Fremde Vergangenheit: Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717-1791) 9783839437308

On the cultural contact between Germany and the Orient in the 18th century, and one of the most significant - if also co

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German Pages 276 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Johann David Michaelis
3. Zur diskursiven Verortung von Johann David Michaelis
4. Ex Oriente Lux – Der Philologe Michaelis und der Orient
5. Super Orientem Lux – Michaelis und der andere Orient
6. Schluss
Literatur
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Fremde Vergangenheit: Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717-1791)
 9783839437308

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Maike Rauchstein Fremde Vergangenheit

Religionswissenschaft | Band 8

Maike Rauchstein (Dr. theol.), geb. 1983, absolvierte nach ihrem Studium der Evangelischen Theologie und einem Stipendium des DFG-Graduiertenkollegs »Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs« ein Studium für den gehobenen Polizeivollzugsdienst und arbeitet als Polizeibeamtin in Nordrhein-Westfalen.

Maike Rauchstein

Fremde Vergangenheit Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717-1791)

Die vorliegende Arbeit wurde 2014/2015 an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock als Dissertation eingereicht und verteidigt. Für die Publikation wurde der Text geringfügig überarbeitet. Mein herzlichster Dank gilt meinem wissenschaftlichen Betreuer, Prof. Dr. Heinrich Holze, der mich bei allen gewährten Freiheiten nie ohne entscheidende Fragen ließ. Für die weitere wissenschaftliche, kreative und impulsive Begleitung und Unterstützung danke ich insbesondere Prof. Dr. Klaus Hock, Prof. Dr. Klaus Fitschen, den ProfessorInnen und StipendiatInnen des DFG-Graduiertenkollegs »Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs«, Prof. Dr. Andreas Kubik-Boltres, Dr. Kristin Skottki, Donata Cremonese, Felix Seidel und allen Darstellern des TheaterProjekts »Deutschland entwickelt sich prächtig«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3730-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3730-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1. Einleitung | 7 2. Johann David Michaelis | 15

2.1 In der Selbstvorstellung – „Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt“ | 18 2.2 In Vorstellungen seiner Zeitgenossen | 24 2.3 In Vorstellungen des 19. Jahrhunderts | 32 2.4 In Vorstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts | 36 2.5 Wahrheit und Chaos | 42 3. Zur diskursiven Verortung von Johann David Michaelis | 47

3.1 Wahrheit und Transformation | 47 3.2 Aufnahmebereich: Die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert in ihrer Rezeption | 53 3.2.1 NPT Prof. Dr. phil. Johann Wilhelm Fück (1894-1974) | 53 3.2.1.1 Ein Leben und seine Vorstellungen | 53 3.2.1.2 Zum nationalsozialistischen Orient-Diskurs | 58 3.2.1.3 Die „Arabischen Studien“ (1944/1955) und ihre Programmatik | 62 3.2.2 In neuem Licht – Der Orient bei Edward Said | 67 3.2.3 Andrea Polaschegg et al. | 72 3.2.4 Zusammenfassung Aufnahmebereich | 77 3.3 Referenzbereich: Die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert | 79 3.3.1 Zu den Anfängen der Orientalistik | 80 3.3.2 Zur Einrichtung und Ausbildung orientalistischer Ordinariate | 85 3.3.2.1 Universität Jena | 85 3.3.2.2 Universität Leipzig | 94 3.3.2.3 Universität Halle | 98 3.3.2.4 Universität Göttingen | 103 3.3.3 Johann Jacob Reiske | 110 3.3.3.1 Über den „Märtyrer der arabischen Literatur“ – Johann Jacob Reiskes Lebenserinnerungen | 111 3.3.3.2 Michaelis’ Antwort auf die Anklagen Reiskes | 119 3.3.3.3 Ernestine Reiskes Schrift „An das Publicum“ | 124 3.3.3.4 Die Aufarbeitung des Konflikts durch Schlözer | 126 3.3.3.5 Reiskes orientalistisches Programm | 129 3.3.4 Zusammenfassung Referenzbereich | 134 3.4 Transformationen | 138

4. Ex Oriente Lux – Der Philologe Michaelis und der Orient | 143

4.1 „[D]enn die ausgestorbene Hebräische Sprache lebet noch“ – „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen“ (1757) | 145 4.2 „Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen“ (1759) | 158 4.3 Die Arabische Reise | 167 4.3.1 Pro Scientia – Über das Motiv der Reise | 168 4.3.2 Die Auswahl der Expeditionsmitglieder | 181 4.3.3 Zur „Instruction“ der Reisenden | 187 4.3.4 Die „Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer“ | 192 4.3.5 Die Reise und ihre Ergebnisse | 199 4.4 Auf der Suche nach der verlorenen Zeit | 206 5. Super Orientem Lux – Michaelis und der andere Orient | 211

5.1 Die Araber | 212 5.1.1 Über den „Arabischen Geschmack“ (1771) | 212 5.1.2 Über die Religion | 219 5.1.2.1 Beurteilung des Korans | 219 5.1.2.2 Bibel und Koran im Vergleich | 225 5.1.3 Über das Land und seine Bewohner | 232 5.2 Die Juden | 237 5.2.1 Über die arabischen Juden | 237 5.2.2 Über die Juden im Allgemeinen – Michaelis’ Reaktion auf Lessings Lustspiel „Die Juden“ | 239 5.2.3 Zur Frage der Judenemanzipation – Michaelis’ Rezension von Dohms „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden“ | 242 5.3 Der Christ | 246 6. Schluss | 255 Literatur | 261

1.

Einleitung

Als Initiator der ersten wissenschaftlichen Expedition nach Arabien veröffentlichte Johann David Michaelis (1717-1791) im Jahr 1762 einen Katalog von 100 Fragen1. Ihre 52te trug den Titel „Von dem medicinischen Nutzen der Beschneidung der Knaben und Mädchen“. Darin fragte Michaelis, ob sich außer dem mit großer Gewissheit anzunehmenden Schutz vor Karbunkeln andere medizinische Gründe für die Beschneidung finden ließen, etwa die Unmöglichkeit des Beischlafs aufgrund einer Phimose zu verhindern. Sollte Letzteres der Fall sein, so bat er weiter um die Beantwortung auch der Frage, ob „dieß bey uns seltene Uebel in den heißen Ländern wegen Grösse der Vorhaut gewöhnlicher“ sei und woher dies käme: „von der Natur, oder von den frühzeitigen wollüstigen Ziehungen der Vorhaut?“ Eine ähnliche Vermutung äußerte Michaelis auch über den Ursprung der „in Abessinien üblichen Beschneidung der Mädchen“. Er fragte, ob „das ungewöhnliche an den Geburtsgliedern, welches sie nöthig“ mache, „von der Natur selbst, oder von frühen Betastungen mit eigenen Händen herrühren möge“ und ersuchte die Expeditionsmitglieder um eine anatomische Beschreibung. Als in jüngster Vergangenheit eine Debatte um die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Jungen entbrannte, stellte sich ebenfalls die Frage nach dem medizinischen Nutzen des Eingriffs. Im Mai des Jahres 2012 hatte das Landgericht Köln die Beschneidung eines zum Tatzeitpunkt vierjährigen Jungen muslimischer Eltern als Körperverletzung beurteilt.2 Im Urteil heißt es, dass für die Operation keine medizinische Indikation vorgelegen habe, außerdem bestünde nach Aussage eines Sachverständigen „jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen“. Folglich habe der

1

MICHAELIS, Johann David: Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl

2

LANDGERICHT KÖLN, Urteil vom 07.05.2012, AZ: 151 Ns 169/11. Das Urteil ist u.a. ab-

Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen. Frankfurt a.M. 1762. rufbar über URL: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/koeln/lg_koeln/j2012/151_Ns_169_ 11_Urteil_20120507.html (Stand: 01.02.2014).

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Eingriff gegen die grundgesetzlich garantierten Rechte des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung verstoßen, die das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung begrenzen würden. An der Entscheidung des Gerichts entzündete sich eine Debatte, die die Wertigkeit der verschiedenen Rechtsgüter öffentlich diskutierte. Wurde das Kölner Urteil auf der einen Seite als überfällige Ahndung körperlicher Verletzung und religiöser Bevormundung begrüßt, empfand man es auf der anderen Seite als einen massiven Angriff auf die Religionsfreiheit, in dem sich die antiislamischen, antisemitischen und antireligiösen Potentiale Deutschlands offenbarten. Die Diskussion um einen medizinischen Nutzen der Beschneidung war nur ein Nebenschauplatz dieser Debatte, die mit der ideellen Revision des Kölner Urteils durch die Verabschiedung von §1631d BGB (12/2012), der die Grenze der Personensorge um „das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen“, erweitert, ihren vorläufigen Abschluss fand. Neues Potential wiederum erhielt sie durch die relativ lautlose Erweiterung des Strafgesetzbuches um §226a (09/2013), der die „Verstümmelung“ der „äußeren Genitalien einer weiblichen Person“ unter Strafe stellt. Die Frage nach dem medizinischen Nutzen der Beschneidung hatte im 18. Jahrhundert nicht im Kontext einer größeren Debatte gestanden. Vielmehr war sie das nüchterne Resultat der Bemühung, die Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung zu behaupten. Ihr Zweck war es, das biblische Beschneidungsgebot vernünftig zu begründen. Mit Hilfe der medizinischen Erklärung sollte die Beschneidung unabhängig von ihrem biblischen Status als Bundeszeichen eine Rechtfertigung erhalten. Indes ist der instrumentale Charakter der Frage kennzeichnend auch für die heutige Debatte. Denn mit ihrer medizinischen Beurteilung wird die Beschneidung entweder zu einem folgenschweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der den Disput um die Wertigkeit der Rechtsgüter Leib, Freiheit und auch Gleichberechtigung eröffnet, oder zu einem gesundheitsfördernden Akt, der sämtliche Diskussionen zu umgehen vermag. Doch das Urteil der Sachverständigen ändert sich. Konnte Michaelis im 18. Jahrhundert noch mit Gewissheit annehmen, dass der Eingriff zumindest vor Karbunkeln schützt, urteilen Mediziner heute unterschiedlich und fortwährend. Regelmäßig erreicht eine neue Studie die Tageszeitungen, provoziert einen Sturm von empörten Leserkommentaren und weitere Studien. Und in Ansehung dieser Meinungs- und Urteilsvielfalt keimt das unbestimmte Gefühl, in die Irre geführt zu werden, bleibt doch die Beschneidung ganz unabhängig von medizinischen Urteilen ein in Judentum und Islam üblicher religiöser Akt.3 Und bei 3

Vgl. SCHULTE VON DRACH, Markus C.: Streit um das Beschneidungsurteil: Ratio zwischen Recht und Religion (Süddeutsche.de vom 20. Juli 2012). URL: http://www.sued deutsche.de/wissen/streit-um-das-beschneidungsurteil-ratio-zwischen-recht-und-religion1.1411544 (Stand: 17.11.2013).

E INLEITUNG | 9

allem Erfolg von Instrumenten nach der Art einer medizinischen Frage, die Religion mit Vernunft oder Barbarei untermauert, scheint gewiss zu sein, dass die Diskussion um die Beschneidung kein Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit, da der Islam zu einem Deutschland gehört, über dessen Abschaffung nachgedacht wird und Religion vorzugsweise einzig auf Sonderseiten eine Rolle spielt, nur Schauplatz eines Meinungsgemenges ist, in dem es nicht um Beschneidungen geht. Wenn sich die vorliegende Arbeit mit Johann David Michaelis einem der bedeutendsten Gelehrten des 18. Jahrhunderts widmet, muss sie sich dieser Gemengelage stellen, wird nicht mehr als zweieinhalb Jahrhunderte ignorieren und Mutmaßungen über die größere Vorhaut oder andere anatomische Besonderheiten in sogenannten heißen Ländern und Spekulationen über die manuelle Befriedigung arabischer Wollust mit der Maxime „Andere Zeiten, andere Ideen!“ erklären können. Vielmehr wird sie den Fortlauf der Geschichte berücksichtigen müssen, insbesondere nachdem Edward Said die westliche Beschäftigung mit dem Orient unter den Generalverdacht des Orientalism gestellt hat.4 Eine solche Berücksichtigung wird vor der Frage nach Johann David Michaelis’ Vorstellung vom Orient geschehen. Dieser Orient befindet sich nicht in allen „uns gegen Morgen gelegen[en] Ländern“5, vielmehr definierte Michaelis seine Grenzen, die er selbst nur als armchair traveller überschritt, sprachlich. Mit dem Arabischen, Syrischen, Chaldäischen, Äthiopischen, Samaritanischen und Talmudischen umfasse er jene Sprachen, die in Verwandtschaft mit dem Hebräischen der Bibel stünden.6 Geographisch entspricht er heute weitestgehend dem sogenannten Nahen Osten. Seine Bewohner stellte Michaelis zumeist als Araber vor, machte aber einen Unterschied hinsichtlich der Religion. Denn während jüdische Araber gänzlich außerhalb seines Interesses standen, galt seine höchste Aufmerksamkeit muslimischen Arabern. Aus einer gewissen „Verlegenheit“ bezeichnete er sie als „Muhammedaner“, wie er im Kontext einer Abhandlung über den „Arabischen Geschmack“ erläuterte: „Muselmänner ist eine wunderliche Verdrehung des Arabischen Muslimin […] Nach meinem Gehör lautet das deutsche Wort so ungeschickt, und hat so sehr das kenntliche Gepräge der Unwissenheit in der Endigung Männer, daß ich es nicht gern gebrauchen, sondern lieber den Zeitungsschreibern im Reich überlassen möchte. Aber Muslimin klingt mir doch auch im Deutschen zu gelehrt, und zu kunstverständig, auch wirklich zu ungrammaticalisch, denn es ist ein völliger Arabischer Pluralis vom Singulari, Muslim, von dem wir Deutschen im Plurali Muslimer sagen müßten. Aber Muslimer ist zu neu, und verriethe wiederum einen gar zu 4 5

SAID, Edward: Orientalism. New York 2003 (1978). MICHAELIS, Johann David: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VII (1774), 72.

6

MICHAELIS, Johann David: Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen. Göttingen 1757, 154f.

10 | F REMDE V ERGANGENHEIT Kunstverständigen. – Aus dieser Verlegenheit würde ich mir leicht helfen, und nie diesen Nahmen gebrauchen, als, wo ich etwan sagen müßte, das Muhammeds Nachfolger sich so benannt hätten und da könnte ich, Muslim und Muslimin, mit Recht setzen, auch die deutsche Verstellung des Worts in Muselmänner erwähnen. An andern Orten würde Muhammedaner, oder, Gläubiger, eben so gut seyn.“

7

Mit der Berücksichtigung von Edwards Saids Thesen wird sich grundsätzlich die Frage nach Michaelis’ Konzept vom Anderen oder Fremden stellen, wie es hinsichtlich seiner Vorstellung vom Orient begegnet. In diesem Zusammenhang wird nicht nur zwischen dem „wir“ und dem „ihr“ der michaelischen Argumentation unterschieden, sondern auch über die theoretischen Implikationen dieser Scheidung nachgedacht werden müssen. Allerdings liefern die Said’schen Kategorien von Tätern (wir) und Opfern (ihr) in ihrer Dualität und Grundsätzlichkeit kein geeignetes methodisches Instrumentarium, den michaelischen Orient hinlänglich zu analysieren. Für selbiges wird auf Andrea Polascheggs Prämisse der konzeptuellen Trennung der Sphären Identität und Verstehen zurückgegriffen, die sie in ihrer Arbeit „Der andere Orientalismus“8 entwickelt und als Relativierung Saids vorstellt. Polaschegg kritisiert die Orientalismus-Debatte dort, wo sie die Kausalität der Beziehung „zwischen dem imaginären Charakter des Orientbildes in Europa und den herrschenden politischen, militärischen und ökonomischen Machtverhältnissen“ zu ihrer Grundannahme erklärt, ohne die „zum Teil schwerwiegende[n] theoretische[n] Differenzen zwischen den existierenden Erklärungsansätzen zum Verhältnis von Imagination und Macht“ zu untersuchen.9 Mit Verweis auf die systemtheoretischen Regeln Niklas Luhmanns zeigt sie, dass „Abgrenzung“ bzw. „die Differenzierung zwischen dem, was zur Kultur gehört, und dem, was nicht dazu gehört“ nicht „a priori [ein] Akt der ‚Feindseligkeit‘“ ist, „der dem interkulturellen Miteinander im Wege“ stünde, sondern „ein allgemeines Grundprinzip kultureller Identitätskonstitution“. Bei der Grenzziehung handle es sich „um eine Operation, die jede Kultur kontinuierlich unternehmen muß, um sich als soziale Wirklichkeit zu erhalten und gleichzeitig eine Umwelt zu schaffen, mit der sie in Beziehung treten kann“.10 Polaschegg bezeichnet diese system- und identitätserhaltende Operation als „DIFFERENZierung“ und ordnet ihr das komplementäre Begriffspaar des „Eigenen“ und „Anderen“ zu. Unterschieden werden müsse es von dem Konzept des „Vertrau7

MICHAELIS, Johann David: Abhandlung vom Arabischen Geschmack (= Vorrede zur ersten Ausgabe, in der vom Arabischem Geschmack gehandelt wird). In: Michaelis: Arabische Grammatik (1771 und 1781), III-CXII (hier: LXXIf. [Anm.]).

8

POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer

9

Ebd., 17.

Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/ New York 2005. 10 Ebd., 40f.

E INLEITUNG | 11

ten“ und „Fremden“, das nicht der Sphäre der Identität angehöre, sondern der des Verstehens und „durch die Dynamik zwischen hermeneutischer DISTANZnahme und verstehender Annäherung“ funktioniere.11 Mit ihrer konzeptuellen Trennung der Sphären Identität und Verstehen gelingt es Polaschegg, Anderes und Fremdes als Effekte zweier unterschiedlicher Prozesse zu identifizieren,12 die nicht per se als Feindseligkeit zu klassifizieren sind. Die Dichotomien von Eigenem und Anderem sowie von Fremdem und Vertrautem erlauben es mithin, die michaelische Orient-Konstruktion in ihren Absichten zu untersuchen. Denn sie stellen die Frage nach ihren möglichen Folgen – also etwa einer imperialen Aneignung im Sinne Saids – zurück und öffnen den Blick für den Konstrukteur selbst. Sie begründen die Frage, wie Michaelis mit dem Orient umgeht: als einem lüsternen Volk, das anders als das sittentreue Europa medizinische Nöte provoziert und womöglich über die Folgen seiner Wollust aufgeklärt werde müsse oder als einem fremden Volk, dessen Rituale Unverständnis erzeugen und im Rahmen europäischer Paradigmen wie dem medizinischen Nutzen erklärlich werden. Da die vorliegende Arbeit im Wesentlichen kein biographisches Interesse an ihrem Protagonisten verfolgt, wird die Frage nach Michaelis’ Orient-Vorstellung von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit ihrem Kontext begleitet. Im Fokus wird dabei die Frage nach dem wissenschaftlichen Zugang zum Orient im Deutschland des 18. Jahrhunderts stehen. Sie verweist auf die Anfänge der Orientalistik, als deren prominentester Vertreter Johann David Michaelis infolge der Organisation der Arabischen Reise und seines umfänglichen Wirkens auf dem Gebiet der orientalischen Studien angesehen werden kann. Gleichzeitig führt sie in die Gemengelage einer Disziplin, die für ihre Entstehung in expliziter Abgrenzung vom 18. das 19. Jahrhundert beansprucht. Denn – so die einhellige Meinung – erst im 19. Jahrhundert habe sich aus der sogenannten Hilfswissenschaft der Theologie ein eigenständiges Fach entwickelt. Begründet wird diese Behauptung durch die Tatsache, dass die Orientalistik in ihrer Frühphase im Rahmen exegetischer Fragestellungen betrieben wurde und sich insgesamt in der Vermittlung vorrangig der arabischen Sprache zum besseren Verständnis des Hebräischen erschöpfte. Bezeugt wird die Phase durch Michaelis, der sich den orientalischen Studien zwar ausdrücklich nicht als Theologe, sondern als Philosoph widmete, die Begegnung mit dem Orient aber vor allem zur Klärung bibelwissenschaftlicher Fragen, also etwa jener nach dem immanenten Hintergrund der Beschneidung oder auch jener anderen und in dieser Art sehr viel häufigeren nach den Namen der vier in Lev 11,22 genannten Heuschrecken13, suchte. Es war die Kommentierung des Alten Testaments, die Michaelis interessierte und nicht eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem 11 Ebd., 43. 12 Vgl. ebd., 46. 13 Vgl. Frage 32 in Michaelis: Fragen.

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Orient. Im Rahmen einer vergleichenden Erörterung seines Zugangs zu selbigem ist es Ziel, den michaelischen Beitrag zur Entwicklung der Orientalistik zu analysieren, wie auch jenen seines Jahrhunderts. Wie erwähnt, sieht sich diese Aufgabe mit der bereits vorhandenen Lösung konfrontiert, dass die Disziplin im 18. Jahrhundert in den „Fesseln der Theologie“14 lag und der „Mündigsprechung“15 oder „Befreiung“16 bedurfte. Die frühe Orientalistik sei kein freies Forschungsfeld gewesen, „das sich aus sich selbst heraus, um seines Bildungs- und Erkenntniswertes willen rechtfertigte“17, sondern „Magd der Theologie“18. Zur Beglaubigung dieser Vorstellung wird allenthalben eine Fehde zitiert, in der sich zwei unterschiedliche Zugänge zum Orient in zwei Gelehrten personalisierten, die in ihren Hallenser Schuljahren Banknachbarn gewesen waren: Johann David Michaelis und Johann Jacob Reiske (17161774). Während Michaelis sein Konzept der bibelphilologischen Bedeutung der Arabistik mit Erfolg und spärlichen Arabischkenntnissen vertreten habe, sei Reiske, der mit Genialität und herausragenden sprachlichen Kompetenzen um das Konzept eines historischen Zugangs kämpfte, durch die Niedertracht seines Kontrahenten Michaelis um eine universitäre Karriere betrogen worden.19 Infolge dieser Beurteilung erscheint Reiske als Gründungsvater der Orientalistik, Michaelis als ihr machthungriger Widersacher. Die Vorstellung einer Fesselung der Frühorientalistik durch theologische Machenschaften findet sich in nahezu allen zeitgenössischen Beiträgen zur Geschichte der Orientalistik. Sie erweist sich mithin als prägend für die orientalistische Disziplin. Die Frage nach den Anfängen der Orientalistik wird dieses Selbstverständnis des Faches berücksichtigen müssen und den Versuch unternehmen, nicht in die Irre zu führen. Denn ebenso wie die Beschneidung unabhängig von der Antwort auf die Frage nach ihrem medizinischen Nutzen ein religiöser Akt bleibt, bleibt auch die Orientalistik unabhängig von ihrem potentiellen theologischen Gehalt eine Disziplin der Philosophischen Fakultät. Das Urteil der Sachverständigen in der Frage, das Ergebnis einer historischen Analyse der Orientalistik des 18. Jahrhunderts und die eventuelle Korrektur der gängigen Vorstellung kann folglich von nur nachgeordneter Bedeutung sein. Der Fokus der Untersuchung wird sich vielmehr vorrangig auf den Wandel der Disziplin von einer exegetisch motivierten in eine betont nicht-theologische richten. Zu diesem Zweck wird sie neben 14 FÜCK, Johann: Die Arabischen Studien in Europa: Bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. Leipzig 1955, 124. 15 Ebd., 108. 16 Ebd., 124. 17 MANGOLD, Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, 58. 18 NAGEL, Tilman: Die Arabistik an der Georg-August-Universität. In: Ders. [Hg.]: Begegnung mit Arabien: 250 Jahre Arabistik in Göttingen. Göttingen 1998, 11-18 (hier: 13). 19 Vgl. zu dieser Darstellung z.B. Fück: Arabische Studien (1955), 108-124.

E INLEITUNG | 13

den Anfängen der Orientalistik im 18. Jahrhundert, neben dem Wirken u.a. eines Michaelis und Reiske, auch die weitere Entwicklung der Disziplin im 19. Jahrhundert, vor allem aber ihre Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert thematisieren. Die besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang Johann Fück und seinen „Arabischen Studien“20 gelten, und damit einem Buch, das nach seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1944 als Standardwerk der Vorstellung von einer Knechtschaft der Orientalistik im 18. Jahrhundert zitiert wird. Zur Untersuchung des historischen Wandels wird die Kontextanalyse auf die Transformationstheorie21 zurückgreifen und zwischen einem Referenz- und Aufnahmebereich, d.h. dem historischen Kontext des 18. Jahrhunderts und seiner Repräsentation unterscheiden. Theoretisch gibt sie im Sinne des Konstruktivismus und zugunsten der Behauptung der Viabilität von Wissen „die Forderung auf, Erkenntnis sei ‚wahr‘, insofern sie die objektive Wirklichkeit abbilde“22 und setzt die Verschränkung von Wirklichkeit und ihrer Repräsentation voraus. Die Arbeit wird hinsichtlich ihres Aufbaus dieser Behauptung Rechnung tragen und nach einem einführenden biographischen Kapitel zu Johann David Michaelis zunächst den Kontext seiner Studien analysieren. Sie sieht sich dabei mit einem ebenso desideraten wie beurteilten Forschungsfeld konfrontiert und wird sich in der Analyse des Referenzbereichs auf die Einrichtung und Ausbildung orientalistischer Ordinariate an den Universitäten Jena, Leipzig, Halle und Göttingen beschränken. Erst im Anschluss an diese formelle Untersuchung der michaelischen Orientalistik wird sie sich der materiellen Auseinandersetzung widmen und Michaelis’ Umgang mit dem Orient diskutieren. Sie wird dabei vorrangig auf Michaelis’ „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen“ (1757), die „Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen“ (1762) sowie die 24-bändige „Orientalische und Exegetische Bibliothek“ (1771-1785) zurückgreifen und andere Werke wie die „Dogmatik“ (1760/1784) und das „Mosaische Recht“ (1770-1775) nur hinsichtlich bestimmter Fragestellungen berücksichtigen. Vorangestellt sei ihr die These, dass die michaelische Orientalistik ebenso wie ihre Dar20 Vgl. Anm. 14. 21 Vgl. BÖHME, Hartmut/ Bergemann, Lutz/ Dönike, Martin/ Schirrmeister, Albert/ Toepfer, Georg/ Walter, Marco/ Weitbrecht, Julia [Hg.]: Transformation: Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München 2011. 22 GLASERFELD, Ernst von: Aspekte des Konstruktivismus: Vico, Berkeley, Piaget. In: Rusch, Gebhard/ Schmidt, Siegfried J. [Hg.]: Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. Frankfurt a.M. 1992, 20-33. Ebd., 30 [Herv. i.O.]: „Der Konstruktivismus gibt die Forderung auf, Erkenntnis sei ‚wahr‘, insofern sie die objektive Wirklichkeit abbilde. Statt dessen wird lediglich verlangt, daß Wissen viabel sein muß, insofern es in die Erfahrungswelt des Wissenden passen soll.“

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stellung durch die Geschichtsschreibung die Fremdheit der eigenen Vergangenheit voraussetzt und dabei ein Bemühen um Abgrenzung oder Verstehen provoziert, in dem es nicht recht eigentlich um den Orient geht.

2.

Johann David Michaelis

Abbildung 1: Michaelishaus

Foto: M.R.

Göttingen, Prinzenstraße 21. Ein zartes Apricot verleiht dem Haus neuen Glanz. Kein volles Jahr nahm die aufwendige Sanierung des denkmalgeschützten Baus in Anspruch. Die Private-Banking-Abteilung der Göttinger Sparkasse zeigt sich über ihren Sitz in dem repräsentativen Gebäude erfreut und verzeichnet einen stetigen Kundenzuwachs aus ganz Deutschland.23 Einzelne Räume des Hauses stehen Pri-

23 Vgl. CASPAR, Michaelis: Sparkasse Göttingen erzielt Rekordergebnis (Göttinger Tageblatt vom 10.01.2011). URL: http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Wirtschaft/ Wirtschaft-vor-Ort/ Sparkasse-Goettingen-erzielt-Rekordergebnis (Stand: 26. Mai 2012).

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vatpersonen als Wohnungen zur Verfügung. Der Anbau am Leineufer konnte an ein Ofenstudio vermietet werden.24 Mit dem Anspruch, das „ehrwürdige Gebäude in seinen Ur-Zustand zurück[zu]bauen und die Großzügigkeit der Räume wieder zur Geltung [zu] bringen“25, hatte der Göttinger Architekt Jürgen Schenk das Haus im November des Jahres 2005 vom Land Niedersachsen gekauft.26 Seine „liebevoll[e]“ und „gelungene“ Restaurierung des historischen Ortes würdigte die Niedersächsische Sparkassenstiftung 2008 mit dem Preis für Denkmalpflege und damit als „einen wichtigen Baustein zum Erhalt der niedersächsischen Denkmallandschaft“.27 Vor seinem Verkauf hatte das Haus mehr als ein Jahrhundert im Besitz der Georgia Augusta gestanden. Aufgrund der notwendigen Sanierungskosten trat die Universität die Immobilie 2003 an das Land Niedersachsen ab. Bis zu diesem Jahr war das Gebäude Sitz verschiedener Institute und Fachbereiche gewesen – zuletzt der Ägyptologie, Koptologie, Arabistik, Keilschriftenforschung, Iranistik und der Vorderasiatischen Archäologie sowie des Institutes für Römisches und Gemeines Recht –, und wurde von Studierenden und Professoren wegen „seiner besonderen, geschichtsträchtigen Ausstrahlung“ geschätzt.28 Göttingen, Mühlenpfortenstraße. Im Zuge der Universitätsgründung wird das gehobene Gasthaus „Die London Schenke“ im Sommer 1737 unter dem Klosterbaumeister Joseph Schädeler fertiggestellt.29 Im Jahr 1764 erwirbt Johann David Michaelis, Professor der Philosophie an der jüngst gegründeten Georgia Augusta, die LondonSchenke für 4300 Taler. Ihren Seitenflügel vermietet er an Studenten, die in dem Haus einen verbotenen studentischen Orden etablieren können.30 Er selbst bewohnt das Vorderhaus, promoviert hier zusammen mit einigen seiner Göttinger Kollegen Dorothea Schlözer als erste Frau in Deutschland zum Dr. phil.31 und empfängt eine Vielzahl prominenter Gäste – unter anderem Lessing, Goethe, Benjamin Franklin 24 BORCHERING, Marit/ WIEBEL, Marion: Das Michaelishaus in Göttingen: Geschichte, Gelehrte, Gegenwart. Göttingen 2007, 66-74. 25 Jürgen Schenk im Göttinger Tageblatt vom 19. Dezember 2005 [zitiert nach: ebd., 68]. 26 Vgl. ebd., 66-68. 27 FRAGGE, Martina: Ausgezeichnetes Denkmal in der Stadt Göttingen: Preis für Denkmalpflege der Niedersächsischen Sparkassenstiftung an Michaelishaus in Göttingen (Pressemitteilung der Niedersächsischen Sparkassenstiftung vom 11. November 2008). URL: http://www.nsks.de/nsks/presse/aktuelle_ presse/2008/08_11_11_2.html (Stand: 26. Mai 2012). 28 Vgl. Borcherding/ Wiebel: Michaelishaus, 22.64-66. 29 Vgl. ebd., 10-19. 30 Vgl. ebd., 14. 31 Vgl. ebd., 16.34.

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und drei Prinzen, die die spätere Umbenennung der Mühlenpfortenstraße in Prinzenstraße begründen: Ernst August (Herzog von Cumberland), August Friedrich (Herzog von Sussex) und Adolf Friedrich (Herzog von Cambridge).32 Abbildung 2: London-Schenke

Kupferstich von Georg Daniel Heumann, 1747 (SUB Göttingen, GR 2 H HANN V, 29 RARA, Bl. 10)

1946, mehr als anderthalb Jahrhunderte nach dem Tod seines wegen Bankiersgebarens vielfach verhassten Besitzers, und mehr als ein halbes Jahrhundert vor seiner Nutzung durch die Göttinger Sparkasse, wird dem Gebäude in einem feierlichen Festakt der Name „Michaelishaus“ verliehen.33 Die Geschichte des Michaelishauses in Göttingen, sein Weg von einer Schenke über einen bedeutenden Ort der Gelehrsamkeit hin zur Private-Banking-Abteilung der Göttinger Sparkasse, nimmt vorweg, was das nachfolgende Kapitel zu zeigen versucht. Denn – so die These – ebenso wie das Haus einem historischen Wandel unterliegt, ergeht es auch seinem einstigen Besitzer Johann David Michaelis. Als Objekt verschiedener Überschreibungen, sei es durch seine Nutzung, seinen Verfall, sei es durch einen neuen Apricot-Anstrich, ist das Michaelishaus materieller Zeuge einer ideellen Aneignung seines Namensgebers durch unterschiedliche Vorstellungen. Mit dem Ziel der Illustration des historischen Wandels soll im Folgenden zu-

32 Vgl. ebd., 14-16. 33 Vgl. ebd., 22.28.

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nächst die selbstverfasste „Lebensbeschreibung“34 Michaelis’ als Quelle einer ersten Vorstellung des Gelehrten skizziert werden, bevor sich auch einer zweiten, dritten und vierten Vorstellung zu widmen sein wird – nach Zeugnissen einmal der Zeitgenossen Michaelis’, sodann seiner Nachfolger und schließlich gegenwartsnaher Autoren.

2.1 I N DER S ELBSTVORSTELLUNG – „L EBENSBESCHREIBUNG VON IHM

SELBST ABGEFASST “

Michaelis wurde am 27. Februar 1717 in Halle geboren. In den Jahren 1729-1733 besuchte er die öffentliche Schule des Franckeschen Waisenhauses. In der Philosophie war er Schüler Siegmund Jacob Baumgartens, dessen Unterricht derartig nachhaltig auf ihn wirkte, dass er später auf der Universität keine philosophischen Vorlesungen mehr hörte. Nur „bisweilen“ besuchte er philosophische Collegien, in denen er sich im Genuss einer besseren schulischen Bildung aber langweilte. Das Hebräische und die orientalischen Sprachen hörte Michaelis bei seinem Vater Christian Benedict Michaelis, Professor der Theologie und der orientalischen Sprachen an der Universität Halle.35 Auch in der Theologie erhielt er Baumgartens Unterricht, bekannte allerdings, dass Religion „damahls noch nicht viel Wirkung auf [ihn]“ hatte.36 Die einmal geäußerte Furcht seines Lehrers Baumgarten, Michaelis möge ein „Religionsspötter“ werden, erwies sich – „Gott Lob!“ – als unerfüllt.37 Tatsächlich begann Michaelis um Ostern 1733 ein Studium der Theologie an der Universität Halle und traf damit eine Entscheidung, die er rückblickend nur seinem jugendlichen Gemüt zuschreiben konnte. Zwar sei die Erwählung seines Studiums „nicht völlig willkührlich“ gewesen, doch aber „ganz zufällig“: „Mein Vater hatte zwar sehr oft gesagt, er wollte niemahls einem Sohn vorschreiben, was er studiren sollte; allein ich weiß nicht, wie es kam, meine Aeltern setzten zum voraus, ich würde Theologie studiren, und mein Vater hatte wohl dabey sehr den Wunsch, daß ich in den morgenländischen Sprachen sein Nachfolger werden mögte. Indessen ich hatte gar keine Prädilection für ein gewisses Studium, ausgenommen für Historie, sagte also nichts dagegen. In der That wäre es für mich besser gewesen, ich hätte überlegt, allein einer in den Jahren 34 MICHAELIS, Johann David: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, mit Anmerkungen von Hassencamp. Nebst Bemerkungen über dessen litterarischen Character von Eichhorn, Schulz und dem Elogium von Heyne. Rinteln/ Leipzig 1793. 35 Ebd., 1-5. 36 Ebd., 10f. 37 Ebd., 11f.

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kennt die Sachen zu wenig, um überlegen zu können; bey einem andern Studium, sonderlich der Medicin, hätte ich vermuthlich in der Welt eine glänzendere und mir vortheilhaftere Rolle 38

spielen können“.

Auch auf der Universität war Michaelis Schüler Baumgartens, der ihm auf der Schule allerdings „wirklich besser gefiel“.39 Denn während die Philosophie seines Lehrers „strenge Beweise“ suchte, mangelten sie in seiner Theologie sehr.40 Die defizitäre Religiosität der michaelischen Schultage schwand. Moralische Zweifel, ausgelöst durch die lutherische Lehre vom Abendmahl und die Wahrnehmung einer hermeneutischen Regel des Buchstabengehorsams gegen den Gebrauch der Vernunft bei moralischen Geboten, begründeten Michaelis’ nunmehr ängstliche Religiosität.41 Unter Baumgartens Schülern fand Michaelis einige, „die entweder an der Lehre der evangelischen Kirche, oder der christlichen Religion selbst irre geworden sind“. Gleiches Schicksal sei ihm selbst aufgrund einer Reise nach England erspart geblieben, die er 1741 antrat.42 Zuvor, im Jahr 1739, verteidigte er erfolgreich eine Dissertation, in der er das Alter der hebräischen Vokalzeichen behauptete,43 – eine Meinung, von der er sich 30 Jahre später distanzierte.44 Insgesamt habe die Reise nach England Michaelis „nicht den Nutzen gebracht, welchen [er] von ihr hätte haben können“, denn er „reiste, wie Deutsche häufig zu reisen pflegen, ohne Endzweck“. Dennoch konnte er die Zeit seines Aufenthalts in England, das heißt vor allem in Oxford, als „die angenehmste“ seines Lebens beschreiben.45 Unter dem Eindruck des Deismus ereignete sich jene glückliche Änderung seiner „Denkungsart“, die ihn vom Schicksal der Irrnis verschonte. Denn nachdem Michaelis auf der Schule noch ein halber Pelagianer gewesen war, wurde auf der Universität „die Lehre von der übernatürlichen Gnade so getrieben, daß [er] sie für biblisch hielt“, obgleich er „aus der Philosophie, wenigstens aus [seiner] Erfahrung, Einwürfe dagegen hatte“ und bis auf „religiöse Gemüthsbewegungen“ nichts finden konnte, „das [ihm] übernatürlich vorkam“. Mit dem Einfluss des Deismus wandelte sich Michaelis’ Perspektive auf die übernatürliche Gnade hin zum

38 Ebd., 13. 39 Ebd., 3.20. 40 Ebd., 21. 41 Vgl. ebd., 24f. 42 Ebd., 21. 43 Ebd., 26f. 44 MICHAELIS, Johann David: Von dem Alter der Hebräischen Vocalen, und übrigen Punkte. In: Ders: Vermischte Schriften: Zweyter Theil. Frankfurt a.M. 1769, 1-143. 45 Michaelis: Lebensbeschreibung, 27-29.

