in Kontakt. Außerdem war die russische militärische Emigration über die ganze Welt verteilt und durch die ROVS organisiert. Auch wurde gezeigt, dass die Emigranten die politischen Ereignisse und Veränderungen in Berlin, wie beispielsweise das Erstarken der deutschen Kommunisten oder den Abschluss des Rapallo-Vertrags, durchaus wahrnahmen.

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Andr8 Reichert

Freunde im Denken. Elemente zu einer Theorie der Personifikationen in der Philosophie „[Die] Ideen [sind] … keineswegs Eigenschaften oder Attribute einer denkenden Substanz, sondern betreten und verlassen das Ego durch diesen Spalt, nichts weiter, was dazu führt, dass stets ein anderer in mir denkt, der selbst gedacht werden muss.“ Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung

In der Philosophie gibt es eine lange Geschichte der Reflexion über das Phänomen der Freundschaft. Zu dieser Geschichte wird dieser Beitrag nicht bzw. nicht direkt beitragen, da ich den Freund in der Philosophie selbst aufzeigen und in seiner Funktion beschreiben will. Nicht die Theorie der Freundschaft, könnte man sagen, sondern die Praxis interessiert mich. Damit werde ich die philosophischen Texte aber nicht verlassen, wie das Nicola Tams teilweise vollzieht, wenn sie in ihrer Arbeit die Korrespondenz Derridas in die Überlegungen zu Freundschaft miteinbezieht. Ich suche die Freunde der Philosophen dagegen in den philosophischen Texten selbst, wenn ich die Rolle von Personifikationen für die Begriffsbildung einer Philosophie befrage. Dabei werden die Personifikationen im folgenden Beitrag in Begriffspersonen, Fürsprecher und einfache Dialogfiguren unterschieden. Während eine einfache Dialogfigur dem Denken äußerlich bleibt und damit auch ersetzbar ist, so sind die Begriffspersonen und Fürsprecher diejenigen, die einen neuen Gedanken ermöglichen. Damit will ich im folgenden Beitrag aufzeigen, dass die Freunde nicht nur als psychosoziale Typen, sondern auch als Begriffspersonen und Fürsprecher beschreibbar sind. Während der Freund als psychosozialer Typ eine Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Feldes ermöglicht, so zeigt er als Begriffsperson dessen Fluchtlinien an, indem er sein utopisches Potential verwirklicht. Das besondere der philosophischen Dialoge liegt nun darin, dass sie keine Kontroversen sind, bei denen jeder bei seiner Meinung bleiben kann. Vielmehr bilden sie ein freundschaftliches Gespräch, das sich nur zwischen den Freunden einstellt, gerade wenn beide ihren festen Standpunkt verlassen. Nur so wird ein neuer philosophischer Gedanke entstehen. Der neu hervorgebrachte Gedanke kann dabei auch von einer alten, auch alt-bekannten Figur angestoßen werden. Denn immer muss diese Figur aktualisiert, in einem neuen Feld konstruiert werden. Und gerade dieses Auftauchen personifizierten Denkens in einem neuen Feld kann es ermöglichen, ein neues Problem zu beschreiben und durch neue

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Begriffe anzugehen. Meine These ist dann die folgende: Die Personifikationen sind ein Ort von Kreativität im Denken. Sie können dabei helfen, einen neuen Gedanken zu entwerfen und neue Begriffe zu konstruieren. Wie das funktioniert und welche Konsequenzen das schließlich auch für den Begriff des Freundes hat, werde ich im folgenden Beitrag erläutern. Zunächst einmal ist es auffällig, dass, obwohl sie selten ausführlich und in einem größeren Zusammenhang thematisiert worden, Personifikationen zu unterschiedlichsten Zeiten in den unterschiedlichsten Philosophien zu finden sind. Man denke an Sokrates bei Platon, Eudoxus bei Descartes oder Zarathustra bei Nietzsche, oder an die unterschiedlichen Figuren des Theophilus bei Bruno oder Leibniz, die Auftritte eines Hume oder die Rolle des Kopernikus bei Kant, oder an die Pseudonyme bei Kierkegaard, an das Gespräch der beiden Erschöpften bei Blanchot oder die Rolle Daniel Paul Schrebers und Antonin Artauds bei Deleuze. Dabei handelt es sich nun nicht um allgemeine Typen, wie den Freund, den Gönner, den Feind oder ähnliches, auch wenn man eventuell bei Kant den Richter findet, oder bei Kierkegaard das Paar. Diese bilden jedoch Ausnahmen. Weit häufiger sind singuläre Personifikationen: einzelne Personen, die auftreten und einen Gedanken entwickeln. So findet sich in allen Epochen ein Gedankentheater in den philosophischen Texten, eine Aufführung der Gedanken mittels deren Verkörperungen durch Personifikationen. Philosophieren besteht dann weniger im Beziehen und Verfechten von Positionen, sondern gerade in der Abweichung von festen Standpunkten und Meinungen. In diesem Gedankentheater der Philosophie wird das Denken in Bewegung gesetzt.

Freunde und Feinde im Denken In der Philosophiegeschichtsschreibung war es Kurt Flasch, der in einer ausführlichen Untersuchung aufgezeigt hat, dass die Wahrnehmung der Philosophie als ruhige Weisheit, die oberhalb aller Parteiungen stünde, fehlgeht. Hier wird die Philosophie als Bearbeitung der immergleichen Probleme imaginiert, indem sie fragt: Was ist Wahrheit, was Weisheit, was ist der Mensch, wie verhält sich das Einzelne zum Allgemeinen? Dagegen führt Flasch die Philosophie als Polemik auf, als Kampf gegen die Meinungen und großen Welterklärungen, auch als Kampf der Philosophen gegeneinander. „Daher sind Kontroversen der Philosophie immanent. Sie bilden nicht deren Außenseite.“1 Die Flaschsche Erzählung setzt sich dann von einem problemgeschichtlichen Verfahren ab, welches das Problem zu etwas Überzeitlichem macht, das gera1 Flasch 2008: 7.

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dezu zufällig zu verschiedenen Zeiten aufzutauchen scheint und im Wesentlichen unabhängig von der Situation, in der es auftritt, untersucht werden müsse. Dagegen wendet Flasch ein, dass die Probleme nur aus ihrem zeitgebundenen Auftreten heraus rekonstruiert werden können, aus den Kämpfen der Menschen. Damit wird die vorher als gegeben angenommene Trennung von Problem und Geschichte aufgehoben, die sich nach Flasch aus einer „Angst vor dem Relativismus“ speise: „Sie geht der Geschichte einen Schritt weit entgegen, gewahrt die große Mannigfaltigkeit von Ansichten, Texten und Kontexten; sie erschrickt und biegt zum Überzeitlichen zurück.“2 Damit folge die problemgeschichtliche Methode einem platonischen Philosophieverständnis, was der Philosophie wesentlich die Tätigkeit der „Erhebung des Geistes zum unräumlich Unvorstellbaren“ zuschreibt. „Deutsche Philosophen sinnen, so scheint es, lieber über Holzwege nach als über breite Straßen und Plätze, von denen jedoch die Heilige Schrift lehrt, dort schreie die Wahrheit.“3 Es ist Flaschs Verdienst, diese Kampfplätze der Philosophie von Augustinus von Hippo gegen Julian von Aeclanum bis hin zu Voltaire gegen Pascal in sehr plastischen Erzählungen wieder ans Licht gebracht zu haben samt der Gemeinplätze, an deren Rändern sich diese Kämpfe abspielen. Man könnte nun vermuten, dass sich die Geschichte ab Descartes anders weiterschreibt, wenngleich man sich darüber bewusst sein muss, dass man dies durch detailreiche Studien nachzuweisen hätte, die derjenigen von Kurt Flasch gerecht werden. Die leitende Hypothese könnte dann lauten: Während man die Philosophiegeschichte, wie Flasch gezeigt hat, vor Descartes als Geschichte des Denkens fassen kann, die ein Theater der Gedanken aufspannt, das sich in gesellschaftlich hierarchisierten Rollen realisiert, die das Denken auf Positionen festlegt, so erfindet der Philosoph des 17. Jahrhunderts die Figur des begehrten Außenseiters. Das schließt ein, dass sich die Philosophiegeschichte zu Teilen als Machtkampf oder Dialog zwischen Zentrum und Peripherie erzählen lässt, man dann aber einen Großteil der philosophischen Diskussionen aus dem Blick verliert. So findet man in den philosophischen Dialogen eine freundschaftliche Gemeinschaft, die sich um den Außenseiter herum bildet. Erst in dieser Gemeinschaft wird eine wohlwollende Unterredung über die Gestalt des Ganzen und dessen Auseinanderlegung möglich. Die großen Fehden in der Philosophie trugen niemals nur zwei Einzelne aus, vielmehr hat jeder schon seine Gemeinschaft des Denkens gebildet. Das wird offensichtlich in Verfahren der Bezugnahme auf die Tradition, die man gegen den Feind mobilisiert und gruppiert. Man könnte dann auch untersuchen, inwiefern Personifikationen in der mittelalterlichen Philosophie eine kreative 2 Flasch 2008: 7. 3 Flasch 2008: 349.

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Rolle für die Begriffsbildung spielten, ob die großen Entgegensetzungen von Positionen nicht jeweils aus einer Zusammensetzung des Denkens aus unterschiedlichen Positionen und den Abweichungen davon hervorgehen. Fokussiert man dann auf die Kreativität in der Philosophie, auf die Erschaffung neuer Begriffe und Ideen, so scheint nicht nur die Kontradiktion der großen Denker sondern auch das, was Gilles Deleuze die Vize-Diktion nannte, ein vielversprechendes Verfahren der Erzählung und Ergründung von Philosophiegeschichte zu sein. Die Vize-Diktion geht immer auf den Fall zurück, der ein Denkereignis ermöglicht. Es entwertet die Frage nach dem Was? – was ist das Subjekt?, was ist der Mensch? – um andere Fragetypen zur Sprache kommen zu lassen: „Es ist nicht sicher, ob die Frage was ist? eine gute Frage ist, um das Wesen oder die Idee zu ergründen. Es kann sein, dass Fragen des Typs wer?, wieviel?, wie?, wo?, wann? besser geeignet sind“4, um die raum-zeitlichen Koordinaten der Ideen, die Plätze des philosophischen Denkens zu rekonstruieren. Dafür bilden die philosophischen Personifikationen in ihren Unterhaltungen und gemeinsamen Denkbewegungen einen guten Untersuchungsgegenstand, um das, was Deleuze der Idee zuschreibt, für die Kreativität des Denkens und die Bildung neuer Begriffe auszuweisen. Ich will dann entgegen den großen Feindschaften die Freunde der Philosophen suchen, wenn ich frage, welche Rolle die Personifikationen für die Begriffsbildung einer Philosophie spielen. Man verabschiedet sich damit endgültig von der Überzeitlichkeit der Probleme und gelangt zu einer Dramatisierung des Denkens: „ein ,Drama‘ hinter jedem Logos“5.

Die Konzeption der Begriffspersonen bei Deleuze und Guattari Um nun dieses philosophische Theater zu bearbeiten, sind die Gedanken Gilles Deleuzes und F8lix Guattaris zu Begriffspersonen und Fürsprechern in der Philosophie sehr hilfreich, da hier die kreative Rolle von Personifikationen für die Begriffsbildung einer Philosophie ins Zentrum der Überlegungen gerückt wird. In ihrem letzten gemeinsamen Buch mit dem Titel Was ist Philosophie? versuchen Gilles Deleuze und F8lix Guattari zu bestimmen, was Philosophie in den unterschiedlichsten Zeiten und den unterschiedlichsten Ausprägungen – man muss hinzufügen: im westlichen Denken – auszeichnet. Die bekannten Erklärungen, Philosophie sei Kontemplation, Reflexion oder Kommunikation werden mit dem Hinweis abgetan, dass dies Bestimmungen besonderer Philosophien

4 Deleuze 2003: 139. 5 Deleuze 2003: 152.

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seien, die jedoch nicht auf alle zuträfen.6 Ihre Definition lautet dann: „Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung und Herstellung von Begriffen.“7 In ihrer Pädagogik des Begriffs – also der Erläuterung, wie in unterschiedlichen Philosophien Begriffe hervorgebracht worden – ergibt sich folgendes Muster: Gegen einen verfestigten Diskurs oder eine tradierte Meinung wird ein neuer Gedanke in Bewegung gesetzt, der alle Phänomene mit sich reißt. Aus der gewonnenen Bewegung wird der Begriff konstruiert, der diese Bewegung verstetigt. Nehmen wir Descartes: Gegen die scholastische Philosophie entwirft er die Bewegung des Zweifels. Der Zweifel affiziert die Betrachtung des Körpers, die Begriffe Gottes, des Denkens, im Grunde das gesamte aristotelische Begriffssystem, er moduliert die Bedeutung von Disputen und Diskussionen und versteht sie einzig als haltlosen Streit, wenn er bspw. die Diskussion von Gelehrten als Hinweis darauf nimmt, dass man ihnen nicht trauen könne. Der Zweifel entwirft damit ein Problem, das Problem der Gewissheit, und dessen Lösung: ich kann nur darüber Gewissheit haben, dass ich zweifle, alles andere kann bezweifelt werden. Schließlich das Cogito verfestigt diese Bewegung, indem es immer die Bewegung von Denken zu Zweifeln zu Sein vollzieht: ,Ich denke, also bin ich‘. Nach Deleuze und Guattari ist das die Tätigkeit der Philosophie: Im Denken eine Bewegung hervorbringen, die eine problematische Situation und deren Lösung verstetigt und damit die Denkbewegungen kanalisiert. Die für mich wirklich aufregende These folgt nun: Deleuze und Guattari behaupten, dass jede Philosophie neben der Denkbewegung und den Begriffen auch eine Begriffsperson benötige.8 Die Begriffsperson erschaffe einerseits die Bewegung und verstetige sie andererseits in der Bewegung des Begriffs. Bleiben wir bei Descartes: Neben dem Discours de la m8thode, den Meditationes und den Principia philosophiae, in denen Descartes das Cogito entwickelt, gibt es auch einen anderen Text, der einen Dialog dreier Personen bildet: die Rech8rche de la v8rit8 par la lumiHre natur8lle. In diesem Text wird Poliander, jemand, der keine Bildung genossen hat, von zwei Gelehrten aufgesucht. Die beiden Gelehrten: Eudoxus, der Wohlmeinende, und Epistemon, der Scholastiker, ernennen Poliander zum Richter ihrer Diskussion. Im folgenden wird Eudoxus nicht gegen den Scholastiker argumentieren, er vertritt auch keine 6 Vgl. dazu etwa folgendes Zitat: „Wir sehen zumindest, was die Philosophie nicht ist: Sie ist weder Kontemplation noch Reflexion, noch Kommunikation, selbst wenn sie mal das eine, mal das andere zu sein glauben konnte, und zwar aufgrund der Fähigkeit jeder Disziplin, ihre eigenen Illusionen zu erzeugen und sich hinter einem Nebel zu verbergen, den sie speziell absondert.“, Deleuze/Guattari 2000: 10. 7 Deleuze 2000: 6. 8 Die notwendige Verbindung von Begriffsperson und philosophischer Tätigkeit ergibt sich bspw. aus folgendem Zitat: „Es kann vorkommen, dass die Begriffsperson an sich nur selten in Erscheinung tritt oder nur andeutungsweise. Dennoch ist sie da und muss selbst als ungenannte, heimliche immer vom Leser rekonstituiert werden.“, Deleuze/Guattari 2000: 72.

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Thesen oder weist dem Scholastiker logische Fehler im Denken nach, nein, er exerziert die Bewegung des Zweifels bis hin zum Cogito, woraufhin Poliander, der Ungebildete, die Bewegung nachvollzieht. Auf diese Weise wird er zur Gewissheit geführt und der Scholastiker mit seinem komplexen Begriffsapparat bloß gestellt. Während der Scholastiker klar den Gegner Descartes’ bezeichnet und Poliander den Eintritt des lernenden Lesers in das Gespräch markiert, so ist es interessant, in welcher Weise Descartes in diesem Gespräch vertreten ist. Eudoxus repräsentiert nicht das Denken Descartes’ als Ganzes, es steht ihm nicht bereits zur Verfügung, sondern er muss es vollziehen. Denken ist hier keine bessere Meinung, Denken muss gemacht werden, indem man eine Bewegung vollzieht, die sich von der herrschenden Meinung oder Theorie absetzt. Dabei muss die Bewegung kontinuierlich und nachvollziehbar sein. Eudoxus ist dann die Begriffsperson des Cartesianismus, weil er dessen zentrale Bewegung vollzieht und so die Konstruktion des Cogito vollführt. Doch was macht man nun aus der Behauptung Deleuzes und Guattaris, dass jede Philosophie eine Begriffsperson benötige? Würde das nicht bedeuten, dass es den Cartesianismus nicht gäbe, wenn es die RechHrche de la v8rit8 nicht gäbe? Schließlich könnte man argumentieren, dass das Cogito in den Meditationes und dem Discours auch ohne Eudoxus funktioniere. Jedoch, und das wäre mein Einwand, gäbe es kein Cogito ohne die Bewegung vom Denken zum Zweifel zum Sein. Das ist die zentrale Denkbewegung bei Descartes, die Eudoxus verkörpert. Sie kennzeichnet das cartesische Denken, und nicht die eine Dialogfigur. Die Denkbewegung kann aber von einer Personifikation vollzogen, personifiziert werden, und das ist das Charakteristikum der Begriffsperson. Sie muss nicht immer als Dialogfigur ausgearbeitet sein, aber sie muss extrahierbar sein, indem man die Bewegung eines Denkens auffindet und nachvollzieht. Das ist die Tätigkeit, die Deleuze und Guattari Philosophie nennen: Eine Bewegung vollziehen, die einen Raum eröffnet, der durch neue Begriffe besetzt werden kann. In meinem Forschungsvorhaben verschiebe ich den Ansatz von Deleuze und Guattari, indem ich die Philosophie sozusagen von hinten aufzäume. Während Deleuze und Guattari eine ideale Genese des Begriffs erläutern, fokussiere ich auf die Personifikationen in den philosophischen Texten und versuche ihre Funktion zu beschreiben, um von hier aus Aussagen über eine spezifische Philosophie und ihre Weise des Denkens zu treffen. Dann muss man zuerst zwischen Begriffspersonen und einfachen Dialogfiguren unterscheiden, indem man fragt: Erlaubt diese Personifikation eine neue Denkbewegung zu vollziehen, oder bezieht sie nur einen Standpunkt oder verharrt in einer Meinung? Welche Rolle spielt sie bei der Begriffsbildung. Stößt sie eine erste Bewegung an, oder lenkt sie eine Bewegung um? Das sind Fragen, die sich dann stellen.

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Die Fürsprecher Neben den Begriffspersonen gibt es noch eine andere Klasse von Personifikationen in philosophischen Texten, die für die philosophische Konstruktion von Bedeutung sind. Deleuze nennt sie die Fürsprecher. Während die Begriffspersonen immer am Anfang einer Philosophie stehen, indem sie den Ausgangspunkt des Denkens markieren, so operieren die Fürsprecher im Dazwischen – man begegnet ihnen im Denken. Sie verkörpern eine Bewegung aus einem anderen Bereich und affizieren das Denken damit. Deleuze nennt Beispiele aus dem Kino: Dort findet er in Ich liebe dich, ich liebe dich von Alain Resnais eine Bewegung, die der sogenannten Bäcker-Transformation aus der Physik gleiche. „Man nimmt ein Quadrat, zieht es zu einem Rechteck auseinander, teilt das Rechteck in zwei Teile, klappt einen Teil des Rechtecks auf den anderen, verändert das Quadrat fortlaufend, indem man es immer wieder auseinanderzieht, es ist die Operation des Auseinanderwalzens von Teig. Nach einer bestimmten Anzahl von Transformationen werden zwei Punkte, die einander im Ursprungsquadrat beliebig nahe gewesen sein können, sich zwangsläufig in zwei entgegengesetzten Hälften befinden […] In […] Ich liebe dich, ich liebe dich sieht man einen Helden, der in einen Augenblick seines Lebens zurückversetzt wird, und dieser Augenblick wird jedes mal in verschiedenen Zusammenhängen, Ensembles erfasst. Wie Schichten, die ständig umgewalzt, verändert, umverteilt werden, und zwar in einer Weise, dass das in einer Schicht Nahe in einer anderen sehr weit voneinander entfernt sein wird. Das ist eine sehr erstaunliche Konzeption der Zeit, filmisch sehr seltsam, und sie stellt ein Echo auf die BäckerTransformation dar.“9

Damit spricht Deleuze an, dass über die Fürsprecher Bewegungen von einem Bereich in einen anderen Bereich übergehen können, sie öffnen die Philosophie für die Nichtphilosophie. Das Kriterium ist dann niemals Korrektheit. Ist die Erzählstruktur bei Resnais wirklich eine Bäcker-Transformation, natürlich nicht. Sie bildet auch keine korrekte Anwendung der Bäcker-Transformation. Das Kriterium ist vielmehr die Produktivität: Wie kann diese Bewegung in meinem Feld ein Problem lösen? müsste man fragen. Resnais hat sich so von einem linearen Zeitmodell sowie von einer Konzeptionen des homogenen Raumes lösen können, um Raum-Zeit-Gemische zu beschreiben, die auch Zeitsprünge und Abbrüche sowie heterogene Räume möglich machten. Der Fürsprecher erlaubt einen neuen Gedanken, indem er eine Bewegung aus einem anderen Feld in die neue Konstruktion zu übertragen hilft. Damit ist der Fürsprecher aber immer auch eine Fälschung, denn wie sonst sollte Nietzsche aus der Figur des Dionysos oder Deleuze selbst aus Daniel Paul Schreber einen Philosophen machen? Deleuze definiert die Fürsprecher wie folgt: Die „Potenzen des Falschen, die Wahres pro9 Deleuze 1993: 180.

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duzieren werden, das sind die Fürsprecher…“10 Sie sind die Hefe im Teig der philosophischen Backstube, die das Denken gehen lassen. Als Fürsprecher könnte man beispielsweise auch die Eingriffe Humes oder von Kopernikus bei Kant bezeichnen. Die kopernikanische Wende ist eine Denkbewegung, die das Kantische Vorhaben einer kritischen Philosophie rahmt: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten […] Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“11

Gewiss hat sich das Feld geändert, wenn es Kant nicht mehr um die Sterne und deren Betrachter, sondern um das Verhältnis der Vernunft zu den Gegenständen in der Welt geht. Aber er entnimmt Kopernikus die Denkbewegung, die Umwälzung oder Revolution, die „Umänderung der Denkart“12, wie Kant es beschreibt. Das sind Fürsprecher : Sie geben dem Denken eine neue Bewegung, der man folgt oder zu folgen versucht, ohne zu wissen, ob sie richtig ist oder zu richtigen Erkenntnissen führt. Die Begriffspersonen und Fürsprecher bilden das Theater der Freunde im Denken. Erst sie ermöglichen es den Philosophen den Meinungen und Überzeugungen zu entkommen. Dies gelingt, indem sie es ermöglichen einen Gedanken hervorzubringen, den es vorher noch nicht gab und der in keiner Position aufgeht. Die Freunde im Denken erschaffen einen Raum des Als Ob, der der Aktualität entgegensteht, aber sich auf diese bezieht. Dabei ist es gleichgültig, ob die Fürsprecher real sind, oder einen realen Teil haben, denn immer zählt, wie sie gemacht sind und was sie dem Philosophen ermöglichen. Selbst wenn Platon die geistigen Abenteuer des Sokrates verfasst, wird man immer eine gewisse Fälschung feststellen, aber gerade diese ist es, die für das platonische Denken von Entscheidung ist. Das sind die Potenzen des Falschen, die etwas Wahres produzieren. So bilden die Philosophen ihre Gemeinschaften, die gemacht, aber deshalb nicht weniger wirkmächtig sind. Denn im eigenen Namen sprechen läuft immer Gefahr, eine Meinung zu äußern. Ein neuer Gedanke hingegen beruht immer auf 10 Deleuze 1993: 183. 11 Kant 1956: 20. 12 Kant 1956: 19.

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einer Serie. Nicht: Ich predige euch den Übermenschen, sondern: Ich als Zarathustra. Nicht: Ich weise dir die angeborenen Ideen nach, sondern Leibniz schreibt: Ich als Theophilus entgegne dir, Philalethes. Der philosophische Aussagesatz wird immer innerhalb einer minoritären Gemeinschaft ausgesagt, er ist immer mehrstimmig. Und wenn ein Philosoph Ich sagt, muss man rekonstruieren, wer, mit welcher Stimme, gegen und für wen, da eigentlich Ich sagt. Eine philosophische Gemeinschaft bildet sich dann immer um eine Reihe von Legenden. Wie Pierre Perrault, der kanadische Filmemacher, es sagt: Weder Ich noch mein Volk sind schon da. Beides entsteht erst in dem Moment einer Legendenbildung. Erst durch eine Legendenbildung formiert sich eine Gemeinschaft.13 Vielleicht sind das die philosophischen Personentheater: Legendenbildungen, die eine philosophische Gemeinschaft konstituieren, mit ihren Gegnern und ihrer minoritären Weise des Aussagens. Will man die neuen Denkbewegungen einer Philosophie auffinden, muss man den Philosophen beim Legendenbilden erwischen.

Philosophische Personifikationen als Freunde im Denken Fokussiert man nun auf die Personifikationen ergeben sich sogleich Nähen und Übergänge zwischen verschiedenen Philosophien. Auf einmal sieht man eine Geschichte der Ketzer von Giordano Bruno über Descartes hin zu Nietzsche verlaufen. Mit Philotheo, Eudoxus und Zarathustra werden unterschiedliche Weisen eines spezifischen Freundes im Denken entworfen, der gegen die herrschende Meinung rebellierende Ketzer. Philotheo will nicht mehr von einem Zentrum aus denken, was ihn daran zweifeln lässt, dass die Erde oder die Sonne das Zentrum der Welt bilden. Vielmehr geht er davon aus, dass es unendlich viele Welten gibt, in denen sich Gott realisiert. Eudoxus hingegen weigert sich, so wie die Autoritäten zu denken. Er zweifelt überhaupt an, dass einem eine Autorität helfen kann, das Problem der Gewissheit zu lösen. Gewissheit kann ich nur im Vollzug des eigenen Denkens erlangen. Zarathustra schließlich verwirft das allzumenschliche Denken, er zweifelt daran, dass man den Menschen ins Zentrum des Denkens stellen sollte. Deshalb verkündet er den letzten Menschen und vollzieht die Bewegung hin zum Übermenschen. Die Probleme sind sehr unterschiedlich gelagert, aber dennoch sind sie vergleichbar in der Begriffsperson des Ketzers, der die Fundamente des Wissens bezweifelt, indem er einen neuen Gedanken entwirft. Interessant an dieser Geschichte ist dann zu untersuchen, inwiefern sich die Probleme und die Lösungen gleichen und wo sie differieren. 13 Vgl. zur Legendenbildung als Absetzung vom Herren- und Kolonialistendiskurs bei Perrault als Element einer Theorie der Fürsprecher : Deleuze 1993: 182.

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Mit der Figur des Philotheo taucht eine Begriffsperson sogar zweimal auf, einmal bei Giordano Bruno und dann wieder als Theophilus bei Leibniz. Bei Bruno bringt Philotheo, also derjenige, der Gottes Freund ist, das Argument vieler verschiedener Universen hervor, was ihm den Einwand der Gotteslästerung einbrachte. Philotheo entgegnet dann, dass es die Macht Gottes begrenzen würde, wenn man ihm nur die Erschaffung eines Universums zugestehen würde. Vielmehr bringe er die Harmonie unendlich vieler Universen hervor. Bei Leibniz hingegen wird Theophilus in einen Disput mit Philalethes gestellt, einer Personifikation der Lockeschen Philosophie. Dabei ist Theophilus gerade nicht der rationalistische Gegenpart zu Lockes Empirismus, sondern entwirft eine Denkfigur der Harmonie, die Rationalismus und Empirismus versöhnt. Philalethes als der Freund von Theophilus bringt ihn dabei vom Weg des Rationalismus ab und führt ihn zum Gedanken der Harmonie von Empirismus und Rationalismus. Ein anderes Problem, aber eine ähnliche Lösung. Schließlich geht eine Linie von Platon über Kant zu Kierkegaard, die eine Geschichte der Verwandlung des Schülers zum eigenen Lehrer schreibt: Sein eigener Lehrer werden und damit dessen Lehren verändern. Auch auf der Ebene der Fürsprecher kann man eine Geschichte des Begleiters im Denken schreiben, die von Bruno über Descartes zu Blanchot verläuft. Fracastorio, Poliander und die beiden Namenlosen bei Blanchot sind Freunde, die im Denken bestätigen und bestärken, ein Echo geben und weiter denken lassen. Schließlich findet man den Fürsprecher als Idioten bei Kues, Descartes und Deleuze. Der idiota bei Kues ist der Laie und Privatmann, der bei Descartes zum einfachen, ungebildeten Menschen wird, um dann bei Deleuze der Einzelne zu werden, dem das Denken nicht gelingen will. In allen Fällen fehlt dem Idioten das Vermögen so zu denken, wie es die (vermeintlichen) Gesetze des Denkens vorgeben. Er kündet von einer Erfahrung, die er nicht fassen kann, und die das Denken fundamental erschüttert. Diese Reihen bilden einen ersten Ausschnitt. Sie lassen sich fortschreiben und so weitere Nähen zwischen Philosophien konstruieren, die nicht auf ähnlich klingenden Begriffen oder angeblich gleichen Problemen beruhen. Vielmehr bilden sie ein Reservoir an Denkbewegungen, die sich gegenseitig verbinden, abstoßen oder variieren und dabei helfen, einen Begriff hervorzubringen, der ein gegebenes Feld zu überschreiten erlaubt. Während die Begriffsperson einen philosophischen Gedanken anstößt und auf den Begriff bringt, sind die Fürsprecher das Relais zwischen Philosophie und Nichtphilosophie. Sie integrieren einen Gedanken aus einem anderen Feld in die philosophische Überlegung. Begriffspersonen und Fürsprechern ist gemeinsam, dass sie immer Problem und Lösung, Feld und Überschreitung verbinden. Die Zusammenschau der Freunde im Denken lenkt damit den Blick auf die Lösungsversuche und deren Variation.

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Konstruiert man ein vergleichbares Problem, sind die Personifikationen auch in anderen Feldern aktualisierbar, was ihre Variation einschließt.

Freund und Utopie Alle Philosophen haben ihre Freunde im Denken, in deren Namen sie denken. Sie bilden minoritäre Gemeinschaften, die sich gegen die majoritäre Meinung oder den herrschenden Diskurs richten. Dabei ist die neu sich bildende Gemeinschaft immer auch an die Majorität gebunden, von der sie sich absetzt: jene bildet sozusagen die negative Voraussetzung, ohne die sich die Gemeinschaft nicht bilden würde. Ziel der philosophischen Gemeinschaft ist immer die Überschreitung des Gegebenen, das Öffnen hin auf etwas Anderes, in dem sich diese Gemeinschaft aktualisieren kann. Deleuze und Guattari erläutern diese Bewegung über die Begriffe des Territoriums und der Deterritorialisierung. Das Territorium beschreibt die Bewegungen, die innerhalb eines gegebenen Feldes möglich sind. Doch das Feld enthält auch andere Elemente, unterdrückte Kräfte, die, wenn sie aufsteigen oder anders kombiniert werden, eine neue Bewegung eröffnen können, die das Territorium überschreitet. Über das Begriffspaar von Territorium und Deterritorialisierung lassen sich dann auch Begriffspersonen von psychosozialen Typen unterscheiden. „Um so weniger sind die Begriffspersonen … auf psychosoziale Typen zurückführbar, auch wenn es hier noch unaufhörliche Durchdringungen gibt. Simmel, dann Goffman haben die Untersuchung dieser Typen, die, häufig offenbar sehr unbeständig, in den Nischen oder an den Rändern der Gesellschaft hausen, sehr weit getrieben: der Fremde, der Ausgeschlossene, der Migrant, der Passant, der Autochthone, jener, der in sein Land zurückkehrt… Das geschieht nicht aus Lust an der Anekdote. Augenscheinlich umfasst ein gesellschaftliches Feld Strukturen und Funktionen, klärt uns aber nicht unmittelbar über bestimmte, den Sozius affizierende Bewegungen auf.“14

Während die psychosozialen Typen ein Territorium, seine Deterritorialisierungsvektoren und Reterritorialisierungsbewegungen wahrnehmbar machen können, so bleiben die Bewegungen am Territorium haften und erlauben es nicht, dieses zu überschreiten. Die psychosozialen Typen zeigen dann relative Deterritorialisierungen auf, die das vorgegebene Feld jedoch bestätigen und verfestigen. Dagegen bilden die Begriffspersonen absolute Deterritorialisierungen, die das Territorium überschreiten und das gesamte gegebene Feld neu strukturieren können. Dennoch sind beide Weisen der Personifikation auch verbunden. Zeigen die 14 Deleuze/Guattari 2000: 76f.

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psychosozialen Typen die Funktionen und Strukturen eines gegebenen Feldes auf, so ist es die Aufgabe der Begriffspersonen, die Bewegungen, die das Feld konstituieren, wiederzufinden, zu variieren und zu unendlichen Bewegungen zu machen, die das Feld transformieren. In diesem Sinne ist die Philosophie utopisch: „Die Utopie ist nicht zu trennen von der unendlichen Bewegung: Etymologisch bezeichnet sie die absolute Deterritorialisierung, stets aber an jenem kritischen Punkt, an dem diese sich mit den darin unterdrückten Kräften verbindet. […] Das Wort Utopie bezeichnet folglich diese Verbindung der Philosophie oder des Begriffs mit dem vorhanden Milieu“.15

Insofern haben auch die Personifikationen in der Philosophie einen utopischen Charakter, wenn sie den Begriff mit dem vorhandenen Milieu verbinden, indem sie eine Bewegung verkörpern, die das vorhandene Milieu absolut deterritorialisiert: Zarathustra, der den letzten Menschen verkündet. Sie sind aber nicht utopisch in einem autoritären Sinne, dass sie die Zukunft kennen und diese als notwendig darstellen würden. Vielmehr geht es darum, die Gegenwart zu verstehen, zu dramatisieren und Fluchtlinien aufzuzeigen. Damit sind die Personifikationen immer eine Frage des Werdens. Nicht wie jemand anderes werden, sondern gemeinsam anders werden. Der Freund ist eine Frage des Werdens, des gemeinsamen Werdens. Er tritt dann in Erscheinung, wenn die verfestigten Strukturen bröckeln, wenn ich gerade nicht mehr so bleiben kann, wie ich bin. Wenn ich nicht mehr so denken kann, wie es ein herrschender Diskurs oder die Meinung gebieten, dann brauche ich den Freund. Nicht wie jemand anderes denken, sondern den Mut haben, anders zu denken: dabei helfen die Fürsprecher und Begriffspersonen. Die Freunde im Denken müssen aber immer mehrere sein, damit ein neuer Gedanke entstehen kann. Eifert man einem Freund nach, besteht die Gefahr der Meinung, der einfachen Wiederholung, ohne dass etwas Neues entsteht. Damit ist Denken immer der Prozess in einer Konstellation. Nicht nur Eudoxus, sondern auch Poliander und Epistemon treten zumindest als Stimmen in allen Texten Descartes’ auf. Das Cogito ist immer die Bewegung innerhalb dieser Konstellation.

Freundschaft und Tyrannei Die auftretenden Personen in den philosophischen Texten sind zwar niemals „der Freund“ oder „der Feind“ oder „Gegner“, sondern immer Einzelne. Dennoch drücken sie zuerst eine Kondition des Denkens aus: das freundschaftliche Gespräch. 15 Deleuze/Guattari 2000: 115f.

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Diese Kondition variiert (von Platon bis Maurice Blanchot könnte man sagen) und bringt dadurch auch andere Begriffe und ein anderes Denken hervor. Dennoch findet sich in all diesen philosophischen Dialogen eine Voraussetzung des freundschaftlichen Gesprächs. In keinem der Dialoge, die ich kenne, gibt es einen Lehrer, der unterweist, oder eine Autorität, die erklärt. Es findet sich immer ein gleichberechtigtes, wohlwollendes Gespräch, in dem jeder ohne Ansicht auf Stellung oder Herkunft prinzipiell das Recht auf Wahrheit hat. Sicher, diese Gespräche sind konstruiert. Aber Teil der Konstruktion ist immer die freundschaftliche Unterhaltung. Auffällig ist nun, dass dieses freundschaftliche Gespräch immer in einem Zusammenhang steht mit einer Tyrannei des Denkens. Man könnte also sagen, kein tyrannisches Denken ohne Freundschaft, aber vielleicht auch, keine Freundschaft ohne Tyrannei? Die Voraussetzung des freundschaftlichen Gesprächs könnte man historisch deuten. Wenn man der europäischen Philosophie ein platonisches Erbe zugesteht, dann ist auffällig, dass Platons Wirken in die Zeit der Wiederherstellung der attischen Demokratie in Griechenland fällt. Platon wie auch sein Protagonist Sokrates waren jedoch Gegner dieser Demokratie. Wenngleich die platonischen Dialoge eine demokratische Situation voraussetzen (das demokratische, gleichberechtigte Gespräch, in dem prinzipiell jeder Wahrheit beanspruchen kann, ungeachtet seiner Herkunft oder Abstammung, was sich von der autoritären Doktrin und auch von der Wahrheit des Weisen unterscheidet), so entfalten sie dennoch eine gewisse Tyrannei des Sokrates. Der frühe Sokrates tyrannisiert seine Mitbürger, die denken, sie wüssten etwas sicher. Seine Rolle besteht dann immer in der Entlarvung dieses Wissens als bloßer Meinung. Das heißt nun nicht, dass die Philosophie nur in einer Demokratie entstehen kann, aber ich würde behaupten, dass sie ein gleichberechtigtes freundschaftliches Gespräch einfordert. Sobald man ihr dies nicht zugesteht, kann man sie einfach kritisieren und loswerden. Die Voraussetzung des gleichberechtigten Gesprächs steht dann immer in einem Zusammenhang mit der Tyrannei des Gedankens: Der Gedanke, der ein anderes Denken oder eine andere Meinung entlarvt, ausschließt oder als unwichtig oder gar nichtig erklärt. So findet man in einem freundschaftlichen Dialog oft die größte Tyrannei des Denkens. Dazu vielleicht kurz zwei typische Beispiele. Ein Fall, der Freundschaft und Tyrannei zusammenbringt, stellt sich so dar, dass die Freundschaft dazu dient, gemeinsam einen neuen Gedanken auszubilden, der sich gegen das Denken einer Zeit, gegen die Meinung richtet. Freundschaft taucht hier also als Tyrannei gegen die Nicht-Freunde auf, etwa in Giordano Brunos Dialogen. Elpino etwa verkörpert hier die Meinung der Zeit und teilt damit eine Position, von der Philotheo wegkommen will. Philotheo lädt Elpino ein, seinen Gedanken zu folgen. Fracastorio ist der Begleiter, der Philo-

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theo bestätigt, den neuen Gedanken weiter zu entwickeln. Der Dialog entfaltet dann die Denkbewegung, die sich gegen die Meinung richtet und die Gesprächspartner mit sich zieht. Er stellt gerade keinen Widerspruch her, sondern entfaltet eine Bewegung, die es Elpino jedoch nicht gestattet, bei seiner Position zu bleiben. Fracastorio ermuntert ihn dann auch, sich von seiner Position zu lösen: „Ihr macht Euch sehr gut verständlich, und Ihr beweist, dass Ihr die Gründe gut versteht und kein Sophist seid, denn Ihr akzeptiert, was nicht zu leugnen ist.“16 Die Tyrannei des neuen Gedankens richtet sich gegen die Meinung der Zeit, wenn sie diese als haltlos ausweist und sie durch die neue Denkbewegung mit sich reißt. Eine Zuspitzung dieses Verhältnisses von Freundschaft und Tyrannei findet sich in dem bereits besprochenen Dialog von Descartes. Eudoxus nutzt hier die Form des freundschaftlichen Gesprächs aus, um den eigenen Gedanken über die Position des Epistemons, des Scholastikers siegen zu lassen. Eudoxus und Epistemon könnten von ihrem Philosophieverständnis her nicht gegensätzlicher sein. Dennoch ergänzen sie sich in einem freundschaftlichen Gespräch, in dem nur Poliander, also die Personifikation des unkundigen Lesers, der Richter des Disputes sein soll. Man könnte sagen, hier wird ein freundschaftliches Gespräch fingiert, in dem Descartes sein Denken gegen dasjenige der Schulphilosophie, der Scholastik ausspielt. Dies gelingt aber nur, wenn beide Personen gleichberechtigt sind und in jedem Moment des Gedankengangs potentiell das Recht auf Wahrheit besitzen. Nur dadurch kann Eudoxus die Denkbewegung in Gang setzen, die zum Begriff des Cogito führt und damit die Position von Epistemon attackiert. „Eudoxus: Ich will es diesmal gern auf mich nehmen, aber unter der Bedingung, dass Sie der Richter unseres Streits sind. Denn ich mache mir keinerlei Hoffnung darauf, dass Epistemon sich durch Vernunftgründe geschlagen gebe. Wer wie er voll von Lehrmeinungen und durch hundert Vorurteile benommen ist, wird sich schwerlich allein dem natürlichen Licht anvertrauen. Er hat sich nämlich schon seit langem daran gewöhnt, eher der Autorität nachzugeben, als auf die Stimme seiner eigenen Vernunft zu hören.“17

Und weiter : „Wer aus eigener Kraft die Sache zu prüfen verlangt und darüber so urteilt, wie er sie begreift, kann nicht so beschränkt sein, dass es ihm an Licht fehlte, um, was Zweifel, Denken, Existenz seien, mit genügender Deutlichkeit zu erkennen“.18 Man könnte dies als die Tyrannei gegenüber dem Freund bezeichnen. Das gemeinschaftliche Gespräch erlaubt eine neue Bewegung, die sich aber auch 16 Bruno 1994: 44. 17 Descartes 1989: 75. 18 Descartes 1989: 77.

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gegen den Freund richten kann, wenn sie das Gegebene mit sich reißt und absolut deterritorialisiert. Eine Reflexion darüber geht von Goethes Torquato Tasso bis hin zum Zarathustra.

Freundschaft als Kondition und Verunmöglichung des Denkens Meine These lautet nun: Die Freundschaft bildet die Kondition, die Voraussetzung des Denkens, aber gleichzeitig auch dessen Verunmöglichung – sie erlaubt ein Gespräch unter Gleichen, ein Sich-Einlassen auf den Anderen. Aber sie bedroht auch das Denken, wenn sie zu einem gleichberechtigten Meinungsaustausch wird. Man kann sich fragen: Was wäre eine Philosophie als fairer Meinungsaustausch? Würde sie auch nur einen neuen Gedanken hervorbringen? Es scheint, als brauche die Philosophie eine unterlegene Position gegenüber der majoritären Meinung oder einer herrschenden Doktrin, gegen die sie sich richten kann, der gegenüber sie Bündnisse bildet… und verrät, um etwas Neues hervorzubringen. Man könnte auch allgemeiner behaupten: Vielleicht muss die Freundschaft tyrannisch werden, gegen etwas Anderes, ihr Äußerliches, um sich selbst eigene Gesetze geben zu können. In der Philosophie wird das dann noch weiter getrieben, wenn sich das Ereignis des Denkens sogar gegen die Freunde selbst richtet, wie etwa bei Maurice Blanchot. Der gesamte Dialog schreitet den Weg ab, der die beiden folgenden Passagen verbindet: „Jedes Mal, wenn er eintritt und den älteren, kräftigen und zuvorkommenden Mann erkennt, der ihn bittet einzutreten, aufsteht und die Tür öffnet, hat er das Gefühl, dass das Gespräch seit langer Zeit schon begonnen ist. … ,Sind wir nicht immer wohlwollend gewesen?‘ – ,Immer. Jedoch sollten wir angehalten sein, für ein vollkommeneres, uns noch unbekanntes Wohlwollen Beweise beizubringen: ein Wohlwollen, das nicht allein auf uns beschränkt werden kann.‘ … Wie immer erwartet der eine von beiden vom anderen eine Bestätigung, die allerdings nicht gegeben wird, nicht etwa weil das Einverständnis fehlte, sondern weil es im Voraus gegeben wurde: Das ist die Bedingung des Gesprächs.“19 „Wie war es dazu gekommen, dass er die Unterbrechung der Rede wollte? Nicht die regelmäßige Pause, die es erlaubte, dass die Gespräche einander ablösten, die wohlwollende, die verständige Pause, oder auch das schöne Warten, durch das zwei Gesprächspartner, von einem Ufer zum anderen, ihr Recht zu sprechen abschätzen. Nein, nicht das, und auch nicht die karge Stille, die stumme Sprache der sichtbaren Dinge, die Zurückhaltung der unsichtbaren. Das, was er gewollt hatte, war etwas ganz anderes:

19 Blanchot 1969: IX.

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eine kalte Unterbrechung, der Bruch des Kreises. Und sogleich war es geschehen: Das Herz hörte auf zu schlagen, der ewige sprechende Trieb setzte aus.“20

In diesem philosophischen Dialog über das Ereignis des Denkens, der zugleich ein Dialog über die philosophischen Dialoge ist, fordert das Gespräch die Bedingung des Wohlwollens und eines gewissen Einverständnisses ein, damit sich das Denken ereignen kann. Gelingt dies, so ist es dieses Ereignis, das Denken, das dazu führt, dass beide verstummen und das Gespräch notwendig abbricht. Der Freund ermöglicht und verunmöglicht das Denken. Der Freund im Denken erlaubt anders zu werden, anders zu denken, aber er muss auch immer ab einem gewissen Punkt verraten werden, um nicht ganz seinem Bann zu erliegen. Freundschaft ist genau dieses Verhältnis, bei dem sich beide gemeinsam verändern, ohne so zu werden, wie der andere, und auch ohne das Gleiche zu werden. Sie bildet eine Form der Gemeinschaft, die geschaffen aber auch wieder verraten werden muss, um etwas Neues hervorzubringen, sei es ein neuer Gedanke oder eine neue Lebensweise.

Schluss und Ausblick Mit meinem Beitrag wollte ich darauf aufmerksam machen, dass man die Freunde, Gönner und Getreuen als psychosoziale Typen aber auch als Begriffspersonen oder Fürsprecher betrachten kann. Als psychosoziale Typen gestatten sie eine Wahrnehmung des gesellschaftlichen Feldes und seiner Ränder, seiner Strukturen und Funktionen. Aber es kommt auch darauf an, ihr utopisches Potential wiederzufinden, wenn sie uns auch dessen Fluchtlinien und unterdrückte Kräfte anzeigen, kurz, wie das Gegebene hin auf etwas Neues überschritten werden kann. Für die Philosophie ergibt diese Einsicht zuerst einmal eine Rehabilitation jener eher randständigen Texte. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie sowohl das philosophische Problem als auch die Genese der Lösung vorführen. Daraus ergibt sich auch eine neue Perspektive auf die Philosophie als Tätigkeit der Herstellung von Begriffen. Hierfür benötigt der Philosoph die Freunde im Denken. Die Philosophiegeschichtsschreibung der großen Kontroversen und die Bestimmung der Philosophie als wesentlich polemisch würde ich deshalb ergänzen wollen um die philosophischen Gemeinschaften, die überhaupt erst einen neuen Gedanken ermöglichen. Insofern hat Philosophieren auch immer etwas mit Maskieren zu tun. Das meint aber weniger ein Versteckspiel, ein sich entziehen und verbergen, sondern eine Metamorphose des Denkens, eine Verwandlung. Nicht mehr im eigenen 20 Blanchot 1969: XXVI. Die hier zitierte Übersetzung von Blanchot verdanke ich Christian Driesen und Peter Wiersbinski.

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Namen sprechen, indem man ein Theater der Gedanken entwirft, das es einem ermöglicht, mit fremder Stimme zu sprechen. Maskiert, so könnte man sagen, nimmt man Verbindung mit den Ahnen auf (wie Platon oder Nietzsche mit Sokrates), man stiftet eine Kontinuität, die auch fingiert sein kann, jedoch um einen Bruch, eine Unterbrechung im Jetzt zu schaffen. Die Begriffspersonen und Fürsprecher sind so immer gegen aktuelle Meinungen gerichtet, um einen anderen Gedanken zu formulieren. Person meint hier also keine abstrakte Personifikation oder Allegorie, sondern eine Maske, die dem Philosophen ein Werden ermöglicht. Begriffspersonen und Fürsprecher bilden dabei niemals eine Allgemeinheit (wie etwa soziale Typen oder gar psychoanalytische Archetypen), sie sind Singularitäten. Als solche konstituieren sie den Akt, der zuallererst denken lässt. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Wenn man die Freunde des Denkers kennt, weiß man, unter welchen Bedingungen ihm das Denken möglich wurde. Vielleicht gewinnt man durch diese Untersuchung dann auch einen neuen Blick auf aktuellere Begriffspersonen und Fürsprecher, wenn man weiß, welche Funktionen sie in philosophischen Texten haben können. Es kann auch umgekehrt die Frage gestellt werden, warum diese Figuren in vielen aktuellen Philosophien gerade nicht auftauchen. Daran anschließend kann man auch darüber nachdenken, was dieses Nichtauftauchen für eine Philosophie bedeutet: Gibt es eventuell einen verschwiegenen Fürsprecher, oder stellt diese Auslassung den Versuch dar, den Text von allem Nichtbegrifflichen, Nichtphilosophischen, auch von allem Situativen, also von allen Voraussetzungen zu reinigen? Vielleicht könnte man heute auch von einer Ersetzung der Begriffspersonen und Fürsprecher durch die Zitation der anerkannten Philosophen und Schuloberhäupter reden, in deren Namen man weiterdenkt. Auch der Pappkamerad ist eine beliebte Figur in philosophischen Texten, die so etwas wie eine umgekehrte Begriffsperson ist und durch eine einfache Absetzung neue Denkbewegungen ermöglicht. Eine spezifische Pointe könnte darin liegen, auch die realen Produktionsbedingungen einiger philosophischer Bücher zu untersuchen. So wurde Was ist Philosophie? genau wie die Tausend Plateaus oder der Anti-Ödipus gemeinsam von Deleuze und Guattari geschrieben. Die beiden freundschaftlichen Komplizen, so nennt sie ihr Biograph Francois Dosse21, schrieben sich unablässig Briefe, in denen der eine einen Begriff vorschlug, den der andere weiterführte usw. Auch die Meditationes Descartes’ zusammen mit ihren Einwänden betrachtet, zeigen eine Diskussion von Freunden und Rivalen. Man denke auch an Marx und Engels oder an Adorno und Horkheimer. Vielleicht kann man gerade in der Ergrün21 FranÅois Dosse nennt die Beziehung von Deleuze und Guattari eine „complicit8 amicale“, eine freundschaftliche Komplizenschaft, Dosse 2007: 17.

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dung der Weisen ihres Zusammenarbeitens spezifische Bedingungen der Begriffsbildung aufzeigen und unterscheiden. Deleuze beschreibt die Zusammenarbeit mit Guattari wie folgt: „Ein Problem gäbe es, wenn wir exakt zwei Personen wären, von denen jede ihr eigenes Leben, ihre eigenen Meinungen hätte und sich vornehmen würde, mit dem anderen zusammenzuarbeiten und zu diskutieren. Als ich sagte, dass F8lix und ich eher wie zwei Bäche waren, wollte ich damit sagen, dass Individuierung nicht zwangsläufig persönlich ist. … Wir haben eher die Individualität von Ereignissen … Zu zweit schreiben wird in dieser Hinsicht ganz normal. Es genügt, dass etwas passiert, eine Strömung, die allein den Eigennamen trägt. Selbst, wenn man glaubt, als Einzelner zu schreiben, passiert es immer mit jemand anderem zusammen, der nicht immer benennbar ist.“22

Literatur Blanchot, Maurice (1969): L’ Entretien infini, Paris: Gallimard. Bruno, Giordano (1994): Über das Unendliche, das Universum und die Welten, Stuttgart: Reclam. Deleuze, Gilles (1993): Die Fürsprecher. In: ders.: Unterhandlungen. 1972–1990, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 175–196. – –(1997): Differenz und Wiederholung, München: Fink. – –(2003): Die Methode der Dramatisierung. In: ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 139–170. Deleuze, Gilles/F8lix Guattari (2000): Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Descartes, Ren8 (1989): La recherche de la v8rit8 par la lumiHre naturelle, Würzburg: Königshausen & Neumann. Dosse, FranÅois (2007): Gilles Deleuze et F8lix Guattari. Biographie crois8e, Paris: La D8couverte. Flasch, Kurt (2008): Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner. Leibniz, Gottfried W. (1996): Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg: Meiner. Nancy, Jean-Luc (1988): Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz.

22 Deleuze 1993: 205f.

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Jean-Luc Nancy opens his La communaut8 d8soeuvr8e, translated into English as “The Inoperative Community”, with a challenge. He writes, in his characteristically convoluted style that “[…] the gravest and most painful testimony of the modern world […] is the testimony of the dissolution, the dislocation, or the conflagration of community”. And he links this “to the exhaustion of thinking through History”. In Nancy’s case this “exhaustion” seems to be connected to the decay of historicism and particularly Marxism as a way of understanding history. But he also argues that: “The lost or broken community can be exemplified in all kinds of ways and by all kinds of paradigms […]. Always it is a matter of a lost age in which community was tight and bound to harmonious bonds in which above all it played back to itself, through its institutions, its rituals, and its symbols […]”.1 The appeal of community is then, according to Nancy, directly connected to a sense of nostalgia. Nancy goes on to discuss how a community might be defined and disrupted through a relationship with death and with literature. And he seems to be doing all this with the aim of conceiving alternative notions of community on a small scale, which have the potential of liberating us from the alienation inherent to modern society, while resisting the temptations of individualism, nationalism and totalitarianism.2 In this brief article, Nancy will be turned on himself in an effort to try and think through a particular community located in 18th century Ukraine from the perspective of the Inoperative Community.

1 Nancy 2012: 9. 2 Nancy 2012: 1–42.

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Nezhin Brotherhood The community I’m going to be discussing is a brotherhood of Balkan merchants that formed in north-eastern Ukraine during the last quarter of the 17th century. The members of this Brotherhood called themselves ‘Romioi’, denoting that they were Orthodox Christians of the Ottoman Empire. Many members of the ‘Brotherhood’ spoke Greek as a second language, others not at all, but the official language of their communal institutions, both secular and religious, was Greek. Nezhin was far from the dangerous coast, and did not lie on any of the significant rivers linking Ukrainian territories with the Black Sea. The city was however ideally suited for the caravan trade connecting the Ottoman Empire through Wallachia, Moldavia and Poland with Muscovy. Three fairs annually gave Nezhin pride of place in an expanding network of other fairs serving the town’s hinterland, the left bank of the river Dnieper, ‘Kazakia’ as it was often known at the time, the ‘Hetmanate’ as it is often referred to today, and of course the wider Russian south.3 Following the violent expulsion of most Jews from the region, the Hetman of the Left Bank of Ukraine Bogdan Khmel’nitskii ceded trading privileges to Greeks, Armenians and Muslims (in other words to the non-Jewish populations of the Ottoman Empire) in the territories under his control though a Universal (or decree) of 1657. The Brotherhood’s founding charter, and a number of texts related to it, date, however, only to 1696 or 1697. There are three ways in which the paper will see to relate this particular Brotherhood to The Inoperative Community. First, it will set out the ways in which the founding Charter and related texts of 1696 and 1697 write the community, conceiving of it as sacred. Second, it will consider the manner in which the lost or ideal community was played back to itself, in other words the ways in which the original Charter and related texts served as a template for later interaction between members of this community. And third, it aims to examine the tension between this ideal community and capital as seen in particular in the credit systems which these Balkan merchants were instrumental in introducing into the wider region. Underlying all these is an albeit brief exploration of what is gained and what is lost as part of this interdisciplinary attempt to investigate the Nezhin Brotherhood through Jean-Luc Nancy’s approaches.

3 For more on the Nezhin brotherhood, see FQa\Q]`_SYh [Harlampovich] 1929.

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Sacred texts Communities have become something of a focal point for research on populations in both the Ottoman Empires and what is today Ukraine during the Early Modern period.4 The Nezhin Brotherhood itself was connected to a range of over one hundred similar Brotherhoods, established in the context of religious conflict and week state institutions in eastern Poland, Ukraine and Belarus between the sixteenth and the eighteenth centuries. Chief among these was the Orthodox Brotherhood of the Dormition of the Mother of God at Lviv, whose founding charter was confirmed by the Patriarch [Joachi V] of Antioch in 1586 and the Patriarch [Jeremiah II] of Constantinople in 1589. Up until 1709, when its members accepted the Union with Rome, the Brotherhood of the Dormition served as a centre of Orthodox religious and cultural life. These Brotherhoods were urban confraternities which, unlike parishes, were based on voluntary membership. They have been studied on a number of occasions, most notable by Constantine Harlampovich at the end of the 19th century and, more recently, by Iaroslav Isaievych. Despite noting the many similarities between religious Brotherhoods and craft guilds, these scholars have set a pattern in distinguishing between the two, with respect to Ukrainian history at least. Thus in his work of 2006 Isaievych notes: “in this study we shall leave aside guilds that should be studied in the context of social and economic history and consider only confraternities of a mainly religious character”.5 The religious character of the Brotherhood of the Dormition of the Mother of God at Lviv has never been in doubt. Its founding Charter has recently been published by Iu. Shustova.6 A comparison of the Charters of the Brotherhood of the Dormition of the Mother of God and the Nezhin Brotherhood is revealing. As was the case with the charter of the Dormition of the Mother of God, so too the Nezhin Brotherhood was established in 1696 as a ‘Stavropegial’ community, grouped around the Church of the Archangels Michael and Gabriel, and the Church of All the Saints. As was the case with the ‘Stavropegial’ monasteries of the Eastern Roman Empire, such communities were not subservient to the local ecclesiastical authorities, but, at least in theory, directly to the Oecumenical Patriarch himself. Both Brotherhood’s charters commence by determining a range of issues related to religious observance: the role of priests in the community, their obligations and their earnings; there follow the obligations of those elected to serve 4 FQaQ\Q]`_SYh [Harlampovich] 1898. Isaievych 2006. Arvanitakis 2008: 17–24. Katsiadi-Hering 2004. 5 Isaievych 2006: 7. 6 For the Lviv Brotherhood, see Shustova 2009: 77–95.

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in the ‘offices’ of the Brotherhood, ‘offices’ that for the most part concerned the Brotherhood churches. According to the charters, anyone could join the Brotherhoods should they wish, though most members of both Brotherhoods were craftsmen and merchants. The prospective member paid his dues and swore an oath. In the case of the Nezhin Brotherhood this oath was to the Mother of God, to the Holy Trinity, to All the Saints and to the Archangels Michael and Gabriel. Having taken the oath, this latest member of the Brotherhood worshiped the New Testament and prostrated himself before the Brotherhood’s twelve office holders. The obvious conclusion of such an investigation is that the Charter of the Nezhin Brotherhood was modelled on the Charter of the Brotherhood of the Dormition of the Mother of God at Lviv, either directly, or, more likely, indirectly through the example of other similar Brotherhoods. The secular and the sacred cannot so straightforwardly be detached. Even more interesting however is a document that accompanied the Charter of the Nezhin Brotherhood. This is a testament to the foundation of the Nezhin ‘Stavropegial’ Brotherhood composed by one of its founding members, the well educated and well connected merchant Panagiotis of Rhodes. The testament consists for the most part of a hagiography of the Brotherhood’s first priest, Father Christodoulos, described at some length: “though at first glance he seemed to be a human being, as he was, at a second glance he appeared divine in his inner being […] and one could say that he was an earthly angel and a heavenly human”. Over the course of several pages, this man’s godly readings, personal poverty and great charity are expounded upon. In his alms collecting he was “a busy bea that collected honey from every flower”. And he is compared to St. John the Merciful, the 7th century Patriarch of Alexandria, who protected the poor of Egypt, just as Father Christodoulos had protected the poor of Little Russia. Father Christodoulos’ personal combat with the demon, when the earlier church in Nezhin was burnt down during a service, is also described. Only right at the end of the densely written seven page document do we get the information that Father Christodoulos, and with him the leading merchant of the Brotherhood and close confident of the Hetman Ioann Mazepa Zgouros Katakuzylos, approached the Metropolitan of Kiev [Varlaam Iasinskii], the highest religious authority in the region, requesting a Chryssobulon or decree granting the Brotherhood privileges. Christodoulos received this on the third of July 1696. As related in the text, only after receiving permission from the Metropolitan did the Nezhin Brotherhood approach the Hetman himself, requesting a ‘Universal for the Brotherhood Church of God together with privileges and terms’ which was also received. Father Christodoulos passed away “blessing all the Brothers

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[…] and calling on all those who came after to support the interest of the Church for the perfection of the Brotherhood”.7 The testament itself was composed in 1699. Interestingly, however, and as the historian Chistos P. Laskarides has pointed out, the date of the death of Father Christodoulos has been tampered with and is written in a different hand, set to 1697. The likely reason is that Father Christodoulos had already passed away prior to receipt of the Metropolitan of Kiev’s Chryssobullon (Decree). His life was prolonged because this ideal community had to have as its founder “an earthly angel”. This was, then, in a very special sense, a union of the living and the deceased.8 Is it too far fetch to argue, quoting Nancy, that this is an example of “[…] nostalgia for a more archaic community that had disappeared”?9 And that this ideal community had already disappeared on the very day that it was being communicated into being?

Play Back There are many examples of play back connected to the community ideal. Crucially, the Brotherhood itself claimed the right to supervise the collection and distribution of alms, and forbade passing hierarchs, monks and the local clergy from doing so. Every Sunday after the celebration of the liturgy alms were collected in the Brotherhood churches for the Monasteries of Mount Athos, the Monastery of St. Catherine on Sinai and the Holy Sepulchre. It was through the collection of alms that the churches of Nezhin were completed in their current form. Funds were also distributed to those in poverty locally and to lay persons enslaved in Ottoman lands. The Brotherhood established its own home for the elderly and a hospital catering to the community’s basic medical needs. Large donations were recorded in a book, and donors were commemorated in church for posterity. The importance of giving was emphasised again and again in Brotherhood texts, as also in appeals by the destitute and the imprisoned addressed to the Brotherhood organs. Many Balkan merchants and craftsmen of Nezhin were not formerly members of the Brotherhood, but through the gifting and receiving of alms the ideal type of Brotherhood as communicated in the early documents examined above was constantly being reconstructed. The ideal Brotherhood did

7 Kasjaq_dgr [Laskarides] 1997: 108, 112. 8 Kasjaq_dgr [Laskarides] 1997: 27f. 9 Nancy 2012: 10.

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impinge upon the real, though the importance of Brotherhood control over almsgiving also points to the preservation of power structures. Thus, both in the charter and in other documents, it was decreed that as soon as a merchant contravened Brotherhood regulations his ties were severed, and its priests were not permitted to accept him to Communion in the Brotherhood churches. On one occasion when a merchant was expelled from the Brotherhood this was linked to the question of alms giving. Excluded from the Brotherhood’s networks of alms giving and exchange “all […] should regard him as a Judas, and […] he should have no prospects for engaging in any type of activity with the brothers and with the church […]”.10 Thus a geography of giving emerged with the members of the Brotherhood constructing a wider community of inclusion and exclusion.

Credit and Court In all this talk of alms, it’s easy to forget that the vast majority of members of the Brotherhood were craftsmen and traders. Trade requires credit. Foreign merchants used a wide variety of debt contract instruments, this constituting one of their primary advantages and an important instance of technological transfer. But credit also requires a medium for resolving disputes. The members of the Nezhin Brotherhood enjoyed the privilege of resolving their disputes in their own oral court, in the ‘Kriterion’ as they termed it, something that, from the very beginning, differentiated them from the Brotherhood of the Dormition of the Mother of God in Lviv. The judges were chosen by mutual consent and were not necessarily the governors of the Brotherhood. Disputants were obliged to respect the judges’ resolutions and to pay any fines that might accrue. At first, there was to be no appeal against their decisions. For obvious reasons, evidence from oral court proceedings is limited. At least from 1734 on, however, disputes could also be settled in court through written proceedings, though the vast majority of disputes continued to be tried orally. In contrast to oral dispute resolution, parties to a dispute which followed written procedures could appeal to the highest court on Little Russian territory. Trial following written procedures thus generated a considerable paper trail. Quite apart from the question of who did and who did not have the privilege to be tried, there was the ongoing dispute concerning whether the Court should hear cases between Balkan merchants and non-Balkan merchants – a dispute which spawned frequently contradictory legislative activity on the part of the 10 Jaqqar [Carras] 2010: 439.

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Russian authorities and helped define the discussion over who could and who could not share in the Brotherhood’s privileges. The source or authority for the ‘rule of law’ that the Court was charged to dispense was to prove an equally intractable issue. One merchant invoked the legislation of Peter I, of Anna Ioannovna, of Catherine II, in addition to the legal traditions of Little Russia and the Hexabiblos of Armenopoulos. Indeed the ‘Kriterion’ could itself take account of the all these legal authorities, as well as the laws of Magdeburg and of the Polish-Lithuanian Commonwealth. This was legal pluralism with a vengeance. The judicial field was open to constant reinterpretation, something that was particularly true with regard to the crucial question of credit, the regulations governing the oblig, a particular type of promissory note favoured by Balkan merchants, being different from those governing the veksel, championed by the Russian authorities. If, as the Russian 18th century economist Chulkov was to claim, “credit is the life-blood of commerce”, then this life-blood had to pass through arteries clogged by disagreement over where differences between creditor and debtor should be resolved. Passage through the ‘Kriterion’ entailed the exercise by the Balkan merchants of Nezhin of words, phrases and arguments that were correlated to the rhetorical needs of the disputants. Truth was an issue. This quest for truth within the context of the court engendered an understanding of cause. And also of intention; thus while a certain Koumbourlis claimed that his daughter Martha was abducted and married off against her will, another witness retorted that Martha “had left willingly” for her betrothed. Due process was also stressed. Disputants insisted on the election of judges according to set procedures. Claims one defendant: “according to the law it is not permitted that he should be a judge of the Brotherhood”. The same holds for the members of special commissions set up by the ‘Kriterion’ to examine particular disputes. All those involved in a case had the right to access copies of the relevant documents. Through court rhetoric, the content of justice and injustice was investigated. One defendant is accused of acting “unjustly and against reason”, another states that the ‘Kriterion’ was brought into being to “bring justice to those wronged”. Indeed every judge had to swear an oath that he was “just” and that he would serve “in a spirit of justice”. Justice was however not an abstract value, but a personal quality, akin in many ways to honour. Disputants speak of “my justice” or “his justice”.11 In sum, the words, phrases and argumentation used by the disputants con-

11 ;QaaQb [Carras] 2012: 101–112.

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stitute an open ended series of texts. These impacted upon the Balkan merchants activities both inside and outside the context of the ‘Kriterion’. Of course here too the gap between ideal conceptions of justice and the reality of bureaucracy and corruption was all too real; and here too language constituted part of a system of power relations. What is noteworthy, however, is that in this case the rhetoric was constructed in large part from the bottom-up, imagined into being to serve the needs of vastly expanding trading opportunities rather than – as is often assumed to be the case with law – as a direct response to state legislation. But there is one crucial difference: the community communicated through the Court was not a nostalgic recreation, or an imaginary picture of the past. It was a very real picture of a cooperative and agonistic present, with the aim of providing credit. Thus in the particular context of the Nezhin Brotherhood in 18th century Ukraine the need for the supply of capital and hence for a relatively functioning legal system engendered texts, rituals and acts, for example the act of bearing witness, that could contribute to fostering trust and communicating community. It is worth noting in this context that, as the 18th century progressed, the Court was increasingly viewed as co-dependent with the Brotherhood. This development can be viewed through changes in the official stamp of the Brotherhood. As mentioned above, the first stamp of 1692 confirms the Brotherhood’s religious character. Later in 1736 the stamp was recast. The new cast of the Greek Brotherhood Court included a hand holding a scale with the words, ‘Stamp of the Nezhin Greek Arbitration Court 1736, January 1st.’12 In 1775 a further stamp wrote ‘Stamp of Her Imperial Majesty’s Court of the Nezhin Greek Brotherhood’.13 The mode of self-representation had changed. And yet community was still the end result. In his discussion of Karl Marx in Literary Communism Nancy concludes: “capital negates community because it places above it the identity and the generality of production and products”.14 It is tempting to retort, that this is not necessarily the case. At least on the scale examined here credit was also a social product dependent on trust, and fostering cooperation. It might or might not have accrued to a community as a whole. But a certain de-sacralisation has undoubtedly occurred.