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Bekenntnis einer „Sparsamkeit der Wunder“ und dem Wunderlichen der zuweilen biblizistischen Hallenser Theologie.46 Im September 1742 kehrte Michaelis zurück nach Deutschland. Die Reise nach England hinterließ einen mehrfachen Eindruck. Neben der Annehmlichkeit seines dortigen Aufenthaltes und der rettenden Begegnung mit dem englischen Deismus war Michaelis unterwegs nach England in den Niederlanden auf Albert Schultens getroffen, dessen philologischem Programm es gelang, einen derart nachhaltigen Einfluss auf Michaelis zu begründen, dass ihm Halle nun „gar nicht mehr“ gefiel.47 Nach dem Angebot, „mit einem sehr kleinen Gehalt“ als Privatdozent nach Göttingen zu kommen, das ihm Münchhausen, spiritus rector der Gründung der Universität Göttingen, antrug, verließ Michaelis Halle und ging im Jahr 1745 nach Göttingen.48 Hier wurde er ein Jahr später außerordentlicher, im Jahr 1750 ordentlicher Professor der Philosophie. Professor der orientalischen Sprachen, wie ihn manche nannten, sei er hingegen nie gewesen, obgleich er sie lehrte.49 In seiner Antrittsschrift handelte Michaelis „von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden“.50 Er erklärte sämtliche Lügen, das heißt „nicht allein die so genannten Schaden=Lügen, sondern auch alle die Unwahrheiten, die man sonst Nothlügen zu nennen pflegte“, für verboten und stellte sich aus „Menschen=Liebe“ als einen „Vertheidiger der Rechte der Wahrheit“ vor.51 Denn das Gebot der Wahrhaftigkeit sei es, das ihm die Heilsamkeit und Liebenswürdigkeit der „Gesetze Gottes und der Natur“ auf eindrücklichste Weise zeige.52 Nach seinem Plädoyer für die Wahrheit 46 Ebd., 36f. Zum Wunderlichen der Hallenser Theologie vgl. ebd., 25: „Hier sollte man blos dem Buchstaben folgen, und gar nicht die Vernunft zu Rathe ziehen; soll nun eben diese hermeneutische Regel bey moralischen Geboten der Bibel befolgt werden, so kommt bisweilen etwas Uebertriebenes oder Wunderliches heraus“. 47 Ebd., 39. 48 Ebd., 40f. 49 Ebd., 43. 50 MICHAELIS, Johann David: Johann David Michaelis: Prof. Ord. der Weltweisheit: handelt von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden: und zeiget zugleich an, wie er künftig seine Arbeit auf der Georg=Augustus=Universität einzurichten gedencke. Göttingen 1750. 51 Ebd., 4. 52 Ebd., 26: „Gleichwie ich alle Gesetze Gottes und der Natur für heilsame und liebenswürdige Gesetze erkenne; so muß ich dieses insonderheit von dem Gebote der Wahrhaftigkeit sagen. Gott könnte die Welt nicht unglücklicher machen, als wenn er uns durch eine Offenbahrung unserer natürlichen Pflicht die Wahrheit zu reden erliesse. Hingegen verdienet die uns wircklich von Gott gegebene Offenbahrung die wir in der heiligen Schrift haben, unsere Liebe und Danck, weil sie uns dieses nützliche Gebot, über welches die Weltweisen immer gestritten haben, auf eine unleugbare Weise vorschreibet. / Wenn

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erläuterte Michaelis, „wie er künftig seine Arbeit auf der Georg=Augustus=Universität einzurichten gedencke“ und beschrieb auch den Zweck seiner Berufung: „Ich weiß, daß der Zweck mit welchem ich hierher geruffen bin, hauptsächlich auf die morgenländischen Sprachen und auf die Erklärung der heiligen Schrift gehet. Ich werde meine Arbeit diesem Zweck gemäß einrichten: so eine angenehme Beschäftigung mir auch die Weltweisheit seyn würde, so werde ich dennoch in Collegiis keine Theile der Weltweisheit abhandeln, dieses einzige ausgenommen, daß ich bisweilen den Theil der Vernunfts=Lehre welcher die Auslegungs=Gesetze enthält, oder die Hermeneutik, vortrage, weil er mit meiner 53

Haupt=Arbeit eine nahe Verwandschaft hat, und ich öfters darum ersucht bin.“

Dem Zweck seiner Berufung gemäß wollte sich Michaelis zuerst der „Hebräischen Sprachlehre“ widmen, die er „zum wenigsten alle Jahr einmahl“ vorzutragen beabsichtigte.54 Über „die wichtigsten Bücher des Alten Bundes“ – „[d]as erste Buch Mosis, welches wegen der darin enthaltenen Geschichte und Alterthümer einer ausführlichen Erklärung werth ist, und über dieses den ersten Grund unserer gantzen Religion enthält; der Prophet Jesaias und die Psalmen“55 – plante er mit der vordringlichen Absicht, „die wahre und eigentliche Bedeutung der Worte durch Hülfe einer genaueren Philologie zu erweisen“56, sogenannte „Exegetica“ zu halten. Darüber hinaus war sich Michaelis seiner Pflicht bewusst, „allen denen, die Verlangen tragen, die Bibel noch auf der Universität durchzulesen, eine Gelegenheit dazu zu verschaffen“57 und bot zur Erfüllung dieser Pflicht sogenannte „Cursoria“ an, in denen er das ganze Alte Testament im Verlauf von zwei Jahren lesen wollte, wobei er „keine vollständige Erörterung und Erklärung“ des Textes versprach, sondern vorrangig „eine so richtige und deutliche Uebersetzung des Textes, als [ihm] möglich ist“.58 Auch gedachte Michaelis „die übrigen morgenländischen Sprachen“, das Rachgierde erlaubt wäre, so könnte man seinem ärgsten Feinde kaum eine grössere Strafe wünschen, als daß ihn Gott öffentlich von diesem Gebote losspräche: und in Ermanglung dessen, daß jederman von ihm glauben möge, er halte sich nie verpflichtet die Wahrheit zu reden.“ 53 Ebd., 28. 54 Ebd. 55 Ebd., 31. Neben diesen „wichtigsten Büchern“ des Alten Testaments wollte Michaelis in seinen „Exegetica“ auch die philologisch „schweresten“ berücksichtigen: „Ich werde aber auch bisweilen dem Buche Hiobs und den Sprichwörtern Salomonis ein halbes Jahr widmen, weil diese Bücher in Absicht auf die Sprache die schweresten in dem A.T. sind, und einen grossen Schatz Hebräischer Wörter enthalten.“ 56 Ebd., 40. 57 Ebd., 36. 58 Ebd., 40f.

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heißt vor allem das Arabische und Syrische, sodann das Chaldäische und Rabbinische, zu behandeln und sie „zum wenigsten alle zwey oder drittehalb Jahre“ zu lesen. Denn das Erlernen dieser Sprachen sei dem Ziel eines gründlicheren und erleichternden Verstehens des Hebräischen dienlich.59 Seiner stark philologisch ausgerichteten Lehre begegnete Michaelis als Autor mit einem Publikationsspektrum, das von der Grammatik bis zur Dogmatik, von der Rezension bis zur Bibliothek reichte. Aus der umfangreichen Bibliographie, die neben Einzelabhandlungen und Aufsätzen mehr als 50 Werke zählt, seien nur einige hervorgehoben: die 24-bändige „Orientalische und Exegetische Bibliothek“ (17711785), die Michaelis alleine schrieb, das sechsbändige Werk „Mosaisches Recht“ (1770-1775), die „Deutsche Übersetzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für Ungelehrte“ (1773-1783), die „Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen“ (1759), die den Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften erhielt und das „Compendium theologiae dogmaticae“ (1760), das in Deutschland „weder Aufsehen, noch starken Widerspruch“ erregte, in Schweden aber konfisziert wurde.60 Als „Nationalsatisfaction“ wurde Michaelis 1775 vom schwedischen König der Nordsternorden verliehen.61 Der Überzahl theologischer Themen in seinem gelehrten Wirken zum Trotz bekannte Michaelis, dass ihm die „Lust“ zu einer theologischen Professur gefehlt habe.62 Die Ursache seiner Unlust fand er in einer gröberen Ängstlichkeit seines Gewissens. Nicht „ohne Noth, und etwan blos um eines Vortheils willen“ wollte Michaelis Verbindungen eingehen, die die „freye Untersuchung irgend einschränkten“ und aufgrund ihrer Verbindlichkeit zunächst seine Ängstlichkeit, sodann seine Skepsis befördert hätten. Denn eine Änderung der Einsichten wider die Verbindlichkeit der eingegangenen Verbindung wäre einer „Folter des Gewissens“ gleichgekommen.63 Seine Ängstlichkeit, die die Bürgschaft für künftige Einsichten verhindere, stellte Michaelis als die Hypochondrie des Zweiflers vor: „Dis wird sich auch bey manchen andern finden, gerade wird es ihnen schwer werden, etwas zu glauben, weil sie es glauben sollen oder wollen, (dagegen es auch freilich wieder Leute von einem glücklicherem Temperament, und gegen ihren Willen folgsahmern Einsichten giebt) allein ich fand bey mir diese beunruhigende Krankheit in hohem Grad, und ich sahe, daß ich mich nicht auf symbolische Bücher verpflichten mußte, wenn ich nicht durch bloße Aengstlichkeit in die Gefahr skeptisch zu werden verfallen, und mein Leben mir vergällen 59 Ebd., 46f. 60 Michaelis: Lebensbeschreibung, 62f. 61 Ebd., 130f. 62 Ebd., 142. 63 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VI (1774), 193.

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wollte. Von Treu und Glauben bey gegebenem Wort und Unterschrift, habe ich strenge Begriffe, die vielleicht Herr T. hypochondrisch nennen wird, aber ich habe sie einmahl, und sie würden mich bey entstandenem Zweifel sehr beunruhiget haben.“

64

Die Lustlosigkeit zur Theologie begründete Michaelis folglich mit dem Eingeständnis seiner „Schwachheit“.65 Durchaus aber konnte Michaelis die Theologie auch als schwere Beleidigung empfinden. Als ihn Moses Mendelssohn in der Auseinandersetzung um Lessings Lustspiel „Die Juden“ „wider alle Wahrscheinlichkeit“ für einen Theologen hielt, antwortete Michaelis: „Man lese doch die gantze Recension nach, und urtheile, ob ein so blutgierig=beschriebener Theologe, wenn er auch eine Comödie recensirte, so reden; ob er von dem Mangel der Tugend unter dem Jüdischen Volk so glimpfliche und zum Theil entschuldigende Ursachen angeben würde, als wir gethan haben. Hätte er ausser dem verstockten Unglauben an Christum, den wir nicht einmahl erwähnt haben, etwas genannt, so würden es bloß die bösen Sätze der Sitten=Lehre seyn, die einige Jüdische Lehrer geäussert haben, und die man gemeiniglich allen Juden ohne Unterscheid beymisset. Er würde vielleicht gar ihrer Gebete, die ihnen Haß gegen die Christen einflössen sollen, auf eine nicht richtige, aber unter solchen Eiferern nicht ungewöhnliche Art gedacht haben.“

66

Grund seiner Empörung war die Unterstellung einer dem Glauben geschuldeten Argumentation, die Ungerechtigkeiten und Verallgemeinerungen zum Zwecke der Verurteilung sucht – kurz: einer Argumentation wider die Vernunft. „[B]los mit philosophischem kalten Blut“ hingegen wollte Michaelis seine Untersuchungen anstellen,67 befreit von aller gläubigen Verpflichtung außer jener einen: der Verpflichtung, die Wahrheit zu reden.

64 Ebd., 194. 65 Vgl. ebd., 195. 66 GÖTTINGISCHE ANZEIGEN VON GELEHRTEN SACHEN: unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften: 146. Stück. Den 7. December 1754. 67 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VI (1774), 194.

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NER Z EITGENOSSEN 2.2 I N V ORSTELLUNGEN SEIN In der ersten Ausgabe seines „Kirchen= und Ketzer=Almanachs“68 notierte Carl Friedrich Bahrdt für den Monat April: „Kinder in diesem Monat geboren, sind sondeerbarer Natur. Man kann nicht recht aus ihnen klug werden. Von der einen Seite lachen sie im mmer und von der andern krinzen sie. Auch haben sie nicht einerley Farbe. Bald sehen sie rothh, bald blaß. – Einige haben unter den Augenbrauen ein Nest, wo der Pabst Eier legt. Die meisten m spitzen immer das Mäulchen, und thun gerQMPSIHUOLFKରS sind schnakische Jungens.“

Abbildung 3: Johann David D Michaelis

Quelle: Rasmussen, Carssten Niebuhr und die Arabische Reise, Abb. 2))

Neben Johann Gottfried Herder, Johann August Ernesti, Johann Salomo Semler und anderen ordnete Bahrdt Michaelis dem Geeburtsmonat April zu. Wenige Jahre später würde er ihn zur „Legion der Handlangerr“ zählen, „welche zum Bau der christlichen Kirche Holz, Kalk, Steine etc.“ zusaammentrügen, sich damit aber „wenig um die Garnison der Burg Zion und ihren Glauben“ kümmerten, sondern bloß „Mate68 BAHRDT, Carl Friedrich: Kirchen= und Kettzer=Almanach aufs Jahr 1781. Häresiopel [i.e. Züllichau] 1781.

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rialen“ für „Reparaturen“ sammelten.69 Neben Michaelis’ Namen findet sich die Notiz „gut – Geld – zählen“70 und „regnet Louisd’ors“71. Bahrdt72, der exzentrische Schreck der Aufklärung, verwies mit seinen Charakterisierungen auf die wichtigsten Gründe für Feindseligkeiten, mit denen Zeitgenossen Michaelis begegnen konnten: zu schnakisch, zu heterodox, zu geizig. Dass das Gewicht dieser Feindseligkeiten nicht unerheblich war, deutet die „Gleichgiltigkeit“73 an, mit welcher man Michaelis’ Tod in Göttingen am 22. August des Jahres 1791 aufnahm. Dass sich die diagnostizierte Gleichgültigkeit andererseits keineswegs auch auf das gelehrte Leben Michaelis’ erstreckte, beweist die Menge an Einträgen und Notizen, mit denen Michaelis vor und auch nach seinem Tod gedacht wurde. Dass Michaelis zuletzt nicht allein Feindseligkeiten provozierte, sondern ebenso Schwärmereien, illustriert der enthusiastische Bericht eines „Landprediger[s] im Hannöver’schen“74: 69 BAHRDT, Carl Friedrich: Kirchen= und Ketzer=Almanach: Zweytes Quinquennium, ausgefertiget im Jahr 1787. Gibeon [i.e. Berlin] 1787, hier: September. Vgl. auch ebd., März. 70 Bahrdt: Kirchen= und Ketzer=Almanach 1787, September. 71 Bahrdt: Kirchen= und Ketzer=Almanach 1781, März. 72 Vgl. zu Bahrdt KUHN, Thomas K.: Carl Friedrich Bahrdt: Provokativer Aufklärer und philanthropischer Pädagoge. In: Walter, Peter/ Jung, Martin H. [Hg.]: Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts: Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Darmstadt 2003, 204-225. 73 HASSENCAMP, Johann Matthäus: Vorrede. In: Michaelis: Lebensbeschreibung, III-XVI (hier: VII). Vgl. zur Begründung der verhaltenen Reaktion auf Michaelis’ Tod EICHHORN,

Johann Gottfried: Eichhorns Bemerkungen über J. D. Michaelis Litterarischen

Character. In: Michaelis: Lebensbeschreibung, 145-226 (hier: 145f.): „[U]m die Leiche eines in Verdiensten grau gewordenen Gelehrten herrscht meistens öde Stille. Der Haufe derer, über die sich sein Verdienst erstreckt, ist nicht um ihn versammelt; denn Vaterland und Schicksal hat sie weit und breit zerstreut: gebeugte Jugendfreunde, die mit schwärmerischer Liebe und in der Sprache der Begeisterung den erlittenen Verlust berechnen, können ihn nicht mehr bejammern; denn die meisten hat der Tod schon früher weggenommen, und den noch übrigen hat das Alter nur die Kraft gelassen, eine stille Thräne über seinem Grab zu weinen. Sein Einfluß auf die Wissenschaften hat bey ihren ewigen Veränderungen mit den Jahren abgenommen; sein früheres Verdienst wirkt unsichtbar und in zerstreuten Strahlen, im großen Reich der Wahrheit, nur wenigen Geweiheten bemerkbar; die Botschaft seines Todes war schon lange vorausgesehen. Wie könnte sie nun wie ein harter Schlag erschüttern? wie könnten Ferne seinen Tod wie Nahe fühlen? Abwesende wie Gegenwärtige?“ 74 Dieser findet sich bei EBERT, Friedrich Adolf [Hg.]: Charakteristik einiger Göttinger Professoren in den Jahren 1766-1769. In: Ders. [Hg.]: Ueberlieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor= und Mitwelt I, 1. Dresden 1826, 65-71. Vgl. die Angaben des

26 | F REMDE VERGANGENHEIT „Ein Mann von vortrefflicher Leibesbildung und Anstand, als Cavalier gekleidet, mit besetzten Kleidern, gestiefelt und gespornt, den Degen an der Seite, pathetisch in seinem Gange, eine hohe Miene, die einen großen Geist und zugleich Muth verrieth, mit feurigen Augen, die so scharf blickten, daß man ihm nicht gern lange ins Angesicht sahe – so tritt er ins Auditorium, die Bibel unter dem Arme.“

75

Im Hörsaal des Dozenten Michaelis seien ihm Stunden zu Minuten geworden, denn Michaelis’ „Vortrag hatte unglaublich viel Einnehmendes. Er war voll Leichtigkeit, Witz und Anmuth“.76 Mit ähnlicher Euphorie betonte der frühere Hörer Michaelis’ und spätere Professor der orientalischen und griechischen Literatur Johann Christoph Friedrich Schulz in seinem Nachruf auf den Verstorbenen: „Michaelis war einer der größten Docenten […] besaß alle Erfordernisse des Lehrvortrags in dem höchsten Grade, bis zum Ideal; war einer der vollkommensten Docenten, die je, so lange Universitäten sind und seyn werden, gelebt haben.“77 Allerdings hätte seine „seltene Vortrags= und Darstellungsgabe“ Michaelis auch zu „gewissen Fehlern“ verleitet, wie Schulz relativierend berichtete. Denn: „Gar oft verlohr sich seine glühende Einbildungskraft mit seiner volubeln Zunge, unterstützt von den mannigfaltigsten Kenntnissen aus allen Theilen der Wissenschaften, in Erzählungen und Dramatisirungen einer Geschichte oder eines Raisonnements, so weit von dem Ziele, von dem er ausgegangen war, und auf welches er wieder zurückkommen mußte; gerieth unterwegens, durch sein Haschen nach allen Bildern, Anspielungen und besonders auffallenden Bonmots, die ihm auch nur auf halbem Wege entgegenkamen, auf so manchen Abweg […] Lästig sogar wurde er in diesem Stücke nicht selten dem kaltblütigern, lehrbegierigen 78

Theile seiner Zuhörer“.

Einige Zeilen später wurde der relativierende Einwand zu einer Korrektur, die hinter Michaelis, einem der „größten“ und „vollkommensten Docenten“, nicht mehr denn einen selbstverliebten Gockel vermuten lässt: Herausgebers (ebd., 65): „Die nachfolgenden Schilderungen wurden im Jahre 1781 von einem nunmehr längst verstorbenen gelehrten und würdigen Landprediger im Hannöver’schen, der sich auch als Schriftsteller rühmlich bekannt gemacht hat, als Mittheilung an einen ihm eng befreundeten Amtsgenossen in Sachsen aufgesetzt.“ 75 Ebd., 68f. 76 Ebd., 69. 77 SCHULZ, Johann Christoph Friedrich: Bemerkungen über J. D. Michaelis Litterarischen Charakter. In: Michaelis: Lebensbeschreibung, 227-264 (hier: 229). Zu Schulz vgl. SIEGFRIED, C.: Johann Christoph Friedrich Schulz. In: Allgemeine deutsche Biographie: Bd. 32. Leipzig 1891, 744f. 78 Schulz: Bemerkungen über J. D. Michaelis Litterarischen Charakter, 231f.

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„Der große Mann war doch wirklich in diesem Stücke zuweilen so klein, daß ihn das aus vollem Halse ergoßne Gelächter von hundert meist ungebildeten, und das gefällige Lächeln von etwa zehn bis funfzehn gebildeten und weitersehenden Zuhörern vergnügen – so vergnügen konnte, daß er nicht selten recht mühsam und mit sichtbarer Anstrengung es darauf anlegte, daß es gerade in das Ende der Stunde fallen mußte, wo er dann unter lautem Jubel, gleichsam im Triumphe, aus dem Auditorio wegzog, und noch unter der Thüre einen danksagenden, viel Wohlgefallen ausdrückenden Blick an die Auditores zurückwarf.“

79

Sehr viel kürzer als Schulz bemerkte Alexander von Humboldt zu Michaelis: „Sein Vortrag abscheulich, wie sein Sprachorgan und voller Zoten“.80 Indes deutet seine knappe Notiz die mögliche Feindseligkeit gegen den akademischen Lehrer Michaelis, wie sie sich in dem folgenden autobiographischen Eintrag des Studenten Johann Georg Müller zeigt, nur an: „Der Exeget des neuen Testamentes unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, der wiederkommen wird, zu richten, die Lebendigen und die Todten – saß da vor einem Tischgen – […] – besoffen – las da im Testament, halbschlafend, nonchalant, und sagte mehr als die halbe 81

Stunde Zoten, darüber alle, und er selbst zuerst reröthete [sic!]“.

Eine Erklärung derartiger Tiraden gibt der bereits erwähnte Bericht des Landpredigers. Auch er beschrieb Michaelis als einen Mann, der ob seiner „viele[n] witzi79 Ebd., 233. 80 HUMBOLDT, Alexander von: Brief an Wilhelm Gabriel Wegener, Göttingen 16. und 17.8.1789. In: Jahn, Ilse/ Lange, Fritz G. [Hg.]: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. Berlin 1973, 66-71 (hier: 67). Humboldt bezieht sich hier auf den späten Michaelis – vgl. das vollständige Zitat (ebd.): „Michaelis – ich sah ihn noch heute morgen. Seine Gelehrsamkeit brauche ich Dir nicht anzurühmen. Er bringt kaum noch (seit dem Eichhorn über das alte Testament lieset) ein Kollegium zu Stande. Sein Vortrag abscheulich, wie sein Sprachorgan und voller Zoten“. 81 Zitiert nach GRESKY, Wolfgang: Studium in Göttingen 1780: Aus der ungedruckten Autobiographie des Johann Georg Müller aus Schaffhausen (1759-1819). In: Göttinger Jahrbuch 23 (1975), 79-94 (hier: 82). Vgl. dazu das Urteil Greskys (ebd.): „Manches harte und ungerechte Wort wurde später von Müller widerrufen, ein Zeichen, daß seine negative Einstellung aus einer Seelenkrise entsprang, während er später seinen Göttinger Lehrern mehr gerecht wurde, indem er die Nützlichkeit dieser seiner ungeliebten Ausbildung erkannte.“ / Was hier und bei Humboldt eine Zote genannt wird, erscheint dort als ein „drollige[r] Einfall von dem Scherz liebenden Manne“ (FEDER, Johann Georg Heinrich: J. G. H. Feder’s Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen geneigt sind. Leipzig [u.a.] 1825, 92).

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ge[n] Einfälle“ „manchmal Minuten lang scherzte“, bekannte aber zugleich, „in einer Stunde bei ihm […] oft mehr gelernt“ zu haben, „als in den Stunden mancher Lehrer, die immer im ernsthaften Tone von ihrem Katheder herabdocirten“. Allerdings hätten sich „[m]anche bigotte junge Leute“ eingebildet, „es schicke sich nicht, daß ein Bibelerklärer ein witziger Weltmann sei“.82 Neben seiner Vortragsart provozierte auch Michaelis’ Gnadenlosigkeit im Einnehmen seiner Vorlesungsgebühren zuweilen Ressentiments.83 Man warf ihm „Geiz und Härte gegen die ärmern Studirenden“ vor, wie Pastor Bernstein, Michaelis’ Famulus und Hauslehrer in den Jahren 1776-1781, von jenen zu berichten wusste, die „auf die Anschuldigungen der Unzufriednen“ hörten.84 Johann Matthäus Hassencamp85, Herausgeber der „Lebensbeschreibung“, zitierte „eine kleine Apologie, diesen Punct betreffend“, die ihm „ein bekannter, mit Michaelis aber in keiner besondern Verbindung stehender Gelehrter zugeschickt“ habe86: „Uebrigens besaß er gewiß eine unbestechliche Wahrheitsliebe – und, wenn ich es so nennen darf – Gerechtigkeitsliebe – d.i. er that, was er that, nicht so sehr aus und mit Empfindung, als aus Ueberzeugung, daß es so recht gethan sey – Er schenkte dem Studenten das Honorarium nicht, aus Ueberzeugung, daß er es mit Recht fordern könne, und dieser es vielleicht doch nur verschwende; (ein Fall, der wirklich oft eintrifft.) Er gab keinem Strasenbettler etwas, aus Ueberzeugung, daß dieß dem Bettler so sehr, als dem allgemeinen Besten schade. Aber als die Armenversorgung in Göttingen veranstaltet werden sollte, und dazu Subscriptionen ge82 Ebert [Hg.]: Charakteristik einiger Göttinger Professoren, 71. 83 Vgl. ebd., 70f.: „Einige haßten ihn, weil man ihm ohne Gnade pränumeriren mußte. In den ersten Stunden mußten die Zuhörer ihre Namen aufschreiben; dann war sein Bonmot: ‚das Aufschreiben thuts freilich nicht; aber das Pränumeriren erfordert eitel gläubige Herzen.‘“ 84 EBERT, Friedrich Adolf [Hg.]: Ueber Johann David Michaelis Lehren und Leben in Göttingen. In: Ders. [Hg.]: Ueberlieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor= und Mitwelt I, 2. Dresden 1826, 49-57 (hier: 53). 85 Zu Hassencamp vgl. REDSLOB, Gustav Moritz: Johann Matthäus Hassencamp. In: Allgemeine Deutsche Biographie: Bd. 10. Leipzig 1879, 762f. 86 Michaelis: Lebensbeschreibung, 83-86 (Anm. Hassencamp). Vgl. Hassencamps eigene Meinung ebd., 83f. (Anm. Hassencamp): „Ich habe den sel. Michaelis ziemlich genau gekannt, und, um meine Meinung offenherzig zu sagen, gefunden, daß er den Werth des Geldes zwar sehr gut zu schätzen wußte, und, solches auf einjede erlaubte Art zu erwerben, auch nachher, so viel nur möglich war, aufzusparen, eifrigst suchte. Allein das ist doch noch nichts Böses; gewöhnlich wird ja diese Denkungs= und Handlungsart sogar für eine Tugend gehalten, und mit dem Namen der Sparsamkeit belegt. Hingegen habe ich nie Grund dazu gefunden, ihn für eigentlich geitzig oder habsüchtig zu halten. Doch vielleicht mögte ich hier partyisch zu seyn scheinen“.

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macht wurden, war Michaelis der, welcher unter allen Einwohnern Göttingens das Meiste subscribirte.“

87

Mit dieser Rechtfertigung der michaelischen „Sparsamkeit“88 sehen sich Selbst- und Fremdbild auf erstaunliche Weise geeint. Denn schließlich war es Michaelis selbst, der die „Wahrheitsliebe“ zu seinem Prolegomenon89 und die Verteidigung der Rechte der Wahrheit zu seinem Programm erklärt hatte90. Dieser punktuellen Einigkeit ungeachtet aber zeigt sich in der Breite der zitierten Vorstellungen insgesamt das nur wenig harmonische Bild eines durchaus umstrittenen, zuweilen höchst unbeliebten Dozenten. Die Urteile über den Gelehrten Michaelis zeichnen sich demgegenüber durch eine höhere Homogenität aus. Grundsätzlich wurde Michaelis als bedeutende Größe wahrgenommen. Selbst Schulz, der Michaelis zwar als groß, ob der multiplen Fehler in seinem Gebaren aber zugleich als klein vorstellte, glaubte zu wissen, dass „[s]o lange eine hebräische Bibel existiren wird, […] diejenigen Michaelischen Schriften, die eine Beziehung darauf haben, gelesen und brauchbar gefunden werden“.91 Ausdrücklich rühmte auch Johann Salomo Semler, der Michaelis in Halle gehört hatte, die orientalistischen Studien des damaligen Magisters: „Halle hat indes unleugbar seines gleichen nicht wieder bekommen; und das grosse, so grosse so fruchtbare Feld der orientalischen Philologie, hat durch diesen Verlust so viel bey uns gelitten, als Göttingen durch diese Eroberung gewonnen hat.“92 „[U]nstreitig“ gebühre ihm „das Lob, daß er das Studium der orientalischen Sprachen in Deutschland empor gebracht hat“, vermerkte Bahrdt in Anerkennung des michaelischen Verdienstes um die orientalischen Studien.93 Hassencamp be87 Michaelis: Lebensbeschreibung, 85 (Anm. Hassencamp). 88 Vgl. Hassencamp (ebd. 83, Anm.). 89 Vgl. Michaelis: Lebensbeschreibung, 24. 90 Michaelis: Wahrheit, 4. 91 Schulz: Bemerkungen über J. D. Michaelis Litterarischen Charakter, 239. 92 SEMLER, Johann Salomo: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt: Erster Theil. Halle 1781, 86. 93 Bahrdt: Kirchen= und Ketzer=Almanach 1781, 117; Bahrdt: Kirchen= und Ketzer=Almanach 1787, 130. Vgl. zur Anerkennung von Michaelis’ Verdienst um die orientalischen Studien auch BETRACHTUNGEN EINES LAIEN über die Sensation, welche der Tod des Ritter Joh. David Michaelis gemacht hat. In: Journal von und für Deutschland (1791), 947-952 (hier: 947): „Das ganze gelehrte Deutschland beklagt den Verlust eines Mannes, welcher in der orientalischen Litteratur eine so merkwürdige Epoche gemacht, und zur Verbreitung des deutschen Ruhms bey den Ausländern durch so viele gelehrte Werke beygetragen hat. Er hob zuerst den Zweig von Sprachkunde, den er bearbeitete, zu einem wahren gelehrten Studium, und gab ihm, da er sonst nur Wortkram gewesen war,

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zeichnete Michaelis als „in seiner Individualität einzige[n] Polyhistor Deutschlandes“.94 Goethe bedauerte, nicht zu seinen Füßen gesessen, nicht auf seine Lehren gemerkt zu haben.95 Ähnlich äußerte sich auch Johann Georg Müller. Jener scharfe Kritiker, der Michaelis in jungen Jahren nur „besoffen“ wahrgenommen hatte, schrieb später: „Von Michaelis hörte ich nichts: theils weil gewöhnlich andere nöthige Collegia mich daran hinderten, theils wegen Vorurtheilen, die ich gegen den Mann hatte, und weil mir seine Späße auf dem Catheder mißfielen. Die große Achtung, die ich nun für ihn habe, fing sich erst später an; ich halte ihn für den größten Mann, den Göttingen damals und seither hatte, und bedaure, daß seine Schwachheiten mich hinderten, ihn zu benutzen.“

96

Gottfried August Bürger widmete Michaelis ein Gedicht, dankte für die „Fackel“, die er „hoch gehalten, / Die des Irrtums Chaos zu gestalten / Wandelloser Wahrheit aufgehellt“.97 Johann Georg Hamann bezeichnete Michaelis als den „große[n] Erasmus unseres Jahrhunderts“98, bemerkte allerdings zugleich, dass „die wunderthätigsten Sprachforscher […] bisweilen auch die ohnmächtigsten Exege-

durch Verbindung mit der ächten Auslegungskunst, Sachkenntnissen, und philosophischen Raisonnement zuerst wahre Würde und Nutzen.“ Vgl. darüber hinaus auch MURSINNA, Friedrich Samuel: Leben und Charaktere berühmter und edler im Jahr 1791 verstorbener Männer. Eine Beispielsammlung zur rühmlichsten Nachahmung für junge Leute. Halle 1793, 139: „Man wird diesen grossen Mann wegen seiner ungewöhnlichen Sprachkenntniß und seiner weit umfassenden Belesenheit immer bewundern und ihn unsern größten Theologen, Exegeten und Sprachforschern an die Seite sezzen können.“ 94 Hassencamp: Vorrede, VIII. 95 GOETHE, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit. Hamburger Ausgabe IX (1981), 241 (Zweiter Teil: 6. Buch). 96 Zitiert nach: Gresky: Studium in Göttingen, 91. Man beachte die doppelte Relativierung des vormaligen Urteils, einmal durch das Vorurteil, das sich nach der Interpretation Greskys einer „Seelenkrise“ verdankt, sodann durch das Geständnis, Michaelis nicht gehört zu haben. 97 BÜRGER, Gottfried August: Totenopfer den Manen Johann David Michaelis’: dargebracht von seinen Verehrern im August 1791. In: Sauer, A. [Hg.]: Gedichte von Gottfried August Bürger. Berlin/ Stuttgart 1884, 359f. (Nr. 191). 98 HAMANN, Johann Georg: Brief an Friedrich Nicolai: Königsberg, d. 22. September 1771. In: Ziesemer, Walther/ Henkel, Arthur [Hg.]: Johann Georg Hamann: Briefwechsel: Bd. 3: 1770-1777. Wiesbaden 1957, 5f. (hier: 6).

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ten“ seien.99 Immanuel Kant führte Michaelis als „Prototyp“ eines „historisch aufgeklärten Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnisses“ an,100 der „alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen wie sie wollen, als Kinder“ schleppt, „wohin er will“.101 Und Eichhorn prophezeite ihm die Unsterblichkeit. Denn jener „wahre[] Lehrer von Europa“ mit dem „unsterblich=großen Namen[] Michaelis“,102 „Vater“ der Kritik des Alten Testaments in Deutschland,103 könne kein Opfer der Zeit, kein Opfer des Vergessens sein: „Das warst und wardst du, großer Lehrer, durch dich selbst, bey allen Hindernissen der Erziehung, die du glücklich überstiegst, bey allen Schwierigkeiten deiner Lage, die du glücklich überwandst, bey aller Schwachheit deiner Zeitgenossen, die du geduldig trugst. So wirktest du, geschmäht, von deinem ersten Wirken an, von deinen finstern Zeitgenossen, und oft verfolgt und angefeindet von scheelem Neid und bitterer Mißgunst; verkannt in deinem Leben von vielen deiner Zeitgenossen, und nun im Tode – unersetzt. So giengst du, unbekümmert um die Künste deiner Feinde, die Ränke deiner Neider, die Bosheit der Unwissenheit, gekannt von Königen, geschätzt von ihren ersten Dienern, bewundert von Europa, deinen ungebahnten Weg zur Erweiterung des Reichs der Wahrheit und der Wissenschaften, und trugst mit deinem Namen den Namen der Geogia Augusta weit über Deutschlands Gränzen in alle cultivirte Reiche von Europa. / Nun ruhest du, mit deinen seltnen Geistesgaben, wo ande99

HAMANN, Johann Georg: Kleeblatt Hellenistischer Briefe. In: Nadler, Josef [Hg.]: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke: Bd. II: Schriften über Philosophie/ Philologie/ Kritik: 1758-1763. Wien 1750, 167-184 (hier: 183). Vgl. zum Verhältnis Hamanns und Kants zu Michaelis RINGLEBEN, Joachim: Göttinger Aufklärungstheologie – von Königsberg her gesehen. In: Moeller, Bernd [Hg.]: Theologie in Göttingen: eine Vorlesungsreihe. Göttingen 1987, 82-110. Nach Ringleben vermisste Hamann bei Michaelis den „geistlichen Sinn für das Geheimnis göttlicher Selbstvergegenwärtigung in der Bibel“ (ebd., 89).

100 Ringleben: Göttinger Aufklärungstheologie, 103. 101 KANT, Immanuel an Johann Georg Hamann am 8. April 1774. In: Hamann: Briefwechsel 3, 84-87 (hier: 86): „Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, daß critische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundveste ausmacht, auf der sie durch alle Zeitalter und in allen Völkern erbauet seyn muß, so schleppt der, welcher im Griechisch – Hebräisch – Syrisch – arabischen u. imgleichen in den Archiven des Alterthums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen wie sie wollen, als Kindern, wohin er will; sie dürfen nicht muchsen; denn sie können in dem, was nach ihrem eigenen Geständniße die Beweiskraft bey sich führt, sich mit ihm nicht messen, und sehen schüchtern einen Michaëlis ihren vieljährigen Schatz umschmeltzen und mit ganz anderem Gepräge versehen.“ 102 Eichhorn: Uber J. D. Michaelis Litterarischen Character, 147. 103 Ebd., 187.