12 ‘@VhQcm ^VWY^b[QT_ TaVhVb[QT_ [_]`a_]YbbYQ\m^QT_ bdUQ 1736 T_UQ, TV^SQap 1 U^p’. 13 ‘@VhQcm 6p 9]`VaQc_ab[QT_ 3V\YhVbcSQ BdUQ þVWY^b[QT_ 4aVhVb[QT_ 2aQcbcSQ’. 14 Nancy 2012: 75.

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Conclusion If this case study reveals anything, it is the incredible adaptability of the Nezhin Brotherhood, a Protean institution that was the longest lasting of all those established during the period when Left-Bank Ukraine was ruled by Hetmans. It was only finally abolished in 1873. Interestingly, the first literary account of the Nezhin Brotherhood was by Nikolai Gogol who composed a satire on the community while he was a student studying in Nezhin. Gogol burnt this early work, and as a result the Nezhin Brotherhood cannot aspire to the renown of the Brotherhood of Zaporozhians Cossacks. In any case, Gogol’s Dionysiac Taras Bulba fits Nancy’s “lost age” much better than his work on Nezhin’s merchants could ever have done. Though Nancy’s understanding of community is as a constitutive aspect of being, he does have a sense of community being more or less accessible or more or less abundant depending on its historical material. But there seems to be little direction to that material. It is the fundamental conditions of humankind that remain his focus: “Community is given to us with being and as being, well in advance of all our projects, desires and undertakings.”15 The increasing interest in Brotherhoods and other types of voluntary organisation that has characterised historiography of the last twenty years is however closely connected with the freshness and at times recklessness of thinking through History, with Nancy’s capital H. Thus the standard view of guild type organisations has been challenged by the likes of Epstein, Prak and Richardson who have emphasised their benefits for long term economic development, stressing in particular their role in labour mobility, technological innovation and human-capital formation.16 Ukraine in the 18th century constitutes a dramatic example of rapid development in a very limited period of time, with the Nezhin Brotherhood modifying the standard view of the Russian Empire as one where voluntary organisations played a very limited role. As Nancy is aware, the literary deconstruction of community can seem oddly static in comparison. Nonetheless, and in particular through an examination of foundational myth, Nancy’s work can challenge and broaden historical approaches to understanding Brotherhood.

15 Nancy 2012: 35. 16 See, for example, the articles in Epstein/Prak 2008 and Richardson 2001: 217–242.

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Sektion 2: Affektive Gemeinschaften

Christian Kühner

Freunde, Schmeichler und Verräter. Freundschaft im Spiegel der europäischen Hofmannstraktatistik der Frühen Neuzeit

Die Erforschung des Phänomens Freundschaft und allgemeiner der sozialen Nahbeziehungen in der europäischen Frühneuzeit hat sich traditionell stark mit dem Milieu des Adels, insbesondere des höfischen Adels, auseinandergesetzt.1 Das hat zum einen mit der Quellenlage zu tun, da die für die historische Freundschaftsforschung besonders ergiebigen Quellen – insbesondere Briefe und autobiographische Texte – im Milieu des Hochadels in besonders reichhaltigem Maße vorhanden sind; zum anderen mit der engen Verbindung von Freundschaft und Politik in diesem Milieu, die Untersuchungen über Freundschaft im Milieu des Hofes anschlussfähig an bestehende Debatten der politischen Geschichte (etwa über die politische Rolle des Hofes in frühneuzeitlichen Monarchien) macht.2 Die Freundschaft im höfischen Adelsmilieu hat aber nicht nur eine Sozial- und Kulturgeschichte, sondern bildet gewissermaßen auch ein Kapitel der Ideengeschichte der Freundschaft im vormodernen Okzident. Natürlich kann man über die Beschreibung von Freunden, Freundschaften und Freundschaftshandeln in Selbstzeugnissen wiederum Alltagskonzeptionen der Freundschaft in diesem Milieu erforschen; es gibt aber auch Texte, in denen über die Freundschaft als solche reflektiert wird. Zu denken ist hier natürlich zunächst an die Aphorismen höfischer Autoren, in Spanien an Graci#n, in Frankreich an La BruyHre und La Rochefoucauld. Es liegt aber in der Natur dieser Textgattung, dass aus ihr nur einzelne Beobachtungen zu entnehmen sind.3 Wesentlich ausführlichere Reflexionen über das Wesen der Freundschaft 1 Die historische Freundschaftsforschung konnte dabei von der intensiven Erforschung von Klientelbeziehungen in den Eliten des vormodernen Europa profitieren; genannt seien hier insbesondere Reinhard 1979 und Kettering 1986. Für einen detaillierten Forschungsstand sei verwiesen auf Kühner 2013. 2 Zu Sozialbeziehungen am Hof jüngst Sternberg 2014 und Horowski 2012. 3 Das Hauptthema der im Milieu des frühneuzeitlichen Hofes entstandenen Romane ist hingegen die Liebe, nicht die Freundschaft; allerdings wäre es lohnenswert, diese Romane einmal systematisch auf die Darstellung von Freundschaft hin zu befragen. Dasselbe gilt für solche Theaterstücke, die vor allem für ein höfisches Publikum geschrieben wurden.

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im allgemeinen und am Hof im besonderen finden sich hingegen in einer anderen Quellengattung, und zwar in den sogenannten Hofmannstraktaten. Diese Reflexionen sind deutlich verschieden von einer anderen Linie des Nachdenkens über Freundschaft, die man als die Hauptlinie antiken und mittelalterlichen Denkens über Freundschaft in der westlichen Tradition bezeichnen könnte, nämlich der philosophischen, die sich im Mittelalter zu einer philosophischtheologischen erweitert.4 Diese Tradition zeichnet sich durch eine stark normative Ausrichtung aus; ihr Thema ist bei Aristoteles wie bei Augustinus, Thomas von Aquin oder Aelred von Rieval die wahre Freundschaft. Demgegenüber haben die Hofmannstraktate ein anderes Erkenntnisinteresse: Ihnen geht es darum, wie ein Höfling erfolgreich am höfischen Leben teilhaben kann. Dabei ist Freundschaft, insbesondere die Frage nach der Wahl der Freunde, ebenso ein Thema wie ihr Gegenstück, die Feindschaft, insbesondere in Form der Frage nach falschen Freunden und dem Problem, wie man sich vor Verrat und Täuschung schützen kann. Darüber hinaus drücken sich die beiden Traditionen in verschiedenen Sprachen aus: Während die philosophische Reflexion über Freundschaft traditionell in lateinischer Sprache stattfand, sind Hofmannstraktate generell volkssprachliche Texte, auch wenn es Texte gibt, die wie Giovanni Della Casas „De officiis inter potentiores et tenuiores amicos“ in lateinischer Sprache gehalten sind und die man dem Genre des Hofmannstraktats durchaus zurechnen kann, auch wenn sie sicher auch Züge der traditionellen lateinischsprachigen gelehrten Abhandlung tragen. Die unterschiedlichen Sprachen haben mit unterschiedlichen Adressatenkreisen zu tun: Philosophische Abhandlungen richteten sich an Gelehrte, Hofmannstraktate hingegen an Adlige. Der erwähnte Text Della Casas liegt als ein Produkt des italienischen Humanismus gewissermaßen an der Schnittstelle beider Traditionen. Der vorliegende Beitrag anhand einiger Hofmannstraktate des italienischen 16. und des französischen 17. Jahrhunderts der Frage nachgehen, wie in diesen Texten über Freundschaft nachgedacht wurde.5 Im 16. Jahrhundert besaßen die Höfe der italienischen Renaissance, im 17. Jahrhundert der französische Königshof in besonderem Maße eine europaweite kulturelle Ausstrahlung, so dass es naheliegt, sich auf diese Länder zu konzentrieren. Was die Auswahl der Texte angeht, so fiel sie bei der italienischen Renaissance leichter als beim französi4 Inzwischen hat sich in der Freundschaftsforschung eine Art Kanon derjenigen Texte herausgebildet, die als Klassiker des Denkens über Freundschaft in der westlichen Tradition gelten; Zusammenstellungen und Kommentare dieser Texte finden sich in Überblickswerken zur Geschichte der Freundschaft, auch wenn die genaue Zusammenstellung der Texte natürlich von einer Überblicksdarstellung zur anderen abweicht. Genannt seien an solchen Überblickswerken stellvertretend für noch eine Reihe anderer Jusdanis 2014; Vincent-Buffault 2010; Rapsch 2004; Schinkel 2003; Pizzolato 1993. 5 Dabei wird insbesondere auf dem Aufsatz von Asch 2007 aufgebaut.

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schen siHcle classique; hier hätten weitere Texte desselben Genres besprochen werden können, was aus Platzgründen nicht möglich war. Methodisch stellt sich hier – wie bei allen Arbeiten zur Geschichte der Freundschaft – die Frage, wie das Thema abgegrenzt werden soll, wie also die Aussagen über Freundschaft aus dem allgemeinen Feld der Aussagen über Nahbeziehungen oder überhaupt über zwischenmenschliche Beziehungen und Höflichkeit herausgefiltert werden sollen.6 Eine Ideallösung gibt es dabei nicht. Grenzt man die Untersuchung auf bestimmte Schlüsselbegriffe ein, riskiert man, Wichtiges zu übersehen, das unter anderen Termini abgehandelt sein mag; definiert man hingegen vorab, welche Arten von Beziehungen als Freundschaft gelten sollen, riskiert man die Ergebnisse zu verzerren, indem nur solche Beziehungen in den Blick kommen, die in das vorher definierte Raster passen – womit die Gefahr besteht, genau solche Formen der Freundschaft aus dem Blick zu verlieren, die sich besonders deutlich von heutigen unterscheiden und somit aber auch besonders viel über die Unterschiede zwischen frühneuzeitlicher und heutiger Beziehungspraxis aussagen können. Hinsichtlich dieser Überlegungen soll hier die Untersuchung durch die frühneuzeitlichen Quellenbegriffe abgegrenzt werden, also durch „amico“, „amicitia“, „ami“ und „amiti8“.7 Auf diese Weise kann man in den Texten Aussagen darüber auffinden, welche Eigenschaften die Freundschaft nach Ansicht der Autoren hat und welche Verhaltensweisen dem Höfling in der Freundschaft angeraten werden. Dabei kann allerdings im Rahmen dieses Beitrags weder ein Überblick auch nur über die wichtigsten Texte der Hofmannstraktatistik gegeben werden, noch kann innerhalb der ausgewählten Texte jede Textstelle, in der von Freundschaft die Rede ist, vorgestellt und besprochen werden. Die Analyse hat sich auf jeweils einzelne, besonders prägnante Passagen zu konzentrieren. Wenn also ein Topos bei einem der vorgestellten Texte nicht besprochen wird, so ist daraus nicht unbedingt zu schließen, er komme in diesem Text nicht vor – so finden sich z. B. bei Castiglione an verschiedenen Stellen auch Aussagen über Schmeichler. Der Beitrag kann allenfalls einen Eindruck von generellen Akzentsetzungen der einzelnen Texte beim Thema Freundschaft geben. Was schließlich hier auch unterbleiben muss, ist eine Einordnung der Aussagen und Passagen zur Freundschaft in die Gesamtkomposition des jeweiligen Traktats; hier wäre Raum für weitere Forschungen. Zur Textgattung sind ebenfalls einige einleitende Anmerkungen zu machen. Es wird kaum überraschen, dass der Terminus „Hofmannstraktate“ wohl eine größere Einheitlichkeit suggeriert, als sich bei näherem Hinsehen in den Texten findet. Dennoch ist der Begriff inzwischen für eine Reihe von Texten etabliert, 6 Die Literatur zur frühneuzeitlichen Höflichkeit ist hier nichtsdestotrotz natürlich auch einschlägig. Genannt seien Peltonen 2003, Felderer/Macho 2002 und Beetz 1990. 7 Das Verfahren orientiert sich methodisch somit an dem in Kühner 2013 angewandten.

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die oft auch deutlich aufeinander aufbauen. Obwohl man sicherlich Wurzeln des Genres in mittelalterlichen Texten über höfisches Benehmen ausmachen kann, ist der Ursprungskontext der frühneuzeitlichen Hofmannstraktate die italienische Renaissance; die ersten Texte der Gattung sind denn auch in italienischer Sprache gehalten (und in lateinischer, wenn man „De officiis inter potentiores et tenuiores amicos“ hinzurechnen möchte).8 Von Italien aus verbreiten sich diese Texte dann in andere europäische Länder ; einerseits als Übersetzungen, andererseits, indem dort neue Traktate in den jeweiligen Landessprachen entstehen. Es ist nun nicht ganz einfach zu bestimmen, in welchem Modus diese Texte über die höfische Gesellschaft sprechen. Reale, manchmal aber auch fiktive Personen führen fiktive Dialoge; andere Texte drücken sich im Stil der Abhandlung aus. Berichte vom Hof, Geschichtsschreibung von Augenzeugen sind diese Texte nicht und wollen es nicht sein; andererseits ginge man auch fehl, würde man sie als rein fiktionale Texte einordnen. Denn die Hofmannstraktate wollen sehr wohl etwas über reale Höfe aussagen. Sinn und Zweck der Texte ist ja schließlich, ihrem intendierten Leser, einem Höfling, insbesondere einem jungen Höfling, Ratschläge an die Hand zu geben, wie er am Hof erfolgreich sein kann. Es handelt sich also, mit anderen Worten, um Ratgeberliteratur. Die Reflexionen über das Hofleben sind somit anwendungs- und handlungsorientiert; bei aller Fiktionalität im einzelnen sind diese Texte somit nicht als völlig losgelöst von der sozialen Praxis an den Höfen zu betrachten, denn wenn die Ratschläge der Texte mit dieser Praxis nichts zu tun haben, ist der Ratgeber für den Leser wertlos. Dabei kann hier ganz bewusst von ,dem Leser‘ gesprochen werden: Der intendierte Leser der Traktate ist ein männlicher Höfling, die Erörterungen richtigen Verhaltens am Hof drehen sich um das Verhalten von Männern. Der frühneuzeitliche Hof ist zwar ein sozialer Raum, der nicht nach Geschlechtern segregiert ist; das ändert aber nichts daran, dass zumindest der Hauptteil der höfischen Politik eine Domäne der Männer ist, denen auch die meisten höfischen Ämter vorbehalten bleiben. Der intendierte Leser ist zudem idealiter auch ein Adliger ; zwar gibt es auch Beispiele nichtadliger Höflinge, aber sie streben für gewöhnlich dann danach, in den Adel aufgenommen zu werden. Wenn also hier von Freundschaft am Hof, unter Höflingen die Rede ist, dann ist es hilfreich, die ungeschriebenen Normen und Verhaltenserwartungen adliger Männlichkeit mit im Blick zu haben.9 Zu bedenken ist darüber hinaus auch noch folgendes: Die Texte bemühen sich zwar, die Mechanismen des Hoflebens aufzuschlüsseln; das ändert aber natürlich nichts daran, dass jeder dieser Texte jeweils wiedergibt, 8 Zur Hofmannstraktatistik Hinz 1992; zu adligen Schriftstellern in der Frühen Neuzeit, darunter auch zu Castiglione, Costadura 2006. 9 Zu Adel und Männlichkeit im Frankreich des Spätmittelalters und der Renaissance Cox 2012; für das spätmittelalterliche Burgund ist das Thema aufgearbeitet worden von Bischof 2008.

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welchen Reim sich der jeweilige Autor auf das Hofleben macht – weswegen auch die Ratschläge, die verschiedene Autoren geben, durchaus voneinander abweichen können. Beginnen wir also mit den Texten des sechzehnten Jahrhunderts in Italien. Der Text, der als Ausgangspunkt der ganzen Gattung gilt, ist Baldassare Castigliones „Il libro del Cortegiano“, das 1528 erstmals veröffentlicht wurde.10 Castigliones Text ist ein Dialog, in dem verschiedene Höflinge auftreten und zu der Vielzahl der diskutierten Themen unterschiedliche Meinungen äußern. Man kann daher durchaus fragen, ob der „Cortegiano“ überhaupt inhaltliche Ratschläge gibt, oder ob es sich in erster Linie um einen Text handelt, der die Art und Weise eleganter Konversation vorführt – was in letzter Konsequenz heißen würde, dass die geäußerten Meinungen recht beliebig wären.11 Allerdings wäre es wohl auch überzogen, die geäußerten Meinungen nur als Sammlung von Gemeinplätzen zu sehen (auch wenn, wie weiter unten zu diskutieren sein wird, manche deutlich von traditionellen Topoi Gebrauch machen). Der erstaunliche doppelte europaweite Erfolg des „Cortegiano“ – der Text wird zum einen in viele Sprachen übersetzt und begründet zum anderen das Genre der Hofmannstraktatistik – dürfte dafür sprechen, dass der Text von den Zeitgenossen nicht als reines Glasperlenspiel oder als Florilegium, sondern als ein Buch wahrgenommen wurde, aus dem man über höfisches Verhalten Nützliches lernen konnte. Was sagt dieser Text nun zum Thema Freundschaft? Die Kapitel XXIX und XXX des zweiten Buches des „Cortegiano“ widmen sich der Freundschaft, genauer der Frage, wie man die Freunde auswählen soll. Einer der diskutierenden Höflinge, Federico, wirft das Thema auf und plädiert dafür, die Freunde nach dem Ähnlichkeitsprinzip auszusuchen: „perch8 indubitatamente la ragion vol che di quelli che sono con stretta amicizia ed indissolubil compagnia congiunti, siano ancor le volunt/, gli animi, i giudici e gli ingegni conformi.“12 Es sei nämlich auch so, dass man nach den Freunden beurteilt werde, mit denen man Umgang pflege; wer mit Schlechten und Unwissenden sich umgebe, werde für schlecht und unwissend gehalten, wer die Gesellschaft von Weisen suche, für weise. Pietro Bembo pflichtet ihm zwar bei, merkt aber darüber hinaus an, es sei bei der Auswahl der Freunde nicht nur das Risiko für die eigene Reputation zu 10 Seiner herausgehobenen Bedeutung unter den Hofmannstraktaten entsprechend gibt es zum „Cortegiano“ auch besonders viel Sekundärliteratur. Zuletzt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Jakobs 2015; zum Thema der Liebe bei Castiglione Steigerwald 2014; des Weiteren zu Castiglione Cantagrel 2012: 233–307; Kolsky 2003; Honnacker 2002: 35–78; Brinkmann 2001; Quondam 2000; Berger 2000; Hinz 1992, hier zum „Cortegiano“ als Text insbesondere 73–138; zur europäischen Rezeptionsgeschichte Burke 1995, deutsch als Burke 1996. 11 Zu diesem Problem und zu den verschiedenen in der Forschung dazu geäußerten Meinungen Hinz 1992: 73–100. 12 Castiglione 1965: 130.

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bedenken, sondern auch der Umstand, dass es heutzutage nur noch sehr wenige wahre Freunde gebe: Er glaube nicht, dass man Freunde wie Orest und Pylades, Theseus und Peirithoos, Scipio und Laelius heute noch fände. Bembo zitiert also einige der prominentesten Freundespaare der klassischen antiken Mythologie und Literatur, neben denen sich die Freundschaften des eigenen Zeitalters angeblich kläglich ausnehmen – mobilisiert wird hier der Topos von der Unübertrefflichkeit der klassischen Antike. Heute, so Bembo, komme es nämlich vor, dass Freunde, die lange Jahre in Eintracht gelebt hätten, sich plötzlich betrügen würden: „anzi non so per qual destin interviene ogni d& che dui amici, i quali saranno vivuti in cordialissimo amore molt’anni, pur al fine l’un l’altro in qualche modo s’ingannano, o per malignit/, o per invidia, o per leggerezza, o per qualche altra mala causa; e ciascun d/ la colpa al compagno di quello, che forse l’uno e l’altro la merita.“13

Da er selbst schon von geliebten Personen hintergangen worden sei, sei er inzwischen sehr skeptisch, ob man sich dem Freund vorbehaltlos anvertrauen solle.14 Federico hält dagegen: Verschwände jene höchste Form der Freundschaft (mit der er, wie man aus Bembos Vorrede folgern kann, offensichtlich jene meint, bei der man sich dem Freund vorbehaltlos anvertraut), so wäre der Schaden wesentlich größer als der Nutzen, ja mehr noch, ohne jene höchste Form der Freundschaft wären die Menschen unglücklicher als alle Tiere: „senza questa perfetta amicizia gli omini saranno piffl infelici che tutti gli altri animali“.15 Wenn einige den heiligen Namen der Freundschaft missbrauchten, so dürfe man nicht die Guten aufgrund der Schuld der Schlechten ihres Glückes berauben. Er glaube durchaus, dass es unter seinen Zeitgenossen mehr als ein Freundespaar gebe, das den von Bembo genannten antiken Freunden gleichkomme. Interessant ist nun, wie er das Zustandekommen solcher besonders vorzüglicher Freundschaften begründet: „e cos' interviene quando, oltre alla inclinazion che nasce dalle stelle, l’omo s’elegge amico a s8 simile di costumi; e tutto l’intendo che sia tra boni e virtuosi, perch8 l’amicizia de’ mali non H amicizia.“16 Die Sterne, die hier genannt werden, könnte man sowohl wörtlich als Ausdruck des in der Frühen Neuzeit weit verbreiteten astrologischen Denkens auffassen, oder schlicht als Metapher für die gegenseitige Zuneigung, die sich nicht restlos begründen lässt; sie reicht aber nicht aus, sondern die Ähnlichkeit der Sitten, modern könnte man formulieren: des Lebensstils muss dazukommen. Dass dies alles nur gilt, wenn es sich um gute und tugendhafte Menschen handelt, ist unverkennbar ein Widerhall der „Nikomachischen Ethik“ des Ari13 14 15 16

Castiglione 1965. Castiglione 1965: 130f. Castiglione 1965: 131. Castiglione 1965.

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stoteles, der zufolge wahre Freundschaft nur zwischen tugendhaften Menschen möglich ist. Federico ist allerdings skeptisch, ob dieses enge Band mehr als zwei Personen verbinden könne; drei Musikinstrumente seien ja auch schwerer aufeinander abzustimmen als zwei: „Laudo ben che questo nodo stretto non comprenda o leghi piffl che dui, ch8 altramente forse saria pericoloso; perch8, come sapete, piffl difficilmente s’accordano tre instromenti di musica insieme, che dui.“17 Der Höfling solle folglich einen einzigen Freund haben, den er allen anderen vorzieht; gleichzeitig solle er aber auch zu allen anderen freundlich sein, wobei er die Aufmerksamkeit nach Rang, Ansehen und wohl auch Tugend (die Formulierungen sind – vielleicht bewusst – vage) abstufen soll: „Vorrei adunque che ’l nostro cortegiano avesse un precipuo e cordial amico, se possibil fosse, di quella sorte che detto avemo; poi, secondo ’l valore e meriti, amasse, onorasse ed osservasse tutti gli altri, e sempre procurasse d’intertenersi piffl con gli estimati e nobili e conosciuti per boni, che con gli ignobili e di poco pregio; di maniera che esso ancor da loro fosse amato ed onorato“.18

Um dieses Ziel zu erreichen, müsse der Höfling viele gute Eigenschaften mitbringen, die Federico nun in einer Art Tugendkatalog aufzählt, bei dem es insbesondere um Rücksichtnahme, Höflichkeit und Taktgefühl geht; der Höfling müsse die kleineren Fehler seiner Freunde ertragen, dürfe sich nicht wegen Kleinigkeiten mit ihnen zerstreiten. Federico schließt mit der Warnung, man solle sich vor allem nicht über seine Freunde beklagen: „il che H cosa odiosissima“.19 Im „Galateo“ von Giovanni Della Casa findet sich die Freundschaft ebenfalls thematisiert.20 Hier klingt schon eine Thematik an, die uns in weiteren Texten begegnen wird, nämlich dass Untugenden am Ende dazu führen, dass man Freunde verliert. So warnt Della Casa, die Menschen scheuten vor der Freundschaft mit Lästermäulern zurück, auch wenn sie ihnen gern zuhörten; denn sie fürchteten, dass ihr Gegenüber, das ihnen gerade Schlechtes über andere erzählt, in ihrer Abwesenheit ebenso Schlechtes über sie selbst erzählen werde: „e le persone schifano l’amicitia de‘ maldicenti, facendo ragione che quello che essi dicono d’altri a noi, quello dichino di noi ad altri.“21 Derselbe Autor hat auch, wie bereits erwähnt, einen lateinischsprachigen Traktat über die Freundschaft veröffentlicht. Der Text trägt bezeichnenderweise 17 18 19 20

Castiglione 1965. Castiglione 1965: 131f. Castiglione 1965: 132. Zu Della Casas „Galateo“ Berger 2000; für einen Überblick über die ältere Literatur zu Della Casa Santosuosso 1979. 21 Della Casa 1990: 31.

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den Titel „De officiis inter potentiores et tenuiores amicos“, also über die Pflichten zwischen den mächtigeren und den niedrigeren oder geringeren Freunden.22 Manfred Hinz hat diesen eher wenig beachteten Text Della Casas in seiner Studie über Hofmannstraktate eingehend besprochen.23 Auch wenn dieser Text – für einen Höflingstraktat eher ungewöhnlich – das Wort „Freunde“ sogar im Titel trägt, geht es in seiner Reflexion über Freundschaft nicht in erster Linie um die Untiefen und Fallstricke in den Freundschaften unter den Höflingen, sondern um das Verhältnis von Herren und Untergebenen, was auf den Hof angewendet bedeutet: von Herrschern und Höflingen. Della Casa greift dabei, wie Hinz herausgearbeitet hat, einerseits auf Aristoteles zurück und grenzt sich andererseits von ihm ab: Auch wenn sie abhängig sind, so sind seine „inferiores amici“ durchaus keine Knechte von Natur aus, die es bei Aristoteles noch gibt. Sie sind nicht aufgrund ihrer Natur von ihrem Herrn abhängig, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.24 Aufgabe des „inferior amicus“ ist es, seinen Herrn zu unterhalten; Della Casa will aber dennoch dem Höfling die Schmeichelei nicht empfehlen.25 Der Traktat mahnt vielmehr dazu, sich der Schmeichelei zu enthalten: „In sermone igitur et congressibus non modo comitas et suavitas adhibenda est, sed quaedam etiam reverentia: assentatio autem, de qua mox dicetur, procul amovenda.“26 Die „superiores amici“ werden hingegen moralisch ermahnt, sich gegenüber ihren Dienern nicht tyrannisch zu verhalten.27 Die Thematisierung des unterschiedlichen Ranges der Freunde taucht hier als Problem auf, zugespitzt allerdings auf den Extremfall des Abhängigkeitsverhältnisses von Herrscher und Beherrschten. Neben der Frage, ob zwischen Herrscher und Höfling so etwas wie Freundschaft überhaupt möglich war, stellte sich für die Höflinge auch das noch weit facettenreichere Problem, dass sie selbst unterschiedlichen Ranges waren. Des weiteren entsprachen sich Herkunft, 22 Della Casa 1564. 23 Hinz 1992: 277–294; auf „De Officiis“ wird auch eingegangen bei Asch 2007: 197–201, wo insbesondere die Frage der unaufrichtigen Kommunikation zwischen den ungleichen Freunden im Mittelpunkt steht. 24 Hinz 1992: 281ff. 25 Hinz 1992: 287ff. 26 Della Casa 1991: 160. – Wir zitieren hier nach der zweisprachigen Edition, die die lateinische Version der italienischen Version des Traktats gegenüberstellt, bei der allerdings nicht sicher ist, ob sie ebenfalls von Della Casa stammt; Hinz 1992: 280 nimmt dies als wahrscheinlich an, Arnaldo Di Benedetto ist in der Einleitung zu Della Casa 1991: 35 vorsichtiger und bezeichnet die Zuschreibung des italienischen Textes zu Della Casa als „tutt’altra che certa attribuzione“. Der der zitierten lateinischen Stelle entsprechende italienische Satz lautet: „Nelli detti dunque e nelli ragionamenti piacevole e dolce esser conviene, con alcuna riverenza lontana perk da ogni adulazione, di cui poco dappoi si ragioner/.“, siehe Della Casa 1991: 161. 27 Hinz 1992: 292f.

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Vermögen und politischer Einfluss eines Höflings nicht unbedingt immer : ein altadeliger Höfling konnte verarmt, ein hochrangiger Höfling in Ungnade gefallen sein; umgekehrt konnten Höflinge bescheidener Abkunft reich geworden oder durch die Gunst des Herrschers zu Macht gekommen sein. In den Begegnungen solcher Persönlichkeiten lag somit enormes Potential für die Verletzung von Empfindlichkeiten, und es wäre zu überlegen (und erscheint nicht unwahrscheinlich), ob dies ein wichtiger Grund dafür sein könnte, warum die Höflingstraktate so hohen Wert auf die Kunst der eleganten Konversation legen – natürlich kann man daneben noch andere Gründe anführen, insbesondere den adligen Imperativ, das Gegenüber nicht zu langweilen, und sicher auch die Funktion der höfischen Konversationskunst, zur Abgrenzung des Milieus der Höflinge gegen Außenseiter beizutragen, denen diese Fähigkeit abging. Stefano Guazzos „La civil conversazione“ ist neben Castigliones „Cortegiano“ und Della Casas „Galateo“ der dritte der drei besonders prominenten Texte der italienischen Hofmannstraktatistik des 16. Jahrhunderts.28 Der Text wurde 1574 zum ersten Mal veröffentlicht.29 Der Text setzt sich aus vier Büchern zusammen; die ersten drei bilden einen Dialog zwischen Guazzos Bruder, dem „Cavaliere“ Guglielmo Guazzo und dem Arzt Annibale Magnocavalli; das vierte zeigt die Umsetzung der in den ersten drei Büchern aufgestellten Regeln der Konversation bei einem Gastmahl.30 Eine Thematik, die hier deutlich auffällt, ist diejenige, wie man den Freund vom Schmeichler unterscheidet. Annibale bezeichnet im ersten Buch die Schmeichler als „amici nemici“; man darf diese wörtlich schwer übersetzbare Formulierung interpretierend übertragen als Feinde, die sich als Freunde ausgeben. Ein (nicht genannter) antiker Schriftsteller bezeichne sie als solche, weil sie unter den süßen Worten bittere, ja giftige Gefühle verborgen hätten, wie der Angelhaken im Köder und die Schlange zwischen den Blumen verborgen sei: „sono chiamati da un’antico scrittore amici nemici, perche sotto le dolci parole hanno l’amaro, et velenoso sentimento nascosto, in quel modo che sta nascosto l’hamo nell’esca, o’l serpe tra i fiori“.31 Schon im Satz zuvor hatte er in einem eindringlichen Sprachbild vor den Schmeichlern gewarnt: Wie der Tintenfisch die Farbe wechsle, so wechselten die 28 Hinz 1992: 327 sieht die drei genannten Texte zusammen als den Ursprung des Genres an: „Neben dem Cortegiano und dem Galateo ist noch La civil conversazione von Stefano Guazzo, in der ersten Auflage 1574 in Brescia erschienen, für die europäische Hofmannstraktatistik vorbildlich geworden. Die Namen der drei Verfasser wurden von den Zeitgenossen meist in einem Atemzug genannt.“ 29 Zu Guazzo und der „Civil Conversazione“ Patrizi 1990; Hinz 1992: 327–366; zu Guazzos Wirkung in Deutschland Bonfatti 1979; zur Wirkungsgeschichte in England Lievsay 1961. 30 Hinz 1992: 330. 31 Guazzo 1574: 36.

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Schmeichler je nach dem Geschmack der jeweiligen Gesprächspartner ihre Meinung; die Schmeichler seien „imitatori del beccaio, che gratta il porco con la mano per dargli della mazza su’l capo“, sie täten es also dem Metzger gleich, der das Schwein mit der Hand krault, um ihm dann den Schädel einzuschlagen.32 Den Freund vom Schmeichler zu unterscheiden aber sei schwer, um nicht zu sagen unmöglich; wie der Wolf dem Hund ähnele, so der Schmeichler dem Freund. Vorsicht sei daher angebracht: „bisogna guardare, che non pigliamo errore, & che pensando di metterci in guardia de ,cani, non cadiamo in preda de‘ lupi“, man müsse also achtgeben, dass man sich nicht in der Obhut von Hunden wähne und tatsächlich zur Beute von Wölfen werde.33 Das Sprachbild funktioniert natürlich vor einem Publikum des sechzehnten Jahrhunderts um so besser, da dieses die Bedeutungsebenen der Bestiarien in der Tradition des Mittelalters vor Augen hat; wie kaum ein anderes Tier steht dort der Hund für die Treue, was den Gegensatz zum Wolf noch eindrucksvoller macht.34 Dabei ist auch bei Guazzo die wahre, vollkommene Freundschaft nicht aus dem Blick geraten, sondern wird durchaus thematisiert. Im zweiten Buch diskutieren Annibale und der Cavaliere darüber, ob die wahre Freundschaft eigentlich „ceremonie“, also elaborierte Höflichkeitsformen brauche. Annibale gibt zu bedenken, so wie religiöse Rituale die Andacht förderten (und, so kann man die etwas vage Formulierung deuten, das Wohlwollen Gottes einbrächten), so erwürbe man sich durch Höflichkeitsformen das Wohlwollen der Freunde und setze sich zugleich von den Bauern ab: „Et si come le sacre cerimonie hanno forza nel cospetto di Dio, & eccitano le anime nostre alla divotione, cosi le mondane acquistano la benivolenza de gli amici, & Signori a cui sono dirizzate, & ci fanno conoscere per huomini civili, & differenti da i contadini.“35 Dennoch sei zu bedenken, dass die „ceremonie“ unter Freunden eher aus Anstand, denn aus Pflicht entsprängen: „Et brevemente habbiamo a riconoscer le ceremonie de gli amici, piF tosto come fatte per creanza, che per debito“.36 Der Cavaliere lässt die Argumente für die Höflichkeitsformen gelten, wendet aber ein, sie seien wohl eher nötig gegenüber Personen, die man wenig kenne, als gegenüber echten Freunden, denn die wahre Freundschaft sei die Feindin nicht nur der Worte, sondern auch von Prunk und Geziertheit: „Io vi faccio buone le ragioni da voi allegate in difesa delle ceremonie, ma dirk bene, che s’habbiano piF da osservare fra persone poco familiari, che fra veri amici, perche, s’io

32 Guazzo 1574. 33 Guazzo 1574. 34 Zum weiten Feld der Tiersymbolik im Mittelalter seien hier nur genannt Meier 2008; van den Abeele 2005; Maspero/Granata 1999; Morini 1996. 35 Guazzo 1574: 78. 36 Guazzo 1574: 78.

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non erro, la vera amicitia H nemica non meno delle parole, che di tutti gli atti pieni di pompa, & d’affettatione.“37

Annibale stimmt ihm zu, die wahre Freundschaft brauche keine Zeremonien; er fügt dann an, er habe den einen wahren Freund, den man für diese vollkommene Freundschaft brauche, noch nicht gefunden, wobei er sich auf Aristoteles beruft, nach dem die wahre Freundschaft nur zwischen zwei Personen möglich sei: „Ma dove sono hoggid' questi veri amici? Non sapete, che secondo il filosofo, la perfetta amicitia non si stende verso molte persone, ma si ristringe all’amore d’un solo? Io non sk gi/ qual sia il vostro perfetto amico; ma io sk bene di non ancor haver ancora trovato il mio, col quale io possa esercitar quella nuda, semplice, & franca libert/, che volete accennare.“38

Es folgt im Nachsatz eine bemerkenswerte Überlegung darüber, dass die Kommunikation zweier Personen, die wahre Freunde sein könnten, Gefahr laufe zu scheitern, indem einer von beiden den anderen zurückweist: „Crediate pure, che sono rari al mondo quei due cori, che s’incontrino in questo perfetto legame. Et se ben, voi per segno di vero amore, chiamerete un vostro eguale per fratello, egli per aventura non haur/ spirito, che l’inviti a dirlo a voi, & per escludervi dal pensiero, & dall’uso di questa fratellanza, vi chiamer/ Signore.“39

Geht man zeitlich weiter ins 17. Jahrhundert, ins Frankreich des Grand SiHcle, so zeigt sich eine deutliche Verschiebung. Es tauchen nun andere Probleme auf, in deren Kontext Freundschaft besprochen wird. Charakteristischerweise begegnet dabei auch jener Schlüsselbegriff, mit dem das französische 17. Jahrhundert über richtiges Verhalten reflektiert: „la biens8ance“, kaum leichter zu übersetzen als „sprezzatura“, der berühmte Schlüsselbegriff aus dem „Cortegiano“. Im hier behandelten Kontext scheint es angemessen, „biens8ance“ mit „die Schicklichkeit“ übersetzen. Damit ist der Ton auch schon angeschlagen: in den Mittelpunkt rücken nun noch mehr als vorher Fragen des guten Benehmens, der angemessenen Verhaltensweise in konkreten Situationen. Nicolas Faret rät in seinem Traktat „L’honnÞte homme, ou l’art de plaire / la cour“ von 1630 dem Höfling, der neu am Hof ist, er möge sich mit Bedacht unter den erfahrenen Höflingen einen Freund auswählen, der den Neuling in das Hofleben, auch und gerade mit allen seinen Fallstricken, einführen kann: „La plus espineuse difficult8 qui se rencontre / cet abord, est de sÅavoir choisir un amy fidelle, judicieux & experiment8, qui nous donne les bonnes adresses, & nous face voir un tableau des coustumes qui s’observent, des puissances qui regnent, des cabales & des partis qui sont en credit, des hommes qui sont estimez, des femmes qui sont honor8es, 37 Guazzo 1574. 38 Guazzo 1574. 39 Guazzo 1574: 78f.

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des mœurs & des modes qui ont cours, & generalement de toutes les choses qui ne se peuvent apprendre que sur les lieux.“40

So elegant diese Idee ist – der unerfahrene Höfling freundet sich mit einem erfahreneren an, der ihn als Mentor in die Hofgesellschaft einweist – so klar ist natürlich, dass darin auch ein Risiko liegt: der Neuling am Hofe, so kann man folgern, muss sich auf seinen Mentor verlassen können. Erwiese sich dieser als treulos oder hinterhältig, könnte er die Unerfahrenheit des Neuankömmlings ausnutzen und diesen ins Verderben stürzen. Es dürften solche Überlegungen sein, die Faret zu der dringenden Empfehlung führen, ebendiesen Freund mit großem Bedacht zu wählen. Faret geht einige Seiten später dann in der Tat zu der allgemeineren Frage über, wie man Freunde gewinnt. Dabei konstatiert er zu Beginn schlicht: „je diray en un mot, que pour se rendre digne d’estre aym8, il faut sÅavoir aymer.“41 Diese Fähigkeit aber finde sich nicht bei den „ames vulgaires“, erforderlich sei dazu vielmehr eine „generosit8 hero"que“.42 Faret nimmt zur falschen Freundschaft eine bemerkenswerte Position, die sich deutlich von derjenigen unterscheidet, die man bei Guazzo findet: Die Tugenden, die einen wahren Freund auszeichneten, seien auf die Dauer nicht zu heucheln; wer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht sei, verrate sich früher oder später selbst. Ganz anders die wahre Freundschaft, die er geradezu hymnisch feiert: „Au contraire ceux qui ayment sans artifice, sont ordinairement aymez de la mesme sorte, & comme c’est un effect de la Vertu de se reproduire soy-mesme, ce tresor d’amiti8 se multiplie aussi jusques / l’infiny, lorsqu’il est en sa puret8.“43 Wer also ohne Verstellung liebe, der werde auf dieselbe Weise wiedergeliebt werden; und so wie es eine Eigenschaft der Tugend sei, sich selbst zu vermehren, so sei dies auch mit dieser Art der wahren Freundschaft. An anderer Stelle wendet sich Faret der Konversation unter Freunden zu. Seine Ratschläge mögen zunächst überraschen. Die Konversation mit Gleichrangigen, so Faret, sei nicht so schwierig wie mit den Mächtigen. Aber gerade deswegen sei Vorsicht geboten: Denn wer mit den Mächtigen spreche, der sei dabei angespannt und gerade deswegen geistesgegenwärtig; wer mit Gleichrangigen, insbesondere mit seinen engen Freunden rede, der entspanne sich und lasse sich womöglich gehen. Auch im Gespräch unter Freunden dürfe man sich nicht zu viel herausnehmen, die Grenzen des Respekts seien einzuhalten: „Neantmoins cette libert8 ne doit jamais estre si neglig8e, qu’elle ne demeure dans les reigles d’un doux & honneste respect, qui sans jamais faire de violence / l’esprit, luy

40 41 42 43

Faret 1630: 87f. Faret 1630: 92. Faret 1630. Faret 1630: 93.

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laisse tirer les plaisirs de cette agreable sorte d’entretien dans leur puret8, & sans aucun meslange d’amertume.“44

Es gebe daher Fehler, die im Umgang mit Freunden zu vermeiden seien. Dazu gehöre beispielsweise, aus Eitelkeit zu denken, man habe es nicht nötig, seine Freundschaften zu pflegen – Faret insinuiert also, dass manche Höflinge sich für so wichtig halten, dass sie meinen, einmal geschlossene Freundschaften seien unzerbrechlich, ohne dass sie sie pflegen müssten. Diese Höflinge, so Faret, setzten ihre Anstrengungen darin, immer neue Freunde zu erwerben, und vernachlässigten die alten.45 Er warnt daraufhin vor dem Unglück, das die falschen Freunde früher oder später ereile: die Zerstörung (also wohl die Vernachlässigung) ihrer ersten Freundschaften ziehe den Ruin aller anderen nach sich; schnell erwerbe man sich den fatalen Ruf des untreuen Freundes: „C’est par l/ que se sont perdus plusieurs qui apres s’estre longtemps deguisez, ont trouv8 a la fin, ayant est8 descouverts, que ce qu’ils avanÅoient d’un cost8 se destruisoit de l’autre, & que les ruines de leurs premieres amiti8s attiroient apres elles la cheutte de toutes les autres qu’ils avoient basties sur de si mauvais fondements. Et de fait il ne faut presque rien pour descrier un homme en de semblables choses, & le faire passer pour infidelle, pour mauvais amy, & pour toute chose encore pire.“46

Denn, so Faret, die Laster der Seele seien ja unsichtbar, und am Hof mache jeder gute Miene; wenn nun daher einzelnen Höflingen der Ruf der Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit vorauseile, so verlasse man sich nur allzu gerne auf solche Informationen und lasse sich schwer vom Gegenteil überzeugen – wenn man so will, ist hier das höfische Gerücht als Mechanismus der Komplexitätsreduktion beschrieben. Da sich nun aber unvorteilhafte Gerüchte schnell vervielfältigten, merke der unstete Höfling, der nur darauf gesetzt hatte, möglichst viele Freunde zu gewinnen, anstatt die einmal eingegangenen Freundschaften zu pflegen, wie sich nach und nach alle von ihm abwendeten: „Cependant les bruits de ces choses se multipliants / l’infiny, comme c’est l’ordinaire de ceux qui ne sont pas bons, ces subtils & rafinez Courtisans sentent que petit / petit chacun se retire de leur commerce, & qu’ils se sont tout / faits ruinez d’estime, pour l’avoir voulu acquerir plustot grande que bien solide.“47

Es sei daher geboten, rechtzeitig und auf gute Weise die Meinung der „honnestes gens“ für sich einzunehmen („gagner de bonne heure & par de bonnes voyes l’opinion des honnestes gens“), denn das öffne den Weg zu einer „haute repu44 45 46 47

Faret 1630: 128f. Vgl. Faret 1630: 129f. Faret 1630: 131f. Faret 1630: 133.

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tation“.48 Faret kommt auf die Freundschaft auch zu sprechen, als er ein in der Hofgesellschaft heikles Thema anspricht, nämlich den Spott. Er definiert ihn folgendermaßen: „La Raillerie est une espece de discours un peu plus libre que l’ordinaire, & quy a quelque chose de picquant mesl8 parmi, d’ont [sic] l’usage est commun entre les plus galans, & n’est pas meme aujourd’huy banny d’entre les plus intimes Amis de la Cour.“49 Faret schließt in seine Erörterungen zum Spott Ratschläge ein, welche Arten von Personen man nicht verspotten solle, die recht umfangreich sind und sich durchaus sogar so deuten ließen, dass man am besten vom Spott überhaupt keinen Gebrauch macht, mit Ausnahme harmloser Neckereien; interessant ist nun, dass neben erwartbaren Ermahnungen wie derjenigen, den Herrscher oder die Minister nicht zu verspotten, auch diejenige steht, die eigenen Freunde nicht zu verspotten: „Quant / nos amis, ils nous doivent estre des personnes trop sacr8es pour oser les violer d’aucune parole mordante“;50 der Umstand, dass direkt im Anschluss auch dringend davor gewarnt wird, die „honnestes femmes“ zu verspotten, zeigt übrigens, wie anfangs angedeutet, dass mit den höfischen Freunden Männer gemeint sind, ohne dass das jeweils immer ausbuchstabiert würde, gerade weil es als selbstverständlich gilt. Als letzter Text soll hier das Werk eines Autors des späten 17. Jahrhunderts besprochen werden. Pierre Ortigue de VaumoriHre führt in seinem 1688 erstmals erschienenen Werk „L’art de plaire dans la conversation“ Themen fort, die schon bei Faret auftauchen.51 So wird etwa die Frage diskutiert, ob Freunde eigentlich übereinander spotten dürften. Der Text rät dringend davon ab, die eigenen Freunde zu verspotten. Belise, einer der Diskutanten, lenkt analog zu Farets Text das Gespräch auf all diejenigen Personen und Gruppen, die man nicht verspotten solle; bemerkenswert ist, dass diesmal die Freunde ganz am Anfang stehen: „Plus je cherche quelles Personnes on peut railler innocemment, moins je trouve qu’il en puisse avoir. Examinons ce d8tail, & Dorante nous pourra dire ensuite, s‘il y a des gens qu’il soit permis de railler. Je commencerai par les amis, je veux qu’on les 8pargne, & qu’on regarde l’amiti8 comme une chose sacr8e.“52

Hier fällt auf – wie schon bei mehreren der bisher besprochenen Texte –, dass die Hofmannstraktatistik durchaus nicht nur das Lamento über falsche Freunde kennt, sondern auch die Idee von der wahren Freundschaft. Auch wenn Belise es nicht erwähnt, so dürfte doch sehr wahrscheinlich sein, dass die Freundschaft, 48 49 50 51

Faret 1630: 133f. Faret 1630: 200. Faret 1630: 213. Wir zitieren hier nach der vierten Ausgabe von 1701, VaumoriHre 1701. Die Originalausgabe ist VaumoriHre 1688. 52 VaumoriHre 1701: 183f.

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die hier als etwas Heiliges gepriesen wird, jene Freundschaft der Tugendhaften ist, deren Möglichkeit oder Unmöglichkeit am Hof schon die Gesprächsteilnehmer bei Castiglione kontrovers diskutiert hatten. Belise geht aber in seiner Argumentation gegen den Spott auf die Freunde noch einen Schritt weiter. Der Spott auf die eigenen Freunde fällt nämlich auf den Spötter selbst zurück, da er sich dadurch der Kritik aussetzen könnte, er habe sich eben die falschen Personen als Freunde gesucht: „D’ailleurs, ne sommes-nous pas obligez pour nitre interÞt, de cacher leurs d8fauts, pour ne pas donner lieu de nous reprocher d’avoir fait un mauvais choix?“53 Seine Gesprächspartner widersprechen ihm nicht, sondern gehen vielmehr dazu über, weitere Gruppen zu benennen, die ebenfalls nicht verspottet werden sollen. Dass man den Freund vor Spott verschonen soll, heißt für die Diskutierenden hingegen nicht, dass man dem Freund immer nur Angenehmes sagen darf; es bedeutet insbesondere nicht, dass unter Freunden keine wohlmeinenden Ratschläge erlaubt sind. So gibt Eraste, ein anderer der Gesprächsteilnehmer, im Rahmen eines Gespräches darüber, wie man angemessen mit verschiedenen Personengruppen redet, zu bedenken, er würde einen tollkühnen Freund, der sich in Lebensgefahr begibt (gedacht ist hier offensichtlich an einen Offizier, was angesichts der Tätigkeit vieler französischer Höflinge im Militär naheliegt), ernstlich warnen: „Si je parlois / un de mes Amis qui s’exposeroit trop souvent sans n8cessit8, je lui ferois voir que la Valeur a ses bornes comme les autres Vertus, & qu’il est bon de ne pas prodiguer une vie qui peut dans la suite Þtre utile / l’Etat, & donner de l’8clat / une Maison.“54

Allerdings, so Eraste, würde er zu einem Offizier, der Feigheit gezeigt habe, ganz anders reden (wobei er nicht erwähnt, ob es sich bei diesem, wie bei seinem vorgestellten Gegenstück, dem Tollkühnen, ebenfalls um einen Freund handelt). Eraste würde sich in Rage reden; er würde den Feigling fragen, wie er ihm unter die Augen treten könne, nachdem er vor den Feinden geflohen sei. Wenn der Feigling seine Verwandten und Freunde am Hof treffen werde, so würden diese nur deshalb noch mit ihm reden, um ihm seine Schande vorzuwerfen:„Vous montrerez-vous / la Cour parmi les Parens & les Amis que vous y avez? S’ils vous regardent, ce ne sera qu’avec m8pris, ils ne daigneront vous adresser la parole que pour vous reprocher vitre honte.“55 Hier kann man überlegen, ob die Feigheit pars pro toto für alle schweren Laster steht, man also entsprechend harsche Kritik auch bei anderen schweren Charakterfehlern üben dürfte; allerdings ist auch zu bedenken, dass die Tapferkeit eine wichtige adlige Tugend, vielleicht die adlige Tugend schlechthin ist. Auch wenn sich die Hofmann53 VaumoriHre 1701: 184. 54 VaumoriHre 1701: 404. 55 VaumoriHre 1701: 405.

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straktate durchaus nicht exklusiv an den Geburtsadel wenden, sondern auch und gerade an soziale Aufsteiger, so ist ihre Werteordnung doch vom Adel, der traditionellen Herkunftsgruppe der Höflinge, geprägt – und hier wiegt Feigheit, als Verstoß gegen die hergebrachte kriegerische Ethik des Adels, schwerer als andere Laster. Insgesamt entsteht bei Ortigue de VaumoriHre durchaus, trotz der verteilten Rollen der Diskutanten, ein Gesamtbild der Konversation, die unter Freunden empfohlen wird: Sie soll ohne Spott auskommen und von großem Respekt für den Wert der Freundschaft geprägt sein, die als heilig bezeichnet wird; dennoch darf man den Freund warnen, wenn er sich in unnötige Gefahr bringt, und wohl (wenn wir den nächsten Passus auch noch der Konversation unter Freunden zurechnen) auch kritisieren, wenn er es an Mut fehlen lässt. Was lässt sich also schlussfolgern? Zunächst einmal ist zu unterstreichen, dass diese Texte ihre Herkunft aus der langen europäischen Diskurstradition zum Thema Freundschaft nicht verleugnen. Viele ihrer Topoi – so beispielsweise die Frage nach der Unterscheidung von Freund und Schmeichler, die schon Plutarch in einem diesem Thema gewidmeten Abschnitt der „Moralia“ diskutiert56 – gehen auf antike Schlüsseltexte zum Thema Freundschaft zurück, die in der Folge zur Grundlage der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reflexion über dieses Sujet geworden sind. Originell sind die Texte dagegen oft in der Art, wie sie diese Gemeinplätze darstellen, in neue und zum Teil überraschende Sprachbilder kleiden. Es scheinen sich darüber hinaus auch Verschiebungen anzudeuten. Die frühen italienischen Hofmannstraktate diskutieren Freundschaft stark im Kontext strategischer Erwägungen, so der Frage, wie man den falschen Freund, also den Feind in der Maske des Freundes, erkennt und sich vor ihm schützt. Die späteren französischen Hofmannstraktate scheinen dagegen andere Schwerpunkte zu legen: Hier geht es nun auch und gerade um Fragen des korrekten und angemessenen Benehmens; die Gefahr, die hier abgewendet werden soll, ist eher die Blamage als der Verrat. Man kann das auf verschiedene Weisen interpretieren. Es könnte sich schlicht damit erklären, dass verschiedenen Verfassern eben verschiedene Themen wichtig sind; vielleicht steckt aber doch mehr dahinter. Zu überlegen wäre beispielsweise, ob an den Höfen des 17. Jahrhunderts, gerade am französischen Hof, die Verfeinerung des Zeremoniells dazu führt, dass nun Fragen des korrekten Benehmens in den Vordergrund rücken. Die manchmal geradezu obsessive Beschäftigung der französischen Höflinge des 17. Jahrhunderts mit der Zeichenhaftigkeit auch scheinbar nebensächlichster

56 Nicht alle Ausgaben der Moralia geben den vollständigen Text wieder. Wir zitieren hier nach der französischen Übersetzung, die eine der aktuellsten Ausgaben ist: Plutarch 1989, Bd. 1,2: 64–141.

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Details ist oft, jüngst gerade wieder von Giora Sternberg, beschrieben worden.57 Man sollte den Gegensatz nicht zu holzschnittartig zeichnen, auch die Höfe der Renaissance waren keineswegs unzeremonielle Umgebungen; aber jene Übersteigerung wie in der treibhausartigen Atmosphäre von Versailles erreichte das Zeremoniell dort dann doch nicht. Die Hofmannstraktate, die im Umkreis der größenmäßig überschaubaren Höfe der italienischen Renaissance entstanden, beschäftigten sich auch und gerade mit der Problematik, wie der Höfling zum Günstling seines Herrschers werden könne; hingegen war dies für die Autoren, die im Frankreich des 17. Jahrhunderts, erst recht in seiner zweiten Hälfte, dem Zeitalter des Sonnenkönigs schrieben, schon allein deshalb ein weniger vordringliches Thema, weil ein solches Ziel außerhalb der Reichweite der allermeisten Höflinge lag. Ronald G. Asch hat auch zurecht darauf hingewiesen, dass der innere Kreis der höfischen Gesellschaft eher nicht Adressat solcher Traktate war, weil er sie nicht brauchte. Man könnte auch reformulieren: Wer an der Spitze der Hofgesellschaft in der Position war, die Regeln des Hoflebens und den dortigen guten Ton zu bestimmen, der brauchte diese Regeln und diesen Umgangston nicht eigens aus Büchern zu lernen.58 Hofmannstraktate richteten sich ganz offensichtlich nicht an den, der am Hof schon etabliert war, sondern an denjenigen, der dorthin strebte oder als Neuling am Hof nach Rat und Hilfe suchte. Für einen jungen Höfling aber, der nach Versailles kam, stellte sich, anders als dies etwa am Herzogshof von Urbino der Fall gewesen sein mochte, nicht die Frage, wie er in den engsten Umkreis des Herrschers vordringen konnte; vielmehr ging es darum, überhaupt als Mitglied der höfischen Gesellschaft ernstgenommen zu werden. Es spricht also einiges dafür, dass verschiedene höfische Kontexte auch je verschiedenartige Reflexionen über Freundschaft hervorbrachten, man also nicht ohne weiteres von einem einheitlichen gedanklichen Modell der höfischen Freundschaft im frühneuzeitlichen Europa sprechen kann. Mit anderen Worten: sowenig es „die“ höfische Gesellschaft im Singular in der europäischen Vormoderne je gegeben hat, sowenig auch „die“ höfische Freundschaft schlechthin.

Literatur Abeele, Baudouin van den (Hg.) (2005): Bestiaires m8di8vaux. Nouvelles perspectives sur les manuscrits et les traditions textuelles, Louvain-la-Neuve: Institut d’Etudes m8di8vales de l’Universit8 catholique de Louvain.

57 Cf. dazu Sternberg 2014. 58 Cf. Asch 2007: 190.

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Asch, Ronald G. (2007): Der Höfling als Heuchler? Unaufrichtigkeit, Konversationsgemeinschaft und Freundschaft am frühneuzeitlichen Hof. In: Wolfgang Reinhard (Hg.): Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 183–203. Beetz, Manfred (1990): Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart: Metzler. Berger, Harry (2000): The Absence of Grace. Sprezzatura and Suspicion in Two Renaissance Courtesy Books, Stanford: Stanford University Press. Bischof, Anthea (2008): Erziehung zur Männlichkeit. Hofkarriere im Burgund des 15. Jahrhunderts, Ostfildern: Thorbecke. Bonfatti, Emilio (1979): La „Civil Conversazione“ in Germania. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge, 1574–1788, Udine: Del Bianco. Brinkmann, Brigitte (2001): Varietas und Veritas. Normen und Normativität in der Zeit der Renaissance. Castigliones „Libro del Cortegiano“, München: Fink. Burke, Peter (1995): The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s „Cortegiano“, Cambridge: Polity Press. – –(1996): Die Geschicke des „Hofmann“. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin: Wagenbach. Castiglione, Baldassare [in dieser Edition als „Baldesar“ angegeben, CK] (1965): Il libro del Cortegiano, Turin: Einaudi. Cantagrel, Laurent (2012): Discours lettr8 et transformations sociopolitiques au d8but du XVIe siHcle, Paris: Garnier. Della Casa, Giovanni (1564): „De officiis inter potentiores et tenuiores amicos“. In: Ioannis Casae latina monimenta. Quorum partim Versibus, partim soluta oratione scripta sunt, Florenz: In Officina Iunta Bernardi Filiorum, 27–52. – –(1990): Il Galateo overo De’ Costumi. Herausgegeben von Emanuela Scarpa, Modena: Franco Cosimo Panini Editore. – –(21991): De officiis inter potentiores et tenuiores amicos/Trattato degli uffici communi tra gli amici superiori ed inferiori, scritto da Messer Giovanni Della Casa in lingua latina e dopo in volgare tradotto. In: Arnaldo Di Benedetto (Hg.): Prose di Giovanni Della Casa e altri trattatisti cinquecenteschi del comportamento, Turin: Unione Tipografico-Editrice Torinese, 141–197. Costadura, Edoardo (2006): Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Renaissance und Revolution, Tübingen: Niemeyer. Cox, Darrin M. (2012): Aristocratic Masculinity in France (1450–1550). From Knight to Courtier, Lewiston, NY: Mellen. Faret, Nicolas (1630): L’honneste-homme ou, l’art de plaire / la court. Par le sieur Faret, Paris: Toussaincts du Bray. Felderer, Brigitte/Thomas Macho (Hg.) (2002): Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München: Fink. Guazzo, Stefano (1574): La civil conversatione del Sig. Stefano Guazzo, gentiluomo di Casale di Monferrato, Brescia: Tomaso Bozzola. Hinz, Manfred (1992): Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler. Honnacker, Hans (2002): Der literarische Dialog des Primo Cinquecento. Inszenierungsstrategien und „Spielraum“, Baden-Baden: Koerner.

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Affekte, Erinnerungen und Konturierungen – Das „Glühen“ der „trügerischen Gegenwart“ im „Mit-ein-ander-sein“

Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit affektiven und ästhetischen Elementen in Praktiken der Konflikt-Transformation und Ko-Existenz.1 Solche beleuchtet er genauer Anhand der Analyse eines Momentes in der Arbeit der StelzentheaterGruppe „Merula“ in der kosovarischen Stadt Prizren, die einen Beitrag zum gewaltminimierten2 Zusammenleben im Kosovo leisten möchte. Zur Analyse greife ich auf theoretische Ansätze zurück, die sich durch zweierlei Merkmale auszeichnen: Zum einen betrachten sie Beziehungen nicht als zwischen abgeschlossenen und klar trennbaren Subjekten und/oder Objekten stattfindend und Gemeinschafts-Körper nicht als problemlos bestimmbare Größen. Vielmehr sehen sie Sozialität selbst als Beziehungsraum, in welchem Körper in Erscheinung treten, die unabgeschlossen und unabschließbar sind. In Beziehung werden unbewusste und bewusste Elemente auf vielfältige und sich gegenseitig beeinflus1 Ich spreche hier von Praktiken der Konflikt-Transformation und der Ko-Existenz im Gegensatz beispielsweise zu Praktiken der Konflikt-Lösung und der Integration, da ich Konflikte als unauflösbaren Bestandteil des Zusammenlebens betrachte und auch den Begriff der Integration als problematisch empfinde, da er suggerieren kann, dass ein fremdes ,Außen‘ in ein homogenes ,Innen‘ zu assimilieren ist. 2 Ich spreche von gewaltminimierter Ko-Existenz und nicht von gewaltfreier Ko-Existenz, da sich Gewaltsamkeit im Zusammen-Sein nicht gänzlich ausschließen lässt. Jean-Luc Nancy bietet eine interessante Perspektive auf Gewalt. Er unterscheidet zwischen zwei Arten von Gewalt: Erstere bedeutet „die Bezwingung aller Kräfteverhältnisse und deren Vernichtung bloß um der Vernichtung willen [und ersetzt die] Ordnung des Zusammenspiels, von der sie nichts wissen will, durch keine andere Ordnung, sondern durch sich selbst.“ Er nennt rassistische Gewalt als Beispiel, die – trotz der umfassenden Ordnung, die sie vorgibt herzustellen – das größere Zusammenspiel ignorieren und nicht-passige Teile vernichten muss, um die Gültigkeit dieser Ordnung zu bewahrheiten. Zweitere Gewalt liegt in seinen Augen im „Hinausgehen über Grenzen“ an sich, wobei ihm zufolge „insbesondere ein Eindringen von Gewalt in das Sein selbst statt[findet].“ Er sieht Gewalt also als ontologische Gegebenheit, die aber nicht notwendigerweise schlecht ist, Nancy 2000: 86f.

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sende Weise miteinander verbunden. Gleichsam werden Transformationen auf mikro-sozialer Ebene eng mit solchen einer makro-sozialen Ebene verknüpft. Zum anderen erachten sie die affektive Ebene als sehr relevant für die Beschaffenheit derartiger Beziehung und wollen Möglichkeiten erarbeiten, mehr affektives Potential für die kognitive Verarbeitung verfügbar zu machen. Zur Veranschaulichung dieser theoretischen Grundannahmen greife ich insbesondere auf die Konzepte des „Mit-ein-ander-seins“, wie es der Philosoph Jean-Luc Nancy beschreibt und der „affektiven Politik“, wie sie Brian Massumi formuliert, zurück. Diese Ansätze besitzen für mich einen gewissen Reiz, da sie Potentiale zu bieten scheinen, die theoretische Perspektiven, die ihr Augenmerk darauf legen, möglichst feste soziale Strukturen zu erkennen und zu erschaffen, nicht bereithalten. Denn traditionell spielen bei letzteren Ansätzen Konzepte wie die von ,Freund‘ und ,Feind‘, von ,(Gruppen-)Identität‘, ,Selbst‘ und dem ,Anderen‘ und von ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ eine große Rolle. Entgegen der oben geschilderten räumlichen Betrachtungsweise, deren Ausgangspunkt Praktiken der Beziehung sind, setzen sie an der Identifikation abgrenzbarer Körper an, die sie miteinander in Einklang bringen wollen. Offenere Konzeptionen von Gemeinschaft und Beziehung können sowohl dem Umstand, dass die oben genannten Konzepte Abstraktionen sind, als auch den vielfältigen Weisen in denen sie sich gegenseitig bedingen und ineinander übergehen, Rechnung tragen. Darüber hinaus haben sie meiner Meinung nach nicht nur Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und beeinflussen, wie man soziale Felder betrachtet und deutet. Sie wirken sich auch darauf aus, wie Beziehung im oben genannten Sinne – sowohl auf der Nahbeziehungsebene, als auch auf der Ebene größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge – sich letztlich ausgestaltet. Die Beschäftigung mit künstlerischen Praktiken und affektiven Einflüssen birgt zudem die Möglichkeit, andere Verständnisebenen für Beziehung und deren Gestaltung fruchtbar machen zu können als eine Auseinandersetzung mit dem Thema, die auf rein sprachliche Medien beschränkt ist. Jedoch bringen diese Ansätze häufig den Nachteil mit sich, etwas vage und rätselhaft zu scheinen und auch in der Anwendung eine gewisse Diffusität zu schaffen, wo oftmals doch der Wunsch nach mehr Klarheit besteht. Auch frage ich mich, wie und ob sie sich sinnvoll in der Praxis der Konflikt-Transformation und Ko-Existenz-Förderung niederschlagen können. Um den Potentialen und Schwierigkeiten nachzuspüren, die der Ansatz von Sozialität als Beziehungsraum für eine solche Praxis haben kann, umreiße ich in Folge kurz die oben genannten Konzepte des „Mit-ein-ander-seins“ und der „affektiven Politik“ und beleuchte sie daraufhin anhand einer Szene aus einem Theaterstück der Gruppe „Merula“ ein wenig näher.

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Mit-ein-ander-sein In singulär plural sein, stellt Jean-Luc Nancy ein Gemeinschaftskonzept vor, das in sozialen Gebilden keine Fundierung sucht und keine Erarbeitung idealtypischer Modelle zum Ziel hat. Die Gemeinschaft, die er beschreibt, ist ein heterogener, relationaler Transitionsraum, der keinen festen Rahmen aufweist und dessen Konturen sich stets wandeln.3 Für die Betrachtung von sozialen Beziehungen hat das interessante Folgen. Denn Beziehungen werden nun nicht mehr als zwischen isolierten und bereits gegebenen Subjekten hervorgehend, also auch nicht als inter-subjektiv gesehen. Vielmehr werden Subjekte zu offenen, nicht klar abgrenzbaren Körpern, die immer schon in dynamischer Beziehung verbunden sind. Das allein ist für JeanLuc Nancy „Gemeinschaft“, die er auch als „Mit-ein-ander-sein“ beschreibt. Diese Gemeinschaft ist Beziehung selbst, doch geht sie niemals in einem homogenen Gemein-Körper auf. Es formieren sich darin „Singularitäten“, die nicht in Dichotomien wie ,Subjekt‘ und ,Objekt‘, oder ,Selbst‘ und der/die/das ,Andere‘ zu verstehen sind, sondern als einander immer anders und doch verbunden. Das beinhaltet auch, dass eine Singularität in einem anderen Moment oder aus einer anderen Perspektive niemals mit sich selbst identisch ist. Die sich im ,Mit-ein-ander‘ befindlichen Singularitäten sind also immer „mit“ Anderen und Anderem, wobei das „mit“ keine Verbindung zwischen zwei separaten Körpern ist, sondern ein „zusammen erscheinen“. Sie sind Nancy zufolge in einer grundsätzlich differentiellen und dissensualen Seinsart verbunden, die er auch als „singulär plural sein“ beschreibt, was dem Buch den Titel verleiht.4 Ein derart betrachteter Sozialer Raum, kann die Analyse dahingehend inspirieren, dass die Betrachtung sich beispielsweise von Fragen wie der Unterscheidung dessen, was genau Gemeinschaft und Gesellschaft ausmacht oder objektiv ausmachen sollte, zu solchen wenden kann, wie Singularitäten sich wandeln, wie sie durch das eigene (körperliche) Erleben und diskursive Verhandlung zu Quasi-Entitäten ver-körpert werden und wie eine sinnvolle Betrachtung solcher Prozesse an sich vonstatten gehen kann. Mit der Verschiebung von inter-subjektiven Beziehungen zum allerseits transformativen „Mit-ein-ander-sein“ öffnet sich bei Nancy also das Konzept des „Körpers.“ Eine Körperlichkeit kann nur quasi-entitär sein und keine wirkliche Identität mehr besitzen, sondern allenfalls identitäre Zustände.