32 | F REMDE VERGANGENHEIT re gemeine Menschen ruhen. Nur dich trift nicht Vergessenheit. Dein Bild bleibt tief im Herzen der Georgia Augusta eingedrückt, und deinen Namen trägt die Zeit durch alle folgende Jahrhunderte.“

104

2.3 I N V ORSTELLUNGEN DES 19. J AHRHUNDERTS Das beginnende 19. Jahrhundert war bemüht, die Erinnerung an Michaelis zu bewahren und seinen Status als große Persönlichkeit zu behaupten. Als ein erster Beleg hierfür kann gelten, dass sich in gleich beiden Ausgaben der „Ueberlieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor= und Mitwelt“ aus dem Jahr 1826 ein Beitrag zu dem 35 Jahre zuvor verstorbenen Gelehrten fand. Der Artikel des ersten Bandes war namentlich eine „Charakteristik einiger Göttinger Professoren in den Jahren 1766-1769“ und berücksichtigte Michaelis neben anderen. Er enthielt den Bericht des „Landprediger[s] im Hannöver’schen“, der bei Michaelis „[a]lles fand, was [e]r suchte“105. Sein Anliegen war es, mittels eines „unbefangene[n] Privaturtheil[s] eines Zeitgenossen“ zu zeigen, „wie sich damals das Urtheil über jene Männer in ihren nächsten Umgebungen und Beziehungen gestaltete“ und damit zwei „Gesichtspunkte“ zu vereinen, „welche[s] die Biographie eines akademischen Gelehrten zu einer so schweren Aufgabe macht“: die nähere und die allgemeinere Wirksamkeit. Denn es gebe „nur wenige so meisterhafte Darstellungen […] als die ist, welche Eichhorn von Michaelis lieferte“.106 Demgegenüber behauptete der Artikel aus der zweiten Ausgabe der „Ueberlieferungen“, dass das, was Eichhorn über Michaelis gesagt habe, „nicht geeignet und auch nicht bestimmt“ sei, „sein Inneres aufzuschließen“.107 Mit dem Ziel, Fehlendes nachzutragen, zitierte der Artikel den Bericht Pastor Bernsteins, der die Hauptzüge des michaelischen Charakters wie der unbekannte Gelehrte in Hassencamps apologetischer Anmerkung als „Liebe zur Wahrheit, Gerechtigkeit und rastloses Bestreben nach Kenntnissen“ beschrieben hatte.108 Vorausgesetzt war ihm ein Hinweis, der Michaelis’ nachdrückliche Bedeutung vor allem für die Arabistik betonte: „Johann David Michaelis wird stets zu den Erweiterern seiner Wissenschaft gezählt werden […] Er wurde Araber und hörte auf ein Anhängsel der theologischen Facultät für die bloße grammatische Bibelauslegung zu seyn. Naturgeschichte, Arzneikunde und Gesetzgebung des

104 Ebd., 226. 105 Ebert [Hg.]: Ueberlieferungen I, 1, 68 106 Ebd., 65f. 107 Ebert [Hg.]: Ueberlieferungen I, 2, 49f. 108 Ebd., 56.

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palästinisch=arabischen Orients lagen offen vor ihm da […] Die Liebe zur arabischen Literatur ist sein und Reiske’s Werk in Deutschland.“

109

Ähnlich urteilte auch Heinrich Doering in seinem biographischen Werk „Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert“. Michaelis sei es, der jene Schultens’sche „Behandlungsart“, „das Hebräische aus den lebenden orientalischen Dialecten“ zu erläutern, „zuerst in Deutschland verbreitet[]“ habe. Zugleich habe „er sich nicht durch die Fesseln der Dogmatik einengen“ lassen und damit „[z]u einem verständigern und liberalen Bibelstudium“ ebenso beigetragen wie „zur Verbreitung der morgenländischen, besonders der arabischen Literatur“ – „und daß mit ihm für diese Studien eine neue Epoche beginnt, wird in der Geschichte der Literatur stets erwähnt werden müssen“, wie Doering weiter schrieb. Neben die Feststellung von Michaelis’ „seltne[m] Ideenreichthum, eine[r] hinreißende[n] Lehrhaftigkeit des Vortrags und eine[r] Fülle der mannigfachsten Kenntnisse“ setzte er allerdings auch einige kritische Anmerkungen. „[H]äufige Digressionen, Wiederholungen“ und „eine in höherm Alter immer mehr zunehmende Redseligkeit“ hätten weder Michaelis’ mündlichem Vortrag noch seinen Schriften zur Empfehlung gereicht, ebensowenig wie sein Hang, „für ein Universalgenie zu gelten“ und das „Gefühl der Superiorität“, „das der Herrschsucht nicht unähnlich sah“.110 Mit der Mitte des Jahrhunderts fanden dergleichen kritische Anmerkungen zunehmend weniger Raum. Heinrich Ewald distanzierte sich in seinem Artikel in den „Jahrbüchern der biblischen Wissenschaft“ von allem „Universitäten=geklätsch“ und übte seine Kritik in vermeintlicher Seriosität. Nach seinem Urteil habe Michaelis weder Verständnis „[f]ür geschichte im höheren sinn des wortes“ noch „für die höchsten und reinsten wahrheiten der Biblischen religion“ gehabt; „für sprache in ihrer höhern bedeutung“ besaß er „nichteinmal das […] feinere gefühl“; und überhaupt machten „seine meisten schriften lebhaft den eindruck […] als sei er seinem geisteswesen nach mehr zu einem naturforscher oder einem geschäftsmanne als zu einem Orientalisten und Exegeten oder Theologen bestimmt gewesen“. Trotz seiner Vorwürfe aber fand Ewald auch anerkennende Worte: „Und doch bleibt es unläugbar dass er ein menschenalter hindurch nach einer eigenthümlichen seite hin der Biblischen wissenschaft die wichtigsten dienste geleistet.“/ „Die Bibel hat einen so unendlich weiten inhalt dass zu ihrem vollen verständnisse nicht bloss die tiefste erfahrung von religion und lebensweisheit sondern auch eine grosse bunte menge 109 Ebd., 49. 110 DOERING, Heinrich: Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt: Zweiter Band. J-M. Neustadt a.d. Orla 1832, 508-511.

34 | F REMDE VERGANGENHEIT geschichtlicher und weltlicher erkenntnisse erfordert wird: und gerade in der erkenntniss dieses mehr der natur und geschichte zugewandten theiles des inhaltes der Bibel war man zu Michaelis’ zeit noch so weit zurück. Es konnte nicht schaden dass man […] einmal alles natürliche der Bibel aufs eifrigste zu erforschen und so auf ihrem tiefsten geschichtlichen grunde 111

erst recht fest zu werden anfing: gerade darin aber besteht das hauptverdienst Michaelis’“.

Obgleich Michaelis’ Verdienste um die Biblische Wissenschaft auf der „eigenthümlichen seite“ der geschichtlichen und weltlichen Erkenntnisse und eben nicht auf jener der „reinsten wahrheiten der Biblischen religion“ lägen, wusste Ewald sie zu schätzen. In „zucht und ehren“ habe Michaelis die Wissenschaft getrieben, „für den nuzen [seiner] mitwelt und wo möglich den vortheil der nachwelt“.112 Eine weitere Kritik äußerte Ludwig Diestel im Rahmen seiner „Geschichte des Alten Testamentes“.113 Kein Jahrhundert nach dem „Mosaischen Recht“ und anderen philologischen Arbeiten zur Aufklärung des Alten Testaments nahm Michaelis in dem Werk keinen vorzüglichen Platz ein. Indes stand seine Bedeutung für die historische Bibelkritik und die hebräische Sprachlehre für Diestel außer Frage. Denn neben Semler repräsentiere Michaelis den Anfang jener neuen Epoche, die durch die Abkehr des theologischen Geistes von einer dogmatischen Bibelauslegung charakterisiert werde.114 Darüber hinaus zeige er in seiner „Beurtheilung“, „dass er die eigenthümliche Schwierigkeit der lexikalischen Frage richtig“ ahne; „[i]n vorzüglicher Klarheit entwickelt er die Grundsätze von Schultens […], sie berichtigend und bereichernd“.115 „Viel bedeutender“ noch seien die „Supplemente“116 Michaelis’. „Mit Uebergehung des Bekannten“ bringe „er nur Neues aus eignen Forschungen – Ableitungen hebr. Wörter, genauere Bestimmung der Bedeutungen aus den Quellen, historisch-antiquarische Erklärungen bei Namen u. ähnl.“.117 Allerdings seien Michaelis Verdienste um die Erforschung des AT ebenso wie die einiger seiner Zeitgenossen durch das Wörterbuch des Gesenius, der „den Gesammtgewinn der hebr. Wortforschung in so ausgezeichneter Weise“ vereinig111 EWALD,

Heinrich:

Über

die

wissenschaftliche

wirksamkeit

der

ehemaligen

Göttingischen lehrer J. D. Michaelis, J. G. Eichhorn, Th. Chr. Tychsen. In: Ders: Jahrbücher der Biblischen wissenschaft: Erstes Jahrbuch: 1848. Göttingen 1849, 26-34 (hier: 28f). 112 Ebd., 32. 113 DIESTEL, Ludwig: Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche. Jena 1869. 114 Ebd., 563. Vgl. auch ebd., 555-558. 115 Ebd., 572. 116 MICHAELIS, Johann David: Supplementa Ad Lexica Hebraica: Partes Sex. Göttingen 1784-1792. 117 Diestel: Geschichte des Alten Testamentes, 573.

J.D. M ICHAELIS | 35

te,118 „antiquirt[]“ worden, „sofern dasselbe sprachlich auf der Höhe seiner Zeit stand und mit practischer Umsicht die richtige Form fand, so dass es ohne principielle Umarbeitung dem Fortschritte der lexikal. Studien folgen konnte“.119 Am Ende des 19. Jahrhunderts existierte eine Vielfalt und Breite von Abhandlungen zu Michaelis nur noch in der Erinnerung. Der Interessierte fand ihn in einem längeren Artikel in der „Allgemeinen Deutschen Biographie“. Ausgewogen wurden hier kritische und relativierende Anmerkungen über Michaelis’ Charakter sowie anerkennende Worte über seine Verdienste nebeneinandergestellt. In Zusammenschau beider Seiten schrieb Wagenmann, der Autor des Artikels: „So hat M., ohne gerade durch schöpferische Werke ersten Ranges neue Bahnen zu eröffnen und ohne durch besondere Tiefe der Forschung neue Wissensgebiete zu erschließen, doch durch sein ausgebreitetes Wissen und unermüdliches Forschen, durch seine vielseitige und allseitig verständige Beobachtung der Dinge, durch seine nicht eben elegante, aber leichte und gefällige Darstellung auf den verschiedensten Gebieten aufklärend und anregend gewirkt und zur Förderung der wissenschaftlichen Erkenntniß, besonders der biblischen Wissenschaft – er hat insbesondere auch durch seine ausgebreitete Correspondenz mit auswärtigen Gelehrten und Staatsmännern zu Verbreitung des Ruhmes deutscher Wissenschaft wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen beigetragen.“

120

Und während die „ADB“ Michaelis als „berühmte[n] Orientalist[en], Theolog[en] und Polyhistor des 18. Jahrhunderts“ vorstellte,121 erinnerte sich Julius Wellhausen im anbrechenden 20. Jahrhundert an den da einst als Größe gepriesenen Gelehrten einzig noch als „Scheingrösse[]“.122

118 Ebd., 571. 119 Ebd., 573f. 120 WAGENMANN, Julius August: Johann David Michaelis. In: Allgemeine Deutsche Biographie: Bd. 21. Leipzig 1885, 685-690 (hier: 690). 121 Ebd., 685. 122 WELLHAUSEN, Julius: Heinrich Ewald. In: Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1901, 63-81 (hier: 69). Michaelis wird hier von Wellhausen zusammen mit Eichhorn als „Scheingrösse[]“ bezeichnet.

36 | F REMDE VERGANGENHEIT

2.4 I N V ORSTELLUNGEN DES 20.

UND

21. J AHRHUNDERTS

Mehr als hundert Jahre nach Wagenmanns Artikel ist der biographische Eintrag zu Michaelis in der „Neuen deutschen Biographie“ sehr viel kürzer. Die Darstellung verweist nicht auf unliebsame Charakterzüge, konzentriert sich neben der Nennung biographischer Daten vielmehr auf Michaelis’ Werk und urteilt resümierend: „M[ichaelis]. [hat] durch seinen philologischen und historischen Ansatz in der Bibelwissenschaft Grundlegendes geleistet […] Welche bleibende Bedeutung M.s für die Aufklärung in Deutschland darüber hinaus unter seiner wortreichen Vielschreiberei verborgen liegt, ist noch 123

nicht hinreichend geklärt.“

Den Rahmen einer biographischen Michaelis-Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert setzen allerdings nicht die Ausführungen der „NDB“ und ihr Diktum einer noch nicht hinreichenden Klärung, sondern die Arbeiten von Rudolf Smend sen. und seinem gleichnamigen Enkel. Ihre Werke zeichnen sich vornehmlich durch die Weite der berücksichtigten Literatur, aber auch die fehlende Scheu vor Beurteilungen aus und verdienen aufgrund ihrer vielfachen Beanspruchung eine ausführliche Betrachtung. Am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert hielt Smend sen. eine Festrede, in der er das „Andenken von Johann David Michaelis zu erneuern versuch[te]“.124 Auf den insgesamt 16 Seiten der Rede finden sich Beschreibungen von Michaelis’ „kühler Verständigkeit“125, seiner „eng begrenzt[en]“ „wissenschaftliche[n] Einsicht“, „Verständnisslos[ig]“- und Begriffsstutzigkeit gegenüber „hochwichtigen Entdeckung[en]“126, seinem „leidenschaftliche[n] Drang zu gelten und zu herrschen“127, von „Eigennutz“ und der „Vorliebe für Hinterthüren und krumme Wege“128. Durchaus aber konnte Smend Michaelis auch würdigen. Er habe das Studium des Syrischen in Deutschland „erst eigentlich heimisch gemacht und überhaupt die Syrische Philologie recht begründet“, den „textkritischen Werth der alten Bibelübersetzun123 BULTMANN: Christoph: Johann David Michaelis. In: Neue Deutsche Biographie: Bd. 17. Berlin 1994, 427-429 (hier: 429). 124 SMEND, Rudolf: Festrede im Namen der Georg-Augusts-Universität zur akademischen Preisverleihung am VIII. Juni MDCCCXCVIII: Johann David Michaelis. Göttingen 1898, 5. 125 Smend (1898): Johann David Michaelis, 4. 126 Ebd., 6. Zur Begriffsstutzigkeit heißt es hier wörtlich: „Astruc’s Nachweis, dass die Genesis aus verschiedenen in ihrem Wortlaut erhaltenen Quellen componirt sei, hat er nicht begriffen.“ 127 Ebd., 10. 128 Ebd., 12.

J.D. M ICHAELIS | 37

gen zur Anerkennung“ gebracht, die „Methoden der Profanwissenschaft in die biblische Wissenschaft“ eingeführt und damit erstmalig eine „undogmatische Bibelauslegung“ geboten129 und „zur Begründung der historischen Theologie erheblich beigetragen“.130 Allerdings kannte Smends günstiges Urteil ein mehrfaches Aber: „Er brachte aber die historische Betrachtungsweise auf Gebieten zur Geltung, auf denen sie relativ ungefährlich erschien und sogar mit allseitigem Beifall aufgenommen wurde, nämlich in der Erforschung der Sprache, des Textes und der Archäologie der Bibel. Ohne eigentliche Originalität trug er mit staunenswerther Betriebsamkeit zusammen, was in diesen Beziehungen bis dahin erarbeitet war und weiterhin gewonnen wurde. Dann aber wusste er dies Material mit ungewöhnlichem Geschick lehrhaft zu formuliren und zu verwerthen.“

131

Nach der scheinbaren „Harmlosigkeit“132 der michaelischen Argumentation und seiner mangelnden „Originalität“ diagnostizierte Smend die Abträglichkeit eines Vergleichs mit Semler, den er indirekt als den eigentlichen Begründer der historischen Bibelkritik präsentierte.133 Im späten 20. Jahrhundert veröffentlichte Smend jun. zwei biographische Aufsätze zu Michaelis und führt damit den Erinnerungsversuch seines Großvaters fort.134 Er bezeichnet Michaelis als den „berühmtesten Bibelwissenschaftler des 18. Jahrhunderts“,135 stellt ihn aber ebenfalls nur als einen „Vermittler des bereits in Westeuropa Geleisteten“ vor, bemerkt jedoch, dass „[e]ine geschickte Sammelarbeit wie die seine, die ja nicht ohne wirkliche Entdeckungen blieb“, wohl erst geschehen musste, „bevor die eigentliche Kritik beginnen konnte“.136 Grundsätzlich nimmt Smend jun. Michaelis weniger in seiner Bedeutung als Theologe und Begründer der historischen Kritik, denn als „Orientalist[en] am Rande der Theologie“137 und Begründer der semitischen Sprachwissenschaft138 wahr, 129 Ebd., 6-8. 130 Ebd., 16. 131 Ebd., 6. 132 Vgl. ebd., 8. 133 Vgl. ebd., 1-5. 134 SMEND, Rudolf: Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn – zwei Orientalisten am Rande der Theologie. In: Möller, Bernd [Hg.]: Theologie in Göttingen: Eine Vorlesungsreihe. Göttingen 1987, 58-81; SMEND, Rudolf: Johann David Michaelis (1717-1791). In: Ders.: Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten. Göttingen 1989, 13-24. 135 Smend: Johann David Michaelis (1989), 13. 136 Smend: Johann David Michaelis (1989), 22f. Vgl. auch Smend: Johann David Michaelis (1987), 66-68. 137 Vgl. Smend: Johann David Michaelis (1987).

38 | F REMDE VERGANGENHEIT

der allerdings „keinen selbständigen Anteil an der Ausbildung einer Semitistik, die nicht mehr im Sinne der überkommenen Philologia sacra einseitig auf das biblische Hebräische ausgerichtet war“, gehabt habe.139 Im Zusammenhang mit diesem Urteil wiederholt Smend einen Vorwurf, den bereits sein Großvater in Relativierung der Leistung Michaelis’ auf dem Gebiet der Orientalistik hatte vorbringen können. In der vormaligen Formulierung hieß es, Michaelis habe die Berufung des „wahrhaft grossen Philologen“ Johann Jacob Reiske zu verhindern und damit einen „Nebenbuhler zu beseitigen“ gewusst, „der ihn als Orientalisten tief in den Schatten gestellt hätte“.140 Mit dem Abstand eines Jahrhunderts schreibt Smend jun.: „Seinem größten Konkurrenten auf diesem Gebiet [der semitischen Sprachwissenschaft], dem genialen, aber weltfremden Johann Jakob Reiske, dem eigentlichen Begründer der modernen Arabistik […], schnitt er auf niederträchtige Weise den Weg zu einer Professur ab.“141 Smends Einschätzung gleicht der Beurteilung Michaelis’ durch die zeitgenössische Orientalistik. Der „Orientalist am Rande der Theologie“, der nicht mehr als einen uneigentlichen Beitrag zur Begründung der Orientalistik habe leisten können, wird daselbst nur selten als „one of the age’s great intellectual patrons of Islamic and Arabic studies“142 vorgestellt. Zumeist heißt es, „daß seine Kompetenzen auf dem Gebiet der arabischen Philologie begrenzt waren“143 und einzig zu „Verschlimmbesserungen“ älterer Standardwerke taugten.144 Sehr viel grundsätzlicher allerdings wird betont, dass Michaelis das Arabische nur im herkömmlichen Rahmen der philologia sacra betrieben und die „Bestrebungen, die orientalischen Studien aus den Banden der Theologie zu befreien“ nicht verstanden habe.145 Infolge dieser Einschätzung spielt er für die Disziplin der Orientalistik keine andere Rolle

138 Smend: Johann David Michaelis (1989), 20; Smend: Johann David Michaelis (1987), 65. 139 Smend: Johann David Michaelis (1989), 20. 140 Smend: Johann David Michaelis (1898), 12. 141 Smend: Johann David Michaelis (1989), 20f. 142 IRWIN, Robert: For Lust of Knowing: The Orientalists and their Enemies. London 2007, 130. 143 KATZER, Annette: Araber in deutschen Augen: Das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Paderborn [u.a.] 2008, 92. 144 NAGEL, Tilman: Die Arabistik an der Georg-August-Universität. In: Ders. [Hg.]: Begegnung mit Arabien: 250 Jahre Arabistik in Göttingen. Göttingen 1998, 11-18 (hier: 14). Vgl. auch FÜCK, Johann: Die Arabischen Studien in Europa: Bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. Leipzig 1955, 119: „Seine arabischen Kenntnisse waren dürftig“. 145 Hier durch Fück: Die Arabischen Studien (1955), 119.

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als die schon bekannte des niederträchtigen, selbst- und herrschsüchtigen146 „Widersacher[s]“147 des Mannes, „der der Arabistik als selbständiger Wissenschaft auf der Höhe der Zeit einen glänzenden Eingang hätte verschaffen können: Johann Jakob Reiske“148. Unübertroffen fasst Johann Fück in seinen „Arabischen Studien“ die Geschichte um die Niedertracht wie folgt zusammen: „[U]nd es verging Jahr und Jahr, ohne daß eine Universität ihn [Reiske] berufen hätte […] Seine Lage wurde immer mißlicher […] In seiner Verzweiflung wandte er sich Ende 1756 an einen ehemaligen Schulkameraden, den Göttinger Professor Johann David Michaelis […], ohne […] zu ahnen, daß er damit sein Schicksal in die Hand eines kühl berechnenden Egoisten legte. Er schildete ihm seine Not und gab ihm zu verstehen, daß die sächsische Regierung etwas für ihn werde tun müssen, wenn er, sei es auch nur zum Schein, einen Ruf nach Göttingen erhielte […] Aber Michaelis dachte gar nicht daran, seinen weitreichenden Einfluß für einen Mann zu verwenden, der ihm in der arabischen Philologie weit überlegen war […] Deshalb tat er entrüstet über das Ansinnen, welches Reiske an ihn gestellt hatte, schickte seinen Brief, über dessen vertraulichen Charakter er keinen Augenblick im Zweifel sein konnte, mit einem entsprechenden Vermerk an den Minister von Münchhausen weiter und stellte dann den offiziellen abschlägigen Bescheid Reiske mit betonter Förmlichkeit zu. Nun waren Reiskes Hoffnungen, jemals auf einen Lehrstuhl berufen zu werden, für immer zerstört.“

149

Nach aufkeimender Antipathie gegenüber einer Petze und einem Dieb fügt sich der von Jonathan Hess formulierte Vorwurf des „politischen Antisemitismus“150 sehr prächtig in das üble Bild Michaelis’. Einen überraschend freundlichen Akzent setzt die Linguistik außerhalb der Orientalistik, die Michaelis im Rahmen der Geschichte der Sprachwissenschaft im Allgemeinen als einen der „wichtigsten Hebraisten sei-

146 Das Organisationskomitee des VII. Kongresses für Arabistik und Islamwissenschaft diagnostiziert Michaelis „Selbstsucht“. Als „herrschsüchtig“ bezeichnet ihn Fück: Die Arabischen Studien (1955), 120. Zur Niedertracht vgl. Anm. 141. 147 Katzer: Araber in deutschen Augen, 328. 148 Organisationskomitee des VII. Kongresses für Arabistik und Islamwissenschaft: Arabistik und Islamwissenschaft in Göttingen. Vgl. auch Nagel: Die Arabistik an der GeorgAugust-Universität, 14: „Göttingen hätte schon zu seiner [Michaelis’] Zeit zum Mittelpunkt einer aus der theologischen Knechtschaft befreiten Arabistik werden können, wenn Michaelis nicht die Berufung Johann Jacob Reiskes (1716-1774) auf eine hiesige Professur verhindert hätte.“ 149 Fück: Die Arabischen Studien (1955), 118-120. 150 HESS, Jonathan M.: Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary: Orientalism and the Emergence of Racial Antisemitism in Eighteenth-Century Germany. In: Jewish Social Studies 6 (2000), 56-101 (hier: 58).

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ner Zeit“151 und „herausragenden Repräsentanten der aufklärerischen Sprachtheorie“152 vorstellt.153 Als Zeuge fungiert dabei Michaelis’ Preisschrift „Von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen eines Volckes“. Über die Preisschrift hinaus vermittle die „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen“ „eine präzise Vorstellung einer vergleichenden Sprachwissenschaft, wie sie sich aus den Problemen der Bibelphilologie entwickeln konnte“, wodurch „Michaelis als Orientalist im Semitischen die Position eines Vorläufers der vergleichenden Grammatik“ erhalte, wie Gustav Ineichen herausstellt.154 Daniel Weidner spricht angesichts der michaelischen Polemik gegen die „unfruchtbare, tote Sprache des Hebräischen“, wie sie sich im Kontext der Arabischen Reise und der „Beurtheilung“ äußere, „von einer Umkehrung des Schriftprinzips“155 und zählt Michaelis neben Semler zu dem „wichtigste[n] Vertreter der historischen Bibelkritik in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“.156 151 WEIDNER, Daniel: ‚Menschliche, heilige Sprache‘: Das Hebräische bei Michaelis und Herder. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 95 (2003), 171-206 (hier: 172). 152 NEIS, Cordula: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts: Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin/ New York 2003, 518. 153 Andrea Polaschegg (POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus: Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/ New York 2005, 164) spricht in diesem Zusammenhang von einem „entscheidenden Beitrag zur poetologischen Aufwertung des Alten Testamentes und seiner Wahrnehmung als Hebräische Poesie“. Dieser erweise sich „rückblickend eben auch als ein entscheidender Beitrag zum linguistic turn des deutschen Orientalismus um 1800“ [Herv. i.O.]. Jan Loop (LOOP, Jan: Kontroverse Bemühungen um den Orient. Johann Jacob Reiske und die deutsche Orientalistik seiner Zeit. In: Ebert, Hans-Georg/ Hanstein, Thoralf [Hg.]: Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung: Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert. Leipzig 2005, 45-85 [hier: 49f.]) nimmt die anthropologische Folge dieses linguistic turn in den Blick, wenn er Michaelis’ „frühe[] Einsicht[] in die kulturelle und historische Relativität gesellschaftlich-kultureller Werte und Normen“ preist, die sich allerdings mit „Projektionen einer statischen Kultur“ verschränkten. 154 INEICHEN, Gustav: Johann David Michaelis: Orientalist und Sprachgelehrter in Göttingen (1717-1791). In: Baum, Richard [u.a. Hg.]: Lingua et traditio: Geschichte der Sprachwissenschaft und der neueren Philologien: Festschrift für Hans Helmut Christmann zum 65. Geburtstag. Tübingen 1994, 259-271 (hier: 260). 155 Weidner: Menschliche, heilige Sprache, 181. 156 WEIDNER, Daniel: Politik und Ästhetik: Lektüre der Bibel bei Michaelis, Herder und de Wette. In: Schulte, Christoph (Hg.): Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist: Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas.

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Weidners Beurteilung führt zurück zu der anfänglich zitierten Vorstellung Rudolf Smends. Trotz einer Vielzahl von Einwänden konnte auch Smend Michaelis zu den Begründern der historischen Kritik rechnen. Und so zeigt sich bei aller Unentschiedenheit der Vorstellungen doch eine Parallelität der Wahrnehmungen, die allerdings nicht ohne den Eindruck des Rätselhaften bleibt. Das wiederkehrende Urteil zerfällt, wenn der Historiker Karlfried Gründer fragt: „Was ist das? […] Wie reimt sich das, wie kann einer zugleich ein solcher Orientalist und ein solcher Theologe sein?“157 Und es zerfällt weiter, wenn es heißt: „Aber man hat nie so recht gewußt, woran man mit ihm war“.158 Eine historische Antwort auf das „Was“, „Wie“ und auch das „Woran“ wagt der Alttestamentler Hans-Joachim Kraus, indem er erklärt: „Michaelis war Orientalist und Bibelforscher. Zeit seines Lebens hat er diese beiden Aufgaben zusammengesehen und die Erforschung des Alten Testaments durch die orientalischen Kenntnisse befruchtet.“/ „Nie hat ein Theologe in der alttestamentlichen Wissenschaft in dieser Weise alle Fäden der Forschung in seine Hand genommen und in einem bisweilen intoleranten und selbstherrlichen Autoritätsbewußtsein seinen Einfluß ausgeübt. Michaelis konnte sich durchsetzen, weil er mit seiner ganzen Person den großen Umbruch durchlitt und zwischen Orthodoxie und Rationalismus unstet und unzufrieden schwankte. Er war kein Revolutionär. In seinem Forschen und Lehren vollzog sich die große geistige Wandlung in einem unausgeglichenen Ringen, an dem die Zeitgenossen, sofern sie das Rad der Geschichte nicht gewaltsam zurückdrehen wollten, teilnehmen mußten.“

159

Die Antwort auf die Rätselhaftigkeit vermag nicht hinwegzutäuschen über die Unentschiedenheiten in der Beurteilung der Bedeutung Michaelis’, die hier eine große, da eine uneigentliche, dort eine fatale ist. Und so bleibt am Ende dies eine Urteil, von der wortreichen Vielschreiberei und ihrer noch nicht hinreichenden Klärung.

Hildesheim [u.a.] 2003, 35-65 (hier: 38). Vgl. auch ebd.: „Darüber hinaus ist er ein wichtiger Hebraist und einer der bedeutendsten Sprachtheoretiker der deutschen Aufklärung.“ 157 GRÜNDER, Karlfried: Johann David Michaelis und Moses Mendelssohn. In: Katz, Jakob/ Rengstorf, Karl Heinrich [Hg.]: Begegnung von Deutschen und Juden in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1994, 25-50 (hier: 30f.). 158 SELLE, Götz von: Die Georg=August=Universität zu Göttingen: 1737-1937. Göttingen 1937, 85. 159 KRAUS, Hans-Joachim: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart. Neukirchen 1956, 87f. [Herv. i.O.].

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2.5 W AHRHEIT

UND

C HAOS

Die Zusammenschau der verschiedenen Vorstellungen zeigt das komplexe Bild eines hinsichtlich seiner institutionellen Verortung höchst umstrittenen Gelehrten. Michaelis wird hier als Orientalist präsentiert, da als Theologe und dort als Philosoph – zumeist in Abhängigkeit vom Forschungsinteresse des Präsentanten. Mitunter sogar gibt es diffizilere Uneinigkeiten in seiner Benennung, wenn zum Beispiel dieselbe Person Michaelis erst als Philosophen, dann als Theologen, zuletzt als Orientalisten und Theologen vorstellt.160 Auf die vermeintliche Belanglosigkeit derartiger Kategorisierungen reagierte Michaelis selbst harsch: Professor der orientalischen Sprachen sei er nie gewesen, Professor der Theologie zu sein, habe er keine Lust gehabt. Sein Stand war der eines Professors für Philosophie. Michaelis’ Lebenserinnerung stellt ihn als einen Gelehrten vor, der trotz seiner pietistischen Herkunft und Dank einer Reise nach England den Zwängen der Dogmatik zu entkommen wusste. Doch ungeachtet des Erfolgs seiner „Flucht“161 in die philosophische Professur der im Deutschland des 18. Jahrhunderts neben Halle modernsten und liberalsten Universität Göttingen erinnert Michaelis’ „Lebensbeschreibung“ an eine Apologie. Theologie und Philosophie scheinen hier in einem beinahe kontradiktorischen Verhältnis zu stehen. Implizit und explizit behauptete Michaelis die Widervernünftigkeit theologischer Argumentation, wenn er auf eine symptomatische Irrnis in Nachfolge der Lehre Baumgartens verwies oder eine Liste theologischer Unvernunft gegen Mendelssohn vorbrachte. Das Selbstzeugnis Michaelis’ erweckt den Eindruck eines Plädoyers – gehalten mit dem Ziel, dem studierten Theologen das Gelöbnis der Wahrheit, das er mit seiner Antrittsschrift ablegt, abzunehmen. Anlass einer derartigen Verteidigungsrede gab Michaelis’ Forschungsgegenstand. Schon ein Blick auf seine Schriften verdeutlicht ein ausnehmend exegetisches Interesse an dem Heiligtum der Dogmatik: der Bibel. Die drängende, ein wenig abzuwandelnde Frage Gründers, wie ein solcher Philosoph zugleich ein solcher Theologe sein kann, ist hier jedoch nicht zu stellen. Eine Antwort kann einzig die Analyse der Schriften Michaelis’ geben und wird nachzutragen sein. Hier entscheidend ist der Charakter jener „Vorstellungen“, die bisher nur begrifflich beansprucht wurden. Vorstellungen begegnen einmal in ihrer reflexiven Verwendung als „sich vorstellen“ und also im Sinne von „imaginieren“. Sie begegnen sodann in ihrer 160 So Katzer: Araber in deutschen Augen, 79.137.328. 161 Vgl. Michaelis: Lebensbeschreibung, 40. Michaelis spricht hier im Zusammenhang mit einer Hallenser Professur von „fliehen“, eher aber mit einer pragmatischen denn mit einer religiösen Begründung. Wörtlich heißt es: „Professuren, die ertheilt wurden, waren ohne Besoldung, und fesselten den Professor, daß er nicht weggehen konnte, daher ich auch mich gewiß nicht zu ihnen drängte, sondern sie eher flohe.“

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transitiven Verwendung als „jemanden vorstellen“ und also im Sinne von „präsentieren“. Insofern liegt bereits auf der begrifflichen Ebene ihr entscheidendes Charakteristikum als Gleichzeitigkeit von „Imagination“ und „Präsentation“. Nun sind sämtliche Beschreibungen Michaelis’, wie sie in diesem Kapitel zitiert werden, offenbar Präsentationen des Gelehrten. Zugleich erweisen sie sich allerdings aufgrund der Uneinigkeit zwischen ihrer jeweiligen Präsentation – sobald diese über die Nennung von Lebensdaten hinausgeht –, als Imaginationen, als Vorstellungen der Präsentanten selbst. Diese Feststellung bedeutet das Schicksal des biographischen Kapitels über Johann David Michaelis. In Ermangelung des Vermögens zur Scheidung eines etwa gelungenen Bildes, das nicht Imagination, sondern Wahrheit wäre, von jenen anderen, den unwahren und Abbildern, scheitert es an dem Anspruch eines authentischen Portraits des Gelehrten und muss in der chaotischen Breite der Perspektiven verharren. Dem Chaos zum Trotz bleibt zu betonen, dass die Zeugnisse insgesamt sehr viel homogener sind, als unter dem Eindruck ihrer Heterogenität zu vermuten ist. Unabhängig von einzelnen merkwürdigen Beschreibungen, die offensichtlich unzutreffende Verzerrungen beinhalten162 und im näheren Einzelfall als unwahr zu bezeichnen sind – wenn es etwa unter Verweis auf Michaelis’ Lebenserinnerungen heißt, er habe „eine abgrundtiefe Abneigung gegen Reiske gehegt“163, wird doch gerade im Kontext ihres jeweiligen Jahrhunderts eine grundsätzliche Übereinstimmung ersichtlich. So wurde Michaelis im 18. Jahrhundert unumstritten als eine „Größe“ wahrgenommen, die, obschon sie Feindseligkeiten erregte, in großer Breite die Erinnerung gewann. Interessant ist, dass die erste Kritik Michaelis Heterodoxie164 un162 Angespielt wird hier auf die beiden Vorstellung Rudolf Smends (jun.) und seine unvollständige Zitation des Berichts Johann Georg Müllers. So lässt Smend Müller einmal allein von dem „besoffen[en]“, nicht aber von dem „großen“ Michaelis berichten (Smend: Johann David Michaelis [1987], 62). In seinem zweiten Artikel erwähnt Smend zwar die „Größe“ Michaelis’, lässt aber nichts von der späten Achtung, die Müller Michaelis entgegenbrachte, erahnen (Smend: Johann David Michaelis [1989], 16). 163 Nagel: Begegnung mit Arabien, 14. Das vollständige Zitat lautet: „Michaelis bekennt im übrigen in seinen Lebenserinnerungen, daß er schon in seiner Jugend eine abgrundtiefe Abneigung gegen Reiske gehegt habe, neben dem er auf der Schulbank habe sitzen müssen. Er schreibt, daß es zwischen ihm und Reiske keine ‚Übereinstimmung der Gemüter‘ gegeben habe: ‚Ich war zu jovialisch für ihn.‘“ Mit der direkten Zitation Michaelis’ deutet Nagel schon an, wie viel Unwahrheit er der „Lebensbeschreibung“ beizudichten bereit ist. Dort nämlich heißt es wörtlich eben nur: „Uebereinstimmung der Gemüther war eben zwischen uns nicht, denn ich war zu jovialisch für ihn“ (Michaelis: Lebensbeschreibung, 9f.). 164 Zum Vorwurf der Heterodoxie vgl. auch Michaelis selbst: Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VI (1774), 194.

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terstellen konnte, wie nicht zuletzt die schwedische Reaktion auf seine „Dogmatik“ zeigt. In gewisser Hinsicht wurde er also als zu aufgeklärt wahrgenommen. Das frühe 19. Jahrhundert zeichnete sich durch ein Bemühen aus, die Erinnerung an Michaelis zu bewahren, bevor mit Mitte desselben Jahrhunderts das biographische Interesse abnahm und Michaelis nunmehr vorrangig in seinem Wirken interessierte. Dieses wird spätestens mit der Jahrhundertwende nicht mehr denn als ein historisches wahrgenommen. Im 20. und 21. Jahrhundert differenziert sich die Wahrnehmung Michaelis’ und seine verbliebene historische Bedeutung sucht die Bewertung unterschiedlichster Disziplinen. Dabei scheint es, als würde ihm nach der orientalistischen Diagnose seiner einseitigen Ausrichtung auf die philologia sacra eine mangelnde Aufgeklärtheit zum Vorwurf gereicht. Dem Chaos geschuldet bleibt zu betonen, dass mit der Feststellung der höheren Homogenität der verschiedenen Zeugnisse nicht mehr behauptet ist als eine grundsätzliche Zeitgebundenheit und auch Disziplinengebundenheit der Vorstellungen. Keineswegs also wird davon ausgegangen, dass etwa das 18. Jahrhundert aufgrund seiner zeitlichen Nähe die „wahrste“ Vorstellung Michaelis’ präsentieren könnte. Vielmehr provoziert das Urteil der Gebundenheit der Vorstellungen eine nähere Untersuchung disziplinärer Voraussetzungen und ihrer historischen Umstände, die im nächsten Kapitel unternommen werden soll. An dieser Stelle nachzutragen bleibt jedoch noch eine letzte Vorstellung, bevor der Verschmähung des orientalistischen Wirkens Michaelis’ durch die zeitgenössische Orientalistik nachgegangen werden kann. Mit der Allmacht des Präsentanten wird behauptet, dass der Göttinger Philosoph Johann David Michaelis nicht leichthin liebenswert, im Kontext seiner Zeit aber ein großer Gelehrter war und heute unwichtig geworden ist. Und mag auch vieles nicht hinreichend geklärt sein, so dass sich am Ende nicht mehr als ein Schattenriss behauptet, scheint seine einstige Berühmtheit auf alle Zeit verloren. Denn wie sich eine Schenke erst in ein Haus höchster Gelehrsamkeit, dann in eine Bank verwandelt, wird aus dem Zögling eines pietistischen Waisenhauses der berühmteste Orientalist des 18. Jahrhunderts und ein niederträchtiger, gockelnder Egoist mit spärlichen Arabischkenntnissen.

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Abbildung 4: Johann David D Michaelis

Quelle: Michaelis: Lebenssbeschreibung, Blatt 1165 (SUB Göttingenn, 8 H L BI IV, 9356)

165 Neben dem Schattenriss befinden sich auf Blatt B 2 der „Lebensbeschreibung“ „[e]inige physiognomische Bemerkungen über den nebenstehenden Schattenriß“ von Hassencamp, in denen es u.a. heißt: „Wäre nur des sel. Michaelis Dogmatik nicht zum Unglück in Schweden confiscirt worden; so wagten w wir es fast, zu behaupten, daß der Contour seines Hinterkopfes mit Luthers seiinem viele Aehnlichkeit habe.“

3.

Zur diskursiven Verortung von Johann David Michaelis

3.1 W AHRHEIT

UND

T RANSFORMATION „Wenn wir Orientalisten heutzutage Arabistik und Islamkunde treiben, tun wir das keineswegs in der Absicht,

die

Minderwertigkeit

der

arabisch-

islamischen Welt nachzuweisen. Im Gegenteil. Wir bekunden damit eine besondere Wertschätzung der geistigen Welt, die durch den Islam und seine verschiedenen Erscheinungsformen repräsentiert wird und in der arabischen Literatur ihren Niederschlag gefunden hat. Wir nehmen freilich nicht alles unbesehen hin, was die Quellen berichten, lassen vielmehr nur gelten, was der historischen Kritik standhält oder standzuhalten scheint. Dabei legen wir an den Islam und seine Geschichte und an die arabischen Werke, mit denen wir uns befassen, denselben kritischen Maßstab an, wie an die Geistesgeschichte und an die Quellenschriften unserer eigenen Welt. Auch wenn die Möglichkeiten unserer Erkenntnis beschränkt sind – wie sollte es anders sein –, dürfen wir mit gutem Gewissen behaupten, bei unseren Studien keine unlauteren Nebenabsichten zu hegen, vielmehr nach der reinen Wahrheit zu forschen.“166 RUDI PARET (1966) 166 PARET, Rudi: Arabistik und Islamkunde an deutschen Universitäten: Deutsche Orientalisten seit Theodor Nöldeke. Wiesbaden 1966, 3.

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Dem Zugeständnis an das Chaos steht die Forderung nach einer historischen Kritik der verschiedenen Vorstellungen gegenüber. Denn ganz im Sinne der Prämisse, die Rudi Paret für die Arabistik und Islamkunde aufstellt, kann das Ziel einer historischen Auseinandersetzung nicht darin bestehen, alles, was die Quellen berichten, unbesehen hinzunehmen. Vielmehr muss geprüft werden, welche Vorstellung der historischen Kritik standhält. Wesentlicher Schritt einer solchen Kritik ist die Kontextanalyse, die im nachfolgenden Kapitel unternommen wird. Dem Fokus der Arbeit gemäß soll der historische Kontext der michaelischen Orientalistik untersucht und also ein Überblick über die deutsche Orientalistik des 18. Jahrhunderts gegeben werden. Die beabsichtigte Analyse gestaltet sich insofern problematisch, als die Frühgeschichte der Orientalistik ein desiderates Forschungsfeld darstellt und im Rahmen der Auseinandersetzung mit Michaelis, die sich zwar als Beitrag zu einer solchen Aufarbeitung versteht, sie aber nicht ersetzt, nicht geleistet werden kann. Was sie erarbeiten kann, sind allein punktuelle Analysen anhand gedruckter Quellen wie z.B. Professorenkatalogen. Darüber hinaus erlauben auch Michaelis’ Schriften Schlüsse auf den Kontext. Und schließlich ist der Rückgriff auf zum Teil bereits vorliegende Forschungsergebnisse möglich. Eine Annäherung an den Kontext über die vorhandene Sekundärliteratur führt zu einem einhellig vernichtenden Urteil über Johann David Michaelis und die deutsche Orientalistik der Aufklärung. So heißt es etwa hinsichtlich der Entwicklung der Orientalistik: „Von der Mission zur Wissenschaft“167 oder „Von der Hilfswissenschaft der Theologie zur eigenständigen Disziplin“168. Auch von einer „Emanzipationsbewegung“169 ist die Rede. Die deutsche Orientalistik des 18. Jahrhunderts gerät als eine Zeit in den Blick, in der das Arabische als „Magd der Theologie“170

167 BOUREL, Dominique: Die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert: Von der Mission zur Wissenschaft. In: Reventlow, Henning Graf/ Sparn, Walter/ Woodbridge, John [Hg.]: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Wiesbaden 1988, 113-126. 168 MANGOLD, Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, hier: 29-77. 169 Vgl. z.B. ebd. 37. Auch wird von einem „Prozeß ihrer [der] Loslösung und Verselbständigung“ gesprochen, so bei FLEISCHHAMMER, Manfred: Die Orientalistik an der Universität Halle (1694-1937): Eine Skizze. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe VII/4 (1958), 877-884 (hier: 879). 170 NAGEL, Tilman: Die Arabistik an der Georg-August-Universität. In: Ders. [Hg.]: Begegnung mit Arabien: 250 Jahre Arabistik in Göttingen. Göttingen 1998, 11-18 (hier: 13).

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unter theologischer „Vormundschaft“171 stand bzw. in „Fesseln theologischer Spekulation“172 lag; als eine Zeit, die das Martyrium fordern konnte – denn: Für den „reinen“173 Orientalisten Johann Jacob Reiske, der die arabischen Gedichte und die Islamgeschichte „philologisch und historisch getreu bearbeitete, ohne in vage Schwärmereien zu verfallen oder, wie manche seiner Kollegen, nach ursemitischen Querverbindungen zu suchen“,174 war „noch kein Platz in Deutschland“175. Das in erdrückender Breite vertretene Urteil wurzelt nun nicht etwa in selbständigen Untersuchungen, sondern in einem Buch, das als Standardwerk der Erforschung der Geschichte der Arabistik beansprucht wird: Johann Fücks „Die Arabischen Studien in Europa: Bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. Leipzig 1955“. Vergleicht man die verschiedenen Studien zur Orientalistik bzw. Arabistik, so findet sich – sei es implizit, sei es explizit, in jedem Falle aber grundsätzlich – folgende Aussage in steter Wiederkehr: „[Der Artikel] will und kann nicht Johann Fücks bedeutendes Buch Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts ersetzen.“176 Sabine Mangold wird deutlicher und stellt fest, dass kein anderes Werk die orientalistische Disziplingeschichte so sehr bereichert und geprägt habe wie Fücks Untersuchung.177

171 NEBES, Norbert: Orientalistik im Aufbruch: Die Wissenschaft vom Vorderen Orient in Jena zur Goethezeit. In: Golz, Jochen [Hg.]: Goethes Morgenlandfahrten: West-östliche Begegnungen. Frankfurt a.M./ Leipzig 1999, 66-96 (hier: 66). 172 Ebd. 173 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 37. Auch Mangold setzt Anführungszeichen. 174 SCHIMMEL, Annemarie: Der islamische Orient – Wege seiner Vermittlung nach Europa. In: Golz, Jochen [Hg.]: Goethes Morgenlandfahrten. Frankfurt a.M./ Leipzig 1999, 1628 (hier: 22). 175 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 37. Vgl. auch im Verweis auf Fück Maxime Rodinson: „Ferner ist insbesondere auch der geniale deutsche Autodidakt Johann Jacob Reiske (1716-1774) zu nennen, ein passionierter und für seine Zeit unvergleichlicher Kenner der arabischen Literatur und Geschichte, ein unermüdlicher Gelehrter, den die Professoren Schultens und Michaelis schikanierten, weil sie die Arabistik nur im Rahmen der ‚heiligen Philologie‘ und der Bibelexegese zulassen wollten“ (RODINSON, Maxime: Die Faszination des Islam. München 21991, 67). 176 BOBZIN, Hartmut: Geschichte der Arabischen Philologie in Europa bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. In: Fischer, Wolfdietrich [Hg.]: Grundriß der Arabischen Philologie: Band III: Supplement. Wiesbaden 1992, 155-187 (hier: 155). 177 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 14.

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Dass es sich bei der Prägung der orientalistischen Disziplinengeschichte um eine unkritische Übernahme der Urteile Fücks handelt,178 zeigt sich, sobald man die „Arabischen Studien“ aufschlägt, das Kapitel über die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert sucht und alsgleich auf die Behauptung der „Mündigsprechung der arabischen Philologie durch den genialen Johann Jacob Reiske“ und die Darstellung seines „Kampf[es] um die Befreiung der Arabistik aus den Fesseln der Theologie“ stößt.179 Und ein weiterer Blick offenbart gleich links neben dem Inhaltsverzeichnis folgenden Satz: „Kapitel 2-29 sind ein unveränderter photomechanischer Nachdruck der Arbeit, die 1944 unter dem Titel ‚Die arabischen Studien in Europa vom 12. bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts‘ in den von Richard Hartmann und Helmuth Scheel herausgegebenen ‚Beiträgen zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft‘ erschienen ist.“

Die Tatsache eines im Jahr 1944 in Deutschland verfassten Standardwerks der Arabistik begründet den Verdacht der nationalsozialistischen Prägung seines Autors und seiner wissenschaftlichen Arbeit und nötigt eine Frage zu stellen: Wer war Johann Fück? Bevor sich die Frage nach Fück stellen kann, bedarf ihre Absicht einer Klärung. Denn schließlich wurde eine Darstellung der Orientalistik des 18. Jahrhunderts angekündigt, um die Verortung Michaelis’ innerhalb der Geschichte der Disziplin und die historische Kritik an verschiedenen Vorstellungen zu ermöglichen. Und offensichtlich kann eine Untersuchung Johann Fücks die Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind, nicht klären. Weder vermag sie zu beantworten, wo die Voraussetzungen der Disziplin lagen, noch wie sie betrieben wurde. Darüber hinaus ergibt sich die Frage nach Fück selbst nur aus der Berücksichtigung von sekundären Quellen, die die Analyse des historischen Kontextes eher zu erschweren als zu erhellen scheinen. Und noch weitaus problematischer ist, dass sie ein methodisches Dilemma bezeugt, das sich aus eben dieser Berücksichtigung ergibt. Denn die sekundären Quellen bestätigen eine Vorstellung, die gerade mittels einer Kontextana178 Besonders eindrücklich findet sich diese Wahrnehmung in einem kleinen Heftchen zur „Arabistik und Islamwissenschaft in Göttingen“ bestätigt (ORGANISATIONSKOMITEE DES

VII. KONGRESSES FÜR ARABISTIK UND ISLAMWISSENSCHAFT vom 15. bis 22. Au-

gust 1974 in Göttingen [Hg.]: Arabistik und Islamwissenschaft in Göttingen. Göttingen 1974). Die allgemeine Literaturliste nennt neben Chroniken der Universität Göttingen allein die Allgemeine Deutsche Biographie (Historische Kommission der Kgl. [Bayerischen] Akademie der Wissenschaften [Hg.]: Allgemeine Deutsche Biographie. München 1875-1910.) und Johann Fücks „Arabische Studien“, deren Beschreibung Michaelis’ ohne weiteren Verweis auf ihren Autor übernommen wird. 179 Fück: Die Arabischen Studien (1955), 108.124.

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lyse ihre historische Kritik erfahren soll. Die logische Schlussfolgerung aus der Reihe von Einwänden kann also nur in der Vernachlässigung bisheriger Forschungsergebnisse und der Erkenntnis bestehen, dass sie grundsätzlich nicht zur Klärung des Kontextes beitragen. Der Logik zum Trotz aber wird hier behauptet, dass eine Untersuchung der Sekundärliteratur und also der Rezeption für die Analyse des historischen Kontextes unverzichtbar ist. Denn die historische Wirklichkeit ist von ihrer Repräsentation nicht zu trennen. Die These greift auf Ansätze der historischen Transformationstheorie zurück, wie sie in der jüngsten Vergangenheit vom SFB 644 „Transformationen der Antike“ entwickelt wurde.180 Die Transformationstheorie versteht die Vergangenheit nicht als „ein Arsenal fragloser Faktizitäten“ oder eine „ein für alle Mal feststehende Entität“, sondern als einen „offene[n] Prozess“, innerhalb dessen sich Vergangenheit „im Effekt ihrer Transformation“ allererst bildet. Zugleich aber wird im Akt der Transformation auch die Gegenwart, das heißt die jeweilige Rezipientenkultur, verändert und in Form ihrer Selbstbeschreibung erzeugt.181 Bei Transformationen handelt es sich folglich um „wechselseitige schöpferische Produktion[en]“, um „bipolare Konstruktionsprozesse, in denen die beiden Pole einander, im Sinne einer kulturellen Selbstdeutung, wechselseitig konstituieren und konturieren“.182 „Transformationen sind als komplexe Wandlungsprozesse zu verstehen, die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen. Aus dem Referenzbereich wird durch einen […] Agenten ein Aspekt ausgewählt, wobei im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstruiert wird.“183

180 Vgl. BÖHME, Hartmut: Einladung zur Transformation. In: Böhme, Hartmut/ Bergemann, Lutz/ Dönike, Martin/ Schirrmeister, Albert/ Toepfer, Georg/ Walter, Marco/ Weitbrecht, Julia [Hg.]: Transformation: Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München 2011, 7-37; BERGEMANN, Lutz/ Dönike, Martin/ Schirrmeister, Albert/ Toepfer, Georg/ Walter, Marco/ Weitbrecht, Julia: Transformation: Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: ebd., 39-56. 181 Böhme: Einladung zur Transformation, 8f. 182 Bergemann [u.a.]: Transformation, 40.43. Ausgehend von der Wechselwirkung von Referenz- und Aufnahmebereich prägen die Autoren den neuen Begriff der „Allelopoiese“. „Zusammengesetzt aus ҧȜȜȒȜȦȞ und ʌȠȓȘıȚȢ zielt er im wörtlichen Sinn dieser griechischen Begriffe auf das […] gegenseitige Erschaffen von Aufnahmekultur und Referenzkulutur ab“ (Böhme: Einladung zur Transformation, 9 [Herv. i.O.]; vgl. auch Bergemann [u.a.]: Transformation, 43). 183 Bergemann [u.a.]: Transformation, 39.

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Als „Modell für die Erforschung historischen Wandels“184 bietet sich die Transformationstheorie für die vorliegende Untersuchung insofern an, als ein historischer Wandel bisher nur diagnostiziert werden konnte und die Frage nach seiner Legitimität provozierte. Es ergab sich das Problem, das Rudi Paret (1901-1983) – Mitglied der NSDAP und des Eisenacher „Entjudungsinstituts“, wo er dem Arbeitskreis „Das Urteil über das Judentum in der Geschichte bis zum 16. Jahrhundert“ angehörte185 – im Eingangszitat durch die rhetorische Frage nach dem „Wie sollte es anders sein“ andeutet: Die Suche „nach der reinen Wahrheit“ erreicht in der Beschränkung der Erkenntnis ihre Grenze. Diese Grenze wurde mit einem Zugeständnis an das Chaos und die Pluralität der Vorstellungen bzw. der behaupteten Wahrheiten akzeptiert. Die Transformationstheorie erlaubt es nun, das Problem zu umgehen, indem der Dualismus von wahr und falsch zugunsten der grundsätzlichen Anerkennung von Wandel durchbrochen wird. In diesem Sinne legitimiert sie das bisherige Vorgehen und gestattet gleichzeitig die historische Kritik, wobei sie allerdings den „ex-post-Standpunkt eines (vermeintlich) ‚besseren Wissens‘“ zurückweist186 und also nicht primär nach der Wahrheit, sondern vielmehr nach der Bedeutung behaupteter Wahrheiten fragt.187 Für den Fortlauf des Kapitels bedeutet der Rekurs auf die Transformationstheorie zunächst die Unterscheidung zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich. Der Referenzbereich ist durch die Orientalistik des 18. Jahrhunderts beschrieben. Seine Analyse wird der Untersuchung des Aufnahmebereichs nachgeordnet, womit dem Gedanken der Erzeugung der Referenzkultur durch die Aufnahmekultur Rechnung getragen wird. Der Aufnahmebereich wird beginnend mit der Vorstellung Johann Fücks auf das 20. und 21. Jahrhundert beschränkt. Aufnahme- und Referenzbereich werden mit dem Ziel analysiert, „Transformationsty-

184 Böhme: Einladung zur Transformation, 8. 185 ARNHOLD, Oliver: „Entjudung“ – Kirche im Abgrund: Bd. 2: Das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939-1945. Berlin 2010, 822.845. 186 Ebd., 29. 187 Ebd., 18: „Dabei kommt es zunächst nicht darauf an, die verschiedenen Transformationsvarianten zu bewerten, sondern sie analytisch zu erfassen, sie zu klassifizieren, sie historisch zu kontextualisieren und sie erst dann, wo möglich, hinsichtlich ihres Stellenwerts innerhalb partieller oder globaler Entwicklungsprozesse zu qualifizieren.“ Bergemann [u.a.]: Transformation, 40: „Eine Untersuchung von Transformation zielt damit nicht primär auf die Frage, ob eine ‚adäquate‘ Bezugnahme auf eine Referenzkultur vorliegt. Entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit, einen historischen Prozess als Transformation beschreiben zu können.“

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pen“188 herauszuarbeiten, um den historischen Wandel zu beschreiben und letztlich eine Kontextualisierung der michaelischen Orientalistik zu ermöglichen.

3.2 AUFNAHMEBEREICH : D IE DEUTSCHE O RIENTALISTIK 18. J AHRHUNDERT IN IHRER R EZEPTION

IM

3.2.1 NPT Prof. Dr. phil. Johann Wilhelm Fück (1894-1974) Abbildung 5: Johann Fück

Quelle: Wiemers/ Fischer

3.2.1.1 Ein Leben und seine Vorstellungen Die Suche nach einer kritischen Biographie Johann Fücks erweist sich als erfolglos. Der Skeptiker muss sich mit Nekrologen begnügen, die – wie sollte es anders sein – ein grundsätzlich eher einnehmendes Bild ihres Protagonisten zeichnen. Ein erster Nachruf stammt von Werner Ende190, einem Schüler Fücks, ein zweiter von Manfred Fleischhammer191, Fücks Nachfolger auf dessen Hallenser Lehrstuhl. Ergänzt 188 Vgl. Bergemann [u.a.]: Transformation, 47-56. 189 WIEMERS, Gerald/ Fischer, Eberhard: Die Mitglieder von 1846 bis 1996: Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Berlin 1996, 148. Fück wurde im Juli 1948 ordentliches Mitglied der Philosophisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. 190 ENDE, Werner: Johann W. Fück. In: Der Islam 53 (1976), 193-195. 191 FLEISCHHAMMER, Manfred: Johann Fück. In: Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig: Jahrbuch 1973-1974, 419-439.

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werden können beide Darstellungen durch die Forschungsergebnisse Ekkehard Ellingers, der sich mit seiner Arbeit „Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus“ der kritischen Aufarbeitung der Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus widmet.192 Auch erwähnt sei Henrik Eberles Dissertationsschrift „Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945“, in der Fück allerdings nur als „offenbar unpolitische[r] Arabist“ angeführt wird.193 Schon aus gattungs- und redaktionskritischen Überlegungen muss in der Rezeption der Arbeiten Endes und Fleischhammers zwischen Information und Argumentation unterschieden werden. Als informativ werden biographisch-tabellarische Angaben, also vor allem Jahreszahlen betrachtet. Dagegen wird mit dem Begriff der Argumentation die Präsentation Fücks im Kontext seiner Imagination umschrieben. Sowohl Information als auch Argumentation sollen in der nachfolgenden Lebensbeschreibung Fücks berücksichtigt werden, da einerseits zu untersuchen ist, unter welchen biographischen Voraussetzungen die „Arabischen Studien“ rezipiert werden müssen, und andererseits zu prüfen, ob diese Voraussetzungen einem historischen Transformationsprozess unterliegen, der die unkritische Rezeption Fücks durch die Orientalistik des 20. und 21. Jahrhunderts erklären könnte. Geboren am 8. Juli 1894 in Frankfurt am Main studierte Fück in den Jahren 1913-1918 klassische Philologie und Orientalistik in Halle, Berlin und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. im Jahr 1921 unterrichtete er bis zu seiner Habilitation im Jahr 1929 klassische Sprachen und Hebräisch im Schuldienst. Von 1930 bis 1935 war er Professor für Arabische und Islamische Studien an der Universität Dhaka,194 bevor er 1935 außerordentlicher Professor an der Universität 192 ELLINGER, Ekkehard: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus. Berlin 2003. 193 EBERLE, Henrik: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Halle 2002, 117. 194 Ende weiß hinsichtlich seiner dortigen Zeit dreierlei zu berichten (Ende: Fück, 193f.): „Zweifellos war jener Aufenthalt im muslimischen Milieu des damaligen BritischIndien für Fück ein tiefes Erlebnis. Darüber hinaus darf man wohl annehmen, daß seine Position in gewissen Streitfragen der Islamforschung, so hinsichtlich der Originalität des arabischen Propheten […], in jenen Jahren an Kontur gewonnen hat. Bei seinen indo-muslimischen Kollegen und Schülern hat Fücks Lehrtätigkeit hohe Wertschätzung gefunden. Auch heute noch wird, wie europäische Besucher zu berichten wissen, sein Name an der Universität Dacca voller Verehrung genannt.“ Vgl. auch Fleischhammer: Fück, 423: „Die Erfahrungen jener Jahre und die unmittelbare Begegnung mit einem vom Islam geprägten Teil des indischen Subkontinents haben Fück nachhaltig und dauerhaft beeindruckt. Ein jeder, der mit ihm zusammentraf, konnte dies alsbald feststellen, und mehrere seiner Aufsätze und Rezensionen zeugen von dem damals geweckten Interesse und Verständnis für die Probleme des zeitgenössischen Islams, in Indien wie an-

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Frankfurt am Main und damit Nachfolger Gotthold Eljakim Weils wurde. Weil, seit 1932 ordentlicher Professor für Semitische Philologie in Frankfurt, war im Wintersemester 1933/34 zunächst beurlaubt, sodann wie andere jüdische Professoren im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Universitäten in den Ruhestand gezwungen worden.195 Nach dem plötzlichen Tod Hans Bauers berief die Universität Halle Fück 1938 zum Professor für Semitische Philologie und Islamkunde. In Halle bekleidete Fück neben seinem professoralen Amt das Direktorat des Orientalischen Seminars und der Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft196. Mit letzterer Verpflichtung oblag ihm nach Eberles Forschungen „eine[] ausdrücklich als ‚kriegswichtig‘ apostrophierte[] Aufgabe“, insofern er im Auftrag des Auswärtigen Amtes Bücher bereitstellte und damit die Ausarbeitung eines Neuarabischen Wörterbuches ermöglichte. Eberle betont, dass es „unsinnig“ wäre, „[a]us dieser Tätigkeit etwa eine ‚Verstrickung‘ in den Raubkrieg des NS-Regimes ableiten zu wollen“.197 Nach Ellingers Untersuchungen gehört Fück zu jenen Professoren, „für die bisher keine Parteimitgliedschaft nachgewiesen werden konnte“.198 Gleichzeitig war er einer jener Orientalisten, die „ihre Aufsätze und Studien mit meist historisch-philologischen Inhalten versahen, die nur für den fachwissenschaftlichen Leserkreis von Interesse waren, so dass die Literatur fast ausschließlich

derswo.“ Zu der bei Ende angesprochenen Auseinandersetzung Fücks mit dem Propheten Mohammed ist bei Fleischhammer zu lesen (Fleischhammer: Fück, 421): „In einem Aufsatz unternahm er [Fück] den überzeugenden Versuch, ‚Die Originalität des arabischen Propheten‘ (1936) unter anderem durch den Hinweis auf seine Lehre vom zyklischen Geschichtsverlauf zu erweisen und trat damit entschieden all jenen entgegen, die christlichen und jüdischen Einflüssen in seiner Gedankenwelt das entscheidende Gewicht beimaßen.“ / Ellinger weist darauf hin, dass „[a]ufgrund der beschränkten Kapazitäten an orientalistischen Lehrstühlen an den deutschen Universitäten, […] die Übernahme einer Professur im Ausland gerade für jüngere Orientalisten oft die einzige Möglichkeit [war], überhaupt eine Hochschulkarriere zu beginnen“. Auch stellt er eine „kontrollierte[] auswärtige[] Kultur-, Bildungs- und Hochschulpolitik“ des Deutschen Reiches fest, macht diese aber nicht für Fücks Gastprofessur geltend (Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 204). 195 Vgl. LANDAU, Jacob M.: Gotthold Eljakim Weil. In: Die Welt des Islams 38 (1998), 280-285; JÄGER, Gudrun: Orientalistik jenseits aller Nationalismen: Der jüdische Gelehrte Josef Horovitz und sein Verständnis von Annäherung zwischen Judentum und Islam. In: Forschung Frankfurt 22 (2004), 80-83. 196 1965 wird Fück zum Ehrenmitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft ernannt. 197 Eberle: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, 238. 198 Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 163.

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innerhalb des fachwissenschaftlichen Publikationsspektrums erschien“199. Allein Ellinger erwähnt, dass Fück aufgrund seines Einsatzes im 1. Weltkrieg und infolge einer Kriegsverletzung nicht für den aktiven Kriegsdienst verpflichtet worden war.200 Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1962 blieb Fück in Halle – und dies, wie Fleischhammer zu berichten weiß, trotz mehrfacher Berufungen an andere Universitäten. Der Grund für Fücks Ablehnung sei die Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft gewesen, „deren reiche Bestände für seine Arbeit unersetzlich waren und um deren Schutz und Sicherung er sich in den schweren Jahren des 2. Weltkrieges in aufopferungsvoller Weise bemüht hatte“.201 1956 erhielt Fück den Nationalpreis der DDR dritter Klasse für Wissenschaft und Technik und damit den höchsten staatlichen Preis der DDR, in dessen Folge er die Berechtigung erhielt, den Zusatz „Nationalpreisträger“ (NPT) bei seinem Namen zu führen.202 Nach der Vorstellung seiner Biographen Ende und Fleischhammer konnte Fück „das Niveau seiner Fächer im zweiten Drittel unseres [des 20.] Jahrhunderts wesentlich“ mitprägen und mitbestimmen.203 Als Lehrer habe ihm die „gründliche sprachliche Ausbildung seiner Studenten […] stets am Herzen [gelegen], und über Jahre hinweg hat er es sich nicht nehmen lassen, die Einführung ins Arabische selbst zu leiten,“204 wobei „er in seinem wissenschaftlichen Tun ebenso wie in seinen Forderungen an die ihm zur Ausbildung anvertrauten jungen Menschen stets den Maßstab größter Solidität, Exaktheit und Zuverlässigkeit anlegte“205. Als Mensch hätten Fück besonders die Eigenschaften der „Bescheidenheit, Distanz gegenüber allem Modischen und Extremen, Humor und – ungeachtet seiner bewußten Abschirmung von manchen Bereichen des Tagesgeschehens – eine beträchtliche Lebensklugheit“ ausgezeichnet.206 Als Wissenschaftler habe er „[a]llem was ihm als tradiertes Vorurteil, als Spekulation oder als allzu kühne Hypothese erschien, […]

199 Ebd., 299. 200 Ebd., 164. 201 Fleischhammer: Fück, 421 [kursiv M.R.]. 202 HERFURTH, Dietrich: Der Nationalpreis der DDR: Zur Geschichte einer deutschen Auszeichnung: Mit allen Preisträgern, ihren Namen, Titel und Tätigkeitsgebieten. Berlin 2006, 9. Nach der Stiftung des Karl-Marx-Ordens 1953 und des Vaterländischen Verdienstordens 1954 hatte der Nationalpreis seinen Status als höchste staatliche Auszeichnung eingebüßt (vgl. ebd. 8f.). 203 Fleischhammer: Fück, 419. 204 Ende: Fück, 195. 205 Fleischhammer: Fück, 420. 206 Ende: Fück, 195 [kursiv M.R.].

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mit großer Skepsis gegenüber“ gestanden.207 Vor allem sind es zwei Werke, die Fücks auch internationalen wissenschaftlichen Ruf begründeten, wobei „[b]eide Bücher zu den Standardwerken der Arabistik und Islamwissenschaft zu rechnen sind“: die „Arabiya: Untersuchungen zur arabischen Sprach- und Stilgeschichte“ (1950) und seine schon erwähnten „Arabischen Studien“.208 In abschließender Würdigung des am 24. November 1974 in Halle verstorbenen Johann Fück beurteilt Ende seine wissenschaftliche Leistung als historisch: „Fachkollegen und Schüler in aller Welt trauern um einen Gelehrten, dessen wissenschaftliche Leistung bereits in die Geschichte der von ihm so eindrucksvoll beschriebenen arabistischislamkundlichen Studien in Europa eingegangen ist.“209 Die Biographie des Mannes, dessen „Arabische Studien“ hier angesichts ihres zeitgeschichtlichen Hintergrunds unter Verdacht geraten sind, konfrontiert den voreiligen Ankläger mit einer Enttäuschung. Mögen die Ergebnisse angesichts der Quellensituation auch unzureichend (Nekrologe) und vorläufig (Ellinger) sein, stellt sich Fück doch zumindest nicht als jener Pseudowissenschaftler dar, der mit erhobenem Arm ideologische Verbrechen beging.210 Grundsätzlich aber kann der bio207 Ebd., 195. Vgl. auch Fleischhammer: Fück, 420f.: „[…] Merkmale, welche Fücks gesamtes wissenschaftliches Lebenswerk kennzeichnen: eine umfassende Beherrschung des Materials auf der Grundlage einer bewundernswerten Kenntnis der arabiya; die Fähigkeit, die gewonnenen Ergebnisse übersichtlich und sachgerecht gegliedert in präzisen sprachlichen Formulierungen vorzulegen; eine deutliche Scheu davor, Lücken des Materials oder Stellen, wo es Fragen offen ließ, durch Spekulationen, kühne Hypothesen oder Theorien auszufüllen, und dementsprechend eine beträchtliche Skepsis, wenn dies von anderen versucht wurde.“ 208 Fleischhammer: Fück, 421f. 209 Ende: Fück, 195. 210 Nach der an dieser Stelle nicht als glaubwürdig erachteten Darstellung Endes müsste Fück in seiner „bewußten Abschirmung von manchen Bereichen des Tagesgeschehens“ und den Kategorien, die das Entnazifizierungsgesetz vom 5. März 1946 entwirft, wohl als „Mitläufer“ eingestuft werden. Als ein solcher würde er nicht als „Entlasteter“ gelten, insofern Abschirmung bzw. Passivität nicht mit Widerstand zu verwechseln ist. Vgl. Gesetz zur Befreiung von Nationalismus und Militarismus vom 5. März 1946 und Anlage zum Gesetz zur Befreiung von Nationalismus und Militarismus. Stuttgart 1946. Das Gesetz nennt zur „gerechten Beurteilung der Verantwortlichkeit und zur Heranziehung zu Sühnemaßnahmen“ folgende „Gruppen“ (Artikel 4): 1. Hauptschuldige; 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer); 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe); 4. Mitläufer; 5. Entlastete. „Mitläufer ist: wer nicht mehr als nominell am Nationalsozialismus teilgenommen oder ihn nur unwesentlich unterstützt und sich auch nicht als Militarist erwiesen hat“ (Artikel 12). „Entlastet ist: wer trotz seiner formellen Mitgliedschaft oder Anwartschaft oder eines anderen äußeren Umstandes, sich nicht nur passiv

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graphische Blick weder klären, inwieweit der Rekurs auf die „Arabischen Studien“ unproblematisch wäre, noch inwiefern er sich etwa von selbst verböte. Für die Beantwortung derartiger Fragen wird es notwendig sein, das Werk selbst und die nationalsozialistische Orient-Politik zu betrachten. Dass eine solche Betrachtung bisher vernachlässigt wurde, zeigen die Nekrologe. Unerwähnt lassen sie die Umstände der Berufung Fücks nach Frankfurt, inexistent scheint ihnen jedweder Ideologieverdacht seines Werkes. Der zeitgeschichtliche Hintergrund des frühen Wirkens Fücks ist nur einmalig in der Erwähnung der „schweren Jahre des 2. Weltkrieges“ zu erahnen und erscheint dort einzig als Belastung eines gelehrten Lebens durch die Unruhen des Krieges. Insgesamt lesen sich die Nekrologe als Dokumente einer Epoche, der die Aufarbeitung des Nationalsozialismus fernlag. Wie Ellinger nachweist, ist die Ignoranz der Quellen exemplarisch für die Disziplinengeschichte der deutschen Orientalistik nach 1945. Die „ungenügend[e] disziplinengeschichtliche Aufarbeitung“211 gründet dabei in der personalen Kontinuität, denn: „Was die Personen betrifft, konnte die Nachkriegsorientalistik an die NS-Orientalistik direkt anknüpfen. Dieselben Personen, die inhaltlich, organisatorisch und institutionell den orientalistischen Diskurs der Jahre 1933-45 bestimmt hatten, besetzten auch nach 1945 die relevanten Stellen des Lehr- und Forschungsbetriebs.“212 Symptomatisch für Biographien ist in der Folge personaler Kontinuität eine Ausklammerung pronationalsozialistischen Verhaltens, die Entpolitisierung, Entnationalisierung und Reduktion der Orientalisten auf ihr fachwissenschaftliches Wirken.213 Inwiefern diese Symptome für die Kontextualisierung der Orientalistik des 18. Jahrhunderts relevant sind, wird zu klären sein. 3.2.1.2 Zum nationalsozialistischen Orient-Diskurs Betrachtet man die Orientalistik zur Zeit des Nationalismus institutionell, so ist zunächst festzustellen, dass allein sieben orientalistische Institute „während der Kriegszeit Forschung und Lehre mehr oder weniger konstant aufrechterhalten konnten“. Die anderen Institute214 waren u.a. infolge freiwilliger Dienstaustritte und aufgrund der massiven Entlassungspolitik der nationalsozialistischen Führung, die

verhalten, sondern nach dem Maß seiner Kräfte aktiv Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet und dadurch Nachteile erlitten hat“ (Artikel 13). 211 Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 437. 212 Ebd., 435f. 213 Ebd., 443f. 214 Insgesamt gab es 22 Universitäten, die 1933 „durch Seminare, Institute oder Lehrstühle das Fach Orientalistik vertraten […] Außer an der Universität Köln war die Orientalistik also bei Machtantritt der Nationalsozialisten an jeder Universität des Deutschen Reiches vertreten“ (Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 156).

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insgesamt über 85% der Orientalisten betrafen,215 zum Teil geschlossen, zum Teil derart beschnitten worden, dass sie angesichts der Kriegsverpflichtungen der verbliebenen Mitarbeiter nur noch formell bestanden. Die „Aufrechterhaltung des Seminarbetriebs“ war „nicht zwangsweise von der Parteimitgliedschaft oder einem Parteiaktivismus des Seminarleiters abhängig“, obgleich die einzelnen orientalistischen Lehrstühle grundsätzlich keineswegs außerhalb der Parteizugehörigkeit standen.216 Die verbliebenen sieben Institute fungierten innerhalb des nationalsozialistischen Regimes und angesichts seiner Entlassungspolitik als ein „nationale[r] Dienstleistungsbetrieb“, der sich in Gesamtbetrachtung der Jahre 1933-35 „durch einen hohen Identifikationsgrad mit dem NS auszeichnete“ und „der Verwissenschaftlichung von Mythen und Ideologien verpflichtet hatte“. Dies bedeutete hinsichtlich der orientalistischen Inhalte die Konstruktion einer „Deutsche[n] Wirklichkeit“ durch eine „teleologische orientalistische Geschichtsschreibung, deren Ausrichtung auf die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft ganz der deutschen Sache verpflichtet war“. Das Ziel einer solchen Verpflichtung war dabei ein zweifaches: Zum einen ging es um die Behauptung des „völkisch, kulturell, rassisch und antisemitisch definierte[n] Anspruch[s] der Zivilisationshegemonie“ gegenüber der orientalischen Bevölkerung; zum anderen um die Begründung einer „bündnispolitische[n] Hegemonie“, die das politische und ökonomische „Zusammengehen des Deutschen Reiches mit den Staaten des Vorderen Orients“ unter bündnispolitischem Ausschluss der deutschen Kriegsgegner forcierte.217 Die Umsetzung des Ziels geschah vor der Konstruktion zweier Feindbilder, die die nationalsozialistische Ideologie der Orientalistik vorgab. Das erste betraf die Juden, das zweite die Kolonialmächte. Vor der Frage nach der Vereinbarkeit der „Heinrich Himmler zugeschriebe[n] Behauptung einer ‚weltanschaulichen Verbundenheit‘ zwischen Nationalsozialismus und Islam“ und einem Weltbild, „das die Araber als ‚Orientalen‘ scheinbar auf einer unteren Stufe der Rassenhierarchie ansiedeln und den Islam als ‚artfremde‘ Religion hätte ablehnen müssen,“ analysiert Felix Wiedemann mit Ludwig Ferdinand Clauß „eine[n] der meist gelesenen Rassenideologen der NS-Zeit“ und kann einen doppelten Orient identifizieren.218 Die Dopplung entsteht dabei durch Clauß’

215 Ebd., 127. 216 Vgl. zum gesamten Absatz ebd., 156-164. 217 Vgl. zum gesamten Absatz ebd., 419-423. 218 WIEDEMANN, Felix: Der doppelte Orient: Zur völkischen Orientromantik des Ludwig Ferdinand Clauß. In: ZRGG 61,1 (2009), 1-24 (hier: 1f.). Zur ambivalenten Biographie Clauß’ zwischen Rassismus, Konversion zum Islam, Rettung einer Jüdin etc. vgl. Wiedemann ebenso wie zu Clauß’ „Ablehnung rein biologisch-anthropologischer Rassebe-

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Differenzierung der orientalischen Bevölkerung in eine „wüstenländische“ und „ursemitische Rasse“219, den arabischen Orient, und eine „vorderasiatische Rasse“220, den jüdischen Orient. In Analyse Clauß’ stellt Wiedemann fest, dass „der arabische Orient und der nordische Okzident jeweils unterschiedliche, mitunter auch entgegengesetzte Dispositionen und Eigenschaften [repräsentieren], die jedoch in ihrer Gegensätzlichkeit aufeinander bezogen bleiben: So verweisen rationale Leistung, Fortschrittsstreben und Individualismus des nordischen Abendlandes auf ihren Gegenpol im gemeinschaftlich eingebundenen, zeit- und geschichtslosen Dasein des in Gottvertrauen auf den Zufall seiner Beute wartenden unberechenbaren Orientalen“.221 In seiner Alterität aber wird der Orientale romantisiert dargestellt und weist durchaus auch Gemeinsamkeiten mit seinem nordischen Gegenüber auf, so z.B. im „Männlich-Heldischen“222, vor allem aber in der Bedrohung durch das Vorderasiatisch-Jüdische.223 Jüdische Einwanderer gelten Clauß „sowohl im Abend- wie im Morgenland als Fremdkörper“: „Sie schmeißen um sich mit all dem heillosen Intellektuellengewäsch, mit dem sie schon das Abendland geistig zersetzt haben (dieses Zersetzungsprodukt ist es, was sie Europa nennen) und bringen damit die letzten Reste reinen Morgenlandes zum Gerinnen – wenn nicht das Morgenland sich wehrt und diesen Fremdling ausstößt.“224

Die Reinheit des Morgenlandes werde allerdings nicht allein durch die vorderasiatische Rasse gefährdet, sondern auch durch die Kolonialmächte. Als „artfremde“ eustimmungen“ zugunsten einer Konstruktion von „Rassendifferenzen anhand innerer, geistig-seelischer Merkmale“. 219 Wiedemann: Der doppelte Orient, 11-13. 220 Ebd., 17. 221 Ebd., 23. 222 Ebd., 17. 223 Vgl. zur These von gemeinsamen „Gefährdungsvorstellungen“ und ihren politischen Konsequenzen MALLMANN, Klaus-Michael/ CÜPPERS, Martin: Halbmond und Hakenkreuz: Das Dritte Reich, die Araber und Palästina. Darmstadt 32011 (1. Auflage 2006): „Der gemeinsame Haß auf den Jischuw (hebräisch für bewohntes Land), die jüdische Minderheit im britischen Mandatsgebiet Palästina, sorgte dabei für ein sich steigerndes Maß an Affinität und bewirkte eine Paradigmenverschiebung der deutschen Außenpolitik, die Ende der 1930er Jahre ihre Schwerpunktsetzung von der Forcierung jüdischer Auswanderung hin zur direkten Unterstützung arabischer Nationalisten verlagerte“ (S. 7). 224 CLAUß, Ludwig Ferdinand: Briefe an Eva aus Mittags- und Morgenland. In: Benndorf, Werner [Hg.]: Das Mittelmeerbuch. Leipzig 1940, 369-396 (hier: 383) (Brief vom 12.4.1927) [zitiert nach: Wiedemann: Der doppelte Orient, 10].