3 Vgl. Nancy 2004. 4 Vgl. Nancy 2004.

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Affektive Politik Der Philosoph und Sozialtheoretiker Brian Massumi beginnt die Analyse von gemeinschaftlichen Beziehungen im „Zwischen“. Dieses „Zwischen“ ist dem Nancyschen „mit“ sehr ähnlich, denn wie Letzterer, versteht auch Massumi Körper als unabgeschlossen und dynamisch. Ihm zufolge spielen nicht nur bewusste menschliche Deutungen, Diskurse und Verhandlungen eine Rolle dabei, wie das gemeinsame Sein in sozialen Gefügen und fester institutionalisierten Strukturen verknüpft und organisiert wird, sondern auch und insbesondere unbewusste, affektive Bewegungen.5 Er beschreibt Körper als „pre-populated – by instincts, by inclinations, by teeming feelings and masses of memories, conscious and nonconscious, with all manner of shadings in between“.6 Dank der Offenheit der Körper findet dieses ,Gewimmel‘ denn auch nicht nur innerhalb eines Individuums statt, sondern es trägt sich insbesondere auch zwischen allen Körperlichkeiten zu. Wenn die offene Differentialität von ,Körperlichkeiten‘ – im Gegensatz zu abgegrenzten Körpern – ontologisch7 gegeben und in hohem Maße fluktuierend ist, wie Nancy und Massumi es annehmen, erscheint der Versuch einer ,objektiven‘ Bestimmung bester Lösungen und einer Lenkung gemeinschaftlicher Formationen in möglichst vorbestimmte Bahnen schwierig. Denn ein Verständnis von Körpern als Singularitäten, die im Fluss sind, und bei denen viele Entscheidungen nicht auf einer bewussten Ebene getroffen werden, impliziert, dass Handeln nur bedingt rational und streng zielorientiert sein kann. Es erscheint mir einleuchtend, dass in einer Logik abgeschlossener, dualistisch geordneter und sich gegenseitig ausschließender Körper andere Inhalte und Momente der Ko-Existenz-Förderung als wichtig erachtet werden, als in einer Logik eines „Mit-ein-ander-seins“ unabgeschlossener und affektiv bewegter Singularitäten. Angeregt von solch offenen Körper- und Gemeinschaftskonzepten entwickeln Erin Manning und Brian Massumi mit ihrem Kollegiat im „SenseLab“ der Concordia-University in Montreal daher eine Art der Forschung, die nicht nur aus der Quelle bewusster Erkenntnisse, sondern auch aus der affektiver Bewegungen schöpfen soll.8 Sie verbinden dabei künstlerische Aktivität mit wissenschaftlicher Betrachtung und wollen so Aktionsformen entwickeln, die das af5 Vgl. Massumi/McKim 2009. 6 Massumi/McKim 2009: 3. 7 Der Begriff der „Ontologie“ als Lehre des „Seins“ kann sich unter diesen Prämissen nicht auf ein klar definierbares, „Sein“, den „Anfang“ oder „Grund“ aller Dinge beziehen. Vielmehr begegnen wir hier einer Ontologie, die „Sein“ als sich ständig wandelndes und nicht abschließend Begreifbares denkt. 8 Vgl. z. B. Massumi/McKim 2009, Manning/Himada 2009.

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fektiv-kreative Potential der differentiellen Gemeinschaft wecken. Sie sollen uns ermöglichen in einen „symbiotischen“ Kontakt miteinander und mit der Welt zu treten,9 das heißt, eine Art der Verbindung einzugehen, die dynamisch und veränderlich bleibt, die nicht in einer einheitlichen Formation aufgeht und doch den darin enthaltenen Körpern ein gemeinsames Existieren erst ermöglicht, da sie voneinander profitieren. Die Verwendung künstlerischer Medien in diesem Ansatz sind von einem Verständnis einer ,Ästhetik‘ inspiriert, das über das Schöne und Wohlgebildete hinaus reicht. Ästhetik, wie Massumi sie versteht, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die „kreative Spannung des Kontrastes ausdehnt“.10 Damit ist gemeint, dass sie einer größeren Bandbreite an affektiven Bewegungen auf der MikroEbene Gelegenheit bietet, spürbar und wahrnehmbar zu werden und so die differentielle Beschaffenheit des „Mit-ein-ander-seins“ hervorhebt. Eine solche Ästhetik verbindet kognitive und nicht-kognitive Erkenntnis. Man kann nicht nur von ästhetischen (Kunst-)Werken sondern auch von ästhetischen Momenten sprechen. Ein ,ästhetischer Moment‘ gibt dem Affektiven in Erkenntnisprozessen Raum und bereichert so auch bewusste Entscheidungen und Handlungen.11 Obgleich diese Ästhetik folglich nicht auf die Kunst allein beschränkt ist, bieten sich künstlerische Praktiken als eine Art Zugang zu dieser Ebene an. Eine derartige ästhetische Aktionsforschung stellt für Massumi eine Form der Kritik dar – eine “aktive, partizipatorische Kritik“, die er auch „Mikropolitik“ oder „affektive Politik“ nennt.12 9 Auf der Internet-Seite des SenseLab finden sich etliche Beispiele und Interviews zu ihrer Forschung, SenseLab o. J. 10 Massumi/McKim 2009: 12. 11 Dies kommt der ursprünglichen Nutzung des Begriffes der „Ästhetik“ sehr nahe, der laut dem Pädagogen und Soziologen Matthias Duderstadt 1735 zum ersten mal in einer Dissertation von Gottlieb Baumgarten auftaucht, dem es darum ging „Erkenntnis über und durch die Tätigkeit der Sinne die gleiche Wichtigkeit einzuräumen, wie der rationalen Erkenntnis, der bis dahin dominierenden Erkenntnisform (Descartes).“ Duderstadt weist zudem darauf hin, dass die Verbindung zwischen rationalem und sinnlichen Erkennen sich auch in der etymologischen Herleitung des Wortes findet: Es geht auf das altgriechischische Verb aisthanesthai zurück, welches unter anderem mit „fühlen, wahrnehmen, bemerken, empfinden, merken, erkennen, verstehen, einsehen, Einsicht haben“ übersetzt wird, Duderstadt 1997: 12f. 12 Massumi/McKim 2009: 11, 12. In der Tradition etwa der Frankfurter Schule in Deutschland, dekonstruktiver Ansätze französischer Schule und den Critical Studies in den USA wird die kritische Betrachtung von Ideologien oder Diskursen und Dispositiven an sich als vornehmliches wissenschaftliches Motiv betrachtet. Wenn dieses ästhetische Schaffen als „partizipative Kritik“ verstanden werden kann, so kann sie als Fortsetzung dieser Tradition gesehen werden. Massumi verdeutlicht, dass die Art „affektive Politik“ die er beschreibt nicht mit der Nutzung manipulativer Konditionierungs-Mechanismen gleichzusetzen ist. Die ,Experimente‘ des Sense-Labs teilen vielmehr eine dekonstruktive Komponente, insofern sie intendieren, Konturen aufzuweichen und alternative Möglichkeiten der Verknüpfung sichtbar und darüber hinaus fühlbar zu machen, vgl. Massumi/McKim 2009:11.

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Dahingegen sind viele Ansätze im Bereich des Peace-Buildings und PeaceKeepings an eine einer funktionalistischen Logik folgenden Politik gebunden, die mit geschlosseneren Konzepten vom ,Selbst‘ und dem ,Andern‘ und von Gemeinschaft und Gesellschaft arbeitet. Sie sind häufig an die Erkennung oder Festlegung gesellschaftlicher Entitäten gekoppelt, deren konfliktäre Vorstellungen, Kulturen und Verhaltensweisen zu homogenisieren oder zu schützen sind, oder beides zugleich. Kulturelle Projekte sind meist von staatlichen und nichtstaatlichen Finanzierungen – oftmals aus dem Ausland – abhängig. Wie in anderen von ,ethnischen‘ Konflikten geprägten Gebieten bedeutet das im Kosovo häufig, dass ihre Projektanträge ausdrücklich auf die durch Quoten geregelte Beteiligung verschiedener ethnischer Gruppen ausgerichtet sind und sich an fest vordefinierten und an Geber-Interessen orientierten Zielen abarbeiten. Die Evaluierung solcher Projekte konzentriert sich dann stark darauf, ob die vordefinierten Quoten und Ziele erreicht wurden. Das lässt wenig Spielraum dafür, Inhalte und Ziele flexibel zu gestalten und erst in der Projekt-Gruppe zu erarbeiten. Es lässt außerdem viel zu wenig Spielraum für Selbstkritik.13 Diesen Überlegungen folgend, könnte es sinnvoll sein, den Blick vermehrt auf die Erkennung von Mechanismen der Ein- und Ausschließung und der ,Werdung‘ von Quasi-Entitäten zu lenken. Im Umgang mit nationalen oder ethnischen Gruppen, Minderheiten, Geflüchteten und RückkehrerInnen kann sich die Aufmerksamkeit damit zum Beispiel auf Fragen richten, wie und von wem die Konturen solcher Gruppen gezogen werden und welche problematischen Linienführungen zu erkennen sind. Zudem kann der Fokus sich von der Entwicklung von Praktiken der ,Integration‘ eines festen ,Außens‘ in ein festes ,Innen‘, oder des Schutzes separater Entitäten voreinander auf die Entwicklung von Praktiken verlagern, die einen flexiblen und weniger gewaltsamen Umgang mit Differenzen per se zulassen. Im anschließenden Abschnitt möchte ich den Konzepten des „Mit-ein-anderseins“ und der „affektiven Politik“ und den Rätseln, die sie aufgeben, etwas genauer nachspüren, indem ich eine künstlerische (Inter-)Aktion des oben erwähnten Stelzentheater-Projektes analysiere. Ich schaue mir die kreativen Interaktionen der Gruppe also nicht primär mit dem herkömmlichen evaluativen Blick auf vorgängig definierte Ziele und ihre Erreichung an, sondern versuche stattdessen, eine detaillierte Perspektive auf den Raum zu werfen, in dem sie zutage treten. Ich versuche dabei Verknüpfungen in einem relationalen Raum wie oben beschrieben, nachzuziehen und eine andere Art der Evaluation zu fördern, die vor allem nach Momenten sucht, in denen sich Konturen von ,Entitäten‘ in der Interaktion verschieben.

13 Scharbatke-Church 2011: 459–482.

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Karusselfahrt nach Fantomia – Künstlerische Impulse zum anders Mit-ein-ander-sein Um potentielle ,ästhetische‘ Momente im obigen Sinne und modulierende Faktoren im Gewebe des „Mit-ein-ander-seins“ aufzuspüren und genauer nachzuverfolgen, stelle ich im Folgenden einen Ausschnitt einer Szene aus einem Theaterstück „Merulas“ vor. Anhand dieser Szene gehe ich zunächst einigen Momenten nach, die durch Erzählstil und Elemente des Theaterstücks in Bewegung gesetzt werden. Daraufhin schaue ich genauer auf die Verschränkungen ,persönlicher‘ und ,kollektiver‘ Erinnerungen und Verkörperungen im relationalen Raum, die bei der Interaktion der Jugendlichen während der Arbeit an dem Stück zutage traten. Dies wird an einer Irritation veranschaulicht, die sich während der Proben zutrug. Das Jugend-Stelzentheater „Merula“ wurde im Sommer 2013 von einer Gruppe aus dem Kosovo, Deutschland und Österreich stammender, (Stelzen-)Theater- und Medien-Schaffender und im Bereich sozialer Arbeit tätiger Menschen gegründet, die sich aus vorherigen Kooperationen kannten. Mit einem einwöchigen Workshop riefen sie damals die Gruppe ins Leben. Eine der Motivationen dazu war schlicht die Lust ein Stelzentheater im Kosovo zu etablieren, da es dort noch keines gab. Jedoch waren sich die InitiatorInnen einig, dass die „Merula“ allen im Kosovo lebenden ethnischen Gruppen offen stehen sollte und insbesondere auch RückkehrerInnen einbinden sollte. Sie sollte somit ,inklusiv‘ sein; welche konkrete theoretische und methodologische Ausrichtung und welche Form des Theaters sich entwickeln würde, blieb derweil zu erproben. Das Projekt hatte also einen sehr experimentellen und offenen Charakter und man kann die Gruppen-Gründung und Produktion der ersten Aufführungen als veritables Sozial-Experiment mit viel Spielraum bezeichnen. Dieser Spielraum war unter anderem auch der Tatsache geschuldet, dass es zu Anfang lediglich durch Crowdfunding finanziert wurde und nicht an externe Auflagen seitens einer finanzierenden Institution gebunden war. Im zweiten Jahr des Projektes sollte sich das ändern, jedoch waren auch hier die Auflagen nicht an konkrete Quota gebunden und auch die inhaltliche Gestaltung blieb weiterhin Sache der Gruppe.14 Das Theaterstück, aus dem die erwähnte Szene stammt ist 2014 im Rahmen eines einmonatigen Sommer-Workshops entstanden. Es war die erste große Produktion der Gruppe.15 14 Persönliches Gespräch mit einem der Gruppengründer, Felix Remter, 9. Mai 2015. 15 In beiden Workshops waren die Arbeitssprachen Albanisch, Deutsch und Englisch. Viele der Jugendlichen sprachen Deutsch, da sie RückkehrerInnen aus Deutschland waren, und einige der Jugendlichen und alle OrganisatorInnen sprachen gutes Englisch. Alle Gruppenge-

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Die Szene, die hier vorgestellt werden soll, trägt den Titel „die Wächter“ und stammt aus dem Theaterstück „Die Fünf – Karussellfahrt nach Fantomia“16 welches ich – freilich etwas verkürzt – als eine HeldInnenreise mit postmodernen Zügen bezeichne. Hauptfiguren des Stückes sind Leis, Ikre, Azan, Neru und Alush, die in Prizren leben und ausziehen, um die Welt zu retten, welche vom bösen Mammumian bedroht ist. Letzterer lebt in einem fernen, finsteren Land namens Fantomia und arbeitet daran, alles Leben auf Erden der Boshaftigkeit und letztlich dem Tod anheimzugeben. Ein Geschichten-Erzähler in Frack und Zylinder führt klassisch durch das Stück und erzählt von den Schicksalen der HeldInnen. Sie haben alle verschiedene Nöte durchlebt. Leis lebt in einem Waisenhaus. Ihre Eltern sind auf der Flucht aus der Heimat gestorben. Ikre ist in Deutschland aufgewachsen. Mit seiner Familie wurde er von dort abgeschoben. Azan hat ihren Vater im Krieg verloren und lebt mit ihrem Bruder und ihrer Mutter in Armut. Neru kümmert sich liebevoll um seine Geschwister, während sein Vater im Ausland ist. Alush ist ein Einzelkind, das keine materiellen Nöte hat, aber wenig Aufmerksamkeit von den Eltern bekommt. In der Szene „die Wächter“ kommen die fünf HeldInnen nun nach langer beschwerlicher Reise an den Toren Fantomias’ an, um dem Mammumian gegenüberzutreten – und obwohl sie diesen Ort zum ersten Mal in ihrem Leben betreten, begegnen ihnen dort, wie wir sehen werden, überraschenderweise altbekannte Übeltäter. Das Setting der Szene ist Folgendes: Man befindet sich unter freiem Himmel, denn das Stück wurde im Freien, auf einem Platz in der Stadtmitte Prizrens aufgeführt. Zu Beginn der Szene sieht man „die Fünf“ im Scheinwerferlicht am Rande des Platzes. Zwei Gestalten in Rüstung (die Wächter) marschieren währenddessen zu simplen Posaunenklängen hinter dem Bühnenbild, bestehend aus farbigen, über Turnkästen gespannten Stoffbahnen, entlang und durch ein aus Pappe gefertigtes Tor hindurch. Sie treten ins Scheinwerferlicht und führen dabei eine choreografierte Rangelei auf, wobei sie tollpatschig ineinander laufen und sich mit ihren Speeren und Schilden bearbeiten.

spräche wurden in allen drei Sprachen abgehalten. Private Gespräche mit den Jugendlichen führte ich entweder auf Englisch oder Deutsch oder mit Hilfe einer Übersetzerin oder eines Übersetzers aus dem Team durch. 16 Der Originaltitel des Stückes lautet: „Rrotullama per ne Fantomia“, was in der Übersetzung „Karusselfahrt nach Fantomia“ bedeutet. Auf verschiedenen Internetplattformen wurde das Stück jedoch auch unter dem Titel: „Die Fünf“ oder „Die Fünf – Karusselfahrt nach Fantomia“ beworben. Das Skript wurde während des Workshops mehrfach abgewandelt und immer in allen drei Arbeitssprachen zur Verfügung gestellt. Originalskript: Hoxha 2014 (unveröffentlicht).

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Hier ein Ausschnitt aus dem Skript:17 Szene 15 – „Die Wächter“ Die zwei Wächter Fantomias betreten die Bühne. Die Fünf halten inne und wenden Ihnen die Köpfe zu. Langsam, tastend bewegen sie sich auf sie zu. Alle außer Alush bemerken, dass sie die Wächter kennen. ALLE – außer ALUSH im Chor : Heee! Du – Ich kenn’ Dich! NERU: Du! Du hast uns aus unserem Haus geworfen in dieser kalten Nacht im März! LEIS: Du hast die strengen Regeln ins Waisenhaus gebracht und unsere Essensrationen gekürzt! AZAN: Naso! Du bist ein mieser Bruder! Wer gibt Dir das Recht mich zu Hause einzuschließen? IKRE: Die Polizei! Die Polizei! Welches Menschenrecht erlaubt es Euch, mich nachts um fünf zu holen? Mit 15 Minuten zum packen, uns in das Flugzeug zu setzen und in ein Land zu schicken, von dem Ihr behauptet, es sei das unsere? ALUSH schaut sie überrascht an. Die Wächter fühlen sich sichtlich unwohl. Schauen einander an. ALUSH: He! Was sagt Ihr denn da? Ich versteh kein Wort! Das sind doch die Wächter von Fantomia! WÄCHTER I: Fantomia? Ihr seid doch längst in Fantomia! ALLE (kommen zu Sinnen, schockiert): Was?! WÄCHTER I: Ihr seid doch in Fantomia seit … WÄCHTER II (unterbricht ihn): sschschschh!!!

Was in dieser Szene auffällt, ist, dass die HeldInnen die Wächter aus ihrem bisherigen Leben kennen. Das war aus dem bisherigen Verlauf des Stückes nicht abzusehen und dürfte für das Publikum – wie für die Fünf – eine Überraschung sein. Lediglich der kleine Alush, der ja ein recht behütetes Leben hatte, kennt die Wächter im fernen Land Fantomia nicht. Alle anderen sind ihnen in ihrem Vorleben bereits begegnet und haben durch sie großes Leid erfahren. Was die Betrachter aus dem vorherigen Geschehen des Stückes wissen, ist, dass Ikre aus Deutschland in den Kosovo deportiert wurde, dass Leis eine Waise ist, Neru bettelarm ist und Azans Bruder sie bevormundet und schlecht behandelt. Doch nun treffen sie hier in den Hütern Fantomias ausgerechnet unliebsame Bekannte aus den jeweiligen Vorleben der Helden: Enteigner, und Autoritäten aus dem Waisenhaus, dem tyrannischen Bruder selbst und der deutschen Polizei. Das ist eine seltsame Wendung, die nicht ganz aufgeht. Die Wächter scheinen ein Doppelleben zu führen und sich zwischen Prizren – der 17 Hoxha, Juli 2014 (unveröffentlicht), siehe auch Fußnote 18.

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Heimat der HeldInnen – Deutschland und Fantomia zu bewegen. Auch die übrige Erzählung enthält unschlüssige Elemente, die nicht immer geklärt werden können. So beginnen die HeldInnen ihre Reise beispielsweise alleine und begegnen sich erst in einem bestimmten Ereignis im Stück. Das ist aber nur aus den Dialogen ersichtlich und optisch nicht erkennbar, denn sie stehen gemeinsam auf der ,Bühne‘ und sprechen zudem oft im Chor. Darüber hinaus sprechen sie alle Albanisch, wechseln jedoch ab und zu in andere Sprachen – manchmal auch in eine Fantasiesprache. So wird insgesamt viel Raum für vielfältige Interpretationen gelassen.18 Die „Karusselfahrt nach Fantomia“ stellt eine Herausforderung an ein Denken, das klare Entitäten, eindeutige Zuordnungen und lineare Entwicklungen sucht. Lediglich auf der Ebene des Märchenhaften zeichnet sie klare Lösungen. Zwar wird – soviel darf vorweg genommen werden – der böse Geist des Mammumian im Endeffekt besiegt; jedoch wird dadurch keine so recht harmonische Auflösung geschaffen, was unter anderem dieser Wächter-Szene geschuldet ist. Stattdessen stehen Brüche im Raum, an denen Affektives ,irgendwie‘ spürbar werden kann. Die Irritation im Erleben der HeldInnen, die an dieser Stelle auch bewusst vom Publikum registriert werden kann, wird gleichzeitig mit ,realitären‘ Elementen verbunden. Das Außen der kosovarischen Alltagswelt gelangt in Form der Schicksalsgeschichten der HeldInnen ins Stück, welche zum Teil stark denen der darin mitwirkenden Jugendlichen in der Realität nachempfunden sind.19 So tauchen neben den Brüchen auch neue sprachlich-visuelle Verknüpfungen auf, die das Reale mit dem Fiktionalen ,verweben,‘ wo es ganz eigene Formen annimmt. Gleichzeitig sind es genau diese, an tatsächliche Erlebnisse angelehnten Geschichten, die dem Stück wiederum eine surreale Dimension geben; denn Fantomia, so deutet es der Wächter in der obigen Szene mit den Worten

18 Es war ursprünglich geplant, das ganze Stück mehrsprachig zu gestalten, ohne Inhalte zu übersetzen, sondern lediglich auf die Kraft der Bilder zu setzen, um die Lücken, die sich dabei zwangsläufig beim Publikum ergeben, zu füllen. Ein solcher Ansatz hätte freilich ein noch erheblich größeres Verwirrungspotential gehabt und die kreative Mitarbeit des Publikums noch stärker gefordert. Leider musste darauf verzichtet werden, denn die Anzahl derjenigen Gruppenmitglieder, die keine albanischen Muttersprachler waren und auch zeitlich zur Verfügung stehen konnten, um das Stück auch sprachlich mitzugestalten, war im Sommer 2014 aus verschiedensten Gründen, deren Analyse in meiner Dissertation erfolgt, zu dezimiert, um diese Absicht umzusetzen. Persönliches Gespräch mit Felix Remter, 09. Mai 2015. 19 Den Jugendlichen war dies durchaus bewusst. Die Entscheidung eine Fantasiereise aufzuführen, ist unter anderem auf den Wunsch einiger der Jugendlichen hin entstanden, kein Real-Drama aufführen zu wollen. Einzelgespräche der Theaterautorin mit den Jugendlichen und Elemente aus dem Theaterworkshop des Vorjahres sowie eigene Erfahrungen lieferten ihr die realitäts-nahen Elemente. Persönliches Gespräch mit Fjolla Hoxha, 05. 07. 2014.

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„Ihr seid doch längst in Fantomia“ an, liegt gar nicht hinter den Mauern der Festung, sondern im alltäglichen Leben. Einige der Betrachter des Stückes werden die erzählten Erlebnisse der HeldInnen sicher mit Erlebnissen und Erzählungen der jüngeren kosovarischen Geschichte assoziieren, denn es wird auf eine ganze Bandbreite an problematischen Lebenswirklichkeiten verwiesen, die nicht sämtlich, aber häufig auf mit dem Krieg von 1998/99 verbundene Erlebnisse verweisen: Flucht und Rückkehr in ein fremdes Land werden durch die Figuren des Waisenkindes Leis, das seine Eltern auf der Flucht verloren hat, und Ikres, der aus Deutschland abgeschoben wurde, thematisiert. Nöte und Sorgen im Nachkriegs-Kosovo werden durch die Figur der Azan aufgegriffen, die schwerkrank ihr Augenlicht einbüßen musste, weil ihre verwitwete Mutter das Geld für die ärztliche Behandlung nicht erwirtschaften konnte. Ähnlich ergeht es Neru, der sich um seine Geschwister kümmert, weil der Vater im Ausland ist und seine Mutter die Familie mehr schlecht als recht zu versorgen in der Lage ist. Einzig Alush leidet nicht an materiellen Nöten, dem Verlust eines Elternteils oder der ,Heimat‘ sondern an der Sehnsucht danach, von den Eltern gesehen zu werden. All dies sind Narrationen, die einer Lebenswelt mit mannigfaltigen Brüchen entspringen und die im Kosovo auch mehr als 15 Jahre nach Kriegsende noch Einfluss auf das alltägliche Leben nehmen. Die Jugendlichen der Gruppe „Merula“ gehören einer Nachkriegsgeneration an, die von den Schwierigkeiten der Eltern mit den Kriegserfahrungen umzugehen geprägt ist – teils auch von der eigenen Erfahrung der Rückkehr oder Abschiebung in den Kosovo. Angesichts der momentanen Flüchtlingskrise und der in diesem Zusammenhang zunehmenden Abschiebung von ,Wirtschaftsflüchtlingen‘ ist zudem zu erwarten, dass solche Erfahrungen den kosovarischen Alltag auch weiterhin prägen werden. Es ist freilich unmöglich zu sagen, wie genau die Zuschauer die Brüche im Stück erleben und welche Assoziationen es bei Ihnen erzeugt. Sicherlich werden sie es nicht einheitlich erleben. Der narrative Stil des Stückes, der mit Brüchen im Erzählstrang, plötzlichen Sprachwechseln, fehlender Eindeutigkeit in der Zuordnung von Charaktären, und der Verwebung von Märchenhaftem und Realem aufwartet, bietet sich jedoch nicht für ein zurücklehnendes Genießen und die Fabrikation einer linearen Erzählung an. Das Stück ist offensiv interpretationsoffen und es fordert zum aktiven Mitgestalten und Nachdenken auf. An dieser Stelle möchte ich auf das oben genannte Konzept der „affektiven Politik“ zurückkommen. Sich auf den Philosophen und Psychologen William James berufend, führt Brian Massumi an, dass in der Tat nicht nur solchen Momenten Verrückungen und Verwebungen innewohnen, die auch bewusst als schräg und unstimmig wahrgenommen werden. Vielmehr beschreibt er jeden Moment – möge er auch als völlig kohärent und unauffällig alltäglich wahrge-

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nommen werden – als Verrückung. Er begründet dies mit dem eingangs erwähnten Gewimmel von Sinnesreizen, die mit hoher Geschwindigkeit auf uns einströmen und der bewussten Wahrnehmung entgehen. In einem jeden Augenblick finden dabei Verschiebungen statt, die ständig neue Verknüpfungen von Figurationen, Figuren und Körper ergeben. Diese dringen mitunter, aber nicht ständig ins Bewusstsein vor.20 Dabei finden, James zufolge, unzählige affektive Transformationen statt, die er auch als „something doing“ umschrieb.21 Obwohl dieses ,tuende Irgendetwas‘ oder auch ,irgendetwas Tuende‘ vage und schwer fassbar ist, hat es dennoch Relevanz für die Präsenz, die uns als Gegenwart erscheint, da es mit den bewussten Ordnungsmechanismen in Verbindung tritt und auch bewusst wahrgenommene Körperlichkeiten konstituiert. In diesem ,Werden‘ finden stete Unterbrechungen und Wiederholungen statt: Re-Iterationen, die jedoch niemals tatsächlich Identisches hervorbringen. So kommt es, dass wir die Dinge in der Welt sowie uns selbst als Entitäten und Identitäten wahrnehmen, obwohl das „Mit-ein-ander-sein“ im Grunde aus Strömungen und Bewegungen besteht. Diese stete Interruption und Neuverknüpfung auf der mikroprozessualen Ebene bezeichnete James auch als „specious present“ – die ,trügerische‘ Gegenwart.22 Aus einer an Massumis Vorstellungen der affektiven Politik orientierten Perspektive laufen wir genau dann in Schwierigkeiten, wenn wir die kontinuierliche Veränderung auf der vorbewussten Ebene ignorieren und versuchen, die nur scheinbare Einheit und Kontinuität der Gegenwart permanent zu verlängern und die „kreative Spannung des Kontrastes“ zu zähmen. Versuchen wir, die Brüche zu reparieren, indem wir einen ,ursprünglichen‘, ,natürlichen‘ oder streng geordneten Zustand (wieder)herzustellen trachten, so laufen wir Gefahr aus der Vorstellung einer weitgehenden Einheit und Gruppen-Identität, erneute, rigorose und gewaltsame Ausgrenzung des als ,anders‘ definierten zu erzeugen. Das Stück tut genau das nicht. In der oben beschriebenen Szene werden Einheiten aufgebrochen und neu vermischt. Das affektive ,Flirren‘ wird hier sozusagen in der Narration gespiegelt und in die wahrnehmbare Welt ,gezogen‘. Auch an anderen Stellen, wie denen der oben beschriebenen gleichzeitigen Darstellung des Ungleichzeitigen und der abrupten Sprachwechsel werden solche Effekte willentlich produziert. So ist es nicht eindeutig, wer zu wem gehört und wer etwa welcher ,ethnischen‘ Quasi-Entität angehört. Außerdem werden die Geschichten der Jugendlichen nicht als Sozialdrama inszeniert, sondern eher als Rätsel. Den bösen Mammumian mögen „die Fünf“ besiegen; doch wie ist den 20 Massumi/McKim 2009: 3f.; vgl. auch James, William 1943: 155–190. 21 James, William 1943: 161. 22 James, William 1950: 609. James entleiht diesen Begriff seinerseits „Herrn E.R. Clay“ – ein Pseudonym für Edmund Robert Kelly.

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ganz realen Erfahrungen und Verknüpfungen von Leid und Gewalt zu begegnen? Dieser Frage werden die HeldInnen sich wohl widmen müssen, wenn sie von ihrer Reise zurückkehren; und auch aufmerksame BetrachterInnen des Stückes mögen sich diese Frage stellen. Die genauere Betrachtung der ,Wirklichkeiten‘, die in der Szene „die Wächter“ kontrastiert werden, offenbart darüber hinaus eine ,Wahrheit‘, die mit dem Konzept des ,Anderen‘ und des ,Selbst‘ zu tun hat. Denn was Fantomia verkörpert, ist das Böse: Das ,Andere‘, das böse ist. Das Böse erscheint im Märchen oder Mythos meist klar abgrenzbar, von Außen eindringend in das friedliche Leben. Wechselwesen finden sich zwar häufig; doch wird aus dem ,guten‘ Menschen meist erst durch einen Zauber ein ,schlechter‘. Auch auf der „Karusselfahrt nach Fantomia“ schien das Böse bis zur Ankunft „der Fünf“ an den Toren Fantomias zunächst aus der Distanz sich nähernd und geschlossen. Doch in dieser Szene wird genau dies in Frage gestellt. Zwar finden sich in dem Stück auch solch verzauberte Wesen, wie sie für Märchen typisch sind – der Mammuian selbst ist einer davon, wie sich später herausstellt – doch nun, da die HeldInnen quasi vor dem Tor zur Hölle stehen, wird ihnen mitgeteilt, dass sie dort längst sind – ins Aus manövriert durch die Ausschlussakte ihrer alltäglichen Welt. Das, was als Abgeschlossenes und oft Bedrohliches und damit Auszuschließendes wahrgenommen wird, wird als längst und unweigerlich in unser Mitte existierend präsent gemacht. Die Bedrohung geht von Brüdern, Polizisten und unspezifischen Autoritäten aus. Die Ursachen und Zuordnungen sind – höchst unbefriedigend – nicht eindeutig zu klären: Wenn ein Mammumian am Hebel sitzt, so sind seine Wirkungsweisen mannigfaltig und opak. Dadurch, dass auch das ,Außen‘ der Realität in den mystischen Rahmen des Stückes eingebunden wird, ohne jedoch gänzlich in diesem aufzugehen, werden potentiell auch die Narrative der alltäglichen Geschehnisse, wie sie die individuellen Betrachter und Betrachterinnen kennen, angerührt. Hier wird die Vorstellung, dass das ,Andere‘ durch eine Kontur kreiert wird, die das ,Außen‘ stets aus dem ,Innen‘ herausfaltet und zugleich jedes Mal neu und leicht bis schwer verändert zurückfaltet, sozusagen verbildlicht. Wer oder was das bedrohliche ,Andere‘ ist, ist in einem Wechselspiel begriffen. So klar mitunter die Grenzen des Auszugrenzenden scheinen, so verschwommen erscheint die Kontur bei näherem Hinsehen. In der Narration dieser Karussellfahrt finden sich also durchaus Elemente ästhetischen oder affekt-politischen Agierens. Nicht nur kann einem ein bisschen ,schwindelig‘ dabei werden, man kann auch den Schein der „trügerischen Gegenwart“ ein wenig spüren. Es werden eine Vielzahl an Öffnungen und Brüchen angeboten, um die Bandbreite der affektiven Bewegungen zu vergrößern. Damit erhöht sich auch die Chance, dass auch solche Bewegungen genügend Intensität gewinnen, um bewusst registriert zu werden, die es zuvor noch nicht

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waren. Was genau das Stück bei den Zuschauern bewegt, können wir indes nicht wissen. Genaue Reaktionen vorherzusagen, ist in der Tat aus der Perspektive eines „singulär-pluralen“ und zu großen Teilen affektiv gesteuerten „zusammen Erscheinens“ generell nicht möglich. Man kann nur darauf hoffen, dass die Verrückungen, die hier für Irritierungen der Sinneswahrnehmung geschaffen werden, ein Nachdenken und Diskutieren nach sich ziehen. Wenn wir Glück haben, können sich dabei Perspektiven für bislang nicht- oder wenig-Verhandeltes auftun. Dabei kann das „Mit-ein-ander-sein“ möglicherweise neue Artikulationen hervorbringen. Es kann also nicht erwartet werden, dass die Denkstruktur des Publikums durch die Betrachtung des Stückes völlig verändert wird, aber es kann Impulse geben und als Angebot gesehen werden, sich auf andere Erscheinungsformen der ,Wirklichkeit‘ einzulassen. Bei der Betrachtung der künstlerischen Arbeit und der Interaktionen innerhalb der Projektgruppe selbst, lassen sich einige Elemente der „Mikropolitik“ erkennen, die die vielfältigen Verbindungen von affektiven, bewussten und materiellen Faktoren noch sichtbarer machen. Dabei wird unter anderem auch deutlich, wie eng diese ,Mikro-Ebene‘ auch an die Ebene weiterreichender regionaler oder globaler Beziehung gekoppelt ist. Im folgenden Abschnitt möchte ich zur Veranschaulichung einiger dieser Elemente ein Ereignis genauer unter die Lupe nehmen, welches sich während der Proben zu dem Stück zwischen einigen an den obigen Szenen beteiligten Jugendlichen zutrug. In diesem Zusammenhang schaue ich mir das Zusammenspiel von augenscheinlich nicht vollständig bewussten, bewussten und bereits sehr ver-körperten und materialisierten Faktoren der ,Wirklichkeit‘ aus verschiedenen Perspektiven an. Anhand des Beispiels soll sichtbar werden, wie einige der mannigfaltigen Konturierungen dessen, was zu den Beteiligten gehört und was ihnen äußerlich ist, sichtbar und durch Benennungen und körperliche Interaktionen aktualisiert und auch verschoben werden.

Autobiografisches Glühen – Interaktive Öffnungen zum anders Mit-ein-ander-sein Oben wurde erörtert, wie narrative Technik und Stil einer Erzählung durch die Kreation von Irritationen Optionen schaffen können, die Wahrnehmung der „trügerischen Gegenwart“ zu verschieben. Wo solche narrativen Brüche in der Hauptsache dem Publikum Öffnungen boten, dem ,Flirren‘ nachzuspüren und nach-zu-denken, eröffnet sich in der täglichen Interaktion und kreativen Arbeit, in der das Stück zustande kam, den Jugendlichen das dynamische Feld des „Mitein-ander-seins“ in weitaus vielfältigerer Weise. Auch in der Analyse der Inter-

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aktionen, die sich zwischen Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmern zutrugen, sind es Irritationen, die meinen Blick auf die „singulär-plurale“ Diversität der Wirklichkeiten lenken. In der obigen Szene fand unintentional eine interessante Spiegelung und gleichzeitige Verrückung einer nicht ganz untypischen Interaktion zweier der Gruppenteilnehmer statt, die darin mitwirkten: Es handelt sich dabei um die Jugendlichen, die die Wächter darstellen, die ich hier zwecks Anonymisierung mit den Fantasie-Namen Aexux und Goros bennene. Die Darsteller, die im Stück als Wächter in Rüstung in Slapstick-Manier miteinander rangeln, prallen auch im Projektalltag bisweilen aufeinander. Eine Situation, die symptomatisch für die Beziehung der beiden scheint, ereignet sich während der Proben in einer Pause: Aexux, im Chor mit einem Freund, stimmt ein albanisches Helden-Lied an, das die beiden sehr emphatisch zum besten geben und sichtlich genießen. Bei Goros tritt an dieser Stelle eine sichtbare Irritiation ein. Er ist angespannt, verzerrt das Gesicht, verlässt den Raum. Er wirkt genervt und verärgert. Was zunächst einmal zu sehen und zu hören ist, ist die körperlich-affektive Dimension dieser Ereignisse. Aexux’ Körper ist gespannt. Mit strahlendem Gesicht und ausgreifenden Gesten singt er das Lied, dessen Lautstärke langsam zu einem Grölen ansteigt. Goros’ Reaktion darauf scheint unmittelbar. Sofort, quasi automatisiert, setzt seine Irritation ein. Sein Körper sieht angespannt aus. Er bewegt sich weg von dieser Situation. Irgendetwas scheint in dem Ereignis des Gesangs in ihm aufgewallt zu sein – ein „something doing“, das ihn reagieren lässt. Die Körperlichkeit eines „Gemeinsam-Erscheinens“, ist, wie oben erwähnt, in ihrer Affekthaftigkeit stets neu beginnend, und nur bedingt vom Subjekt intentional steuerbar. Das heißt aber nicht, dass es beliebig ist. Dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio zufolge ist das Potentielle im Werden limitiert von den Erinnerungen unserer Lebenserfahrungen, die mit den sich stetig ändernden Bewegungen des sensorischen Registers in Verbindung treten. Es findet dabei eine Subjektivierung statt, in der die rein neuronalen Bewegungen, die spontane Regungen und Gefühle verursachen, somatisch ,markiert‘ werden. Das hat zur Folge, dass der Körper – und mit zunehmendem Erleben der Umwelt und zunehmender Ausbildung von Gedächtnis und sprachlichen Fähigkeiten letztlich auch der Geist – etwas erinnern und zu einem Quasi-Selbst und anderen Qasi-Entitäten organisieren. Damasio spricht in diesem Zusammenhang von einem „autobiografischen Selbst“ unserer systematisierten Erinnerungen.23 Daraus folgt, dass das Gehirn und Bewusstsein zwar potentiell geradezu unlimitierte Möglichkeiten der Wahrnehmung bereithalten, uns aber aufgrund 23 Damasio 2000 (einführend: 18–24).

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dieser Systematisierung nur eine begrenzte Anzahl davon zur Verfügung stehen. Die KulturgeographInnen Owain Jones und Joanne Garde-Hansen beschreiben diese Prozesse als „trajectories of the past-into-present“ und veranschaulichen sie mit der Metapher der „Glut“ aus der Vergangenheit, die im Selbst-Werden der Gegenwart fortglüht – verwandelt und doch vom einstigen Feuer vorgeprägt.24 Wir können also unsere Anschauungen unseres Selbst, der Welt und der Anderen nicht beliebig ändern. Sie werden quasi in unser Gedächtnis eingeschrieben, jedoch nicht gänzlich unveränderlich. Es ist daher immer nur möglich eine begrenzte Perspektive auf das Erleben zu werfen, die wir nicht beliebig erweitern können, aber wir können üben, sie ein wenig auszudehnen. In dieser Übung ist es dann auch sinnvoll, nicht nur den Kopf, sondern auch den Körper zu gebrauchen. Welche Art von „Glut“ die Wahrnehmung Goros’ in diesem Augenblick geprägt hat, wurde in einem Gespräch, das ich später mit ihm führte und in dem ich ihn auf die Situation ansprach, ein wenig deutlicher. Darin erzählte er mir, dass er es „hasse“, wenn die Jungs so singen, und dass er diesen „Patriotismus“ nicht leiden könne. Er sprach davon, dass das Leben in Prizren manchmal den „Gladiators“ im Fernsehen gleiche. Es passiere oft, dass ihm jemand zu verstehen gebe, dass er nicht hierher gehöre. Goros ist im Kosovo geboren und gehört einer der hier lebenden Minderheiten an. Das Gefühl nicht erwünscht zu sein, wird ihm jedoch nicht nur von albanischen Mitmenschen vermittelt, sondern, so sagte er, besonders auch von türkischen Jugendlichen. Er erzählte, oder besser : zeigte mir, dass man ihm ,Luft-Prügel‘ und ,-Schüsse‘ androhe. Das passiere ihm häufig. Hier in „Merula“ sei es zwar besser als „draußen“, dennoch „hasse er diesen Patriotismus“ einfach. Er erlebte diese Situation tatsächlich sehr negativ, fühlte sich sichtbar davon abgestoßen und grenzte sich ab. Laut Damasio werden während der unbewussten Reizverarbeitung im Verlauf des Lebens Stimuli mit Wertigkeiten und Vermeidungs- oder Annäherungsreaktionen verbunden. Wiederholungen von Stimuli oder länger andauernde Verarbeitungsprozesse derselben, führen zunächst körperliche Reaktionen dann auch subjektiv wahrgenommenen emotionalen Zuständen zu. Diese können in Folge auch in die bewusste kognitive Bewertung einer Situation einfließen.25 Der „Hass“, den Goros in der Retrospektive seiner eigenen Reaktion zuschreibt, ist also Indiz für all die früheren Stimulationen, die sich durch die Wiederholung solcher Erlebnisse, wie der von ihm geschilderten, zu einem

24 Jones/Garde Hansen 2012: 7f. Die Metapher der „Glut“ [embers] wird hier in Abgrenzung zu Nigel Thrift genutzt, der diesen Effekt zuvor als „world of cinders“ – Welt von Schlacke/ Asche beschrieben hatte, vgl. Thrift 1999: 315. 25 Damasio 2000: 257–277.

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vagen affektiven Muster auf der unbewussten Ebene – und damit zu zukunftsweisenden Tendenzen für sein Verhalten vereinen. An anderer Stelle habe ich ein Gespräch mit einem der Organisatoren, Jungtsa,26 in dem wir eben dieses Thema anschneiden. Hier schildert er das Ereignis aus seiner Perspektive, die der der fröhlich singenden Jungen vermutlich sehr viel näher kommt. Jungtsas Wahrnehmung und kognitive Evaluation der Situation ist eine völlig andere. Er beschreibt sie folgendermaßen: „Es ist ganz’ normal wenn Du eine albanische Lied höre, jetzt z. B. ich als Albaner und wo sagt, Shqip[ri Oj N[na Ime, also Albanien, mein Mutterland … das … das ist ganz normal, dass selber der Körper reagiert und macht man lustig, ist man stolz, dass hört eine Lied für mein Land, also irgendwas, was äh […] wo es wird gesungen mit ähh albanische Tracht und mit diese Instrumente, was wir hier spielen C ¸ ifteli und Sag&, und dann singt jemand der sagt: ,Albanien mit große Wälder und schöne Berge‘ und dann macht Dir gleich stolz! [enthusiastisch] Und dann reagiert man, dann macht man so:…“ [… dabei klatscht er abwechselnd in die Hände und breitet die Arme aus, mit beiden Händen rhythmisch schnipsend und wiegt seinen Oberkörper. Obwohl er sitzt, ist das als Tanz erkennbar.]27

Er beschreibt hier seine körperliche Reaktion auf das gleiche Ereignis. Von früheren Gesprächen weiß ich, dass in die Lebensfreude und Vaterlandsliebe, die er hier schildert, auch mit dem Krieg verbundene Erlebnisse hineinspielen dürften. Jungtsas Familie und sein Dorf hatten schwer unter Übergriffen von serbischer Seite zu leiden. Er hat mir von einigen erschütternden Grausamkeiten erzählt, die die meisten im Dorf aus Erzählungen oder Erinnerungen kennen. Für ihn ist die Tatsache, dass der mehrheitlich albanische Kosovo heutzutage, trotz andauernder internationaler Präsenz und der fehlenden Anerkennung von rund 40 % der UN Staaten, vergleichsweise unabhängig ist, keine rein bürokratische Frage, sondern eine Wendung, die ein vergleichsweise sicheres Leben ermöglicht. Jungtsa ist während des Krieges geflohen. Das Gefühl des nichtWillkommen-seins am Ort, in dem er lebt, hatte für ihn und seine Familie damals lebensbedrohliche Dimensionen. In den ,Werdens-Ereignissen‘ seines Lebens haben sich daraus systematisierte Erinnerungen und Subjektivierungen ergeben, die ihn als überzeugten Unterstützer des Unabhängigkeitsbestrebens Kosovos in Erscheinung gebracht haben, der die Veränderungen, die sich im Kosovo seit dem Krieg zugetragen haben mit Erleichterung erlebt und der Stolz für die Widerstandskraft seines Volkes empfindet. Es ist nicht genau nachzuvollziehen, wie die musikalischen Stimuli hier in eine positive körperliche und 26 Auch Jungtsa ist ein zufällig generierter Fantasiename. 27 Unveröffentlichtes Interview mit der Verfasserin vom 03. 08. 2014 in deutscher Sprache.

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kognitive Wertung transferiert wurden. Es ist aber nachzuvollziehen, dass die singuläre Ausprägung seines Selbstempfindens in dieser Situation so völlig anders ist, als die Goros’. Aexux, der im gleichen Dorf wohnt, wie Jungtsa und zu Kriegszeiten noch nicht geboren war, hat die Geschichten und Diskurse seiner Vorfahren ,geerbt‘ und ist aufgewachsen mit Bildern verstorbener Familienmitglieder an der Wand und Geschichten ihrer Not, ihres Mutes und ihrer Standkraft im Ohr. Der Kosovo erfüllt ihn auch als Nachfahre mit einem recht überschwänglichen Stolz. Während Jungtsa und Aexux also beim Ertönen des Liedes sozusagen vor Freude ,glühen‘, ,glüht‘ Goros aus Frustration und sogar Hass darauf, diesem Gesang ausgesetzt sein zu müssen. Alle drei sind geprägt von ihren eigenen systematisierenden Erlebnissen, alle auf die ihrer Lebenswelt und Erfahrung entsprechende spezifische Weise. Was dabei auf der affektiven Ebene zugrunde liegt, sind Ansammlungen von Tendenzen, die sich in ihrer Ausprägung mehr oder weniger quasi-Bestimmtheiten annähern, die nicht kompatibel sind. Wenn für das Quasi-Subjekt nur eine sehr stark konturierte Wirklichkeit richtig, plausibel und wahr erscheint, haben solche Tendenzen die kontrastive Intensität der affektiven Ebene verloren, wo die Differenzen im ständigen subtilen Spiel miteinander stehen. Die „kreative Spannung des Kontrastes“ ist dann verloren. Während der „autobiographischen Systematisierung“ der kontrastiven Bewegungen auf dem Weg von Affekten zu Gefühlen und Gedanken können sich scheinbare Entitäten stark verhärten. Eingebunden in und verstärkt durch Diskurse und Dispositive, kann es passieren, dass sie in der – nicht nur wahrgenommenen, sondern auch ausagierten – Wirklichkeit dann nicht als Kontraste, sondern als harte Konflikte in Erscheinung treten. Passiv aggressive Ausschließungen und offen gewaltsame Akte gegen die ,Anderen‘ werden dann wahrscheinlicher. Die Beziehung von Aexux und Goros befindet sich manchmal eher auf dieser aggressiveren Seite der Medaille, wo der andere, mit dem man im Projekt Theater spielt, zu dem ,Anderen‘ wird, der nicht zum ,Selbst‘ gehört. Jedoch addieren sich die Konturierungen, die sie tätigen, weder zu konkreten Grenzziehungen noch zu konkreten Identitäten. Im täglichen Zusammentreffen der „Merula“-Mitglieder erleben wir die beiden Jugendlichen durchaus auch in Situationen, die von gegenseitiger Sympathie getragen zu sein scheinen. An changierenden Grenzziehungen, die beispielsweise auch mal entlang der Linie „Merula“-Mitglied und Nicht-„Merula“-Mitglied oder Junge und Mädchen etc. verlaufen können, wird die Wechselhaftigkeit der gefühlten Zugehörigkeiten der Jugendlichen sichtbar. In der Arbeit an der Szene „Die Wächter“ tritt allerdings eine Besonderheit zutage: Hier scheint im Erleben nicht so sehr die Abgrenzung zu irgendetwas

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oder irgendjemand anderem im Vordergrund des ,Mit-ein-ander-seins‘ zu stehen, sondern tatsächlich schlicht das gemeinsame Schaffen. In dem Ereignis des ,Heldengesangs‘ erscheint im Miteinander von Aexox und Goros eine Kontur, die nationale Entitäten zeichnet. Die Situation wird in der Retrospektive mit „Patriotismus“ auf der einen und „Mutterlandsliebe“28auf der anderen Seite assoziiert. Goros empfindet den „Patriotismus“ der anderen als etwas, dass nicht zu ihm gehören kann und zu dem er nicht gehören will. In der Arbeit an der Szene wird diese Kontur aufgeweicht. Sie scheint zumindest in dem Augenblick keine Relevanz zu besitzen. Hier prallen Aexox und Goros zwar physisch auch aufeinander, jedoch ist diese Re-Iteration einer Reibung miteinander mit einer ganz anderen affektiven Stimmung verbunden. Bei der Aufführung bringt dieses Ereignis die Zuschauer zum Lachen – ein Lachen, bei dem nicht des einen Freud des anderen Leid bedeutet. Die Situation ist ganz gelöst. Beide sind nach dem Stück sichtlich stolz und einander zugewandt. Auch das beruht auf einer Art ästhetischer Intervention: Bei den Proben wurden die beiden wiederholt in einen Modus des körperlichen und bewussten Erlebens versetzt, der sogar das differentielle Sein auf genussvolle Weise zuließ, welches ja hier spielerisch aus-agiert werden konnte. Auch Aexox und Goros haben viel gelacht dabei. In dieser Situation werden die Konturierungen im „Mit-einander-sein“ verschoben. Trotz des Gerangels verläuft hier keine Linie zwischen einem ,Selbst‘ und einem ,Anderen‘ das ausgegrenzt werden muss oder nicht mit jenem ,Selbst‘ kompatibel ist. Keine der Konturierungen, die sich hier zeigen, sind stabil. Die eine mag jedoch aufgrund der Vorprägungen stärkeren Einfluss auf die „autobiografische Systematisierung“ haben als die andere. Es ist also nicht zu erwarten, dass sich ein „autobiografisches Selbst“ und die Entitäten, die es um sich herum ausmacht, durch solche Ereignisse vollkommen verschiebt. Wenn sich ähnliche Ereignisse jedoch oft wiederholen, kann das durchaus in die Systematisierung mit einfließen, die ja niemals abgeschlossen ist. Genau dieses Prinzip kommt in Ansätzen der narrativen Mediation29 und in ,Restorative-Justice‘ Programmen zum Tragen.30 ,Bullying‘, Ausgrenzung und die negativen Bilder und Erfahrungen der beteiligten Personen werden dabei zu transformieren gesucht, indem bewusst solche Narrationen, die vom Schema abweichen, gesucht und wiedererzählt werden. Aufgrund der fluiden Natur des „Mit-ein-ander-seins“ lassen sich solche immer auch finden, wenn sie auch die Ausnahme bilden mögen. Diese Narrationen können daraufhin auf unterschiedliche Weise verstärkt werden, unter anderem auch Gestalt- oder Körper-therapeutisch, wobei wieder 28 Im Albanischen spricht man nicht vom Vaterland, sondern vom Mutterland. 29 Vgl. Winslade/Monk 2000. 30 Vgl. Strang/Braithwaite 2001.

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die affektive Ebene eine große Rolle spielt und zu neuen Systematisierungen von Körper-Bewusstseins-Erinnerungen führt. In der oben erörterten Szene war dieser Effekt eher zufällig vorhanden. Eine stärkere theaterpädagogische Ausrichtung der Gruppe könnte einen weiteren Beitrag dazu leisten, solche Verschiebungen zu stärken. Dass in solch künstlerischen und körperlichen Begegnungen, wie in dieser kleinen Rangelei auf Stelzen, Potentiale liegen mögen, zeigt sich vielleicht schon in der Tatsache, dass Aexox auf seine Ritterrüstung, die er eigens aus einem alten Boiler gezimmerte hatte, ein YinYang Zeichen gemalt hat. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies ein Resultat der Tatsache war, dass im Stück keine nationalen Symbole verwendet werden sollten; sonst wäre eventuell auch der albanische Adler in die engere Auswahl gekommen. Wenn jedoch neben dem Adler ein Yin-Yang Zeichen ein populäres Symbol ist, gibt es vielleicht noch Hoffnung für einen symbiotischen Effekt im Sinne einer mikropolitischen Ästhetik und Fantomia kann – wie im Stück – ein bisschen mehr Prizrenutopia oder besser Mundotopia werden.

Fazit Worauf wollte ich mit dieser Erzählung hinaus? Man mag dieses ,Klein Klein‘ belächeln und es mag lapidar erscheinen in Anbetracht großer Bemühungen des Minderheitenschutzes und der Menschenrechte auf der ,Makro-Ebene‘. Das ,Mikro‘ und das ,Makro‘ existieren jedoch nicht tatsächlich voneinander abgelöst; und die Abstraktionen der „trügerische Gegenwart“, die wir in Form von Typisierung und Stereotypisierung vornehmen, überlagern möglicherweise einiges an Potential für die Entfaltung anderer Formen des „Mit-ein-ander-seins“. Kunst-basierte Praktiken der Konflikt-Transformation und Ko-Existenz können dazu, wie oben argumentiert, von Nutzen sein. Dabei scheint jedoch ein gewisses Maß an Stabilisierung vonnöten, wenn kristallinen Formationen des relationalen Raumes, die sich aggressiv oder gewaltsam ausschließen, symbiotischere Ausformungen entgegengesetzt werden sollen. Dazu reichen einzelne Ausnahmesituationen vermutlich nicht aus. Positiv erlebte, sich nicht ausschließende Wahrnehmungen von Selbst-mit-Anderen müssen vielfach wiederholt werden, damit sich auf der Ebene der „autobiographischen Systematisierung“ andere Verknüpfungen von ,gut‘ und ,schlecht‘ einstellen können. Die Vorgehensweise der Brechung, Überraschung, oder um es mit Massumi zu formulieren, des „Mikroschocks“,31 stellt in meinen Augen durchaus eine sinnvolle Art der Sozial-Kritik dar. Die Ablehnung einer umfassenden Homo31 Massumi 2009: 8.

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genisierung gesellschaftlicher Normen, Werte und Verhaltenskodizes zu einem zweifelhaften Idealzustand sowie die Akzeptanz der Unausweichlichkeit und Kostbarkeit des Diversiblen, Heterogenen und Bruchhaften bergen jedoch auch beträchtliche Herausforderungen. Die Gefahr scheint gegeben, zu ignorieren, dass ,Entitäten‘, deren Konturen nunmehr als fluid gelten dürfen, im Lebensalltag jedoch als diskursiv oder auch materiell-institutionell relativ geschlossene und vor allem wirkungsmächtige Objekte und Subjekte auf den Plan treten. Lebenswirklichkeiten werden von ihnen etwa durch Medienmacht, Institutionalisierung von Wirtschaft und Schattenwirtschaft sowie Waffengewalt mitunter sehr schmerzhaft beeinflusst. Der Bedarf an handfesten politischen Regelungen scheint daher groß und sozialExperimente, wie das oben beschriebene im Vergleich vielleicht recht irrelevant. Die Notwendigkeit, Entscheidungen auf allen Ebenen des politischen und privaten Lebens zu treffen, setzt mit dem Aufbrechen von Narrativen und Dispositiven selbstverständlich nicht aus. Bei aller Anerkennung der Kontingenz und des gesellschaftlichen Wertes ästhetischer Zusammenspiele, sollte der Blick für den schmalen Grat bewahrt werden, von dem es nur wenige Schritte zu der unachtsamen rhetorischen Nivellierung leidvoller Brüche in der Lebenswelt von Konflikten betroffener Menschen ist. Auch scheint es unangemessen, jeglichem menschlichen Streben nach Einheit und Kontinuität die Daseinsberechtigung abzusprechen. Der Vorwurf der Relativierung und Ignoranz wäre dann nicht fern. Die Massumische Kritik des Partizipierens ist meines Erachtens am sinnvollsten, wenn sie mit einer Kritik der Diskurse und Dispositive verknüpft wird, so dass sich eine Wechselbewegung zwischen affektiven Potenzierungen und reflexiven Dekonstruktionen einstellen kann, die dann in notwendigen Entscheidungsfindungen zusammenfließen können. Auch die Idee, ästhetische Praktiken direkt für die Erarbeitung politischer Problemstellungen und Agenden zu benutzen, erscheint mir fruchtbar. Der brasilianische Regisseur, Autor und Politiker Augusto Boal hat Ähnliches beispielsweise schon einmal mit Erfolg mit einer Form des partizipativen Theaters getan, die er das „legislative Theater“ nannte. Dabei wurden in einer Form des Theaters, die das Publikum einband, Gesetzesvorschläge für das Stadtparlament von Rio de Janeiro erarbeitet und umgesetzt.32 Eine solche Verschränkung setzt nicht nur eine andere Evaluation von Praktiken der Ko-Existenz voraus, sie nutzt diese vielmehr zur Evaluation politischer Situationen. Auf diese Weise können möglichst viele Kanäle der Wahrnehmung für ein anderes „Mit-ein-ander-sein“ ausgeschöpft werden.

32 Boal 2005.

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Christian Müller

„Mit manchen passiert es und mit manchen eben nicht“. Jazzimprovisation und affektive Vergemeinschaftung

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Einleitung

Der vorliegende Artikel soll einen spezifischen Blick auf Dynamiken der Vergemeinschaftung im Kontext situativer sozialer Nahbeziehungen1 werfen. Die soziale Situation, in der diese Nahbeziehungen stattfinden, ist die eines Jazzkonzerts. ,Spezifisch‘ ist der Blick auf die daran beteiligten Musiker, weil er vor allem auf die Wirkung von Affekten als eigenständige Form einer empfundenen Vergemeinschaftung gerichtet ist. Affekte werden dabei in einem emotionssoziologischen Sinne verstanden. Sie entstehen in sozialen Interaktionszusammenhängen und sind zunächst eine unspezifische und plötzliche Weise der Anregung, die verschiedene Zustände annehmen kann. Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, weist der Begriff in dieser Definition eine hohe Kompatibilität zu den untersuchten Phänomenen auf, die meist unvermittelt auftreten, die Akteure überraschen und deren Ursprung und Bedeutung zunächst unklar ist. Affizierungen sind entsprechend auch nicht auf Interaktionen zwischen menschlichen Akteuren beschränkt. So nutzt etwa die Forschungsrichtung der Affect Studies diese Offenheit zur Integration jeglicher Entitäten in Interaktionszusammenhänge: „Für sie sind Dinge durchaus nicht allein Übergangsobjekte, Gegenstände individueller Besetzung oder symbolische Speicher von Emotionen, sondern sie spielen selbst eine konstitutive bzw. emergente Rolle. Affect Studies bringen soziale Affekte ins Spiel, die sich weder allein aus den individuellen Triebstrukturen noch bloß aus zwischenmenschlichen Interaktionen erklären, sondern aus Interaktionen mit nicht-menschlichen Elementen oder auch Akteuren – es handelt sich um quasi-universale Interaktionsformen. So ist der Affekt, der bei der Betrachtung eines Bildes entsteht, weder der 1 Die ,soziale Beziehung‘ wurde grundlegend definiert von Weber als ein „[…] seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer […]“, Weber 2005: 19, Hervorhebung im Original. Dies kann über eine räumliche und/oder zeitliche Distanz erfolgen oder wie im hier vorliegenden Fall in einer direkten und damit ,nahen‘ sowie zeitlich begrenzten Face-to-Face-Interaktion.

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libidinösen Besetzung eines Betrachters, noch der affektiven Kraft des Bildes zu verdanken, sondern entstammt deren Interaktion.“2

Der Artikel bezieht sich auf das von mir durchgeführte Dissertationsprojekt mit dem Titel Doing Jazz – zur Konstitution einer kulturellen Praxis, für das sechs Gruppendiskussionen und drei Einzelinterviews mit improvisierenden Jazzmusikern geführt und ausgewertet wurden.3 Die beteiligten Bands wurden zudem bei Livekonzerten beobachtet. Die Untersuchung von Jazzmusikern war als Forschungsgegenstand aus verschiedenen Gründen von Interesse. Ein erheblicher Anteil der gespielten Musik besteht im Falle der untersuchten Bands aus Improvisation, wodurch eine spezifische Form der bandinternen Handlungskoordination notwendig wird. Die Musiker spielen zudem häufig in unterschiedlichen Projekten mit wechselnden Besetzungen, was neben der Struktur der gespielten Stücke auch für die jeweiligen Konzertereignisse eine zusätzliche Unterbestimmtheit zur Folge hat. Das individuell und sozial zu bearbeitende ,Problem‘ der Jazzimprovisation4 wurde schließlich mit Schwerpunkt auf drei verschiedenen Aspekten untersucht: Der Benutzung von Musikinstrumenten, dem Zusammenspiel der Musiker untereinander und dem Ereignis des Livekonzerts. Quer dazu verläuft jeweils ein (sozial)phänomenologisches Erkenntnisinteresse in Hinsicht auf Modi der Wahrnehmung und Bezugnahme der Musiker auf sich selbst, die anderen Musiker, die Musikinstrumente und die spezifische Situation des Konzerts mit allen jeweils relevanten Gegebenheiten, wie dem Verhalten des Publikums oder der Beschaffenheit der vorgefundenen Räumlichkeiten. Im Folgenden werden primär Interviewausschnitte von Interesse sein, in denen die Musiker darüber sprechen, auf welche Weise und unter welchen Umständen sie das Zusammenspiel mit anderen Musikern während eines Konzerts als eine gelungene oder sinnhaft bedeutsame5 Interaktion erleben. In 2 Seyfert 2011: 76, Hervorhebungen im Original. 3 Es handelte sich um eine qualitative Studie, die somit nicht zum Ziel hatte, verallgemeinerbar repräsentative Erklärungen zu liefern. Aussagen über ,die Praxisform Jazz‘ oder ,die Jazzmusiker‘ sind entsprechend ebenfalls immer mit Bezug auf die untersuchten Musiker zu verstehen. Die hermeneutisch-rekonstruktive Auswertung der Interviews hatte zum Ziel, quer durch das erhobene Material nach wiederkehrenden Motiven und Erklärungsmustern zu suchen. Das heißt auch mit Blick auf die untersuchten Musiker ging es nicht um die Erzeugung von Validität über Quantität. Zur dabei verwendeten Methode der integrativen Hermeneutik, vgl. Kruse 2014. 4 Kurz gefasst: eine als gelungen empfundene Koordination einer gemeinsamen, zeitlich parallel erfolgenden Handlung unter den Bedingungen von vorab nur rudimentär festgelegten Strukturen im Bezug auf Ablauf und Ziel dieser Handlungen. Eine speziell handlungstheoretisch ausgerichtete Studie zu Jazzimprovisation findet sich z. B. bei Figueroa-Dreher 2008. 5 Die Unterstellung von Sinnhaftigkeit kann man kritisieren. Ich wage jedoch von der Prämisse auszugehen, dass es zumindest bei einer Tätigkeit wie dem Spielen von Musik einen motivationalen Kern gibt, ohne den sich die beteiligten Akteure einer solchen Praxis aller

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den Interviews wird implizit und explizit ein Ideal des erlebten Zusammenspiels thematisiert, das die Musiker zu verwirklichen suchen, und an dem auch die Kompatibilität der jeweiligen Gruppenkonstellation beurteilt wird. Diese Orientierung ist jedoch nicht im Sinne einer Handlungsintention zu verstehen, auf die man sich vorab gemeinsam verständigen könnte. Viel mehr scheint das Zusammenspiel in dieser Hinsicht von einer grundlegenden Kontingenz geprägt zu sein, aus deren Auflösung sich ein großer Teil der affektiven Sinnhaftigkeit speist. Auf diesen Moment der empfundenen Schließung werden sich die Analysen des Artikels konzentrieren. Eine improvisierte Interaktion wird als gelungen empfunden, wenn sich unvermittelt das Gefühl einer verbindenden Gemeinsamkeit einstellt, die ich als affektive Vergemeinschaftung interpretiere. Dies kann innerhalb der Band geschehen, wird aber auch als Deutungsmuster der Reaktionen des Publikums auf die gespielte Musik verwendet. Es scheint mir, dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, dass im Diskurs der improvisierenden Jazzmusiker sehr pointiert zum Ausdruck kommt, allerdings als wichtiger Bestandteil jeder sozialen Interaktion verstanden werden muss. Nach der Besprechung verschiedener Interviewausschnitte in den folgenden drei Teilen des Artikels werde ich auf diesen Punkt im letzten Abschnitt zurückkommen. In den Analysen wird vor allem auf einen Diskurs Bezug genommen, also auf die sprachlich und interaktiv erzeugte kommunikative Wirklichkeit der geführten Einzelinterviews und Gruppendiskussionen. Es kann nicht der Anspruch erhoben werden, daraus Aussagen darüber abzuleiten, wie die Handlungspraxis der Jazzmusiker ,wirklich‘ aussieht. Über die Rekonstruktion des geführten Diskurses soll ein Eindruck davon entstehen, in welcher Hinsicht improvisierter Jazz für die Musiker ein sinnhaftes Handeln und Erleben darstellt. Das heißt die Musiker versuchen zu versprachlichen, wie die Handlungsund Interaktionspraxis von Jazz abläuft, wie sie erlebt wird und was ihnen dieses Erleben bedeutet. Es geht also um „Motiv/Emotions-Komplexe, die einer Praktik inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ,einrücken‘“.6 Auch wenn aus dem sprachlichen Material keine objektiven Aussagen über die Wirklichkeit der Spielpraxis ableitbar sind, so bildet sich darin doch der konjunktive Erfahrungsraum7 der Musiker ab. Dabei handelt es sich um den ,Raum‘ einer gemeinsamen Handlungspraxis, in dem wechselseitiges Verstehen und Interagieren über ein geteiltes intuitives und vorkommunikatives Vollzugswissen stattfindet. Die sprachlichen Repräsentationen dieser geteilten Erfahrungswelt sollen Wahrscheinlichkeit nach nicht regelmäßig (und häufig lebenslang) widmen würden. In diesem Erleben liegt eine ,emotionale (oder auch affektive) Sinnhaftigkeit‘, die im Zusammenspiel angestrebt wird. 6 Reckwitz 2003: 293. 7 Der Begriff stammt ursprünglich von Karl Mannheim und wurde von Ralf Bohnsack in die Methodik qualitativer Sozialforschung eingeführt, vgl. Bohnsack 2013; Mannheim 2003.

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neben der linguistisch orientierten Analyse immer auch als Ausgangspunkt für thesenhafte Aussagen darüber genutzt werden, wie die konkrete Handlungspraxis abläuft und welche Elemente dabei in welcher Weise von Bedeutung sein könnten. Hierzu ist immer auch die Integration von Theorieansätzen von Interesse, die ein erweitertes Verständnis einer beschriebenen Handlungssituation ermöglichen können.8

II

Die ,sich selbst geschehende‘ Gemeinschaft

Wie bereits angedeutet, ist das erwähnte ,Einrücken‘ in den Komplex einer Praxisform kein Automatismus, der sich bei der Jazzimprovisation selbsttätig einstellt. Die Musiker improvisieren auf der Basis von vorab festgelegten Akkordabfolgen (häufig sogenannter ,Standards‘), und es gehört zu ihrer grundlegenden Kompetenz, als Teil einer Band eine maximale Aufmerksamkeit für die Spielhandlungen der anderen Musiker zu entwickeln und aufeinander zu reagieren. Damit ist gewährleistet, dass die Interaktion ,funktioniert‘. Allerdings scheint es genau darum nicht zu gehen: „A: […] das is ja was anderes das is das ja (2) was die amerikanischen (1) kollegen the SPIrit nennen (2) also das is ja=n (2) na ja wenn man gläubig is sagt man der geist oder gott oder (2) oder the spirit also der geist der zwischen den menschen oder zwischen den koLLEGEN (3) WIRKT (2) und da wi- es wi- is=n metaPHYsisches proBLEM da kann man (1) manche nennen das cheMIE und (2) das is ratioNAL (1) nich zu: (2) nicht=nicht zu erklären auch wenn du n- selbst wenn du noten aufschreiben würdest ist die interpretation ja (1) immer noch von was abhängig“ (BB, 110–119)9 „A: […] ich habe tatsächlich auch das gefühl dass man:: (2) dass (1) WIR dann:: (1) diese gruppe (2) tatsächlich (1) nur bis zu einem bestimmten:: […] prozentsatz (1) da so weit die fäden in der hand haben dass man sagen kann (1) […] die musik is jetzt wirklich […] die summe der einzelnen […] musiker oder quellen ode:r (2) da is […] noch MEHR also auch noch mehr wo man:: (1) was einen überraschen kann und was halt tatsächlich nich (3) absehba::r (2) reproduziert werden kann weil=s einfach:: (1) wo sich alle:: gemeinsam wundern: […] (2) was da noch passiert abseits dem (1) jeweiligen zutun da […] is einfach MEHR noch“ (O, 11–25)10 8 Entsprechend der abduktiven Forschungslogik der Grounded Theory nach Strauss. Dabei handelt es sich um einen evolvierenden Erkenntnisprozess, der nicht in eine abgeschlossene Erklärung mündet, sondern eher situationsspezifische Momentaufnahmen liefert, vgl. dazu z. B. Strübing 2004: 38ff. 9 Bei Abkürzungen wie ,BB‘, ,NK‘ usw. handelt es sich um selbstvergebende Interviewcodes. 10 Die Interviews wurden in Anlehnung an das GAT-Basisverfahren transkribiert. Großbuchstaben weisen dabei auf eine starke Betonung hin, Doppelpunkte auf eine gedehnte Aussprache. Die Länge von Pausen zwischen gesprochenen Wörtern wird durch Punkte (Mikropause unter einer Sekunde) bzw. der Dauer der Pause in Sekunden notiert.

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Ein Konzept, das in beiden Passagen im Vordergrund steht ist das einer wirkmächtigen Entität, die jenseits der Einflussmöglichkeiten der Musiker agiert.11 Der Ort dieser Wirkung liegt „zwischen“, „über“ oder „abseits“ von benennbaren Handlungen, und ihre Qualität ist nicht aus einer Kombination der einzelnen beteiligten Faktoren ableitbar.12 Stattdessen wird ein nicht näher benanntes Supplement („da ist noch mehr“) oder die Wirkmacht eines als „anders“ charakterisierten Geistwesens („the spirit“) zum ausschlaggebenden Aspekt. Dieser Zustand wird als etwas gefasst, das als über- oder interindividuelles Phänomen die Musiker miteinander verbindet, sich jedoch außerhalb deren Einflusssphäre befindet. Im „gemeinsamen Wundern“ darüber findet sich eine zusätzliche situativ verbindende Komponente, durch die das kollektive Handeln und das daraus resultierende Erleben indirekt selbst thematisch wird. Genauer gesagt ,drängt‘ sich die so empfundene Vergemeinschaftung als unerwartetes und plötzliches Ereignis geradezu auf, worin die spezifische affektive Dimension der beschriebenen Situation liegt. „B: […] wenn das ne gute konstellation is dann (2) passieren bestimmte dinge zuSAMMen irgendwie (2) das is vielleicht auch so ne art magie die man auch schwer erklären kann (1) die halt einfach so passiert (.) mit manchen passiert es und mit manchen eben nich und das hat gar nix damit zu tun (1) wie toll jemand auf seinem instrument is (3) also es gibt musiker die ganz TOLL sind und trotzdem nich zusammen (2) das selbe FÜHlen in dem augenblick (2)“ (NK, 203–211) „A: […] manchmal passiert es dass man im gleichen moment genau das gleiche spielt manchmal sind wir dann selber ganz (1) verwirrt und gucken uns an und denken so ach KRASS wow“ (NK, 163–170)

Auch hier steht das Ereignishafte im Vordergrund, das vor allem im unerwarteten Erleben einer Synchronisation besteht. Sie wird als Verweis auf die Qualität einer bestimmten Bandbesetzung interpretiert. Hier liegt letztlich der entscheidende Punkt bezüglich der bereits angesprochenen ,Funktion‘ jenseits eines formal gelingenden Zusammenspiels. Eine entsprechende Kompatibilität ist nicht auf der Ebene von individueller Spielkompetenz verortet, sondern wird als Gegenstand von Kontingenz („mit manchen passiert es und mit manchen eben nicht“) gefasst. Noch stärker als in den vorigen Zitaten wird hier ein Horizont zwischen maximaler Unwahrscheinlichkeit und der Evidenz erlebter Ereignisse eröffnet, die diese Unwahrscheinlichkeit konterkarieren. Wiederum 11 Das erhobene Material wurde für die Dissertation vor allem feinanalytisch und mit einem mikrosprachlichen Fokus ausgewertet, worauf in diesem Artikel jedoch weitestgehend verzichtet werden soll. 12 Es handelt sich dabei auch um eine Grunddefinition der Qualität des Sozialen, wie sie z. B. Durkheim mit Bezug auf Aristoteles („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“) bestimmt hat.

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kommt es zu deckungsgleichen Handlungen von erwartungsgemäß unabhängig voneinander agierenden Akteuren. Die Überraschung und Verwunderung über eine solche Koppelung („im gleichen Moment genau das gleiche zu spielen“) mündet in der vergemeinschaftenden Affizierung „zusammen in dem Augenblick das selbe zu fühlen“. „A: […] es is MEHR des erleben von eintauchen und dann is es wie wenn man schwimmt im wasser dann is man verbunden mit dem element und (1) dann: (1) bin ich auch überRASCHT von (1) jeder sekunde die entsteht […] du merkst genau wenn der sound stimmt und die leute aufeinander eingetuned sind dann (1) gibt des einfach (.) was geniales und des geniale kann man gar nich WOLLEN (.) sondern des ENTSTEHT plötzlich […] und das is wahnsinnig“ (J, 29–44)

Vergleichbar mit der oben thematisierten Metaphorik des „Spirit“13, der in einem Bereich zwischen den Musikern wirkt, findet sich hier das Bild des Wassers, in das die Beteiligten eintauchen. Es handelt sich um jeweils unterschiedlich gefasste Konzepte eines vermittelnden und verbindenden Mediums, in dem und durch das die Gruppe als Kollektivakteur überhaupt entsteht und handlungsfähig wird.14 Die ,Sinnhaftigkeit‘ der Bewegung des Schwimmens ist an das Vorhandensein von Wasser gebunden. Schwimmen stellt jedoch auch eine Kompetenz dar, die im Wasser zu den grundlegenden Voraussetzungen von Akteurschaft gehört. Durch das Spielen von Musik erzeugen die Musiker also selbst das Medium, das die Bedingung der Möglichkeit dafür darstellt, schließlich in Form einer Band zu Handlungsfähigkeit gelangen und miteinander agieren zu können. Der weitere Verlauf wird auch hier als außerhalb der Einflussnahme von Handlungsintentionen gefasst. Es gibt zwar einen Punkt der impliziten Gewissheit darüber, dass sich der angestrebte Modus im Zusammenspiel eingestellt hat. Danach wird jedoch auf eine Selbstläufigkeit verwiesen, die zeitlich kontingente („plötzlich“) Ereignisse erzeugt, zu denen man selbst lediglich in das Verhältnis einer reflexiven Außenposition treten kann. Die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Bezugs zu vermeintlich selbst ausgeführten Handlungen wird schließlich mit der superlativischen Bewertung als „Wahnsinn“ markiert und zugleich damit ein mal mehr (vgl. den oben verwendeten Terminus der „Magie“) der rationalen Erklärbarkeit entzogen. „A: also ich versuche (1) den ort zu finden […] wenn ich mit anderen leuten spiele (2) dass ich mich auf DIE: irgendwie einrichte und höre ZU und dann komm ich ein bisschen raus von mir […] ich bin nich so fixiert (2) ich hör nich so sehr auf MICH die 13 Interviewausschnitt BB, 110–119. 14 Zur Frage danach, wie, ob überhaupt und falls ja unter welchen Umständen aus gemeinsam handelnden Personen ein Kollektivakteur werden kann, findet sich unter dem Stichwort der ,Kollektiven Intentionalität‘ eine breit geführte Debatte, siehe dazu den einschlägigen Sammelband Schmid/Schweikard 2009.

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ganze zeit (1) und (.) was ICH mache […] da wo ich nicht so GENAU zuhöre nicht GENAU (.) mich darauf fokussiere sondern auf markus ich höre gerade markus zu (.) dann passieren sachen fast von alleine (1) als ob ich nicht ganz da wäre (2) also die hände gehen von alleine die ohren gehen von alleine und ich gehe MIT was da auch immer passiert (1) und manchmal MERK ich das und dann denk ich OH JA DAS MUSS ich geNAU MAchen (1) aber dann ist es wieder schlecht (1) ich muss irgendwie da bleiben (1) wo es: (1) schwammig ist wo es nicht ganz bewusst ist wo die sachen MICH sogar selbst überraschen“ (M, 438–459)

Im Gegensatz zur Betonung der Zufälligkeit eines gelingenden Zusammenspiels wird hier eine Haltung beschrieben, die man als einzelner Musiker während der Interaktion versuchen kann einzunehmen. Statt eigenen Handlungsmotiven zu folgen, findet dabei zunächst vor allem eine Orientierung auf das Spiel der anderen statt. In Anlehnung an Alfred Schütz’ Überlegungen zur Konstitution von subjektivem Sinn15 könnte man sagen, die Deutungsaktivität des Bewusstseins wird in der Schwebe des Handelns und Erlebens gehalten, statt rückwendend sinnhafte Handlungen und Erlebnisse16 zu synthetisieren. Die dazu notwendigen und reflexhaft einsetzenden Deutungen werden unterdrückt. Entsprechend werden sie nicht Bestandteil eines Sinnzusammenhangs, aus dem heraus subjektive Weil-Motive weiterer Handlungsentwürfe entstehen würden.17 An deren Stelle treten die Spielhandlungen der anderen, auf die die Aufmerksamkeit gelenkt wird. Die Handlungen der anderen Musiker werden somit zu direkten Impulsen des eigenen Handelns. Diese Umstellung des Schwerpunkts der Handlungskoordination von Selbst- auf Fremddeutung wird als ein „von sich raus kommen“ und „nicht ganz da sein“ empfunden. Die Impulse werden in der Bedienung des Instruments (der Interviewte ist Schlagzeuger) in körperliche Bewegungen ,übersetzt‘, wodurch sich die intersubjektive Deutungsdynamik 15 Schütz zufolge werden in der Soziologie „[…] innerhalb der Sozialwelt vorfindliche Sinngebilde zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, welche als solche verstehbar und daher einer wissenschaftlichen Deutung zugänglich sind. Alle diese Sinngebilde sind aber weiter auflösbar in Sinnsetzungs- und Verstehensprozesse von Handelnden in der Sozialwelt, aus denen sie sich konstituiert haben, und zwar in Deutungsvorgänge fremden und Sinngebungen eigenen Verhaltens, deren sich der Einzelne in Selbstauslegung bewußt wird.“, Schütz 1993: 19, Hervorhebungen im Original. 16 Der Unterschied zwischen Handeln und Handlung bzw. Erleben und Erlebnis ergibt sich mit Schütz aus der rückblickenden sinnstiftenden Deutung. 17 Schütz unterscheidet Um-zu-Motive und Weil-Motive: „Die ersteren beziehen sich auf die Zukunft und sind mit dem Gegenstand oder Realisierungszweck identisch, wofür die Handlung das Mittel ist. […] Die letzteren beziehen sich auf die Vergangenheit und können auch Grund oder Ursache genannt werden. […] So wird das Handeln durch den Entwurf und das Um-zu-Motiv bestimmt. Der Entwurf ist die intendierte Handlung, welche als bereits erfolgt imaginiert wird, das Um-zu-Motiv ist der zukünftige Sachverhalt, welcher durch die entworfene Handlung realisiert werden soll, und der Entwurf selbst ist durch das Weil-Motiv bestimmt.“, Schütz/Brodersen 1972: 12f.

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auch als ein körperlich vollzogenes Fremdverstehen18 (auch buchstäblich im Sinne eines veränderten Standpunktes) fassen lassen könnte. Genau genommen wäre die Metaphorik jedoch zu statisch, da es sich um ein prozesshaftes Bewegen ,im‘ Spiel des bzw. der Anderen handelt. Wie bei den vorigen Zitaten findet sich auch hier die Thematisierung eines Zwischenraumes, der jenseits der individuellen Handlungssphäre liegt, aber auf diese rückwirkt. Wiederum „passieren Sachen“, und zwar „fast von alleine“. Die Spielimpulse der anderen wirken durch den Körper hindurch und setzen diesen in Bewegung. Hierfür sind letztlich inkorporierte musiktheoretische Wissensbestände notwendig, die eine solche quasi-automatisierte Spielweise erst ermöglichen. Ein solcher Modus sozialer Interaktion muss zudem ebenfalls durch Spielpraxis erlernt und in verkörpertes, prozedurales Wissen umgewandelt werden.

III

„Aufhören!“ Interpretations- und Interaktionsdynamiken zwischen Band und Publikum

Die These der situativen Vergemeinschaftung durch das Erleben von, sowie der Affizierung durch überraschende und unerwartete Ereignisse bezog sich bislang vor allem auf die Interaktion der Bandmitglieder miteinander. Zur Sinnhaftigkeit der Improvisation vor Publikum gehört es allerdings, dass sich die geschilderten Überwältigungsphänomene auch auf die Zuhörer übertragen. Das Verhalten des Publikums zu interpretieren stellt für die Musiker in dieser Hinsicht eine ebenso fundamentale Dimension der Sinnhaftigkeit des Jazzkonzerts dar wie die intersubjektive Deutungsdynamik innerhalb der Band. „A: […] des RÜHRENDSTE was ICH empfand und des weiß ich von anderen auch aus der band wenn kleine kinder sich im takt wiegen (1) und sich einfach ganz DICHT vor uns stellen und des – die können grade mal STEhen ja also die können noch eigentlich fast gar nich laufen (2) und DIE (.) STRAHlen uns an sind völlig gebannt und wiegen sich im takt ja und wackeln auf ihren wackeligen (1) beinchen des is des HÖCHste ja also wenn du merkst du erreichst=n KIND mit so ner JAZZ musik die ja an sich auch HEFtig is ja (1) is ja nix (.) kein säuselndes schlafliedchen oder so kinderliedchen sondern es is HEFtig und KRASS und laut und (3) DAS is also WUNDERbar da denk ich nur (1) ALLEIN um dieses kindes willen hat die ganze der ganze auftritt seinen sinn gehabt ja [((Lachen 1 sec.))] ja es is UNglaublich und ich seh da auch OFT in die gesichter der eltern (1) die sind dann VÖLLig baff ja und gucken ihrem kind zu (1) und des is dann für die auch=n unheimliches glück dass des so viel freude hat und so (.) einfach (1) obwohl=s des gar nich verstehen kann da VOLL mit verschmilzt also das (1) es kind is (2) wie unser (1) unser takt oder unser (2) unsre musik (2) fantastisch (2) [mhm] (3) mhm“ (J, 819–839) 18 Auch hierzu siehe Schütz, z. B. Schütz 1993: 137ff.

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Das motorische Entwicklungsstadium des Kindes, kaum selbstständig und nur unsicher und wackelig laufen zu können wird dadurch kontrastiert, dass es sich im Takt der Musik ,in Sicherheit wiegt‘. Es wird zudem klein, zart und verletzlich gezeichnet, aber es setzt sich freiwillig der ,Härte‘ und Lautstärke des Jazz aus. Diese wird damit zwar aufgerufen, aber zugleich relativiert, denn das Kind genießt es vermeintlich, der Musik ausgeliefert zu sein. Auch in diesem Szenario kommt es also zu Vorgängen der affektiven Synchronisation durch das Medium der Musik jenseits von individueller Kontrolle, allerdings diesmal auf der Seite anwesender Personen im Publikum. Zusätzlich verstärkt wird dies durch die gemeinsame Verblüffung über ein eben solches Geschehen, die in diesem Fall zudem mit den Eltern des beobachteten Kindes geteilt wird. Explizit wird die Affizierung des Kindes durch die Spielhandlungen der Band als zentrale Komponente der Sinnhaftigkeit des Spielens vor Publikum genannt. Wichtig ist dabei der Modus der Involvierung der Zuhörer in das Geschehen auf der Bühne, das sich im hier geschilderten körperlichen Mittvollzug besonders prägnant äußert, weil das Kind von der Musik erfasst wird, ohne diese „verstehen“ zu können. „B: […] da hat das natürlich auch mit publikumsreaktion äh=äh zu TUN und da sach ich jetzt ma eine sache (.) zu auf diese ste- choralstelle bei (Name eines Titels) [A: mhm] gab es bis jetzt die krassesten reaktionen die ich in – die ICH auf meine musik erLEBT habe (1) äh ähm (1) äh a: eine äh:: oder ZWEI leute haben dabei vor rührung geWEINT (1) wirklich und auch wiederHOLT äh: also dann beim nächsten mal auch also einfach vor rühRUNG geweint äh=ähm eine person (1) is in so ne is fast eingeschlafen aber in so=m in so=m [C:/D: ((Lachen))] WACH TRAUM zustand und hat aber trotzdem die ganze zeit gedacht (1) ich m–ich möchte nicht dass es aufhört ich möchte nich dass es aufhört das bringt mich zu dem nächsten punkt ein mal hat eine frau aus=m publikum auch geschrien JA AUFhören A:/C:/D: {((Lachen))} B: {is aufgesprungen} und hat aufhören geschrien und DANN äh beim nächsten konzert is eine frau und hat geschrien !YEAH::! so ganz plötzlich so mitten im choral“ (WQ, 1153–1171)

Ob es sich bei den hier zitierten Ausführungen um reine Fremddeutungen oder um wiedergegebene Beschreibungen der betreffenden Personen handelt, lässt sich nicht entscheiden. Das Zitat bildet im Vergleich zu anderen Interviewausschnitten insofern eine Ausnahme, als dass sich die stattfindende Affizierung hier als Devianz äußert, und dies nicht zwangsläufig als Beleg für eine uneingeschränkt positive Emotionalität interpretiert wird.19 Es lässt sich eher als Verweis auf die Unberechenbarkeit der Wirkung der Musik auf das Publikum verstehen. So wie im vorigen Beispiel aus ,schwer affizierbaren‘ Kindern kleine 19 Was auch der Definition des Affektbegriffes im Sinne einer zunächst unspezifischen Anregung entspricht.

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Tänzer wurden, so lassen sich die Ausführungen hier so interpretieren, dass in den geschilderten „krassesten Reaktionen“ aus ,normalen Menschen‘ auffällige ,Normabweichler‘ werden, die unter Verlust ihrer Fähigkeiten der Affektregulation gegen üblicherweise erwartbares Verhalten im Kontext der sozialen Institution ,Jazzkonzert‘ verstoßen. Es wird zudem ebenfalls ein Bereich der Irrationalität eröffnet, sowohl durch die Schilderung des Verhaltens der betreffenden Personen als auch in der inszenierten Verblüffung des Sprechers. Die beschriebenen Affizierungen bilden den Gegenpol zu einem Verhalten, das mit Hilfe von sinnhaften Deutungen in rationaler Weise verstehbar sein könnte.

IV

Der gespielte Raum

Zu Abschluss der Interviewanalysen möchte ich die Perspektive auf die Interaktionszusammenhänge affektiver Vergemeinschaftung noch um einige weitere Aspekte ergänzen. Bislang wurden die Akteure in einer eher unterkomplexen Weise skizziert. Dadurch blieben einige Faktoren unberücksichtigt, die sich gerade für Fragen der Vergemeinschaftung und Affizierung bei der Untersuchung der Praxis der Jazzimprovisation als besonders zentral erwiesen haben. Es wurde bereits erwähnt, dass ein wesentlicher Bestandteil der Sinnhaftigkeit der Konzertsituation für die Musiker darin besteht, das Verhalten des anwesenden Publikums zu interpretieren. Die Resonanz der Spielhandlungen in der Sozialdynamik der Zuhörer stellt also eine wichtige affektive Ebene dar. Darüber hinaus sollte jedoch nicht in Vergessenheit geraten, dass Musiker Musik machen, also vor allem die Dynamik der Klangerzeugung im Mittelpunkt der affektiven Sinnhaftigkeit von Jazzimprovisation steht. Zur Klangerzeugung verwenden die Musiker Instrumente, mit denen sie während des Spielens in ein nicht minder signifikantes Interaktionsverhältnis treten wie zu den anderen Musikern oder zum Publikum. Der Klang eines Instruments ist weiterhin unmittelbar mit den Resonanzeigenschaften des Raumes verbunden, in dem es gespielt wird. Die Musiker stehen also in einem leiblichen Zusammenhang20 mit ihren Instrumenten und handeln im Durchgang durch den Raum ihre Klangidentität aus. 20 Mannheim spricht in diesem Zusammenhang auch von „Kontagion“. Dabei handelt es sich um einen leiblich vermittelten, sinnlichen Bezug auf die soziale und materielle Umwelt. Wahrnehmung ist dabei als eine Art der Aufnahme der Wahrnehmungsobjekte in das Innenleben des wahrnehmenden Subjekts zu verstehen, vgl. Corsten 2010: 45ff. Ähnliches findet sich auch bei Merleau-Ponty : „Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden, er vergrößert Umfänglichkeit und Reichweite des Berührens, ist zu einem Analogon des Blicks geworden. […] Sich an einen Hut, an ein Automobil oder an einen Stock gewöhnen heißt, sich in ihnen einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibes teilhaben lassen.“, Merleau-Ponty 1974: 173.

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„A: […] dass die dinger auch en eigenleben entwickeln (2) [I: mhm] die trommeln […] dann geht das auf ein mal irgendwann mal von alleine (3) also das äh (2) da- (2) dann weiß man […] dann fängt das ding alleine an zu spielen wenn=s gute laune hat […] es passiert (2) und es ist vollkommen mühelos (2) es geht [I: okay] das ding spricht (3) das ist das das ist die verbindung die man merkt“ (BB, 724–736)

Schon auf der Ebene der Benutzung des Instruments findet sich das Motiv der Kontingenz wieder, durch die bedingt ist, ob es sich in der Interaktion in einen eigenständigen quasi-Akteur21 verwandelt oder nicht. Dies wird einerseits als Entlastung beschrieben, weil das Instrument dadurch nicht mehr vom Musiker gespielt werden muss, sondern sich (,quasi‘) selbst spielt.22 Zugleich ist dadurch aber auch eine Art der Verbindung charakterisiert, die sich einstellt. Das selbsttätig spielende Instrument lässt sich auch als Ergänzung zum oben besprochenen selbsttätig agierenden Körper während des Zusammenspiels verstehen. Der Zustand der Verbundenheit scheint jeweils auf der einen Seite mit einer Verstärkung von Autonomie und Handlungspotential eigentlich unbelebter Objekte, und auf der anderen Seite mit der Einschränkung und Automatisierung der Handlungskoordination lebendiger Subjekte einherzugehen. „A: aber ich find auch also wenn der=wenn der=wenn der äh (1) RAUM SEHR gut klingt so [C: mhm] am besten en KLEINER raum (1) wo der bass so es gibt räume so kleine räume caf8s und so da=da klingt der bass so UNglaublich (2) GUT [C: mhm] dann is einfach (2) dann is einfach (2) das einfach da kann NIX mehr schief gehen [C: mhm] das is auf JEDEN fall (2) eine TOtal GEIle sache dann [C: mhm] da zu spielen find ich“ (SOF, 632–638)

Wie schon angedeutet, ist das Instrument während des Spielens jedoch höchstens zur analytischen Trennung ohne den Raum zu denken, in dem es gespielt wird. Ebenso wenig ist es ohne den Musiker zu denken, der es bedient. Das Spiel des Instruments resoniert zugleich als Klang im Raum und als Affekt im Musiker. Somit lässt sich ein zirkulärer Zusammenhang aus Bedienung, Raumbeschaffenheit, Klangcharakteristik und Affizierung beschreiben, der im Idealfall in eine Enthusiasmierungsdynamik mündet, die wiederum eine ähnliche Selbstläufigkeit aufweist, wie sie oben für das Zusammenspiel der Musiker untereinander beschrieben wurde. 21 Der Begriff ist angelehnt an die Quasi-Objekte/Subjekte der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours. Dort können Objekte durch ihre Position in einem Netzwerk oder auch durch die Delegation von Aufgaben an technische Artefakte (z. B. einen automatischen Türschließer) den Status von Akteuren erhalten, vgl. beispielsweise Latour 1994. 22 Auch hier eröffnet sich eine eigenständige Interaktionsdynamik in Verbindung mit einer ähnlichen Kontingenz, wie sie auch für das Zusammenspiel der Musiker gilt. Das Instrument wird in der Wahrnehmung der Musiker personifiziert, indem es z. B. mit tagesabhängigen ,Launen‘ ausgestattet wird, die sich im Spiel zeigen.

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„A: […] als wir gespielt haben in=m: im (Name eines Caf8s) hab ich (.) die ganze zeit gemerkt wie die WÄNDE aussehen (1) B: ((Kurzes Lachen)) A: die waren voll BETON!:: so (2) RUN DOWN das und da hatt ich das gefühl OAH: ich muss hier (1) S::: PAH! [B: ((Kurzes Lachen))] ich dacht also ich hab das gefühl mein KLANG (2) verändert sich dadurch was ich in dem moment erlebe also was ich da SEhe was es da alles gibt (.) und wenn ich in so=n raum spiele wo äh wände weiß sind dann spiel ich auch WEIsser B: ((Lachen)) A: so SAUber irgendwie (4)“ (M, 363–376)

Hier erweitert sich der Raumbezug über die physikalisch-akustische Dimension hinaus auf eine synästhetische Ebene. Der optische Sinn als Teil der ästhetischen Bezugnahme auf die Umwelt wird zu einem signifikanten Faktor der Klangerzeugung, insofern als diese als eine umfassende Interpretation des Raumes zu verstehen ist. Der Zustand der Wände erzeugt einen Affekt, der sich in einer jeweils spezifischen Spielcharakteristik abbildet. „A: […] ich hab immer das gefühl (1) es – wir spielen den raum (1) EIGENTlich (1) wir spielen den raum also wir nehmen den raum auf (1) wir nehmen den raum wahr und (1) das wird – es ändert sich immer (2) es kommt darauf an was es für ein publikum da gibt (1) und was die (2) wie GROSS die HALLE ist (1) [I: mhm] also man merkt sofort dass wir anders spielen und das hat damit zu tun was: (.) – ((Name eines Bandkollegen)) meinte man nimmt ALLES wahr (.) und denn (1) es geht irgendwie rein und kommt wieder raus durch=n filter (1) von jedem von uns [I: ja] so meine vorstellung“ (M, 245–254)

Ohne auf weitere Details des Zitats einzugehen findet sich hier der Bezug auf vermeintlich nebensächliche Kontextbedingungen des Konzerts in der Metaphorik des „Filters“ zusammengefasst. Außermusikalische Sinneseindrücke fließen also in die Spiel- und Improvisationspraxis soweit ein, dass der Raum nicht nur im akustischen Sinne der klanglichen Resonanz „gespielt“ wird, sondern auch im Bezug auf den in der Konzertsituation entstehenden sozialen Raum. Der Umgang der Musiker mit diesen Kontextbedingungen lässt sich als eigenständige Interaktionsdimension verstehen, die sich wiederum auch im Phänomen der Atmosphäre bemerkbar macht. Mit Gernot Böhme lässt sich dies auch als ästhetische oder atmosphärische – „Arbeit“ bestimmen: „Als ästhetische Arbeit soll diejenige Tätigkeit bezeichnet werden, die Dinge, Räume, Arrangements gestaltet in Hinblick auf die affektive Betroffenheit, die ein Betrachter, Empfänger, Konsument usw. dadurch erfahren soll.“23 „A: aber ich glaub beim visuellen is es ECHT wichtig (.) mit der beleuchtung auch also manche die ham dann tatsächlich so neo- neonröhren (1) wenn das so total (.) HELL is 23 Böhme 2001: 53.

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ist nicht gut für die atmosphäre finde ich [I: mhm] so also (2) ich finde schon wenn es eher dunkler is find ich des (2) schon (3) schon besser ich=ich hatte ein mal da in (2) wie heißt des da im (1) (Name eines Konzertraumes) gespielt (.) die ham auch nur so helle (.) LAMPEN (2) und da hab ich mit (Name eines anderen Musikers) im duo gespielt (.) da ham wir ham wir uns einfach ne so ne stehlampe geholt (1) und nur die stehlampe (1) [I: mhm] zwischen uns gestellt und (.) das GANZE licht war aus (1) und des war UNglaublich des war ne toTAL GEILE atmosphäre plötzlich [I: mhm] so und die LEUte waren auch die waren auch erst mal viel LEIser (1) wenn es dunkel is und da vorne is nur so=n ding (.) so als wenn ALLES hell is [I: ja] [B: mhm] [C: mhm] und äh des war auch so RICHtig schön irgendwie [C: ehe] weil weil man=s kann sich viel mehr auf die töne die schwingungen konzentrieren (SOF, 732–750)“

Eine solche „affektive Betroffenheit“ wird hier vor allem dadurch gewährleistet, dass durch die Ausblendung bzw. Verdunkelung der visuell wahrnehmbaren Umgebung in Form einer ,räumlichen (An)ordnung‘24 die Aufmerksamkeit auf die Aktionen der Musiker konzentriert wird. Im Gegensatz zur Interpretation der unterschiedlichsten Kontextaspekte der Musiker ist es für diese von großer Bedeutung, dass die Interpretationsaktivität des Publikums möglichst ausschließlich auf dem Spiel der Band liegt. Im angeführten Beispiel werden die visuellen Reize minimiert und zugleich zentriert. Eine solche Rezeptionssituation ähnelt der von Theater, Kino oder auch klassischen Konzerten, und ruft womöglich bereits dadurch25 ein spezifisches Publikumsverhalten hervor. Die (von Jazzmusikern auch häufig bewusst gewählte) Unterbestimmtheit der Raumsituation des Konzerts wird dadurch in eine zentralistische Ordnung verwandelt. Es entsteht einerseits ein phänomenologisch informationsarmes Außen, das den materiell vorhandenen Raum im Sinne eines ,Behälters‘ negiert. Zum anderen das Innere eines ,Lichtraumes‘, in den das Publikum wie in ein Schaufenster hineinschaut. Ein weiterer Effekt der Dunkelheit besteht darin, dass das Publikum sich in der jeweils wechselseitigen Präsenz ebenso als Außen ausblendet wie den verdunkelten Raum. Die reduzierte Sichtbarkeit minimiert die anderen Anwesenden auch als Subjekte möglicher Interaktion. Vor allem dadurch wird statt dessen die Band zum primären Objekt der Interpretation und Fremddeutung, sowie zum Gegenüber von Interaktion.26 Welches Fazit lässt sich im Durchgang durch diese erweiterten Faktoren und 24 Der Begriff stammt von Martina Löw, die davon ausgeht, „dass Raum eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern ist. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung.“, Löw 2012: 159f. 25 D. h. durch die Aktivierung entsprechend bekannter Rezeptionsskripte. 26 Die Schilderung der Situation ist bewusst überzeichnet, um ein Prinzip zu verdeutlichen. Selbstverständlich gibt es auch gegenseitige Wahrnehmung, Interaktion und Unterhaltung im Dunklen. Ebenso wenig soll behauptet werden, Dunkelheit habe kontextunabhängig solche Effekte.

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im Hinblick auf die soziale Situation des Jazzkonzerts nun ziehen? In Hinblick auf die Frage, wer oder was in einer solchen Interaktionssituation auf welche Weise womit in eine Vergemeinschaftungsdynamik gelangt, und in welcher Form dabei affiziert wird, kann der Einbezug von Aspekten sinnvoll sein, die über die reine Handlungsebene hinaus weisen. Die Spur zu diesen Phänomenen findet sich im Durchgang durch hermeneutische Rekonstruktion des erhobenen Interviewmaterials. In diesem Fall hat sich gezeigt, dass ohne ein erweitertes Verständnis von Sozialität weder der Charakter der Vergemeinschaftung noch der damit einhergehender Affizierungen adäquat beschreibbar wäre. Die Handlungen und wechselseitigen Bezugnahmen der Musiker aufeinander finden während des Spiels mit Hilfe von und durch Instrumente hindurch statt, zu denen ein eigenständiges Interaktionsverhältnis besteht. Die Handlungen sind vor allem in Form der erzeugten Musik bzw. als Klang wahrnehmbar, der wiederum im Durchgang durch und in Auseinandersetzung mit der Charakteristik des Raumes entsteht. Die Musiker sind in der Vergemeinschaftungsform als Band bestrebt, aus einer zunächst eher vereinzelten Ansammlung von Konzertbesuchern Zuhörer zu machen, was vor allem bedeutet, diese in Interpretationsaktivitäten zu verwickeln und sie damit zum Gegenüber von Interaktion zu machen. Den Deutungen der Musiker nach ist dies gelungen, wenn die Zuhörer Anzeichen von Affizierung zeigen, was entsprechend auch auf die Musiker selbst rückwirkt. Um sich also der Charakteristik der Sozialität bzw. der prozesshaften Vergemeinschaftungsdynamik der untersuchten Situation annähern zu können, waren ein entsprechend mikroanalytischer Fokus auf die Beschreibungen der Musiker sowie ein erweitertes begriffliches Vokabular sinnvoll.

V

Fazit und Ausblick

Bereits zu Beginn des Artikels wurde angedeutet, dass die Beschreibungen der Jazzmusiker keinen ,Nachweis‘ für vermeintlich vorhandene metaphysische Sozialphänomene darstellen sollen. Sie können zwar lediglich als inszenatorische Sprachpraxis interpretiert werden, mit der ein Sonderstatus markiert werden soll, etwa in Abgrenzung zur Aufführungs- und Spielpraxis klassischer Musiker. Zugleich wird dabei jedoch ein Phänomen sozialer Interaktion geschildert, das sich auch jenseits von Jazzimprovisation findet, hier allerdings besonders pointiert zum Ausdruck kommt. Die nicht auf sicht- oder messbare Faktoren reduzierbare ,Chemie‘ einer gelingenden Interaktion, die als Ausweis einer besonders kompatiblen Gruppenkonstellation gedeutet wird, wäre etwa auch mit dem Unterschied vergleichbar, der zwischen Bekannten und engen Freunden besteht, oder zwischen Personen, die füreinander Sympathie hegen,

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und solchen, die sich als ,ineinander verliebt‘27 empfinden. Insbesondere die genannten Synchronisationsereignisse sind im Zustand starker Verliebtheit als erlebte Gleichzeitigkeit von Sprechen, Denken oder auch Handeln ein bekanntes Phänomen. Was intensive Nahbeziehungen wie Freundschaft oder Partnerschaft spezifisch bedeutsam macht, lässt sich entsprechend nicht mit Hilfe eines ,Kochrezepts‘ herstellen oder durch eine willentliche gemeinsame Entscheidung herbeiführen, sondern ist in hohem Maße vom Stattfinden kontingenter Ereignisse28 abhängig. Stellen diese sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr ein, gerät die Sinnhaftigkeit des Kontakts in Zweifel: „es läuft nicht mehr“ wie es sollte.29 Das diesem Artikel zu Grund liegende Dissertationsprojekt hatte zum Ziel, Jazzimprovisation in einer praxistheoretischen Perspektive30 als eine Form des ,Doing‘ zu betrachten. Ein wichtiger Befund war dabei, dass ein solches Tun zwar getan werden muss, aber dass die affektiv-sinnhaften Aspekte des Jazz viel mehr passieren, statt Gegenstand explizierbarer Taten zu sein. Das Zusammenspiel der Jazzmusiker ist zu einem großen Teil dezidiert improvisiertes Interagieren. Jedoch ist auch jegliche sonstige Form individuellen und sozialen Handelns von improvisatorischen Aspekten geprägt. Das Erkenntnisinteresse soziologischer Forschung liegt nicht zuletzt im Zustandekommen sozialer Ordnungen, Regelmäßigkeiten oder Strukturen und in der Frage danach, wie diese entstehen, was sie aufrechterhält, sie verändert oder auch wieder verschwinden lässt. Gerade der Ansatz praxeologisch orientierter Forschung eröffnet dafür den Bezug auf ein breites Spektrum an theoretischen und empirischen Perspektiven. Dennoch liegt in der Kontingenz von improvisierter Interaktion eine Herausforderung für Erklärungsmodelle, deren Fokus auf der Untersuchung solcher Regelmäßigkeiten oder Strukturen liegt. Abgeleitet aus den Interviewanalysen der Jazz27 Im Sinne eines kulturell sowie historisch-spezifischen romantischen Ideals. 28 In Ausdrücken wie „es macht Spaß“ drückt sich die Anonymität des dabei wirkenden Agens aus. Zur Analyse von sprachlichen Agencykonstruktionen als subjektiv wahrgenommene Handlungsmächtigkeit von Akteuren, Aktanten usw. siehe z. B. Helfferich 2012; LuciusHoene 2012. 29 Vergangene Ereignisse sedimentieren sich zwar in einem geteilten Gedächtnis, allerdings ist die sinnhafte Bezugnahme auf diese meist nicht zeitlich unbegrenzt möglich. 30 „Im internationalen Feld der Sozialtheorien der letzten zwanzig Jahre hat sich ein facettenreiches Bündel von Analyseansätzen herausgebildet, die man als ,Theorien sozialer Praktiken‘, ,Praxistheorien‘ oder Versionen einer ,Praxeologie‘ umschreiben kann. […] Eine ganze Reihe von materialen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern von der Organisationsforschung über die Wissenschafts- und Techniksoziologie und die gender studies bis hin zur Medienforschung und Lebensstilanalyse greifen mittlerweile regelmäßig auf praxistheoretische Vokabulare zurück, um die Routinen in Unternehmen, die Formen der Verwendung technischer und medialer Artefakte, die Charakteristika geschlechtlicher ,performances‘ oder etwa das ,doing culture‘ in alltäglichen Zeitpraktiken zu rekonstruieren […]“, Reckwitz 2003: 282, Hervorhebung im Original.

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musiker lassen sich folgende Zusammenhänge feststellen: die gemeinsamen Handlungen der Musiker basieren zunächst auf dem vorab ausgewählten Grundmuster des Akkordschemas eines Jazzstückes. Dies wäre vergleichbar mit einem typisierten Verhaltensmuster oder einem Ablaufskript sozialer Interaktion.31 Wie gezeigt wurde, ist durch die reine Orientierung an einem solchen Ablauf zwar eine funktionierende Interaktion möglich, allerdings erschöpft sich die Sinnhaftigkeit für die beteiligten Akteure in dieser Interaktionsform nicht. Dies gilt zum einen auf einer individuellen Ebene, denn die Vorlage wird im konkreten ausführenden Handeln vom einzelnen Musiker jeweils immer neu interpretiert. Da dies alle Musiker gleichzeitig mit ihren jeweiligen Vorlagen tun, sind sie zudem darauf angewiesen, ihr Handeln ad hoc miteinander zu koordinieren. Somit liegt zunächst die Struktur eines schematischen Interaktionsmusters vor, auf dessen Basis improvisierend gehandelt wird. Die Handelnden führen also zugleich die Vorgaben der Struktur aus, entfernen sich aber in der Neuinterpretation immer auch von dieser. Der Dreh- und Angelpunkt der Sinnhaftigkeit liegt nun auf der Ebene der gleichzeitig stattfindenden Improvisation, die zwar orientiert ist an der Grundstruktur, allerdings in ihrer kontingenten Offenheit eher zu Ungerichtetheit tendiert als zu einer strukturierten Interaktion. Wovon die Musiker dabei überwältigt werden, ist die Emergenz einer neuen, temporären (oder situativen) Struktur, die nicht aus der Akkordstruktur ableitbar ist und deren Zustandekommen in der gegebenen Situation höchst unwahrscheinlich erscheint. Das heißt es handelt sich zwar um Ereignisse, die man als Gegenstück einer Struktur begreifen könnte,32 jedoch liegt das Ereignishafte gerade in der erneuten Strukturierung des Unstrukturierten, also selbst wiederum in einer Struktur. Die individuellen improvisierten Spielhandlungen der Musiker sind analytisch betrachtet zunächst Einzelhandlungen. Sie reagieren zwar aufeinander, sind aber alleine schon durch die doppelte Kontingenz33 jeglicher Interaktion weit davon entfernt, deshalb etwa die gleichen Spielhandlungen auszuführen. Dazu kommt, dass beim Parallelhandeln einer Band aus der doppelten eine vielfache Kontingenz wird. Auch andere Phänomene der empfundenen Synchronisation – etwa in der Beschreibung des Wassers, eines Geistes oder einer verbindenden höheren Instanz – entsprechen nicht der ,sozialen Normalsituation‘ voneinander getrennt agierender Individuen mit nicht unmittelbar zugänglichem Bewusstsein, Eigensinn und spontanen Handlungsimpulsen. Die nun trotz aller Unwahrscheinlichkeit stattfindende Angleichung der Einzelhandlungen lässt sich als Strukturierung in Form einer 31 Klassisches Beispiel dafür : das Restaurant-Skript. 32 Vgl. dazu Essbach 1996: 141f. 33 Die jederzeit vorhandene Offenheit möglicher Handlungen von einzelnen Individuen, die sich in der wechselseitigen Bezugnahme aufeinander vervielfältigt.

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situativen Vergemeinschaftung begreifen. Die Deutungen der Musiker verweisen auf die geringe Erwartbarkeit eines solchen Vorgangs, jedoch auch auf eine weitere, implizite Ebene potentieller Gemeinschaft. Die Tatsache, dass die empfundene vergemeinschaftende Strukturierung in einem gegebenen Moment stattfindet, wird nicht als reine Zufälligkeit, sondern als Ausdruck einer tieferliegenden Kompatibilität der beteiligten Personen interpretiert, die sich im Interaktionsmodus der Jazzimprovisation manifestiert. Eine solche Kompatibilität ist somit auf den Moment ihres Erscheinens angewiesen, aber zugleich auch Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit. Im Hinblick auf die zu Beginn angeführte Metaphorik des ,Einrückens‘ (Reckwitz) der Akteure in die Konstellation einer Praxisform lässt sich also sagen, dass dies im Fall der Jazzimprovisation aus der Erfahrung besteht, sich von überindividuellen Wirkmächten als Band strukturiert zu empfinden, die zugleich jedoch auf die jeweils vorhandene Personenkonstellation angewiesen sind. Die so emergierende ,Metastruktur‘ ist kein Ergebnis von koordinierten Handlungsintentionen, sondern ein sich plötzlich einstellender ereignishafter Zustand. Die situative Gemeinschaft der improvisierenden Jazzmusiker passiert sich also sozusagen selbst und erlebt dies als überraschendes Ereignis. Darin besteht ein zirkulärer und selbstverstärkender Zusammenhang zwischen Affekt und Gemeinschaft: es handelt sich sowohl um eine Affizierung durch die Plötzlichkeit der Vergemeinschaftung als auch um die Vergemeinschaftung durch eine zugleich erlebte Affizierung.

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The Face of Friendship: The Ethics and Politics of Physiognomy in Renaissance Europe

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Physiognomy and Friendship

Towards the end of the 1610s, German, Dutch, Flemish and French artists who made their way to Rome to study the chefs d’oeuvre of Antiquity, the Renaissance masters, and familiarise themselves with the avant-garde artists of the day, from Carracci to Caravaggio, established a friendship society. They called it the Bentvueghels (“Birds of a Feather”) although their enemies termed it the Schildersbent (“Painters’ Clique”). Owing something to the Netherlands’ “Chambers of Rhetoric” they also drew on traditions of lubricity and excess in their public feasts and initiation rites (which apparently often lasted long into the night, celebrating their own excess) that were associated with artisan confraternities of the period.1 Above all, the Bentvueghels celebrated their comradeship, offering one another support in a foreign land. An anonymous member of the gild drew 28 group portraits of its founding-members. Now preserved in the Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam these drawings depict members at their initiation, raising drinking cups in honour of their comradeship. Underneath, the artist gives us their names and nicknames (“Bent”-names). These aliases often alluded to some physical trait of the individual in question. For example, Jan Asselijn’s claw-shaped hand earned him the Bent name Crabbetje (“little crab”), while Pieter van Laer was called il Bamboccio (“the simpleton”) because of his long legs. Like all social groups, the Bentvueghels were alert to one another’s physical presence. What the artist chose to emphasize in these drawings, however, is a particular ‘physiognomic gaze’ with which they engaged one another [see Figure 1]. Ocular engagement expresses their comradeship. Behind the cups in the hands, their hats and physical demeanour, is it not the look in their eyes that the artist is using to express their relationship to one another? Of course, this no doubt reflected the artist’s training. But it also depicted his cultural assump1 Cf. Levine 1990: 207–219, citing the principal work on the subject, Hoogewerff 1952.

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Figure 1: Portrait of Giovanni di Filippo del Campo [‘Alias Braeff ’, Pieter Anthonisz. van Groenewegen [‘Alias Leeuw’], Joost Kampen van Amsterdam [‘Alias Stokkade’] and Sijmon von Amsterdam [‘Alias de Toovenaer’] – from the Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam – reproduced with permission.

tions, and those of his contemporaries, about the potential of physiognomy to reveal the moral qualities of someone else – the fidelity, courage, generosity, impetuousness, self-worth, upon which their friendship was based. The subject of this paper is about just that: the relationship between Renaissance physiognomy (in particular, that of the face) and friendship. The proximity of physiognomy and friendship is readily illustrated through the surviving papers of an English seventeenth-century merchant-lawyer, James Boevey. He was the youngest son of a large Dutch family who came to England in the wake of the duke of Alva’s repression in the Low Countries. His father was an Elder in the Dutch church at Austin Friars in London and a prominent financier. After serving as apprentice with the royal physician in Chelsea, Theodore Turquet de Mayerne, James undertook a European tour, and followed in his father’s footsteps as a financier, lawyer, and land speculator.2 Writing was his way of making sense of his experience of the world, and of his reading. One of his unpublished manuscripts (“Of the art of discovering of men”) consists of 112 dichotomy tables showing how “the Heart of man (though inscrutable & obviously only ye God of y Spirits of all flesh) may be shrewdly guessd at (as

2 Oxford Dictionary of National Biography (Oxford, 2004), “Boevey, James” article.

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Physitians guess at ye state of ye Body)”.3 The core of his tabular exposition (from tables 44–54) he summarises what he has learnt by way of physiognomic wisdom, albeit with critical distance.

Figure 2: Wellcome Institute Library, London – MS 699 – [James Boevey] ‘Breviary of ye Art of Discerning Others’ Table 51, concerning the size and disposition of people’s eyes and noses. The author highlights: “The Physiognomists are more Copious upon this Argument but you must not rashly believe all they say”– reproduced with permission.

Its content is a series of observations and readings on the subject of physiognomy. This was just one of a series of manuscripts, the titles of which he sent on to John Aubrey, some of which can be located in various libraries.4 Among them was “The Government of Friendship”, a first draft of which might well be the manuscript on “the Art of Government in Friendship” not held at a library in California.5 It begins with an almost identical phrase to that on physiognomy : “It is a difficult business (the peculiar prerogative of God himselfe) to know the heart of man, but it is exceeding usefull and there are abundance of ways to

3 Wellcome Library, London MS 699 – to be consulted alongside Cambridge University Library MS Dd 15.28. Boevey was not the first to use dichotomy tables to summarise the science of physiognomy – see, e. g. Dominico de Rubeis 1639, although Boevey did not borrow much, if any, from the latter. 4 Dick 1992: 32. 5 Willaim Andrews Clark Memorial Library, MS 1960.004 (dated 1665). I am grateful to Professor Mark Knights of the University of Warwick, who is working on a monograph on Boevey, for having shared with me his notes on this manuscript, which I have not had the opportunity to consult personally.

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guesse at it”.6 Esteeming the benefits of friendship (which we choose) over kinship (which we do not), benefits which include bodily health (because it leads to the “ease and discharge of the fullnesse and swellings of the heart, which passions of all kindes, does cause and induce”), sociable intercourse and clear understanding, Boevey offers a sociology of where to find the best friends (“We should choose us friends out of a better sort of merchants, or those that practise some famous art in a rare way for a great prince….”).7 He then proceeds to paraphrase Cicero and to offer more home-grown advice on the “government of the tongue” in the office of friendship. In Boevey’s mind there was evidently a close connection between physiognomy and friendship. To explore it further, we need to understand the ‘renaissance physiognomic project’ itself.

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The Renaissance Physiognomic Project

Nothing was fundamentally new in the physiological knowledge of the Renaissance. Its basic postulate, that one could discover a person’s character from their physical appearance and thereby be able to predict something about their destiny, was a fundamental part of the inheritance of Antiquity. It rested on four texts of which the most prominent was the Physiognomonica, considered to have been written by Aristotle throughout this period.8 The proposition that “soul and body…are affected sympathetically by one another” was affirmed in Aristotle’s Prior Analytics where he asserted that: “it is possible to infer character from physical features, if it is granted that the body and the soul are changed together by the natural affections”.9 The Physiognomonica was translated into Latin and vernacular languages, and regularly reprinted with commentaries from 1472 onwards.10 Its underlying simplicity enabled it to be influential in 6 Dick 1992: 1. 7 Dick 1992: 7, 17. 8 These are the Physiognomonica (c.300 BCE), that of the Roman sophist Antonius Polemon (88–145 CE), an epitome of the latter by an unknown writer, and a fourth compilation, partially drawing on the previous three, but with additional material, ascribed to a physician called Loxus, and known as the “Anonymous Latin” treatise. They are available in R. Foerster’s (1893, and still standard) Teubner edition of the Scriptores Physiognomonici. Sabine Vogt, ed., Aristoteles: Physiognomonica (Berlin: Akademie Verlag, 1999) introduces the text authoritatively, and furnishes a translation of it. There is a useful indicative bibliography of primary and secondary sources relating to antique physiognomy in Dasen 2008: 241–254. 9 Aristotle, Complete Works, 1, 70b 5. 10 The most significant editions were in the Italian and German spheres. Significant commentaries were published [by Matthias Weißmann] from Leipzig in 1517 (Liber de physiognomia) and from Wittenberg in 1538 (Physiognomonica Aristotelis Latina Facta). The commentary by Andr8s de Laguna, a converted Spanish Jew and physician to Charles V, was

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understanding human relationships, including friendship. It sustained the physiognomic proposition whilst providing it with the capacity to adapt to other philosophical perspectives. Those adaptations were various, and each had their impact on physiognomy as a ‘discipline’ of the sixteenth and seventeenth centuries. They included an early medicalisation of physiognomy, a process that was deepened by its absorption into theories and treatises about anatomy, embryology, generation, and the Galenic four humours, especially in Arabic in the Middle Ages.11 It was also into the art of rhetoric, one element of the Renaissance hermetic understanding of physiognomy, especially prominent in neo-Platonic and hermetic texts of the fifteenth and early-sixteenth centuries. There was the development of a Christian physiognomy in the course of the Middle Ages, as well as an increasingly theoretized physiognomical scientia that extended well beyond the question of the outward appearance of humans to include a botanical physiognomy. Through the ‘doctrine of signatures’ a medicinal plant’s physical appearance, for example, provided the clues as to its curative properties. Everything in nature came to be seen as having some systematized physiognomical significance. These various developments had two basic paradoxical consequences. On the one hand, the physiognomic corpus itself remained a restricted body of knowledge, seen as part of a hermetic and arcane wisdom. Renaissance physiognomists contributed to that view by emphasising that it was an ancient Egyptian wisdom, slightly younger than that of the Hebrew patriarchs and prophets, but much older than Plato and Aristotle. That view gathered weight by the appearance in Europe of wandering people, specialists in palm-reading, in physiognomy and in the interpretation of dreams, for whom the term “Egyptians” (“gypsies”) was applied since the middle of the fifteenth century.12 Whether their practices of physiognomy were as universal as the visual and descriptive evidence of their activities suggests it is impossible to say. How far, if at all, their learning and techniques had a connection with the physiognomic traditions of Antiquity is an open particularly significant (Physiognomicis liber I. Andrea Lacuna interprete (Paris, 1535)). I am indebted to the excellent bibliography (573pp in length; 3,593 entries) of primary and secondary sources relating to physiognomy from 1473 to the present day, prepared by Peter Gerlach and up to date to 1999 (Bibliographie von Texten zur Physiognomik, 400 v. Chr. – 1999), to be found on the internet: Gerlach 1999. [in chronological listings]. 11 Mourad 1939: Chap. 2. 12 It is difficult to separate myth from reality in the early-modern history of “gypsies”. But the term (itself ambiguous – other vernacular words are also applied to the group, such as Saracens, Sarazenen, Zigeuner, Bohemians, etc) makes its appearance in the first half of the fifteenth century. That accords with the evidence for the arrival in Western Europe of small groups, speaking what may have been Roman&, possibly as a reaction to Ottoman advance post 1415. The first signs of hostile reactions at local level (but then more broadly) to their presence in Western Europe seem to be in response to their arrival in larger numbers post1430. Cf. Vaux de Foletier 1970: Chap. 1–4; Fraser 1994: Chap. 4–5; Pym 2007: Chap. 1–3.

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question. Yet the physiognomating of gypsy cheats and cardsharps, as presented by Michelangelo Merisi da Caravaggio and Georges de La Tour, trained at Rome in the Caravaggio school, brings us back to the portraits of the Bentveughels.13 The focus of these paintings is on how the physiognomic gaze is about cheating people out of what is their own as much as about revealing the soul within. The viewer of Caravaggio’s famous The Cardsharps, for example, is invited to look at the painting themselves with a physiognomic eye, and to ask themselves whether the painter himself is not also cheating the viewer with a canvas that is not all that it seems to be.14 Their victims are ‘gulls’, ‘dupes’, and ‘lambs’ in the hands of the gypies, who resemble ‘eagles’, ‘foxes’, and ‘wolves’. The pictures remind us that physiognomy in its divinatory context was often regarded as an improper art, revealing more about people than they knew themselves, associated with conjuring and divination, magic and superstition, which further explains why physiognomy attracted critical attention, suspicion and occasionally was banned.15 They also remind us of the connections between physiognomy and a broader vernacular culture in which the good and bad traits that seemed characteristic in certain animals provided a key to understanding the behaviour in humans who resembled those animals. So alongside a plurisecular, physiognomical tradition with its hermetic tendencies went the diffusion and distribution of more general assumptions behind physiognomy. The two were fused in the printed texts about physiognomy in the Renaissance to create a more Biblically centred, godly, moral, and practical form of physiognomic wisdom, less concerned with prediction and more concerned with assessing the moral worth of individuals. Martin Porter has attempted a statistical analysis of the chronology and distribution of printed treatises on physiognomy in early-modern Europe.16 His results are approximate because the definition of the genre is subjective and the interest in the subject diffused across different genres. The survival rate of different kinds of printed material from these centuries varies. Using Porter’s numbers of editions, however, it is evident 13 The six paintings in question are:- 1) Caravaggio’s The Cardsharps (Kimbell Art Museum, Fort Worth); The Fortune Teller (Capitoline Museum, Rome); The Fortune Teller (The Louvre, Paris):- 2) Georges de La Tour’s Cheat with the Ace of Clubs (Kimbell Art Museum, Fort Worth); Cheat with the Ace of Diamonds (The Louvre, Paris); Fortune Teller (Metropolitan Museum, New York). 14 Cf. Feigenbaum 2014: 253–71. 15 E. g., the Act of the English Parliament of 1530, forbidding “al other ydell p[er]sonnes goyng aboute in any contreys or abydyng in any Cytie Boroughe or Towne, some of them usyng dyvers & subtyle craftye & unlawfull games & playes & some of them feyning themselfes to have knowledge in Physyke, Physnamye, Palmestrye, or other craftye scyence wherby they beare the people in hande, that they can tell theire destenyes deceases & fortunes & such other lyke fantasticall ymagenacions”, Statutes of the Realm, III, p. 330. 16 Porter 2005: Chap. 2.

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that physiognomy was a saleable item, albeit never a run-away success. Physiognomy was not the dark art that its critics painted it. It was not difficult in the Protestant Reformation to align its precepts with Biblical injunctions. Two of the most cited texts were from Isaiah 3:9 (“the look on their faces testifies against them; they parade their sin like Sodom, they do not hide it”) and Job 37:7 (“He sealeth up the hand of every man that he may know his fate”), the latter being the text for chiromancers. The Elizabeth natural magician John Dee copied it in Greek on the titlepage of one of the numerous books on physiognomy and chiromancy that he owned.17 Yet it also earned the commendation of Protestant preachers like the puritan John Downame. “The visage”, he said, “is for the most part a Prognostication of Vertue or Vice….They that write of Physiognomie, discover certain conclusions demonstrable in the lines, and Symmetry of the face”.18 Richard Saunders (‘Sanders’) was convinced that physiognomy was a kind of natural language, descended from Adam and inscribed into the body of all Adam’s descendents. There was a mysterious, Godgiven link and resemblance between the body and the person within, the macrocosm and microcosm of an individual human being. If that was true, he went on, friendship and enmity was something that could be read from the human body, just as could grace or sin. It was a matter of knowing how to read the signs in order to be able to understand who, precisely, was one’s friend. Physiognomy became a subject of legitimate curiosity. It was capable of being studied with the same attention to observation as the natural world, the results recorded in illustrations that could be mechanically reproduced. Giovan Battista (Giambattista) Della Porta’s treatise (De humana physiognomonia libri III, Vico Equense: Giuseppe Cacchio, 1586) was a pioneer in this respect.19 He drew on his own well-stocked cabinet of curiosities and library as well as that of his brother and other Neapolitan virtuosi to furnish the statues, medallions and engravings from which the facial and bodily representations of ancient philosophers, emperors and modern humanists that grace the pages of his physiognomy were drawn.20 He used his own physiognomy, too, as a way of promoting the veracity of the subject as well as his image as a gentleman ingegnoso. Della Porta’s book linked physiognomy to illustrated prosopography.21 The Renaissance vogue for portrait biography was a way by which the moral qualities attributed to figures in the past could be identified and then applied to those in 17 Roberts 1994: 109. 18 Downame 1622: 410. 19 Consulted in the facsimile reprint (Paris: Aux Amateurs des livres, 1990). The standard modern edition is to the expanded 1610 Italian translation and edition of 1610, Cicognani 1988. 20 MacDonald 2005: 397–414. 21 Cf. Pelc 2002; Clough1993: 183–223; Mortimer 1980.

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the present. In the comfort of one’s study it was possible to befriend those in the past by reading their lives and at the same time look closely at their faces. That was also what Samuel SorbiHre, the French secretary to the English philosopher Thomas Hobbes described himself as doing with the portraits of Hobbes, Gassendi and Mersenne which he had asked a friend to send him: “I am moved and impelled to be virtuous not only by writings but also by the faces of great men; I feel, as it were, an emanation, a natural forces which radiates from them to me”.22 In common with other Renaissance physiognomists, Della Porta emphasised the practical purposes to which physiognomy could be deployed. He advocated it as a unique guide for mankind when it came to choosing whom to befriend. In 1659, Marin Cureau de La Chambre reckoned that there was no sphere of life in which metoposcopy (the analysis of someone’s character from their facial expressions) did not play a role: for instructing children, choosing servants, friends, companions….23 Samuel Fuchs emphasised in his 1615 metoposcopy how it was essential in guiding young people in choosing their friends.24 In 1665, the English translator of the French physician Marin Cureau de la Chambre’s 1659 treatise on physiognomy recommended its utilitarian worth.25 His proposition is not so far-fetched, given that early-modern ambassadorial correspondence is replete with physiognomically detailed descriptions of the demeanour and deportment of ministers, heads of state and leading members of Europe’s court society. Polemon deployed his physiognomy in order to identify his enemies. In general, Renaissance physiognomy followed a similar path, emphasising its utility to single out those who were enemies, rather than those who were friends. In 1653, Richard Saunders claimed that physiognomy was “a science very necessary for Ministers and Physicians, in their visitation of the sick”.26 Again, that was realistic, given that the diagnosis of the plague was visual. The English translation of Marc de Vulson’s Court of Curiositie (1669) advertised the merits of the study of physiognomy for “Doctors of Divinity…the Natural Philosopher….the Moral Philosopher…the devout preacher …Orators…. Ambassadors, Lawyers, Magistrates and Captains, and all other, that would persuade a multitude…Gentlemen and prudent Politicians …”.27 Anyone engaged in the task of winning friends, influencing people, or establishing a network of dependency, needed to know whom they could trust. So physiognomy was a way of policing one’s associates, as well as an important tool for magistrates. One of the 22 23 24 25 26 27

Malcolm 1994: 123 (11 July 1645). Chambre 1659: 6. Fuchs 1615: 15. Chambre 1665: Sig. A4r-v. Richard Saunders, op.cit., Sig. A2. Vulson 1669: 110–113.

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remarkable features of the Constitutio Criminalis Carolinae law-code for the Holy Roman Empire of 1532 was its article 71 (“mala physiognomia”) which required investigating magistrates to record physiognomic descriptions of the accused whilst he was making his statement.28 This institutionalisation of physiognomy mirrors the physiognomic descriptions of their clients that early modern astrologers recorded in their notebooks. If the estimation of the reliability of friends and the loyalty of servants could be aided by physiognomy, it was still more advantageous to those embarking on courtship and entering into matrimony. The translator of Vulson’s Court of Curiosities (1669) opened his text with an address “To the Ladies of our British Isle” because physiognomy was promoted as a useful tool for choosing good husbands. Their advice reflects common physiognomic ideals, although that may well be because they echo perambulating popular wisdom, often expressed in proverbial form, which may indeed be one of the reasons why physiognomic wisdom was so widely diffused.29 The physiognomic literature was less rich, however, in advice for a man seeking a wife. The books on physiognomy were largely written by men, and about men. Physiognomics was not gendered, and they rarely discuss this (to us) obvious conceptual problem.

3

Physiognomating Eyes

At the heart of the physiognomic project was the eye. “Nor is it not sayde without cause of antyke sage men, that the eye is the seate and place of the soule” affirmed Erasmus in his treatise on the moral and practical education of children.30 “The eyes are the windows/mirrors/lanterns of the soul” was a commonplace. The French physiognomist Antoine du Moulin made the connection explicit when he wrote in 1550 that physiognomy was “the knowledge that one has of the nature of each person by sight”.31 Samuel Fuchs’ 1615 treatise Metoposcopia was bound in with his complementary treatise on that of the eyes (the Opthalmoscopia). Visual experiences that were seen as accurate and reliable were cemented largely by Aristotelian ideas of perception and cognition and by psychological perceptions dominant in the Renaissance about the soul. The prevalent theoretical model was that objects in the world emitted resemblances or replicas of themselves (species) which were then communicated to the eyes and, via the eyes and the optic nerves, to the brain. The mind had access, therefore, to accurate pictures of the world, 28 29 30 31

See the particularly interesting contribution of Schneider 1996: 153–182. See Appendix for examples. Erasmus 1540: Sigs A3–A4; Porter, preface. Moulin 1550: 13.

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which conformed actually to what it appeared visually to be. Physiognomy was part of that close and comfortable world of visual resemblance between signifier and signified. Yet, according to Stuart Clark, “between the fifteenth and seventeenth centuries, European visual culture suffered some major and unprecedented shocks to its self-confidence”.32 In his book Vanities of the Eye, he charts the debates about the fantasies and hallucinations of melancholia, the illusions of magic, three-dimensional representational art, demonic deceptions and witchcraft, and the truth and function of religious images and the authenticity of miracles and visions. People could no longer be sure that what they saw was real. The agreed descriptions of the intelligible world were disturbed – politicised – by these intellectual debates. Renaissance physiognomic treatises were published within that context. One of the consequences of the Renaissance physiognomic project – the popularisation and densification of the basic postulates of physiognomy – was to highlight the fundamental difficulties of representing the knowledge that it claimed to have about the relationships between the outer and the inner person on the printed page. This was particularly noticeable when its practitioners tried to describe eyes. The Arcandum, one of the most widely circulated physiognomic treatises of the sixteenth century, begins its discussion with the eyes, their position, size, dynamics, colour and luminosity, attributing to them a whole range of characteristics that range from medical through emotional to moral.33 The eyes reveal whether an individual is “of a good stomach”, whether they have dispositions to be “fearful” or “angry”, whether their temperament is “malicious” or “of a good disposition”. The mnemonics for remembering the range of states that different kinds of eyes postulate are provided by animals (oxen, apes, wolves, etc.) – a potent reminder of the physiognomic reality that many animals shared human abilities to reveal their emotions through their bodily language. Physiognomists offered various diagonistics for the character of an individual through the nature of their eyes. Small eyes, for example, are described by one as the sign of a dissimulator, a liar, of envy, and of a traitor. You would not want to have a friend with small eyes. Another, however, describes them as the sign of a fool, of being bad-mannered, and of fearfulness. The qualities ascribed are different, even if you still would not want that person as a friend. Small and hollow eyes were also taken as a sign of covetousness, but also of anger. Yet how small is small? Is it small in relation to the size of the face, or other facial features? The same problem occurs with big eyes, which were also not a good indicator of friendship. It depended, in part, on where they looked. Eyes that looked to the left indicated apathy ; those that looked to the right suggested adultery. Eyes that 32 Clark 2007: 2. 33 Roussat 1563: Sig. N4 2 A.

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moved slowly suggested sluggishness of spirit or dullness. Large eyes were also a sign of cruelty. A good distance between the eyes was interpreted as a disposition towards friendship. “This space between the Cilia, or Eye Breese, being long and much distant, intimates a person of hard capacity, of subtil intellect, of great confidence, of much fidelity, of cleer and perfect friendship” says Richard Saunders.34 As was commonly the case with Renaissance physiognomy, a physical characteristic, even if it could be isolated, was taken to mean more than one thing. Large eyes could signify sloth, gluttony, envy, and brutishness. Yet if they were luminous and liquid, they might reveal a great soul, albeit one inclined to anger, to drunkenness, and an overweening quest for glory. Their discussions about the colours of eyes reflects similar practical difficulties in interpreting how dark were dark eyes. Within a closed world of an arcane wisdom, such knowledge could be manipulated by self-proclaimed cognoscenti with confidence. The common analogic way of reasoning of physiognomists hardly helped to render their prescriptions precise when conveyed in written form. The postulate was that human demeanour reflected that of the animal kingdom. But when such analogic reason was generalised, tabulated, and presented on the printed page, it merely advertised its own fundamental instability and inadequacy. The transformation of physiognomy into a book science exposed its fundamental weaknesses. That said, however, Descartes’ treatise on the passions (1649) provided what seemed like a more solid philosophical basis to a mechanical conception of the passions and provided book-based physiognomy with a significant new lease of life. The transformation of physiognomy to the printed page also offered the advantage of being able to represent its inherently visual language in pictorial form. Physiognomists had long tended to believe that those individuals who carried the “ signatures” of a lion, or a wolf, or a sheep in their facial and head features (i. e. looked like the animal in question), would carry its characteristics in their soul. That seemed much more readily demonstrable in a scientific way through the illustrations of the printed page. Giambattista della Porta used 86 half and full-page engravings to demonstrate that some human faces are innately similar to animal heads, and that the individuals with these faces share certain characteristics with the animals they look like. What instructions were Della Porta’s skilled Neapolitan engravers given? They worked from drawings of animals and birds, linking them to illustrative materials (statues, medallions, etc.) whose facial or corporal features they then exaggerated to allow the viewer himself to make the physiognomic connection. Della Porta’s book became the starting-point for Charles Le Brun’ exposition of a

34 Saunders 1653: 176.

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Figure 3: Giovan Battista Della Porta, Physiognomia Humana (Hanover: Apud Guilhelmum Antonium, 1593), Book 2, p. 62.

Cartesian physiognomic system in his Conf8rence sur la physionomie in 1671.35 The work reflected Le Brun’s major interest in the subject, as documented in his 250 physiognomic sketches and drawings now housed in the Louvre. He accommodated the views of Descartes by saying that some faces come to be distorted through the unrelenting effects of a particular passion over time upon them. He then used a geometric system of classification according to the angles of a particular profile – the demonstration of which would have been impossible without the representational potential implicit in the “science of the book”. The scope for book-illustration was not lost on Renaissance physiognomists, who represented the science of metoposcopy and chiromancy in engravings and wood-cuts. Thaddeas Hagecius used illustrations to demonstrate that the lines on people’s foreheads could be subjected to analysis. Samuel Fuchs’ 1615 physiognomy opened with three portraits, the first of Philip II, duke of Pomerania, and the other two of Silesian nobles who had patroned his work.36 He then offered physiognomical descriptions of their characters in words. Other case studies followed, ranging from an analysis of his former professor of logic, Bartholomäus Keckermann to more speculative analyses of Christopher Columbus and noted figures of Antiquity like Caligula or Septimus Severus. Physiognomy in print created the aura of a science that was solid, whilst also 35 Montagu 1994; Cottegnies 2002: 141–158. 36 Fuchs 1615.