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ropäische „Vorbilder“ führten sie den Orient in einen „verhängnisvollen Prozess der Selbstentfremdung“ und machten sich damit einer „ruchlose[n] Verletzung und Verwirrung fremder Artgesetzte“ schuldig, so Clauß weiter.225 Eine nicht rassistische Begründung des Feindbildes gibt der Arabist Carl Brockelmann. In seinem 1932 gehaltenen Vortrag „Deutschland und der Orient“ legt er „Rechenschaft darüber ab[], was das Studium des Orients für unsre deutsche Gegenwart bedeute“.226 Mit Verweis auf den Versailler Vertrag konstruiert er gegen die Kolonialreiche Frankreich und England eine „Gemeinschaft der Not“ von Deutschland und „den Opfern des westeuropäischen Imperialismus im Orient“. Diese Gemeinschaft gilt ihm als Verpflichtung, den Völkern des Orients „näher zu treten, wenn“ – so Brockelmann – „wir […] unsere Weltstellung neu aufbauen wollen“.227 Als Arabist verweist er damit programmatisch auf die politische Dimension orientalistischer Forschung im Dritten Reich. Nach diesem kurzen Überblick über den nationalsozialistischen Orient-Diskurs kann festgehalten werden, dass sich die Orientalistik durch die nationalsozialistische Entlassungspolitik und Dienstaustritte zu einem „nationalen Dienstleistungsbetrieb“ entwickelt hatte, dessen Aufgabe es war, die nationalsozialistische Ideologie hinsichtlich des Orients in der Ambivalenz von Romantisierung, Behauptung zivilisatorischer Überlegenheit und Verbundenheit in doppelter Not zu verwissenschaftlichen und eine „Deutsche Wirklichkeit“ des Orients zu begründen. Nochmals erinnert sei auch an die kriegswichtige Aufgabe der Ermöglichung eines Neuarabischen Wörterbuches, über dessen Notwendigkeit im Rahmen der genannten nationalen Interessen zu spekulieren wäre.

225 Wiedeman: Der doppelte Orient, 9f. 226 BROCKELMANN, Carl: Deutschland und der Orient. Breslau 1932, 3. 227 Ebd., 18f. Vgl. das vollständige Zitat: „Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags hat sich Deutschland eine Stellung aufzwingen lassen, die es von den Opfern des westeuropäischen Imperialismus im Orient nur formell unterscheidet. Wenn wir nun auch alle Kraft aufbieten müssen, um uns auch auf dem Gebiete der Wehrhoheit die volle Gleichberechtigung im Kreise der Völker wieder zu erringen, so hat uns der Krieg doch von dem Wahne geheilt, daß auch wir uns noch einmal wieder wie unsre Gegner mit den Methoden wirtschaftspolitischer Expansion an der Ausbeutung des Orients beteiligen könnten. Vielmehr verbindet uns mit den Völkern des Orients eine Gemeinschaft der Not, die uns verpflichtet, auch ihnen näher zu treten, wenn wir unter gänzlichem Verzicht auf die Methoden der Vorkriegszeit unsre Weltstellung neu aufbauen wollen.“ Vgl. auch ebd., 20: „[…] dem deutschen Volke dessen Ehre in den Staub zu treten die Feinde namentlich auch im Orient leider mit so großem Erfolg bemüht gewesen sind“.

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3.2.1.3 Die „Arabischen Studien“ (1944/1955) und ihre Programmatik Letztlich sollen die „Arabischen Studien“ betrachtet und auf Spuren des nationalsozialistischen Orient-Diskurses untersucht werden. Es ist bereits erwähnt worden, dass das allzitierte Werk aus dem Jahr 1955 auf sein kürzeres Doppel aus dem Jahr 1944 verweist,228 als dessen treue Abschrift es sich präsentiert. Der voreilige Ankläger mag vermuten, dass ihn beim Vergleich beider Werke eklatante Unterschiede erwarten, Streichungen antisemitischer oder rassistischer Andeutungen, Erweiterungen einer zunächst fokussiert völkischen Perspektive. Aber er wird ebenso enttäuscht wie schon bei Betrachtung der Biographie Fücks. Das spätere Werk ist ein photomechanischer Nachdruck des älteren, Kapitel 2 bis 29 sind folglich identisch und als solche auf den ersten oder unkritischen Blick „unauffällig“. Gegenüber seiner älteren Vorlage haben die „Arabischen Studien“ aus dem Jahre 1955 eine erweiterte Perspektive und berücksichtigen die Entwicklungen bis ins 20. Jahrhundert, konkret bis 1914,229 während der Beitrag zur Arabistik und Islamwissenschaft nur bis ins 19. Jahrhundert reicht. Damit thematisiert er auch jene Zeit, die für diese Arbeit interessant ist – das 18. Jahrhundert, das als Objekt der Verurteilung Fücks bereits einleitend vorgestellt wurde. Folglich zitieren all jene, die sich hinsichtlich ihrer Darstellung und Bewertung der deutschen Orientalistik des 18. Jahrhunderts auf Fück berufen, auch das frühere Werk, wenngleich auf diesen Hinweis in den Fußnoten zumeist verzichtet wird und Fücks „Arabische Studien“ aus dem Jahr 1955 als Quelle genannt werden. Beide Werke sollen nun unter der Voraussetzung der nachfolgend zitierten These Ellingers im analytischen Fokus ihrer Programmatik stehen: „Die Artikel, Studien und Monographien der Orientalisten sind insgesamt als Spiegelbild der inhaltlichen Ausrichtung der Orientalistik zu betrachten […] Auch wenn die Orientalistik in den Jahren des NS Studien hervorgebracht hat, denen nicht anzumerken ist, in welcher extrem aggressiven Zeit sie verfasst worden waren“, ist festzustellen, dass sie „Denkkategorien integrierte[n], die zwar nicht explizit nationalsozialistisch sein mussten, die der NS aber in den Jahren seiner Herrschaft zur Ausgestaltung seines ideologischen Konzepts zu bündeln wusste“.230

Es ist zu fragen, ob bzw. welche „Denkkategorien“ Fück zu integrieren wusste, die sein Werk als Zeugnis des nationalsozialistischen Orient-Diskurses präsentieren. 228 FÜCK, Johann: Die Arabischen Studien in Europa vom 12. bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts. In: Hartmann, Richard/ Scheel, Helmuth: Beiträge zur Arabistik und Islamwissenschaft. Leipzig 1944, 85-253. 229 Fück: Die Arabischen Studien (1955), VII. 230 Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 277.

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Die Identität des doppelten Werkes Fücks in 28 Kapiteln ist festgestellt. Unterschiede sind bisher vernachlässigt worden: Die älteren Studien haben 30 Kapitel, sind also gegenüber ihrem jüngeren Doppel um zwei Kapitel, konkret Kapitel 1 und 30 – eine „Vorbemerkung“ und einen „Ausblick“ –, erweitert, während Kapitel 1 der späteren Studien eine „Einführung“ ist, die sich von der „Vorbemerkung“ massiv unterscheidet. Geht man davon aus, dass die Einleitung eines Werkes grundsätzlich seine Programmatik beschreibt, die mitunter durch einen Schluss ergänzt wird, so dass das Werk selbst eine programmatische Rahmung erfährt, kann dasselbe Werk in seiner differierenden Programmatik von 1944 und 1955 betrachtet werden. In der „Vorbemerkung“231 definiert Fück das Ziel seines Beitrages als „Versuch […], der Entwicklung der arabischen Studien im Abendlande nachzugehen und sie im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung Europas mit dem Islam verständlich zu machen“. Er weist darauf hin, dass hinsichtlich der Arabistik und Islamkunde „der innere Zusammenhang zwischen den bescheidenen Anfängen und der Höhe der späteren Forschung beinahe in Gefahr geriet, übersehen zu werden, während doch in Wirklichkeit kein Glied in dieser langen Kette ohne die vorhergehenden Glieder bestehen könnte“. Am Beginn der Arabistik und Islamkunde hätten als Glieder der Kette die „antiislamische[] Polemik und […] Ketzerbekämpung“ gestanden, die über Jahrhunderte als „Fesseln“ wirkten, die es mittels eines Emporsteigens abzustreifen galt.232 Das letzte Glied der Kette nennt Fück die „selbständige[] Wissenschaft“. Am „entscheidenden Wendepunkt“ der Entwicklung stehe Johann Jacob Reiske. Er sei es, der „die arabische Philologie verselbständigt“ und ihr die „Aufgabe […], die islamische Geschichte zu erforschen“ zugewiesen und damit „den großen Aufschwung im 19. Jahrhundert“ vorbereitet habe. In Ankündigung des weiteren Ergebnisses seiner Untersuchung stellt Fück fest, „daß das philologische Studium des Arabischen mit innerer Notwendigkeit zur Beschäftigung mit dem Islam geführt hat“. Der Text, der hier so umfassend resümiert wurde, dass mit Ausnahme des ersten233 alle Einzelsätze berücksichtigt sind, behauptet dreierlei. Erstens verweist er in 231 Fück: Die Arabischen Studien (1944), 86. 232 Ebd.: „Diese Übersetzung, eins der frühesten Zeugnisse der arabischen Philologie des Abendlandes, stand noch ganz im Dienste der antiislamischen Polemik und der Ketzerbekämpfung, und es hat noch Jahrhunderte gedauert, bis die abendländische Arabistik und Islamkunde diese Fesseln abstreifen konnte und zum Range einer selbständigen Wissenschaft emporstieg.“ 233 Dieser erste Satz sei im Sinne der Vollständigkeit zitiert: „Es sind in diesem Jahre [1943] genau acht Jahrhunderte verflossen, seitdem der Koran durch die von Peter von Cluny veranlaßte lateinische Übersetzung dem Abendlande zum erstenmal bekanntgemacht wurde; und es ist jetzt gerade 400 Jahre her, daß Theodor Bibliander sie 1543 durch den Druck allgemein zugänglich machte“ (ebd.).

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der Feststellung eines „innere[n] Zusammenhang[s]“ der Geschichte der Arabistik und Islamkunde auf eine Kontinuität bzw. die kohärente Entwicklung dieser Geschichte. Zugleich und zweitens allerdings kennt die Geschichte einen Helden, der die Kontinuität bricht, indem er die „Wende“ herbeiführt. Drittens erklärt er das philologische Studium zur Grundlage der Beschäftigung mit dem Islam. Die letzte Behauptung überrascht als erstes, haben doch – wie Fück selbst erklärt – am Anfang der arabischen Studien in Europa die antiislamische Polemik und Ketzerbekämpfung gestanden. Folglich sollte vermutet werden, dass die Beschäftigung bzw. Auseinandersetzung mit dem Islam mit innerer Notwendigkeit zum philologischen Studium des Arabischen geführt hätte. Die zweite Behauptung überrascht sodann vor der ersten und diese hinsichtlich der Struktur der „Arabischen Studien“ selbst. Denn von den 28 Kapiteln, die zwischen Vorbemerkung und Schluss stehen, beschäftigen sich 15 mit Einzelpersonen, und der Großteil der verbliebenen mit Einzelfällen und Einzelstudien wie z.B. der „Arabistik in Frankreich und Italien von 1620-1650“. Die behauptete Kontinuität lässt sich mit Blick auf die Gliederung allein in zwei Kapiteln erahnen.234 In Betrachtung des „Ausblickes“235 ist dreierlei höchst aufschlussreich. Zum ersten ist hier nun nicht mehr die Rede von einzelnen Gliedern einer langen Kette, sondern von „verschiedenen Tendenzen, welche wir auf die Entwicklung der Arabistik im Abendland einen nachhaltigen Einfluß haben ausüben sehen“. Diese Tendenzen benennt Fück als den „Missionseifer der christlichen Kirchen, die Unionsbestrebungen der Kurie […], das Ringen des Protestantismus um das Wort Gottes und schließlich die politischen und wirtschaftlichen Interessen der mit der islamischen Welt in Verkehr stehenden Staaten Europas“. Gleichzeitig stellt Fück in Zusammenfassung seiner Untersuchungen fest, dass diese Tendenzen „nicht ganz verschwunden sind“, dass sie noch immer „mannigfach auf die orientalischen Studien einwirken“. Zum zweiten ist die Erwähnung „verschiedenartige[r] Kräfte“ bemerkenswert, die Fück im Einzelnen zwar nicht schildern kann, die aber „zur Blüte der Arabistik im 19. Jahrhundert beigetragen haben“, nämlich Romantik, Idealismus und kritische Geschichtsforschung. Am Bemerkenswertesten ist drittens die erneute, exponierte Nennung Reiskes, der nunmehr nicht nur an einem „Wendepunkt“ der Arabistik zu stehen scheint, sondern an ihrem eigentlichen Anfang. Denn „so viel verschiedenartige Kräfte auch zur Blüte der Arabistik im 19. Jahrhundert beigetragen haben mögen […], sie wäre nicht möglich gewesen, ohne die von Reiske geforderte und von [Sylvestre] de Sacy und [Heinrich Leberecht] Fleischer durchgeführte Verselbständigung der arabischen Philologie“. Angemerkt sei, dass de Sacy

234 Gemeint sind Kapitel 7 „Vom Mittelalter zur Neuzeit“ und Kapitel 22 „Die Arabistik im Zeitalter der frühen Aufklärung“. 235 Fück: Die Arabischen Studien (1944), 250f.

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im Allgemeinen als Begründer der modernen Orientalistik gilt, Fleischer als Initiator der modernen Orientalistik in Deutschland. Unter der Voraussetzung der grundsätzlichen Widerspruchsfreiheit und damit der Kohärenz jener Behauptungen, die Fück in seiner „Vorbemerkung“ und in seinem „Ausblick“ aufstellt, ergibt sich hinsichtlich der arabischen Studien in Europa eine parallele Geschichtsschreibung. Eine Gerade bilden dabei die „verschiedenen Tendenzen“ oder Interessen, die die Entwicklung der Arabistik beeinflusst haben und beeinflussen. Sie entwickeln sich kontinuierlich von einem anfänglichen Missionseifer über eine langsame Weitung der missionarischen Absichten und die Bibelkritik der Reformation hin zu wirtschaftlichen Interessen. Parallel zu dieser andauernden Entwicklung in der Verschiebung der Interessenlagen konstruiert Fück eine zweite Gerade, deren entscheidendes Merkmal die Selbständigkeit von den Interessen der ersten Geraden ist. Diese zweite Gerade hat einen ungefähr um 600 Jahre verzögerten Ursprung, dessen Urknall durch das Wirken von Johann Jacob Reiske236 beschrieben wird – Reiske, geboren in Zörbig, der „fast wie ein Wunder […] von einer ihm selbst unerklärlichen ‚unsäglichen und unaufhaltsamen Begierde‘ erfaßt wurde, arabisch zu lernen, als er seit Ostern 1733 in Leipzig eigenwillig und selbständig selbstgewählten Studien oblag“ [kursiv M.R.]. Das dreifache Selbst Reiskes bedarf der „fremde[n] Hilfe“ nicht, keiner Lehrer und keiner Lehre; er ist Schüler einzig der „arabischen Bücher, die damals erhältlich waren“. Mit dieser Darstellung der Geschichte der Arabistik negiert Fück nicht nur ihre jahrhundertelange Verortung in theologischen Diskursen, sondern auch den französischen Anspruch auf den Ursprung der modernen Arabistik im Wirken von de Sacy, womit er sich innerhalb der Ideologie des nationalsozialistischen Orient-Diskurses bewegt,237 den er gleichsam um einen neuen Aspekt erweitert. Denn nach Fück hat und hatte Frankreich nie ein Vorrecht auf den Orient, das sich z.B. durch die Begründung der modernen Orientalistik formuliert sehen könnte. Nachzutragen ist, dass die erste Gerade mit ihren vielfältigen Interessen für Fück einen nachteiligen Einfluss auf eine „sicher[e]“ „Erkenntnis des Abendlandes vom Wesen des Islams“ hatte, während selbige Erkenntnis jetzt – und so die explizite Feststellung Fücks – „fest und sicher“ auf der Grundlage der selbständigen phi236 Vgl. ebd., 192-208; vgl. auch Fück: Die Arabischen Studien (1955), 108-124. 237 Ludmila Hanisch weist auch auf die Nichtberücksichtigung von Fragestellungen jüdischer Gelehrter in der Gesamtdarstellung und damit in beiden Ausgaben der „Arabischen Studien“ hin: „Etwaige Fragestellungen jüdischer Theologen werden in der Darstellung nicht erwähnt, obwohl Orientalisten jüdischer Herkunft verzeichnet sind. Insbesondere, weil Fück Schüler von Horovitz war und lange Jahre am Frankfurter Seminar den Hebräisch-Unterricht übernahm, fällt die Lücke auf“ (HANISCH, Ludmila: Die Nachfolger der Exegeten: Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden 2003, 173).

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lologischen Disziplin der Arabistik „ruht“. Hier gewinnt nun auch die dritte Behauptung der „Vorbemerkung“, dass das „philologische Studium des Arabischen mit innerer Notwendigkeit zur Beschäftigung mit dem Islam geführt“ habe, ihre Kohärenz. Denn mögen auch die Anfänge des arabischen Studiums in antiislamischer Polemik liegen, so handelt es sich bei letzterem keinesfalls um eine „Beschäftigung mit dem Islam“. Eine solche kann allein die verselbständigte Disziplin leisten. Hinsichtlich der Frage nach der Geschichtsschreibung Fücks zeigt sich in seiner dritten Behauptung also wiederum die Negation theologischer Orient-Diskurse, die zwar eine mehr als 600jährige Geschichte der Beschäftigung mit dem Arabischen bestimmt haben, weder aber die Arabistik noch die Islamwissenschaft vorantreiben bzw. begründen konnten. Eine solche Begründung bedurfte eines deutschen Helden. Blicken wir nun auf dasselbe Werk elf Jahre später. Auf die grundsätzlichen Unterschiede ist bereits hingewiesen worden, ebenso auf die Gemeinsamkeit von 28 Kapiteln, damit z.B. auch des Kapitels über Johann Jacob Reiske. Die Darstellung der Geschichte der Arabistik ist folglich in beiden Werken kongruent, nicht aber die Programmatik. Auch in der „Einführung“238 lesen wir zunächst von dem „Versuch“, der „Entwicklung der arabischen Studien im Abendlande nachzugehen und sie im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung Europas mit dem Islam verständlich zu machen“. Allerdings werden bereits einzelne „Phasen“ genannt, die sich in ihrer Ausführlichkeit maßgeblich von den erwähnten Kettengliedern der älteren „Vorbemerkung“ unterscheiden. Solche Phasen sind unter anderem die Zeit der Missionsbestrebungen der römisch-katholischen Kirche, der spanische Frühhumanismus, die Reformation, die „politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der christlichen Mächte zu den islamischen Staaten“ – die der Arabistik die stärkste Förderung gebracht hätten – oder der Machtzerfall des Osmanischen Reiches. Mit der Benennung bzw. Ankündigung der Darstellung der genannten Phasen schließt die „Einführung“. Die 1955 veröffentlichte Geschichte der Arabistik läuft also weder auf Reiske noch auf eine Verselbständigung zu – beides bleibt unerwähnt –, wird vielmehr in einer einzigen Geraden vorgestellt. Zusammenfassung: Die Frage, die den Darstellungen voranstand, die Frage: „Wer war Johann Fück?“, wurde in zweifacher Hinsicht gestellt. Zunächst war zu klären, inwieweit und ob Fück biographisch als Nationalsozialist anzusprechen ist, wobei die Ergebnisse aufgrund der Quellensituation als vorläufig zu betrachten sind. Sodann wurde analysiert, inwieweit und ob sich Fücks Werk durch eine nationalsozialistische Prägung ausweist. Auf eine Betrachtung auch anderer Arbeiten Fücks wurde angesichts der Begründung der Frage verzichtet. So galt es, eben das Buch zu beurteilen, das in sämtlichen Arbeiten zur Geschichte der Orientalistik als Stan238 Fück: Die Arabischen Studien (1955), 1f.

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dardwerk rezipiert wird. In diesem Kontext stand nicht die Anklage Fücks, sondern die der orientalistischen Geschichtsschreibung im Fokus. Die Anklage sah sich durch die Beobachtung der unkritischen Übernahme von Urteilen Fücks vor einer Nichtreflexion des zeitgeschichtlichen Hintergrunds der Entstehung der „Arabischen Studien“ begründet. Im Ergebnis der hier geschehenen Reflexion zeigt sich Fück als ein aktiver Gelehrter im Dritten Reich, der unter Berücksichtigung der nationalsozialistischen Entlassungspolitik und seiner kriegswichtigen Aufgabe als ideologietreu angesprochen werden muss, obgleich er kein Parteimitglied war. Seine „Arabischen Studien“ können als Beleg dieser Treue gelten. Sie konstruieren einen deutschen Helden, der die Geschichte der Orientalistik gegen den französischen Anspruch und aus dem Nichts begründet. Ein weiterer Beleg für Fücks nationalsozialistische Verflechtung ist die anpassungswürdige Programmatik, die er seinen „Arabischen Studien“ voranstellt, wobei die Programmatik des Werkes selbst allerdings unverändert bleibt. Es verweist damit noch immer auf seinen zeitgeschichtlichen Hintergrund, dessen Ideologie sich in der Standardisierung Fücks durch den und im Wissenschaftsdiskurs fortschreibt. 3.2.2 In neuem Licht – Der Orient bei Edward Said Der Orientierung an den Darstellungen Fücks, mithin der Verurteilung der Orientalistik der Aufklärung als Phase der Verunreinigung der Disziplin durch theologische Interessen wird nur selten widersprochen. Den weithin einflussreichsten Widerspruch formuliert Edward Said durch die Begründung einer postkolonialen Perspektive auf die orientalistische Disziplinengeschichte.239 Kraft der Argumentation, die er mit seiner 1978 erschienenen Studie „Orientalism“ führe, sei ein neutraler Gebrauch des Begriffes Orientalistik beinahe unmöglich geworden, schreibt Albert Hourani 1992 in einem kritischen Brief an Said.240 Dieser „unglückliche Effekt“241 der Studie Saids bestimmt die Frage nach der Bedeutung der Orientalistik noch immer. Seit Said trägt die Orientalistik als wissenschaftliche Disziplin mitsamt ihren Vertretern den Makel der imperialistischen Verdächtigung. Er führt das vorgängig beschriebene Urteil ad absurdum, indem er die Existenz einer Reinheit der Orientalistik zugunsten einer Alldurchdringung der Disziplin durch das Phänomen des Orientalismus bestreitet. Seine These und ihre Konsequenz für die Beurteilung der Orientalistik im Allgemeinen und vorrangig des 18. Jahrhunderts soll nachfolgend analysiert werden. Dabei richtet sich der Fokus der Analyse auf die Protagonisten der These: die Orientalistik, den Orientalismus und den Orient. 239 Saids Würdigung der „Arabischen Studien“ steht dabei außer Frage (SAID, Edward: Orientalism. New York 2003 [1978], 16). 240 Vgl. ebd., 340 (Afterword 1994). 241 Vgl. ebd. [Übersetzung M.R.].

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Die Orientalistik definiert Said zunächst als wissenschaftliche Disziplin („a field of learned study“), die formal 1312 mit der Entscheidung des Konzils von Vienne, in Paris, Oxford, Bologna, Avignon und Salamanca Lehrstühle für das Arabische, Griechische, Hebräische und Syrische einzurichten, entstand.242 Wiederum formal folgt sie dem Auftrag der systematischen Annäherung an ihr Objekt, den Orient: „Orientalism is the discipline by which the Orient was (and is) approached systematically, as a topic of learning, discovery, and practice.“243 Dabei richtet sich ihre Systematik nach der Methodik des Anatomen: „Rhetorically speaking, Orientalism is absolutely anatomical and enumerative: to use its vocabulary is to engage in the particularizing and dividing of things Oriental into manageable parts.“244 Der Orientalistik gegenüber erweist sich der Orientalismus als eine besondere Umgangsweise („a way of coming to terms“) mit dem Orient, konkret bzw. „in short“: „a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient“. Methodisch arbeitet der Orientalismus unter der Prämisse der Korrekturbedürftigkeit des Orients durch den Westen und bezeichnet in diesem Sinne zunächst „a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between ‚the Orient‘ and (most of the time) ‚the Occident‘“,245 sodann den Gebrauch annektierender Kategorien: „[T]he Oriental is depicted as something one judges (as in a court of law), something one studies and depicts (as in a curriculum), something one disciplines (as in a school or prison), something one illustrates (as in a zoological manual). The point is that in each of these cases the Oriental is contained and represented by dominating frameworks […] Orientalism, then, is knowledge of the Orient that places things Oriental in class, court, prison, or manual for scrutinity, study, judgement, discipline, or governing.“246

Die Kategorien bedienen sich einem systematisierten Wissen über den Orient, das ein theoretisches und praktisches Gerüst bildet, welches wiederum eine Sammlung von Träumen, Bildern und Vokabular zur Verfügung stellt, in die viele Generationen erheblich investiert haben und investieren.247 Dieser andauernde Umgang mit dem Orient geschah bzw. geschieht nach Said einerseits vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen, militärischen, ideologischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Vereinnahmung, die in der imperialistischen Politik vorrangig 242 Said, Edward: Orientalism, 49f. 243 Ebd., 73. 244 Ebd., 72. 245 Ebd., 1-3. 246 Ebd., 40f. [Herv. i.O.]. 247 Ebd., 6.73.

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Frankreichs und Großbritanniens gipfelte, andererseits vor der Konsolidierung einer europäischen Identität, die sich vom Orient als einer Art ersetzendem Selbst abgrenzt.248 Wie die Zitate zeigen, verwendet Said den Begriff Orientalistik bzw. „Oriental studies“ in Unterscheidung zu dem Begriff des Orientalismus nicht.249 Vielmehr arbeitet er in Beschreibung sowohl der wissenschaftlichen Disziplin Orientalistik als auch des Phänomens Orientalismus mit dem Terminus „Orientalism“. Die hier vorgenommene begriffliche Trennung erweist sich somit als ein Hilfsmittel, das jedoch nur die zwei Arten von „Orientalism“ begrifflich differenziert, die Said selbst in ihrer Zweiheit als „two aspects of Orientalism“ anerkennt. Im Verlauf der Argumentation Saids zeigt sich allerdings, dass selbige Zweiheit letztlich eine Zweieinheit ist: „These two aspects of Orientalism are not incongruent, since by use of them both Europe could advance securely and unmetaphorically upon the Orient.“250 Die Disziplin und das Phänomen sind kongruent, folglich scheint auch ein begriffliches Bündnis sinnvoll. Anders ausgedrückt: Orientalistik und Orientalismus sind derart verflochten, dass beide als eines, nämlich „Orientalism“, angesprochen werden können. Beleg der binären Verflechtung ist Said die historische Entwicklung der Orientalistik von der philologia sacra und der Sinologie hin zu einer den gesamten asiatischen Raum erfassenden Wissenschaft, deren „exzentrische Haltung“ es in einer starren geographischen Gesamtperspektive wagt, die Hälfte der Welt unter eine Disziplin zu subsumieren: „For although many learned disciplines imply a position taken towards, say, human material (a historian deals with the human past from a special vantage point in the present), there is no real analogy for taking a fixed, more or less total geographical position towards a wide variety of social, linguistic, political, and historical realities. A classicist, a Romance specialist, even an Americanist focuses on a relatively modest portion of the world, not on a full half of it. But Orientalism is a field with considerable geographical ambition […] All of this describes Orientalism as an academic discipline. The ‚ism‘ in Orientalism serves to insist on the distinction of this discipline from every other kind. The rule in its historical development as an academic discipline has been its increasing scope, not its greater selectiveness.“251

248 Ebd., 3. 249 Ganz im Gegensatz zu seinem deutschen Übersetzer Hans Günter Holl – vgl. SAID, Edward: Orientalismus: Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. Frankfurt a.M. 2

2010.

250 Said: Orientalism, 73. 251 Ebd., 50 [Herv. i.O.]. Vgl. zum vorherigen auch ebd., 51.

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Die Orientalistik erweist sich in ihrer Verschmelzung mit dem Orientalismus als der bloß institutionelle Rahmen des letzteren, also jener „besonderen Umgangsweise“ mit dem Orient, die unter imperialistischen Vorzeichen steht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Orientalistik in ihrer formalen Wissenschaftlichkeit, in ihrer Partikularisierung des Orientalischen, in ihrer anatomischen Methodik, die bloß rhetorische Form des Orientalismus ist. Das Verhältnis von Disziplin und Phänomen stellt sich folglich als eines zwischen Funktionär und Autorität dar. Nachdem Saids Verständnis von Orientalistik und Orientalismus dargestellt wurde, ist nach beider Objekt, dem Orient, zu fragen. Ausgehend von der Annahme, dass „the Orient is not an inert fact of nature. It is not merely there, just as the Occident itself is not just there either“252, beschreibt Said den Orient als ein Konstrukt seines westlichen Gegenübers, das ihn folglich erst erschafft (creates)253 bzw. erfindet254. Subjekt der Konstruktion ist der Orientalismus, dessen Motivator die Gewinnung von Macht (über Vereinnahmung) und Identität. Dabei sieht Said die Handlungsmacht des Orientalismus durch zwei charakteristische Merkmale begründet, die das Verhältnis zwischen Ost und West seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt haben: „One was a growing systematic knowledge in Europe about the Orient, knowledge reinforced by the colonial encounter as well as by the widespread interest in the alien an unusual, exploited by the developing sciences of ethnology, comparative anatomy, philology, and history […] The other feature of Oriental-European relations was that Europe was always in a position of strength, not to say domination.“255

Der hier genannte Begriff der Herrschaft („domination“) ist nicht Ausdruck eines realen Machtgefälles, sondern Spiegel einer zunächst nur imaginären westlichen Sichtweise, die den Orient als sein schwächeres Gegenüber wahrnimmt. Die „Belebung“ der Imagination geschieht durch ihre Verschränkung mit dem ersten Merkmal, dem systematischen Wissens hin zu dem Konstrukt Orient. Orientalismus ist sodann die konkrete Bezeichnung für „a political vision of reality whose structure promoted the difference between the familiar (Europe, the West, ‚us‘) and the strange (the Orient, the East, ‚them‘). This vision in a sense created and then served the two worlds thus conceived. Orientals lived in their world, ‚we‘ lived in ours.“256 252 Ebd., 4 [Herv. i.O.]. 253 Ebd., 40. 254 Vgl. ebd., 1: „The Orient was almost a European invention“. 255 Ebd., 39f. 256 Ebd., 43f.

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Die Konstruktion des Orients dient folglich einer Konsolidierung ihrer belebten Vision, mithin einer imperialistischen Politik. Dabei korrespondiert der Konstruktion des Orients die Konstruktion auch einer europäischen Identität – „as a superior one in comparison with all the non-European peoples and cultures“257. Instrument dieser Konstruktionsprozesse ist die Disziplin der Orientalistik, die in Weiterführung der Argumentation Saids als ein Dienstleistungsbetrieb imperialistischer Politik zu beschreiben ist. Die postkoloniale Kritik Saids widerspricht der gängigen Beurteilung der deutschen Orientalistik des 18. Jahrhunderts nur theoretisch, denn praktisch kennt sie die Bedingungen von Zeit und Ort. So sei erst mit der Ägypten-Invasion Napoleons von jenem titelgebenden Orientalismus zu sprechen, der zwar in einer jahrhundertelangen Vorgeschichte gründe,258 aber doch erst im Jahre 1798 seinen „very roughly defined starting point“ habe.259 Darüber hinaus begrenzt Said seine Studie vorrangig auf Großbritannien und Frankreich als den „pioneer nations in the Orient and in Oriental studies“260. Ausdrücklich verzichtet er auf die Analyse deutscher Entwicklungen, so zunächst schon die „schiere Qualität, Konsistenz und Quantität“ der britischen, französischen, später amerikanischen Studien, die höhere Wertigkeit gegenüber einer „doubtless crucial work done in Germany, Italy, Russia, and elsewhere“ erkläre.261 Überdies hätten deutsche Gelehrte die entscheidenden Schritte in der Entwicklung der Orientalistik nicht getan, sondern weitergeführt.262 Denn das Fehlen eines nationalen bzw. kolonialen deutschen Interesses einerseits, die ausschließlich gelehrte Perspektive auf den Orient andererseits begründe eine Abhängigkeit von den imperialen Mächten: „There was nothing in Germany to correspond to the Anglo-French presence in India, the Levant, North Africa. Moreover, the German Orient was almost exclusively a scholarly, or at least a classical, Orient: it was made the subject of lyrics, fantasies, and even novels, but it was never actual, the way Egypt and Syria were actual for Chateaubriand, Lane, Lamartine, Burton, Disraeli, or Nerval. There is some significance in the fact that the two most renowned 257 Ebd., 7. 258 Ebd., 39. 259 Ebd., 3.122. 260 Ebd., 17. Vgl. zur Darstellung Deutschlands bei Said und ihrer Kritik z.B. WILSON, W. Daniel: Enlightenment Encounters the Islamic and Arabic Worlds: The German „Missing Link“ in Said’s Orientalist Narrative (Meiners and Herder). In: Hodkinson, James/ Morrison, Jeff [ed.]: Encounters with Islam in German Literature and Culture. New York 2009, 73-88. 261 Said: Orientalism, 17 [Übersetzung M.R.]. 262 Vgl. ebd.: „But I think it is also true that the major steps in Oriental scholarship were first taken in either Britain and France, then elaborated upon Germans.“

72 | F REMDE V ERGANGENHEIT German works on the Orient, Goethe’s Westöstlicher Diwan and Friedrich Schlegel’s Über die Sprache und Weisheit der Indier, were based respectively on a Rhine journey and on hours spent in Paris libraries. What German Oriental scholarship did was to refine and elaborate techniques whose application was to texts, myths, ideas, and languages almost literally gathered from the Orient by imperial Britain and France.“263

Der Verzicht auf die Analyse deutscher Studien veranlasst Said ungeachtet seiner Begründung zu einer ausführlichen Selbsttadelung, die allerdings – der UrknallThese einer Entstehung des Orientalismus im Jahre 1798 gemäß – allein die Vernachlässigung seit Mitte des 19. Jahrhunderts trifft.264 Saids spezieller geographischer und zeitlicher Fokus kann nun allerdings nicht bedeuten, dass seine These für eine Untersuchung der deutschen Orientalistik im 18. Jahrhundert vernachlässigt werden könnte. Mit der Negation der Wissenschaftlichkeit der als Funktionär enttarnten Orientalistik stellt er die Disziplin in einen machtpolitischen Kontext, in dem ihre Neutralität oder Objektivität fortan grundsätzlich zu bezweifeln ist. 3.2.3 Andrea Polaschegg et al. Zuletzt wird der Aufnahmebereich auch durch Autoren beschrieben, die gegen die Unterstellung eines theologischen Potentials zur Verunreinigung der Orientalistik eine Bedeutung der Theologie für die Entwicklung der orientalistischen Disziplin behaupten. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass eine solche Behauptung zurückhaltend und durchaus ambivalent geäußert wird. So kann Hartmut Bobzin in seiner „Geschichte der arabischen Philologie in Europa“, die sich – wie sollte es anders sein – stark an Fück orientiert, mit dem 18. Jahrhundert vom „Beginn eines von theologischen Vorurteilen befreiten Interesses für die arabische Literatur seitens der europäischen Bildungswelt“265 sprechen und zugleich urteilen: „Auch wenn über diese Richtung der Arabistik, die ihre Arbeit ganz in den Dienst der Theologie stellte, immer wieder eher abschätzig geurteilt worden ist, darf darüber nicht vergessen werden, dass sie es war, die der Arabistik im Lauf der Zeit innerhalb der 263 Ebd., 19. 264 „Nevertheless there is a possibly misleading aspect to my study, where, aside from an occasional reference, I do not exhaustively discuss the German developments after the inaugural period dominated by Sacy. Any work that seeks to provide an understanding of academic Orientalism and pays little attention to scholars like Steinthal, Müller, Becker, Goldziher, Brockelmann, Nöldecke – to mention only a handful – needs to be reproached, and I freely reproach myself. I particularly regret not taking more account of the great scientific prestige that accrued to German scholarship by the middle of the nineteenth century“ (ebd., 18). 265 Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 179.

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Theologischen Fakultäten Heimatrecht verschaffte.“266 Ellinger geht soweit, die Tirade über eine „Befreiung“ der Orientalistik von theologischen Interessen durch die Rede von einer „Ergänzung“267 des theologischen Interesses durch die philologische Verschiebung der Disziplin im 19. Jahrhundert zu ersetzen, belässt es aber bei dieser vielversprechenden Behauptung und verzichtet aufgrund seiner thematischen Ausrichtung auf eine weitere Ausführung. Interessant ist, dass auch Ramona French in ihrer 1984 in Rostock erschienenen Studie über den Orientalisten Oluf Gerhard Tychsen vor dem expliziten Hintergrund einer marxistisch-leninistischen Argumentation die „positive Beeinflussung“ der orientalischen Studien durch die Theologie herausstellen kann.268 Doch muss der Wiederholung zum Trotz nochmals betont werden, dass sich die genannten Autoren ungeachtet ihrer Nichtverurteilung der Theologie nicht zu einer Kritik der dominierenden Geschichtsschreibung, das heißt insbesondere der „Arabischen Studien“, veranlasst sehen. Und so scheint auch der Aufruf zum Nicht-Vergessen der historischen Bedeutung der Theologie für die Geschichte der Orientalistik nicht mehr als nur eine Marginalie. Eine Ausnahme bildet Andrea Polascheggs Untersuchung der deutschen Orientalistik des 19. Jahrhunderts.269 Polaschegg stellt fest, dass „[i]n der gängigen – eher die Weltanschauung der Autoren als die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge erhellenden – Rhetorik dieser Klagen über die späte ‚Befreiung‘ der deut266 Weiter heißt es: „[E]rst von hier aus fand, jedenfalls in Deutschland, die Arabistik dann Eingang in die Philosophischen Fakultäten“ (Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 159). 267 Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 283: „[M]it de Sacy begann die philologische Orientalistik, die theologische Orientalistik zu ergänzen “. Der impliziten Entgegensetzung von philologischer und theologischer Orientalistik, wie sie Ellinger evtl. behauptet, wird mit dem hier gebrauchten Begriff der Verschiebung widersprochen. 268 FRENCH, Ramona: Oluf Gerhard Tychsen – ein deutscher Orientalist des 18. Jahrhunderts: Eine Untersuchung seiner Korrespondenz als Beitrag zur Geschichte der Orientalistik. Rostock 1984. Konkret bedeutet Theologie für French Pietismus: „Dabei fällt auf, daß im Pietismus gleichzeitig zwei entgegengesetzte Vorstellungen ausgesprochen und vertreten wurden: die allgemeine Toleranz und der Missionsgedanke. Diese beiden Tendenzen haben die Entwicklung der orientalischen Studien in Deutschland positiv beeinflußt“ (S.4). In ihren Thesen spricht French nicht mehr vom Pietismus, sondern allgemeiner von der in die „Theologie eingegliederte[n] sogenannte[n] philologia sacra“, die die „Anhäufung der Kenntnisse über die orientalische Welt“ ebenso gefördert habe, wie „die zuerst in den katholischen, später ebenfalls in den protestantischen Ländern entfachte Missionstätigkeit“ (These 2). 269 POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/ New York 2005.

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schen Orientforschung von der ‚Vormundschaft‘ der Bibelwissenschaften […] und ‚den Fesseln theologischer Spekulation‘ […] zwei für die Geschichte der Orientalistik zentrale diskursgeschichtliche Aspekte unterzugehen“ drohten. Erstens fehlte es im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an einem „staatliche[n] sowie gesellschaftliche[n] Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung des zeitgenössischen Orients sowie ihrer Finanzierung“, womit sich „ein dezidiert wissenschaftliches Interesse am Orient […] keineswegs von selbst“ verstehe.270 Zweitens und „[z]ugleich […] kulminierten gegen Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb der Theologie methodologische und strukturelle Entwicklungslinien und zeitigten Veränderungen, die eine Ausdifferenzierung der Orientwissenschaft als eigenständige Disziplin fördern, wo nicht überhaupt erst ermöglichen. Die Rede ist von der Etablierung der historisch-kritischen Methode hermeneutischer Provenienz für die Analyse der biblischen Texte im Rückgriff auf andere orientalische Texte und von der gleichzeitigen Aufspaltung der protestantischen Theologie in die bis heute bestehenden Teilbereiche, also der innerdisziplinären Trennung von Exegese und Dogmatik, von historischer und systematischer Forschung.“271

Polaschegg kommt zu dem Ergebnis, dass die „Bedeutung der protestantischen Theologie für den deutschen Orientalismus […] kaum zu überschätzen“ ist.272 Doch auch ihre differenzierte Kritik richtet sich nicht gegen die Darstellungen der „Arabischen Studien“273 sondern vielmehr gegen Sabine Mangold und ihre Untersuchung der Geschichte der Orientalistik im 19. Jahrhundert. Mangold scheue „keine rhetorischen und darstellerischen Mühen, um – den wissenschaftlichen Tatsachen zum Trotz – die Geschichte der deutschen Orientalistik als eine Oppositionsgeschichte gegen die Theologie zu entwerfen“.274 Mit der Konsequenz einer weitgehenden Vernichtung der Ergebnisse Mangolds notiert Polaschegg: „Die bereits erwähnte Studie von Sabine Mangold […] tritt zwar mit dem Anspruch auf, die Geschichte der deutschen Orientalistik im 19. Jahrhundert zu schreiben. Allerdings operiert sie in ihrer Darstellung mit dezidiert anachronistischen Parametern und läßt sowohl Grundkenntnisse der deutschen Wissenschafts-, Gesellschafts- und Ideengeschichte als auch jede diskursgeschichtliche Reflexion vermissen, so daß das Buch letztlich zum Verständnis des 270 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 158f. 271 Ebd., 160 [Herv. i.O.]. 272 Ebd., 158. 273 Auch Polaschegg kann sich auf die „Arabischen Studien“ berufen, so z.B. in ihrer Feststellung, „[d]aß das Studium dieser [orientalischen] Sprachen in erster Linie als Hilfswissenschaft zum besseren Verständnis des Hebräischen betrieben wurde und man ihnen kein eigenständiges Erkenntnisinteresse entgegenbrachte “ (ebd.). 274 Ebd., 161 (Anm. 73).

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deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert kaum etwas beiträgt und auch wissenschaftsgeschichtlich mehr verdunkelt als klärt.“275

Eine weitere Ausnahme zu den Darstellungen der gängigen Geschichtsschreibung bildet die umfassende, im Ton des Hofnarren gehaltene Studie zur Geschichte der Orientalistik von Robert Irwin, der seinen Ton gleichsam zum Programm erklärt: „I have done my best to make this book interesting, so that it can be read for pleasure, as well as for information.“ Seine Bemühung um Unterhaltsamkeit motiviert sich dabei durch die Feststellung langweilender Inhalte:

275 Ebd., 146 (Anm. 8). Polaschegg verweist hier auch auf ihre ausführliche Rezension der Studie Mangolds – vgl. POLASCHEGG, Andrea: Rezension: Mangold, Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004. In: Scientia Poetica 9 (2005), 366-376. Dort urteilt sie (ebd., 376): „[D]as Buch [kommt] der Aufgabe einer wissenschaftlichen Studie insgesamt nicht nach: den ausgewiesenen Sachverhalt zu erhellen. In einem Labyrinth aus Namen und Daten, überdeterminiert durch Anachronismen und eine Logik des alltagsweltlichen ‚common sense‘ gehen die Rezipienten notwendig in die Irre und sind nach der Lektüre im günstigsten Fall so klug als wie zuvor. / Mangolds ahistorische Geschichte der deutschen Orientalistik im 19. Jahrhundert ist – so lassen sich die Ergebnisse seiner Lektüre zusammenfassen – ein schlechtes Buch.“ Angesichts dieses gnadenlosen Verrisses Mangolds kann auch dem geneigten Leser Polascheggs die Tatsache nicht verborgen bleiben, dass die im Jahr 2003 angenommenen Dissertationen der Autorinnen mindestens ähnlich thematisch ausgerichtet sind (Mangold: „Eine ‚weltbürgerliche Wissenschaft‘ – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert“; Polaschegg: „Deutscher Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert. Die Regeln der Imagination“). Relativierend sei angemerkt, dass Polaschegg mit ihrer Kritik auch andere Wissenschaftler – wie z.B. Wittgenstein – nicht verschont (vgl. Polaschegg: Der andere Orientalismus, 99). Gerade die Fußnoten lesen sich zuweilen als Abrechnung, mitunter in der Tarnung unscheinbarer Gedankeneinschübe (vgl. ebd., 68 Anm. 27), die selbst Polascheggs wohlwollendem Rezensenten Jan Loop in seiner begeisterten Besprechung von „Der andere Orientalismus“ zu dem abschließenden Hinweis und zugleich „einzig[] ernsthafte[n] Kritikpunkt“ eines mitunter „störend[] selbstgefälligen Ton[s]“ einer Lektüre veranlassen, bei der man sich „nicht selten etwas mehr Bescheidenheit“ wünsche (LOOP, Jan: Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. In: Arbitrium: Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 25 [2007], 219-223). Zu Loops Begeisterung vgl. exemplarisch den ersten Satz seiner Rezension: „Die Dissertation von Andrea Polaschegg ist ein Meisterwerk und markiert in jeder Hinsicht einen Quantensprung in der Orientalismus-Forschung.“

76 | F REMDE V ERGANGENHEIT „[A] leading theme of my book is that its subject is neither very important nor very glamorous […] Most of what Orientalists do will seem quite dull to non-Orientalists. There is nothing so very exciting about pedants busily engaged in making philological comparisons between Arabic and Hebrew, or cataloguing the coins of Fatimid Egypt, or establishing the basic chronology of Harun al-Rashid’s military campaigns against Byzantium.“276

Irwin, der in seinen jüngst erschienen Memoiren einen schreibenden Exorzismus durchführte, mit dem er sich den Dämon seiner Erinnerungen austrieb,277 ist nach seinem Studium der Geschichte in Oxford, dem Abbruch seiner Dissertation, einer fünfjährigen Lehrtätigkeit an der Universität von St. Andrews, Autor sowohl wissenschaftlicher als auch fiktionaler Werke und ein anerkannter britischer Arabist.278 Mitte der 1960er Jahre konvertierte er im Alter von nicht einmal zwanzig Jahren zum Islam.279 Wie Polascheggs Untersuchung erhebt auch Irwins Darstellung der Geschichte der Orientalistik gegenüber der bevorzugten Geschichtsschreibung den Vorwurf des Anachronismus: „Orientalism developed in the shade of the much grander discourses of the Bible and of the classics.“280 / „[A]ny study of Orientalism that fails to engage with the overwhelming importance of biblical and Hebrew studies and of religion in general for the way Islam and the Arabs were studied and written about would be preposterous and thoroughly anachronistic.“281

Auch in seiner Erweiterung um die Absurditätsbezichtigung u.a. Fück’scher Behauptungen bleibt der Vorwurf allerdings hinsichtlich eines Beschuldigten anonym. 276 IRWIN, Robert: For Lust of Knowing: The Orientalists and their Enemies. London 2007, 2. 277 IRWIN, Robert: Memoirs of a Dervish: Sufis, Mystics and the Sixties. London 2011, xi: „Over the decades my memories – my dreams – of the sixties coalesced into a kind of demon that lurked inside me. But I have found the writing of Memoirs of a Dervish to be a kind of exorcism.“ 278 Irwin, Robert. URL: http://www.crusaderstudies.org.uk/resources/historians/profiles/ irwin/index.html (Stand 13.01.2012); JAKEMAN, Jane: The Books Interview: Robert Irwin – No sympathy for the devil: Robert Irwin – cult novelist, Arabic scholar, exwizard and ace Roller-blader – meets Jane Jakeman. In: The Independent 10 April 1999.

URL:

http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/the-books-interview-

robert-irwin-no-sympathy-for-the-devil-1086250.html# (Stand 13.01.2012). 279 Irwin: Memoirs of a Dervish, 79. 280 Irwin: For Lust of Knowing, 2. 281 Ebd., 6.

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Im Gegenteil beruft sich Irwin allerorten auf die „Arabischen Studien“ und macht im Widerspruch von These und Zitat die Unverzichtbarkeit Fücks für die Darstellung der Geschichte der Orientalistik wohl am deutlichsten. Mit seinem breiten historischen und geographischen Fokus ist Irwin die einzige Alternative zu Fück und gleichzeitig nur seine Fortführung. Zum Schluss ist auf eine Parallelität des hier nachgezeichneten orientalistischen Diskurses in den Religionswissenschaften hinzuweisen. Auch dort führt die historische Faktizität der ursprünglichen Verortung in der Theologischen Fakultät häufig zu einer „Skepsis“, die sich in der „Vorliebe“ äußert, die eigene Geschichte „als einen Prozeß der ‚Emanzipierung‘“ durch die allmähliche Befreiung von theologischer „Vormundschaft“ zu verstehen. Den norwegischen Religionswissenschaftler Sigurd Hjelde veranlasst die Beobachtung dieser „Skepsis“ zu einer harmonisierten Form des anachronistischen Vorwurfs. Es scheint ihm „nicht ganz gerecht“, den „theologischen Anteil an der Genese“ der Religionswissenschaften „einseitig in ein negatives Licht zu stellen“. Und er fragt, ob nicht „einige Worte der Anerkennung – oder gar des Dankes – am Platze“ seien.282 Am Ende spricht er sich für die Bemühung um „Kooperationsmöglichkeiten“283 aus und diagnostiziert in seinen historischen Analysen eine „Geschmackssache“284, die wohl auch für die Entscheidung zwischen Fück, Said und Polaschegg beansprucht werden muss. Hier aber entscheidender ist die Parallelität selbst. Sie zeigt, dass Fück hinsichtlich seiner Reinheitsthese weder singulär noch originell ist, dass die Frage der Bedeutung der Theologie keine speziell orientalistische ist. Sie stellt sich unabhängig von Fück, unabhängig auch vom Nationalsozialismus, abhängig aber von einem Wirklichkeitsverständnis, das im Hinblick auf die Orientalistik und die dortige Ubiquität Fücks die Theologie als Wissenschaft innerhalb des universitären Kanons zumeist bestreitet. 3.2.4 Zusammenfassung Aufnahmebereich Der Aufnahmebereich, den es auf dem Weg zur Analyse des historischen Wandels zusammenfassend zu beschreiben gilt, wird maßgeblich durch einen Diskurs geprägt, der in der Nachfolge Johann Fücks und seiner „Arabischen Studien“ geführt wird. Dieser Diskurs beinhaltet hinsichtlich seiner Charakterisierung der Orientalistik des 18. Jahrhunderts die Behauptung einer Fesselung der Disziplin durch theologische Interessen und die Martyrisierung Johann Jacob Reiskes als eines deut282 Vgl. HJELDE, Sigurd: Die Geburt der Religionswissenschaften aus dem Geist der Protestantischen Theologie. In: Graf, Friedrich Wilhelm/ Voigt, Friedmann [Hg.]: Religion(en) deuten: Transformationen der Religionsforschung. Berlin/ New York 2010, 9-28 (hier: 10). 283 Ebd., 28. 284 Ebd., 25.

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schen Helden, der die frühe „Reinheit“ der Orientalistik vor ihrer praktischen Befreiung im 19. Jahrhundert theoretisch durchgesetzt habe. Neben dem dominanten Diskurs wird der Aufnahmebereich auch durch die Thesen Edward Saids beschrieben, nach denen sich die Orientalistik als Funktionär imperialer Interessen präsentiert. Und zuletzt umfasst er die Vorstellung einer positiven Bedeutung der Theologie für die Entwicklung der Orientalistik, die mit den historischen Grundlagen der Disziplin argumentiert, auf das fehlende staatliche Interesse an ihrer Förderung und den Beginn der Auseinandersetzung im Rahmen bibelphilologischer Fragestellungen verweist. Insgesamt betrachtet diese letzte, maßgeblich von Andrea Polaschegg vertretene Sicht die Orientalistik im Gegensatz zu den konkurrierenden Vorstellungen Fücks und Saids nicht aus der ex-post-Perspektive des 19. oder 20. Jahrhunderts, sondern untersucht die Disziplin in der Chronologie ihrer Entwicklung. Indem sie dem „Verunreinigungsdiskurs“ sowohl implizit als auch explizit einen Anachronismus unterstellt und Said die Beschränkung auf die Kolonialmächte vorwirft, deutet sie an, dass sich bereits innerhalb des Aufnahmebereichs Transformationen ereignen bzw. verschiedene Transformationstypen285 ablesen lassen. Als ein erster Transformationstyp kann zum Beispiel die Ausblendung286 bestimmt werden, auf der die Thesen Saids gründen. Sie ist durch den Verzicht auf die Analyse deutscher Entwicklungen ebenso charakterisiert wie durch die Konzentration auf die Behauptung der eigenen These. An der Grenze von Ausblendung und Ignoranz287 bewegt sich der Diskurs in der Nachfolge Fücks. Indem er den historischen Ort der „Arabischen Studien“ und ihres Autors gänzlich vernachlässigt, wird aus einem Professor des Dritten Reiches einer der prägenden Orientalisten des 20. Jahrhunderts, auf den sich die Orientalistik ganz unproblematisch berufen kann. Und auch in Bezug der drei für den Aufnahmebereich beschriebenen Vorstellungen aufeinander werden Transformationstypen sichtbar. So ist die Pointe von Saids „Orientalism“ eine grundsätzliche Umdeutung der Geschichte der Orientalistik. Die Umdeutung stellt sich dabei als eine Kreative Zerstörung288 aller Geschichtsschreibungen dar, die unabhängig von der postkolonialen Kritik die prinzipielle 285 Vgl. zu diesen Bergemann [u.a.]: Transformation, 47-56. 286 Fokussierung/ Ausblendung: „Transformation, bei der das Interesse des Transformationsagenten auf ein bestimmtes Objekt konzentriert ist, während andere Gegenstände oder Sachverhalte im Umkreis dieses Objekts vernachlässigt oder ausgeblendet werden.“ 287 Ignoranz: „Transformation, die Tatsachen oder Sachverhalte nicht beachtet. Dies kann entweder den bewussten Verzicht auf eine Auseinandersetzung oder auch die (unbewusste) Unfähigkeit meinen, etwas zur Kenntnis zu nehmen.“ 288 Kreative Zerstörung: „Transformation, bei der die bewusste Zerstörung von Elementen aus dem Referenzbereich die notwendige Voraussetzung für die Schöpfung von Neuem ist.“

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Wissenschaftlichkeit der Disziplin gegen ihre vermeintlich hegemonialen Prämissen behaupten. Der Transformationstyp der Negation289, der durch die Zurückweisung eines Objekts, das in der negativen Bezugnahme aber stets präsent bleibt, charakterisiert ist, zeigt sich besonders deutlich in der Auseinandersetzung Andrea Polascheggs mit Sabine Mangold, verweist allerdings insgesamt auf das Verhältnis zwischen den Thesen Fücks und den Vertretern des anachronistischen Vorwurfs. Nach der Feststellung der ideologischen Inspiration der „Arabischen Studien“ deuten die verschiedenen Transformationstypen, die innerhalb des Aufnahmebereiches sichtbar werden, Ansätze für eine historische Kritik der unterschiedlichen Vorstellungen an. Diese Kritik verlangt eine eingehende Analyse des Referenzbereichs und also des Objekts der Vorstellungen. Es sei allerdings erinnert, dass Kritik wenn überhaupt sekundär, nicht aber das Ziel der Untersuchungen ist. Vielmehr entspricht es der Absicht dieses Kapitels, den historischen Wandel zu beschreiben und seine Bedeutung für die Orientalistik des 18. Jahrhunderts ernst zu nehmen.

3.3 R EFERENZBEREICH : D IE 18. J AHRHUNDERT

DEUTSCHE

O RIENTALISTIK

IM

Nachdem der bisherige Fokus vorrangig auf der Geschichtsschreibung des 20. und 21. Jahrhunderts lag, soll sich nun dem 18. Jahrhundert zugewendet und der Versuch einer Rekonstruktion der Anfänge der Orientalistik290 unternommen werden. Dieser Versuch unterliegt der Gefahr, selbst transformativ zu sein, indem er mittels einer „Verbindung von Fragmenten oder auch nur Indizien“ erfolgt und die „Wiederherstellung eines verlorenen oder nur fragmentarisch erhaltenen Ganzen“ beab289 Negation: „Transformatorisches Verfahren der aktiven und expliziten Ausgrenzung. Das Objekt wird zurückgewiesen, bleibt aber gerade in der negativen Bezugnahme stets präsent bzw. wird dadurch erst konstruiert. Im Unterschied zur Ignoranz ist das Verhältnis ein demonstrativ ablehnendes.“ 290 Zum Begriff vgl. MANGOLD, Sabine: Anmerkungen zur deutschen Orientalistik im frühen 19. Jahrhundert und ihrem Orientbild. In: Goer, Charis/ Hofmann, Michaelis [Hg.]: Der Deutschen Morgenland: Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München 2008, 223-241 (hier: 223f.): „Was genau darunter [unter dem Begriff Orientalistik] zu verstehen ist, unterliegt einem historischen Wandel und variiert von Sprecher zu Sprecher. Hinzu kommt, dass das 19. Jahrhundert zwar die Bezeichnung Orientalist, nicht aber die Orientalistik kannte. Der früheste Beleg […] stammt aus dem Jahre 1889, wo er in einem Berufungsverfahren für den Leipziger Lehrstuhl für orientalische Sprachen benutzt wurde. Statt von Orientalistik sprach man im 19. Jahrhundert von der ‚Kunde des Morgenlandes‘, den ‚Orientalistischen Studien‘, den ‚Morgenländischen Wissenschaften‘ oder der ‚Orientalischen Philologie‘.“

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sichtigt. Dem Risiko, „Authentizität“ zu behaupten und die „interpretative Dimension“ zu vernachlässigen,291 kann nur durch „Selbstreflexivität“ und ein methodisch kontrolliertes bzw. kontrollierbares Vorgehen begegnet werden, das mit der „Überholbarkeit und Historizität des eigenen Wissens“ rechnet. Zur Objektivierung des Transformationsprozesses ist es indes unumgänglich, sich selbst nicht als Transformationsagenten zu beobachten. Dies kann erst aus einer späteren wissenschaftshistorischen Perspektive geschehen.292 Der Referenzbereich soll anhand der Geschichte der Vergabepraxis orientalistischer Lehraufträge an den vier, im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation größten Universitäten des 18. Jahrhunderts dargestellt werden. Mit einer jährlichen Frequenz von 600 bis 1000 Studenten waren dies die Universitäten Leipzig und Jena sowie die beiden „Reformneugründungen“ Halle und Göttingen.293 Die Darstellung wird sich auf den Zeitraum von der Einrichtung orientalistischer Professuren bis hin zu ihrer Ausbildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränken. Ihr vorangestellt wird ein kurzer Abriss über die ersten Anfänge der Orientalistik. Den Schlusspunkt der analytischen Beschreibung wird in Berücksichtigung einer wesentlichen Vorstellung des Aufnahmebereiches eine Auseinandersetzung mit Johann Jacob Reiske, dem sogenannten „Begründer der Orientalistik“294 in Deutschland, bilden. 3.3.1 Zu den Anfängen der Orientalistik Den Beginn der Institutionalisierung der akademischen Orientalistik markiert 1311/1312 das Konzil von Vienne, das mit seinem sogenannten Sprachenkanon295 die Errichtung von Lehrstühlen für das Hebräische, Arabische und Chaldäische an der Kurie und den Universitäten von Paris, Oxford, Bologna und Salamanca beschloss. Zur Begründung heißt es im Konzilstext:

291 Auch die Rekonstruktion ist ein Transformationstyp – vgl. zu diesem Bergemann [u.a]: Transformation, 52. 292 Vgl. Böhme: Einladung zur Transformation, 16.18. Die Transformationstheorie unterscheidet die transformative Rekonstruktion von der „wissenschaftlichen Rekonstruktion“ – vgl. ebd., 18 [Herv. i.O.]. 293 SCHINDLING, Anton: Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung. In: Hammerstein, Notker [Hg.]: Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, 9-19 (hier:13). 294 Vgl. u.a. EBERT, Hans-Georg/ HANSTEIN, Thoralf [Hg.]: Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung: Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert. Leipzig 2005. 295 Vgl. z.B. Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 156.

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„Inter sollicitudines nostris humeris

„Unter den Sorgen, die auf unseren

incumbentes perpeti cura revolvimus,

Schultern lasten, ist es vor allem folgen-

ut errantes in viam veritatis inducere,

de, die uns unablässig umtreibt: Wie

ipsosque lucrifacere Deo sua nobis

schaffen wir es, die Irrenden auf den

cooperante gratia valeamus, hoc est

Weg der Wahrheit zu führen und sie mit

quod profecto desideranter exquiri-

dem Beistand seiner Gnade für Gott zu

mus, ad id nostrae mentis sedulo

gewinnen? Das ist es, wonach wir in der

destinamus affectum ac circa illud

Tat sehnsüchtig verlangen, darauf richten

diligenti studio et studiosa diligentia

wir voll Eifer unseren leidenschaftlichen

vigilamus.“

Sinn, dem gilt in sorgfältigem Eifer und eifriger

Sorgfalt

unsere

Wachsam-

296

keit.“

Um „die Irrenden auf den Weg zur Wahrheit zu führen“ sei die „Verkündigung des Evangeliums in alle Welt“ notwendig. Kein Zweifel aber könne daran bestehen, „daß Gottes Wort umsonst aus dem Mund hervorgeht und ohne Erfolg zurückkehrt, wenn es auf Ohren trifft, welche die Sprache des Predigers nicht verstehen“. Dieser Erkenntnis gemäß wurde für die einzurichtenden Lehrstühle bestimmt: ipsorum

„An jedem dieser Orte werden Katholi-

teneantur viri catholici sufficientem

ken mit hinreichender Kenntnis des

habentes

„[I]n

quolibet

locorum

et

Hebräischen, Arabischen und Aramäi-

Chaldaeae linguarum notitiam, duo

schen beschäftigt, und zwar zwei Fach-

videlicet uniuscuiusque linguae periti,

leute für jede einzelne Sprache. Sie lei-

qui scholas regant inibi, et libros de

ten die dortigen Schulen, übersetzen

linguis ipsis in latinum fideliter trans-

Bücher zuverlässig aus diesen Sprachen

ferentes, alios linguas ipsas sollicite

ins Lateinische, lehren andere engagiert

doceant earumque peritiam studiosa in

diese Sprachen und vermitteln ihnen

illos

ut

ihre Kenntnis in einem gelehrten Unter-

instructi et edocti sufficienter in linguis

richt, so daß sie, hinreichend in diesen

huiusmodi fructum speratum possint

Sprachen unterrichtet und ausgebildet,

Deo auctore producere, fidem pro-

mit Gottes Gnade die erhoffte Frucht

Hebraicae,

instructione

Arabicae

transfundant,

296 KONZIL VON VIENNE 1311-1312: Dekret 24: Studium der orientalischen Sprachen. In: Wohlmuth, Josef [Hg.]: Dekrete der ökumenischen Konzilien: Band 2: Konzilien des Mittelalters: Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (15121517): Im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth. Paderborn [u.a] 2000, 379f.

82 | F REMDE V ERGANGENHEIT pugnaturi salubriter in ipsos populos

hervorbringen können und so den

infideles.“

Glauben unter den ungläubigen Völkern zu deren Heil ausbreiten.“

Ziel des Sprachenkanons war es, dem göttlichen Willen der Verkündigung des Evangeliums als missionarischem Weg durch Übersetzungen und die sprachliche Ausbildung von Missionaren und ihr Wirken unter den „Ungläubigen“ zu entsprechen. Die Institutionalisierung der Orientalistik, wie sie das Konzil von Vienne beschloss, fand ihre praktische Verwirklichung erst im 16. Jahrhundert und also mehr als zweihundert Jahre nach dem Sprachenkanon.297 Das erste Land, das einen orientalistischen Lehrstuhl errichtete, war Frankreich. Im Jahre 1538 wurde hier Guillaume Postel (1510-1581) als „Mathematicorum et peregrinarum linguarum regius interpres“ an das neugegründete „Collège de France“ berufen, an dem er Griechisch, Arabisch und Hebräisch unterrichtete.298 Am Ende des 16. Jahrhunderts institutionalisierte sich die Orientalistik in den Niederlanden.299 1599 begründete die Universität Leiden einen Lehrstuhl für Arabisch, auf den im Jahre 1613 Thomas Erpenius (1584-1624) berufen wurde. Erpenius verfasste eine „Grammatica Arabica“ (1613), die noch 150 Jahre nach ihrem Erscheinen unverzichtbar war.300 Sein Nachfolger wurde 1625 Jacob Golius (1596-1667), der mit dem „Lexicon Arabico-Latinum“ (1653) wie sein früherer Lehrer Erpenius ein Standardwerk der 297 Nach Bobzin sei die fehlende historische Wirkung des Sprachenkanons auf „finanzielle[] Gründe“ und den „Mangel an geeigneten Lehrern“ zurückzuführen. Er urteilt: „Seine eigentliche Bedeutung lag, rückblickend betrachtet, eher im Symbolischen: in ihm hatte die Kirche ihr grundsätzliches Einverständnis zum Studium orientalischer Sprachen zu erkennen gegeben, und in Zeiten, in denen die Berechtigung dazu angezweifelt oder gar angegriffen wurde, konnte man auf diesen Beschluß rekurrieren“ (Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 157). Robert Irwin indes hält fest: „In fact, as far as the study and teaching of Arabic was concerned, its decree was a dead letter“ (Irwin: For Lust of Knowing, 48). 298 BENZIN, Nicolas: Postel, Guillaume. In: BBKL XXXI: Ergänzungen XVIII (2010), 1079-1087 (hier: 1080). 299 Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 158f.167f.170.163f. 300 Erpenius’ Grammatik bildete z.B. die Grundlage für Johann David Michaelis’ „Arabische Grammatik“ aus dem Jahre 1771 (vgl. dazu Kap. 5.1.1). Robert Irwin versucht mit Hilfe einer Art arabistischer Sukzesssionskette die anhaltende Bedeutung der Grammatik nachzuweisen: „Erpenius’s grammar was reworked by Silvestre de Sacy in the early nineteenth century, then revised by the Norwegian Karl Caspari in 1848, and Caspari was revised in 1849 by William Wright as A Grammar of the Arabic Language, which remains a standard work to this day“ (Irwin: For Lust of Knowing, 103 [Herv. i.O.]).

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Arabistik veröffentlichte. Neben und aufgrund ihrer bedeutenden Professoren besaß die Universität Leiden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die wichtigste Sammlung orientalischer Handschriften.301 Auch die Universität Oxford zeichnete sich durch eine umfangreiche orientalische Bibliothek aus. Ein Lehrstuhl für die arabische Sprache bestand hier vertreten durch Edward Pococke (1604-1691) seit 1636.302 Mit dem 16. Jahrhundert wurden die ersten orientalistischen Lehraufträge auch in Deutschland vergeben,303 wenngleich die nennenswerten Anfänge der Disziplin erst im späten 17. Jahrhundert liegen. Im Vergleich mit Frankreich, England und den Niederlanden fehlte es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation an einer entsprechenden Förderung der orientalischen Studien. Ein kurzer Blick auf die Umstände der Errichtung und die weitere Geschichte der Vergabe der Lehrstühle in den anderen europäischen Staaten mag dies verdeutlichen. Guillaume Postel hatte 1535/36 und vor seinem Lehrauftrag am „Collège de France“ an einer ersten diplomatischen Mission an den Hof Sultan Suleimans in Konstantinopel teilgenommen, in diesem Zusammenhang das Arabische gelernt und eine Kollektion von Handschriften304 erworben.305 Hintergrund seiner Aussendung waren außenpolitische Überlegungen Franz I. von Frankreich (1515-1547). In seinem Kampf gegen Karl V. hatte er 1536 mit Suleiman dem Prächtigen (15201566) einen Vertrag geschlossen, der den Untertanen beider Reiche gegenseitige Freizügigkeit im Personenverkehr und Handel einräumte und den französischen König zu eigener Gerichtsbarkeit auf osmanischem Territorium berechtigte.306 Ed301 Nach Johann Fücks Urteil machten die „reichen Bücherschätze“ der Bibliothek Leiden „zum Mekka aller abendländischen Arabisten“ (Fück: Die Arabischen Studien [1955], 81). 302 Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 164.159. Die erste Professur für Arabistik in England war allerdings schon fünf Jahre zuvor an der Universität Cambridge vergeben worden (ebd., 159). 303 Nach Sabine Mangold wurden die ersten Professuren in Tübingen (1533), Greifswald (1545) und Königsberg (1554) vergeben (Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 117 [Anm. 563]). 304 Zur Geschichte dieser Handschriften vgl. Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 163. 305 Benzin: Guillaume Postel, 1080. 306 Vgl. MAJOROS, Ferenc/ RILL, Bernd: Das Osmanische Reich: Die Geschichte einer Großmacht: 1300-1922. Hamburg 2011, 56-60. Zu dem „erste[n] französischosmanische[n] Freundschaftsvertrag“ bemerken die Autoren einschränkend: „Er ist jedoch weder dem Inhalt des Textes nach – der keine Bündnisklausel enthält – noch der Form nach präzise: Denn die Unterzeichnung einer Urkunde 1536 ist historisch nicht belegt. Fest steht nur, daß ein Entwurf gleich nach der Rückkehr Suleimans aus dem Perserkrieg vorlag“ (ebd., 58).

84 | F REMDE V ERGANGENHEIT

ward Pococke, der erste Professor für die arabische Sprache in Oxford, war vor seiner Berufung sechs Jahre (1630-1635) Kaplan der „Levant Company“ in Aleppo, wo sich seine Bemühungen wesentlich auf die Verbesserung seiner arabischen Sprachkenntnisse und die Sammlung arabischer Handschriften richteten.307 Und auch Jacob Golius308 ermöglichten die politischen Beziehungen seines Landes, das neben militärpolitischen massive Handelsinteressen in der Levante verfolgte,309 längere Aufenthalte im arabischsprachigen Raum. 1622 reiste er mit dem niederländischen Gesandten nach Marokko, wo er sein Studium der arabischen Sprache fortsetzte und arabische Handschriften erwarb.310 1625 bekam er Gelegenheit zu weiteren Reisen nach Konstantinopel und Aleppo. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Frankreich, England und die Niederlande staatspolitische Interessen im Orient verfolgten, zu diesem Zwecke unter anderem Gesandtschaften in Konstantinopel unterhielten311 und die entstehende Orientalistik beförderten. Auch wenn, wie Hartmut Bobzin urteilt, ein OrientAufenthalt für Orientalisten „bis weit in das 19. Jh. hinein […] eher die Ausnahme“ bildete,312 so ist doch auffällig, dass die bedeutenden Gelehrten aus den Anfangsjahren der Disziplin mit Ausnahme von Erpenius Orient-Reisende waren. Die deutsche Präsenz im Orient hingegen war weder staatspolitisch motiviert noch real. In 307 TOOMER, G.J.: Eastern Wisedome and Learning: The Study of Arabic in SeventeenthCentury England. Oxford 1996, 116-126. Später hielt sich Pococke noch für einige Jahre in Konstantinopel auf (1637-1640), vgl. BOBZIN, Hartmut: Pococke, Edward. In: RGG4 (2008), 1416. Nachdem sich der englische Handel mit der Levante seit den frühen 1570ern entwickelt hatte, war die „Levant Company“ 1581 als Handelsgesellschaft gegründet worden (MARSHALL, P.J.: The English in Asia to 1700. In: Louis, William Roger/ Canny, Nicholas/ Low, Alaine [Hg.]: The Oxford History of the British Empire: Volume I: The Origins of Empire: British Overseas Enterprise to the Close of the Seventeenth Century. Oxford 1998, 264-285 [hier: 267f.]). 308 SLEE, Jacob Cornelis van: Golius, Jacob. In: ADB 9 (1879), 343. 309 Vgl. GRÄF, Holger Th.: „Erbfeind der Christenheit“ oder potentieller Bündnispartner? Das Osmanenreich im europäischen Mächtesystem des 16. und 17. Jahrhunderts – gegenwartspolitisch betrachtet. In: Kurz, Marlene u.a. [Hg.]: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie: Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung: Wien, 22.-25. September 2004. Wien/ München 2005, 37-51 (hier: 47). 310 Die Niederlande unterhielten seit 1610 diplomatische Beziehungen zu Marokko, vgl. SCHMIDT, Jan: Johannes Heyman (1667-1737): His Manuscript Collection and the Dutch Community of Izmir. In: Imber, Colin u.a. [Hg.]: Frontiers of Ottoman Studies: Volume II. London 2005, 75-89 (hier: 75f.). 311 Gräf: „Erbfeind der Christenheit“, 44-49. 312 Bobzin: Geschichte der arabischen Philologie, 166.