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providing the means for it to be fundamentally criticised. Metoposcopists who studied the lines on foreheads as a means to analysing character opened the door to fundamental doubts about why particular lines should be regarded as the signs of anything in particular. Marin Cureau de La Chambre’s Art de connoistre les hommes (1659) was the most ambitious physiognomies of the seventeenth century, produced by a trained physician, a member of the Acad8mie FranÅaise, and one of the founder members of the Acad8mie des Sciences.37 The frontispiece to the original edition depicts the natural philosopher at work in his laboratory, undertaking an experiment in which the arts of measurement, comparison, detailed description and accuracy are displayed. Through the doorway in the rear, is a public space in which gypsies are palm-reading (and pickpocketing) a gullible subject, unfurnished with such science. His approach provided the intellectual basis to that of Johann Casper Lavater, the great physiognomist of a century later. His text enveloped with an experimental methodology the unresolved problems of physiognomy as a book-science. His basic proposition was that of the physiogomists in general: that “nature has not only endowed man with voice and language as the means to express his thoughts… it has also given him a face and eyes to speak with”.38

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Michel de Montaigne’s Essay “On Physiognomy”

Both moralists and physiognomists claimed to offer “windows on the soul”; both had a good deal to say about the nature and significance of friendship. The period of the French Wars of Religion marked a highwater mark for practical moral philosophy in a variety of genres.39 Here we shall examine just one text: Michel de Montaigne’s famous essay “On Physiognomy” from Book 3 of the Essays – and that because it serves as a pendant to Montaigne’s well-known and often-repeated views of friendship.40 On the face of it (Montaigne would have enjoyed the pun) it is a curious piece. Montaigne scholars have used it to discuss his disjointed style of writing. Its subject veers from Socrates to the way we read books; from his recent personal experiences in the civil wars to feverish philosophising; from evocations of peasant ordinariness to how to die well. Mon-

37 For a brief introduction to his career and physiognomy, see Pogliano 1988: 39–54. 38 Chambre 1659: 1. 39 Among the works of moral philosophy that caught the public’s attention in sixteenth-century France was Caurres 1584; Primaudaye 1577 and 1579; Coignet 1584; Amyot’s translation of Plutarch’s Moralia 1572, with successive editions; Habert 1572; Faur de Pibrac 1567 and subsequent editions. 40 Montaigne 1962: 1013–1041.

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taigne, the ‘accidental philosopher’, touches on physiognomy at a tangent.41 In reality, however, he is recording his reactions to the physiognomic project, to its scientific claims, to its bookish methodology and presentation; to the artificiality of its taxonomies, its treatment of evidence, its view of human nature, and its claims to predictive power. The essay begins with Socrates, a central figure for Montaigne through the Socratic dictum: “Know thyself”. We think we know what Socrates taught, says Montaigne, through we only know about him through the writings of others. Yet “cette image” is distorted because Socrates did not write them; what he spoke was recorded by others. To discover what Socrates meant we need the vision of the physiognomists.42 The trouble with our book-learning, he continues, is that it persuades us to over-complicate things. Wisdom is only a benefit to us when we use it clear-sightedly.43 The science that physiognomy claims for itself is, he wants to say, over-dressed, too heavily weighed down by borrowed learning, over-reaching in its claims to exactitude. We cannot judge people from their faces, any more than we can from our books. Yet we can do so in light of our own inner experience, with which we are all endowed.44 That is what Socrates was trying to tell us.45 What we learn from childhood, from our education, from our encounters with others, from our early friendships are, for us, a lesson in who we are, in how other people are, and in how we and they behave. As young children, our countenances reveal us naturally, and we gain experience about others that is remarkably ordered and trustworthy. Montaigne draws on his own experience as a magistrate. He found himself repeatedly assessing people from their appearance on the stool before him as a magistrate. He did so by drawing on the intuitions he had learnt as a young man. In the civil wars, he found others judging him, too, on the basis of what they saw in him.46 We might believe that we know our own minds, but how easy it is to be influenced by others, and especially when our actions and behaviour attract the favourable eye of a grandee.47 So none of this experience is, he readily concedes, “scientific”. Yet it is the

41 Hartle 2003. 42 “une veu[ nette et bien purg8e pour descouvrir cette secrette lumiHre”, Montaigne 1962: 1013. 43 “d’yeux fermes”, Montaigne 1962: 1014. 44 “Nous sommes chacun plus riche que nous ne pensons…”, Montaigne 1962: 1015. 45 “Qu’elle est en nous, et la maniere de l’y trouver et de s’en ayder”, Montaigne 1962: 1016. 46 “au Gibelin j’estois Guelphe, au Guelphe Gibelin…la situation de ma maison et l’acointance des homes de mon voisinage me presentoient d’un visage, ma vie et mes actions d’un autres”, Montaigne 1962: 1021. 47 “Le me presche il y a si long temps de me tenir / moy, et separer des choses estrangeres; toutesfois je tourney encores tousjours les yeux / cost8; l’inclination, un mot favourable d’un grand, un bon visage me tente”, Montaigne 1962: 1022.

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knowledge with which we have been endowed, and it is part of the lives of ordinary people.48 That knowledge is what enables us to make friends. In comparison with it, the science of physiognomy is feeble. It has more show than substance, more ornament than fruit.49 It takes us away from human experience, and is unable to deliver on its promises. Human beings are remarkably good at presenting themselves otherwise than they are.50 It cannot offer a science of face-to-face relationships (“la science de l’entre-gens”). Its claims to predictive powers are dubious.51 He doubts any precise relationship between physical demeanour and inward character. Socrates was a great man, but he had apparently had a stumpy, syphilitic nose (his example already rehearsed by Erasmus). Nature did him a considerable injustice, and there was no way that the science of physiognomy could explain such deformities, or comprehend why there was such a disjuncture between the beauty of his soul and the ugliness of his demeanour.52 His friend Etienne de La Bo[tie was utterly plain to look at, yet within he had a “beautiful soul”.53 Physiognomic wisdom was dressed-up prejudice, whereby we judge things and people by their outward appearances. Yet Montaigne was not utterly sceptical about the physiognomic project. At the end of his essay, he turns the subject on its head: “People’s facial demeanour is only a feeble guarantee of how they are; all the same it is worth some consideration” he says.54 He doubted that the cause-effect relationships worked in the way that physiognomers said that they did, but he conceded – indeed, it was a fundamental starting point for sixteenth-century moralists – that the world was an ordered place, structured to Aristotelian ends. Nature has nothing useless in it, and our natures are hard-wired into us, both body and soul. Some people show their happiness in their faces; others express their anxiety similarly in their countenance.55 We do not need to be told by someone that they are melancholic to know that it is so. We have learnt to recognise and interpret those features in one another, even though it is an open question whether they have sufficient precision to be able to predict behaviours accurately from them. Ambition, 48 “Les plus simples y recognoissent leurs moyens et leurs forces; il n’est possible d’aller plus arriere et plus bas”, Montaigne 1962: 1015. 49 “La plus part des instructions de la science [de physiognomie] …ont plus de montre que de force, et plus d’ornement que de fruit. Nous avons abandonn8 nature …”, Montaigne 1962: 1026. 50 “Nostre monde n’est form8 qu’/ l’ostentation”, Montaigne 1962: 1014. 51 “D’en prognostiquer les avantures futures, ce sont matieres que je laise indecises”. 52 Montaigne 1962: 1034f. 53 “La laideur qui revestoit une ame trHs belle en La Boitie estoit de ce predicament”, Montaigne 1962: 1035. 54 “C’est une foible garantie que la mine; toutesfois elle a quelque consideration”, Montaigne 1962: 1036. 55 “Il semble qu’il y ait aucuns visages heureux, d’autres malencountreux”, Montaigne 1962: 1036.

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jealousy, envy, vengeance, despair – the full range of human characteristics – display themselves in our faces and gestures to such an extent that even animals can interpret them in us.56 Our bodies can speak for us, revealing our natures in a way that others can read. At this point, he recounts a story from his own experiences in the French civil wars, probably from the period in 1586–7.57 Armed men threatened him on his doorstop, invading his house, and threatening to turn it upside down. Montaigne treated them as his guests and they eventually left without ransacking the place. Their leader “remounted his horse, his men continually looking at him to see what sign he would give them and much astonished to see him leave and abandon the advantage”.58 He told Montaigne later that this was because “my face and my easy way” made an impact upon him. Montaigne recounts a second incident when he was taken prisoner en route by an armed band looking for a ransom. Once more, he acted openly, telling them who he was, and offering them what he had. Their leader released him and he learnt subsequently that he owed his freedom “to my face, and my free and deliberate way of speaking”.59 From these examples, Montaigne drew, however, a moral rather than a scientific conclusion. It was better to be oneself in how one behaved: “if my face had not spoken for me, if the simplicity of my intentions had not been read in my eyes and my voice, I would not have managed to live for so long without quarrels and being accused of offending someone”.60 Montaigne ends the essay with a voyage into his own physiognomy, interrogating himself on his own surprising hatred of hatred, and about how it made it difficult for him to be a magistrate. That is a clue to the key difference between moralists and physiognomists when they tried to understand what the face told one about the inner person. Moralists took into account the possibility that the emotional state of an individual was in a complex and dynamic relationship with what was happening in the outside world, rather than simply reflecting a static character state. They were therefore able to reflect more powerfully on the powers of bodily eloquence, and the capacity of words to induce an emotional 56 “…siment8 de qualitez maladives;; l’ambition, la jalousie, l’envie, la vengeance, la superstition, le desespoir logent en nous…d’une si naturelle possession que l’image s’en recognoist aussy aux bestes”. 57 Montaigne 1962: 1037f. The essay was first published in the edition of the Essays published in 1588. 58 “il remonta / cheval, ses gens ayant continuellement les yeux sur luy pour voir quell signe il leur donneroit bien estonnez de le voir sortir et abandoner son avantage”, Montaigne 1962: 1039. 59 “…me redict lors plusieurs fois que je devoy cette deliverance / mon visage, libert8 et fermet8 de mes paroles…”, Montaigne 1962: 1040. 60 “Si mon visage ne respondoit pour moy, si on ne listoit en mes yeux et en ma voix la simplicit8 de mon intention, je n’eusse pas dur8 sans querelle et sans offence si long temps”, Montaigne 1962: 1040.

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state in someone else. They could explain the psychosomatic conditions of tears and laughter. Although the physiognomic texts did not entirely exclude vocal physiognomy, the timbre, pitch and volume of the voice being another possible indication of the inner state of a human being, it was difficult to turn it into a book-science, impossible to transfer the voice to the printed page. The moralists, by contrast, elevated the voice to a dynamic role, capable of revealing the inner personality. Jacques Amyot, the sixteenth-century translator of Plutarch and key member of the last Valois king, Henri III’s royal academy, where the nature of the human emotions was a central subject in the 1570s and 1580s, cited Plutarch with approval to explain why the human body has two ears as well as two eyes. His “project for a royal eloquence” offered philosophical reflections to accompany the king’s attempts at the moral reformation of the kingdom.61 There was, he said at one point, no better way to “manage a multitude of people, chasten their hearts, master their wills and passions, and compel or retain them at will, using as it were a spur and a bridle hanging from the end of the tongue” than to use the instrument of the voice.62 Eyes and ears; both were vital components in the ethics and politics of bodily eloquence in the Renaissance. Both played their part in the performance of friendship.

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Conclusion: Bodily Eloquence and the Commerce of Friendship

The object of this communication has been to suggest ways by which we can historicise the ‘performativity’ of human relationships, and to inject, as it were, a ‘physiognomic’ aspect to the understanding of friendship and patronage that have been the subjects at the centre of this research programme. Friendship, Aristotle had said in the Nicomachean Ethics “is very necessary” for “living”. “Without friends”, he added “no one would choose to live”. Friendship “seems…to hold states together, and lawgivers seem to care more for it than justice”. In The Politics he adds that friendship is “the greatest good of states and what best preserves them against revolutions”. Even rich men, those in offices and positions of dominance, need friends, for “what use” would be their “prosperity” and social rank “without the opportunity of benevolence, which is exercised chiefly […] towards friends?” The centrality of physiognomy as the way in which we understand one another in the pseudo-Aristotelian Physiognomonica has been the key point of this paper. It brings physiognomy and friendship into the close relationship that they enjoyed in the Renaissance. It also 61 Pierres 1805; modern edition Salazar 1992. 62 Pierres 1805: 10.

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indicates, however, that Renaissance moralists had a deeper understanding of bodily eloquence, how we display our emotions, and how we understand those of others. In the court culture of the seventeenth century, whose court manuals offered advice on how to disguise one’s real opinions, and offered good reasons why one should be silent on occasions, or not say what was on one’s mind, the allure of physiognomy, despite its critics, remained great.63

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63 Chambre 1659: 6 expresses this tension explicitly : “[Physiognomy] c’est le guide le plus assur8 pour se conduire dans la vie civile, et celui qui s’en voudra serir pourra 8viter mille fautes et mille dangers oF il est hasard de tomber / tout moment…Il montre l’occasion et les moments favorables oF l’on doit agir, oF l’on doit parler : il apprend la maniHre dont on doit le faire, et s’il faut inspirer un conseil, une passion, un desseign, il sait tous les passages qui les peuvent faire entrer dans l’.me. Enfin, si l’on doit suivre l’avis du sage, qui d8fend de converser avec un home colHre et un envieux, et de se trouver dans la compagnie des m8chants, qui peut nous sauver de ces mauvaises rencontres que l’Art dont nous parlons?”

The Face of Friendship

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Ingo Rohrer

Eine ethnologische Sichtweise auf Physiognomik – Kommentar

Es mag auf den ersten Blick so erscheinen, als hätte die Arbeit von Mark Greengras und mein Forschungsbereich keinerlei Überschneidungspunkte. Während Greengrass die Epoche der frühen Neuzeit und der Renaissance aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften erfasst, setzte ich mich im Zuge meines Arbeitens über Freundschaft mit der globalisierten Punk- und Hardcore-Szene von Buenos Aires aus der Warte der Ethnologie auseinander1. Immer wieder erlebe ich, dass, sobald der Begriff Punk vernommen wird, den meisten Zuhörer_innen und Gesprächspartner_innen zunächst einmal weniger die Charaktereigenschaften, Wertehaltung oder die musikalische Ausformung in den Sinn kommt, als vielmehr ein physisches Bild von Punk vor Augen tritt. Das Bild eines jungen Menschen, der versucht, sich durch Kleidung, Haarschnitt, Bewegung und vielleicht sogar durch körperliche Verformung wie Piercings, Vernarbung und Tätowierung auszudrücken. Ausdruck bedeutet in diesem Falle Kommunikation mit der Gruppe von Punks, zu der Zugehörigkeit signalisiert wird und die sie/ihn hoffentlich als authentischen Ebenbürtige_n akzeptiert; gleichzeitig aber auch Kommunikation mit den ,Anderen‘, deren Wahrnehmung sie/er beeinflussen möchte und der sie/er signalisiert, dass sie/er ,ihre‘ Ordnung und Gesellschaft ablehnt. Körperliche Erscheinung, so wird an diesem kleinen Beispiel deutlich, spielt auch in meinem Forschungsbereich eine Rolle, auch wenn in der Ethnologie und Soziologie eher über die Performance dieser jungen Menschen gesprochen wird, statt nach der Bedeutung der Physiognomik zu fragen. Dafür gibt es Gründe, die ich im Folgenden kurz einleitend erläutere. Ausgehend davon werde ich aus der Perspektive der Ethnologie heraus einige allgemeine Überlegungen zur Thematik der Physiognomik anstellen. Dabei geht es mir nicht darum, Parallelen und Unterschiede zur Forschung von Mark Greengrass herauszustreichen oder eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Betrachtungen zu liefern. Vielmehr möchte ich über meine Assoziationen 1 Vgl. Rohrer 2014a, 2014b.

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mit Physiognomik zu kritischen Perspektiven auf ein nach wie vor populäres und attraktives Erklärungsmuster anregen und davon ausgehend einen Bogen spannen zu einer Auseinandersetzung mit der Forschung zu sozialen Nahbeziehungen, in der sich einige der kritisierten Punkte ebenfalls ausmachen lassen.

Zur Physiognomik in der Ethnologie Die Physiognomik, also das Vermögen aus dem Äußeren des Körpers, insbesondere dem Gesicht, auf seelische oder charakterliche Eigenschaften zu schließen, ist ein Feld, welches im Fachbereich der Ethnologie mit den unrühmlichsten Kapiteln der Disziplin verbunden ist und deswegen in der gegenwärtigen Ethnologie meines Wissens nicht bearbeitet und sicherlich skeptisch betrachtet wird. Wenn ich vom dunklen Kapitel der Fachgeschichte spreche, dann meine ich damit die Vermessung von Körpern, Köpfen, Gesichtern und Augen, die Kategorisierung in Rassen mit gleichzeitiger Zuschreibung von seelischen Eigenschaften, Intelligenz und Devianz, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der biologischen und kriminologischen Anthropologie vorgenommen wurde,2 allerdings auch in der Ethnologie Rückhalt fand3. Kurz gesagt ging es bei der Kraniometrie und ihren Varianten um den Versuch, wissenschaftliche Begründungen von rassistischen Lehren zu finden. Und obwohl die Rassentheorie heutzutage uneingeschränkt zurückgewiesen wird, entfalteten die Vermessungsversuche und Kategorisierungen eine enorme Wirkung, die nach wie vor die Vorstellungen vom ,Anderen‘ mitbestimmen. Die gegenwärtige Ethnologie ist immer noch damit beschäftigt, genau diese paternalisierenden, biologistischen und rassistischen Motive zu dekonstruieren und zu überwinden, welche in Alltagsdiskursen immer wieder auftauchen. Mit Kommentaren zu Physiognomik und ihre Bedeutung für die zwischenmenschliche Interaktion aus einer ethnologischen Perspektive betrachtet, bewege ich mich daher auf schwierigem Terrain – einerseits, weil es ein historisch belastetes Thema ist, andererseits, weil ein gegenwärtiger ethnologischer Beitrag zu diesem Feld meines Wissens nicht existiert. Dennoch lassen sich zum Artikel von Greengrass beziehungsweise zur Physiognomik im Allgemeinen einige Bemerkungen machen, die ich in drei zentrale Punkte untergliedern möchte:

2 Vgl. Petermann 2004: 396ff. 3 Vgl. Hauschild 1995.

Eine ethnologische Sichtweise auf Physiognomik – Kommentar

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Das eurozentrische Individuum Wenn wir von Physiognomik sprechen, dann müssen wir uns daran erinnern, dass wir von der Zuschreibung von Charakteristika zu Individuen sprechen und nicht wie in rassistischen Theorien von ,Gruppenmerkmalen‘. Die Vorstellung eines autonomen Selbst, die sich hier zeigt, ist nicht nur die Grundlage der Physiognomik, sondern begegnet uns als unhinterfragter Ausgangspunkt auch in Arbeiten zur Freundschaft. Aus ethnologischer Perspektive gilt es daran zu erinnern, dass diese Prämisse des ,modernen‘ westlichen Konzepts des autonomen Selbst weniger selbstverständlich ist, als das auf den ersten Blick erscheinen mag. Spätestens mit den Arbeiten von Marilyn Strathern zum Dividuum in Melanesien (1988), hat die ethnologische Forschung aufgezeigt, dass das autonome ,Selbst‘ und das ,Individuum‘ Vorstellungen sind, die nicht im gleichen Umfang in allen menschlichen Gesellschaften geteilt werden.4 Der Hinweis, den die Ethnologie also liefert, wie so oft in einer eurozentrisch geprägten Wissenschaftslandschaft, ist der Einwand, dass nicht von einem Universalismus bestimmter Phänomene – sei es nun Freundschaft, Individualität oder Emotionen, die sich im Gesichtsausdruck widerspiegeln – auszugehen ist. Ich denke, auch für die Geschichtswissenschaften gilt es festzuhalten, dass die Idee des ,modernen Individuums‘ eine spezifische Entwicklung in der europäischen Geschichte darstellt, die sich in der Renaissance deutlich abzeichnet – einerseits in der gesteigerten Nachfrage nach Portraitmalerei, in welcher erstmals Persönlichkeit und Individualismus dargestellt wird, andererseits aber eben auch in dem Versuch, die Physiognomik des individuellen Gesichts als Wissenschaft zu etablieren.

Körpertransformationen Der zweite Punkt betrifft das, was ich bereits eingangs zur Selbstdarstellung von Punks angedeutet habe – den Versuch, das Gesicht und den Körper und damit die Lesbarkeit durch den Anderen zu beeinflussen. Zahlreiche Ethnologen und Anthropologen haben akribisch aufzeigt, dass es die unterschiedlichsten Formen von Aussehensveränderungen gibt, die heutzutage unter den englischen Begriffen Body Art oder Body Modification subsumiert werden.5 Schädeltransformationen, Verlängerung des Halses, Abschleifen der Zähne, Vergrößerung von Ohrdurchbohrungen, Lippenpflöcke, Bemalungen, Skarifizierungen, Tätowierungen, plastische Eingriffe – die Liste der Körpermodifikationen ist 4 Vgl. Carrier 1999. 5 Hotz/Meyer 2011: 88.

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lang und variantenreich.6 Dies gilt nicht nur für die sogenannten außereuropäischen Gesellschaften, deren Ausdrucksformen nicht selten in einer Mischung aus Faszination und Abscheu betrachtet wurden, sondern zeigt sich auch in gegenwärtigen, westeuropäischen Gesellschaften, in denen verschiedenste Formen von körperlicher Transformation allgegenwärtig sind. Wie lassen sich aber nun diese Versuche der Veränderungen interpretieren? Werden die zum Teil drastischen Einschnitte nur unternommen, um einem bestimmten Schönheitsideal zu entsprechen, oder zeugen die Bemühungen um ,bodily eloquence‘ nicht eher davon, dass sich die Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Physis und Charakter in einer weit verbreiteten Praxis manifestiert? Angenommen es gäbe einen Zusammenhang zwischen Physis und Charakter, dann müsste eine physiognomische Wissenschaft zunächst mit der Frage konfrontiert werden, ob diese Personen durch ihre Transformation auch eine seelische Veränderung durchlaufen oder ob sie nur ihre Äußeres an ihre Seele bzw. ihren Charakter anpassen. Allzu häufig werden im Alltag ja gerade gesellschaftlich nonkonforme Körpermodifikationen regelrecht pathologisiert und als Ausdruck einer psychischen Störung gebrandmarkt. Die nächste Frage, welche eine wissenschaftliche Physiognomik beantworten müsste, lautet: Handelt es sich bei den Transformationen um prä-kognitive Handlungen, d. h. einen unbewussten Drang zur Anpassung von Körper und Charakter oder sind mit den Veränderungen vielmehr bestimmte Absichten und performative Akte verbunden – kann also von einem bewussten Eingriff ausgegangen werden, der auf die Wahrnehmung durch die anderen abzielt? Im Anschluss an Greengrass würde ich wohl eher zu zu letzterem tendieren und unterstreichen, dass ,body eloquence‘ nicht nur kulturspezifisch divergiert, sondern dass sie sich auch im jeweiligen kulturellen Kontext manipulieren, persiflieren und unterwandern lässt. Dadurch angedeutet ist natürlich auch, dass sich Zuschreibungen und Wahrnehmungen in einem historischen und kulturellen Wandel befinden und eine Festschreibung von Charaktermerkmalen anhand bestimmter Gesichtszüge problematisch erscheint. Ausgehend hiervon ließen sich auch die neurowissenschaftlichen Versuche zur Vertrauenswürdigkeit kritisieren, die von unterschiedlich kodierten Gesichtsmerkmalen ausgehen, welche mehr oder weniger Vertrauen evozieren.7 Erstaunlich ist nicht nur, dass uns in derlei Versuchen eine wissenschaftlich eingekleidete Physiognomik begegnet, sondern vor allem, dass die historische, soziale und kulturelle Konstruktion von Vertrauenswürdigkeit nicht berücksichtigt wird. Eine anschauliche Beschreibung, dass sich Wahrnehmungen jedoch wandeln, wird zum Beispiel in dem Buch

6 Vgl. Mascia-Lees 1992; Melk-Koch 1999. 7 Vgl. z. B. Todorov et al. 2013; Freeman et al. 2014.

Eine ethnologische Sichtweise auf Physiognomik – Kommentar

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Hitlers Gesicht von Claudia Schmölders vorgelegt.8 In eindrucksvoller Weise wird hier der physiognomischen Biographie Adolf Hitlers nachgegangen und der Wandel vom ,Antlitz des Führers‘ bis zur ,Hitlerfresse‘ aufgezeigt.

Physiognomik und Selbstvergewisserung Diese perspektivische Verschiebung in der Wahrnehmung von Adolf Hitler leitet über zu meinem letzten Punkt, den ich anführen möchte. Beim Versuch das Gesicht und vor allem die Augen des Anderen systematisch zu typisieren, geht es nicht zuletzt auch darum, eine charakterliche und moralische Skala, die zwischen Tugend und Laster angesiedelt ist, zu etablieren. Die Frage, die sich daran anschließt, muss aus einer wissenschaftskritischen Perspektive also immer auch lauten: Wer katalogisiert und wer bestimmt über diese Zuordnungen? Mit dem Versuch einer physiognomischen Kartographie des Gesichts geht meiner Ansicht auch ein Prozess von normativer Selbstvergewisserung und eine Selbstpositionierung einher. Es stellt sich die Frage, ob der physiognomische Forscher die Lasterhaftigkeit in seinem eigenen Gesicht erkennen möchte oder ob man sich nicht lieber mit dem Antlitz des Anderen befasst. Gerade die Beispiele der Kraniologie und Rassentheorie verweisen darauf, dass sich die Forscher selbst als Idealbild verstanden und die ,Anderen‘ in Abgrenzung zum ,Selbst‘ als minderwertig oder nicht vollständig entwickelt kategorisierten. Bei der Lektüre des Beitrags von Mark Greengrass wurde mir ein Bild aus einem ethnographischen Dokumentarfilm in Erinnerung gerufen. Die Szene zeigt ein Filmteam bestehend aus mehreren Ethnologen, die in einem Papua Dorf drehen und lässig mit Sonnenbrillen umher schreiten und ihre Kameraeinstellungen vorbereiten. In einer weiteren Einstellung ist zu sehen, wie kurze Zeit später die Bewohner damit beginnen, sich aus schwarzem Schlamm oder aus Kohle Sonnenbrillen auf das Gesicht zu malen. Ohne den Kontext der Filmaufnahmen genau zu kennen, erinnert mich die Aufnahme an eine Ethnologie, die in lässiger Selbstverständlichkeit das Objektiv auf die von ihr ausgewählte Ethnie richtet, sich aber selbst dem Blick der ,Anderen‘ verschließt. Ist nun der Versuch der Dorfbewohner sich Sonnenbrillen zu schaffen, eine freundliche ,Kopie des Gegenübers‘oder doch eher zu verstehen als Versuch, sich dem vermessenden Blick der Ethnologen zu entziehen? Gleich wie diese Szene interpretiert wird, schlage ich vor, das Bild von Ethnologen, die ihre Augen hinter Sonnenbrillen verstecken, um sich dem Gegenüber nicht lesbar zu zeigen, als Erinnerung zu verstehen, dass wir in der Untersuchung von Freundschaft und Patronage die Elemente von Ungleichgewichten, Dominanz, Macht und 8 Schmölders 2000.

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Voreingenommenheit nicht aus dem Blick verlieren sollten. Denn allzu oft dient die ,Objektivierung des Anderen‘ nach wie vor dem Ausbau der eigenen, vermeintlichen Vorherrschaft. Eine kritische Reflexion der Position, wie wir sie als ,objektivierende Wissenschaftler‘ in diesen Prozessen einnehmen, ist meiner Ansicht nach unumgänglich und sollte sich nicht nur auf die Ethnologie beschränken.

Konklusion Physiognomik ist ein Denkmodell, welches wohl nicht erst in der Renaissance entstand, und welches über einen langen Zeitraum nicht an Attraktivität eingebüßt hat. Stattdessen begegnet uns die Physiognomik in populärwissenschaftlicher Literatur aus dem Bereich der Lebensberatung, aber auch als abgewandelte Variante in neurowissenschaftlichen Versuchen zur Vertrauenswürdigkeit. Meine drei Einwände verfolgen den Zweck aufzuzeigen, dass viele Grundannahmen einer wissenschaftlichen Physiognomik problematisch sind und sich aus der Perspektive der Ethnologie kritisieren lassen. Die Ermahnung, dass bestimmte Phänomene und Konzepte nicht von vorneherein als universal gesetzt werden können, ist ein Unterfangen, welches die Ethnologie unablässig leistet. Der zentrale Kritikpunkt an physiognomischen Deutungsversuchen ist allerdings, dass die Wahrnehmung des ,Anderen‘ immer eine soziale Konstruktion ist und sich nicht auf physische und letztlich biologische Merkmale, die als ahistorisch und universal verstanden werden, reduzieren lässt. Die soziale Konstruktion, und darauf weist mein letzter Punkt hin, ist jedoch nicht ohne die Frage nach Macht und Machtverhältnissen zu betrachten, in welcher die Macht der interpretierenden und objektivierenden Wissenschaftler_innen eine Sonderstellung einnimmt. Doch über die Kritik an einer Lehre der Physiognomik hinaus versuche ich mit diesem Kommentar daran zu erinnern, dass einige der Prämissen und Konzepte, die uns im Rahmen der Auseinandersetzung mit Physiognomik begegnen sind, sich auch als Gegenstand der Betrachtung von Freundschaft identifizieren lassen. Bestimmte Vorannahmen und Perspektiven, die am Beispiel einer wenig wissenschaftlichen Lehre der Physiognomik deutlich kritisierbar sind, finden sich auch in der wissenschaftlichen Arbeit zu Freundschaft, Klientelismus und Patronage und sollten nicht minder kritisch reflektiert werden. Der Umweg über die Physiognomie erinnert daran, dass auch in der Forschung zu sozialen Nahbeziehungen das Konzept des autonomen Selbst nicht als zentrale Konstante zu verstehen ist, dass unterschiedliche historische und kulturelle Varianten und ihre Wandelbarkeit der Beziehungsformen zu berücksichtigen sind und dass bei der Perspektive auf die zu analysierenden Phäno-

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mene die Macht des deutenden Wissenschaftlers nicht vernachlässigt werden kann.

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Sektion 3: Politiken der Gemeinschaft

Nicola Tams

Gespensterbriefe. Freundschaft zwischen Nähe, Distanz und Abwesenheit am Gegenstand einiger Briefe Derridas

Franz Kafka macht im März 1922 Milena Jesensk#, der er zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren Briefe schreibt, ein Geständnis: „(Prag, Ende März 1922) […] Alles Unglück meines Lebens – womit ich nicht klagen, sondern eine allgemein belehrende Feststellung machen will – kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her.“

Er berichtet davon, wie viel weniger Vertrauen er in die „eigenen“ Briefe setzt, in denen sich „unter der Hand“ „Gespenster“ formulieren, die die Menschen nicht näher zusammen-, sondern im Gegenteil weiter voneinander wegbringen. Was er hier mit den Gespenstern thematisiert, ist Kennzeichen des brieflichen Verkehrs: Er findet schriftlich statt. Der Eindruck, ein Brief könne seinen Adressaten erreichen oder dass sogar „Menschen durch Briefe mit einander verkehren können“, sei eine Fiktion. Die Gespenster seien „an den Ausnahmen [zu] erkennen, manchmal lassen sie nämlich einen Brief ungehindert durch und er kommt an wie eine freundliche Hand, leicht und gut legt sie sich in die eigene. Nun wahrscheinlich ist auch das nur scheinbar und solche Fälle sind vielleicht die gefährlichsten, vor denen man sich mehr hüten soll, als vor andern, aber, wenn es eine Täuschung ist, so ist es doch jedenfalls eine vollkommene.“1

Der Brief kommt, so Kafka in diesem Brief, grundsätzlich nicht an; „Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken“. Kafka spricht hier seine Beobachtung aus, dass Briefeschreiben ein Verkehr mit etwas Abwesendem ist. Und dass diejenige, die schreibt, ihren tatsächlichen Adressaten nicht kennt. Er oder sie kann nicht wissen, ob der Brief sicher ankommt und bei wem er ankommt. Aber auch Kafka selbst fürchtet sich vor den eigenen Briefen, da sie nicht zu übermitteln scheinen, was er beabsichtigt. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass Derridas Verständnis von ,Freundschaft‘ zu vergleichen ist mit einem Verständnis des Briefwechsels, wie 1 Kafka 1986: 301ff.

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ich es hier entwickeln werde, bei dem Postkarten an das unbekannte Andere gesendet werden. So wird sich zeigen lassen, wie bei Derrida ,Freundschaft‘ in Zusammenhang mit dem Schriftlichen des Briefwechsels gebracht werden kann. Bevor ich auf Derrida eingehe, soll im Folgenden mit literaturwissenschaftlicher Hilfe ein Verständnis davon, was den Briefwechsel auszeichnet, entwickelt werden und speziell in Bezug auf die Frage, inwieweit diese Quellen Nähe, Distanz und Abwesenheit als Elemente des Briefwechsels thematisieren. Zuallererst lässt sich festhalten, dass der Brief eine Differenz zwischen Sender und Empfänger voraussetzt. Belke nennt als konstitutiv für alle Briefe die Kommunikation zwischen räumlich getrennten Briefpartnern.2 Dabei waren die Beförderungsmöglichkeiten unterschiedlich und immer Unwägbarkeiten ausgesetzt. Die älteste Beförderungsmethode des Briefs ist die durch den Boten, der zu Fuß den Brief übermittelte. Im Altertum gab es reitende Briefboten, die sich jedoch lediglich Reiche oder Staatsmänner leisten konnten. Der Bote sollte jedoch nicht einfach nur übermitteln, sondern er war „derjenige, dessen Zuverlässigkeit für die Echtheit des überbrachten Briefes bürgte“3. Dieser materielle Aspekt von Briefen ist verloren gegangen, ebenso wie bei heutigen Emails von diesem Aspekt abstrahiert wird. Im Mittelalter wurden wenige Briefe geschrieben. Klöster untereinander hatten Briefverkehr durch einzelne Mönche, oder Kaufleute durch den Standesgenossen-Dienst. Aber erst mit dem ,Aufblühen‘ der Städte seit dem 12. Jahrhundert gab es ein geregeltes Botenwesen und seit Ende des 15. Jahrhunderts wurden auch Privatbriefe in größerer Anzahl befördert.4 Ein Brief gleicht oft einer „Flaschenpost“5, bei der nicht gesichert ist, dass sie auf dem Transportweg nicht verloren geht. Die Differenz aber ist, dass eine Briefeschreiberin davon ausgeht, dass der abgeschickte Brief bei einem bestimmten Adressaten ankommt, während die Senderin der Flaschenpost gerade möchte, dass die Post an einen unbekannten, undefinierten Empfänger gerät. Darüber hinaus ist der Empfänger nicht immer eindeutig; „Zu selten wirft man die Frage auf, ob und wie weit manche Briefe ihren Empfängern wahrhaft zugedacht, ob sie nicht an alle und niemanden gerichtet sind“6. Hier wird im Folgenden dafür plädiert werden, dass Briefe gerade durch diesen ungerichteten Aspekt ausgezeichnet sind und er nicht nur eine Ausnahme des brieflichen Verkehrs – oder sein Scheitern – bedeutet. Es scheint nicht ganz angemessen, wenn in der Forschungsliteratur von Reziprozität zwischen Schreibenden und

2 3 4 5 6

Vgl. Belke 1973: 142. Vgl. Nickisch 1991: 216. Vgl. Nickisch 1991: 215f. Vgl. Althussers Brief an Derrida vom 21. 08. 1965. Baumann 1981: 106.

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Adressierten gesprochen wird.7 Eine als reziprok zu betrachtende soziale Bindung entsteht nicht zwangsläufig. Der Brief ist Ausdruck der Abwesenheit des Gegenübers, das nicht, wie im Gespräch, unmittelbar antworten kann. Briefe entstehen besonders aus dieser Abwesenheit heraus, man könnte es auch Defizit nennen, dass der andere nicht da ist.8 Neben dieser räumlichen Abwesenheit gibt es auch eine zeitliche Unterbrechung zwischen Brief und Antwort, manchmal gar keine Antwort. Der Brief wird in der Forschungsliteratur immer wieder mit dem Gespräch verglichen. „Seine [Walter Benjamins] Briefe sind Figuren einer redenden Stimme, die schreibt, indem sie spricht“, schreibt Adorno.9 Ist der Briefaustausch im Vergleich zum Gespräch „langfristig zerdehnt“10, wie Wellek schreibt? Wichtig festzuhalten ist, dass ein Brief zum Briefwechsel führen kann,11 aber nicht muss. Dem Briefwechsel muss auch kein persönlicher Kontakt vorausgehen. Es ist zum Beispiel denkbar, dass sich zwei Menschen erst durch Briefe überhaupt kennenlernen, sich also nie vorher begegnet sind. Ich werde den Briefwechsel deshalb hier nicht als Ersatz für das Gespräch betrachten, der Ausdruck ,Wechsel‘ scheint mir aber passend, da er die Möglichkeit der Aufeinanderfolge verschiedener Briefe unterschiedlicher Briefpartner einbezieht, dieser aber keine Kontinuität und noch weniger Abgeschlossenheit haben muss. Briefe können ausgetauscht werden, ohne ein zusammenhängendes und kohärentes Gespräch ergeben zu müssen. Zum Beispiel ist es in den von mir in meinem Dissertationsprojekt betrachteten Briefen üblich, dass das briefliche ,Gespräch‘ außerhalb der Briefe fortgesetzt oder auch zeitweise ganz unterbrochen wird. Wenn Briefwechsel zwar kein Gespräch ersetzen, so kommt in ihnen doch eine gewisse Dialogizität zum Ausdruck. „In letters, meaning is structured by interpersonal bonds: the I is defined in relation to the You whom he/she addresses. In short, the I/You relationship that governs epistolary discourse is both a form of self-(re)presentation and of dialogic interaction.“12

Ein Du wird, wenn auch nicht immer erreicht, so zumindest mit-adressiert. Dies mag ein grundlegendes Prinzip von Schrift sein, wird aber insbesondere in Briefen deutlich, die an eine bestimmte Person gerichtet sein können. Aber nicht nur das Du, sondern auch das Ich werden im Brief adressiert. Briefe vergegenwärtigen nicht nur ein Anderes, sondern auch dem Briefschreiber selbst kann 7 8 9 10 11 12

Wie beispielweise Dossena/del Lungo Camiciotti 2012: 5. Vgl. Vendrell Ferran/Wille 2012: 788. Adorno 1974: 129. Wellek 1970: 49. Vgl. Wellek 1970: 48. Dossena/del Lungo Camiciotti 2012: 4.

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Eigenes stärker vor Augen geführt werden. Briefe haben, mal stärker, mal weniger ausgeprägt, aber stets einen monologischen Aspekt. In ihm werden Reflexionen ausgetragen, die ein Gegenüber entstehen lassen, die aber vor allem von einem singulären Wesen in seiner Einsamkeit geschrieben werden. Es sind Vorstellungen, die den Anderen einbeziehen wollen, und es sind gleichzeitig Selbstreflexionen. „Zahlreiche Briefwechsel gleichen parallel geführten Selbstgesprächen“13, so Baumann. Ich möchte dazu einladen, Dialogizität und Monologizität bei der Analyse von Briefen nicht als absolute Parameter zu verstehen, sondern als Pole, die in unterschiedlichen Briefwechseln graduell verschieden ausgeprägt sind. Nur im Vergleich eines Briefwechsels mit einem anderen kann meines Erachtens von dialogisch oder monologisch wirkenden Briefen gesprochen werden. Dialogizität meint hier nicht nur, was Vendrell Ferran und Wille als Gegenteil des Traktats oder Essays betrachten, dass nämlich den Brief ein expliziter oder in seltenen Fällen impliziter Dialogpartner auszeichne.14 Dialogizität ist meiner Perspektive nach auch nicht lediglich Ausdruck für eine Textgattung, die einen expliziten Bezug zu einem Adressaten ermöglicht und voraussetzt.15 Noch grundlegender ist meines Erachtens, dass in der Dialogizität des Briefes ein spezifisches Verhältnis zu Zeit und Raum (zur Gegenwart in beiden Bedeutungen) offenbar wird. Zeit muss aufgebracht werden, um einen Brief zu schreiben. Ein Brief „bezeugte [für den Adressaten], dass man bereit war, Zeit für das schriftliche Gespräch mit ihm aufzubringen“.16 Der abgesandte Brief braucht notwendigerweise Zeit, bis er ein Ziel erreicht und er macht einen Ortswechsel durch. Ein im Büro hinterlegter Brief gilt noch eher als Notiz als ein abgesandter, knapper Zettel. Offenbar ist das Absenden, die räumliche und zeitliche Verschiebung, die im Briefverkehr stattfindet, notwendig dafür, dass wir von Briefen sprechen. Aus der Perspektive der Beteiligten betrachtend erscheint es mir angemessen davon zu sprechen, dass eine doppelte Vergegenwärtigung stattfindet. Der Empfänger erfährt ein Überraschungsmoment, wenn er einen Brief enthält. Die materielle Gegenwart des Briefs überrascht. Aber auch in anderer Weise kann man von Vergegenwärtigung sprechen. Das beschreiben Dossena und del Lungo Camiciotti, wenn sie annehmen, dass im Brief eine bestimmte Art der Sprache gesprochen wird: „Letter narrative […] is a language of gap-closing, of speaking to the addressee as if he/she were present“.17 Und auch der Empfänger sieht den Sender oder das, was er dafür hält, vor seinem geistigen Auge. 13 14 15 16 17

Baumann 1981: 106. Der Brief sei eine „Einladung zum Dialog“, Vendrell Ferran/Wille 2012: 789. Für Dialogizität als Textgattung vgl. Teichert 1990: 70. Am8ry 1976: 22. Dossena/del Lungo Camiciotti 2012: 5.

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Das Verhältnis von Raum und Zeit kann als Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz beschrieben werden. Auf materieller Seite rücken die Menschen durch das Erhalten von diesem Stück Papier im Umschlag zusammen, sie werden füreinander, durch Vermittlung, erreichbar, und sie bleiben einander gleichzeitig – körperlich – fern.18 Aus der Perspektive individueller Erfahrung kann das Gegenüber im Austausch von Briefen mir selbst sowohl nah als auch fern erscheinen. Auch zeitlich scheinen die Briefeschreiber miteinander verbunden, aber das, was ihnen wie ein Dialog erscheint, findet nicht zur selben Zeit statt. Und ich als Briefschreiberin bin gegenwärtig und abwesend zugleich. Adorno schrieb über Benjamin: „Der Brief war ihm darum so gemäß, weil er vorweg zur vermittelten, objektivierten Unmittelbarkeit ermutigt. Briefe schreiben fingiert Lebendiges im Medium des erstarrten Worts. Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben.“19

Adorno interpretiert die Briefe Benjamins als diejenigen eines Schriftstellers, der sich darin seinen Briefpartnern gegenüber eine Distanz reserviert. Trotzdem betont er seine Fähigkeit, dem Adressierten den Eindruck zu vermitteln oder ihm glaubhaft zu machen, er sei ganz in der Nähe, ganz lebendig. Interessanterweise entsteht hier der Eindruck der Lebendigkeit aus dem „Medium des erstarrten Worts“, das für Adorno die Schrift ist. Hierin wird eine gewisse Zuordnung und möglicherweise Abwertung eines Briefs als (bloßem) Ersatz für das Gespräch deutlich. Auch dass er vom Fingieren spricht, macht deutlich, dass die Schrift es – aus Adornos Perspektive betrachtet – nicht mit dem gesprochenen Wort aufnehmen kann und Lebendigkeit lediglich vortäuschen kann. Gerade wenn an Lyrik gedacht wird, scheint diese Perspektive zu kurz gegriffen. Nähe und Distanz sind mehr als nur ein Vortäuschen von Lebendigkeit. Sie sind Effekte der Schriftsprache, die ein bestimmtes Vertrauen oder auch eine Distanz herzustellen vermag. Aus der individuellen Empfängerinnenperspektive betrachtet lässt sich die Qualität eines Briefschreibers nur daran messen, wie vertrauensbildend seine Worte sich auswirken, also wie real das Gegenüber beim Lesen des Briefs erscheint. Hier gibt es einen Spielraum für Fiktion. Wenn ein Brief geschrieben wird, dann gibt es darin auch die Möglichkeit zu lügen. So wie Lügen oft ganz unhinterfragt Teil alltäglicher Konversationen sind – auf die Frage des „Wie geht’s?“ wird häufig mit einem schnellen und gelogenem „Gut“ geantwortet –, ist auch in Briefen die Grenze von dem, was in ihnen sagbar ist, dem, was gesagt werden soll, und dem, was nicht gesagt werden darf, unscharf, 18 Kann man aber diese Unterscheidung machen? Inwiefern ist der Körper nicht doch berührt, wenn ein Brief ihn in Wallungen zu versetzen im Stande ist? Oder ein Buch? Diese Frage verdient eine längere Auseinandersetzung an anderer Stelle. 19 Adorno 1974: 128.

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vor allem wenn die Forscherin diese Anteile im Nachhinein anhand eines Briefwechsels interpretierend zuordnen will. Vertrauen wird in Briefwechseln nicht nur geschaffen, sondern auch vorausgesetzt. Schon mit dem Absenden eines Briefes investiert der Sender Vertrauen, dass der Brief beantwortet wird und die Empfängerin sich die Zeit nimmt, ihn zu lesen. Der Brief kann missverstanden werden, er kann verloren gehen, er kann das Gegenüber enttäuschen. Für all das muss Vertrauen aufgebracht werden. Unsicherheiten müssen in Kauf genommen werden. An der Grenze für ein nicht enttäuschtes Vertrauen ist der nicht beantwortete Brief. Möglicherweise trifft zu, was Am8ry empfindet: „Nichts ist demütigender als das ins Leere gesprochene Brief-Wort“.20 Ich zitiere Granels Brief an Derrida vom Februar 1968: „Nochmal ich. Es ist törichterweise notwendig für mich, dass die Stille zwischen uns nicht zu lang anhält, auch wenn sie bloß durch ein hastig eingeworfenen ,Zettel‘ durchlöchert würde (da wir beide zwei in ähnlicher Weise ,geplagt‘ sind).“21

Das Warten auf briefliche Antwort, diese Stille kann als Unterbrechung und als Qual empfunden werden. Dieser Brief spricht davon, wie nach einiger Zeit des Briefaustauschs eine Erwartungshaltung entsteht, die nur durch weitere Briefe befriedigt werden kann. Die Unterbrechung des Briefwechsels wird dann als Verlust wahrgenommen und Briefe werden eingefordert – Granel spricht von „Notwendigkeit“. Die Grenze für den Briefwechsel ist das Nicht-Schreiben. Wenn wir nun zum zweiten Element dieser kurzen Untersuchung kommen, so lässt sich wie für den Brief auch für die Freundschaft die These aufstellen, dass ihre Grenze die Indifferenz ist. Dabei ist trotz dieser Investition an Vertrauen gar nicht gesagt, dass sich dieses dann in eine Beziehung der Achtung und in eine Wechselwirkung übersetzt oder dass sie sich ,auszahlt‘. Wie viel Achtung und Aufmerksamkeit eine Briefschreiberin ihrem Adressaten entgegenbringt, lässt sich meines Erachtens nicht messen. Baumann erkennt aber einige Faktoren, anhand derer sich diese Fähigkeit zur Einstimmung auf den Anderen im Brief einschätzen lässt. „Untrüglich erscheint in Briefen durchsichtig, wie weit ihr Verfasser mit seinem Adressaten rechnet, welche Achtung er ihm entgegenbringt. Stimmt er in seiner Ausdrucksweise sich auf ihn ein, versucht er ihm entgegenzukommen? Vermag er ihn zu vernehmen und geht das Hören dem Sprechen voraus? Es bildet stets eine kritische Probe, welche Bedeutung den Gegenbriefen zukommt.“22 20 Am8ry 1967: 23. 21 „Encore moi. J’ai stupidement besoin que le silence ne dure pas trop entre nous, f0t-il mÞme trou8 seulement par un ,billet‘ jet8 / la h.te (car nous sommes tous les deux ,harcel8s‘ semblablement).“ (Granels Brief an Derrida, 22. 2. 1968). 22 Baumann 1981: 106.

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Ich möchte im Sinne einer weiteren Forschung an einer Theorie des Briefs innerhalb der Philosophie und der Kulturwissenschaften vorschlagen, möglichst genaue Fragen an den Briefwechsel zu entwickeln, wie zum Beispiel: Antwortet der Briefschreiber auf jeden Brief ? Bezieht sich die Briefschreiberin auf Fragen oder thematisch auf vorangegangene, erhaltene Briefe? Schreibt sie verschiedenen Briefpartnern ähnliche Briefe? Es lässt sich ein Grad der Einfühlung nur interpretativ bestimmen, wenn darauf geachtet wird, ob im Vergleich verschiedener Briefwechsel derselben Autorin jeweils unterschiedliche Inhalte zur Sprache kommen. Es lässt sich also nur im Vergleich der verschiedenen Briefwechsel eines Autors oder einer Autorin davon sprechen, wie einfühlsam die Briefeschreiberin war. Jedoch sagt dies noch wenig aus. Manchmal fällt auch ein an die jeweilige Korrespondenz angepasster Schreibstil – ein Ton, eine Farbe oder eine Stimmung des Gesprächs – auf. Von daher allerdings auf ein größeres Vertrauen zu schließen, erscheint mir problematisch, da ein Brief nicht nur von einer Beziehung zeugt, sondern sie auch herstellt. Die Schreibenden sind sich ihres Schreibens durchaus bewusst und wollen unter Umständen ein bestimmtes Bild von sich geben. Briefwechsel zu interpretieren bedeutet im Gegensatz zur Interpretation anderer Texte grundsätzlich die Arbeit am Fragment. Briefe können zwar in ganzer Form erhalten sein, aber ganze Briefwechsel sind es selten. Briefwechsel sind wie (andere) unvollendete oder unedierte Texte nicht immer für die Veröffentlichung bestimmt worden – woraus sich auch forschungsethische Fragen ergeben können –, es fehlen häufig Briefe oder ganze Teile eines Briefwechsels und es besteht ein großer Teil der Arbeit der Forscherin darin, trotz der Lücken einen Briefwechsel zu rekonstruieren, sofern dies möglich ist. Deshalb ist meines Erachtens auch ein bestimmter Anteil der Forschungsarbeit die narrative Ergänzung, möglicherweise noch stärker als das ohnehin in wissenschaftlicher Arbeit gefordert ist, obwohl darüber nur selten offen gesprochen werden kann. Eine Arbeit an Briefen innerhalb der Philosophie muss sich daher, so argumentiere ich, den literaturwissenschaftlichen und den literarischen Anteilen der Philosophie gegenüber öffnen. Das Aufarbeiten eines Briefwechsels ist das Schaffen einer Erzählung, die bestimmte Schattierungen einer menschlichen Beziehung nachvollzieht und dadurch für die Leserinnen Wissen zusammenträgt, das dann – im Idealfall und wissenschaftskritisch gesprochen – einen Unterhaltungswert haben kann. Dies ist gerade nicht das Ziel wissenschaftlicher Arbeit, wenn man einem modernen Verständnis von Wissenschaft Glauben schenken will. Allerdings ist Wissenschaft auch immer an eine – schriftliche – Form gebunden und sie hat literarische Elemente. Für Teichert bezeichnet der Brief eine literarische Form der Philosophie, in der die Grenze von Philosophie

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und Literatur nicht klar auszumachen ist:23 Was, wenn der Briefeschreiber sich seinen Adressaten nur ausgedacht hat und die Briefe Lehrwerk für philosophische Leser sein sollten? Was, wenn der vermeintliche Dialog ein Monolog bleibt, oder allenfalls als diachroner Dialog mit imaginären Lesern zu bezeichnen ist? Inwieweit macht es für die Forscherin einen Unterschied, ob die Dinge, die in Briefen stehen, oder die Personen, an die sie sich richten, faktual oder fiktional sind?24 Diese Fragen müssen an dieser Stelle offen bleiben. Wer an Briefen forscht, hat daher mit diesen Unsicherheiten zu tun. Die Abwesenheit, von der anfangs gesprochen wurde, ist auch Teil der Forschung selbst, die an der Konstitution von Sinn arbeitet. Zusammenfassend hat es der Brief auf folgende Weise mit der Abwesenheit zu tun: Es gibt einen abwesenden oder uneindeutigen Empfänger, die Möglichkeit des Verlusts auf dem Transportweg, es gibt nicht immer eine Antwort und manchmal noch nicht einmal persönlichen Kontakt, und zudem ist Unmittelbarkeit hiernach scheinbar nur ein Effekt der Schriftsprache. Fast unmöglich scheint es, Vertrauen in einen solchen Brief zu setzen, wie Kafka beispielsweise beschreibt. Nachdem ich anfangs einige literaturwissenschaftliche Ansätze für eine Brieftheorie zusammengeführt habe, möchte ich diese philosophisch-literaturwissenschaftliche Lektüre am Gegenstand einiger in Briefen und Texten geäußerten Gedanken Derridas fortführen. In publizierten Texten wie Die Postkarte nähert sich Derrida auch fiktional dem Brief und hinterfragt die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Hierin scheinen echte Postkarten und Briefe veröffentlicht, aber Derrida lässt offen, ob diese auf einen realen Kontakt zurückgehen. Auch die folgenden Textstellen Derridas lese ich mit Fokus auf ein Interesse an den Fragen der Nähe, Distanz und Abwesenheit. In einem spezifischen Typ des Briefs stellt sich die Frage der Nähe und der Distanz besonders offensichtlich: bei der Kondolenz. Im Moment des Tods, beispielsweise eines Freunds, kann der Brief eine Möglichkeit sein, Präsenz und Materialität gegen die als abrupt empfundene Abwesenheit zu stellen. So wird in Beileidsbekundungen häufig der Brief gewählt, um Mitgefühl zu zeigen.25 In Derridas Briefwechseln finden sich einige Briefe, in denen der Tod eines Freunds betrauert wird. Am 23. Januar 2002 stirbt Pierre Bourdieu. Balibar thematisiert in einem Brief an Derrida die Frage des Teilens: „Ich frage mich mit wem ein wenig Trauer teilen bezüglich des Tods von Bourdieu, und ich sehe nur dich. Du musst das also akzeptieren, und daran zweifle ich nicht. Es ist nur

23 Vgl. Teichert 1990. 24 Vgl. die Überlegungen zu Seneca von Teichert 1990: 63, 71. 25 Es wäre zu überlegen, ob der Brief nicht gerade hier angemessen ist, da er eine Distanz schafft, die den Trauernden den Raum zur stillen Trauer lässt.

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eine ganz kleine Sache. Ich weiß, dass sein Verschwinden dich berührt, aber auch mich.“26

Mit wem teilt man den Schmerz? Wer ist der/die Auserwählte, den/die ich anspreche, in diesem Moment? Wer ist da, wenn aus Einsamkeit oder aus dem Gefühl oder der Erfahrung des Verlusts heraus Nähe gesucht wird? An wen will ich mich richten oder adressieren? Derrida stellt genau diese Frage in Bezug auf das Reisen: „Mit wem akzeptiertest du zu reisen? Das ist als ob man mich fragen würde: Akzeptiertest du geboren zu werden – oder zu sterben – mit diesem oder dieser, zu demselben Moment an demselben Ort? Zu sterben vor allem.“27

Derrida bringt die Fragen des Adressaten auch in Bezug auf den „Buchstaben“, Brief oder Texte im Allgemeinen auf: „,für wen?‘ soll heißen ,mit wem?‘, ,mit wem teilen?‘, ,mit welchem Adressaten?‘, ,angesichts welcher Adresse?‘ Frage der Reise, nicht wahr, Durchquerung des Briefs/Buchstabens/Schreibens [travers8e de la lettre].“28 Wer ist die Adressatin eines Briefes? Zweifelhaft ist hier also nicht nur, ob ein Brief jemals eine Adressatin oder einen Adressaten haben kann, sondern auch, dass es etwas Gemeinsames oder zu Teilendes gibt. Dennoch gibt es jemanden, an den oder die sich das Schreiben richtet. Ebenso gibt es in der Freundschaft einen Freund, und es gibt im Briefwechsel einen Adressaten. Derrida zufolge fragt dies schon Platon im Lysis, die Möglichkeit der Freundschaft betreffend: „Nicht ,Was ist die Freundschaft?‘ sondern: Was ist der Freund? Wer ist es? Wer ist er? Wer ist sie?“29 Das Gegenüber in der Freundschaft ist die Bedingung dafür, dass Freundschaft überhaupt stattfindet. Aber in Frage steht, ob in diesem Geleit, welches Derrida im Hinblick auf das gemeinsame Reisen, das Schreiben oder das Briefeschreiben benennt, auch eine Berührung möglich ist. Ist der Brief, zum Beispiel der des Beileids, mehr als die Bezeugung, also mehr als ein Zeichen oder ein Hinweis, ein Zeigen im Sinne Wittgensteins? Weiterführend kann hier die Beschreibung seines Briefs als Wink sein, die G8rard Granel, ein langjähriger Freund und Weggefährte Derridas, in einem seiner 26 „je me demande avec qui partager un peu de deuil / propos de la mort de Bourdieu et je ne vois que toi. Il faut donc que tu l’acceptes, et je n’en doute pas. Ce n’est qu’une toute petite chose. Je sais que sa disparition t’affecte, mais moi aussi.“ (Balibars Brief an Derrida, 05.02. vermutlich 2002). 27 „Avec qui accepterais-tu de voyager ? C’est comme si on me demandait : accepterais-tu de na%tre – ou de mourir – avec tel ou telle, au mÞme instant dans le mÞme lieu ? De mourir surtout.“ (hier Derridas Brief an Malabou, 1997, in: Derrida/Malabou 1999: 15). 28 „,pour qui ?‘ veut dire ,avec qui ?‘, ,avec qui partager ?‘, ,avec quel destinataire ?‘, ,en vue de quelle destination ?‘ Question de voyage, n’est-ce pas, travers8e de la lettre.“ (hier Derridas Brief an Malabou, 1997, in Derrida/Malabou 1999: 15). 29 Derrida 2002: 392.

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Briefe an Derrida benennt. Er grüßt Derrida auf folgende Weise: „Und an dich auch, nicht nur damit du weißt, was los ist, sondern auch als ein Zeichen (Wink) von einer extremen Einsamkeit zu einer anderen.“30 Wie der Kondolenzbrief wird hier der Hinweis auf eine Art der Teilung oder Mitteilung gemacht, aber auch betont, dass diese nicht mehr als ein Wink sein kann. So schreibt Granel, dass er trotz des brieflichen Kontakts ein Einsamer bleibt, der auf die Möglichkeit eines Winks hofft. Er bezieht sich, das wird darin sichtbar, dass er das deutsche Wort ,Wink‘ verwendet, auf Heidegger. Bei Heidegger geben Worte Winke „in das Wesen der Sprache“31. Ein Wink ist bei Heidegger nicht zwischen dem Du und dem Ich angesiedelt, sondern hat die Funktion, wie ein Wort zum „Wesen der Sprache“ zu deuten. Es geht Heidegger darum, sich diesem Wink fügen zu können. Im Gespräch mit einem Japaner schreibt er, als Fragender : „F [Heideggers Kürzel für den ,Fragenden‘] Um diesem Wink uns fügen zu können, müßten wir erfahrener sein im Wesen der Sprache.“32 „Winke und Gebärden“ kommen Heidegger folgend aus einem „ganz anderen Wesensraum“33 als der Metaphysik. Durch Erfahrung können wir vom Wink affiziert werden. Granels Brief betont diese dem Briefeschreiber eigentümliche Einsamkeit, aus der sich Zeichen absenden lassen, die sich aber, wenn wir den „Wink“ Heideggers bedenken, weder intentional und kontrolliert absenden noch eigentlich als Gabe eines anderen an den Empfänger erhalten lassen. Derrida fasst diesen von Granel in Abgrenzung zu Heidegger bezeichneten Wink in einem Brief an Blanchot noch etwas anders. Die Karten an Blanchot zeigen insbesondere die Qualität des Entfernten, der über die Distanz an die Freundschaft und die Nähe appelliert. So schreibt er zum Beispiel am 19. Juli 1995 aus London an seinen Freund Blanchot: „ich will sie vor allem um Entschuldigung bitten: die Seltenheit meiner Zeichen, ich werfe sie mir oft vor […] Aber ich denke immerzu an sie, ich höre ihnen zu, lese sie, spreche zu ihnen.“34 Seine Art des Schreibens an Blanchot in Form einer Postkarte sendet Zeichen aus, die von selbst ihr Sagen – ihre Bedeutungsmöglichkeiten – vervielfältigen. Sender und Adressat gehen hier verloren, könnte man sagen, zumindest in der Form, dass sie sich in einer einheitlichen Form beim Transfer übertragen lassen könnten. Dies spräche gegen Kommunikationstheorien, die Sprache als etwas verlustfrei Übermittelbares ansehen.35 30 „Et / toi aussi, non seulement pour que tu saches tout ce qui se fait, mais encore comme un signe (Wink) d’une extrÞme solitude / une autre.“ (Brief Granel an Derrida, 22. 11. 1968). 31 Heidegger 1985: 114. 32 Heidegger 1985: 146. 33 Heidegger 1985: 117. 34 „/ la veille de ce 20 Juillet, de Londres oF je suis venu pour un colloque, je veux surtout vous demander pardon : la raret8 de mes signes, je me la reproche souvent […] Mais je pense constamment / vous, je vous 8coute, vous lis, vous parle.“, Derridas Brief an Blanchot, zit. n. Antelme 2011: 8. 35 Hier wäre an das Kommunikationsmodell von Shannon/Weaver zu denken.

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Auf einen Brief kann es, wenn wir dieses ernst nehmen, grundsätzlich keine Antwort geben, da er ein „Wink“ aus einem anderen Wesensraum ist. Der langjährige Freund Derridas Granel schreibt ebendies in einem Brief, dessen Entstehung ich auf das Jahr 1987 schätze: „Man antwortet nicht auf ein Buch wie dieses, es sei denn man schreibt ein anderes darüber. Im Übrigen käme ,antworten‘ hier, für mich, dem ,r8pons‘ gleich (der andere Teil des Gesangs, der relance [die Wiederaufnahme] desselben Gesangs), denn ich komme hier auf nichts, das zur ,riposte‘ [Gegenschlag/-zug], ,r8plique‘ [Replik/Nachbildung/Antwort] aufruft, und schließlich finde ich in mir keine ,responsabilit8‘ [Verantwortung] – eine Fähigkeit auf das zu antworten und das zu verantworten was in Frage gestellt ist – abseits der deinen. Das was ich also nur gemacht habe, in dem Abend und der Nacht (günstige Stunden für den Geist), ist dir zu folgen, und zu bewundern.“36

Dir zu folgen und dich zu bewundern. Hier wird von Antwort gesprochen. Wie ein Buch, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt, kann der Brief auch die Verantwortung übersteigen, die die Antwort auf einen Brief bedeutet. Granel spricht davon, dass er Derrida folgen kann, ihn bewundern kann, was beides eine gewisse Distanz voraussetzt. Eine Antwort auf Derridas Buch könne er nicht geben, ohne ein neues zu schreiben. Hier wird meines Erachtens auch auf eine bestimmte Distanz zu sich aufmerksam gemacht, die ein Briefschreiber aufbringen muss, der die letzte Kontrolle über seinen Brief abgibt. Er muss sich von der Vorstellung lösen, dass er das, was er übermitteln will, auch übermitteln kann. Wenn in den hier vorliegenden Briefen wiederholt von der Unfähigkeit zu antworten gesprochen wird, schließen sie die Möglichkeit eines sich selbst kontrollierenden Briefschreibers, der einen Brief an ein anderes Subjekt schickt und Antwort erhält, aus. Es wird eine bestimmte Vorstellung des souverän handelnden Subjekts ausgeschlossen. Die Unabschließbarkeit eines jeden Briefwechsels, die die Schreiber wahrnehmen, wird von ihnen auch im einzelnen Brief beobachtet. Schon im Brief selbst stellt sich die Frage einer Abgeschlossenheit und die Frage, ob er – trotz Anfangs- und Schlussformeln – ein Ende haben kann. Derrida gibt in einigen Briefen Zeugnis ab von dieser als Unfähigkeit zu enden empfundenen Erfahrung. Derrida schreibt 1971 an Granel: „Ich kann diesen Brief nicht beenden. Du weißt, dass er sich fortsetzen wird. Zwischen uns; und öffentlich, wenn ich noch die Kraft habe zu arbeiten. Und ich will dich nicht 36 „On ne r8pond pas / un livre comme celui-ci, sauf / en 8crire un autre. Du reste ’r8pondre’ ici, pour moi, relHverait du ’r8pons’ (l’autre partie du chant, la relance du mÞme chant), car je n’y trouve rien qui appelle ’riposte’, ’r8plique’, et enfin je ne trouve pas en moi une ’responsabilit8’ – une capacit8 de r8pondre / et de ce qui est en question – autre que la tienne. Je n’ai donc fait, dans la soir8e et la nuit (heures propices / l’esprit), que te suivre, et admirer. “, Granels Brief an Derrida, ohne Datum (etwa 1987, da von Psych8 und De l’esprit die Rede ist, für deren Sendung er sich hier bedankt).

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auf meine ,Antwort‘ warten lassen. Noch auf das Zeichen meiner Dankbarkeit und meiner Freundschaft.“37

Freundschaft taucht hier durch das Zeichen auf, das der Brief gibt. Wenn das Zeichen aber als ein Wink zu verstehen wäre, wäre die Freundschaft etwas Gegebenes, das die Briefeschreibenden selbst nicht ganz unter Kontrolle haben. Um einer Antwort näher kommen zu können, wird um Aufschub gebeten, darum, eine konstante Antwort in Stücken vorbereiten zu können. Granel schreibt Oktober 1967 an Derrida: „Ich bitte dich daher um Gnade! Soll heißen, um das Recht, eine Art ,permanente Antwort‘ vorzubereiten, deren ,Stücke‘ ich dir über das Jahr hin senden werde.“38 Im Schreiben eines Briefs vergegenwärtigen sich die Briefschreiber hier etwas, das als die Unfähigkeit abzuschließen beschrieben wird. So sendet der Brief denn neben der Zeit (die vorausgesetzt wird) die Zeit in Richtung Zukunft aus, er eröffnet also eine zukünftige Dimension der Verantwortung. Die Briefeschreiber erlegen sich diese Verantwortung auf und die Hoffnung, eines Tages adäquat auf einen Brief antworten zu können. So eröffnet das Schreiben eines Briefs für den Briefschreiber einen neuen (Zeit-)Raum gegenüber der Adressatin, von der in der Regel eine Antwort erwartet wird, und gegenüber sich selbst eine offene Perspektive, die Möglichkeit zu neuen Briefen, die dann möglicherweise die Antworten geben könnten, die der Brief aus der hier von Derrida benannten Perspektive verfehlt. Es entsteht also eine Verbindlichkeit. Die ausbleibende Rücksendung wird dann trotz dieser Unabschließbarkeit als schmerzhaft empfunden und eingefordert, da die Erwartung einer Rück-Meldung entsteht, sobald jemand einen Brief schreibt. So fasst Granel: „Ich weiß, dass du nicht die Zeit hast, auf den letzten Brief zu ,antworten‘ – und das ist auch nicht absolut notwendig. Aber was notwendig ist, ist, dass ich um deine Freundschaft weiß und dass, was auch immer unsere Differenz ist, sie niemals in die Indifferenz abstürzt. Drei Zeilen reichen dafür aus.“39

Ein Brief kann eine Verbindlichkeit initiieren, die dann die Freundschaft bedingt. Der Brief setzt (phänomenologisch) „Vertrauen und die Bitte um Ver37 „Je ne peux pas finir cette lettre. Tu sais qu’elle se poursuivra. Entre nous; et publiquement, si j’ai encore la force de travailler [x, mit Hand]. Et je ne veux pas te laisser attendre ma ,r8ponse‘. Ni le signe de ma gratitude et de mon amiti8“, Derridas Brief an Granel, 04.02. ohne Jahr, geschätzt auf vor 1971. 38 „Je te demande donc gr.ce ! C./.d. le droit de pr8parer une sorte de ,r8ponse permanente‘, dont je t’enverrai les ,morceaux‘ au long de l’ann8e”, Granels Brief an Derrida, 20. 10. 1967. 39 „Je sais que tu n’as pas le temps de ,r8pondre‘ / ma derniHre lettre – et ce n’est pas non plus absolument n8cessaire. Mais ce qui est n8cessaire est que je sache ton amiti8, et que, quelle que soit notre diff8rence, elle ne retombe jamais / l’indiff8rence. Trois lignes y suffisent“, Granels Brief an Derrida, 27. 04. 1972.