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der nachfolgenden Rekonstruktion der Geschichte der Vergabepraxis orientalistischer Lehraufträge an den vier größten deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert werden sprachbegeisterte Professoren begegnen, deren Orient-Reise einzig im Rahmen eines Studierstuben-Tourismus stattfand und der Form nach nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein armchair travelling war. 3.3.2 Zur Einrichtung und Ausbildung orientalistischer Ordinariate 3.3.2.1 Universität Jena Fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1558 vergab die Universität Jena 1573 erstmals eine Professur für orientalische Sprachen. Berufen wurde der frühere Prediger und Doktor der Theologie Johannes Avenarius (1516-1590), der den Lehrstuhl bis 1574 innehatte.313 1583 lehrte Christoph Hammer (1550-1597) die orientalischen Sprachen an der Philosophischen Fakultät, nachdem er zunächst als Professor der Theologie gewirkt hatte.314 Für das 17. Jahrhundert ist an der Universität Jena keine orientalistische Professur nachweisbar, während sich im 18. Jahrhundert eine relativ kontinuierliche Vergabepraxis etablierte. Mit dem Jahr 1701 hielt Johann Reinhard Rus (1679-1738) Vorlesungen über die orientalischen Sprachen, wurde 1713 zunächst außerordentlicher, 1715 ordentlicher Professor der Orientalia und wechselte 1733 an die Theologische Fakultät, wo er die Sprachen bis zu seinem Tod im Jahr 1738 nebenbei lehrte.315 Mit und nach Rus hatten Christian Stock (1672-1733)316 und Leonhard Hoffmann (?-1737)317 einen orientalistischen Lehrauftrag, bevor 1769 und nach einer größeren Unterbrechung Johann Heinrich Bohn (?-1772) die Professur erhielt. Bohn hatte vor seiner Berufung nach Jena zunächst 313 GÜNTHER, Johannes: Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena seit 1558 bis 1858. Eine Festgabe zur dreihundertjährigen Säcularfeier der Universität am 15., 16. und 17. August 1858. Jena 1858. Vgl. dagegen Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 117. Nach ihrer Angabe erhielt die Universität Jena erst im Jahr 1597 ein orientalistisches Ordinariat. 314 Günther: Lebensskizzen, 15. Günther bezeichnet Hammer als „große[n] Kenner der lateinischen, griechischen, hebräischen, chaldäischen, syrischen und äthiopischen Sprache“. 315 Ebd., 190f. 316 Ebd., 191. Stock, der bereits seit 1717 als Professor der Philosophie in Jena wirkte, erhielt 1733 die Professur für orientalische Sprachen. Günther verweist auf seine „ausgezeichnete[n] Sprachkenntnisse“ im Deutschen, Lateinischen, Griechischen, Hebräischen, Chaldäischen, Samaritanischen, Arabischen, Persischen und Äthiopischen. 317 Ebd., 195. Hoffmann wurde 1732 außerordentlicher, 1734 ordentlicher Professor der morgenländischen Sprachen.

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als Professor der hebräischen Sprache am Gymnasium zu Erfurt gewirkt, war sodann Professor der Philosophie an der Universität Erfurt, später der Theologie.318 Es lässt sich nicht ermitteln, wie Bohn und seine Vorgänger ihren Lehrstuhl führten oder welche Aufgaben der Professur für orientalische Sprachen an der Universität Jena bis ins zweite Drittel des 18. Jahrhunderts oblagen. Eindeutig gehörte sie der Philosophischen Fakultät an, wobei ihre Inhaber, über die insgesamt sehr wenig bekannt ist, zumeist eine theologische Herkunft oder Zukunft besaßen. Grundsätzlich änderte sich an alledem im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nichts. Und dennoch ist in der Berufungsgeschichte seit Bohn eine gewisse Zäsur auszumachen, insofern die Professur in den kommenden Jahrzehnten ausschließlich von Schülern Johann David Michaelis’ bekleidet wurde. Von 1772 bis 1774 war Johann Ernst Faber (1745-1774) Professor der orientalischen Sprachen in Jena, nachdem er zuvor eine gleiche Professur in Kiel (17701772) innehatte. Faber hatte in Göttingen Theologie studiert und 1768 den Doktor der Philosophie erhalten. Er war unter anderem Verfasser einer arabischen Grammatik und Chrestomathie und starb im Alter von 29 Jahren. Im Gegensatz zu seinen Nachfolgern ist über Faber sehr wenig bekannt.319 Nach seinem Studium vor allem der älteren Sprachen in Göttingen wurde 1775 Johann Gottfried Eichhorn (17521827) auf die orientalistische Professur in Jena berufen, wo er Vorlesungen über die morgenländischen Sprachen und die Exegese des Alten und Neuen Testaments hielt.320 Eichhorns Bedeutung als Orientalist verdankt sich maßgeblich seinem 18teiligen „Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur“321, das seit 1777 erschien. Mit ihr gab er eine Sammlung verschiedener Aufsätze von vornehm318 Ebd., 205. 319 Ebd., 207. REDSLOB, Gustav Moritz: Faber, Johann Ernst. In: ADB 6 (1877), 495f. Redslob urteilt: „Ein bedeutender Orientalist auf dem Gebiete des Hebräischen, des Talmudischen und Rabbinischen und des Arabischen, hat er in der kurzen Zeit seines Lebens […] viel Gelehrsamkeit und Scharfsinn bekundet und als Schriftsteller und Universitätsgelehrter großen Einfluß erlangt“. 320 Günther: Lebensskizzen, 207f. Vgl. auch HEIDEMANN, Stefan: Zwischen Theologie und Philologie: Der Paradigmenwechsel in der Jenaer Orientalistik: 1770 bis 1850. In: Der Islam 84 (2008), 140-184 (hier: 145). Nach Heidemanns Angaben beinhaltete das Lehrangebot Eichhorns „neben dem Alten Testament Hebräisch, Syrisch und vor allem Arabisch“. Anm.: Zu einer kürzeren Version des Artikels Heidemanns vgl. HEIDEMANN, Stefan: Der Paradigmenwechsel in der Jenaer Orientalistik in der Zeit der literarischen Klassik. In: Goer, Charis/ Hofmann, Michaelis [Hg.]: Der Deutschen Morgenland: Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München 2008, 243-257. 321 EICHHORN, Johann Gottfried: Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur. Leipzig 1777-1786.

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lich exegetischer Relevanz heraus. In der ersten Ausgabe z.B. liest man „J.G. Eichhorn’s Bemerkungen über den Text des Propheten Jeremias“ und „O.G. Tychsen’s verschiedene Lese Arten aus Raschi’s Kommentar zu einigen Büchern der hebr. Bibel gesammelt“. Neben diesen Aufsätzen und ihrem stark alttestamentlichen Fokus aber finden sich auch „D.J.B. Köhler’s Nachrichten von einigen Arabischen Schriftstellern“. Ganz im Sinne dieses Nebeneinanders von bibelwissenschaftlich ausgerichteten Artikeln und Beiträgen zur islamischen Kultur- und semitischen Sprachwissenschaft322 verfolgte Eichhorn mit seinem „Repertorium“ die Absicht, sich „über das ganze biblische und morgenländische Fach, nicht blos über Philologie und Auslegungskunst, sondern auch über Kritik und morgenländische Geschichte aus[zu]breiten“. Er kündigte an, dass „respective langweilige mit allgemein unterhaltenden Aufsätzen abwechseln“ und äußerte den Wunsch „wo möglich, für alle Leser, vom forschenden Kritikus an bis zum blosen Journalleser herab“ zu sorgen. Insgesamt versprach sich Eichhorn mit seiner Zeitschrift zu einer „neue[n] Auferstehung der Wissenschaften“ beizutragen, die zu erwarten wäre, „wenn mehrere Gelehrte mit vereintem Fleiß, aber auch mit allen nöthigen Hülfsmitteln und Kenntnissen ausgerüstet“ die „morgenländische Völker= und Litteraturgeschichte“, die „noch so gut als außerhalb de[r] Gränzen der itzigen Welt und Litteraturkunde“ läge, bearbeiteten. Trotz seiner Offenheit für die „morgenländische Völker= und Litteraturgeschichte“ lässt Eichhorn vermuten, dass er vor allem an den Nutzen der Studien für die biblische Textkritik glaubte. In den Einleitungsworten seines „Repertoriums“ schrieb er: „Kein Gebiet im ungeheuern Reiche der Wissenschaften hat vielleicht so viele öde und schlecht bebaute Plätze als die Region des morgenländischen Litterators. Nicht Mangel an Fleiß und Genie war es, was die Bemühungen unsrer Vorfahren so wenig gedeihen ließ, sondern Vorurtheil und Geschmak ihres Zeitalters. So konnte, zum Beispiel, noch kein Funke von Kritik in den Köpfen der Orientalisten des kaum verflossenen Menschenalters fangen, weil man den hebräischen Text für eine reine Quelle hielt, die nie wildes Wasser getrübt ha323

be“.

Mit der Hoffnung auf einen textkritischen Nutzen der orientalischen Studien deutet sich der entscheidende Paradigmenwechsel an, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts in der Orientalistik vollzog. Nachdem zuvor vornehmlich Vorurteile und Geschmack die Beschäftigung mit dem Orient dominiert hatten, wurde die Orientalistik im 18. Jahrhundert zu einer Wissenschaft, die nicht mehr dem Verteidigungsgedanken oblag und sich einzig durch ihre missionarische Absicht bzw. die Angst 322 Vgl. Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 149. 323 Eichhorn, Johann Gottfried: Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur: Erster Theil. Leipzig 1777, Vorwort.

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vor der osmanischen Bedrohung rechtfertigte, die sich vielmehr ein besseres Verständnis der Bibel ebenso versprechen konnte wie eine „neue Auferstehung der Wissenschaften“. 1788 verließ Eichhorn Jena und folgte einem Ruf nach Göttingen, wo er Johann David Michaelis’ Nachfolger wurde. Auf den Lehrstuhl für orientalische Studien der Universität Jena wurde 1789 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) berufen. Paulus hatte sich dem Studium der orientalischen Sprachen in Göttingen, London und Paris gewidmet, war Verfasser zahlreicher exegetischer Schriften und Herausgeber des dreibändigen „Neuen Repertoriums für Biblische und Morgenländische Litteratur“324, mit dem er den „Plan [seines] Herrn Vorgängers“ fortführte, „nichts triviales“ aufwärmte, „das gelehrte mit dem allgemein nuzbaren“ verband und „für nichts, als für gründliche, warheitliebende Untersuchung, Parthie“ nahm.325 1793 wechselte Paulus von der Philosophischen an die Theologische Fakultät.326 Ähnlich lesen sich die akademischen Lebensläufe von Paulus’ Nachfolgern. Wie Paulus verließen auch sie die Philosophische zugunsten der Theologischen Fakultät. So wurde 1800 Karl David Ilgen (1763-1834) ordentlicher Professor der Theologie, nachdem er zunächst (1794) die Professur für orientalische Sprachen übernommen hatte.327 Und Johann Christian Wilhelm Augusti (1772-1841), der seit 1798 Vorlesungen über orientalische Sprachen hielt und mit dem Jahr 1803 die ordentliche Professur für orientalische Sprachen bekleidete, wirkte von 1807 an als ordentlicher Honorarprofessor ebenfalls an der Theologischen Fakultät.328 Sowohl Illgen als auch Augusti sind nicht durch arabistische Schriften hervorgetreten.329 Im Gegensatz zu ihren Vorgängern und Nachfolgern waren sie keine Schüler Michaelis’. 324 PAULUS, Heinrich Eberhard Gottlob: Neues Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur. Jena 1790-1791. 325 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob: Neues Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur: Erster Theil. Jena 1790, Vorwort. 326 Günther: Lebensskizzen, 213. Vgl. auch Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 150. Nach Heidemanns Angaben hielt Paulus Vorlesungen über das Alte Testament, die hebräische, arabische und syrische Sprache. Auch war er Herausgeber einer kurzen Grammatik des Arabischen. 327 Günther: Lebensskizzen, 215. 328 Ebd., 224. 329 Vgl. Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 151: „Sie [Ilgen und Augusti] waren wissenschaftlich mehr der Theologie als der orientalischen Philologie zugewandt. Hebräisch, Syrisch und Arabischen gehörten zum Pflichtkanon, den sie anbieten mußten. Die Professur für orientalische Sprachen stellte für sie nur eine Station auf dem Weg zu einer ordentlichen Professur in der besser besoldeten Theologischen Fakultät dar.“

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Den umgekehrten Wechsel der Fakultäten unternahm Georg Wilhelm Lorsbach (1752-1816), der 1812 auf die Professur für orientalische Literatur in Jena berufen wurde. Lorsbach hatte auf der Universität Herborn Theologie studiert und sich den älteren Sprachen in Göttingen gewidmet. 1791 wurde er Professor der orientalischen Sprachen an der Akademie Herborn, wo er auch historische und exegetische Vorlesungen hielt, bevor ihm 1793 eine ordentliche Professur für Theologie übertragen wurde.330 Lorsbach war Verfasser einer Zeitschrift, deren erster Band 1791 unter dem Titel „Archiv für die Morgenländische Literatur“ erschien.331 Anders als bei den älteren Magazinen seiner Vorgänger stand der biblische Bezug nicht im Fokus des „Archivs“, das neben Rezensionen zwei Aufsätze zur arabischen Geschichte beinhaltete,332 sondern bildete einen nur gleichberechtigen Teil des Untersuchungsgegenstandes. Ausdrücklich schrieb Lorsbach: „In meinen Aufsätzen werde ich auf die Geschichte der Länder und Völker, der Religion, der Cultur, und auf die Erweiterung der Sprachkunde, zuweilen auch auf die Erklärung der Bibel mit Einschluß der Apocryphen – vorzügliche Rücksicht nehmen.“

333

Der zweite und letzte Band seiner Zeitschrift erschien unter dem erweiterten Titel „Archiv für die Biblische und Morgenländische Literatur“334 und enthielt unter anderem auch die „Beschreibung zweyer Niedersächsischen Bibelhandschriften“. Lorsbach erklärte den Zusatz mit dem Wunsch, „wegen des zweyten Stückes die Vorwürfe zu verhüthen“.335 Über die Art der Vorwürfe kann leider nur spekuliert 330 Günther: Lebensskizzen, 232f. 331 LORSBACH, Georg Wilhelm: Archiv für die Morgenländische Literatur: Erstes Bändchen. Marburg 1791. In den Einleitungsworten des Archivs schreibt Lorsbach zum Zweck seiner Zeitschrift: „Das Studium der Morgenländischen Sprachen, vornehmlich der Syrischen und Arabischen, hat in den letzten Decennien durch die Bemühungen angesehener Gelehrten aus den meisten Europäischen Nationen eine grössere Ausdehnung erhalten, und Deutschland insonderheit zählet jetzt mehr Kenner und Freunde derselben als jemahls vorher. Aber im unermesslichen Gebiete dieser Literatur sind doch noch nicht alle Gegenden hinreichend angebauet, und manche ehedem fleissig angebaute liegen wieder brach und öde, – so daß noch vielen Arbeitern Raum und Gelegenheit genug zu neuen Anlagen übrig bleibt.“ 332 Vgl. ebd.: „Ueber eine missverstandene Stelle in Ibn Chalican“; „Geschichte Hakems, aus Ibn Chalicans Lebensbeschreibungen“. 333 Ebd., Vorrede. 334 LORSBACH, Georg Wilhelm: Archiv für die Biblische und Morgenländische Literatur: Zweytes Bändchen. Marburg 1794. 335 Vgl. ebd., Vorrede: „Um wegen des zweyten Stückes die Vorwürfe zu verhüthen, hat der Titel einen Zusatz erhalten: doch auch ohne den würde es durch S. 5 der Vorrede

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werden. Während aber das Profil von Lorsbachs „Archiv“ andeutet, dass sich die Orientalistik an der Schwelle zum 19. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich über die Sprachausbildung für angehende Pfarrer legitimieren musste, insofern ein biblischer Bezug nicht im Fokus stand, scheinen die Vorwürfe zu belegen, dass diese Neuausrichtung der Orientalistik hin zu ihrer Konzentration auf literatur- und geschichtswissenschaftlichen Studien Diskussionspotential barg. In Anerkennung der Neuausrichtung, wie sie sich mit Lorsbach ankündigte, konstatierte der Dekan der Theologischen Fakultät im Jahr 1816 und nach dem Tod Lorsbachs einen Wandel der Anforderungen an einen Orientalisten, die bei der Neubesetzung der Professur zu berücksichtigen seien: „So viele Universitäten in Teuschland sind, welche alle einen Professorem LL.OO. haben: so schwer fällt es doch, einen Gelehrten ausfindig zu machen, der so ganz zu der hier genannten Lehrstelle paßte; weil man hier, besonders jetzt, nicht bloß eines Lehrers der hebräischen Sprache, der zugleich die ersten Elemente der chaldäischen, syrischen und arabischen Sprache versteht (womit man sich sonst genügte) nöthig hat, sondern theils einen guten […] Exe336

geten des Alten Testamentes, theils einen eigentlichen Orientalisten“.

Die Philosophische Fakultät schloss sich dem Votum der Theologischen Fakultät an und berief 1817 mit Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792-1860)337 den ersten deutschen Orientalisten, der in Paris bei Silvestre de Sacy studiert hatte und sich mit seinen Studien grundsätzlich außerhalb theologischer Fragestellungen bewegte.338

zum ersten Bändchen hinlänglich geschützet seyn, wenn nicht, ob durch meine oder fremde Schuld, die Worte: und durch Bekanntmachung von dahin gehörigen unbekannen Urkunden – ausgelassen wären.“ 336 UAJ, Phil.Fak., Bestand M, Nr. 236, Bl. 42: Schreiben des Dekans der Theologischen Fakultät an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Jena vom 29.4.1816 [zitiert nach: Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 54f.]. 337 Günther: Lebensskizzen, 237f. Kosegarten ist hier allerdings unter dem Namen „Hans Gottfried Ludwig Kosegarten“ verzeichnet. 338 Zur (historiographischen) Bedeutung von Silvestre de Sacy vgl. z.B. Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 154f.: „Innerhalb der Orientalistik markierte die Gründung der École spéciale des langues orientales vivantes in Paris im Jahr 1795 mit ihrem Lehrer Antoine Isaac Silvestre de Sacy (1758-1838) einen Paradigmenwechsel […] Silvestre de Sacy brach der Orientalistik als institutionalisierter Philologie der orientalischen Sprachen die Bahn und löste sie aus der geistigen und zu dieser Zeit vor allem aus der institutionellen Abhängigkeit von den theologischen Studien. Das zukunftsweisende Modell für die neue Orientalistik stellte nun die Philologie des Klassischen Altertums dar, die sich zur gleichen Zeit als Fach eigenen Rechts herausbildete. Die Haupt-

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Nach den Ergebnissen Mangolds war die Zahl seiner Schüler allerdings gering und „umfaßte zudem in erster Linie Theologen, die eine Einführung in das Hebräische benötigten“.339 Kosegarten verfasste eine Vielzahl arabistischer Arbeiten, wobei sich seine Bedeutung vorrangig der Herausgabe orientalischer Originaltexte verdankt. Erstmals in Jena lehrte er Persisch und Sanskrit.340 Mangold sieht in der Berufung Kosegartens auf den Jenaer Lehrstuhl „den entscheidenden Neuanfang“ für die deutsche „Katheter-Orientalistik“ (sic!) und „die entscheidende Zäsur in der Geschichte der deutschen Orientalistik“. In Begründung ihres Urteils schreibt sie: „Denn Kosegarten war nicht nur der erste Universitäts-Orientalist, der die orientalischen Studien zumindest in seiner Forschungstätigkeit von der Theologie abkoppelte. Sondern mit dem ‚älteste[n] Schüler Silvestre de Sacy’s‘ hielt auch die ‚Sacysche Schule empirischer Sprach341

betrachtung und nüchterner Textkritik in Deutschland Einzug.‘“

Gegen Mangold ist kritisch anzumerken, dass ein wesentliches Charakteristikum des sogenannten Neuanfangs seine Reversibilität bzw. Kurzlebigkeit war. Denn nach sieben Jahren verließ Kosegarten den Jenaer Lehrstuhl und folgte 1824 einem Ruf auf die Professur für orientalische Literatur an die Universität Greifswald. Dort widmete er sich vorrangig der Pommerschen Sprach- und Landesgeschichte, während seine arabischen Studien in den Hintergrund traten.342 Die Universität Jena berief indes keinen Nachfolger für Kosegarten. Offenbar genügte das orientalistische Lehrprogramm Andreas Gottlieb Hoffmanns (1796-1864), der seit 1822 eine außerordentliche Professur der Theologie innehatte und als Privatdozent Vorlesungen über die orientalischen Sprachen hielt, den Bedürfnissen der Universität.343 In diesem Sinne bekannte sich die Philosophische Fakultät nach Kosegarten zu dem aufgabe der Orientalistik als Wissenschaft bestand nun in dem Erfassen alter Quellenzeugnisse“. 339 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 126. 340 Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 156. 341 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 127. Mangold zitiert hier Nebes (Orientalistik im Aufbruch, 73), der im Wirken Kosegartens ebenfalls einen „Durchbruch“ sieht: Mit Kosegarten „gelangt nun auch eine Arabistik zum Durchbruch, die sich – gänzlich von theologischen Fragestellungen abgekoppelt – der dringend anstehenden Edition von Texten zuwendet und sich mit deren Inhalt und Sprache unvoreingenommen auseinandersetzt“ (ebd.). 342 Vgl. PYL, Theodor: Kosegarten, Johann Gottfried. In: ADB 16 (1882), 742-745. 343 Günther: Lebensskizzen, 32f. Vgl. auch Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 157; Nebes: Orientalistik im Aufbruch, 76. Hoffmann lehrte Hebräisch, Syrisch, Äthiopisch, Türkisch, Persisch und Sanskrit (Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 183).

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Wunsch nach einem „gründliche[n] und gelehrte[n] Theolog“, um der Nachfrage der Studierenden gerecht werden zu können: „Die auf hisiger Universität Studirenden bedürfen unserem Dafürhalten nach keines Lehrers, der sich einzig und alleine auf die orientalischen Studien beschränkt, wie solche ganz und vollständig zu umfassen, und alle Sprachen des Morgenlandes lehren und vortragen zu können: denn in der Regel wird hier nur die hebräische Sprache zum Verständnis der heiligen Bücher erlernt, selten noch, und nur von ganz Wenigen, die arabische und syrische; nach der chaldäischen, persischen, türkischen, Sanskrit und anderen Sprachen hingegen dürfte wohl viele Decennien bey uns wenig oder keine Nachfrage gewesen seyn. Dafür aber würde unseren Studirenden, auch neben den achtungswürdigen Männern, welche anjetzt die theologische Fakultät bilden, ein solcher Lehrer nützlich seyn, welcher mit der Kenntniß der gewöhnlich betriebenen orientalischen Sprachen, insonderheit der hebräischen, die Kenntniß der theologischen Wissenschaften verbindet, welcher nicht bloß als gelehrter Orientalist, sondern vorzüglich auch als gründlicher und gelehrter Theolog sich durch Schriften und Lehrvorträge öffentliches Ansehen und Zutrauen erworben hat.“

344

Erst im Jahr 1839 erfolgte mit der Berufung Johann Gustav Stickels (1805-1896) die Wiederbesetzung des orientalistischen Lehrstuhls an der Philosophischen Fakultät.345 Wie seine Vorgänger unterrichtete auch Stickel vorrangig Hörer aus der Theologischen Fakultät, oblag – nach seiner Selbstvorstellung – einer „traurige[n] Halbheit zwischen Theologen und Orientalisten“ und blieb so „in beiden ein Stümper“.346 Zur allgemeinen Situation eines Orientalisten in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts notierte er: „Der Orientalist an einer kleinen Universität wird dem Rechnung tragen, daß die Mehrzahl derer, welche er lehren soll, dem christlichen Glauben dienen sollen, er wird 1. glücklich sein, 344 UAJ, Phil.Fak., Bestand M, Nr. 254, Bl. 9-9r.: Denominationsbericht der Philosophischen Fakultät an den Akademischen Senat der Universität Jena, o.D. (1824) [zitiert nach Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 62]. 345 Günther: Lebensskizzen, 35f; Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 158184. 346 STICKEL, Johann Gustav: Mein Ich, Bl. 59r (Anfang Januar 1838) [zitiert nach: Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 164 (Anm. 85)]. Nebes urteilt (Orientalistik im Aufbruch, 79f.): „So bedeutend Stickel für die islamische Numismatik ist, so beteiligt er sich nicht entscheidend an der Entwicklung der philologischen Textkritik innerhalb der Arabistik oder an dem im Zuge der Indogermanisierung aufkommenden Sprachvergleich in der Semitistik. Den Anschluß an die damaligen Entwicklungen in der Orientalistik gelingt Jena wieder mit Karl Vollers (1857-1909), der von 1896 bis zu seinem Tod im Jahre 1909 die Professur für orientalische Philologie innehat“.

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ihnen den orientalischen Teil ihrer Bildung zu geben, dessen sie bedürfen, er muß also bekannt sein mit den Fragen, welche für den Theologen besondere Wichtigkeit haben und bei diesen etwas ausführlicher verweilen, als wenn er nur Orientalisten vor sich hätte. 2. er wird aber auch die theologische Fachbeschränktheit aufzuheben trachten, sie vom weiten Felde des Orientalismus aus, die Enge und Kleinheit des Hebräismus ahnen lassen und das allgemein Humanistische, Philosophische an sie heranbringen.“

347

Zusammenfassung: Die Ausbildung der orientalistischen Professur an der Universität Jena verlief in drei Phasen. Nach ihrer Institutionalisierung im ausgehenden 16. Jahrhundert befand sich die Orientalistik bis zum zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts in einer Frühphase, die vorrangig durch eine diskontinuierliche Vergabepraxis und ein fehlendes Profil des Lehrstuhls charakterisiert ist. Die zweite Phase setzte 1772 mit einer Reihe von Schülern Michaelis’ ein. Beschrieben wird sie neben der Veröffentlichung von Unterrichtsmaterialien vor allem durch die Gründung und Herausgabe von Zeitschriften, deren jeweiliges Programm zeigt, dass die entstehende Disziplin im Kontext der Bibelwissenschaften betrieben wurde, durch den sie gleichsam ihre Legitimierung fand. Im beginnenden 19. Jahrhundert deutete sich eine Neuausrichtung der Orientalistik hin zu einem stärker literaturwissenschaftlichen Fokus an, die ihre Verwirklichung mit der Berufung Kosegartens fand. Sie markiert den Beginn der dritten Phase. Mit Blick auf die Lehrstuhlinhaber wird sie durch die Herausgabe von orientalischen Originaltexten definiert, aber auch durch schärfere Abgrenzungstendenzen von der Theologischen Fakultät, die nunmehr in einer „Fachbeschränktheit“ hinsichtlich ihres orientalistischen Interesses wahrgenommen wurde. Für die dritte Phase ebenso charakteristisch wie für ihre Vorläufer ist, dass die Hörer orientalistischer Vorlesungen vornehmlich Theologen waren, woraus sich als ein weiteres Merkmal die insgesamt ambivalente Position der Universität und ihrer Fakultäten in Berufungsentscheidungen ergibt. Die Entwicklung der Disziplin einerseits, die Hörerinteressen andererseits begründeten einen Konflikt, in dem die Theologische Fakultät den Vorwurf einer „Fachbeschränktheit“ anerkannte, als sie sich für die Berufung eines „eigentlichen Orientalisten“ aussprach, während die Philosophische Fakultät nach einem „gründlichen und gelehrten Theologen“ verlangte, einen Konflikt, der mit Kosegarten zugunsten der Orientalistik, mit Hoffmann zugunsten der Hörer-Nachfrage entschieden wurde und letztlich jene „Halbheit“ bezeugte, die für einen aufstrebenden Orientalisten nicht mehr denn „traurig“ war.

347 Stickel: Mein Ich, Bl. 131r-v (9. September 1848) [zitiert nach: Heidemann: Zwischen Theologie und Philologie, 164 (Anm. 87)].

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3.3.2.2 Universität Leipzig Nach ihrer Gründung im Jahre 1409 vergab die Universität Leipzig die Professur für orientalische Sprachen seit dem 17. Jahrhundert. Der erste Lehrstuhlinhaber war vermutlich Johann Benedikt Carpzov (1639-1699). Carpzov wurde 1669 Professor der orientalischen Sprachen, 1684 Professor der Theologie und 1679 Pfarrer an der Thomaskirche.348 In den Jahren 1681-1689 wurden die orientalischen Sprachen durch den außerordentlichen Professor der Theologie und ordentlichen Professor der orientalischen Sprachen August Pfeiffer (1640-1698) gelehrt. Pfeiffer war nach den Angaben Holger Preißlers, auf dessen Forschungsergebnisse hier maßgeblich zurückgegriffen wird,349 der in Leipzig „erste Gelehrte, der selbst orientalische Handschriften gesammelt hatte und sich bei seinen Studien mangels entsprechender Drucke auf sie stützen konnte“. Auch publizierte Pfeiffer u.a. eine „Introductio in Orientem“ (1671).350 Nach einer mehrjährigen Lücke vergab die Universität Leipzig ihre orientalistische Professur erst wieder im Jahr 1692. In den Jahren 1692-1698 lehrte Johann David Schieferdecker (1672-1698) die orientalischen Sprachen. Schieferdecker publizierte insbesondere für Lehrzwecke im Bereich des Arabischen und Türkischen und wurde 1698 Professor der Theologie am Gymnasium Weißenfels.351 Nach ihm und im kurzen Zeitraum der Jahre 1698-1699 war Gabriel Groddeck (1672-1709) Professor Literaturae Talmudicae et Linguarum Orientalium extraordinarius. Nach Preißler besaß er „ein besonderes Interesse am Arabischen, das er aber in seinen Publikationen noch nicht zum Tragen bringen konnte“. Im Jahr wurde Groddeck Professor philosophiae primae et practicae und Professor Orientalium Linguarum in Danzig.352 1699 wurde Christian Ludovici (1663-1732) zum außerordentlichen Professor für morgenländische Sprachen in Leipzig ernannt. Ludovici hatte orientalische Sprachen, Philosophie, Geschichte, Geographie und Theologie in Leipzig studiert und publizierte vorrangig zu theologischen Themen. Allerdings plante er die 348 PREISSLER, Holger: Orientalische Studien in Leipzig vor Reiske. In: Ebert, Hans Georg/ Hanstein, Thoralf [Hg.]: Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung: Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert. Leipzig 2005, 19-43 (hier: 25f.). 349 Vgl. Anm. 348 sowie PREISSLER, Holger: Arabistik in Leipzig (vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts). In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-MarxUniversität Leipzig: Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche: Reihe 28 (1979): H.1, 87-105; PREISSLER, Holger/ Kinitz, Daniel: Arabistik. In: Hehl, Ulrich von/ John, Uwe, Rudersdorf, Manfred [Hg.]: Geschichte der Universität Leipzig: 1409-2009: Bd. 4: Fakultäten, Institute, Zentrale Einrichtungen: 1. Halbband. Leipzig 2009, 415-438. 350 Preißler: Orientalische Studien, 26. 351 Ebd., 28f. 352 Ebd., 29.

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Veröffentlichung eines größeren Koranprojekts, das u.a. den arabischen Text des Korans und eine lateinische Übersetzung sowie ein Wörterbuch und eine Konkordanz umfassen sollte und heute nur noch teilweise handschriftlich vorhanden ist.353 1707 wurde Johann Gottlieb Pfeiffer (gest. 1740) außerordentlicher, 1723 ordentlicher Professor für Theologie und orientalische Sprachen. Er gab vermutlich vorrangig Hebräischunterricht für Theologiestudierende.354 Neben der Professur vergab die Universität Leipzig auch den Titel „Öffentlicher Lektor für orientalische Sprachen“. Als ein solcher wirkte seit 1727 der Begründer der islamischen Numismatik, Georg Jakob Kehr (1672-1740).355 Parallel zu Kehr unterrichtete seit 1724 Johann Christian Clodius (1676-1745) die arabische Sprache. Clodius, der den ersten (außerordentlichen) Lehrstuhl für arabische Sprache an einer deutschen Universität überhaupt innehatte,356 konkurrierte mit Kehr, dessen Vorlesungen über die arabische Sprache er untersagt wissen wollte, damit ihm „die ohnehin nicht allzu häufigen auditores“ nicht entzogen und er „gäntzlich crepiren“ würde.357 1729 veröffentlichte er eine „Theoria et praxis linguae arabicae“, die u.a. einen grammatischen Abriss und eine Abhandlung über den Nutzen des Arabischen für die Erläuterung der Bibel umfasste.358 In Ansehung ihrer publizistischen Tätigkeit kann Preißlers Behauptung, dass mit Kehr und Clodius „ein neuer Typus des in Orientalia gebildeten Gelehrten“ erschien,359 zugestimmt werden.

353 Ebd., 29-31. 354 Ebd., 31. 355 Preißler: Orientalische Studien, 33-36. Für den Titel des Lektors verweist Preißler auf Akten des Universitätsarchivs (vgl. ebd., Anm. 118). Vgl. auch SCHULZE, Johann Daniel: Abriß einer Geschichte der Leipziger Universität im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts nebst Rückblicken auf die frühern Zeiten. Leipzig 1802, 103. 356 Vgl. Döring, Detlef: Anfänge der modernen Wissenschaften: Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform: 1650-1830/31. In: Geschichte der Universität Leipzig: 1409-2009: Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit: 14091830/31. Leipzig 2009, 516-771 (hier: 752). 357 Vgl. Clodius in seinem „Memorial an den ChurFürsten d. d. 26. April 1728“ [zitiert nach: Schulze: Abriß einer Geschichte der Leipziger Universität, 82]. 358 Vgl. Preißler: Orientalische Studien, 38f. Vgl. auch Preißler: Arabistik, 88. 359 Preißler: Orientalische Studien, 32: „Mit ihnen erscheint im akademischen Leben ein neuer Typus des in Orientalia gebildeten Gelehrten. Auch wenn sie beide Theologie studiert und sich keineswegs vollständig von ihr getrennt hatten, waren sie doch in ihren Äußerungen vor allem Philologen und zudem, auch bedingt durch ihre schwierigen Lebensumstände, publizistisch tätig. Sie bereiteten damit den Boden für weitere Entwicklungen der orientalischen Studien in Leipzig, die über Reiske zu Fleischer führen sollte.“

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Clodius’ Nachfolger wurde 1748 Johann Jacob Reiske.360 Allerdings hielt Reiske weder Vorlesungen im Arabischen,361 noch schuf er Unterrichtsmaterialien. Seine Bedeutung für die Entwicklung der Orientalistik, der sich gesondert zu widmen sein wird, liegt folglich nicht in seiner universitären Wirksamkeit. Sie stellte keine Zäsur für die orientalistische Professur an der Universität Leipzig dar, wie auch Preißler, ungeachtet der Tatsache, dass er Reiske als „Stolz der arabischen wie griechischen Gelehrsamkeit des 18. Jh.“362 und „Meteor“ über „ersten dilettantischen Versuchen“363 vorstellt, einräumt.364 Nach Reiske wurde die Orientalistik in Leipzig „weitgehend wieder zum Metier der Theologen“.365 1762 wurde Johann August Dathe (1731-1791) zum außerordentlichen Professor der morgenländischen Sprachen berufen. 1809 erhielt Gottlieb Immanuel Dindorf (1755-1812) die ordentliche Professur der morgenländischen Sprachen. Weder Dathe noch Dindorf publizierten im Bereich der Arabistik.366 1813 wurde Ernst Friedrich Karl Rosenmüller (1768-1835) ordentlicher Professor für orientalische Sprachen an der Theologischen Fakultät. In seinem umfangreichen Werk widmete sich Rosenmüller vorrangig der biblischen Kritik und Exegese, der auch seine orientalistischen Schriften dienten. Er verfasste ein „Arabisches Elementar- und Lesebuch“, das eine arabische Grammatik und Chrestomathie ent-

360 Vgl. REISKE, Johann Jacob: D. Johann Jacob Reiskens von ihm selbst aufgesetzte Lebensbeschreibung. Leipzig 1783, 45. 361 Vgl. Reiske: Lebensbeschreibung, 45f. 362 Preißler: Orientalische Studien, 19. 363 Preißler: Arabistik, 88. 364 Preißler: Orientalische Studien, 43: „Als Reiske nach dem Tod von Clodius 1746 nach Leipzig kam, versuchte er, die durch seine unmittelbaren Vorgänger, Kehr und Clodius, eingeschlagenen Wege fortzusetzen, stieß jedoch bald an die bestehenden, keineswegs nur persönlich begründbaren Grenzen der Möglichkeiten und Bedürfnisse orientalischer Studien an der sächsischen Universität, die sich bis in die dreißiger und vierziger Jahre des folgenden Jahrhunderts kaum verändern sollten, obgleich durch ihn und andere die zunehmende Abnabelung der orientalischen Philologie von theologischen Einflüssen und Bindungen und gleichzeitig die wachsende fachliche Differenzierung und Spezialisierung vorbereitet wurden.“ Vgl. auch Döring: Anfänge der modernen Wissenschaften, 752: „Eine von ihm [Reiske] erwünschte akademische Karriere hatte er nach seiner Rückkehr aus Holland in Leipzig nicht einschlagen können. Das ist ganz sicher kein Ruhmesblatt für die Universität, ist aber nicht so monokausal zu erklären, wie es mitunter zu lesen ist.“ 365 Döring: Anfänge der modernen Wissenschaften, 753. 366 Preißler: Arabistik, 91.