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trauen“40 voraus. Es ist ein Vertrauensvorschuss vonnöten, um überhaupt Briefe zu schreiben. Auch wenn mein Gegenüber abwesend ist, schreibe ich. Ich kann, schreibe ich einen Brief, mein Gegenüber, seine Reaktion nicht sehen, etwas das im Gespräch Sicherheit gibt. Im Brief wird ein Anderer adressiert wie ein Toter (er ist aus einer anderen Zeit/an einem anderen Ort). So scheint es, als ob wir in der Korrespondenz immer von Gespenstern umgeben sind, als ob wir unser Miteinander nicht in der Form zweier Lebender erleben, sondern in Form des trauernd-gedenkenden Verweilens miteinander sind. Ergibt sich aber darüber hinaus ein tatsächlicher Kontakt mit den weit entfernten Briefpartnern? Vielleicht kann durch diese Art des (brieflichen, freundschaftlichen) Miteinanderseins, das eher ein Nebeneinander ist, paradoxerweise am besten Nähe aufrechterhalten werden. Und gerade wo der Freund abwesend ist, scheint es dringlich, sich durch Sprache oder durch das erneute Abgehen seiner Wege an den Freund zu erinnern. So zumindest berichtet es Derrida, der seinem Freund Blanchot auch nach dessen Tod noch in der Stadt Eze folgte: „Ich komme von Eze zurück, wo ich, wie letztes Jahr (wie immer) ich herumgeirrt bin, davon träumend in ihren Spuren zu laufen… Niemals verlässt mich ihr Denken. Ich lese sie und versuche, immer, zu behalten, was mir von ihnen her kommt – mit Dank, Leidenschaftlichkeit und Bewunderung.“41

Der Anruf würde hingegen mehr erfordern und auch vom Gegenüber mehr fordern. Deshalb wendet Derrida sich auf Umwegen an Blanchot: „da ich mich nicht traue sie anzurufen (mir manchmal auch vorwerfend, mich nicht zu trauen, dies zu tun), nehme ich den Vorwand dieser Reisen, um ihnen meine Grüße und Wünsche mitzuteilen [adresser].“42 Wie nah kann der andere kommen? Gibt es etwas Gemeinsames, das durch den Briefwechsel entsteht? Derrida hinterfragt diese Möglichkeit bezüglich des Reisens: „Weil ich dorthin zurückkommen werde, gehe ich nie fort auf eine Reise, ich gehe nie, ich entferne mich nie vom ,Zuhause‘, auch nur ganz wenig, ohne zu denken, mit Bildern, Filmen und orchestrierter Dramaturgie, dass ich vor der Rückkehr sterben werde.“43 40 Wellek 1970: 61. 41 „Je reviens d’Eze oF, comme l’an dernier (comme toujours) j’ai err8 en rÞvant de marcher dans vos pas… Jamais votre pens8e ne me quitte. Je vous lis et tente de garder, toujours, ce qui me vient de vous – avec gratitude, ferveur et admiration“, schreibt Derrida in einer Postkarte an Blanchot vom 08. 08. 1996, zit. n. Antelme 2011: 14. 42 „comme je n’ose pas vous t8l8phoner (tout en me reprochant parfois aussi de ne pas oser le faire), je prends pr8texte de ces voyages pour vous adresser des saluts et des vœux.“, Derridas Postkarte an Blanchot vom 04. 11. 1996, zit. n. Antelme 2011: 18. 43 „Car j’y reviendrai, je ne pars jamais en voyage, je ne vais jamais, je ne m’8loigne jamais de la ,maison‘, si peu que ce soit, sans penser, avec images, films et dramaturgie orchestr8e, que je vais mourir avant le retour.“, Derridas Brief an Malabou, 1997, Derrida/Malabou 1999: 15.

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Hier nochmal zur Erinnerung: Gemeinsam reisen wäre zur selben Zeit am selben Ort ankommen. Warum gesteht Derrida in einem öffentlichen, also von ihm publizierten, aber persönlichen Brief, dass er immer Zuhause bleibe? Es handelt sich nicht nur um ein persönliches Geständnis, sondern auch um einen mit der Absicht auf Publikation geschriebenen Text. Deshalb lässt sich diese Aussage auch philosophisch lesen. Derrida scheint hier von einer Subjektivität zu sprechen, von einem Einschluss in etwas, das daran hindert, mit jemand anderem am selben Ort zur selben Zeit zu sein. Hiernach müsste sterben, wer nicht immer wieder zu diesem Selben (Eigenen) zurückkehren wollte. Vielleicht ist dies ganz so zu nehmen, wie er es schreibt, und Derrida stirbt tatsächlich immer bevor er zurückkehrt; dann würde der Weg zum Ich-Werden hiernach immer über das Andere, das Abwesende, oder anders gesagt: den Tod einer bestimmten Form meiner Selbst führen. Es ist aber nicht bloß das Überleben meiner Selbst, das im Prozess der Identitätswerdung stattfindet. Auch bedeute das Erwachsensein das Überleben eines Nächsten. So schreibt er : „Das ist, seit ich Kind bin, die Quelle unermüdlichen Erstaunens vor dem, was ich wirklich nicht verstehen noch jemals akzeptieren werde: erwachsen sein, für mich, für das Kind, das ich bleibe, das ist fortzuleben oder neu anfangen zu leben nach dem Tod eines Nächsten.“44

Dies ist wiederum nicht bloß als Zeugnis zu nehmen, in dem Derrida über seine eigenen Erfahrungen spricht. Erwachsensein, eine bestimmte Identität als Erwachsener annehmen, das hieße auch etwas zu sein, was man selbst nicht ganz versteht. Es hieße mit diesem Widerspruch zu leben, dass die Abwesenheit von Sinn die Bedeutung des Lebens ausmacht. Die Freundschaft, über die Derrida im Folgenden berichtet, scheint darin zu bestehen, sich trotz und gerade wegen der Möglichkeit des Tods an jemanden zu wenden; „Wir sind auch hinaufgefahren nach Eze, von wo ich jeden Sommer eine Postkarte an Blanchot sende. Wissen sie, dass er dort gelebt hat, und meiner Gewohnheit nach frage ich mich jedes Mal ,Wird dies das letzte Mal sein, die letzte Karte?‘“45

Das Bild, das Derrida hier für die Freundschaft aufleben lässt, ist das des Einsamen, der Karten an den fernen Freund verschickt. Ist es der Versuch, Blanchot die Freundschaft in einer unmöglichen Geste zu beweisen? Und bleibt es bei der 44 „Depuis que je suis enfant, c’est la source d’un 8tonnement infatigable devant ce que vraiment je ne comprendrai ni n’accepterai jamais : Þtre adulte, pour moi, pour l’enfant que je reste, c’est continuer ou recommencer / vivre aprHs la mort d’un proche.“, Derridas Brief an Malabou 1997, Derrida/Malabu 1999: 29. 45 „Nous sommes aussi mont8s / Eze, d’oF j’envoie chaque 8t8 une carte postale / Blanchot. Vous savez qu’il y a v8cu, et / mon habitude je me demande chaque fois ’sera-ce la derniHre fois, la derniHre carte ?’“, Derridas Brief an Malabou vom 04. 09. 1997, Derrida/Malabou 1999: 56.

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Geste oder handelt es sich wirklich um Freundschaft?46 Liegt in der Geste der Adressierung, die keinen anderen Sinn hätte als die Adressierung selbst, die eigentliche Freundschaft/Sendung/Adresse Derridas? Warum ist die Freundschaft immer zugleich unmöglich und möglich? Warum bleibt der Briefwechsel unter Freunden stets unzureichend? Hierzu möchte ich abschließend noch einmal mit einem weiteren Text auf Derridas Kritik an einer bestimmten Vorstellung des Subjekts47 verweisen. Hier wird die Frage der Nähe und der Distanz in Bezug auf das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst gestellt. In einer Szene aus Das Tier, das ich also bin steckt eine Kritik der Sehfähigkeit des Menschen, ein Hinweis auf den blinden Fleck, den das Sehen, also auch jede theoretische Untersuchung der Freundschaft, hat. In dem bezeichnenden Titel Das Tier, das ich also bin notiert Derrida die Szene, wie er sich einmal nackt den Blicken seiner Katze ausgesetzt sah: „Scham weswegen und vor wem? […] Vor allem, so müßte ich präzisieren, wenn die Katze mich nackt von vorne (de face) beobachtet, von Angesicht zu Angesicht (de face/-face), und wenn ich vor (face aux) den Augen der Katze nackt bin, die mich von Kopf bis Fuß anblickt, ich würde sagen, just um zu sehen, ohne es sich nehmen zu lassen, ihren Blick, um zu sehen, im Hinblick auf ein Sehen, dem Geschlecht zuzuwenden.“48

Seine eigene Nacktheit in den Augen der Katze, die er sieht, lässt Derrida – im Umweg über das Sehen ihres Sehens – die Frage stellen wer er ist (oder wer ich ist).49 Er stellt fest, dass er nicht weiß wer er ist. Indem Derrida sich nicht nur vor seiner Katze, sondern auch vor seinen Leserinnen als affiziert präsentiert, bewahrt er seinem Schreiben die Note einer Unabgeschlossenheit. Damit unterscheidet er sich selbst von einer Philosophie, die das „kalkulierte Vergessen“50 sei, dass das Tier mich anblicken kann, dass ich also auch passiv bin, angestarrt von den Blicken des oder der anderen (das vor mir, nach mir, um mich ist). Für ihn gibt es in der Philosophie eine Kategorie von – wie er schreibt – hauptsächlich männlichen Denkern wie Kant oder Heidegger, die schreiben, „als ob sie nie von einem Tier, das sich an sie gewendet hätte (s’adress.t), erblickt worden wären, sie selbst, und vor allem nicht nackt“51. Für Derrida liegt die Herausforderung der Philosophie im Aushalten des Anblicks eines ganz Anderen: „Ja, des ganz anderen, das mehr anders ist als alles andere und das sie ein Tier nennen, zum Beispiel eine Katze, wenn diese mich nackt erblickt, in dem Augenblick, da ich 46 Was aber ist Freundschaft? Und wer könnte darüber Auskunft geben außerhalb ihrer? Wer könnte überhaupt über irgendeine Freundschaft berichten? 47 Hier von Subjekt zu sprechen geschieht nur unter der Annahme, dass Subjekt bei Derrida etwas ganz anderes meint als bei Descartes beispielsweise. 48 Derrida 2010: 21. 49 Vgl. Derrida 2010: 23. 50 Derrida 2010: 30. 51 Derrida 2010: 34.

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mich selbst präsentiere, ich mich ihr – oder eher in jenem seltsamen Moment, da ich, vor der Zeit, noch bevor ich selbst es will oder weiß, ihr passiv nackt präsentiert werde, noch bevor ich mich von einer Katze gesehen sehe.“52

Er findet sich in einer „Tierpassion“53 wieder, die ihm besonders deutlich werde, sobald er ungeschützt von Kleidung vor einer Katze steht. Gerade in solchen Momenten, betont er, werde ihm der „Blickpunkt des Anderen, […] diese absolute Andersheit des Nachbarn oder des Nächsten“54 bewusst. Durch die Augen eines völlig fremden Wesens scheint Derrida sich selbst besser zu sehen. Zu sehen, dass das, was er sieht nicht alles ist, und dass er von den auf ihn einfallenden Blicken eines Anderen abhängig ist, macht ihn zu jemandem, der besser sieht, oder aber, der das Gefühl hat, dass er besser sieht. Die Philosophen würden Derrida zufolge besser philosophieren, wenn sie ein wenig vergessen würden. Diese kurze Geschichte hat aber noch eine andere Dimension. Denn Derrida verdeutlicht darin, dass nur über Sehen sprechen kann, wer sieht und wer angesehen wird. Über Freundschaft ließe sich dasselbe sagen. Nur wer Freund ist und Freunde hat, könnte über Freundschaft sprechen. Gleichzeitig ist dieser Moment des Angeblicktwerdens wie die intensivsten Stunden unter Freunden entwaffnend. Das Schreiben über Freundschaft wäre da am besten, wo es nicht um die Freunde, sondern an die Freunde geht. Was Derrida hervorbringt, indem er sich schriftlich und öffentlichen Augen zugänglich in seiner Verbindung zu Toten oder ganz Anderen zeigt, ist eine gewisse Freundschaft mit uns, seinen Leserinnen. Er schlägt eine Brücke, die von den Gespenstern der Fiktion zu ihren lebendigen Lesern führt – in Form literarischer Freundschaft. In diesem Verständnis von Freundschaft ist Abwesenheit von Sinn notwendig für Beziehung. Was lässt sich aber über Briefwechsel unter Freunden sagen, die in schriftlicher Form verfasst sind, die aber anders als andere Texte explizit einen oder mehrere Adressaten ansprechen? Ist hier auch von einer rein literarischen Freundschaft zu sprechen? Lässt sich in Briefen nichts übermitteln als die Abwesenheit von Sinn? Briefe können als verwirrend, zerstreuend, aufbauend oder auch als das Herz erwärmend empfunden werden. Über Gefühle scheint ein Kontakt zwischen den Briefeschreibern möglich zu werden. Vielleicht ist dieser Kontakt allerdings nur möglich durch die Abwesenheit des Anderen. Durch einen Blick oder durch einen Brief kann man sich nahe kommen. So birgt vielleicht die Brieffreundschaft die große Chance, bei sich zu bleiben und Distanz zu halten, der oder die Abwesende zu bleiben, so Benjamin und Adorno, als auch das Gegenüber an die freundschaftlichen Gefühle zu erinnern. Aber wer kommt sich im Briefwechsel nahe, wer fühlt? 52 Derrida 2010: 31. 53 Derrida 2010: 31. 54 Derrida 2010: 30.

Gespensterbriefe

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Ich versuche auch beim Beobachten der Briefwechsel in meiner Dissertation die Frage zu einer Antwort zu führen: Wer ist der Autor? Ist er der, der schreibt, der sendet oder der adressiert wird? Autor ist sowohl der Antwortende, indem er Vertrauen voraussetzt, der Sender, da er handelt, der Adressat (der eigenen Briefe), da er sich über das Entblößen vor dem Anderen an sich selbst richtet und gleichzeitig nichts von alledem, weil es du und ich nicht anders gibt als im Hier und Jetzt und dass es nur aufgrund dieses Umwegs fortlaufend abgesandter Briefe an abwesende Andere ich und du und ein freundschaftliches wir geben kann. Die Sicherheit, dass es Freundschaft unter Briefeschreibern gibt, ist ein Effekt des Schreibens.

Literatur Adorno, Theodor W. (1974): Benjamin, der Briefschreiber. In: ders.: Noten zur Literatur IV, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 126–136. Am8ry, Jean (1976): Der verlorene Brief. Vom Niedergang einer Ausdrucksform des Humanen. Schweizerische Rundschau 75.9, 21–24. Antelme, Monique (Hg.) (2011): Cahiers Maurice Blanchot 1, Dijon: Les presses du r8el. Baumann, Gerhard (1981): Der Brief. In: ders.: Sprache und Selbstbegegnung, München: Fink, 98–112. Belke, Horst (1973): Literarische Gebrauchsformen, Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag. Derrida, Jacques (2002): Politik der Freundschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. – –(2010): Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen. Derrida, Jacques/Catherine Malabou (1999): Voyager avec Jacques Derrida. La contreall8e, Paris: La Quinzaine Litteraire. Dossena, Marina/Gabriella Del Lungo Camiciotti (Hg.) (2012): Letter Writing in Late Modern Europe, Amsterdam: John Benjamins Pub. Heidegger, Martin (1985): Unterwegs zur Sprache, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Kafka, Franz (2002): Briefe an Milena, Frankfurt am Main: Fischer. Nickisch, Reinhard M. (1991): Brief, Stuttgart: Metzler. Teichert, Dieter (1990): Der Philosoph als Briefeschreiber. Zur Bedeutung der literarischen Form von Senecas Briefen an Lucilius. In: Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 62–72. Vendrell Ferran, Ingrid/Katrin Wille (2012): Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60.5, 785–798. Wellek, Albert (1970): Witz, Lyrik, Sprache, Bern: Francke.

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Unedierte Quellen Brief von Althusser an Derrida, mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber und des IMEC (Institut M8moires de l’8dition contemporaine), Fonds Derrida, 21. 08. 1965. Brief von Granel an Derrida, mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Rigal, Marguerite Derrida und des IMEC, Fonds Derrida, 20. 10. 1967. Brief Granel an Derrida, mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Rigal, Marguerite Derrida und des IMEC, Fonds Derrida, 22. 11. 1968. Brief Derrida an Granel, mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Rigal, Marguerite Derrida und des IMEC, Fonds Derrida, 04.02., ohne Jahr, vermutlich vor 1971. Brief von Granel an Derrida, mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Rigal, Marguerite Derrida und des IMEC, Fonds Derrida, 27. 04. 1972. Brief von Granel an Derrida, mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Rigal, Marguerite Derrida und des IMEC, Fonds Derrida, ohne Datum, vermutlich 1987.

Cristian Alvarado Leyton

Leidensgemeinschaften und ,fiktive‘ Verwandtschaft als strategischer Essentialismus – die Abuelas de Plaza de Mayo

Leid ist ein wenig untersuchtes soziales Motiv für Beziehungs- und Gemeinschaftsstiftungen. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, wie geteiltes Leid als soziales Phänomen Menschen dazu bewegen kann, sich wechselseitig wiederzuerkennen und Beziehungen einzugehen, die sie verwandtschaftssprachlich gestalten – eine Handlung, die, so lautet meine These, Handlungsmacht in repressiven Gesellschaftskontexten generiert. Der Rekurs auf Verwandtschaftssprache kann als machtproduktive strategische Essentialisierung oder Naturalisierung fragiler Beziehungsverhältnisse von machtunterlegenen Menschengruppen verstanden werden, ohne dass das ,Strategische‘ auf eine bewusste Intention zurückgehen muss. Die Funktion der Ermächtigung dieser Essentialisierung liegt vielmehr in der nicht-intendierten existenziellen Leidenserfahrung der Subjekte begründet. Solche ,fiktiven‘ Verwandtschaftspraktiken befinden sich in der hegemonialen Verwandtschaftsethnologie mit ihrer biologistischen Illusion einer ,realen‘ Verwandtschaft bis heute am Rande der Aufmerksamkeit. Ihr erscheint diese andere Verwandtschaft als weniger ,real‘, was die weiterhin verwendeten Adjektive fictive, artificial oder pseudo anzeigen. Erst dank der fundamentalen reflexiven Kritik David Schneiders, der darlegte, dass der behauptete kulturfreie Begriff ,Verwandtschaft‘ biologistisch gefasst ist, Verwandtschaft als state of being denn als state of doing verstanden wird,1 erhöhte sich die analytische Wertschätzung von ,fiktiven‘ oder besser : rituellen und mimetischen Verwandtschaftspraktiken2 – eine Kritik, die die ErforscherInnen dieser anderen

1 Schneider 1984: 165f. 2 Vgl. Alvarado 2006: 26ff.; Alvarado 2007. Neben der Bluts- und affinalen Verwandtschaft existieren die beiden, meist ,fiktiv‘ genannten Formen funktional-beziehungsbegrifflicher Verwandtschaftspraxis, in der Menschen verwandtschaftliche Funktionen und Formen, wie z. B. ihre Terminologie, vollziehen. Dabei verweist rituelle Verwandtschaft auf deren Etablierung qua Ritus – etwa die Taufe –, während mimetisch jene Verwandtschaft bezeichnet, die ohne Einbeziehung von Riten erfahren wird.

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Verwandtschaftsformen3 längst geäußert hatten. Der umständliche Begriff ,Verwandtschaftlichung‘ ist diesem essentialistischen Verwandtschaftsbegriff geschuldet, der im Westen seit dem 19. Jahrhundert an Exklusivität gewann.4 Es ist Ziel dieses Beitrags aufzuzeigen, dass Leidensgemeinschaften ein ermächtigendes Symbol für Verwandtschaft manifestieren. Für die Diskussion dieses kaum erforschten Verwandtschaftsfaktors gehe ich zunächst auf die Abuelas de Plaza de Mayo ein, eine 1977 entstandene Vereinigung von Angehörigen der in der letzten Militärdiktatur Argentiniens (1976–1983) ,Verschwundenen‘. Anschließend wende ich mich jenen Leidensgemeinschaften zu, die in der Ethnologie und Geschichtswissenschaft mit shipmates bezeichnet werden, eine weitere Gruppe, bei der das Phänomen der Verwandtschaftsstiftung qua Leid aufgetreten ist: SklavInnen, die die transatlantische Deportation oder das Plantagenleben in Amerika zusammen erlitten haben. Ihre gemeinsame Diskussion soll die über den spezifischen Fall der Abuelas hinausweisende allgemeine verwandtschaftsstiftende Funktion geteilten Leides anzeigen, die in repressiven Gesellschaftskontexten Macht generiert. Schließlich deute ich eine solche Handlungsreaktion als ,strategischen Essentialismus‘, der Opfer gesellschaftlicher Gewalt gegen repressive Verhältnisse und Machtgruppen ermächtigen kann. Dies mündet in die Kritik einer Nahbeziehungsforschung, die nicht auf Verwandtschaft rekurrieren will. Zunächst werde ich darlegen, wie sich Abuelas als Institution geformt hat (I) und wie sich die Verwandtschaftssprache bei ihren Mitgliedern ethnographisch äußert (II). Der folgende Vergleich mit den Shipmates dient dazu, das Allgemeine an dem besonderen Fall der Abuelas wahrzunehmen (III). Abschließend gehe ich auf die gewonnenen Einsichten über die Bedeutung von Leid für soziale Beziehungen und von Verwandtschaftssprache für gesellschaftliche Machtkämpfe ein (IV).

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Abuelas de Plaza de Mayo

In Argentinien setzte nach dem Militärputsch am 24. März 1976 ein systematischer Staatsterrorismus mit neuartigen Gewaltformen ein. Massiv gingen die staatlichen Sicherheitsdienste gegen Menschen vor, die als Staatsfeinde galten. Zu den innovativen Gewaltpraktiken der Diktatur gehörte das systematisch 3 Die bestdokumentierten Praktiken sind Patenschaft, Adoption, Ziehkindschaft, Milchverwandtschaft, Blutsbrüderschaft, neben vielen lokalen Varianten wie mit (Nepal). Jede diese Praktiken weist rituelle und mimetische Formen auf. 4 Vgl. Williams 2014; Müller 1981: 90. Daher spreche ich in meiner Vergleichsstudie zu Patenschaften von ,verwandtschaftlichen‘ und ,verwandtschaftssprachlicher Beziehungsgestaltung‘, Alvarado 2006; im Englischen hat Signe Howell kinning bzw. to kin eingeführt.

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betriebene ,Verschwindenlassen‘ entführter Gefangener, was sich in dem seither berüchtigten Wort desaparecido verewigt hat. Die Anzahl der Verschwundenen wird heute von Menschenrechtsorganisationen auf 30.000 Menschen geschätzt.5 Zu den Verschwundenen gehören auch jene ca. 500 Menschen, die entweder als Kleinkinder mit ihren Eltern verhaftet und ,verschwunden‘ oder die in geheimen Haftlagern geboren worden sind. Die Vereinigung der Abuelas sucht diese Menschen seither, bis heute wurden 119 nietos – ,Enkel‘, wie sie in Argentinien genannt werden – lokalisiert, zuletzt im November 2015. Die Abuelas sprechen dann von der ,Restitution‘, wenn die geraubte Identität der Nietos nach ihrer Lokalisierung wiedererlangt wird, auch weil apropiadores, ,Aneigner‘, sie als eigene Kinder amtlich registriert haben. In dieser Vereinigung arbeiten neben den Großmüttern und anderen Familienangehörigen von Verschwundenen auch viele restituierte Nietos sowie Ehrenamtliche und einige wenige Personen, die keine Verschwundenen unter ihren Familienangehörigen zu betrauern haben. In diesem Beitrag thematisiere ich eine auffällige Qualität der Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Abuelas, die mir in meiner laufenden Feldforschung zum Restituierungsprozess von Nietos in Buenos Aires auffiel. Viele Mitglieder rekurrieren auf die Verwandtschaftssprache, wenn sie über andere Abuelas und Nietos sprechen, obwohl sie im biotischen Sinne nicht miteinander verwandt sind. Das gemeinsam Verbindende fast aller Mitglieder von Abuelas ist eine wenn auch konkret verschiedene, doch existenziell ähnliche Leidensgeschichte – die Entführung, Folterung und Ermordung nahestehender Familienangehöriger, ein unaufhebbares Leid, das ihr Leben bestimmt. Das Verschwindenlassen von Menschen nimmt den Angehörigen die Möglichkeit, ihren Tod betrauern zu können, weil die sterblichen Überreste der Verschwundenen vorenthalten werden, ein Leid, das durch Nichtwissen über ihr Schicksal verstärkt wird. Wie mir eine Großmutter6 im April 2015 sagte: Sie wüsste zwar, dass ihre 1978 entführte, damals 23-jährige Tochter ermordet worden sei, doch in einem kleinen Winkel ihres Herzens, wie sie es ausdrückte, hofft sie noch immer, ihre Tochter würde eines Tages vor der Tür stehen. Ihre erste Reaktion wäre dann aber nicht eine der Freude darüber, sie wieder in ihrem Leben zu haben, sondern Trauer über all die verlorene gemeinsame Lebenszeit, die ihr gewaltsames Verschwindenlassen bis heute bedeutet. Die Präsenz der Abwesenheit von Verschwundenen und das unaufhebbare Leid der Hinterbliebenen wurde in unzähligen testimonios dokumentiert. Viele Mitglieder der Abuelas schildern die Erleichterung, „alivio“, die sie in dem 5 Die ersten beiden Jahre der Diktatur weisen die meisten Opfer auf, über 2/3 von ihnen im Alter zwischen 16 und 30 Jahren, CONADEP 2008: 298–302. 6 Ich anonymisiere meine Gegenüber, außer bei Aussagen, die öffentlich getroffen wurden bzw. die explizit zur Veröffentlichung bestimmt worden sind.

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Zusammensein mit in ihrem Leid verwandte Menschen erfahren, fühlen sich doch viele wie wahnsinnig im Umgang mit ,normalen‘ Menschen. Schließlich könnten andere, denen ein solches Leid nicht widerfahren ist, kaum verstehen, was die ,irreale‘ Erfahrung des staatlich betriebenen Verschwindenlassens nahestehender Familienangehöriger bedeutet. Von Anfang an fanden sich Angehörige von Verschwundenen in den Gängen staatlicher Institutionen wie Kommissariaten, Gefängnissen, Gerichten auf der Suche nach ihren Verwandten wieder. Einige Frauen hatten die Idee, auf der Plaza de Mayo, dem Platz vor dem Präsidentenpalast zu demonstrieren, um mittels der Herstellung von Öffentlichkeit Druck auf die Junta auszuüben. Im April 1977 forderten Polizisten die versammelten Frauen auf, sie sollten sich bewegen, eine stehende Ansammlung von Personen käme einer verbotenen Demonstration gleich. Diese Begebenheit gilt als Geburtsstunde der Madres de Plaza de Mayo, der ersten Bewegung von Angehörigen der Verschwundenen. Die Ikone der ein weißes Kopftuch tragenden Mutter half, die Wertung ihrer Bitten um Aufklärung als lebensgefährlichen politischen Protest zu erschweren. Sie rekurrierten auf das in katholischen Gesellschaften hegemoniale Mutterbild, eine Rolle, die dem privaten und nicht dem politischen Raum zugewiesen wird. An dieser Gruppe der Madres und ihren ersten Bemühungen um eine Vernetzung der Angehörigen für den Informationsaustausch und eine systematische Vorgehensweise in der Suche nach den Verschwundenen nahmen auch Mütter teil, die nicht nur ihre eigenen Kinder suchten, sondern auch ihre Kindeskinder – Kleinkinder, die mit ihren Eltern mitentführt wurden oder die nach der Entführung geboren sein mussten, denn auch viele schwangere Frauen wurden entführt. Den ersten Berichten zufolge bildeten sich die Abuelas de Plaza de Mayo als eigenständige Gruppe von 12 Großmüttern aus den Madres heraus, als Cyrus Vance, Außenminister der USA, im November 1977 Buenos Aires besuchte und die Mütter ihm Petitionen an die US-Regierung überhändigen wollten. An diesem Tag bemerkten einige Madres, dass es mehrere Frauen gab, die auch ihre Enkelkinder suchten. Bis zu diesem Moment hielt es etwa die Gründerin der Abuelas Mar&a Isabel ,Chicha‘ Mariani (*1923), damals Schuldirektorin und Malerin, für unmöglich, dass es auch andere Fälle des Kindesraubes gab. Sie konnte sich die Grausamkeit nur schwer vorstellen, dass staatliche Sicherheitsdienste Kinder entführen und ihre Identität ändern oder schwangere Frauen, die gefoltert und vergewaltigt wurden, bis zur Entbindung am Leben halten, um ihnen dann das Kind zu nehmen.7 In diesem ersten sich Wiedererkennen fand ein wichtiger Effekt statt, eine Art Entzauberung, denn die Sicherheitsdienste haben das zugefügte Leid intendiert ,privatisiert‘, da staatlich zugefügtes Leid in Situationen der Straflosigkeit wie privates Unglück statt ge7 Gespräch mit Chicha Mariani, April 2014.

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sellschaftliches Unrecht wirkt8. Erst im Kontakt mit anderen Menschen, denen ähnliches widerfahren ist, konnte ihr Leid als politisch bedingtes erscheinen. Diese Frauen verabredeten, zusätzlich zu ihren Aktivitäten als Madres, regelmäßig eigene Treffen abzuhalten, stellten sich ihnen doch spezifische Problematiken. Die Suche nach verschwundenen Kleinkindern bedeutete etwa Waisenhäuser und Jugendgerichte aufzusuchen, mit fortschreitender Zeit aber auch über Möglichkeiten der Identifikation nachzudenken, weil die physische Erscheinung von Kleinkindern nur wenig Anhaltspunkte für ihr späteres Aussehen gibt, ein zu lösendes Problem, das sich immer drängender stellte, je mehr Fälle von in Haft geborenen Kindern bekannt wurden, über die nur wenige Informationen seitens Überlebender vorlagen. Auf Betreiben von Chicha Mariani begannen die Abuelas schon früh mit Auslandsreisen, um Kommissionen internationaler Organisationen und Einrichtungen wie Amnesty International um Hilfe in der Suche nach den „desaparecidos con vida“, wie die Nietos auch genannt werden, zu bitten. Mit dieser vielfältigen, extrem zeitintensiven Arbeit institutionalisierte sich die Vereinigung der Abuelas, unter vielerlei finanzieller und ideeller Hilfe ausländischer Institutionen, Regierungen und politischer Parteien. Arbeiteten sie zunächst in Caf8s, in denen die Abuelas so taten, als handelte es sich um ein Kaffeeklatsch älterer Damen, oder in privaten Wohnungen, ermöglichte ihnen die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland eine größere Diversifizierung ihrer Arbeit sowie Räumlichkeiten zu mieten und später zu kaufen. Heute umfasst die Vereinigung sechs Arbeitsbereiche,9 die sich auf drei Apartments und ein Gebäude auf dem ehemaligen ESMA-Gelände10 in Buenos Aires verteilen; dazu kommen fünf Filialen in anderen Städten Argentiniens. Auch wenn Straflosigkeit die Vergangenheitspolitik in Argentinien bis 2003 bestimmte, konnten die Abuelas wichtige politische Erfolge erreichen. So erwirkten sie, dass die Entführung von Nietos nicht amnestierbar ist und Apropiadores strafrechtlich verfolgt werden. 1987 wurde die Nationale Gendatenbank (BNDG) per Gesetz etabliert, die Blutproben der Angehörigen von Verschwundenen aufbewahrt. Seither sind alle lokalisierten Nietos dort zwecks Gentest vorstellig gewesen.11 Der dritte große Erfolg besteht in der 1989 verab8 Vgl. Reemtsma 1999: 26. 9 Diese sind: Öffentlichkeitsarbeit inkl. Veröffentlichungen, Genetik, Psychologie, Investigationen, Archivo Biogr#fico Familiar, „Spontane Präsentation“, eine Gruppe, die Erstgespräche mit Menschen führt, die glauben, sie könnten Nietos sein; außerdem verfügen Abuelas über ein Archiv mit Bibliothek. 10 Die Escuela de Mec#nica de la Armada (ESMA) war die Ausbildungsschule der Marine in Buenos Aires. Während der Diktatur wurden in diesem größten Folterzentrum des Landes viele Nietos geboren. 11 Die von Abuelas initiierte wissenschaftliche Innovation des sog. Großelternschaftstests, um Kinder trotz fehlender Elterngeneration identifizieren zu können, verstärkte den geneti-

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schiedeten UN-Kinderrechtskonvention, deren heute ,argentinische Paragraphen‘ genannte § 7 und 8 von Abuelas über Lobbyarbeit bei der nationalen Regierung und der UN-Kommission initiiert und wesentlich mitgestaltet wurden. 1992 folgte die Etablierung der CONADI, eine staatliche Einrichtung für die Suche nach den Nietos, die Hausdurchsuchungen und Gentests im BNDG anordnen kann, 2012 wurde ein staatsanwaltliches Dezernat mit ca. 25 MitarbeiterInnen zur Suche von Nietos und Strafverfolgung von Apropiadores und ihren Helfershelfern eingerichtet. Diese Auswahl zeigt, welch imposante gesellschaftliche Wirkmacht Abuelas entfaltet haben. Trotz ihrer Errungenschaften bedeuteten die zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur, insbesondere Carlos Menems Präsidentschaft (1989–1999), für die Angehörigen von Verschwundenen aufgrund der generellen Straflosigkeit eine ständige Wiederholung ihrer Unrechtserfahrung.12 Erst die Regierung N8stor Kirchners (2003–2007), der inmitten der fundamentalen Wirtschaftskrise mit nur 22 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, leitete eine radikale, von seiner Nachfolgerin und Ehefrau Cristina Fern#ndez de Kirchner (2007–2015) fortgeführte Wende in dem staatlichen Umgang mit der Diktaturvergangenheit ein, förderte er doch u. a. die Aufhebung der 1986 und 1987 erlassenen Straflosigkeitsgesetze.13 Wie gestalten sich nun die Beziehungen der Mitglieder der Abuelas?

schen Diskurs der Vereinigung. So sprechen sie von der ,wahren Identität‘ der Nietos, Eigenschaften einzelner Nietos werden als genetisches Erbe ihrer verschwundenen Eltern verstanden. Dieser essentialistische Diskurs wird nicht nur durch die Praxis mimetischer Verwandtschaft gebrochen, sondern auch durch das 1998 gegründete Archivo Biogr#fico Familiar. Es erhebt sozialwissenschaftlich Daten über das Leben der verschwundenen Eltern, die Nietos als Hilfe für die Restituierung ihrer Identität erhalten. Insofern versteht diese Einrichtung ,Verwandtsein‘ als state of doing, was die ArchivmitarbeiterInnen auch explizit äußern, Gruppeninterview April 2015. Abuelas wechseln daher zwischen verschiedenen Verwandtschaftssymbolen, ohne deren Widersprüche aufzulösen. 12 Rojas zeigt für Lateinamerika, „how the impunity granted to the perpetrators of violence and of state crimes is perceived as the reenactment of regimes of fear and terror in post-conflict settings. […] Impunity appears not only as the condition of possibility for the return of the fear and terror of the past; it is also a repeated violence in the sense that unpunished state crime is the reenactment of the crime itself “, Rojas 2008: 261. 13 Zur Vergangenheitspolitik im postdiktatorialen Argentinien s. Rauchfuss 2009; Kaleck 2010. Die neue konservative Regierung Mauricio Macris lässt Menschenrechtsgruppen eine Rückkehr zur Straflosigkeit erwarten, wie es aus ihren Stellungnahmen ersichtlich wird.

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Zur mimetischen Verwandtschaft einer Leidensgemeinschaft

In der Interaktion mit Mitgliedern von Abuelas oder der Lektüre ihrer Publikationen und Pressemeldungen fällt auf, dass sie sich als verwandt bezeichnen, verwenden sie doch untereinander nicht nur bestimmte Bezugs- und Anredeformen verwandtschaftlicher Terminologie, sondern beschreiben ihr Verhältnis auch semantisch als ein verwandtschaftliches, als eine Beziehung der Identität und solidarischen Loyalität. Abuelas sehen sich dabei als Großmütter aller Nietos, nicht nur der eigenen ,leiblichen‘ Nietos, und als Schwestern der anderen Großmütter. Nietos adressieren und beziehen sich aufeinander als Brüder und Schwestern, die Abuelas sehen sie als eigene Großmütter an. Freilich verläuft auch diese Verwandtschaftlichung nicht ungebrochen, einige Personen lehnen diese Praxis der Bedeutungssetzung ab. So sagte mir eine Interviewpartnerin, eine ehemalige Verschwundene, die lange für die Abuelas arbeitete, sie halte diese Verwandtschaftssprache für „propaganda“, es sei mehr ein so-tun-als-ob.14 Einigen Nietos, die aus unterschiedlichen persönlichen Motiven nicht im Kreise der Abuelas aktiv sind, ist eine solche Praxis fremd, wenn sie auch bezogen auf Nietos eine besondere Verbundenheit qua Lebenssituation äußerten. Insofern treffe ich eine Existenzaussage und behaupte nicht, die mimetische Verwandtschaft sei bei allen Abuelas, Nietos und weiteren Angehörigen von Verschwundenen ausnahmslos präsent oder gleich, was sich in postmodernen Zeiten vielleicht von selbst versteht. Die wahrnehmbare Präsenz verwandtschaftssprachlicher Beziehungsgestaltung unter den Mitgliedern von Abuelas ist aber so intensiv, dass sie eine unwillkürliche spezifische Sinngebung ihrer Beziehungen anzeigt, die dem geteilten Leid entspringt. Im Folgenden versuche ich, diese Präsenz der verwandtschaftssprachlichen Beziehungsgestaltung zu vermitteln. Schon früh dokumentierte sich die Verwandtschaftlichung der Beziehungen unter den Angehörigen von Verschwundenen in der Fremdwahrnehmung. Adolfo P8rez Esquivel, Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist, schrieb 1982 im Vorwort zum ersten Buch über die Madres de Plaza de Mayo: „esas mujeres salieron […] fortalecidas, pues tomaron conciencia de algo muy importante: que no eran solamente madres de un hijo, sino de todos los hijos, y que fflnicamente podr&an llegar a hacer algo uni8ndose, fotific#ndose [sic] mutuamente, para luchar por la vida de sus propios hijos y de todos los otros hijos“.15 14 Interview April 2015. 15 P8rez Esquivel 1983: 11; vgl. Belucci: „Whereas they [Mothers] first came out of their homes in search of their own children, they found that in order to defend their families, their search had to be broadened to include all of the disappeared. Thus, they widened the narrow

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Die Praxis, ,fremde‘ Nietos als eigene wahrzunehmen, setzte früh ein.16 Die Bezeichnung von Nietos als Nietos aller Abuelas ist heute auch Teil der institutionellen Sprache: In dem Erdgeschoss der Casa por la Identidad, dem Gebäude der Abuelas auf dem Gelände der ex-ESMA, ist eine Dauerausstellung zur Geschichte der Organisation untergebracht, die sich über mehrere Räume erstreckt und graphisch entlang der medial prominenten Restituierungen aufgebaut ist. Bei Victoria Donda – 2004 restituiert und erste Nieta, die nationale Parlamentsabgeordnete wurde – steht in der Bildunterschrift: „Cuando las Abuelas encuentran a un nieto es como si recuperaran al propio.“17 Als sich im Frühjahr 2015 ein Nieto das Leben nahm, ließ die Institution der Abuelas umgehend verlautbaren, dass sein Tod wie der Tod eines eigenen Enkels empfunden wird.18 Der Selbstmord des Nietos, der 2013 von seiner Identität erfuhr, führte zu einem sofort anberaumten Treffen des Leitungsgremiums der Abuelas und weiterer Mitglieder, wie ich aufgrund einer Interviewabsage an dem betreffenden Tag erfahren habe. In dem Treffen sei es darum gegangen, wie die Institution auf den Selbstmord reagiert, aber auch um sich gegenseitig Trost zu spenden und den Ort zu besuchen, an dem sich der Nieto das Leben nahm. Der Selbstmord erschütterte viele Mitglieder von Abuelas, auch weil er als späte Folge einer existenziellen Gewalt- und Leidensgeschichte gedeutet wurde. Wenn man sich vergegenwärtigt, was es bedeutet, Kinder und Kindeskinder oder die Eltern zu verlieren, nicht zu wissen, wo sie sind, in Berichten von Überlebenden zu hören, was das Militär mit den Gefangenen macht – sie zu foltern, vergewaltigen, demütigen, sie hungern und elendig sterben zu lassen oder sie lebendig im Meer zu versenken19 –, dann wird die radikale Leidenserfahrung der Mitglieder von Abuelas deutlich. Eine der Gründerinnen der Abuelas, Delia Giovanola, 1926 geboren, eine ehemalige Schullehrerin, erzählte mir, sie wäre lange Jahre nachts, schlaflos vor Sorgen und Gewaltphantasien über den Verbleib ihrer Angehörigen, in das Bad gegangen, hätte sich das Ende eines Handtuches in den Mund gestopft und stundenlang geschrien. Eine Vergegen-

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boundaries of blood relationships: ,Your cause is my cause, your child is my child‘ and vice versa.“, 1999: 84; s. a. Belucci 1999: 86. In einem Interview sagte Reina Esses 1996: „Every time we find a child it is as if I found mine.“ Antonia Segarra sprach 1993 davon, die Restituierungen seien „the result of much sacrifice“, doch dass jede einzelne „gives us so much happiness, I can barely describe how it feels. It is as if each child carries a little piece of us“, Arditti 1999: 92. Fotografiert im Oktober 2015; vgl. Alba Lanzillotto 2007: „Cuando se encuentra a un nieto es como si recuper#semos el propio.“, Abuelas o. J.: 132. Rosa Roisinblit, Vizepräsidentin der Abuelas seit 1989, spricht immer von „nuestros nietos“, s. etwa Bublik 2013: 94, 151. „As& como celebramos la restitucijn de cada nieto como si fuera la del propio, cada partida temprana nos duele intensamente“, Pressemitteilung Abuelas de Plaza de Mayo, 13. April 2015. Verbitsky 2006.

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wärtigung solcher Erfahrungen mag verständlich machen, was es für Opfer staatsterroristischer Gewalt bedeuten muss, andere Menschen zu kennen, die ähnliches erlitten haben.20 Elsa Pavjn, deren Tochter, Schwiegersohn und 1984 restituierte Enkelin im Mai 1978 im Rahmen des Plan Condor in Uruguay entführt wurden, sprach in mehreren Interviews davon, was für ein „alivio“, Erleichterung, sie erfuhr, als sie zum ersten Mal den anderen Großmüttern begegnete, denn endlich konnte sie jemand verstehen, sie war unter ihresgleichen. Sie begründete dieses Verhältnis damit, dass sie das gleiche Leid erfahren hätten – Kinder und Enkel beraubt worden zu sein – und auf der Suche nach ihnen vielfältigste Demütigungen und Gefahren ausgestanden zu haben.21 ,Draußen‘, in der Gesellschaft wurden die Verschwundenen beschwiegen. Delia Giovanola erklärte mir das mimetische Verwandtschaftsverhältnis der Mitglieder von Abuelas. Ihr Sohn und ihre im achten Monat schwangere Schwiegertochter wurden im Oktober 1976 ,verschwunden‘, seither suchte sie ihre Verwandten und den laut Augenzeugenberichten in geheimer Haft geborenen Enkel. Nach 39 Jahren Suche bestätigte der BNDG im November 2015, dass ihr in den USA lebende Enkel gefunden wurde. Delia Giovanola nahm als eine der ersten Frauen an den Demonstrationen der Madres de Plaza de Mayo teil und ist Mitgründerin der Abuelas. Auf die Frage, wie sie ihr Verhältnis zu den anderen Abuelas sieht, sagte sie mir, dass sie Schwestern seien, sie stünden in einem Verhältnis der Schwesternschaft. Dabei betonte sie, dass dies aber nicht intendiert gewesen sei: „Sin quererlo se establecij una hermandad, sin buscarlo, autom#ticamente la lucha junta, buscando nietos, porque por supuesto nadie busca su nieto porque si vos estas pidiendo datos […] cuando uno pide datos, no lo pide sobre el nieto de uno, puede ser el de cualquiera. Coincidij que hasta ahora en 38 aÇos el m&o no aparecij, pero no es que no se haya pedido, no se pide por un nieto determinado.“22

Sie begründete dieses Verhältnis der Schwesternschaft wiederholt damit, dass sie das gleiche existenzielle Leid erfahren hätten, Kinder und Enkel beraubt worden zu sein, ohne zu wissen, warum sie mitgenommen oder wohin sie gebracht wurden, sie gemeinsam entgegen vielfältigster Widerstände und Demütigungen zu suchen und die Bestrafung der TäterInnen zu fordern,23 entgegen aller 20 Siehe Arditti 1999: 87–92. 21 Interviews April 2014, April und Oktober 2015. Vgl. Amelia Herrera de Miranda: „I saw that others had gone through even worse things. I realized I was not the only one who was suffering. I said to myself: ,The best thing here is to struggle together. All these other women are also suffering, there are many of us.‘ And that gave me strength. […] We are united here by our problems, our pain, and our hope. When I was alone, I was lost.“, Arditti 1999: 88. 22 Delia Giovanola, Interview März 2015. 23 Schon in der ersten, von den Abuelas initiierten Monographie über ihre Geschichte schrieb Nosiglia 1985: „m#s all# de los #rboles genealjgicos es el sufrimiento, la bfflsqueda y el pedido

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Konflikte und sozialen Differenzen in der Gruppe24. Den Begriff hermandad erweiternd, sprechen Abuelas auch häufiger von ihrer ,Familie‘ Abuelas, die aus geteiltem Leid und der Suche nach den Verschwundenen entstanden sei25, eine Familie, die Abuelas und Nietos umfasst26. Diese Identität im Leid äußert sich nun auf vielfältige Weise in der Organisation, vor allem in der Solidarität, nicht nur den eigenen Nieto zu suchen. Wie Delia oben zu bedenken gab, könne sie in ihren Aktivitäten für die Abuelas ja nur alle Nietos suchen27 – eine Form generalisierter Reziprozität. Alle mir bekannten Abuelas haben nach der Restituierung ihrer leiblichen Enkel weiter dafür gearbeitet, die verbleibenden Nietos zu suchen28. Die Suche nach Nietos ist eine extrem anstrengende, zeit- und ressourcenaufwendige Tätigkeit, in der sie immer wieder mit unvorstellbarem Leid und Grausamkeiten konfrontiert werden. Zur Zeit der Diktatur war dies zudem lebensgefährlich, auch Madres ,wurden verschwunden‘, etwa Azucena Villaflor. Das geteilte Leid und kooperative solidarische Eintreten für die Restituierung aller Nietos mit strafrechtlichen Folgen für die EntführerInnen schafft eine Verbundenheit, die unter den Abuelas die Form mimetischer Verwandtschaft angenommen hat, wie es Delia

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de justicia lo que hermana a estas mujeres […] cada d&a que pasaba adquir&an una mayor conciencia, profundizaban su politizacijn, redondeaban sus criterios sociales y se convert&an en una suerte de hermandad, con una solidaridad entre sus miembros que […] abarcaba ya todos los hechos y experiencias por los que atravesaban diariamente sus vidas“, o. J.: 87, 108. Vgl. Bublik: „El espanto las arrancj de su cotidianeidad de amas de casa, docentes, obreras, trabajadoras de toda clase de oficios y profesiones. Muchas antes tan distintas, ahora tan iguales, confluyeron en una hermandad urgente e indispensable para llevar adelante su lucha.“, 2013: 109; s. a. Abuelas o. J.: 31. Vgl. Carmen Lorefice: „A veces gritamos, a veces nos enojamos, pero no llegamos a pelearnos. […] Nos ayudamos entre nosotras, estamos hermanadas por los 36 aÇos de lucha, nos queremos.“, Madres 2014: 162f.; Nora CortiÇas: „we began to join together to search for the reasons [of the disappearances] and to console each other. We weren’t united by political views or religious beliefs, but rather by the tragedy, the tireless search.“, Belucci 1999: 86. So sagt Berta Shubaroff in einem Dokumentarfilm, „Compartiste tanto con las Abuelas, todo una vida, una vida de, bueno s& de dolor pero tambi8n hemos disfrutado momentos. Creo que nos sentimos muy bien estando juntas. Yeste, s&, yo me siento como que es una familia m&a, y una familia importante“, eine Aussage, die anschließend von Jorgelina Pereyra wieder aufgenommen wird: „Y cuando queremos acordar, son treinte aÇos que estamos juntos y nos vemos y discutimos pero seguimos juntas, entonces es cierto, es una familia“, Bravo 2007: 47.41–48.05. Vgl. Abuelas über einen Nieto: „[8l] se integrj a una familia m#s grande, la de las Abuelas y nietos de Plaza de Mayo“, o. J.: 199. Für Mirta Baravalle, Mitgründerin der Madres und Abuelas, liegt darin auch ein Grund für die klassifikatorische Wahrnehmung der ,anderen‘ Nietos, wie sie in einem Interview sagte: „Las Abuelas nos juntamos en principio, quiz#s, por el ego&smo de encontrar al propio nieto. Pero despu8s sentimos que cada nieto era nuestro.“, Altamirano 2012: 51. Vgl. Arditti 1999: 88.

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im Vergleich mit einer ,normalen‘ Großmutter beschrieben hat, noch vor der Restituierung ihres Enkels: „no hay, no hay, yo no noto que en otra abuela comffln que no le haya pasado eso, hay muy pocas cosas en comffln, yo soy una abuela sin el nieto […] tienen una vida totalmente distinta a la m&a porque yo vivo en la bfflsqueda, y ellas viven en su lugar de abuelas, viven para sus nietos, esperando los nietos que vengan a la tarde, esperarlo al nieto que venga almorzar o al otro para llevarlo a la escuela o buscarlo de la escuela, yo no tengo ninguna actividad de esas, soy una abuela inactiva, soy una abuela ,desnietada‘ […] hay una hermandad entre nosotras, s& […] el objetivo comffln, la visijn comffln de bfflsqueda […] todas siguen en la bfflsqueda“.29

Diese wechselseitige Solidarität zeigt sich gut in dem Fall von Paula Logares, die 1984 restituierte Enkelin der bereits erwähnten Großmutter Elsa Pavjn. Sie wurde v. a. dank der aufopferungsvollen Suche von Chicha Mariani gefunden, eigentliche Gründerin und weichenstellende frühere Präsidentin der Abuelas, weil sie wesentlich zur Professionalisierung und Institutionalisierung der Vereinigung beitrug. Chicha Mariani wandte sich 1989 von den Abuelas aus persönlichen Gründen ab, doch führt sie mit den Großmüttern Elsa Pavjn und Mirta Baravalle die Suche nach den Nietos fort, beide folgten ihr aus persönlicher Loyalität. Diese Konstellation zeigt auf, wie selbst nach einem Bruch mit dem Kollektiv die verwandtschaftssprachliche Gestaltung von Beziehungen fortgeführt wird, da Elsa Pavjn in Chicha Mariani ihre Schwester sieht, sie sagte mir, Chicha „es mi hermana electiva“30. Als sie im September 2014 eine Ausstellung zur 1976 entführten Enkelin Marianis eröffnete, schilderte sie ihre Beziehung zu Chicha wie folgt: „No s8 si hay un v&nculo m#s grande humanamente que el de hermanos y con la seÇora Mariani nos hemos elegido como hermanas, nos queremos como hermanas, nos peleamos como hermanas, nos respetamos como hermanas y estamos una junto a la otra como hermanas.“31

Im Gespräch mit diesen drei Abuelas äußerten sie zwar immer wieder Kritik an der Institution, aber bezogen auf die meisten Abuelas ließ sich eine anhaltende persönliche Verbundenheit erkennen, was sich auch darin zeigte, dass ich wechselseitig immer beauftragt wurde, die jeweils anderen Frauen zu grüßen, mit Verweis auf die vielen gemeinsamen Erfahrungen und weiterhin geteilten allgemeinen Ziele. Auch aufseiten der Nietos findet die verwandtschaftssprachliche Beziehungsgestaltung statt, sie beschreiben Abuelas häufig als eigene Großmütter.32 29 30 31 32

Delia Giovanola, Interview März 2015. Elsa Pavjn, Interview April 2015. Municipio de Tandil o. J. Ezequiel Rochinstein, 2010 restituiert, sagte etwa auf einer Feier zum 38-jährigen Bestehen

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In der teilnehmenden Beobachtung öffentlicher Veranstaltungen, an denen Abuelas teilnahmen, konnte ich häufig wahrnehmen, wie Nietos, die heute ca. 35 bis 42 Jahre alt sind, in der direkten Interaktion mit Abuelas sehr zärtlich und liebevoll waren, körperliche Nähe suchten und sich bei ihnen einhakten, sie etwa beim Gehen stützten und sehr intim mit ihnen umgingen.33 Umgekehrt fühlen sich die Abuelas verpflichtet, allen Nietos zu helfen, ihren Einfluss geltend zu machen, damit sie ein Einkommen erhalten. Wenn sie nicht außerhalb der Abuelas arbeiten wollen oder können, erhalten sie über die Institution eine Lohnarbeit. Eine Nieta, die in einer staatlichen Institution einen schlechten Arbeitseindruck hinterließ, wurde dennoch wegen dieses Prinzips weiter unterstützt, wie mir eine Abuela sagte. Als ich zu Beginn meiner Feldforschung Delia um Hilfe bat, rief sie eine ,prominente‘, mir bislang unzugängliche Nieta an, die mir umgehend Kontaktdaten zu anderen Nietos gab und sich selbst für ein Interview bereit erklärte. Sie sagte mir, sie würde Delia sehr lieben und täte ihr gerne ein Gefallen,34 Zeichen einer Dankbarkeit gegenüber Abuelas, die Nietos oft äußern. Die Interaktionen zwischen vielen Abuelas und Nietos sind insofern von Vertraulichkeit, Solidarität und Hilfsbereitschaft charakterisiert.35 Präsenter noch in meinen Interview- und informellen Gesprächen sowie Erfahrungen teilnehmender Beobachtung mit Nietos waren die anderen Nietos, die als Brüder und Schwestern bezeichnet werden. Bei der letztjährigen Eröffnung des Teatro x la Identidad36 sagte Leonardo Fossati, einer der Nietos, der mittlerweile Mitglied des Leitungsgremiums der Abuelas ist, mit dem Arm auf andere Nietos zeigend, die mit ihm auf der Bühne waren: dies sind „mis hermanos que conoc& gracias a las Abuelas“ und dankte schließlich „en el nombre de mis hermanos“ den Abuelas dafür, ihnen die Möglichkeit gegeben zu haben,

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der Abuelas: „Cuando entr#s a Abuelas es como si fuera la casa de tus abuelas, te sent&s contenido, te sent&s incluido“, Anonymus 2015: 4. Vgl. Pedro Nadal: „Cuando estamos fuera de [la sede de] Abuelas, en la calle o en un viaje, necesito fijarme por djnde caminan, cjmo pisan. Son mis abuelas, quiero asegurarme de que suban con precaucijn las escaleras, al cordjn de la vereda, al auto, que no se lastimen. Hay que ayudarlas a abrirse paso entre la muchedumbre.“, Bublik 2013: 259. Interview April 2014. Arditti schrieb in ihrer auf Interviews und teilnehmender Beobachtung basierende Studie: „The pride and pleasure of the Grandmothers in being with them [Nietos] was obvious. Since most of the Grandmothers have not yet been able to identify their grandchildren, those who have been found are very special to them. The presence of these children reminds them of their successes, reassures them that their work is not a hopeless dream, and gives them confidence that other children will also be found. The youngsters seemed very much aware of that role as they moved among the various Grandmothers, asking about their work and their families, reflecting the intimate knowledge and bonds that exist among them.“, 1997: 4, meine Hervorhebung. Die Eröffnungsfeier des 15. Theaterzyklus am 6. Oktober 2015 wurde in einer Aufzeichnung auf TVP gezeigt (1. 11. 2015).

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zu wissen wer sie sind. Die Idee, Nietos seien Geschwister, war auch in zwei Interviews mit Pedro Nadal, einem erfolgreichen Medienunternehmer und 2004 restituiert, sehr präsent. Pedro ist ehrenamtlich für die Abuelas aktiv, übernimmt viele repräsentative Termine wie Schulbesuche oder Auftritte bei Festakten, aus Dank den Abuelas gegenüber, wie er mir in zwei Interviews sagte. Pedro sprach wiederholt davon, dass die anderen Nietos für ihn wie Brüder und Schwestern seien, schließlich wüssten nur sie, was es bedeutet, ein Nieto zu sein, eine Denkfigur, die sich hinsichtlich der Leiderfahrung auch bei den Abuelas findet, wie oben geschildert. Wann immer ein neuer Nieto gefunden wird und diese Person ihre Identität annehmen will, bieten sich Nietos an, ihnen bei der Wiedererlangung ihres entführten Lebens zu helfen: „En caso de los nietos, hasta que pasen el trauma y pasen todo, hasta que se establezcan, lo sent&s como hermano, jsea lo ten8s cerca, quer8s ayudarlo, estas ah& atr#s como un hermano, justamente, ¿no? ,¿Qu8 pasa?‘, ,¿Como te sent&s?‘, ,Me siento as&‘, ,A m& me paso lo mismo‘, o le doy acceder, ,Te pasa eso‘, ,¿A vos te pasj?‘ ,Si, me pasj y lo manej8 as&‘ […] Son como consejos muy valiosos, porque nadie vivij eso, y lo vas comunicando a medida que va sucediendo, d#ndolo al otro un poco herramienta. […] Hay algo que nos atraviesa a todos, algo comffln, s&. No te digo que somos todos iguales, pero grandes cosas s&. […] Los miedos que tienen, los miedos que, que va a pasar con tus apropiadores, miedo a, que va a pasar con su trabajo, que va a pasar con su correo electrjnico, que va a pasar con su nombre, con el auto que se compraron, con la casa, con el DNI [Personalausweis], con la partida de nacimiento, con los cr8ditos, las tarjetas, con la obra social, jubilacijn, con el CUIT [Steuernummer] […] que va a pasar con tus hijos, por los nombres, escuela, su bautismo“.37

Hier zeigt sich die existenzielle Situation, die alle Nietos teilen, wenn sie von ihren ermordeten Eltern erfahren und staatlicherseits eine zunächst fremde Identität annehmen müssen, ob sie wollen oder nicht. Alleine die Realisierung ihrer staatlich enteigneten Identität und der damit verbundenen Gewaltgeschichte ist kaum nachvollziehbar. Nietos sprachen mir gegenüber immer wieder über ihre Eltern und Imaginationen, wie sie die Haft und die Trennung vom Kind erlebt haben, von der Idee eines anderen Lebens, wären die Eltern nicht ermordet worden, mitunter auch von der Verstrickung der Apropiadores in das Verschwindenlassen und die Folterung der Eltern. Dazu kommen kafkaeske Verwaltungsakte und unzählige Erklärungszwänge gegenüber dem Umfeld und fremden Menschen, in der Lohnarbeit usw. Nietos reflektierten sehr häufig, inwiefern bestimmte Angstreaktionen oder überhaupt Verhaltensweisen auf die Gewaltsituationen der Entführung und Trennung von den Eltern rückführbar sind.38 37 Pedro Nadal, Interview September 2014. 38 Claudia Poblete könne wegen ihrer Eltern keine ehemaligen geheime Haftlager besuchen, Gespräch November 2015.

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Zu Beginn meiner Feldforschung lernte ich eine Nieta kennen, die gerade erst von ihrer Identität erfahren hat. Sie war sehr vorsichtig, gab bislang auch keine Medieninterviews. Dank der Vermittlung einer Nieta, die ich schon länger kenne, und der Versicherung, das Interview wäre für eine wissenschaftliche Studie, willigte sie ein, mich zu treffen. Im Laufe von 18 Monaten konnte ich sie drei Mal interviewen und darüber befragen, wie ihr Prozess der ,Restitution‘ für sie ist. Dabei war ihr immer wieder wichtig, mich auf Manuel GonÅalves hinzuweisen, einen weiteren Nieto aus dem Leitungsgremium der Abuelas, der ihr zur Seite steht, sie zuhause besucht oder bei bestimmten Anlässen begleitet und ihr mit Gesprächen hilft, weil er aus eigener Erfahrung wüsste, was sie gerade erleben würde. Ein ,neuer‘ Nieto erhält aus der Gruppe der Nietos das Angebot, von einem Nieto ,betreut‘ zu werden. Da sie sich durch Zufall schon vor ihrer beider Restitution kannten, bot er sich ihr an. Sie erzählte mir, dass die Nietos eine Whatsapp-Gruppe unterhalten, in der sie sich gegenseitig informieren, wie ich es am Tag der Bekanntgabe des positiven BNDG-Test für den Nieto Delia Giovanolas selbst erleben konnte, und dass es regelmäßig private asados und „asados de bienvenida“ für die ,neu restituierten‘ Nietos gebe, Grillfeste als „ritual de encuentro“,39 ein klassisches Familienereignis an Sonn- und Feiertagen, zu denen nur die Nietos mit ihren Familien und Abuelas kommen dürfen, was mir auch Pedro und Claudia schilderten. Diese Treffen sind für die interviewte Nieta sehr wichtig, wie sie sagte, da sie dort unter Menschen sei, denen sie nichts erklären müsste und die um ihr Leid ohne Worte wüssten.40 Tatiana Sfiligoy, eine der ersten restituierten Nietos und lange als Psychologin für die Abuelas tätig, schildert den Effekt einer jeden neuen Restituierung wie folgt: „Sin conocernos en profundidad, sin que seamos todos amigos, tenemos un sentimiento fraternal que se renueva cada vez que aparece un nuevo nieto“.41 Der wechselseitige Gebrauch der Verwandtschaftssprache unter den Mitgliedern der Leidensgemeinschaft von Abuelas und Nietos ist, wie erwähnt, weder ungebrochen noch ausnahmslos, doch ihre kontinuierliche massive Präsenz verlangt nach einer Erklärung. Wie kann die beobachtbare Praxis interpretiert werden, dass sich Abuelas und Nietos als verwandt bezeichnen und Praktiken vollziehen, die mit Verwandtschaftswerten wie Loyalität, Solidarität, generalisierte Reziprozität assoziiert sind? Hier vermag zunächst ein Vergleich 39 Abuelas o. J.: 184; für die Beschreibung eines solchen asado de bienvenida s. Abuelas o. J.: 199. 40 Vgl. die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Juan Cabandi8 über sein Kennenlernen eines anderen Nietos: „,Sent& un alivio y una contencijn muy grande, porque era alguien que hab&a vivido lo mismo que yo.‘ Juan se siente hermanado con el resto de los nietos recuperados.“, Abuelas o. J.: 184. 41 Abuelas o. J.: 184. Laut dieser Quelle hätten die asados in ihrem Haus begonnen, leider ohne Zeitangabe, doch spätestens seit 2004, vgl. Abuelas o. J.: 184.

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helfen, den Blick auf den spezifischen Verwandtschaftsfaktor ,geteiltes Leid‘ ethnologisch zu schärfen. Erst wenn deutlich wird, dass auch in anderen Leidensgemeinschaften Beziehungen untereinander verwandtschaftlicht werden, eröffnet sich die allgemeine soziale Qualität dieser Praxis.

III

Andere Leidensgemeinschaften und mimetische Verwandtschaft

Da es mir hier darum geht, die bislang unterschätzte Bedeutung geteilter Leiderfahrungen für Mensch und Machtverhältnisse aufzuzeigen, gilt es, ihre „Manifestationen“ zu vergleichen, um sich der zugrundeliegenden „Vorstellung“ anzunähern.42 Der folgende explorative Vergleich mit anderen Leidensgemeinschaften wie der der shipmates könnte hoffentlich systematische Vergleichsstudien von Manifestationen der Vorstellung ,Leidensgemeinschaft‘ motivieren, um gemeinsam erfahrenes und geteiltes Leid als einen Beweggrund für Verwandtschaft jenseits von Deszendenz und Heirat zu etablieren. Der Begriff ,Shipmates‘ bezeichnet Beziehungen von SklavInnen und ihren Nachkommen, die aus gemeinsamen Leiderfahrungen heraus entstanden sind, unter denen die transatlantische Deportation von Afrika nach Amerika und das Leben auf den Plantagen hervorstechen. Angesichts der sozialen Situation von SklavInnen: ihrer Verwandtschafts- und Sozialgruppen beraubt und unter unmenschlichsten Bedingungen wochenlang in eine unbekannte Region deportiert worden zu sein und wie ein Ding behandelt zu werden, waren Shipmates die einzigen, mit denen eine soziale Beziehung erfahren werden konnte. In der Forschung wird unter ,Shipmates‘ die ,fiktive‘ Verwandtschaftsbeziehung zwischen SklavInnen und ihren Nachkommen gefasst, welche von dyadischen bis hin zu kollektiven Beziehungen reicht, sich mitunter über mehrere Generationen erstreckt und auch ein Inzestverbot aufweisen kann. Erstere drücken sich in Begriffen und Praktiken von Geschwisterschaft aus, d. h. Shipmate wird synonym mit den Begriffen ,Bruder‘/,Schwester‘ gebraucht, letztere in denen der Abstammung, sodass etwa Kinder die Shipmates ihrer Eltern ,Onkel‘/,Tante‘ nennen oder die Kinder von Shipmates als eigene gelten.43 Soweit ich sehe, findet sich die erste Erwähnung der Shipmate-Bande in Bryan Edwards’ 1793 erschienenen Geschichte der westindischen Inseln. Schon Edwards hob zweierlei hervor: das gemeinsam erfahrene Leid als Basis der Beziehung und die exklusive Qualität der Beziehung im Vergleich zu anderen.44 42 Vgl. Devereux 1992: 117; Alvarado 2006: 15ff. 43 S. Mintz/Price 1992: 43; Hawthorne 2008: 55f. 44 „[Slavery] is a situation that necessarily suppresses many of the best affections of the human

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Im 20. Jahrhundert hat insbesondere Sidney Mintz die Bedeutung der ShipmateBande für die soziale Organisation afroamerikanischer Menschen hervorgehoben. Trotz vielfältiger, auch terminologischer Differenzen45 hätte sich in Surinam etwa „the essential notion of fellow sufferers who have a special bond“ erhalten.46 Mintz und Price gehen soweit zu konstatieren, dass „the ,shipmate‘ relationship became a major principle of social organization and continued for decades or even centuries to shape ongoing social relations“.47 Sie sehen die entscheidende Bedeutung der Shipmate-Bande darin, dass dyadische Beziehungen, unter denen die Shipmate-Bande „the most striking example“ sei, die ersten „simple but significant cooperative efforts“ von Menschen darstellten, die ihrer Sozialstrukturen beraubt wurden, und so die Matrix für die Gestaltung neuer Sozialbeziehungen etablierte.48 Bis heute hat sich der ,symbolische Inhalt‘ in Surinam erhalten, denn wenn „two people find themselves victims of a parallel misfortune […], they thenceforth may address each other as ,sibi‘ and adopt a special prescribed mutual relationship“49. Dort ist die shipmate-Bande in verwandtschaftssprachlich verfassten Dyaden aufgegangen, die heute auch Freundschaften nobilitieren können – eine Bewegung, die ebenso für andere Typen ,fiktiver‘ Verwandtschaft dokumentiert wurde (s. u.). Auch Besson, die in mehreren Feldforschungen zwei Gemeinden ehemaliger SklavInnen in Jamaika untersucht hat, sieht die Shipmate-Bande als Matrix der sozialen Organisation afroamerikanischer Bevölkerungen an. Besson führt aus, wie ehemalige SklavInnen qua Shipmate-Bande ein verwandtschaftliches Beziehungsnetz etablierten, das sich mit der Zeit in konsanguinale und affinale Beziehungen übersetzte und durch die Maximierung verwandtschaftlicher Bande charakterisiert sei.50

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heart. – If it calls forth any latent virtues, they are those of sympathy and compassion towards persons in the same condition of life; and accordingly we find that the Negroes in general are strongly attached to their countrymen, but above all, to such of their companions as came in the same ship with them from Africa. This is a striking circumstance: the term shipmate is understood among them as signifying a relationship of the most endearing nature; perhaps as recalling the time when the sufferers were cut off together from their common country and kindred, and awakening reciprocal sympathy, from the remembrance of mutual affliction. But their benevolence, with a very few exceptions, extends no further.“, Edwards 1793, Bd. 2: 73. Shipmates heißen in Brasilien malungo, in Trinidad malongue, in Surinam m#ti, sipi, sibi, in Haiti b.timent, in Costa Rica carabela, Mintz/Price 1992: 44; Hawthorne 2008: 73, Fn. 10. Mintz/Price 1992: 43f. Mintz/Price 1992: 43. Mintz/Price 1992: 43; s. a. Martin 1988: 259f.; Besson 1995: 190, 192. Mintz/Price 1992: 44; ähnlich Oostindie/Stipriaan: „two terms [are] still used today to symbolize kinship and/or friendship […] One variant, sipi (ship), is adopted by two people who have had similar misfortunes or traumatic experiences; the other, mati (mate), may refer to a special friend“, 1995: 88. „[The] shipmate bond […] included the creation of fictive kinship ties, including the incest

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Hawthorne hat aufgrund einer hervorragenden Quellenlage das Leben von SklavInnen verfolgen können, die 1821 von Lagos aus deportiert wurden.51 Das Schiff Emilia wurde von der britischen Marine ob des verbotenen Sklavenhandels aufgetan und schließlich nach Brasilien gebracht. Nach über drei Monaten auf See waren sie zwar de jure freie Menschen, doch mussten die ehemaligen SklavInnen, meistenteils Yoruba, eine 14-jährige ,Lehrzeit‘ absolvieren, bis sie ihre vollen Bürgerrechte erhalten konnten. Damit waren sie de facto Sklaven, die zwar einen geringen Lohn erhielten, aber ihren ,Arbeitgebern‘ ausgeliefert waren. Hawthorne kann nun u. a. anhand von Beschwerdeschreiben und Petitionen ehemaliger SklavInnen, die auf der Emilia nach Rio gebracht wurden, zeigen, dass sie über 14 Jahre im Kontakt geblieben sind. Sie versuchten gemeinsam, ihre rechtliche Freiheit vorzeitig zu erringen, einer von ihnen, nachdem sein Arbeitgeber starb, setzte sein Geld dafür ein, 59 Shipmates die Passage zurück nach Afrika zu kaufen. Hieraus schließt Hawthorne, dass diese verwandtschaftlich gestaltete Shipmate-Bande ehemaligen SklavInnen in einer Apartheidsgesellschaft eine besondere Handlungsmacht ermöglichte.52 Die vorliegenden Quellen zu den Shipmates zeigen daher, dass auch in dieser Leidensgemeinschaft eine verwandtschaftsartige Beziehung entstanden ist, über die kollektive Handlungsmacht generiert wurde. Zur Komplettierung dieses explorativen Vergleichs von Leidensgemeinschaften sei abschließend nur darauf verwiesen, dass sie sich komplementär zu Gemeinschaften verhalten können, die anderen Leid zufügen. Gemeinsam erfahrenes Leid kann also nicht nur ,passiv‘, sondern auch ,aktiv‘ die Folge einer verwandtschaftssprachlichen Gemeinschaftsstiftung aufweisen.53 Im Falle der Abuelas ist es etwa auffällig, dass in mehreren Fällen diejenigen Personen, die in Haftlagern Menschen folterten und ermordeten und Nietos ihren ,Apropiadores‘ übergeben haben, später zu ihren Taufpaten wurden.54 Da über deren Beziehung nur wenige Daten existieren, lässt sich zumindest festhalten, dass in diesen

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taboo. Such fictive kinship therefore was the very basis of the new African-American slave cultures, and the consolidation of kinship and marriage systems became a central theme in the culture-building of the slaves.“, Besson 1995: 187, s. a. Besson 1995: 193. Schon Mintz/ Price haben darauf verwiesen, dass Shipmatebeziehungen „could extend beyond the original shipmates themselves and interpenetrate with biological kin ties“, 1992: 43. Hawthorne 2008. Vgl. Hawthorne 2008: 66ff., 71. Sofsky schreibt über die Beziehung von an einem Massaker beteiligten Mördern: „Das Massaker ist die soziale Antistruktur par excellence, eine emotionale Gemeinschaft jenseits aller Moral. […] Das Blutbad schafft soziale Gleichheit und Gefährtenschaft. Die Solidarität der Mordbrenner beruht nicht auf dem Prinzip des Helfens und Teilens, sondern auf dem Erlebnis gemeinsamen Tötens. […] Das Kollektiv ist eine negative Communitas, ein Brüderbund der Destruktion, zusammengeschweißt durch die Bande der Grausamkeit. Das Blutfest verschafft den Tätern eine neue gemeinsame Identität.“, 2005: 188f. Dandan 2012.

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Fällen geteilte Täterschaft in ein verwandtschaftssprachliches Beziehungsverhältnis überführt wurde. Systematische Vergleichsstudien von Leidensgemeinschaften könnten daher wichtige Einsichten in die Erfahrung geteilten Leides als Beweggrund für Beziehungsstiftungen erbringen, die nicht nur für das Verständnis postdiktatorialer Gesellschaften zentral sind.55 Wie ließe sich nun die Parallelität der verwandtschaftsstiftenden Funktion einer Leidensgemeinschaft bei Abuelas und Shipmates als zwei „Manifestationen“ einer „Vorstellung“ hinsichtlich konkreter gesellschaftlicher Machtverhältnisse deuten?

IV

,Fiktive‘ Verwandtschaft als strategischer Essentialismus und Macht

Beide Fälle von Leidensgemeinschaften, die qua geteiltes Leid in verwandtschaftssprachlich gefasste Beziehungsverhältnisse treten, sind m. E. Beispiele dafür, was Gayatri Spivak den Einsatz „strategischer Essentialismen“ nennt. Die Idee einer kollektiven Identität, die auf einer wesensmäßigen Verbundenheit beruhe, diene dazu, Intradifferenzen und Konflikte zugunsten der Machtentfaltung als geeintes Kollektiv hintanzustellen, auch weil diese kollektive Einigung Handlungsmacht ermögliche. Spivak plädiert dafür, Essentialisierungen von sozial unterlegenen bzw. unterdrückten Interessengruppen wie ArbeiterInnen oder Frauen als machtnotwendige anzusehen, „as a strategic use of positivist essentialism in a scrupulously visible political interest“56, auch wenn dies eine Ausnahme aus der dekonstruktiven Kritik jedweden ,Wesens‘ bedeutet. Leider hat Spivak ihre für heutige diskriminierte Identitäts-/Bewegungen analytisch wichtige Einsicht theoretisch nicht ausgeführt. Die diskutierten Praktiken mimetischer Verwandtschaft von Menschen in Leidensgemeinschaften interpretiere ich als Essentialismus, orientiert sich ,Verwandtschaft‘ doch an der Vorstellung eines geteilten ,Wesens‘, ob durch das Teilen von Substanzen wie Samen, Blut, Milch, Nahrung und Gaben symbolisiert oder, wie in dem Fall der Leidensgemeinschaft, durch das Teilen existenzieller Erfahrungen. Bei den Mitgliedern der Abuelas habe ich gezeigt, wie sie blutsverwandtschaftliche Begriffe der Filiation und Geschwisterschaft verwenden (Großmutter, Enkel, Bruder, Schwester) und sich wechselseitig unterstützen. Trotz Dissens, Streite und großer sozialer Intradifferenzen, die auch öffentlich 55 Die Studie von Freud/Dann 1951 über das radikal gruppenbezogene Verhalten von sechs Kleinkindern, die Theresienstadt überlebt haben und nach Kriegsende in einem Landhaus versorgt wurden, ist hier besonders wichtig. 56 Spivak 1987: 205.

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und in Interviews anerkannt werden, erfolgt ein gemeinschaftliches kooperatives Handeln, das entgegen anhaltender Widerstände beeindruckende Errungenschaften erzielt hat. Wenn der Dissens überhandnimmt und sich Personen abspalten, erhalten sie dennoch individuelle verwandtschaftlich gefasste Beziehungen mit Verweis auf gemeinsame Erfahrungen. Bei den Shipmates erfolgen semantisch und praktisch synonyme Gleichsetzungen von Menschen, die ähnliches Leid erlitten haben, mit Verwandten. Auch in der geringsten dyadischen Ausdehnung wird Macht im Sinne kollektiver Handlungsfähigkeit generiert, die der radikalen sozialen Isolierung von SklavInnen entgegenwirkt. Gerade wo die Shipmate-Bande zur Matrix einer eigenen sozialen Ordnung im Kontext einer feindlichen bis mörderischen Gesellschaft wurde, ist die Machtgenerierung evident. Der Essentialismus als Idee einer wesenhaften Verbundenheit von Menschen kann in Begriffen der Verwandtschaft par excellence gelebt werden. Ihre strategische Qualität lässt sich m. E. daran erkennen, dass unterdrückte Menschen mit solcherart essentialisierten Beziehungen in den Kampf um gesellschaftliche Macht eintreten, um für die eigene verwandtschaftlich verfasste Gruppe politische Macht im Sinne der Handlungsfähigkeit zu erringen.57 Die Moral der Verwandtschaft ist ein psychologisch wirkmächtiges Motiv, Konflikte und individuelle Interessen gegenüber wechselseitiger Solidarität und Loyalität abzuschwächen58 und auf diese Weise Kräfte zu bündeln und einzusetzen, Ressourcen und Einfluss über Gemeinschaftsarbeit zu akkumulieren. Die hier diskutierten Verwandtschaftlichungen machtunterlegener Gruppen sind Teil einer allgemeinen sozialen Praxis, Beziehungen bei anhaltendem identischen Machtinteresse eine verwandtschaftliche Struktur und Form zu verleihen. Selbst Beziehungen sozial Ungleicher tendieren dann zu einer verwandtschaftssprachlichen Beziehungsgestaltung mit Rekurs auf rituelle und mimetische Verwandtschaft, wie dies die Patronageforschung belegt hat. Die weltweit vielfach ethnographierte soziale Bewegung von Interessen-/Erfahrungsverbindung zu Verwandtschaft, in der als Zwischenstation Freundschaft auftauchen kann,59 begründet schließlich die Kritik an einer Forschung zu Patronage und Freundschaft, die willkürlich auf Verwandtschaft verzichten zu 57 Vgl. Sassen 2002; Alvarado 2010: 209. Hier liegt dann der entscheidende Unterschied zwischen Gemeinschaften von Menschen, denen Leid zugefügt wird, und jenen, die Leid zufügen. Spivak zufolge entscheidet die jeweilige Subjektposition im Machtgefüge darüber, ob Essentialismen ,strategische‘ sind oder nicht: „we have to look at where the group – the person, the persons, or the movement – is situated when we make claims for or against essentialism. A strategy suits a situation; a strategy is not a theory.“, 1989: 127. 58 Vgl. Bourdieu 1998: 127, 130f., 152ff.; Aschenbrenner 1975. 59 „A passage from patronage to friendship to some kind of kinship is reported by every student of the matter.“, Davis 1977: 138; s. a. Alvarado 2006: Teil III.

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können meint. Erst der analytische Einschluss von Verwandtschaft in die Untersuchung von Nahbeziehungen vermag uns helfen, die Bedeutung und Praxis von Freundschafts- und Patronagebeziehungen zu ,verstehen‘. Die Möglichkeit, Verwandtschaft in politischen Kämpfen als essentialistische Idee strategisch einzusetzen, verweist zudem auf die notwendige Berücksichtigung von Machtverhältnissen, in denen Beziehungen und ihre sozialen Gestaltungen erst einen praktischen Sinn erhalten. Über die Zeit fortgeführte Praktiken eines strategischen Essentialismus ermächtigen Menschen – die semantisch-praktische Naturalisierung von Beziehungen ist zugleich Machtmittel als auch Zeichen von Machtidentität der beteiligten Menschen. Das überlegene Realisierungspotential von Verwandtschaft, Beziehungen zu naturalisieren und so psychologisch zu stabilisieren, liegt darin begründet, die den meisten Menschen gemeinsame erste soziale Erfahrung zu sein.60 Nietzsches Verwunderung darüber, dass die Griechen den Begriff ,Verwandter‘ als Superlativ des Begriffs ,Freund‘ verstanden haben,61 ließe sich dann als Motiv einer kulturvergleichenden kritischen Beziehungsforschung verstehen.

Literatur Abuelas de Plaza de Mayo (o. J. [ca. 2012]): La historia de Abuelas. 30 aÇos de bfflsqueda 1977–2007. Cuarta Edicijn, Buenos Aires: Eigenverlag. Altamirano, Claudio (2012): Relatos. Educar en la memoria, Buenos Aires: Biblioteca del Congreso de la Nacijn. Alvarado Leyton, Cristian (2006): Allianzbeziehungen der Patenschaft. Zur zentralen Machttechnik verwandtschaftlich gestalteter Patronage von Eliten kapitalistischer Verhältnisse, Hamburg: LIT. – –(2007): Intendierte Machtallianzen. L8vi-Strauss’ Allianzbegriff und die Kritik ,künstlicher‘ Verwandtschaft. Anthropos 102, 169–185. – –(2010): Über die Notwendigkeit weder zu vergessen noch zu verzeihen. Ein Plädoyer ad hominem. In: ders. (Hg.): Der andere 11. September. Gesellschaft und Ethik nach dem Militärputsch in Chile, Münster : Westfälisches Dampfboot, 196–223. Anonymus (2015): Anniversario: Una ballena de amor. In: Mensuario Abuelas de Plaza de Mayo 16, Nr. 147, 4–5. Arditti, Rita (1999): Searching for life: the Grandmothers of the Plaza de Mayo and the disappeared children of Argentina, Berkeley : University of California Press. 60 Bourdieu 1998: 128–131. 61 „D e r Ve r w a n d t e a l s d e r b e s t e F r e u n d . – Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei, – sie allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philosophische Erörterung der Freundschaft; sodass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes Problem erschienen ist – diese selben Griechen haben die Ve r w a n d t e n mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes ,Freund‘ ist. Diess bleibt mir unerklärlich.“, Nietzsche 1967: 259.

Leidensgemeinschaften und ,fiktive‘ Verwandtschaft

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Ringo Rösener

Zur Aktualität des Vermögens zur Freundschaft – Dresdens PEGIDA, Clint Eastwoods Gran Torino und Hannah Arendts Gedanken zu Lessing

Kann man über das PEGIDA-Phänomen1 des Winters 2014/2015 aus einer philosophischen Position heraus urteilen? Und wenn ja, wie? Das ist die Frage, die sich dieser Essay aufgrund der intensiven Beschäftigung mit Hannah Arendts politischer Philosophie und ausgewählten Filmen zur Freundschaft vorgenommen hat zu beantworten.2 Dass das Befreundetsein-Können ein quasi unersetzliches politisches Vermögen darstellt, hat Hannah Arendt nirgendwo so deutlich betont, wie in ihrer Rede Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Erstaunlich zeitgemäß zeigen sich ihre Ausführungen aus dem Jahr 1959, wenn man sie mit Clint Eastwoods Film Gran Torino konfrontiert. Denn mittels dieser Konfrontation lassen sich insbesondere ihre Thesen zum Rückzug aus der Welt aktualisieren und ex negativo zumindest eine Facette des Vermögens zur Freundschaft bestimmen. Aufgedeckt wird dabei, dass Arendt gerade in Bezug auf das Vermögen ,befreundet zu sein‘ immer in zwei Registern denkt, einem politischphilosophischen und einem existenziell-philosophischen.

I

Eine Frage der Menschlichkeit

Im Vermögen3 zur Freundschaft liegt eine ausgesprochene Bedeutung für die Menschlichkeit verborgen.4 Diese aus der Rede Hannah Arendts zum Lessing1 Mit PEGIDA-Phänomen ist die Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ in Dresden gemeint, die vor allem im Winter 2014/2015 tausende Menschen in Dresden auf die Straße brachte. 2 Alle hier aufgeworfenen Begriffe werden in meiner Dissertation zu diesem Thema ausführlich diskutiert, sodass dieser Essay ein Versuch darstellt, an einem aktuellen Ereignis wie dem PEGIDA-Phänomen die in der Dissertation erarbeitete Theorie auszuführen. 3 Mit Vermögen ist hier die Fähigkeit des Menschen gemeint, etwas zur Erscheinung für alle anderen zu bringen. Es bezeichnet eine grundsätzliche menschliche Fähigkeit, die in Erscheinung tritt und damit politisch werden kann. Mit Menschlichkeit hingegen ist ein existenzieller Zustand gemeint, der auf die Bedingungen rekurriert, Mensch zu sein. Diese Bedingungen hat Hannah Arendt in Vita activa oder Vom tätigen Leben als Bedingungen

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Preis der Stadt Hamburg im Jahre 1959 formulierte Annahme ist der Ausgangspunkt, um zu fragen, inwieweit das Vermögen zur Freundschaft – das Befreundetsein-Können mit anderen Menschen – ein Maßstab ist, um über Phänomene wie die PEGIDA-Bewegung philosophisch zu urteilen und zu fragen, ob der Bewegung womöglich die Menschlichkeit abhanden gekommen ist. In ihrer Rede zeigt Hannah Arendt auf, dass ein Vermögen zur Freundschaft nicht auf einer „intim persönlichen“ Ebene zu suchen wäre, sondern den Anspruch hat, „politisch“ und „weltbezogen“ zu sein.5 Diese Bestimmung eines Vermögens zur Freundschaft unterscheidet sich wesentlich von anderen zeitgenössischen Konzeptionen der Freundschaft. In jenen wird die Freundschaft als eine selbstoder gemeinschaftsformende Beziehung analysiert, die ausschließlich nach innen gerichtet sowie abhängig von den partizipierenden FreundInnen ist.6 Freundschaft mit Arendt ist kein solches intimes, soziales Verhältnis, sondern eine in Erscheinung tretende Weise einer „Haltung zur Welt“, in der Menschlichkeit zum Ausdruck kommt.7 Die PEGIDA-DemonstrantInnen in Dresden stellten im Winter 2014/2015 erneut die Frage nach der Menschlichkeit. Sie demonstrierten scheinbar im Namen aller, die sich vor den nicht in Deutschland Geborenen und nicht im christlichen Glauben aufgewachsenen Menschen fürchten. Sie stellen sich gegen das Heimischwerden jener Unbekannten in ,ihrem‘ Deutschland. Beachtenswert war, dass die DemonstrantInnen zum ersten Mal in einer relevanten gesellschaftlichen Breite, die es vorher nicht gab, öffentlich ihre Forderung artikulierten und dass sie natürlich nicht per se unmenschlich auftraten. Es ging den Demonstrierenden schließlich um die eigene Nachbarschaft und um durchaus respektable, in Europa gewachsene Werte. Trotzdem forderten die DemonstrantInnen, einen Rückzug der ihnen unbekannten Menschen in ihnen noch unbekanntere Regionen, zum Schutz dessen, was sie Heimat nennen. Damit stellten sie die Frage nach der Menschlichkeit neu. Denn ist es keine Menschlichkeit, das gewachsene Miteinander zu bewahren und vor Unbe-

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7

menschlicher Existenz bezeichnet („das Leben […] und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität“). Menschlichkeit ist in diesem Sinne als ein existenzieller Oberbegriff zu verstehen, der den Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen auf Erden auszeichnet, Arendt 2013a: 16–21, insbesondere 21. Freundschaft habe „aus mancherlei Gründen eine ausgezeichnete Bedeutung für die Frage der Menschlichkeit“, Arendt 2013b: 36. Arendt 2013b: 38. Damit sind Rekurse auf Freundschaft gemeint, in der sich ein Selbst in der Freundschaft erkennt, formt, stabilisiert oder verändert, vgl. u. a. Gadamer 1991, 2000; Tenbruck 1994; Lemke 2000. Außerdem sind solche Überlegungen angesprochen, in der die Gemeinschaft der Freunde in Konfrontation zur ,Gesellschaft‘ oder anderen Gemeinschaften gestellt wird, vgl. u. a. Blanchot 2007; Nancy 1988. Arendt 2013b: 12 und 36ff.

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kannten zu schützen? Man muss diese Frage verneinen, wenn man die Menschlichkeit aus dem Denken Hannah Arendts herleitet. PEGIDAs Anliegen ist in diesem Sinne unmenschlich. Dabei ist es nicht unmenschlich, weil die PEGIDA-DemonstrantInnen den Rückzug der anderen Menschen fordern, sondern es ist unmenschlich, weil sie den Fremden die Teilhabe an einer ohnehin gemeinsamen Welt verbieten und ihnen damit überhaupt die Menschlichkeit – also das Menschsein – absprechen. Die PEGIDA-DemonstrantInnen behaupten einen öffentlichen Raum, der nur ihnen gehört und sperren die Unbekannten aus. Diese faktische Aussperrung scheint das Gegenteil eines Vermögens zur Freundschaft zu sein, das in diesem Artikel schlicht als eines des gewollten Übertretens zum Fremden hin verstanden wird.8 Damit könnte das Vermögen zur Freundschaft zu einem Maßstab der Menschlichkeit werden, woraus sich die Frage ableitet, wie das im Detail aussieht? Den dokumentierten und in Erscheinung getretenen Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen im Winter 2014/2015 in Dresden, die gegen eine angebliche Überfremdung, ,Islamisierung‘ und Bevormundung gerichtet waren, mangelt es anscheinend am Vermögen zur Freundschaft.9 Aufgrund der Ähnlichkeit der sprachlichen Ausgrenzungen des Unbekannten, die in Clint Eastwoods Film Gran Torino (2008) und auf den PEGIDA Demonstrationen fallen, soll anhand eines Vergleichs zunächst ein Ansatz formuliert werden, das Vermögen zur Freundschaft mit Hilfe der Begriffe Arendts philosophisch zu konkretisieren und den Bezug zur Menschlichkeit herauszuarbeiten. In Gran Torino ereignet sich auf der sprachlichen und auch auf der visuellen Ebene dasselbe wie in den Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen. Allerdings ändert der Film seinen Standpunkt. Er verlässt die ausgrenzende Rede zugunsten der Integration der Unbekannten. Aufgrund der Etablierung einer Freundschaft zwischen den einander unbekannten Hauptcharakteren wird Eastwoods Gran Torino herangezogen. Dabei ist der Ausgangspunkt die auffallende Korrespondenz zwischen den Sprachbildern der PEGIDA-DemonstrantInnen und den Filmbildern in Eastwoods Gran Torino. Da Gran Torino aber die Ausgrenzung durch die Freundschaft zwischen den Hauptcharakteren überwindet, soll mit Hilfe der Begriffe aus dem Denken Hannah Arendts diese 8 Natürlich kann das Vermögen zur Freundschaft nicht nur als Übertreten von Grenzen verstanden werden. Hier soll sich aber nur damit auseinandergesetzt werden. Neben dem Übertreten gebe es noch das Miteinander-Reden und Miteinander-Handeln als wesentliche Kennzeichen des Vermögens zur Freundschaft, die ich ausführlich in meiner Dissertation beschreibe. 9 In meinem Essay beziehe mich hier lediglich auf Äußerungen, die die ARD im Dezember 2014 aufgenommen hat: Bongen/Jolmens 2014. Die von mir wiedergegebenen Äußerungen werden in Form einer Minutenangabe spezifiziert. Vornehmlich handelt es sich um vier Interviewpartner : Interview Nr. 1: Teil 1, ab Minute 8’30’’; Interview Nr. 2: Teil 1, ab Minute 40’; Interview Nr. 3: Teil 2, Minute 0’; Interview Nr. 4.: Teil 2, ab Minute 6’30’’.

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Überwindung beschrieben werden, um letztlich aus Gran Torino und mit Arendts Überlegungen ein Teil des Vermögens zur Freundschaft als einen möglichen Maßstab der Menschlichkeit zu bestimmen.

II

Hier und Dort, Drinnen und Draußen

„Die kommen nach hier […] und vor allem, die gehen auch nicht wieder zurück“, schlimmer noch: „die bleiben“, und dass, obwohl „unsere Städte voll“ sind. Dabei „sind [wir] doch kein Einwanderungsland“, deshalb ist es ohnehin besser, wenn sie „dahin gehen, wo sie hingehören und nicht zu uns“, also „Schluss mit der Solidarität“. Diese Äußerungen, gesammelt auf einer PEGIDADemonstration, versprachlichen die wahrgenommene Bedrohung, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen aus den weltweiten Kriegsgebieten geht. Es sind nicht die einzigen Antworten, die ein ,Fremdeln‘ mit den Unbekannten kennzeichnen. Kriminalisierung und andere Vorurteile tauchen ebenso auf wie eine Durchmischung eigener Erfahrungen, Beobachtungen und Meinungen sowie Beschuldigungen aus dritter Hand. Was in den wenigen, hier wörtlich zitierten Aussagen jedoch auffällt, ist die topographische Zuweisung der Unbekannten und die explizite Abgrenzung eines eigenen Raumes: „hier rein“, „unsere Städte“, „die bleiben und gehen nicht wieder weg“. Diese Worte beschreiben ein Eindringen von Menschen, das der tatsächlichen Flüchtlingsanzahl im Osten Deutschlands nicht gerecht wird.10 Trotzdem wird gerade dort eine mögliche Überfremdung am bedrohlichsten empfunden, denn wenn „solche“ „nach hier“, also in deren Deutschland, in deren Dresden, in deren Vorgarten kommen, scheint jeder einzelne Mensch am Ort und Platz zu viel zu sein. Ein derartiger Sprachgebrauch stellt eine schwerwiegende Anmaßung dar, weil er bestimmt, wohin jemand hingehört und wohin nicht. Begründet wird diese Zuteilung vor allem an der banalen Tatsache, wo jemand geboren bzw. aufgewachsen ist, dort gehöre er hin. Verbunden ist diese Fremdverortung mit einer Eigenverortung, die sich in der Wiederholung von „hier“, „unser Land“ oder „unsere Städte“ verdeutlicht. Behauptet wird somit ein eigener Raum, in dem ein eigenes Leben oder ein eigenes Volk stattfindet, das es zu verteidigen oder an das es vornehmlich zu denken gilt: „Wir müssen an unser Volk denken, an die, die arm sind. Es gibt genug arme Leute in unserem Land.“ Weder das elendige noch das sofort greifbare Schicksal von Flüchtlingen, sondern die sicherlich nicht weniger auftretende, aber doch diffuse Heranziehung von Armut im eigenen Land wird als Argument eingeführt, um Menschen in verschiedene 10 Der Reporter, der seine Gesprächspartner befragt, weist mehrmals daraufhin, dass es in Sachsen nur einen Anteil von 0,2 % an BürgerInnen muslimischen Glaubens gibt.

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Klassen einzuteilen: in die Klasse derjenigen, denen man helfen sollte, weil sie „zu uns“ gehören, und derjenigen, denen man nicht helfen solle, weil sie „nicht hier hingehören“. Dabei zirkelt die Aufteilung in Hier und Dort, Meines und Deines, Unseres und Eures sprachlich einen eigenen privaten Bereich ein, den man nicht nur verteidigen will, sondern in den man sich zurückzieht, um das, was außerhalb dieses gewohnten Bereiches existiert, nicht mehr erfassen zu müssen: „Ach… das … eh … ist mir egal, wie viele das sind. Das sind schon 0,2 % zu viel.“ Das „egal“ schneidet etwas ab, weil der Mensch, der damit angesprochen wird, für das eigene Leben egal wird. „Schluss damit, mit der Solidarität“11 kündigt sogar jedes Verhältnis zu den Unbekannten, die da kommen. Was übrig bleiben soll, ist das eigene souveräne Leben, das von äußeren Einflüssen losgelöst ist und dem man sich in Ruhe und Abgeschiedenheit widmen will. Nicht dem Fremden, sondern nur dem Eigenen wird so maximale Aufmerksamkeit zuteil. In ihrer Rede zum Lessing-Preis hat Hannah Arendt ausdrücklich vor jeglichem Rückzug in einen eigenen privaten und überschaubaren Raum gewarnt. Arendt, noch ganz im Bezug auf die Jahre 1933–1945, hat damit versucht, sich gegen die Annahme einer „inneren Emigration“ zu stellen, in die sich viele Deutsche während der Nazi-Diktatur geflüchtet sahen, um sich vor dem zu schützen, was außerhalb dieses Raumes geschah.12 Diesen Rückzug in einen privaten Raum, der als eine ,innere Emigration‘ bezeichnet wurde, kann es laut Arendt aber nicht geben: Denn ein Rückzug ins Private wäre kein Rückzug in einen geschützten Raum, sondern eine Flucht vor dem eigenen Handeln.13 Denn so eine Abwendung ins beherrschbare und isolierte Private wäre eben nicht als ein „Rückzug ins Selber-Denken zu werten“, von wo aus man die Welt nach seinem Belieben gestalten könne, sondern stelle „eine Flucht aus der Welt in das eigene Selbst [dar], von dem man hofft, es würde in souveräner Unabhängigkeit von der Außenwelt sich halten können“.14 Arendt haderte mit ihrer eigenen Flucht vor der Nazi-Diktatur, die sie daran hinderte, sich gegen deren Unmenschlichkeit zu stellen, die ihr aber im Gegenzug ermöglichte, dort Menschlichkeit walten zu lassen, wo sie angebracht war : unter der Gruppe der anderen Flüchtlinge. Aber genau diese Form der Menschlichkeit besteht nur während dieser Flucht und zerfällt immer dann, wenn die Not verschwindet.15

11 Vgl. Bongen/Jolmens 2014: Interview 1 und 2. 12 Arendt 2013b: 30. 13 Handeln wird mit Arendt als ein Vorgehen bestimmt, das im öffentlichen Miteinander der Menschen in Erscheinung tritt, vgl. Arendt 2013a: Kapitel 5, insbesondere 213–222, 234–251. 14 Arendt 2013b: 18. 15 Arendts Argument an dieser Stelle ist, dass die Menschlichkeit zwar unter den Flüchtenden bewahrt wurde, aber diese Menschlichkeit zerfällt, sobald die Not der Flüchtenden zerfällt.

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Arendt argumentiert in der Lessing-Rede jedoch für eine allgemeine Menschlichkeit, die sich weder im Rückzug in einen eigenen Raum noch in der Notgemeinschaft zeigt, sondern die Konfrontation mit dem Unausweichlichen sucht. Dabei liegt der hauptsächliche Unterschied zwischen den hier herangezogenen Aussagen und Arendts Bezug auf die ,innere Emigration‘ darin, dass der neue Rückzug durch die PEGIDA-Demonstrationen publik gefordert wird. Der Rückzug von einer Welt da draußen wird gefordert – anders als die ,innere Emigration‘ bei Arendt, die in schweigende Mittäterschaft umschlug und auch anders als das herkömmliche ,Das-geht-mich-nichts-an‘ einer womöglich schweigenden Mehrheit. Aber das Wesen der geforderten öffentlichen Abwendung sowie der inneren Abwendung – eine Mittäterschaft an einem Völkermord, weil die Flüchtlinge in beiden Fällen allein gelassen werden – betrifft ein und dasselbe Phänomen der Exklusion:16 In beiden Fällen wird das Unbekannte ausgegrenzt. Im Rückzug auf einen eigenen überschaubaren, privaten Raum soll das davon Abgegrenzte abgehalten werden, genauso wie in der ,inneren Emigration‘ das Draußen von einem selbst ferngehalten werden soll. Aber die Welt da draußen findet nach wie vor statt! Weder der Rückzug noch die Ausgrenzung können an dieser faktischen Tatsache etwas ändern. Dadurch deutet sich mit der topologischen Zuweisung ,Fremder‘, die mit der Behauptung eines eigenen Raumes und einem Rückzug in eben diesen einhergeht, eine Weltabgeschlossenheit an. Diese meint, dass man mit dem Geschehen anderswo nichts mehr zu tun haben will und nicht duldet, dass es näher kommt. In dieser gewollten Abgeschlossenheit spielt der Unbekannte keine Rolle mehr. In der Folge wird auch dessen Tod nicht wahrgenommen. So ähneln sich die Rückzüge der ,inneren Emigration‘ Arendts und die Behauptung eines eigenen Landes vornehmlich phänomenologisch. Aber warum ist es gleich unmenschlich, wenn man vielleicht dem Unbekannten nur einen eigenen Raum zugesteht? Clint Eastwoods Gran Torino geht von demselben Problem aus. Die Ehefrau des polnischstämmigen Detroiter Walt Kowalski ist gerade verstorben. Während der Trauerzeremonie zu Beginn des Films wird schnell klar : Kowalski will weder etwas mit seiner Familie noch mit der Kirche oder anderen Menschen zu tun haben. Seine Frau war seine Brücke in die Welt. Er scheint jetzt ein verbitterter alter Mann zu sein, geprägt vom Korea-Krieg und seiner jahrzehntelangen ArSie grenzt die Paria-Menschlichkeit von einer allgemeinen Menschlichkeit ab, vgl. Arendt 2013b: 21–28. 16 Dieser Vergleich ist rein ,phänomenologisch‘ zu verstehen. Mit ,phänomenologisch‘ ist hier methodisch die Einklammerung der sozialen und charakteristischen Merkmale zugunsten einer Freilegung wesenhafter, d. h. relevanter Ähnlichkeiten gemeint. Die Frage ist also nicht die nach charakteristischen Merkmalen, sondern nach der für Menschen relevanten Bedeutung: Was ist der eigentliche Vorgang, der dem Geschehen zugrunde liegt?

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beit bei Ford, wo er auch seinen eigenen, sorgfältig gepflegten Gran Torino zusammengeschweißt hat. Mit dem Einzug neuer NachbarInnen – Hmongs – wird Walt Kowalskis Welt erschüttert. Ähnlich wie die PEGIDA-DemonstrantInnen sieht er sich mit einem Problem konfrontiert: ,Ausländer‘, viele unbekannte ,Ausländer‘. „Wie viele Sumpfratten gehen in einen Raum?“ – Walt Kowalski begrüßt leise murmelnd seine neuen NachbarInnen, die eine nicht enden wollende Menge an Gästen empfangen. Der Film zeigt, dass Walt Kowalski in einer sich verändernden Nachbarschaft wohnt: Er scheint der einzige Verbliebene in dem bis dahin vornehmlich von weißen Autowerks-Arbeitern bewohnten Highland Park zu sein, in dem sich vermehrt asiatischstämmige BewohnerInnen niederlassen. Damit geht einher, dass diese neue Nachbarschaft allmählich das Aussehen annimmt, wie es die Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen vermuten lassen. Oder umgekehrt: Der Film gibt exakt das Bild vor, das sich in den Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen wiederfindet: ,Runtergekommen und unzivilisiert‘.17 Im Unterschied zu seinen NachbarInnen pflegt Walt Kowalski sein Haus, seinen Garten und sein Auto. Das tadellos in Stand gehaltene Heim wird umgeben von einem gepflegten Vorgarten und auf der Veranda weht die obligatorische US-amerikanische Flagge. Daneben befindet sich das offensichtlich wenig gepflegte Gelände der Hmong-Familie, die vor kurzem dort eingezogen ist. Die Hmong – eine ethnische Minderheit, die im Vietnamkrieg auf Seiten der USAmerikaner kämpfte und zum Kriegsende teilweise in die USA auswanderte – sind die hauptsächlichen neuen EinwohnerInnen des Viertels. Bei den neuen NachbarInnen handelt es sich um eine Familie, deren Vater im Film nicht auftaucht. Die Familie Lors ist mit der Walt wenig zugeneigten Großmutter, der Mutter und den beiden Kindern Thao und Sue in das Haus eingezogen. Für Walt steht dabei der Zustand des nachbarschaftlichen Rasens sinnbildlich für sein ordentliches und deren verlottertes Leben. So konzentriert sich wiederholt im Rasen das Hierhin- und Dahingehören, und wird die Befürchtung akut gemacht, dass zu viele Ausländer ein zivilisiertes Land aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Neben dieser drohenden Verwahrlosung passiert das, wovor die Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen warnen: Mit dem Ankommen von Ausländern schreitet eine Kriminalisierung einher. Nur sitzen sie nicht in weißen T-Shirts und Hosen in einer Tram und zünden ihre eigenen Flüchtlingsheime an, wie die

17 In dieser Stereotypisierung ist Clint Eastwood nicht weit entfernt von den Sprachbildern der PEGIDA-Äußerungen. Vgl. zum Rassismus in Gran Torino u. a. McBride/Shahamiri 2011; Buck 2009; Schein/Va–Megn 2009.

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PEGIDA-DemonstrantInnen betonen,18 sondern steigen aus einem weißen Auto und zwingen ihren Cousin Thao zur Mitgliedschaft in ihrer Gang. Der Einzelgänger Thao soll sich beweisen und den 1972er Gran Torino von Walt stehlen. Doch zu seinem Glück scheitert sein Vorhaben. Trotz des misslungenen Versuchs wird Thao erneut von der Gang aufgesucht und genötigt mit ihr zu kommen. Die damit verbundene Aufregung bricht wie ein Donnerschlag in die Ruhe ein, in der Walt vorher seinen Gran Torino gesäubert und dem Sonnenuntergang zugeschaut hatte. Das Ereignis schlägt in der ganzen Nachbarschaft Alarm. Unter dem Geschrei der Großmutter und Mutter, dem Drängen von Thaos Schwester und dem versuchten Eingreifen der anderen Hmong-NachbarInnen, wird Thao von den Gangmitgliedern von seiner Veranda bis auf den Rasen von Walt gezerrt. In diesem Moment richtet Walt sein Gewehr auf den Anführer der Gang und sagt: „Get off my lawn“. In diesen drei Minuten lassen sich drei wesentliche Verhältnisse bestimmen: Erstens werden wir als Zuschauer in die harmonische Welt eingeführt, die in der längst vergangenen Ordnung des Pensionärs Walt ruht und für die sein fürsorgliches Verhältnis zum Gran Torino steht. Zweitens erfahren wir, dass die Gemeinschaft der Hmong in sich heterogen ist: Weder repräsentiert die kriminelle Jugend noch die eingezogene Familie die Ethnie der Hmong. Und drittens vermeidet Walt von sich aus jegliche Differenzierung: Beide HmongGruppen will er von seinem Rasen vertreiben. Jedoch muss Walt seine Meinung schon am folgenden Tag revidieren. Die Hmong-Nachbarfamilien bedanken sich, weil er die von ihnen gefürchtete Gang erfolgreich in die Flucht geschlagen hat, indem sie ihm Blumen und gekochte Speisen auf die Veranda stellen. Auch muss Walt ein weiteres Mal intervenieren, um Thaos Schwester Sue zu schützen, als diese von US-amerikanischen Jugendlichen bedroht wird. Als er daraufhin in das Haus der Familie eingeladen wird, muss er erkennen, dass er jenen ebenso fremd ist wie sie ihm. So findet sich der Alte plötzlich unter vornehmlich jungen, ihm unbekannten Menschen wieder, die ihn erst argwöhnisch beäugen und wenige Zeit später mit fremdartigen Speisen verwöhnen. Dort begegnet er auch Thao wieder, der sich bereits für den versuchten Autodiebstahl entschuldigt und angeboten hat, einige Tage für ihn zu arbeiten. Nach und nach wird der Eremit, der sich von der Kirche und seiner Familie zunehmend distanziert und lediglich Kontakte zu seinem Friseur pflegt, durch seine neuen NachbarInnen und deren Situation dazu angeregt, sich nicht weiterhin in seinem Eremitendasein einzuigeln. Und Thao, der stille und zurückgezogene Junge, wird durch die Arbeit für und später mit Walt gezwungen, sich mit US-Amerikanern einzulassen, statt nur in seinem Haus zu sitzen und sich vor der Gang zu verstecken. 18 Vgl. Bongen/Jolmens 2014: Interview 1, 2, 3.

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III

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Hannah Arendts Register

In der Terminologie Hannah Arendts lässt sich dieser Vorgang in Gran Torino als ein Verlassen des beherrschbaren Privaten zugunsten einer gemeinsamen, aber unberechenbaren Öffentlichkeit deuten. In diesem Verlassen liegt ein Wesenszug des Vermögens zur Freundschaft begründet. Obwohl Arendt Freundschaft – oder dem Vermögen zur Freundschaft – nie eine theoretische Ausarbeitung widmete, sondern nur fragmentarische Überlegungen im Denktagebuch und in der Lessing-Rede anstellte, ist Arendts Denken nicht ohne solch ein Vermögen zur Freundschaft zu denken.19 Freundschaft tritt bei Arendt dabei allerdings hauptsächlich als ein Vermögen des Verbindens auf. Dabei funktioniert dieses Verbinden – und das ist das Besondere bei Arendt – in zwei Registern: Ein politisch-philosophisches Register20 lässt sich aus der Vita activa herleiten. Dieses fällt mit dem Öffentlichen zusammen und bezieht sich erstens auf das, was für die „Allgemeinheit erscheint“ und „für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt“, und zweitens auf „die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und sich als solches von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist“21. Privat ist nicht nur der Rest, der übrig bleibt, sondern der abgeschiedene Raum, in dem das Zusammenleben von „den menschlichen Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten“ diktiert wird, um das „schiere Leben des Einzelnen“ zu gewährleisten.22 Öffentlich ist ein Erscheinungsraum, wo sich das Handeln und Sprechen zwischen den Menschen exponiert. Arendt hat diese idealtypische Trennung im politischen Register oft beibehalten und an ihr gearbeitet.23 Ihr ganzes politisches Denken beruht darauf, Privates (Verborgenes) von Öffentlichem (Erscheinendem) zu unterscheiden.24 Aber das Private, in dem etwas verborgen wird, und das Öffentliche, das mal als 19 Vgl. Nixon 2014: 7. 20 Der Begriff politisch bezieht sich nur auf das Miteinander-Handeln der Menschen und leitet sich ab von Arendts Rekurs auf Aristoteles’ bios politikos, vgl. Arendt 2013a: 23. Da damit eine analytische Perspektive des philosophischen Anspruchs Arendts gemeint ist, will ich diese hier politisch-philosophisches Register nennen. 21 Arendt 2013a: 62, 65. 22 Arendt 2013a: 39f. 23 Eine Revision dieser Aufteilung in eine Sphäre des Rückzugs und eine Sphäre der Erscheinung vollzieht Arendt in Vom Leben des Geistes – aber nicht als Abweisung ihrer topologischen und idealtypischen Konstellation dieser Sphären, sondern als Suche nach dem Faden, der die Bereiche zusammenhält. Und hier bezieht sich Arendt nicht mehr auf Räume, sondern auf Zeiten. Der Faden hält nicht mehr Privates oder Öffentliches zusammen, sondern spinnt in der Gegenwart am Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, vgl. Arendt 2006: 193ff. 24 Vgl. u. a. folgende Texte: Freiheit und Politik, Kultur und Politik, Religion und Politik oder Little Rock in Arendt 2013d und Arendt 2012.

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eine politische Arena, mal als ein erscheinendes Gemeinsames der menschlichen Tätigkeiten auftritt, hängen in der Praxis des Lebens immer zusammen.25 Auch wenn Privates und Öffentliches immer zwei unterschiedliche „politische“ Existenzräume des Menschen darstellen, können sie nicht ohneeinander : „Ohne der Lebensnotwendigkeiten im Haushalt Herr geworden zu sein, ist weder Leben noch ,Gut-Leben‘ möglich, aber Politik existiert niemals einfach um des Lebens willen. Was die Bewohner der Polis betrifft, so existiert für sie das Leben innerhalb des Haushaltsbereichs lediglich um des ,Gut-Leben‘ in der Polis willen.“26

Weder ist ein öffentliches Leben möglich, wenn man nicht im Privaten ,Erfolg‘ hat noch ist das Private lebenswürdig, wenn man nicht ein öffentliches Leben führen kann.27 Aber mit der politisch-philosophischen Klassifizierung ist noch nichts über die Menschlichkeit und das Vermögen zur Freundschaft gesagt. Arendt denkt ihre Begriffe in zwei Registern. Zusätzlich führt Arendt ein existenziell-philosophisches Register mit sich, in dem sie zwei Weltbegriffe erläutert. Diese sind grundlegend für die tatsächliche Ausgestaltung dessen, was sie in der Rede zum Lessing-Preis Menschlichkeit nennt. Das existenziell-philosophische Register beruht dabei auf einer analytischen Beschäftigung mit dem Kirchenvater Augustinus in Arendts Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Dort beschäftigte sie sich erstmals mit dem Begriff der „Welt“, dem die Öffentlichkeit auf dem politisch-philosophischen Register lediglich prominent beigestellt wird.28 Im Gegensatz zum politisch-philosophischen Register, das vor allem hilft, die in Erscheinung tretenden Tätigkeiten unter den ,politischen‘ Menschen zu bestimmen, weist das existenziell-philosophische Register auf die Bedingungen des Menschseins selbst hin. Arendts Dissertation zu Augustinus ist als eine existenzphilosophische Arbeit geschrieben. Darin erarbeitet sie ihren Weltbegriff, der eben noch nicht Öffentlichkeit meint. Zum einen ginge es Augustinus nämlich um die Welt des Schöpfers und der Schöpfung – der fabrica Dei. Damit ist auf jene Welt verwiesen, in der der Mensch sich mit allem anderen als ,geschöpfte‘ Kreatur 25 Zur Differenzierung der verschiedenen Dimensionen von Arendts Begriff der Öffentlichkeit: Bajohr 2011. 26 Arendt 2013a: 47. 27 Arendt ist an dieser Stelle nicht ohne Grund vorzuwerfen, diese in der Antike fußende Begriffsbildung ignoriere, dass das Privileg des „Guten-Lebens“ in der Öffentlichkeit nur dem Hausherr zustand, weder also seine Frau noch seine Sklaven dieses Privileg leben konnten. Prominent ist Habermas Kritik: Habermas 1976: 16. 28 „Jede Öffentlichkeit ist immer schon in der Welt, aber nicht alle Welt ist Öffentlichkeit; Öffentlichkeit braucht einen materiellen Ort, um wirksam zu werden, Welt dagegen ist mit diesem Ort identisch – wo Welt das ist, was in Bezug auf das Dasein schon fraglos ,da‘ ist, ist Öffentlichkeit noch einen Schritt und eine Anstrengung entfernt.“, Bajohr 2011: 41.

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wiederfindet.29 Der Mensch gehört zu dieser fabrica Dei, in der „lediglich die Zugehörigkeit zu dem Reich des Erschaffenen“ von Bedeutung ist.30 In dieser Welt fragt der Mensch nicht, sondern ist lediglich Teil einer natürlichen und universalen Beständigkeit. Aber mit der Menschlichkeit geht eine veränderliche und quasi immer inhärente Mitwelt einher, die sich in der fabrica Dei etabliert. Diese Mitwelt, die durch das menschliche Lieben und Streben geprägt ist, wird verstanden „als die von Menschen konstituierte Menschenwelt“31 und enthält von Arendt die ausgewählte Bezeichnung mundus.32 „Das menschliche Leben selber, das in der Vorgegebenheit der Schöpfung, in die es hineingeboren ist, sich einrichtet, macht die fabrica zum mundus.“33 Die Welt als fabrica wird zum mundus, wenn die Menschen miteinander aus ihr eine Heimat machen. Nur sofern die Menschen sich mit ihresgleichen in ihr einrichten, wäre diese Mitwelt auch eine weltliche sowie eine menschliche. Bei Arendt ist der Mensch nicht lediglich auf der Welt (fabrica), sondern die Menschen sind in der von ihnen gemachten Mitwelt (mundus). Arendt bindet so die Menschlichkeit an die Etablierung einer Mitwelt. Die Menschen (weil ein Mensch nie eine Mitwelt etablieren kann) und die Menschlichkeit treten nur auf, wenn eine von ihnen mitgetragene Mitwelt entsteht. Während Öffentlichkeit und Privatheit einer politischen Raumaufteilung der Tätigkeiten unter den Menschen entsprechen, erkennt Arendt mit Augustinus eine für sie fundamentale Struktur der menschlichen Existenz, die als Dritte neben den Bedingungen der Natalität und Pluralität auftritt: die (Mit-)Weltlichkeit. Der Bestimmung einer ewigen und unveränderlichen gott- bzw. naturgegebenen Welt, in der der Mensch nur ein Teil wie jedes andere ist, steht diese „weltliche“ Mitwelt quasi gegenüber. Die Mitwelt ist vom Zusammenspiel der Menschen geprägt und richtet sich in der göttlichen bzw. naturgegebenen Welt ein.34 Die Menschen müssen sich ihren mundus, den Arendt oft Heimat nennt, erst schaffen.35 Damit stellt sich Arendt in der Bestimmung dessen, was sie Menschlichkeit nennt, gegen einen schlichten Gattungsbegriff und gegen einen ontologischen Begriff vom Sein des Menschen. Den Menschen allein gibt es bei Arendt nicht, weil nur die Menschen eine Mitwelt konstituieren, in der sie sich

29 30 31 32 33 34

Arendt 1929: 42. Arendt 1929: 45. Arendt 1929: 39. Arendt 1929: 42. Arendt 1929: 43. Deshalb ist die „Weltlichkeit der Welt […] erst da möglich, wo das facere und diligere des Menschen selbständig, unabhängig von dem puren Geschaffensein eintritt.“, Arendt 1929: 44. 35 Vgl. Arendt 2013b: 333–347.

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menschlich zeigen. Nur in dieser Mitwelt schaffen sie sich über die Konstituierung einer gemeinsamen Herkunft eine Vergangenheit und eine Zukunft. Nur im Zusammenhang von Mitwelt (mundus) und Welt (fabrica) ist es relevant, dass die Menschen mit der Geburt ein- und mit dem Tod austreten. Nur in diesen beiden sind sie weltlich. „Die Furchtbarkeit des Todes beruht auf dem amor mundi, der Tod vernichtet nicht nur jeden Besitz der Welt, sondern auch jedes mögliche liebende Desiderieren eines Zukünftigen, das aus der Welt her erwartet ist.“36 Arendts mundus wird von den Menschen an die Menschen weitergeben und pflegt so die fabrica. Auf diese Weise kann Arendt nie den absoluten Tod denken, sondern weist auf die zahllosen neuen Geburten hin. Mittels der natürlichen Geburt treten neue menschliche Kreaturen in die fabrica ein; mittels der damit verbundenen Fähigkeit einen neuen Anfang zu setzen, leisten sie als Menschen ihren Beitrag in der Mitwelt.37 Diese existenziell-philosophische Dichotomie zwischen einer natürlichen Welt sowie einer von und zwischen Menschen etablierten Mitweltlichkeit findet sich im politisch-philosophischen Register der Vita activa wieder. Die fabrica Dei tritt dabei in der Gestalt des Lebens erneut auf, der durch Arbeit immer ein Überleben abgetrotzt werden muss, das immer von ewig gültigen Lebensnotwendigkeiten geprägt wird und das in der politischen Ordnung im Privaten von jedem Einzelnen bewältigt wird. Die Mitwelt hingegen tritt im Bereich des Handelns und Sprechens auf und spinnt an einem Bezugsgewebe, das im politischen Register hauptsächlich als Öffentlichkeit bezeichnet wird.38 Dieses Bezugsgewebe garantiert der creatura Mensch überhaupt erst seine Menschlichkeit, weil es ihn in Beziehung zu den Mitmenschen setzt. Die idealtypische Gegenüberstellung von Privatheit und Öffentlichkeit, die Arendt in der Vita activa etabliert, ist dabei eine Fortführung der existenziellphilosophischen Dichotomie in dem politisch-philosophischen Register, aber sie deckt sich damit nicht adäquat. Das Private ist nur auf einer Seite dem Raum des Lebens, in dem man sich mit seinen der Schöpfung teilhabenden Bedingungen auseinandersetzt, gewidmet. Auf der anderen Seite findet auch in ihm die Bezugswelt der Menschen statt. Als öffentlich wird zwar vornehmlich der Bereich bezeichnet, der durch ein allen gemeinsames Zwischen gekennzeichnet ist und der erst im Austritt aus der Sphäre des Privaten als Menschlichkeit oder Weltlichkeit erfahren wird, aber auch die Öffentlichkeit kann unmenschlich werden. In dem Moment, wo man sich aus der Öffentlichkeit herauszieht oder in

36 Arendt 1929: 54. 37 Vgl. Arendt 2013a: 215ff. 38 Vgl. Arendt 2013a: 225f.

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der Öffentlichkeit die Mitmenschlichkeit der massenhaften Gleichschaltung geopfert wird, verliert sich auch dort die Mitwelt.39 Die beiden Register gehören unweigerlich zusammen und lassen sich vielleicht mit Kant am ehesten verdeutlichen: „Noch sind die Ausdrücke: die Welt kennen und Welt haben in ihrer Bedeutung ziemlich weit auseinander : indem der eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der andere aber mitgespielt hat.“40 Für Arendts Denken ist die Bedeutung des Welt-Habens essentieller als lediglich die Welt zu kennen. Denn im Haben ist der „Zwischenraum“ benannt, „den wir [Mit-]Welt nennen“41. Gerade diesem existenziellen Zwischenraum kommt nämlich eine politische „Wirklichkeit zu“, indem wir uns in ihm „handelnd und sprechend“ bewegen.42 „Die Welt haben“ heißt, die mitmenschliche Welt mit anderen Menschen bewusst zu teilen. Dadurch kommt ein Erscheinungsraum der Tätigkeiten erst zutage, den Arendt in dem politischphilosophischen Register – also dort, wo die Tätigkeiten für alle ersichtlich sind – Öffentlichkeit nennt. Zerstört sich dieser Erscheinungsraum, ist damit nicht lediglich die Privatisierung menschlicher Angelegenheiten gemeint, sondern damit geht eine (Mit-)Weltlosigkeit einher, in der die Menschen wieder zu vereinzelten Kreaturen werden. Weltlosigkeit heißt, dass die Mitwelt, also der Ort, wo die Menschen überhaupt als Menschen auftauchen, verschwindet. Deshalb macht Arendt immer wieder auf die Gefahr aufmerksam, dass sich, wenn man sich auf das Private zurückzieht oder den öffentlichen Raum privatisiert, das „Öffentliche verdunkelt“, „finstere Zeiten“ anbrechen und somit die Bedrohung wächst, dass das Bezugsgewebe der Mitwelt verschwindet.43 Die Formen des Verschwindenmachens der Mit-Anderen werden von ihr als Formen der Weltlosigkeit bestimmt und gefürchtet. Mit dieser Weltlosigkeit, also dem Auflösen der von Menschen eingerichteten Heimat, geht eine Menschenblindheit einher, die den Menschen der „Fähigkeit zu handeln“44 beraubt, weil man für Arendt nur in der Mitwelt und mit anderen handelt.45 Fallen die Mit-Anderen als diejenigen weg, mit denen die Mitwelt entsteht, dann bliebe lediglich eine „Form der Barbarei“46, eine Wüste ohne Oasen, in der die Menschlichkeit der Öffentlichkeit zugunsten der Barbarei des individuellen, ja egoistischen Überlebens geopfert wird. So wird nicht mehr gehandelt, sondern überlebt. Obwohl die Menschen bei Hannah Arendt das Private als Rückzugs39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Arendt 2010: 181ff. Kant 2000: 4. Arendt 2013b: 23. Arendt 2013a: 62, 251; vgl. Bajohr 2011: 85ff. Vgl. Arendt 2013b: 21. Arendt 2014: 975. Arendt 2013a: 220 oder auch 224ff. Arendt 2013b: 23.

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raum benötigen, brauchen sie das Öffentliche genauso, um nicht im rohen und individuellen Überlebenskampf zu versinken, für den das Private ebenso steht. So muss auf der politischen Ebene immer das existenzielle amor mundi dem amor fati vorgezogen werden, weil die Mitwelt bewahrt werden muss.47

IV

Die Mitwelt in GRAN TORINO

Wir müssen, sofern wir menschlich handeln wollen, immer im Sinne der Mitwelt handeln und dürfen nicht weltlos werden. Das hat Arendt unmissverständlich klar gemacht. Aber, und das ist ein großes Aber, müssen wir wirklich immer eine politische Arena, Agora oder eine Bühne betreten, um die menschliche Welt herzustellen, wie es Arendt vorschlägt?48 Dies muss nicht unbedingt sein, denn jetzt ist es vorstellbar, die Mitwelt, also jene menschliche Welt der existenziellen Ebene, im Übertritt eines anderen privaten Raumes herzustellen, der damit seine Weltlosigkeit zugunsten eines amor mundi aufgibt. Und dieses Übertreten, weil es sich als ein Vermögen etabliert, in andere Privatsphären einzutreten, könnte man mit Arendt das Vermögen zur Freundschaft nennen. Damit ist auch der auf der Hand liegende Widerspruch entschärft, dass sich Freundschaft immer im Privaten abspielt und dies nichts mit der Öffentlichkeit zu tun hat, von der Arendt im politisch-philosophischen Register schreibt. Dieser Widerspruch bleibt der eindimensionalen Reduzierung auf das politischphilosophische Register geschuldet. Nur da kann Freundschaft lediglich als ein privates und letztlich intimes Phänomen verstanden werden. So eine Ausschließlichkeit ist, wenn man sich des zweiten existenziell-philosophischen Registers bedient, nicht gemeint. Deshalb muss man die hier auseinandergezogenen Register wieder zusammenführen. Zunächst muss der Eintritt in die Privatsphäre meiner NachbarInnen, zumindest solange diese nicht in meinen Haushalt integriert sind, als ein Austritt aus der eigenen Sphäre begriffen werden. Allein in dem Verlassen des eigenen Haushalts entsteht die Öffentlichkeit, weil etwas gemeinsam wird. Nur weil etwas gemeinsam wird, ist der Mensch überhaupt als ein Mitmensch erkennbar. Nur im gegenseitigen Übertritt manifestiert sich eine gemeinsame Mitwelt und damit die Menschlichkeit. Das zeigt uns Eastwood, wenn Walt zum ersten Mal das Haus und den Rasen seiner NachbarInnen betritt. Walt hat eigentlich Geburtstag und feiert allein auf seiner Veranda, bis Sue vorbeikommt und ihn zum Barbecue einlädt. Er stimmt widerwillig zu. Unbeholfen folgt er ihr und wird von den zahlreichen Hmongs im Haus argwöhnisch beäugt und von der Großmutter brüsk auf Hmong zum 47 Vgl. Noemi Tömmel 2013: 273; s. a. Arendt 2013a: 316. 48 Arendt 2013a: 249.

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Gehen aufgefordert. Derweil begeht er den Fehler, einem kleinen Mädchen auf den Kopf zu fassen, was mit einem deutlichen Raunen kommentiert wird: Im Kopf wohne die Seele der Menschen und das Hätscheln des Kopfes wird von ihnen als eine grobe Verletzung ihrer kulturellen Tradition interpretiert. Walt wird nach und nach von Sue in die Kultur der Hmong eingeführt und erhält letztlich in der Konfrontation mit dem Haus-Schamanen die Chance, sich und sein Leben zu reflektieren. In dieser Form der etablierten Gemeinsamkeit öffnen sich die Beteiligten zur einer neuen mitmenschlichen Welt. Sie lernen sich nicht nur als NachbarInnen kennen, sondern sie etablieren miteinander eine Weltlichkeit, in der sie sich mit-wahrnehmen. So entsteht plötzlich der mundus, wofür es eben mitnichten eine politische Bühne braucht. Offensichtlich findet solch ein Austritt aus dem Privaten nicht ohne Komplikationen statt. Wo zwei Leben aufeinanderprallen, scheint es auch zum Konflikt zu kommen. Das muss Walt spüren, als er im Haus der Hmongs weilt. Das muss auch Thao spüren, der nach dessen Besuch anfängt, für Walt zu arbeiten. Eastwood erzählt im Film, dass sich ihre Perspektiven nicht ohne Konflikte annähern, die jedoch eine Voraussetzung zur Etablierung einer geteilten Mitwelt sind. Walt und Thao bringen sich gegenseitig etwas bei und nehmen gemeinsam das in Angriff, was in den Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen als eine explizite und einseitige Forderung an diejenigen, die in erster Linie Schutz suchen, ausgedrückt wird: Wenn die Ausländer ordentlich wären und arbeiteten, wäre das ja alles kein Problem.49 Eastwood nimmt die DemonstrantInnen beim Wort und lässt den Ausländer arbeiten. Aber dieses Arbeiten funktioniert symbolisch. Thao arbeitet nicht für Walt, sondern für die gesamte Nachbarschaft, indem er ihre Dinge repariert. Thao arbeitet aber nicht nur, sondern er bringt sich zusammen mit Walt in die Mitwelt des Viertels ein. Insofern ist hier Arbeit nicht als eine Tätigkeit verstanden, die Menschen der Nützlichkeit nach auszeichnet. Arbeit kennzeichnet im Film einen Vorgang, miteinander für die Mitwelt zu sein. Im Film bedeutet die Arbeit der beiden ein Miteinander-Handeln für die Mitwelt. Das Arbeiten ist kein inhaltliches, sondern ein filmisches Mittel, um das Miteinander-Handeln zu erzählen. Der Film inszeniert das Vermögen der Freundschaft in der Arbeit als eines des Aufeinanderzugehens. Das führt zu einem erfolgreichen Aufbau einer geteilten Welt, während die Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen in einer einseitigen Rhetorik und einem festen Standpunkt der Nutzungserwar-

49 Es fallen im Interviewmaterial immer wieder Sätze wie: „Ansonsten… die, die hier integriert sind, die ordentlich arbeiten, da hab ich absolut nichts dagegen.“, Teil 1, Minute 7’; „Wenn ordentliche Leute hier sind, können das auch Ausländer sein.“, Teil 1, Minute 14’; „Die können bei uns arbeiten, statt hier rumzulungern“, Teil 2, Minute 6’.

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tung verharren: Hier findet kein Teilen statt, sondern ein Diktat von Regeln, die für andere gelten sollen. Aber Walt muss erkennen, dass Thao keine Chance hat, an der etablierten Mitwelt teilzuhaben, wenn sie sich auf das Viertel beschränkt. Dieser mitweltliche Bezug ist zu klein, weil die Mitwelt weiter reicht. In dieser weiter reichenden Welt, in der Walt mit anderen zu Hause ist, kann sich sein Freund Thao nicht selbstständig bewegen. Da Walts eigentliche Mitwelt jedoch diejenige ist, die die größere Geltung beansprucht, muss Thao in diese eingeführt werden. Die Mitwelt verlangt die Fähigkeit, nicht nur in ihr zu arbeiten, sondern ein Vermögen zur Freundschaft zu besitzen und das meint, sich in der Mitwelt mit anderen bewegen zu können. Das Vermögen zur Freundschaft lehren und lernen die Freunde einander. Es wird in Gran Torino als die Fähigkeit vorgestellt, sich in den USA auch anderen gegenüber frei und sicher bewegen zu können. Dafür hat Eastwood zwei ausgesprochen interessante Bilder gefunden. Zum einen lernt Thao bei Walt eben in der Mitwelt zu handeln – im Film symbolisiert durch die Fähigkeit, Dinge zu reparieren bzw. zu arbeiten. Diese handwerkliche Fähigkeit wird zum zentralen Punkt des Verhältnisses zwischen Walt und Thao. Walt leiht dem Jungen Werkzeug, damit dieser selbstständig Reparaturen ausführt, aber er sorgt auch dafür, dass dieser einen Job in einer Baufirma annehmen kann, um ein späteres Studium zu finanzieren. Er gibt das Handwerk als eine Form des Handelns weiter. Zum anderen führt Walt den Jungen in eine im Film vorgestellte USamerikanische Sozialisierungsform ein. Damit Thao eben nicht der Welt der Nachbarschaft, die schnell zu einer privaten Welt werden kann, verhaftet bleibt, muss dieser lernen, sich frei zu bewegen, d. h. frei zu reden. Walt nimmt Thao mit zu seinem alten Gefährten, dem italienischstämmigen Friseur Martin. Diese beiden Gefährten beherrschen die Kunst der ritualisierten, sich einander beleidigenden Unterhaltung und können sich darüber ohne Komplikationen verständigen. Sich vertraut einander zu beleidigen verdeutlicht hier, sich vertraut in derselben Mitwelt zu bewegen / zu sprechen, weil man hier nur demjenigen mit Beleidigungen sinnvoll begegnen kann, der weiß, dass man ihn damit eben nicht beschimpft. Walt baut an der Mitwelt für Thao. Die Lektion von Walt und Martin ermöglicht Thao, sich (vornehmlich in den USA Clint Eastwoods) frei zu bewegen. Das fluchende Reden unter Gefährten schließt für Thao erst die Mitwelt der USA auf und bringt ihm letztlich auch einen Nebenjob im Baugewerbe ein. Walt hat seinem Freund nicht nur beigebracht, etwas zu reparieren (zu handeln), sondern sich unter Anderen – der tatsächlichen Öffentlichkeit – sprechend bewegen zu können. Walt sichert Thaos Existieren mittels der Einführung in US-amerikanische Gewohnheiten in dem weiteren Kreis des mundus ab. Das Tragische von Gran Torino besteht nun darin, dass dies nicht ausreichend ist. Thaos Existenz

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wird nach wie vor durch die Hmong-Gang bedroht, deren Mitglieder das Haus der Lors beschießen und Thaos Schwester vergewaltigen. Aufgrund dieser Situation beschließt der mittlerweile todkranke Walt, sich für den Freund zu opfern. Er stellt sich der Gang, die ihn verdächtigt, eine Waffe zu tragen. So lässt er sich von der Gang im Beisein der gesamten Nachbarschaft erschießen, woraufhin die Gangmitglieder verhaftet werden. Walt ist tot, Thao hingegen befreit.

V

Der Maßstab der Menschlichkeit: das Vermögen zur Freundschaft

„Und schweigend umarmt er den treuen Freund, Und liefert sich aus dem Tyrannen“50. Schillers Worte treffen Walts Tat im Konkreten. Es braucht den Mut sich auszuliefern, um für die Mitwelt befreundet zu sein. Das Vermögen zur Freundschaft schließt die Liebe zur mitmenschlichen Welt als eine Liebe für die Nachkommenden ein, aber ein Hängen am eigenen Leben aus. Walt hat sich nicht in sein Privatleben zurückgezogen, sondern hat den mutigen Schritt aus dem Privaten gewagt. Das Vermögen zur Freundschaft ist letztlich auch ein mutiges Handeln: „Denn im Gegensatz zu dem Privaten, wo in der Behütetheit der Familie und der Geborgenheit der eigenen vier Wände alles dazu dient und dienen muß, das Leben von Individuen zu schützen, steht die öffentliche, uns allen gemeinsame Welt – die schon darum, weil sie vor uns da war und nach uns weiterbestehen soll, sich um das schiere Lebendigbleiben und die elementaren Daseinsinteressen der einzelnen niemals primär bekümmern kann. Des Mutes in einem politischen Sinn bedarf es, um diese uns überdauernde Welt des Öffentlichen überhaupt zu betreten, nicht weil in ihr besondere Gefahren lauerten, sondern weil in ihr die Sorge um das Leben seine Gültigkeit verloren hat. Der Mut befreit von der Sorge um das Leben für die Freiheit der Welt. Des Mutes bedarf es, weil es […] niemals primär um das Leben, sondern immer um die Welt geht, die so oder anders aussehen, so oder anders uns überdauern soll.“51

Die Mitwelt wird durch Mut hergestellt. Denn sie ist eben keine private Welt nur für den Einen oder die Wenigen. Die Mitwelt zerfällt nicht mit dem Tod. Sie existiert für alle Menschen weiter : Menschlichkeit heißt deshalb, die Mitwelt aufrechtzuerhalten, weil in ihr die Menschen existieren. Menschlichkeit heißt, diese Welt für die Menschen zu bewahren. Das Vermögen zur Freundschaft ist das Vermögen für Menschen und für jene gemeinsame Mitwelt einzutreten, wie sie von den Vorausgehenden übergeben wurde und an die Nachkommenden weitergegeben werden soll. 50 Schiller 2004: 352. 51 Arendt 2013c: 208.

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In Schillers Bürgschaft geht es darum, dass die Freunde sich vor allem für die Welt ihrer Mitmenschen, einmal gegen den Tyrannen und einmal als Pflicht des Bruders, seine Schwester zu vermählen, einsetzen. In Eastwoods Gran Torino geht es um die Mitwelt, in der der junge Thao auch nach dem bevorstehenden Tod von Walt eine Chance haben soll. In beiden Fällen opfern sich die Freunde nicht allein für den Freund, sondern für die Mitwelt, die ja weiter existieren muss, auch wenn einer tot ist. Thao wird sich nur ein Leben aufbauen können, wenn die Gang ihn nicht mehr bedroht und ihn zum Eremiten macht. Er muss die Chance erhalten, sich frei zu bewegen. Für den Bestand einer menschlichen Welt, die ja erst zur Welt durch die Freiheit wird, opfert sich Walt und vererbt seinen Gran Torino an Thao.52 Damit ist nicht nur Thaos Leben bewahrt, sondern auch der Bestand der Mitwelt, in der sich Thao als Mit-Anderer einbringen kann. Aus dem „engines hum and bitter dreams grow“ des Titelsongs wird ein „engines hum and better dreams grow“. Gran Torino ist somit mehr als ein Freundschaftsdrama: Die Freunde sind nicht nur füreinander, sondern auch für die Mitwelt da, die nur sie zusammen gestalten können und deren Aufgabe es ist, sie als Geteilte zu erkennen und zu bewahren. Auch wenn Walt sich opfert, tut er es, weil ihm das Fortbestehen der Mitwelt und damit auch die Mitwelt seines Freundes Thao, dessen Vorankommen und dessen Zukunft wichtiger sind als sein eigenes Leben. Sein Opfer ist kantisch gesprochen als ein „interessenloses Weltinteresse“ zu verstehen.53 Interessenlos ist es, weil es nicht um ihn selbst geht, sondern lediglich im Interesse an eine Mitwelt gebunden ist. In diesem Sinne übertritt Walt die Schwelle der egoistischen Privatheit und erweist dem fremden Jungen den größten Gefallen, der in der Freundschaft möglich ist. Gran Torino stellt das Vermögen zur Freundschaft als eines vor, sich selbst und seine quasi egoistischen Ansprüche hintanzustellen. Es ist ein politisch-philosophisches Vermögen, in dem die existenziell-philosophische Menschlichkeit zum Ausdruck kommt. Der Maßstab, der hier an das PEGIDA-Phänomen herangetragen wird, ist das Vermögen zur Freundschaft, das sich als ein „interessenloses Weltinteresse“ offenbart, in dem nicht das eigene Überleben und auch nicht das bloße Leben des Freundes bzw. der Freundin relevant ist, sondern die Mitwelt, die Heimat für 52 „Die Welt wird unmenschlich, ungeeignet für menschliche Bedürfnisse, welche die Bedürfnisse von Sterblichen sind, wenn sie in eine Bewegung gerissen wird, in der es keinerlei Bestand mehr gibt.“, Arendt 2013b: 20. 53 „Die Welt zu lieben, verpflichtet die Menschen, sich gerade nicht bedingungslos dem Schicksal zu ergeben, sondern schöpferisch in ihr zu handeln. Inhaltlich muß der Begriff als eine Verbindung von Augustinus’ Liebesethik und Kants interessenlosem Wohlgefallen verstanden werden: Der amor mundi ist ein ,interessenloses Weltinteresse‘ (Arendt 2003: 577), ein Engagement für die Welt, das nicht auf Selbstliebe beruht, sondern will, daß die Welt sei.“, Noemi Tömmel 2013: 197.

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die Freunde und Freundinnen. In diesem Sinne zeigt sich das existenzielle Vermögen zur Menschlichkeit als ein politisches Vermögen zur Freundschaft. Legt man diesen Maßstab an PEGIDA an, so stellt sich die Frage, ob denn nicht auch die Äußerungen der PEGIDA-DemonstrantInnen für eine mitmenschliche Welt stehen? Eine Mitwelt, die eben auf eine Mitwelt ohne ,Ausländer‘ setzt? Vermittelt sich nicht in den Äußerungen der Anspruch, für eine ,fremdenfreie‘ und damit womöglich sichere Mitwelt der Nachkommenden einzustehen? Es muss klar sein, dass es eine Gewissheit auf eine sichere Welt überhaupt nicht gibt und geben wird, wenn man damit meint, einen Teil der Welt und damit der Mitmenschen nicht wahrnehmen zu wollen und den oder die Nächste/n lediglich als Gewährsmann oder Gewährsfrau zu verstehen. So verfinstert sich die Mitwelt. Nicht im Rückzug und in der Verteidigung eines Status quo äußert sich Menschlichkeit. Menschlichkeit wird da angesprochen, wo man vermag, seinen Fuß vor die Tür zu setzen und dafür zu sorgen, dass die Welt da draußen auch eine Mitwelt der Menschen bleibt, die mit jeder Geburt oder jeder Ankunft zur Mitwelt etwas Neues beitragen. Und das heißt mit Lessings Nathan gesprochen: „Wir müssen, müssen Freunde sein!“54 Aber damit ist nicht gemeint, lediglich einen Freund oder eine Freundin vorweisen zu können. Wir sahen, dass Walt im Friseur einen Freund besitzt und wir können sicherlich auch annehmen, dass die PEGIDA-DemonstrantInnen FreundInnen haben. Um ein privates Verhältnis geht es weder in Eastwoods Gran Torino noch in Arendts Gedanken zu Lessing. Allen geht es um das Vermögen zur Freundschaft mittels derer man sich für die Welt der Mitmenschen öffnet. Dieses aktive Sein-Mit-Anderen und nicht das passive Mit-Anderen-Sein wird durch die Fähigkeit zur Freundschaft erfahren. Mit Arendt wäre das Vermögen zur Freundschaft als eine politische Schwellen-Lebensweise zu verstehen, die Grenzen für eine gemeinsame Welt einreißt oder überschreitet. Freundschaft ist das Vermögen ins Gespräch zu kommen, um die Gemeinsamkeiten einer geteilten Welt zu stiften. Das Vermögen zur Freundschaft bedeutet somit nicht, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, um lediglich gegen statt für etwas zu demonstrieren. Das Vermögen zur Freundschaft heißt nicht allein, einen besten Freund oder eine beste Freundin zu haben, sondern miteinander auf die geteilte Mitwelt bezogen zu sein, damit diese menschliche Welt entstehen und wachsen kann. Blendet man die Mitmenschen aus, die vor der Tür stehen, ist das Vermögen zur Freundschaft verloren, fängt man an, die Menschen zu klassifizieren und eine bestimmte Eigenwelt exklusiv zu machen. In dem Vermögen zur Freundschaft und nicht in Formen von Brüderlichkeit beweist sich die Menschlichkeit, als eine Liebe zur Welt.55 „Denn menschlich ist 54 Lessing 1993: 533. 55 Arendt 2013b: 22.

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die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, daß in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand […] geworden ist.“56 Und Menschlichkeit ist der Ausdruck Arendts für die Mitwelt, die für uns Menschen zum gemeinsamen Gegenstand wird. Deshalb ist Freundschaft nicht einfach nur eine private und intime Beziehung, wie die Liebe, in der die Welt in Flammen aufgeht, sondern eine außerordentliche Weltbezogenheit.57 Das Vermögen zur Freundschaft ist die Aktualisierung der und die Erinnerung an die Menschlichkeit. Im Vermögen zur Freundschaft liegt mit Arendt somit ein Maßstab, Menschlichkeit auszumachen. Misst man daran die hier zugrunde gelegten Äußerungen der PEGIDA DemonstrantInnen, könnte man ihnen einen Mangel am Vermögen zur Freundschaft und damit Unmenschlichkeit attestieren. Bewiesen ist das noch lange nicht, aber in der Heranziehung eines Vermögens zur Freundschaft wäre immer wieder ein Maßstab gefunden, wie menschlich oder unmenschlich solche und ähnliche Bewegungen sind.

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Gast/freundschaft* Europa ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da. Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen

Gastfreundschaft stellt die Frage, wie wir zusammen leben wollen. Die Frage, wie gegen Nationalismus, populistische Bewegung, gegen Ressentiment und Feindseligkeit, gegen Alltagsrassismus und Xenophobie diejenigen in Europa willkommen geheißen und aufgenommen werden, die ihr Recht auf Mobilität wahrnehmen, ist sicherlich eine der dringlichsten unserer Zeit. Gastfreundschaft macht das aus, was wir als Ethik und Ethos bezeichnen, sie umfasst das Soziale und das Politische. Sie stellt nicht nur die Frage, in welcher, mit welcher Sprache ein Anderer, ein Fremder adressiert wird, sondern „Gastfreundschaft ist Sprache“, wie Jacques Derrida bemerkt.1 Es geht mithin auch darum, was Fremd-Sein und Heimisch-Sein bedeuten, Gastfreundschaft fragt nach Gemeinsamkeit und Alterität, Nähe und Distanz, Territorium und Grenze, nach Zugehörigkeit und Ausschluss. „Alle Gesellschaften schaffen Fremde; doch jede Gesellschaft schafft sich ihre eigenen Fremden und schafft sie auf eine eigene, unnachahmliche Art und Weise“, stellt der britische Soziologe Zygmunt Bauman fest.2 In diesem Sinne finden Gesellschaften unterschiedliche Wege, diejenigen aufzunehmen und mit denjenigen umzugehen, die als fremd gelten, die sie zu Fremden gemacht haben, weil sie einer (politischen) Gemeinschaft nicht angehören und mit der Entwicklung moderner Nationalstaaten der Zufall der Geburt über politische Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft entscheidet. Als universale Beziehungsform, die gleichwohl unterschiedliche Modi ihrer historischen Artikulation kennt, schaffen soziale Praktiken den Fremden ebenso, wie die Anforderungen der Gastfreundschaft den Umgang mit Fremden erlauben. Das, was wir mit dem Begriff ,Gastfreundschaft‘ fassen, organisiert eine Fülle von Praktiken, bewegt diskursive Felder, erlaubt Symbolisierungen – bereits der Symbolbegriff selbst * Eine erste Version dieses Beitrages ist erschienen in: Tyradellis 2015: 243–258. Ich beziehe mich hier auf meine Bemerkungen in Die Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage, Friese 2014: besonders Kapitel 3. 1 Derrida im Anschluss an Emmanuel L8vinas, Derrida/Dufourmantelle 1997: 41f. 2 Bauman 1995: 1.

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ist durch das antike symbolon, ein Erkennungszeichen zwischen Gast und Gastgeber, das auch vererbt werden konnte, ja schon an Gastfreundschaft gebunden. Historisch waren die Gesten der Gastfreundschaft eine religiöse, ethisch begründete und moralisch abgesicherte Pflicht, Gebot von Großzügigkeit, Wohltätigkeit und Nächstenliebe. Als ein Modus menschlicher Soziabilität, Bindung, Kooperation und Verbundenheit ist Gastfreundschaft aber auch an den Konflikt und an ihre andere Seite, an Negation, Ablehnung, Ungastlichkeit, Verfeindung und Feindschaft gebunden, sie macht immer auch ihre Ambivalenzen und Grenzen deutlich. Hospitalität verweist auf Risiko, Gefahr, das Unbekannte, auf Hostilität, und ihre mehr oder minder ritualisierten Gesten sollen diese ordnen und zügeln. Und noch selbst die – auch uns allen geläufigen – Gebote und Höflichkeitsregeln, die das Verhalten von Gast und Gastgeber ordnen, um beide vor „der geringsten Verletzung zu bewahren, das Interesse, jede Spur von Hostilität auszuschließen“ bewahren diese Ambivalenz.3 Doch auch wenn Gastfreundschaft einem Fremden gilt, eröffnet sie, wie die Freundschaft, zugleich einen Raum, der Unterschiede und Verständigung ebenso erlaubt, wie er Grenzen aufhebt und eindeutige Zugehörigkeiten hintertreibt. Wie Freundschaft wendet sie sich einem Anderen zu und begründet einzigartige Beziehungen zwischen unverwechselbaren Einzelnen, fragt nicht nach Herkommen, Nutzen oder Zweck. Wie Freundschaft etabliert sie eine Bindung, einen Austausch zwischen Gleichen, die sich als solche anerkennen. Wie Freundschaft etabliert sie eine Beziehung, die der Zeit standhält und Dauer schafft. Wie Freundschaft hat sie Anteil am geglückten Leben, an Tugend und Ethik, denn Freundschaft zu einem Anderen setzt Freundschaft mit sich selbst voraus, sie meint Sorge um den Anderen und Sorge um sich. Wie Freundschaft ist sie an die politische Gemeinschaft und Formen des Zusammenlebens gebunden, die sie ermöglicht.

Historische Semantiken und Ambivalenzen In seiner klassischen Untersuchung des Vokabulars der indo-europäischen Institutionen weist Pmile Benveniste den lateinischen Bezeichnungen für ,Gast‘, nämlich hostis und hospes unterschiedliche Bedeutungsfelder zu, die zwischen Freund und Feind schwanken und an die politische Ordnung eines Gemeinwesens, eines Staatswesens gebunden sind. Die ursprüngliche Bedeutung von hostis verweist auf denjenigen, der in einer „kompensatorischen Beziehung“ steht, ist er doch auch derjenige, der eine 3 Bahr 1994: 49.

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bindende, auf Gleichheit und Gegenseitigkeit beruhende Beziehung zwischen einem einzelnen Fremden und den Bürgern Roms herstellt.4 Zugleich war diese Bedeutung auch an munus, eine Ehrenstellung, die zur Gegengabe verpflichtete, und an mutuus, einen wechselseitig bindenden Kontrakt gebunden, der communitas begründet.5 So kann der Fremde, der Gast zum immunis, also zu demjenigen werden, der die Regeln der Reziprozität verletzt und damit zum ingratus wird. Wenn der hostis – anders als der peregrinus, ein Fremder, der außerhalb der Grenzen wohnte – die gleichen Rechte genoss wie ein römischer Bürger, man hostire ähnlich wie aequare, ,kompensieren‘, verwendete, dann meint das zugleich Gleichheit und Gegenseitigkeit – also die Pflicht, eine Leistung zu erwidern. In dieser Hinsicht verweist hospis wie auch der griechische x8nos und xen&a auf eine Allianz, einen wechselseitigen Pakt, der vererbt und also auch auf die Nachkommen übergehen konnte.6 Neben diesen Bedeutungsfeldern bezeichnet hostis/hospes aber auch den ,Feind‘ und rücken xenos, den Fremden, den Gast in eine sprachliche Nähe. Daneben steht eine Bindung an die Götter, die in den Wörtern hostia und Gast zum Ausdruck kommt. In diesem Kontext wird, wie mit dem Sündenbock, das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft, den Göttern und dem Fremden bezeichnet, arbeitet die Bedeutung an der Bindung des Fremden an den Feind und organisiert diese: hostia (das Opfer, die Opfergabe) bezeichnet, „im Gegensatz zu ,victima‘, dasjenige Opfer, das den Zorn der Götter zu beschwichtigen“ hatte, so Hans-Dieter Bahr, sie gilt als Sühne und Gabe „für ihren ,Gewaltverzicht‘“.7 Gastfreundschaft hat also vielfache religiöse und ethische Bezüge, mit der diese Beziehungen umgedeutet, zugespitzt und durchaus nicht vergessen werden. Denn die Fragwürdigkeit des Unbekannten, die Ambivalenz des Fremden speist sich auch aus der Begegnung mit dem Geheimnis, und auf die Bindung von Fremdheit an das Heilige ist vielfach hingewiesen worden. So ist das Gastrecht in der arabischen Welt an die Heiligkeit der Frauen eines Hauses gebunden worden, die den Hausherren, der über die Ehrenhaftigkeit des Hauses ebenso wacht, wie er sie verkörpert, verpflichtet, jedem Fremden – und noch seinem ärgsten Feind – Schutz zu gewähren, steht die Heiligkeit des Hauses doch über 4 Benveniste 1973: 77. 5 Roberto Esposito hat auf die Bindung von munus an die ,Gemeinschaft‘ aufmerksam gemacht. Die Bedeutungen von munus reichen von Amt, Funktion, Verpflichtung zu Aufgabe und Gefallen und binden an die Gemeinschaft. Wörtlich meint communitas „denjenigen, der munia oder munera teilt; jedes Mitglied der Gemeinschaft ist daran gehalten, soviel zu geben wie es erhält. Aufgaben und Privilegien sind die beiden Seiten einer Sache und die Alteration macht die Gemeinschaft aus“, Esposito 1998: 39. Munus war also eine Ehrenstellung, die an Reziprozität und an mutuus, einen bindenden Vertrag gebunden war. Der seinen Pflichten nicht nachkommende immunis wurde zum ingratus, vgl. Esposito 1998: IX–XXXVI. 6 Benveniste 1973: 76–79. 7 Bahr 1994: 37f.

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dem Imperativ der Vergeltung. Die heilige Pflicht, dem Fremden Asyl zu gewähren, ist aus vielen Kulturen ebenso bekannt wie die Vorstellung, die Götter zeigten sich – denken wir etwa an Philemon und Baucis oder an Abraham und Sarah – als Fremde oder Bettler. In dem Brief an die Hebräer8 heißt es: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ Und daher „gab es Zeiten“, wie Bahr bemerkt, „die geboten“, den Gast nicht „nach seinem Namen, seiner Herkunft, seinem Begehr zu fragen, nicht einmal, ob er ein Unsterblicher oder Sterblicher sei“.9 Und kaum etwas offenbart diese Ordnung, das Gesetz (nomos) wohl deutlicher als Zeus Xenios, der über den Schutz der Fremden wachte, während die (politische) Gemeinschaft und das Recht, die Gesetze (nomoi) seine Wirksamkeit garantieren sollten.10 Nichts scheint dann schändlicher als die Verletzung des heiligen Gastrechts. Das Gesetz der Gastfreundschaft trägt die Spur einer göttlichen Ordnung in sich, verbürgt seine Wirksamkeit in der politischen Gemeinschaft und macht diese bindend. Gastfreundschaft ist also auch eine religiöse und moralisch-ethische Pflicht, die das Gemeinwesen ordnet und Großzügigkeit, Wohltätigkeit und Nächstenliebe verpflichtet ist. Das Alte und Neue Testament sowie der Koran verweisen auf das Gebot, Fremde zu beschützen und aufzunehmen, sie warnen eindringlich vor den Folgen der Missachtung dieser Anweisung. So verlangt das Alte Testament11, Fremde nicht schlecht zu behandeln oder zu unterdrücken, war man doch selbst als Fremde in Ägypten; zugleich besteht die Pflicht, auch Fremden

8 Hebr. 13, 2. 9 Bahr 1994: 27. Auch altem arabischem Brauch war es mehr als unschicklich, den Gast nach „Namen, Herkunft oder nach Ziel und Zweck der Reise zu fragen“, Pitt-Rivers 1968: 22. Die homerische Gastszene kennt freilich die Offenbarung des Namens, der Herkunft und Verwandtschaft, die jedoch erst nach dem Gastmahl und den Trinksprüchen eröffnet wird – auch mahnt der homerische Gastgeber den Gast, auf Fragen nach „Namen, Herkommen und Anliegen ehrlich zu antworten“, Reece 1993: 29. 10 Diesen Zusammenhang erkennt schon Platon: „Was aber unsere Pflichten gegen Kinder, Anverwandte, Freunde und Mitbürger sowie die von den Göttern befohlene Dienste gegen Gastfreunde und die Rücksichten im Verkehr mit ihnen allen betrifft, durch deren Erfüllung wir unser Leben, den Anforderungen des Gesetzes gemäß, erheitern und schmücken sollen, so müssen die Gesetze selbst die nähere Ausführung darüber geben, indem sie durch überredende Mahnung, oder, wo gegenüber der Verstocktheit der Gemüter die Überredung versagt, durch den Zwang der Gewalt und der rechtlichen Strafe unter gnädiger Beihilfe der Götter dahin wirken, dass unserem Staate Glück und Segen beschieden sei“, denn, so Platon weiter : „Die Verpflichtungen […] gegen die Gastfreunde muss man für unverbrüchlich heilig halten, denn fast alle Vergehen der Fremden und wider die Fremden sind, verglichen mit denen, die sich auf Mitbürger beziehen, in höherem Maße der Rache Gottes anheimgegeben; denn der Fremde, verlassen von Freunden und Verwandten, ist erbarmungswürdiger für Menschen und Götter“, Platon 1993: 4. Buch, 718 St: 134, 729, 148, meine Hervorhebung. 11 Ex. 22, 21.

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Asyl und Freistätten vor Blutrache zu gewähren12. Ebenso fordert das Neue Testament Nächstenliebe, Wohltätigkeit und Gastfreundschaft13. Unter den Werken der misericordia – dem Hungernden und Dürstenden Speise und Trank anzubieten, den Nackten zu kleiden, dem Kranken und dem Gefangenen zur Seite zu stehen – steht die Aufforderung, den Fremden aufzunehmen und zu beherbergen, an dritter Stelle.14 „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan“15 und den „Verfluchten“ gilt für verweigerte Gastfreundschaft beim Weltengericht unweigerlich das „ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist“16.17 Zudem: Sind wird nicht alle Fremdlinge in dieser Welt? Stehen wir im irdischen Leben nicht immer erst davor, vor das Weltengericht zu treten und in das Reich Gottes einzugehen? Auch der Terminus agap8 verweist, etwa in der Verwendung von Paulus in den Briefen an die Korinther, auf Bindung und Gastfreundschaft (und ist in der christlichen Tradition und in der lat. caritas dann von philia und besonders von eros unterschieden). Zugleich radikalisiert und politisiert Paulus die Verfügung aller abrahamischen Religionen, wie Jacques Derrida bemerkt, und gibt ihnen „theologico-political names, since they explicitly designate citizenship or world co–citizenship”18 : „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen“19 (in der Lutherübersetzung; in der Schlachterübersetzung aus dem Jahre 2000: „So seid ihr nun nicht mehr Fremdlinge ohne Bürgerrechte und Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“). Damit wird die Polarität, die den fremden Gast auf der einen und den Bürger und seine Rechte auf der anderen Seite verortet, 12 5 Mos. 4, 41–43; Jos 20; Dt. 4, 41–43; 19, 1–14. 13 Röm. 12, 13; Petr 4,9. 14 Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm bemerkt: „Fremdling“ bezeichnet den „peregrinus, hospes, gast, mhd. vremdelinc, in LUTHERS bibel über hundert mal, z. b. da zog Abram hin ab in Egypten, das er sich daselbs als ein frembdling enthielte. 1 Mos. 12, 10; und wil dir und deinem samen nach dir geben das land, da du ein frembdling innen bist. 17, 8; bist du allein unter den frembdlingen zu Jerusalem, der nicht wisse, was in diesen tagen drinnen geschehen ist? Luc. 24, 18; so seid ir nu nicht mehr geste und frembdlinge (goth. sai nu ju ni sijuI gasteis jah aljakunjai). Eph. 2, 19; […] führ ihn auch in die stadt den unglückseligen fremdling, dort sich kost zu erflehn, es geb ihm jeder nach willkür etwas brosem und wein. Od. 17, 10; nur ein fremdling, sagt man mit recht, ist der mensch hier auf erden. GÖTHE 40, 335; da beugt sich jede erdengrösze dem fremdling aus der andern welt. SCHILLER 80b; ein fremdling tritt er in sein eigenthum, das längst verlaszne ein. 336b ; doch ich soll sterben unter fremdlingen, nur eure thränen soll ich flieszen sehn? 441b.“, Grimm/ Grimm 1854–1961. 15 Mt. 25, 45. 16 Mt. 25, 41. 17 Das Evangelium nach Matthäus, Vom Weltgericht. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholische Bibelanstalt, Universität Innsbruck 1980. 18 Derrida 2001: 19. 19 Eph. 2, 19–20.

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aufgenommen, in spezifischer Weise umgedeutet und einem universalen Anspruch eingeschrieben. Gehört der Gast, der Fremde daneben dann lange schon dem Recht und dem Gemeindeleben zu, ist er den Bestimmungen städtischer Gast- und Polizeiordnungen unterstellt, so wird die enge Verbindung zwischen Gastfreundschaft, Mildtätigkeit, Barmherzigkeit und Mitbürgerschaft im christlichen Erbe im Laufe der Zeit institutionalisiert und bekommt besondere Orte: Es entstehen die Hospize (Spitäler) und Orden, die nicht nur den Pilgern zu den heiligen Stätten Schutz und Obdach gewähren. Auch übernehmen diese Institutionen und philanthropischen Vereinigungen die Kranken- und Armenfürsorge und die Aufgabe, Witwen und Waisen, aber auch Bettler und Vagabunden, die ,wilden Gäste‘, also diejenigen, die aus der sozialen Ordnung fallen, in ihr Regime aufzunehmen. Die alte Gabenmoral wird umgedeutet, wie auch das einstige Opfer, das den Fremden, den Feind, den Göttern darbot, sich zum wohltätigen Almosen entwickelt. Die alte „Gabenmoral“, so bemerkt Marcel Mauss, wird zugleich zum „Gerechtigkeitsprinzip“ umgedeutet – wie auch das einstige Opfer, das den Fremden, den Feind, den Göttern darbot, sich zum wohltätigen Almosen entwickelt.20 Um 1500 beginnt in Europa „die Jagd auf Vagabunden, die Jagd nach Bettlern, die Jagd auf Müßiggänger“, und zwischen 1650 und 1750 entstehen Institutionen wie das Armenhaus.21 Diese verweisen auf das alte Asylrecht ebenso wie das ,Hospital‘ (von lat. hospitale, hospitalis, hospes-hospit) nicht nur sprachlich Gastfreundschaft anzeigt. Diese Einrichtungen machen zugleich einen Fremden im Inneren, einen ,Feind‘ kenntlich, der kolonisiert, durch ein Ensemble von Überwachung, Kontrolle, Vorschriften, Blicken gezähmt und der Ordnung eingegliedert werden muss. Es entstehen die Arbeitshäuser, mit denen auf der einen Seite Armut institutionalisiert wird, um auf der anderen Seite zugleich durch Arbeitsdisziplin, Besserungsmaßnahmen, religiöse Erziehung, später bürgerliche Pädagogik und Sozialhygiene einen Disziplinarraum zu eröffnen und die Unterordnung des entstehenden Proletariats in den Takt und den Raum der Fabrik einzuüben. Die französische Revolution trägt nicht nur die Fahnen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern auch die des Prinzips einer Nationen umspannenden Völkerfreundschaft und eines Universalismus, in dem jeder, gleich welcher Herkunft, Asyl, Aufnahme und gleiche Bürgerschaft finden soll. Im Namen des französischen Volkes sollen Fremde aus aller Welt Asyl finden, ihre Sitten und Gebräuche respektiert werden, soll „nationales Gesetz doch nicht die Grenze, sondern das universelle Gesetz garantieren und Fremde die Ehre 20 Mauss 1975: 36. 21 Foucault 1994: 317.

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teilen, im Lichte dieser Universalität zum Bürger zu werden“22. Mit der universalistischen Affirmation jedoch setzt die souveräne Nation der republikanischen Gastfreundschaft Grenzen und wird zur „republikanischen Ungastlichkeit“, die sich über administrative Aufenthaltsregelungen etabliert und die Spannung zwischen universalem Recht und partikularer Ausgestaltung zeigt. Im aufgeklärten Kosmopolitismus beruht Gastfreundschaft auf universalistischer Grundlage und erlaubt eine freundschaftliche Beziehung zwischen Gleichen. Doch diese Regelungen erklären den Fremden zum potentiellen Feind der Revolution und werfen die Frage nach Loyalität auf. Fremde benötigen ein certificat d’hospitalit8, das nach der Bürgschaft von zwei patriotischen Bürgern ausgestellt wird.23 Gastfreundschaft trägt dann nicht das Prinzip universeller Gleichheit in sich, sondern kann nur über loyale Bürger erlangt werden und etabliert damit eine ungleiche Beziehung zwischen Gast und Gastgeber, die zugleich den Verdacht beherbergt und den Feind erneut der Gastfreundschaft einschreibt. Mit der Entstehung moderner Nationalstaaten, dem Projekt, die Kongruenz von Sprache, Kultur, Abstammung, Geburt und Territorium zu etablieren und Staatsbürgerschaft derart naturalistisch zu begründen, wird die Aufnahme von Fremden, von ,Ausländern‘ – die lang schon dem Fremdenrecht, dem Polizeiwesen und seinen Überwachungssystemen unterstehen – zur öffentlichen, staatlichen Aufgabe und unterliegt nationalem und internationalem Recht. Auch wirft die Gewährung von (politischem) Asyl – nicht erst mit der französischen Revolution – das Problem der Loyalität von Flüchtlingen zum Staatswesen auf, das bis heute die Diskussionen um Fragen der (doppelten) Staatsbürgerschaft bewegt und den „Gast, der bleibt“ (Georg Simmel), zwischen Freund und Feind situiert. Nicht nur das deutsche Einbürgerungsrecht, in anderen Sprachen nicht umsonst ,Naturalisierung‘ genannt, sieht eine Loyalitätserklärung vor, verlangt vom Fremdem, was dem qua Geburt naturalisierten Bürger zukommen soll, die Identifikation mit einer als natürlich imaginierten Gemeinschaft und ihrer historisch zufälligen nationalstaatlichen Grenzen. Doch auch der Bezug auf göttliche Ordnung wird durchaus nicht gänzlich abgebrochen und findet bis heute u. a. im Kirchenasyl Ausdruck, das Schutz vor Verfolgung und Immunität verspricht, ebenso wie sich die jüngste refugee cities-Bewegung auf ein altes Recht von Städten beruft, Verfolgte und Exilierte in ihren Mauern aufzunehmen. Die historischen Semantiken zeichnen den Gast als Fremden aus, sie markieren denjenigen, der nicht dazugehört, den Nicht-Bürger, den potentiellen Feind, und Gastfreundschaft verweist damit immer auch auf eine Ambivalenz, den Konflikt, den die Regeln der Gastfreundschaft ja gerade eindämmen sollen. Was als eine religiös begründete und vermittelte Tugend gefasst wurde, Ethik 22 Wahnich 1997: 109. 23 Wahnich 1997.

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und Moral gehorcht, gehört dann zugleich der formalen Ordnung des Rechts zu und ist seinen Bestimmungen eingeschrieben. Aus Gastfreundschaft in Formen christlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe wird – auch und gerade in Kants Kosmopolitismus – ein rechtlicher Anspruch, Verpflichtung zur Aufnahme und institutionalisierter, organisierter Solidarität, ein universelles Menschenrecht auf Schutz und Asyl, das die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekräftigt. Aus Gastfreundschaft im privaten Raum mit ihren austarierten Gesten gegenseitigen Gebens und Nehmens wird ein kodifiziertes System aus Rechten und Pflichten, das durch Zugehörigkeit und politische Mitgliedschaft, durch Geburt und Staatsbürgerschaft bestimmt ist, zugleich aber auch den ambivalenten Status des Fremden markiert, ihn zwischen Freund und Feind ansiedelt, die unerwünschten Fremden illegalisiert und einem Grenzregime unterwirft.

Anforderungen der Gastfreundschaft Gastfreundschaft fragt nicht nach Nutzen oder Zweck. „Es ist sogar ein Lob, die Gäste entbehren zu können, und sie trotzdem stets freundlich aufzunehmen“, so weiß noch Jean-Jacques Rousseau.24 Braucht man Gäste? Gilt Gastfreundschaft nur dem, der gebraucht wird? Ist nicht vielmehr der Gastgeber auf die Ankunft eines Fremden angewiesen? Wer gibt und wer empfängt? Untersteht der Gast ökonomischem Kalkül? Muss man sich Gäste ,leisten‘ können, wenn berechnender Gewinn nicht erzielt werden kann? Steht jegliche Form von Gastlichkeit unter dem moralischen Anspruch, vom Gast erwidert zu werden? Erwartet sie nicht die Gegengabe für erwiesene Freigiebigkeit, sondern rechnet mit unwiederbringlichem, gar ruinösem Verlust? Kann der Fremde, der keiner Zweckmäßigkeit zugehört, keinen Ort finden? Ist Gastfreundschaft an den wechselseitigen Tausch gebunden? Etabliert sie eine instrumentelle Beziehung? Gastfreundschaft erlaubt, festigt und bezeugt Freundschaft zwischen unverwechselbaren, einzelnen Menschen um ihrer selbst willen. Sie gleicht damit der Freundschaft, einer tugendhaften und vollkommenen Beziehung zu einem Anderen, die seit der Antike von der Nutzfreundschaft abgegrenzt ist, in der ein Anderer nicht um seiner selbst willen, sondern um des Vorteils geschätzt wird. Auch setzt Freundschaft zu anderen Freundschaft mit sich selbst voraus, sie verlangt nicht nur Sorge um den Anderen, sondern ebenso auch Sorge um sich. Zum anderen erweist sie sich, wie die Gastfreundschaft, im praktischen Vollzug, als gelebte Praxis, in der Tugend sich artikuliert und verwirklicht. Auch setzt „Freundschaft Gemeinschaft voraus“, so schon Aristoteles, der Freundschaft an

24 Rousseau 1998: 452f.

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die politische Verfassung der polis und an die Art und Weise bindet, wie diese Gemeinsamkeiten fördert.25 Die Beziehung von Gleichheit und Einzigartigkeit soll auch die Demokratie kennzeichnen, und Jacques Derrida hat den Versuch unternommen, die Berücksichtigung der irreduziblen Singularität des Einzelnen zur Grundlage einer „Politik der Freundschaft“, der Gerechtigkeit zu machen, in der kaum askriptive Beziehungen – wie Verwandtschaft, Familie, Nation, Kultur – bestimmen, wer im öffentlichen Raum gehört wird.26 Nicht Zugehörigkeit, Gleichbehandlung oder gar instrumenteller Nutzen, sondern vielmehr der unverwechselbare Einzelne in seiner Differenz zu anderen steht hier im Mittelpunkt des Politischen. Gerade im Angesicht populistisch-xenophober Bewegungen ist es kein Wunder, dass jüngste Lektüren von Kants kosmopolitischem Entwurf und Konzepte globaler Gerechtigkeit soziale, kulturelle oder nationalen Grenzen und die „post-westfälische Grammatik“ hinterfragen, die unheilige Trinität Abstammung/Geburt – Territorium – Nation und die vermeintliche Kongruenz zwischen kultureller Identität, Territorium, Zugehörigkeit unterminieren und dagegen die „Rechte von Anderen“ betonen.27 Daneben beharren jüngere Perspektiven auf der Forderung nach unbedingter Gastfreundschaft. „Absolute Gastfreundschaft“, wie Jacques Derrida sie beschreibt, verlangt den bedingungslosen Empfang eines Anderen, sie verlangt, ihn „bei mir, bei mir Zuhause“ aufzunehmen, ihm/ihr einen Ort zu ,geben‘, ohne nach „Identität, Name, Pass, Arbeitsfähigkeit oder Herkunft“ zu fragen.28 Diese bedingungslose, fraglose Aufnahme bricht mit den konventionalisierten Gesetzen der Gastfreundschaft, mit dem Pakt, wie ihn Benveniste beschrieben hat, sie verlangt also weder Reziprozität noch Identifizierung. Absolute Gastfreundschaft liegt jenseits der Ordnung des Rechts, seiner Anwendung, eines Urteils, sie bricht mit den Gesetzen und seinen Regelungen, die Gastfreundschaft Bedingungen und Einschränkungen vorgeben und diese pervertieren. Sie bleibt, wie Derrida bemerkt, dem Recht stets ebenso fremd wie Gerechtigkeit dem Recht, auch wenn diese doch untrennbar aneinander gebunden sind:29 Absolute, bedingungslose Gastfreundschaft ist also als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Gastfreundschaft und ihrer Gesten zu verstehen.30 Dieser Entwurf steht natürlich in einer spezifischen, wenn auch heterogenen und verzweigten Tradition, ist immer auch rückgebunden an einen Kosmopolitismus und den Entwurf eines Weltbürgerrechts – auch wenn es sich deutlich von diesem absetzt. 25 26 27 28 29 30

Aristoteles 1983, 1159b 29–1160a 16: 229. Derrida 1994. Benhabib 2004. Derrida/Dufourmantelle 1997. Derrida/Dufourmantelle 1997: 29. Derrida/Dufourmantelle 1997: 29.

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Denn wenn Kants Kosmopolitismus Hospitalität als ein Weltbürgerrecht entwirft, das an staatliche Autorität, die Kontrolle von Residenz und Aufenthaltsdauer gebunden ist, dann wird hier eine Begründung von Gastfreundschaft versucht, die sowohl jenseits des bestehenden Nationalstaats als auch jenseits dieses Kosmopolitismus liegt. Wenn Gastfreundschaft auf absolute, uneingeschränkte Gastfreundschaft als Bedingung ihrer Möglichkeit verweist, in welcher Beziehung stehen dann Gastfreundschaft und Freundschaft? Sprechen wir von Gastfreundschaft, dann ist zunächst auf die Ambivalenz zwischen Freund und Feind verwiesen, soll ein unbekannter Fremder doch zum Freund gemacht und Feindschaft eingehegt und abgewendet werden. Zugleich richtet sie sich in der nationalstaatlichen Ordnung, die Ethnos, Territorium und Souveränität zusammenbindet, an diejenigen, die als nicht zugehörig gelten. Sie zeigt also Grenzen an ebenso wie sie Grenzen aufhebt, auf (staatliche) Souveränität und zugleich auf deren Einschränkung im Zuge zunehmender Mobilität verweist. Gastfreundschaft ist keine mildtätige, philanthropisch-humanitäre Geste, denn sie gehört Recht und Gesetz zu, auch wenn sie durch das Recht eingeschränkt wird. Im Gegensatz dazu ist Freundschaft nicht dem Recht und staatlichen Gesetzen unterworfen. Es gibt ein Gastrecht, aber bekanntlich kein Recht auf Freundschaft oder eine rechtlich bindende Vereinbarung, die Freundschaft begründen und absichern könnte. Trotz dieser Unterschiede teilen sie sich Gemeinsamkeiten. Gastfreundschaft und ihre Gesten beruhen auf Großzügigkeit und Freigebigkeit ebenso wie auf Gegenseitigkeit und reziproker Verpflichtung, die ein unverwechselbares Band erst begründet. Wie die Freundschaft eröffnet sie zugleich Beziehungen zu einem singulären Anderen, die durchaus nicht nach Nutzen, Zweck und Dienlichkeit für den einzelnen oder die politische Gemeinschaft fragt, sondern unverwechselbare, einzigartige Bindungen schafft. Wie Freundschaft sprengt sie Zugehörigkeiten, die durch Geburt, Familie, Verwandtschaft und Nation zukommen, gehört damit Wahl und Autonomie ebenso zu, wie die ungefragte Ankunft eines Anderen diese sprengt. Wie Freundschaft beruht sie nicht auf wohltätigem Wohlwollen oder subjektivem Wohlbefinden, sondern ist eine ethisch fundierte Bindung. Freundschaft ist immer auch Gastfreundschaft, die einen unverwechselbaren Anderen in seiner Differenz aufnimmt. Freundschaft und Gastfreundschaft eröffnen Austausch, Gemeinsamkeit, aber auch Autonomie, Einzigartigkeit und Anerkennung und damit einen politischen Raum. Gastfreundschaft ist das Ethische, das Soziale, das Politische, sie betrifft die Grundlagen des Gemeinwesens. Wie der Freundschaft geht es ihr also um die Frage: wie zusammen leben?

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Autorinnen und Autoren

Cristian Alvarado Leyton, ehemaliger Postdoktorand am Graduiertenkolleg mit einem Habilitationsprojekt über die Kinder verschwundener politischer Gefangener in Argentinien. Promotion in Ethnologie über Patenschaft und Patronage (Universität Hamburg). Studium der Ethnologie, Neuere deutsche Literatur, Pädagogik, Linguistik (Universität Hamburg) und der Antropolog&a Social (Universidad de Chile, Santiago). Publikationen (Auswahl): Allianzbeziehungen der Patenschaft, Hamburg: Lit, 2006; Kapitaleliten und ihr meritokratischer Mythos. Zur Verbindung des marxschen und bourdieuschen Kapitalbegriffs als Grundlage für eine kritische Elitenforschung. In: Zeitschrift für kritische Theorie 24/25, 2007; Native anthropology, Berlin: Lit, 2009; (Hg.) (mit Philipp Erchinger): Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz, Bielefeld: transcript, 2010; (Hg.): Der andere 11. September. Gesellschaft und Ethik nach dem Militärputsch in Chile, Münster : Westfälisches Dampfboot, 2010; Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas. In: Anthropos 106, 2011; Ritual and fictive kinship. In: Hilary Callan (Hg.): International encyclopedia of anthropology, Chichester : Wiley-Blackwell, i.E. Iannis Carras holds a Ph.D. from the University of Athens focusing on merchants and trade between the Ottoman and Russian Empires in the 18th century. He studied history and philosophy at Oxford University (Lincoln College) and did a Masters at the School of Advanced International Studies of Johns Hopkins University specialising in the politics and economics of Central and Eastern Europe. He has taught at the International Hellenic University in Thessaloniki, the Ionian University of Corfu, the Albert-Ludwigs-University Freiburg, and the Institute for the International Education of Students, Freiburg. He was a fellow of the Graduiertenkolleg from May up until November 2014. His most recent publications are “Understanding God and tolerating humankind: Orthodoxy and the Enlightenment in Evgenios Voulgaris and Platon Levshin”, in P. Kitromilides (ed.), Enlightenment and Religion in the Orthodox World, Voltaire Foundation, Oxford, 2016, pp. 73–139, and “Connecting Migration and Identi-

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Autorinnen und Autoren

ties: Godparenthood, Surety, and Greeks in the Russian Empire (18th–early 19th centuries)” in O. Katsiardi-Hering, M.A. Stassinopoulou (eds.), Across the Danube: Southeast Europeans and their Travelling Identities (17th–19th centuries), Brill, 2016, pp. 65–109. Silke Edinger promoviert seit 2013 am Graduiertenkolleg mit dem Arbeitstitel „Spielräume der Macht“. Der Zeitraum ihres Dissertationsvorhabens spannt sich über die sächsischen Regierungen unter den Herzögen Georg und Heinrich, sowie den Kurfürsten Moritz und August – 1500–1586. Fokus liegt dabei auf den Räten der vier Herrscher und wie diese ihre Spielräume zu nutzen wussten. Sie hat von 2006 bis 2013 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Amerikanistik und Neuere und Neueste Geschichte studiert und bei Herrn Prof. Asch ihre Abschlussarbeit zum Reichstag von 1548 verfasst. Sara Frenzen promoviert seit Dezember 2012 am Graduiertenkolleg. Ihre Promotion trägt den Arbeitstitel „Die Kunst der Freundschaft – Eine Analyse künstlerischer Projektgruppen in der Konflikttransformation“. Sie hat Friedensund Konfliktforschung (MA) an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert und besitzt langjährige Erfahrung in verschiedenen sozial und ökologisch engagierten Projekten in Deutschland, England, Frankreich und Spanien. Vor der Promotion übte sie zuletzt verschiedene Tätigkeiten der Projektkoordination in der Freiwilligenagentur Magdeburg aus und war ehrenamtliche Editorin eines Stadtteilmagazins. Heidrun Friese ist Kultur- und Sozialanthropologin und Professor für Interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz. Ihre Forschungsinteressen umfassen soziale und politische Theorien, postkoloniale Perspektiven, (kulturelle) Identitäten, Grenzen und transnationale Praktiken, Freundschaft und Gastfreundschaft, (undokumentierte) Mobilität und digitale Anthropologie. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u. a.: Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlingen von Lampedusa und die europäische Frage, Bielefeld: transcript, 2014; der Sonderband über Mobilität und Sozialtheorie, European Journal of Social Theory (hg. mit Sando Mezzadra), 2010; Europe’s otherness. Cosmopolitism and the construction of cultural unities. In: Gerard Delanty (Hg.), Europe and Asia Beyond East and West: Towards a New Cosmopolitanism, London: Routledge, 2006; Cultural identities. In: Gerard Delanty (Hg.), Handbook of Contemporary European Social Theory, London: Routledge, 2006; Mitherausgeberin: Europa, costituzione e movimenti sociali, Rom: manifestolibri, 2003; Hg.: Identities. Time, Boundaries and Difference, Oxford: Berghahn, 2002; Europa politica. Ragioni di una necessit/ (hg. mit Toni Negri und P. Wagner), Rom: manifestolibri, 2002. The Moment. Time and Rupture in Modern

Autorinnen und Autoren

255

Thought (edited), Liverpool: Liverpool University Press, 2001; Hg. (mit Aleida Assmann): Identitäten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. Mark Greengrass is Emeritus Professor in Early Modern History at the University of Sheffield and Associate Fellow at the Centre Roland Mousnier (UMR 8596) Universit8 de Paris IV (Sorbonne). His most recent book is Christendom Destroyed. A History of Europe (1517–1648) (London; Penguin, 2014). He is currently working on the politics of communication in Renaissance France, and editing the correspondence of the king’s lieutenant in Dauphin8 in the wars of religion, Bertrand Simiane de Gordes. Christian Kühner studierte Geschichte, Romanistik und Politikwissenschaft an der Universität Freiburg und an der Sorbonne. Als Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs wurde er 2011 mit einer binationaler Betreuung an der Universität Freiburg und der Ecole des hautes 8tudes en sciences sociales promoviert. Er war Postdoc am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, an der Universität Stanford und an der Universität Cambridge. Seit 2013 ist er als Wissenschaftlicher Assistent und Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Freiburg beschäftigt. Sein Buch „Politische Freundschaft bei Hofe. Repräsentation und Praxis einer sozialen Beziehung im französischen Adel des 17. Jahrhunderts“ erschien 2013 bei V& R unipress. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands und Frankreichs; Konfessionelles Zeitalter, insbesondere Geschichte des frühneuzeitlichen Katholizismus und dessen religiöse Praktiken; Geschichte von Freundschaft und Patronage; Geschichte des Alltagslebens in der höfischen Gesellschaft; Kultur des frühneuzeitlichen europäischen Adels, insbesondere dessen Selbstzeugnisse. Christian Müller promovierte im Rahmen des Graduiertenkollegs mit dem soziologischen Dissertationsprojekt Doing Jazz. Zur Konstitution einer kulturellen Praxis. Er hat zuvor an den Universitäten Freiburg, Basel und Barcelona Soziologie, Psychologie und Medienwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Mikrosoziologie, Symbolischer Interaktionismus, Qualitative Sozialforschung, Musiksoziologie. Andr8 Reichert ist Philosoph und arbeitete als Postdoktorand im Graduiertenkolleg zu einer „Theorie der philosophischen Personifikationen“. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des 17. Jahrhunderts, französische Nachkriegsphilosophie, Metaphysik, Diagrammatik, Denkfiguren und philosophische Personifikationen. Er promovierte im Graduiertenkolleg

256

Autorinnen und Autoren

„Schriftbildlichkeit“ an der FU Berlin bei S. Krämer und U.J. Schneider, vgl.: Ders.: Diagrammatik des Denkens. Descartes und Deleuze, Bielefeld: Transcript, 2013. Zusammen mit Christian Driesen ist er Herausgeber von „molp8. Zeitschrift für ambulante Metallurgie“. Er ist Mitherausgeber von: Nietzsche und die Postmoderne, hg. ders., J.d. Salas, U.J. Schneider, Leipzig: Universitätsverlag, 2012. Artikel (Auswahl): Eintrag: „Poststrukturalismus/Dekonstruktion“, in: Bild und Methode, Hg.: Netzwerk Bildphilosophie, Köln: Halem, 2014. „Deleuze und Nietzsche – Übungen in Verrat“, in: Nietzsche und die Postmoderne, Hg.: ders., J.d. Salas, U.J. Schneider, Leipzig: Universitätsverlag, 2012. „Diagrammatik als Präphilosophie und Metaphysik“, in: Sprache und Literatur, Themenheft Schriftbildlichkeit, Hg.: L. Jäger, G. Kurz, 42. Jg. 2011, Paderborn: Fink, 2011. Laura Ritter, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Ostslavischen Philologie und Wirtschaftspolitik (VWL) an den Universitäten Freiburg und Rom. Seit Dezember 2012 Doktorandin am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Universität Freiburg. Seit Juni 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg mit dem Promotionsprojekt „Der Generalmajor Aleksej Aleksandrovicˇ von Lampe und die russische Emigrantenkolonie in Berlin, 1922–1945“. Ingo Rohrer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sein regionaler Schwerpunkt liegt auf der Cono Sur Region des südlichen Amerika. Er arbeitet unter anderem zu Jugendkulturen, sozialen Nahbeziehung und Vertrauen. Ringo Rösener ist Kulturphilosoph und Filmemacher. Er promoviert am DFGGraduiertenkolleg zum Thema: Freundschaft als Liebe zur Welt. Ins Kino mit Hannah Arendt. (Abgabe 2016). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Film-, Sozial- und Kulturphilosophie, Hannah Arendt, Michel Foucault sowie Homosexualität im 20. Jahrhundert. Als Filmemacher und Autor hat er zusammen mit Markus Stein den Dokumentarfilm Unter Männern – Schwul in der DDR (ARD/MDR 2012) gedreht. Seit 2012 arbeitet er selbstständig an Marketingkonzepten für Dokumentarfilme. Von 2009 bis 2012 war er bei der Hoferichter & Jacobs GmbH sowie der Pentalpha gGmbH beschäftigt. 2009 schloss er sein Studium der Kulturwissenschaften, Theaterwissenschaft und BWL an den Universität Leipzig mit Studienaufenthalt in Bologna ab. Nicola Tams studierte Angewandte Kulturwissenschaften (M.A.) und ist derzeit Doktorandin am Husserl-Archiv der Universität Freiburg sowie Lehrkraft für besondere Aufgaben der Interkulturellen Kommunikation an der TU Chemnitz.

Autorinnen und Autoren

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Sie unterrichtet außerdem Philosophie, Kulturwissenschaften und wissenschaftliche Arbeitstechniken an der Universität Lüneburg und der BTK Berlin. Ihre Arbeitsgebiete umfassen Themen aus der Kulturtheorie, Sozialphilosophie, Ästhetik, französischen Gegenwartsphilosophie und Phänomenologie. 2014 erschien ihr gemeinsam mit Steffi Hobuß herausgegebener Sammelband Lassen und Tun. Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken im transcript Verlag, Bielefeld.

Personenregister

Abele, Ferenc 49, 51 Adorno, Theodor W. 75, 181, 183, 194 Aeclanum, Julian von 61 Alekseevna, Evgenija 42f. Althusser, Louis 180 Am8ry, Jean 182, 184 Arendt, Hannah 12, 219–224, 227–232, 235–238, 256 Aristoteles 7, 90, 95f., 99, 135, 152, 227, 248f. Augustinus 61, 90, 228f., 236 Bahr, Hans-Dieter 242–244 Balibar, Ptienne 186f. Bauman, Zygmunt 180, 182, 184, 241 Benjamin, Walter 181, 183, 194 Benveniste, Pmile 242f., 249 Bermont-Avalov, Pavel Rafailovicˇ 47f. Bibikov, Valerian 50f. Blanchot, Maurice 60, 68, 71, 73f., 188, 191f., 220 Blücher, Wipert von 39, 55 Botkin, Sergej 49, 53 Bourdieu, Pierre 186f., 215f. Bruno 60, 67f., 71f., 141

Deleuze, Gilles 59f., 62–70, 75f., 256 Derrida, Jacques 11, 59, 179f., 184, 186–194, 241, 245, 249 Descartes, Ren8 60f., 63f., 67f., 70, 72, 75, 113, 159f., 193, 256 Dionysos 65 Eastwood, Clint 12, 219, 221, 224f., 232–234, 236f. Efimovskij, Militär 52 Elpino 71f. Epistemon 63, 70, 72 Epstein, S.R. 85 Erasmus von Rotterdam 157, 163, 168 Fanon, Frantz 241 Ferdinand I. 18 Fern#ndez de Kirchner, Cristina Flasch, Kurt 60f. Foucault, Michel 246, 256 Fracastorio 68, 71f. Frevert, Ute 32f.

202

Carlowitz, Georg von 19 Catherine II 83 ˇ ebysˇev, Nikolaj Nikolaevicˇ 44–46 C Chulkov 83 Constantine Harlampovich 79

Gaul, Hans 27 Giovanola, Delia 204f., 207, 210 Goethe, Johann Wolfgang von 73 Goffmann, Erving 69 Gogol, Nikolai 85 Granel, G8rard 184, 187–190 Guattari, F8lix 62–64, 69., 75f. Gucˇkov, Aleksandr Ivanovicˇ 45–47

Dänemark (Kurfürstin Anna), Anna von 29

Heidegger, Martin 188, 193 Hitler, Adolf 173

260 Il’in, Aleksej Aleksandrovicˇ Ioannovna, Anna 83 Isaievych, Iaroslav 79 Jenitz, Hans 31

Personenregister

44–46

Jelinek, Elfriede 241 Jesensk#, Milena 179 Joachi V 79 Judas 82 Kafka, Franz 179, 186 Kant, Immanuel 60, 66, 68, 193, 231, 236, 248–250 Karl V. 18 Kirchner, N8stor 202 Kopernikus 60, 66 Kutepov, Aleksandr 41 Lampe, Aleksej von 9, 37–56, 256 Languet, Hubert 31 Leibniz, Gottfried Wilhelm 60, 67f. Lessing, Gotthold Ephraim 219, 223f., 227f., 237 L8vinas, Emmanuel 241 Locke, John 68 Macri, Mauricio 202 Mariani, Mar&a Isabel ,Chicha‘ 200f., 207 Marx, Karl 75, 84 Massumi, Brian 110, 112f., 119f., 128 Mauss, Marcel 246 Mel’nickaja, Aleksandrovna 42 Mel’nickij, Nikolaj Michajlovicˇ 42 Menem, Carlos 202 Michajlovna, Natal’ja 38, 42 Mintz, Sidney 211–213 Montaigne, Michel de 161–164 Mordeisen, Ulrich 18f., 21, 24–33 Nadal, Pedro 208f. Nancy, Jean-Luc 9, 77f., 81, 84f., 109–112, 220 Nietzsche, Friedrich 60, 65, 67, 75, 216, 256

Nikolaevicˇ, Nikolaj Nikolaus II 48

48

Palicyn, Militär 53 Pascal 61 Paulus 245 Pavjn, Elsa 205, 207 Peter I 83 Philalethes 67f. Philotheo 67f., 71f. Platon 60, 66, 68, 71, 75, 187, 244, 253 Plutarch 104, 161, 165 Poliander 63f., 68, 70, 72 Ponickau, Hans von 18f., 21–27, 30f. Potockij, Dmitrij Nikolaevicˇ 47 Prak, Maarten 85 Reckwitz, Andreas 133, 145, 147 Resnais, Alain 65 Richardson, Gary 85 Rousseau, Jean-Jacques 248 Ruchleben, Cornelien von 30 Sachsen, August von 9, 17–23, 25–28, 30–33, 254 Sachsen, Moritz von 18–20, 24f., 32, 254 Schiller, Friedrich 235f. Schlögel, Karl 38f., 55 Schmölders, Claudia 173 Schneider, David 197 Schütz, Alfred 137f. Shustova, Iu 79 Simmel, Georg 69, 247 Sˇkuro, Andrej Grigor’evicˇ 47f. Sˇlippe, Theodor 48f. Sofsky, Wolfgang 213 Spivak, Gayatri Chakravorty 214f. Strathern, Marilyn 171 Sˇul’gin, Vasilij Vital’evicˇ 47f. Vance, Cyrus 200 Vladimirovicˇ, Kirill Voltaire 61, 253

48f.

Sachregister

Abuelas de Plaza de Mayo 11, 197–210, 213f. Adoption 198 Adressat 31, 105, 179f., 182, 184, 186–188, 194f. Affekt 7–10, 12, 50, 109, 121, 126, 131, 141f., 147 Akteur 8, 10, 17, 33, 131–133, 136, 140f., 145–147 Albertiner 19, 21 Allrussische Militärunion 41 Alms 80–82 Altes Testament 244 Altgläubige 18 Andere 11, 47, 73, 110f., 121, 124, 126–128, 138, 169–171, 173f., 180, 182, 184, 191, 193–195, 231, 234, 236f., 241f., 248–250 Antibolschewismus 48, 54 Appropriation 199, 201f., 209, 213 Asyl 244–248 Atmosphäre 105, 142f. Augsburger Religionsfrieden 18, 29 Aussage 17, 27, 32f., 45, 55, 64, 91f., 132–134, 192, 199, 206, 222, 224 Autor/in 10, 28, 89, 91, 93, 95, 102, 105, 118, 129, 185, 195, 256 Balkan 78, 81–84 Begriffsperson 9, 59, 62–70, 74f. Beziehung 7–9, 11f., 17, 32f., 38–40, 42, 44, 48, 50f., 54f., 75, 91, 109–112, 122f., 126, 131, 184f., 194, 197–199, 202f., 207,

211–213, 215f., 220, 230, 238, 242f., 247–250, 255 Bolschewiki/Bolschewismus 37, 40–42, 45, 47f., 50–52, 54 Botkin 49, 53 Brief 11, 20, 22f., 25–27, 29, 31, 75, 89, 179–195, 244f. Brotherhood of the Dormition of the Mother of God 79f., 82 Bruderschaft 9, 77–85 Bürgerkrieg 37, 47f. Charakter 10f., 38, 43f., 70, 115, 144, 152, 156, 158, 160f., 163f., 172 Cogito 63f., 70, 72 Communitas/Community 8–11, 55, 61, 66f., 69, 74, 77–79, 81f., 84f., 87, 109–111, 113f., 134, 147, 177, 213, 215, 220, 226, 241–244, 247f., 250 Denkbewegung 62–64, 66–68, 72, 75 Denkereignis 62 Deterritorialisierung/Deterritorialisierungsvektoren 69f. Dialog 59, 61, 63, 71–74, 92f., 97, 118, 182f., 186 Dialogfigur 9, 59, 64 Diktatur 198f., 201f., 206, 223 Distanz 121, 131, 179f., 183, 186, 188f., 193f., 241 Embodiment 138 Emigrant 9, 37f., 40–52, 54–56, 256 Emigration 37f., 40–52, 54–56, 223f.

262 Emotionssoziologie 131 Empfänger 142, 180, 182, 186, 188 Empirismus 68 Ernestiner 19 Erzengel Gabriel 79f. Erzengel Michael 79f. Essentialismus 10, 197f., 202, 214–216 Ethnographie 173, 198, 215 Ethnologie 8, 169–171, 173f., 198, 253, 256 Eurozentrismus 171 Feind 10f., 29f., 42, 47, 50, 60–62, 70, 97f., 103f., 110, 198, 242f., 246–248, 250 Feindschaft 62, 90, 155, 242, 250 Feldforschung 10, 199, 208, 210, 212 Figur 17, 33f., 59–61, 65, 68, 75, 119f., 149, 155, 160, 162, 181 Fiktion 92, 179, 183, 186, 194, 197, 211f., 214 Fiktiv 92, 179, 183, 186, 194, 197, 211f., 214 Filmstudio Babelsberg 41 Flüchtling 37, 49, 55, 222–224, 247 Folter 199–201, 204, 209, 213 Frankophilie 51 Fremde 69, 75, 109, 119, 137, 194, 204, 209, 221, 223f., 236, 241–248, 250 Freund 7–10, 42, 44, 50, 54, 59f., 62, 66–75, 89f., 93–104, 110, 123, 144, 152, 156f., 163, 165, 186–189, 191–194, 216, 220, 234–237, 242, 244, 247f., 250 Freundschaft 7–12, 26, 44, 46, 59, 70–74, 89–96, 98–105, 145, 149–153, 155, 158f., 161f., 165, 169, 171, 173f., 179f., 184, 187f., 190, 192–195, 212, 215f., 219–222, 227f., 232–238, 241f., 248–250, 254–256 Frühmoderner Staat 17 Fürsprecher 9, 59, 62, 65–68, 70, 74f. Gastfreundschaft 12, 241–250, 254 Gegenüber 95, 97, 143f., 173, 181–184, 187, 191, 194, 199 Gemeinschaft 8–12, 55, 61, 66f., 69, 74, 77–79, 81f., 84f., 87, 109–111, 113–115,

Sachregister

134–136, 147, 177, 207, 211, 213–215, 220, 226, 241–244, 247f., 250 Germanophilie 51 Geschichtswissenschaft 169, 171, 198 Gesellschaft 32, 39, 46, 49, 69, 92f., 105, 110f., 114, 169, 171f., 200, 205, 214f., 220, 241, 253, 255 Gesetz 68, 73, 201, 244, 246, 249f. Gesicht 99, 123, 131, 138, 149f., 155f., 158–164, 170f., 173, 193 Gestapo 41 Gewalt 109, 114, 120f., 126, 128f., 198f., 204f., 209, 243f. Gilde 79, 85 Gönner 8, 42, 52, 60, 74 Handlungsspielraum 25f., 50–52, 54f. Heilige Dreifaltigkeit 80 Heiliges Römisches Reich 17f. Heimat 37, 47f., 51, 55, 116, 118f., 220, 229, 231, 236 Historismus 77 Hof 10, 25, 28f., 89f., 92, 96, 99–101, 103–105, 255 Hofmannstraktate 10, 90–93, 96, 104f. Hospitalität 242, 250 Hostis 242f. Identifikation 110, 201, 247, 249 Identität 84, 110f., 120, 126, 192, 199f., 202–204, 206, 209f., 213f., 249, 253–255 Idiot 68 Improvisation 132, 134, 138, 146 Individuum 112, 171 Institution 53, 77–79, 85, 115, 140, 198, 200f., 204, 207f., 242, 246 Integrative Hermeneutik 132 Interaktionismus 255 Interesse 7, 10f., 25, 48, 50, 114, 132, 134, 186, 215, 236, 242 Investigation 80, 201 Jazz

132f., 139, 145, 255

Kaiserliche Militärakademie Kaufmann 24

38

263

Sachregister

Klient 8, 17, 42, 52, 174 Klientel 89, 174 Klientelismus ,174 Kollekte 80–82 Kollektiv 8, 11, 115, 135, 211, 213–215 Kommunikation 62f., 96, 99, 169, 180, 254, 256 Kommunikationsmodell 188 Konfessionalisierung 17 Konjunktiver Erfahrungsraum 133 Kontemplation 62f. Konzeption 62, 65, 110, 220 kopernikanische Wende 66 Körper 63, 109–113, 120, 123–125, 127f., 138, 141, 151–153, 155, 163, 165, 170–172, 183 Kriegsgefangenenlager 48, 53 Kultursoziologie 147 Kunstsoziologie 109–130, 131–148 Leid 11, 117, 121, 127, 197–201, 203–206, 209–211, 213–215 Leidensgemeinschaft 197f., 203, 210f., 213f. Literary Communism 84 Literaturwissenschaft 8 Logik 112, 114 Loyalität 28, 203, 207, 210, 215, 247 Lüge 183 Macht 8, 10–12, 17, 18–21, 26, 28, 33, 61, 66, 68, 96f., 100, 129, 135, 145, 147, 173–175, 179, 197f., 211, 213–216, 254 Madres de Plaza de Mayo 200f., 203, 205f. Marxismus 77 Menschlichkeit 219–224, 228–232, 235–238 Merchant 77f., 80–85, 150, 152, 253 Metaphysik 66, 188, 255f. Migrant 69 Militärvertreter 9, 37f., 47, 49, 51, 56 Mitmensch 124, 230–232, 236f. Modern 7, 32, 77, 79, 94, 153–157, 165, 171, 185, 241, 247, 254f. Monasteries of Mount Athos 81

Monastery of St. Catherine 81 Moral 150, 154–158, 161, 164f., 213, 215, 248 Musiksoziologie 255 Nahbeziehungen 7–9, 12, 15, 54f., 89, 91, 131, 145, 170, 174, 216 Nationalsozialismus 38, 41, 47 Naturalisierung 197, 216, 247 Netzwerk 8, 18, 37, 49, 141, 256 Neues Testament 80f., 144f. Nezhin brotherhood 78–80, 82, 84f. Nicht-Schreiben 184

Öffentlichkeit 200, 227–232, 234 Oktoberrevolution 37, 40, 45 Orthodoxe Christen 39, 78f., 253 Ottoman Empire 78f. Pädagogik 63, 128, 246, 253 Paradigma 77 Passauer Vertrag 18, 24f. Patenschaft 198, 213, 253 Patronage 7f., 12, 52, 165, 173f., 215, 253, 255 Patron 8, 17, 52 PEGIDA 12, 219–222, 224–226, 233, 236–238 Performance 145, 165, 169 Personifikation 59–62, 64f., 67–70, 72, 75, 255 Philosoph 44, 61, 67, 74, 110, 112, 255 Philosophie 8f., 12, 59–71, 73–75, 185, 193, 219, 255, 257 Physik 65 Physiognomie/Physiognomik 149, 151–154, 157–160, 162f., 165 Platonisch 61, 66, 71, 153 Polis 228, 249 Populistische Bewegung 12, 241, 249 Poststrukturalismus 256 Praxeologie 145 Praxis 7f., 11, 22, 59, 92, 110, 132, 140, 172, 202–204, 210f., 215f., 228, 248, 255 Privat 116, 129, 200f., 210, 223f., 227f., 230–235, 237f., 248

264 Privatheit 229f., 236 Protestantismus 18f. Psychoanalytische 75 Psychosoziale Typen 59, 69f., 74 Punk 169, 171 Raumsoziologie 147 Reflexion 59, 62f., 73, 89f., 92, 96, 104f., 174, 182 Register 123, 219, 227f., 230–232 Rekonstruktive Hermeneutik 132 Renaissance 7, 10, 90, 92, 105, 149f., 152–160, 165f., 169, 171, 174, 255 Ressourcen 215 Reterritorialisierungsbewegungen 69 Reziprok 181, 250 Reziprozität 180, 206, 210, 243, 249 Ritus 197 Romioi 78 Rossijskij Obsˇcˇe-Voinskij Sojuz (ROVS) 41 Rote Armee 41 Russisches Berlin 37, 39f. Schlacht bei Sievershausen 19 Selbstkritik 114 SklavInnen 12, 198, 211–213, 215, 228 Solidarität 206–208, 210, 213, 215, 222f., 248 Soziale 7–12, 15, 39f., 42, 48, 54f., 75, 89, 92, 104, 110–112, 115, 131, 133, 135, 138, 140, 142–146, 170, 172, 174, 181, 197f., 206, 211–216, 220, 224, 241, 246, 249f., 254–256 Sozialphänomenologie 132 Soziologie 8, 137, 169, 255 Staat 17, 32, 125, 244 Stereotyp 128, 225 Subjekt 12, 62, 109, 111, 123, 126, 129, 140f., 143, 189, 193, 197 Symbol 7, 77, 128, 198

Sachregister

Symbolischer Interaktionismus

255

Tagebuch 9, 37–40, 42–55 Testament 80f., 244f. Tod 9, 19f., 29, 41, 43, 47, 116, 186, 191f., 199, 204, 224, 230, 235f. Transformation 65, 109–111, 120, 128, 159, 172 Typen 7–9, 12, 39f., 42, 47–50, 54f., 59f., 69f., 74f., 81, 85, 111, 128, 146, 173, 186, 212, 227, 230 Tyrannei 70–72

Überzeitlichkeit 62 Untersuchung 8, 17, 38–40, 55, 60, 69, 75, 80, 201 Utopie 69f. Veksel 83 Vergleich 8, 12, 20, 129, 139, 181f., 185, 198, 207, 210f., 213f., 216, 221, 224 Vernetzen 8, 11, 18, 37, 39, 49, 78, 82, 141, 156, 200, 212, 256 Vernunft 66, 72 Verschwundene 198–203, 205f., 209, 253 Vertrag von Rapallo 49, 51, 56 Verwandtschaft, affinale 197, 212 Verwandtschaft, Bluts- 197, 214 Verwandtschaft 197f., 211, 214–216, 244, 250 Verwandtschaft, fiktive 197, 211f., 214, 253 Verwandtschaft, mimetische 197f., 202f., 205f., 211, 214f. Verwandtschaft, rituelle 197f., 215, 253 Vize-Diktion 62 Weimarer Republik 38, 43 Weiße Bewegung 37, 45–49 Wissenschaft 55, 145, 17