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hielt und war darüber hinaus Herausgeber und Kommentator verschiedener arabischer Schriften.367 Nach dem Tod Rosenmüllers erhielt Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888) die Professur für orientalische Sprachen. Nicht zuletzt aufgrund seiner sehr langen Amtszeit, die von 1836-1888 währte und damit mehr als fünf Jahrzehnte überdauerte, markiert Fleischers Wirken eine Zäsur innerhalb der Geschichte der Professur. Nach einem Studium der Theologie und der orientalischen Sprachen in Leipzig, studierte Fleischer die orientalischen Sprachen in Paris und wurde damit der erste Leipziger Lehrstuhlinhaber, der seine Ausbildung von Silvestre de Sacy erworben hatte. Er war Mitbegründer der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ sowie Mitherausgeber der „Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“. Darüber hinaus verfasste er u.a. mit seinen „Beiträgen zur arabischen Sprachkunde“ eine Vielzahl von Detailstudien, schrieb allerdings weder eine Grammatik noch ein Lexikon.368 In Fleischers Wirken spiegelt sich die Umbruchsituation, in die die Orientalistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet. Denn in den ersten Jahren seines Amtes lehrte Fleischer die orientalischen Sprachen an der Theologischen Fakultät, wo er auch Einführungen in die Bibelexegese las. Erst 1840 übertrug ihm die Philosophische Fakultät die Professur. Interessant ist im Zusammenhang mit der Berufung Fleischers, dass von Seiten der Theologischen Fakultät bemerkt wurde, „daß die übrigen orientalischen Sprachen, nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften, ihren besonderen Mann verlangen“ würden, „der lediglich zur philosophischen Facultät gehöre“, während für das Hebräische durch die Theologen gesorgt sei.369 Folglich war es die Theologische Fakultät, die die einstige Verbindung von Hebraistik und Orientalistik zumindest theoretisch löste, wobei sie einen Anspruch auf die Hebraistik erhob, gleichzeitig aber keinerlei Anspruch auf die Orientalistik geltend machte. Zusammenfassung: Die Frühphase der orientalistischen Professur an der Universität Leipzig lässt sich auf den Zeitraum von ihrer Einrichtung im 17. Jahrhundert bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts eingrenzen. Welche Sprachen die Professur umfasste, ist unklar, wobei anzunehmen ist, dass sie der Ausbildung in den biblischen Sprachen diente.

367 Vgl. Preißler: Arabistik, 91; SIEGFRIED, C.: Rosenmüller, Ernst Friedrich Karl. In: ADB 29 (1889), 215-217. 368 Vgl. Preißler: Arabistik, 91-97. 369 Sächsisches Hauptstaatsarchiv: Ministerium für Volksbildung 10210/9: Schreiben des Professors D. Hermann zu Leipzig, die Besetzung der vorgenannten Professur betr.: Hermann an den sächsischen Kultusminister v. 21.9.1835: Bl. 158 [zitiert nach: Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 153].

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In der zweiten Phase, die durch Kehr, Clodius und Reiske beschrieben wird, erweiterte sich der Kanon der zu lehrenden orientalischen Sprachen fest um das Arabische, während die Zahl der spezifisch orientalistischen Publikationen wuchs. Bemerkenswert für diese zweite Phase der Professur ist, dass sie nach ihren vielversprechenden Anfängen, mit Dathe und Dindorf wieder in die erste Phase zurückzufallen drohte. Ein neues universitäres Interesse am Arabischen ist mit der Professur Rosenmüllers nachweisbar. Sie markiert den Beginn der dritten Phase der Ausbildung der orientalistischen Professur, in der das Arabische nunmehr endgültig zum Kanon der zu unterrichtenden Sprachen gehörte, und nach Unterrichtsmaterialien auch selbständige Studien zur Arabistik entstanden. Das Arabische wurde zwar grundsätzlich im Rahmen der Bibelwissenschaften betrieben, verließ selbige aber sukzessive – wenn auch nicht unumstritten. 3.3.2.3 Universität Halle Auf Veranlassung des reformierten Berliner Kurfürsten Friedrich III. und in Abgrenzung zu den orthodoxen Universitäten Leipzig und Wittenberg entstand mit der Universität Halle im Jahr 1694 auf kurbrandenburgischen Territorien eine Universität, die die bisherige Vorrangstellung der Theologischen Fakultät zugunsten der Jurisprudenz aufhob. Ihr gemäßigtes Konzept verwirklichte sich im Postulat der libertas philosophandi, der Studierfreiheit der Lernenden, in der Hinwendung zur Praxis und der Verwendung des Deutschen als akademische Unterrichtssprache. Befördert wurde die Neuausrichtung der Universität durch August Hermann Francke (16631727) und das Reformprogramm des Pietismus.370 Die praxis pietatis und die Forderung nach einem vertieften Studium der Bibel war es auch, die entscheidenden Einfluss auf die Vergabepraxis orientalistischer Lehraufträge an der Universität Halle hatte, für deren Darstellung grundsätzlich auf den Aufsatz „Die Orientalistik an der Universität Halle (1694-1937)“371 von Manfred Fleischhammer zurückgegriffen werden kann. Sie vollzog sich zunächst innerhalb des „Collegii Orientalis Theologici“372, einem wissenschaftlichen Institut zur 370 Schindling: Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung, 15f.; WOLGAST, Eike: Universität. In: TRE 34 (2002), 354-380 (hier: 364f.). 371 FLEISCHHAMMER, Manfred: Die Orientalistik an der Universität Halle (1694-1937): Eine Skizze. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der M. Luther Universität HalleWittenberg: Ges.-Sprachwiss. R. VII/4 (1958), 877-884. 372 PODCZECK, Otto: Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus: Das Collegium Orientale theologicum A. H. Franckes. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der M. Luther Universität Halle-Wittenberg: Ges.-Sprachwiss. R. VII/5 (1958), 1059-1074; vgl. auch GOLTZ, Hermann: Das Collegium Orientale Theologicum August Hermann

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Förderung der biblischen, vorrangig alttestamentlichen Exegese. Die Einrichtung des Instituts im Jahr 1702, das unter der Oberaufsicht der Theologischen Fakultät stand, ging auf Francke zurück. Zur Verbesserung der exegetischen Ausbildung und Vertiefung des biblischen Studiums forderte Francke die sichere Beherrschung des Hebräischen und Griechischen und Kenntnisse in mindestens einer weiteren orientalischen Sprache. Ob Francke mit dem Collegium missionarische Absichten verfolgte, ist unklar.373 Eindeutig indes ist, dass das Institut nicht als Missionsanstalt diente, wenngleich der Wunsch zu seiner missionarischen Ausrichtung ausdrücklich geäußert wurde. So kritisierte Hiob Ludolf den Namen des Collegiums, der Erwartungen wecken würde, denen es nicht nachkäme: „Dieweil aber daßelbe [Collegium Orientale Theologicum] vornehmlich und primariò auf das studium Theologicum et omnes partes Theologiae gerichtet ist, die linguae Orientales, und die übrigen Philosophica und Philologica aber, als accessoria und nur secundariò tractiret werden, wie aus dem ganzen contextu des Werks zu sehen, so würde auch der titul unmaßgeblich dahin zu richten seyn, daß es hieße: Collegium Theologicum, mit zuziehung der orientalischen Sprachen, auch Philosophischen und Philologischen Wißenschaften, soviel darzu von nöthen.“

Ludolf schlug vor, den Zweck des Collegiums auf die Evangelisation des Orients auszurichten, um die „wahre“ Kirche unter den orientalischen Völkern zu verkünden, alldieweil dann auch der Titel „Collegium Orientale Theologicum“ angemessen wäre.374

Franckes oder: Was aus der Utopie vom freyen campus zur Ehre Gottes in Halle werden kann. In: Sames, Arno [Hg.]: 500 Jahre Theologie in Wittenberg und Halle 1502 bis 2002: Beiträge aus der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg zum Universitätsjubiläum 2002. Leipzig 2003, 93-128. 373 Podczeck äußert kritisch: „Das Coll. Or. war nicht als Missionsschule gedacht […] Auch hat es im Laufe seines Bestehens nie eine Tätigkeit ausgeübt, die der Arbeit einer Missionsschule […] vergleichbar wäre. Gegen die Argumentation, alle von Francke öffentlich bekannten Ziele des Coll. Or. seien nur als Tarnung für seine ‚wahren‘ (Missions-)Absichten gemeint gewesen, läßt sich freilich nur wenig einwenden. Denn damit wird der Versuch unternommen, einem vor rund zweihundertfünfzig Jahren lebenden Menschen seine wahren Absichten aus dem Herzen zu lesen […] Wer das kann, braucht seine Arbeiten allerdings nicht verbindlich auf das vorhandene Quellenmaterial zu gründen“ (Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus, 1073). 374 LUDOLF, Hiob: Unmaßgebliche Erinnerungen bey dem Project des Collegii Orientalis Theologici Hallensis. In: AFrSt., H 39, Bl. 50-63 (hier: 50v.) [zitiert nach: Podczeck: Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus, 1063].

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Dass sich der missionarische Gedanke auch unabhängig vom Collegium verwirklichen konnte, zeigt sich im Wirken eines seiner Mitglieder. Im Jahr 1728 gründete Johann Heinrich Callenberg (1694-1760) zum Zweck der Mission von Juden und Muslimen das „Institutum Judaicum“. Insgesamt wurden ca. 20 Missionare nach Europa und Asien gesandt, bevor das Institut ab 1791 und nach seiner Vereinigung mit den Franckeschen Stiftungen der Unterstützung der in Halle studierenden Juden diente.375 Die Ausführung der Ideen Franckes übernahm maßgeblich Johann Heinrich Michaelis (1668-1738), der seit 1699 als Nachfolger Franckes die außerordentliche Professur für morgenländische Sprachen an der Universität Halle bekleidete.376 Michaelis hatte den Plan für das Collegium Orientale Theologicum entworfen, unterrichtete das Hebräische und Griechische und las nach Bedarf das Chaldäische, Syrische, Arabische, Aethiopische und Neugriechische. In seiner wissenschaftlichen Arbeit konzentrierte er sich vorrangig auf die Herausgabe der ersten kritischen Ausgabe des Alten Testaments, die neben der Vertiefung des biblischen Studiums die zweite Aufgabe des Collegiums darstellte. Als im Jahr 1720 die „Biblia hebraica ex aliquot manuscriptis“ erschien, wurde die Arbeit des Collegiums auch infolge finanzieller Schwierigkeiten eingestellt.377 Nach Johann Heinrich Michaelis hatten zwei weitere Mitglieder des Collegiums die Professur für orientalische Sprachen inne. Zunächst war es der schon erwähnte Johann Heinrich Callenberg, der 1727 zum außerordentlichen Professor der orientalischen Philologie berufen wurde und Vorlesungen über die morgenländischen Sprachen, Judaica und Rabbinica hielt und die orientalischen Sprachstudien in Hal-

375 Fleischhammer: Orientalistik an der Universität Halle, 878; LAU, Franz: Callenberg, Johann Heinrich. In: NDB 3 (1957), 96. 376 Dass zunächst Francke das Amt des Professors für orientalische Sprachen bekleidete, ergibt sich eventuell nur aus seinem Wirken für das Collegium. Festgestellt wird es von Goltz (Das Collegium Orientale Theologicum, 93) und Podczeck (Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus, 1071). Fleischhammer nennt J. H. Michaelis nicht als Nachfolger Franckes, sondern beginnt seine Darstellung der Entwicklung der orientalistischen Professur mit Christoph Cellarius (1638-1707), „der als Professor der Beredsamkeit und der Geschichte an der philosophischen Fakultät, wenn auch nicht in seinen Vorlesungen, so doch in einer Anzahl von Publikationen den nach Halle strömenden Studenten Gelegenheit bot, sich mit orientalischen Studien zu befassen“ (Die Orientalistik an der Universität Halle, 877). 377 Podczeck: Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus; Fleischhammer: Die Orientalistik an der Universität Halle, 878; SIEGFRIED, C.: Michaelis, Johann Heinrich. In: ADB 21 (1885), 681-683.

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le durch sein Institutum Judaicum beförderte.378 Nach ihm erhielt 1738 Christian Benedikt Michaelis (1680-1764), Neffe von Johann Heinrich Michaelis und Vater von Johann David Michaelis, die Professur für orientalische Sprachen und das Griechische. Bedeutung erlangte er mit grammatikalischen Studien zum Hebräischen, einer syrischen Grammatik und durch die Mitwirkung an der „Biblia hebraica“ seines Onkels.379 1766 wurde Johan Ludwig Schulze (1734-1799) auf die ordentliche Professur der orientalischen und griechischen Sprachen berufen. Wie bei seinen Vorgängern ist unklar, in welchem Umfang er die Sprachen behandelte. Schulze publizierte keine orientalischen Studien und wechselte 1784 auf eine ordentliche Professur der Theologie.380 Sein Nachfolger auf der Professur für Theologie und morgenländische Sprachen wurde 1799 Johann Severin Vater (1771-1826). Vaters Interesse galt wesentlich den allgemeinen Sprachwissenschaften. Auf dem Gebiet der orientalischen Sprachen verfasste er eine Reihe von Standardwerken, so eine „Hebräische Sprachlehre“ (1797), ein „Hebräisches Lesebuch“ (1799), ein „Handbuch der Hebräischen, Syrischen, Chaldäischen und Arabischen Grammatik“ (1802) und ein „Arabisches, Syrisches und Chaldäisches Lesebuch“ (1802). Darüber hinaus gab er unter dem Titel „A.J. Silvestre de Sacy, Grundsätze der allgemeinen Sprachlehre in einem allgemein süßlichen Vortrage u.s.w.“ die Übersetzung von Silvestre de Sacy’s „Principes de grammaire générale mis à la portée des enfans“ heraus.381 Parallel zu Vater lehrte seit 1788 Friedrich Günther Wahl (1760-1834) die orientalischen Sprachen an der Universität Halle, wobei seine Professur nicht der Theologischen, sondern der Philosophischen Fakultät angehörte. Wahl verfasste ein „Elementarbuch für die arabische Sprache und Literatur“ (1789) und gab eine „Neue arabische Anthologie“ (1791) heraus, in der er bisher ungedruckte Handschriften veröffentlichte. Auch schrieb er eine „Allgemeine Geschichte der morgenländischen Sprachen und Literaturen“ (1784), der er einen sehr weiten Orient-

378 Fleischhammer: Orientalistik an der Universität Halle, 878; Lau: Callenberg, Johann Heinrich, 96. 379 Fleischhammer: Orientalistik an der Universität Halle, 878; SIEGFRIED, C.: Michaelis, Christian Benedict. In: ADB 21 (1885), 676f. 380 Fleischhammer: Die Orientalistik an der Universität Halle, 878f. Neben Schulze erwähnt Fleischhammer den von 1773-1776 als Extraordinarius für Philosophie wirkenden Georg Ludwig Johann Vogel (1742-1776): „Auch er las gleich Schulze Syrisch und Aramäisch, berührte in seinen Werken aber nur Gegenstände des Hebräischen und des AT“ (ebd., 879). 381 Fleischhammer: Die Orientalistik an der Universität Halle, 879; KUHN, Ernst: Vater, Johann Severin. In: ADB 39 (1895), 503-508.

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Begriff zugrunde legte. So berücksichtigte er neben der Levante und Arabien auch Persien, China und Indien.382 In den Jahren 1810-1814 hatte Paul Jakob Bruns die Professur für morgenländische Sprachen an der Philosophischen Fakultät inne und machte sich vorrangig um die alttestamentliche Textkritik verdient.383 Nach einer scheinbar längeren Lücke in der Vergabe wurde die Professur erst im Jahr 1830 wieder vergeben. Für insgesamt 30 Jahre lehrte Emil Rödiger (18011874) die orientalischen Sprachen. Als Schüler des Theologen Heinrich Friedrich Wilhelm Gesenius (1786-1842), der ebenfalls Vorlesungen über die semitischen Sprachen hielt, widmete er sich im Wesentlichen der hebräischen Sprachwissenschaft, syrischen und aramäischen Studien.384 Zusammenfassung: Für die Ausbildung der orientalistischen Professur an der Universität Halle kann im Gegensatz zu Jena und Leipzig kein Phasenmodell beansprucht werden. Ihr Profil scheint im Zeitraum von ihrer Einrichtung bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts weitestgehend unverändert geblieben zu sein. Zwar wurde das Arabische mit Beginn des 18. Jahrhunderts im Rahmen des Collegii Orientalis Theologici zur Vertiefung des alttestamentlichen Studiums, mithin zum Nutzen für die Bibelwissenschaften gelehrt, Unterrichtsmaterialen aber entstanden erst am Ende des 18. Jahrhunderts, Zeitschriften hingegen gar nicht. Insgesamt ist das Profil der Professur äußerst unklar. Weder ist eine Kontinuität in ihrer Vergabe auszumachen, noch sind die Amtszeiten ihrer Inhaber oder etwa eine wachsende Ausrichtung auf die Arabistik festzustellen. Bei aller Unbestimmtheit hinsichtlich der spezifisch orientalistischen Orientierung der Professur ist indes eindeutig, dass sich die Universität Halle durch die Forschungsbemühungen und die außergewöhnlichen Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Hebraistik auszeichnete. Hervorzuheben sind die „Biblia hebraica“ aus dem Jahr 1720, vor allem aber die „Hebräische Grammatik“ und das „Hebräische und chaldäische Handwörterbuch des AT“

382 Fleischhammer: Die Orientalistik an der Universität Halle, 879; SIEGFRIED, C.: Wahl, Samuel Friedrich Günther. In: ADB 40 (1896), 593f. Aufgrund seines „ausgeprägte[n] Interesse[s] an Themen, die über die Grenzen der Theologie hinausreichten“, bezeichnet Mangold Wahl als „Orientalisten des Übergangs von der in theologischen Diensten stehenden Aufklärungsorientalistik zur eigenständigen Orientalischen Philologie“ (Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 122). 383 Fleischhammer: Die Orientalistik an der Universität Halle, 880; SIEGFRIED, C.: Bruns, Paul Jakob. In: ADB 3 (1876), 450-452. 384 Fleischhammer: Die Orientalistik an der Universität Halle, 879-881; SIEGFRIED, C.: Roediger, Emil. In: ADB 29 (1889), 26-30. Zu Gesenius vgl. RÜTERSWÖRDEN, Udo: Wortforschung I. In: TRE 36 (2004), 329-335 (hier: 332).

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von Wilhelm Gesenius, das seine Vorgänger überholte und die Hebraistik auf eine neue Grundlage stellte. 3.3.2.4 Universität Göttingen Nach Halle entstand 1734 mit der Georgia-Augusta auch in Göttingen eine Reformuniversität. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übernahm sie die Rolle als führende deutsche Universität und überholte Halle.385 Die Motive der Gründung der Georgia-Augusta sind unklar. Nach der Darstellung ihrer Geschichte durch Götz von Selle386 ist zu vermuten, dass es weniger wissenschaftliche Motive waren, die den Braunschweig-Lüneburger Kurfürsten und englischen König Georg II. zur Errichtung einer Universität auf eigenem Territorium bewogen, sondern eine Rivalität mit seinem Vetter, König Friedrich Wilhelm I. von Preußen.387 Eine nicht unwesentliche Rolle wird gewiss auch die Konkurrenz zum Wolfenbütteler Nachbarn und der Universität Helmstedt gespielt haben. Für die Entwicklung der Universität wichtiger als die Absichten ihres Namenspatrons war es indes, dass er ihre Geschicke Gerlach Adolph von Münchhausen übertrug, indem er ihn zum Kurator berief.388 Münchhausens Willen gemäß erhielt die Hochschule einen staatsrechtlichhistorischen Schwerpunkt.389 Weder sollte sie der ahistorischen Spekulation Raum geben, noch Männern, die „ein evangelisches Pabstum“ behaupteten oder „die libertatem conscientiae samt der Toleranz als unleidentlich“ ansahen.390 Mit der Ausarbeitung der Statuten der Theologischen Fakultät betraute Münchhausen Jo-

385 Vgl. Schindling: Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung, 13; SMEND, Rudolf: Göttingen, Universität. In: TRE 13 (1984), 558-563 (hier: 559). 386 SELLE, Götz von: Die Georg=August=Universität zu Göttingen: 1737-1937. Göttingen 1937. 387 Selle: Die Georg=August=Universität, 9.13.14: „Ein dynastisches Interesse hat ganz allgemein bei dem Plan der Universitätsgründung gewiß eine große Rolle gespielt. Wenn der verhaßte preußische Vetter in Halle eine Universität unterhielt, die aller Welt Augen auf sich zu ziehen schien, die zudem auch für seine, des Kurfürsten von Braunschweig=Lüneburg, Landeskinder starke Anziehungskraft ausübte, so wird das Gefühl der Rivalität in Georg II. sich ziemlich gewiß auch auf dieses Gebiet erstreckt haben.“ 388 Vgl. ebd., 16: „Wie man nicht weiß, wann der Gedanke zur Gründung zum ersten Male auftaucht, und in wessen Überlegungen, so ist auch nicht nachzuweisen, warum und wann der Hannoversche Geheime Rat Gerlach Adolph Freiherr v. Münchhausen von seinem König mit der Ausarbeitung diesbezüglicher Pläne betraut worden ist.“ 389 Vgl. Schindling: Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung, 16f. 390 Vgl. Selle: Die Georg=August=Universität, 29. Selle zitiert hier Münchhausen.

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hann Lorenz von Mosheim.391 Bestimmt wurde u.a. die Aufhebung des Zensurrechts über die Meinungen anderer Fakultäten, wodurch die Theologische Fakultät ihre Vorrangstellung innerhalb der Universität verlor.392 Eine Besonderheit war, dass das Alte Testament nicht in der Theologischen Fakultät, sondern zusammen mit den Orientalia in der Philosophischen Fakultät gelehrt wurde. Erst seit 1914 besitzt die Georgia-Augusta eine theologische Professur für das Alte Testament.393 Folglich vollzog sich die Ausbildung der orientalistischen Professur in Göttingen ausschließlich in der Philosophischen Fakultät. Nach ihrer Gründung waren an der Universität Göttingen zwei Professoren für die Orientalia zuständig: Andreas Georg Wähner (1693-1762) und Johann David Michaelis (1717-1791). Wähner ist weitgehend in Vergessenheit geraten. In dem Heft „Arabistik und Islamwissenschaft in Göttingen“, das sich als „der bescheidene Versuch“ vorstellt, „über die Geschichte der arabischen und islamischen Studien in Göttingen […] einen kurzen Überblick zu geben“,394 wird er nicht genannt. 1739 zum ordentlichen Professor der orientalischen Sprachen berufen, scheint er sich vorrangig der hebräischen Literatur und Sprache gewidmet zu haben.395 Wie bereits mehrfach erwähnt, war Johann David Michaelis nie Professor der orientalischen Sprachen, wenngleich er sie lehrte. Vielmehr bekleidete er seit 1746 das Amt eines Professors für Philosophie, das er bis zu seinem Tod innehatte.396 Wie aus seiner Antrittsschrift „Von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden“ zu erfahren ist, entsprach es dem Zweck seiner Berufung, Vorlesungen über die morgenländischen Sprachen und die Exegese zu halten.397 In diesem Sinne konzentrierte sich Michaelis nicht auf die sogenannte Weltweisheit, sondern unterrichtete vorrangig das Alte Testament, die hebräische Sprache und zu einem gründ391 Vgl. ebd., 38f. 392 Vgl. zum Inhalt der Statuten ebd., 40f. Nach Selles Ansicht reiche der Schritt, „die theologische Fakultät von vorneherein in ihren Befugnissen“ zu isolieren, „ohne dabei den protestantischen Charakter der Gesamtuniversität in Frage zu stellen“, „an weltgeschichtliche Bedeutung heran“: „Denn in ihm hat der wissenschaftliche Geist Deutschlands erst den Sinn des westphälischen Friedens begriffen“ (ebd.). 393 Vgl. MEYER, J.: Geschichte der Göttinger theologischen Fakultät. In: ZGNKG 42 (1937), 7-107 (hier: 7f.). 394 Organisationskomitee der VII. Kongresses für Arabistik und Islamwissenschaft: Arabistik und Islamwissenschaft in Göttingen, Vorwort. 395 EBEL, Wilhelm: Catalogus Professorum Gottingensium: 1734-1962. Göttingen 1962, 103; SIEGFRIED, C.: Wähner, Andreas Georg. In: ADB 40 (1896), 594. 396 Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 103.121. Michaelis wirkte bereits seit 1745 als Privatdozent für Philosophie und orientalische Sprachen an der Universität Göttingen (ebd., 132). 397 Michaelis: Von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden, 28.

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licheren und erleichternden Verstehen letzterer auch das Arabische, Syrische, Chaldäische und Rabbinische.398 Von den verschiedenen Unterrichtsmaterialien, die er verfasste, sei die „Arabische Grammatik“ genannt, die er 1771 in Verbesserung der Grammatik Thomas Erpenius’ aus dem Jahre 1613 herausgab. Auch gründete Michaelis mit der „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ die in Deutschland erste Zeitschrift, die sich mit Themen der Orientalistik beschäftigte. Das Magazin erschien im Verlauf der Jahre 1771-1785 in 23 Teilen399 und wurde 1786-1793 mit weiteren neun Teilen als „Neue orientalische und exegetische Bibliothek“400 fortgesetzt. Michaelis verfasste alle Ausgaben und ihre Inhalte selbst. Überwiegend enthielt seine Zeitschrift Rezensionen zu Büchern der morgenländischen Philologie und der Exegese (erster Abschnitt).401 Im zweiten Abschnitt gab Michaelis Nachricht von einigen „wichtige[n] Neuigkeiten der Orientalischen und Exegetischen Gelehrsamkeit, von denen kein Buch herausgekommen ist, das recensirt werden könnte“,402 während er sich im dritten Abschnitt „ganz der im engern Verstande so genannten, sich mit Sammlung und Beurtheilung der verschiedenen Lesearten beschäfftigenden Critik, hauptsächlich des Alten, in einem gewissen Fall aber auch des Neuen Testamentes“ widmete.403 398 Ebd., 28-50. 399 Der 24. Teil (1789) enthält ein siebenfaches Register über die 23 vorhergehenden. 400 MICHAELIS, Johann David: Neue orientalische und exegetische Bibliothek. Göttingen 1786-1793. Nach Michaelis’ Tod wurde die Zeitschrift von Thomas Christian Tychsen weitergeführt. / Michaelis erklärte die Fortsetzung des Magazins mit dem erreichten Umfang des Vorgängers und einem neuen Verleger: „Die Orientalische und exegetische Bibliothek ist zu so viel Theilen angewachsen, daß es den jetzigen Lesern beschwerlich und kostbar fällt, sich alle vorige Theile anzuschaffen: dis ist die Ursache um welcher willen ich sie jetzt von vorn mit einem ersten Theil, unter dem Titel, neue Orientalische und exegetische Bibliothek anfange. Auch den Verleger habe ich geändert“ (Michaelis: Neue orientalische und exegetische Bibliothek: Bd. I [1786], Vorrede). 401 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. I (1771), Vorrede (*12): „Im ersten Abschnitt stehen lauter Recensionen. Hier gehet meine Absicht auf Bücher, die zur morgenländischen Philologie gehören, wenn sie auch mit der Bibel nichts zu thun hätten, und darum nenne ich die Bibliothek, Orientalisch: und auf Bücher, die sich mit Erklärung der Bibel beschäftigen, wenn sie auch gar nicht an die morgenländischen Philologie gränzeten, sondern blos das Griechische Neue Testament beträfen, und hierauf gehet der andere Nahme, exegetische Bibliothek.“ 402 Ebd., Vorrede (*18). 403 Ebd., Vorrede (*19). Michaelis’ Absicht war es hierbei „nach und nach Stoff zu einer […] öfter verlangten Einleitung in das Alte Testament zu sammlen, und zugleich der Critik des alten und neuen Testaments einiges aufzubewahren, das sonst verlohren gehen möchte“ (ebd., Vorrede [*1f.]).

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Parallel zu Michaelis und einige Jahre nach Wähner erhielt 1770 Johann Bernhard Koehler (1742-1802) eine außerordentliche Professur für orientalische Sprachen. Das Arabische hatte er bei Reiske gelernt, mit dessen Unterstützung er auch „Abulfedae Tabula Syriae“ (1766) herausgab. Später verfasste Koehler verschiedene Abhandlungen für Eichhorns „Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur“. Neben seinen orientalistischen Forschungen widmete er sich der biblischen Textkritik und Exegese. Nach nur drei Jahren legte er seine Professur nieder.404 In den Jahren 1775-1780 wirkte der ehemalige Michaelis-Schüler Johann Christian Wilhelm Diederichs (1750-1781) als Privatdozent für orientalische Sprachen an der Universität Göttingen. Er beschäftigte sich vorrangig mit dem Studium und Vergleich verschiedener Bibelhandschriften.405 In den Jahren 1788-1827 und nach seinem Weggang aus Jena hatte Johann Gottfried Eichhorn die ordentliche Professur für orientalische Sprachen und bibelexegetische Fragen inne.406 Eine „Grammatik der arabischen Schriftsprache“ (1823) verfasste der Exeget (1788-1834) und frühere Professor der Theologie (1784-1788) Thomas Christian Tychsen (1758-1834).407 1818-1823 wirkte parallel zu Eichhorn und Tychsen auch Eichhorns früherer Schüler Friedrich Wilhelm Karl Umbreit (1795-1860) zunächst als Privatdozent, dann als ordentlicher Professor für orientalische Sprachen. Er widmete sich hauptsächlich dem Studium des Alten Testaments, wobei seine besondere Absicht der Ausbildung künftiger Prediger galt. Nach seiner Göttinger Zeit wurde Umbreit Professor der Philosophie, später der Theologie in Heidelberg.408 Eichhorns Nachfolger wurde 1827 Heinrich August Ewald (1803-1875). 1827 erhielt er die außerordentliche, 1831 die ordentliche Professur für orientalische Sprachen, die er zunächst bis 1837 bekleidete, dann erneut in den Jahren 18481875,409 wobei er den Titel seit 1868 nur noch formal führte. Für seine doppelte Entlassung waren jeweils politische Umstände verantwortlich:

404 Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 122; SIEGFRIED, C.: Köhler, Johann Bernhard. In: ADB 16 (1882), 444f. 405 Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 133; SIEGFRIED, C.: Diederichs, Johann Christian Wilhelm. In: ADB 5 (1877), 119f. 406 Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 105. 407 Ebd., 39. 105. Als Exeget für das Neue und Alte Testament wirkte Tychsen an der Philosophischen Fakultät. Vgl. zu ihm auch – Organisationskomitee der VII. Kongresses für Arabistik und Islamwissenschaft: Arabistik und Islamwissenschaft in Göttingen. 408 Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 137.106; TSCHACKERT, Paul: Umbreit, Friedrich Wilhelm Karl. In: ADB 39 (1895), 273-277. 409 Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 123.107.

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„Da er mit 6 Göttinger Professoren gegen die Aufhebung des hannoverischen Staatsgrundgesetzes protestiert hatte, wurde er mit diesen am 16.12.1837 aus dem Dienste entlassen, aber im Frühjahr 1838 an die Universität Tübingen berufen, wo er zunächst der philosophischen und von 1841 an der theologischen Fakultät angehörte. Als sich 1848 in Hannover ein politischer Umschwung vollzogen hatte, erhielt er die Einladung zur Rückkehr nach Göttingen, der er aus persönlichen Gründen gerne nachkam. Jedoch wurde er 1867 wegen Verweigerung des Huldigungseides an den preußischen König, allerdings unter Belassung seines Gehaltes, abermals entlassen, im Oktober 1868 wurde ihm aus politischen Gründen auch die Venia legendi entzogen.“

410

Im Gegensatz zu seinen berühmten Zeitgenossen Fleischer oder auch Kosegarten hatte Ewald nicht in Paris, sondern in Göttingen studiert. Dennoch war sein Wirken als Orientalist des 19. Jahrhunderts von hoher Bedeutung. Er ist Verfasser einer „Grammatica critica linguae arabicae“411 (1831/1833) und regte die Gründung der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft an, in dessen Göttinger Generalversammlung er im Jahr 1852 beklagte, dass „die erklärung des A.T. noch immer in Deutschland für einen haupttheil der Morgenländischen wissenschaften gehalten wird, so dass jeder der ihr sich widmet auch schon deshalb allein als Orientalist gilt“.412 Bereits Jahre früher hatte Ewald den Anstoß zu der „Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes“ gegeben und ihre erste Ausgabe 1837 mit einem Artikel zum Zustand der orientalischen Studien eröffnet,413 der sich im Vergleich „mit dem noch vor einem halben Jahrhundert in Europa herrschenden“ „ungemein“ verändert habe – und zwar zunächst in seinem äußeren Umfang: „Obgleich damals schon einige Jahrhunderte lang mit Eifer getrieben, hatten sich diese Studien in Europa doch noch nicht weit von der Bibel als ihrem alten Ausgangspuncte entfernt […] ein Orientalist war dazumal in Deutschland schon wer mit dem Hebräischen oder Aramäischen sich abgab; sogar das Arabische wurde vorherrschend nur der Bibel wegen, also einseitig und dürftig erlernt. Jetzt ist in einem halben Jahrhundert geschehen, was früher in drei ganzen nicht erreicht war […] Die früher bekannten Gebiete sind näher untersucht, neue eröffnet und schon durchwandert, andre wenigstens in der Ferne zum ersten Mal entdeckt und für weitere Durchforschungen bestimmt. Es thut sich eine ferne weite Welt auf, die man früher wohl ahnete, aber nicht erkannte, die aber jetzt näher zu erkennen und geistig in Besitz zu

410 KIRFEL, Willibald: Ewald, Georg Heinrich August von. In: NDB 4 (1959), 696f. 411 Zu dieser vgl. Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 148f.96f. 412 EWALD, Heinrich von: Eröffnungsrede der Göttinger Generalversammlung durch den Präsidenten Prof. Dr. von Ewald am 29. Sept. 1852. In: ZDMG 7 (1853), 1-12 (hier: 9). 413 EWALD, Heinrich: Plan dieser Zeitschrift. In: Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 1 (1837), 3-13.

108 | F REMDE V ERGANGENHEIT nehmen die Hülfsmittel wachsen, der Weg gebahnt wird, die Mahnungen dringender und unabweislicher werden.“

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Auch erinnere die heutige „Behandlungsart“ nicht mehr an die damalige, denn „die Gewalt des Irrthums nimmt mächtig in diesen Studien ab, und während sie äusserlich sich rasch verbreiten, gewinnen sie innerlich an Begründung und Gewißheit“. „Ohne dem Eifer und Fleisse der frühern Jahrhunderte ihr gerechtes Lob zu entziehen“, könne man wohl sagen, „jene Zeiten hatten nur als versuchende und vorbereitende ein Verdienst“. „Jetzt haben manche Theile dieser Studien einen festern Grund unter uns erreicht, einen Grund, der weder auf dem wankenden Boden der Vermuthung und Einbildung, noch auf dem hinfälligen Leben eines einzelnen Gelehrten oder den Schicksalen eines besondern Landes ruht, da eine Menge so genauer und sicherer Erkenntnisse, wie wir sie in manchen orientalischen Dingen schon besitzen, sich durch eigne Kraft erhalten und immer weiter ausbreiten muss.“

Zuletzt habe sich auch das Ziel der orientalischen Studien verändert, sei es doch nunmehr „Aufgabe, das ganze Morgenland unsrer Erkenntniss und Bildung anzueignen“, und „nicht mehr einen einzelnen Fleck Asiens“.415 Zur Erläuterung der Absicht der Zeitschrift wies Ewald auf „grosse[n] Nachtheile und Hindernisse“ hin, die auf Deutschland lasteten – „nicht blos in Vergleich mit England und Russland, sondern auch mit Frankreich und Holland, ja mit Italien und den nordischen Reichen!“ Denn: „Welchen äussern Antrieb zu morgenländischen Studien hat […] Deutschland?“ Eine „vielfache Hemmung“ ihres „schnellern Fortschritts“ sah Ewald in der Zerstreuung der Hilfsmittel und der Vereinzelung der Gelehrten.416 In diesem Sinne äußerte er die Hoffnung, dass die Zeitschrift „einen Vereinigungspunct bilden“ möge – „sowol für die morgenländischen Studien, als für deren Beförderer und Freunde unter uns“.417 „[M]öge diese Zeitschrift ein neues Mittel werden, die vielen in Deutschland zerstreuten Kräfte und Bestrebungen zur Förderung morgenländischer Kenntnisse fester zu vereinigen, und zu zeigen, wie diese Wissenschaften unter uns gegenwärtig sich gestalten. Ist doch nirgends eine solche Zeitschrift zweckmässiger als bei anfangenden, sich erst heranbildenden 414 Ebd., 3f. 415 Ebd., 4f. 416 Ebd., 6f. 417 Ebd., 8. Die Zeitschrift soll „eine Niederlage […] für neue Arbeiten und Forschungen“ sein, „dann aber auch auf die überall gewonnenen Fortschritte dieser Studien zurückblicken und sie immer kurz zusammen fassen“ (ebd.).

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Wissenschaften, wo man noch nicht zum Ausbau des Hauses, ja nicht einmal zur Legung eines festen Grundes schreiten kann, will man nicht den grössten Theil des Baues in kurzer Zeit wieder zerstört sehen.“

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„[A]lles Theologische“ wollte Ewald aus der Zeitschrift ausgeschlossen wissen, nicht allerdings das Biblische, da der Anschein, „Theologen aller vorigen Zeiten [hätten] alles hier zu thuende genug gethan“, trüge. Seine eigentlichen Argumente in diesem Zusammenhang aber waren andere: „Indess ist es eben ein unterscheidendes Zeichen der jetzigen morgenländischen Studien in Deutschland, dass das Biblische darin noch eine sehr bedeutende Rolle spielt, während es in London so gut wie in Paris aus mancherlei Ursachen gänzlich entweder vergessen oder mit Absicht vernachlässigt ist: es scheint unthunlich, diesen Unterschied deutscher Gelehrsamkeit und Wissenschaft in der Zeitschrift aufzugeben. Auch bleibt’s doch wahr, die Bibel gehört zum Orient, vom theologischen Wesen ganz abgesehen.“

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Ebenso deutlich, wie Ewald auf die Einseitigkeit der früheren Orientalistik hinwies, konstatierte er ihren Wert auch für die Bibelwissenschaften und beschrieb damit eine Zukunft, in der sich fern von der Alternative theologischer Fesselung und wissenschaftlicher Reinheit eine noch junge Disziplin etablieren konnte. Zusammenfassung: Eine Frühphase der Orientalistik an der Universität Göttingen ist nur schwer zu bestimmen. Die Professur wurde seit ihrer Einrichtung nur von der Philosophischen Fakultät vergeben und umfasste mit ihrer informellen Vertretung durch Michaelis von Anfang an die Lehre der arabischen Sprache zum Nutzen des Hebräischen. Mit seiner „Arabischen Grammatik“, vor allem aber mit seiner „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ schuf Michaelis Hilfsmittel, die für die zweite Phase der Ausbildung des orientalistischen Ordinariats charakteristisch sind. Der eigentliche Lehrstuhlinhaber aber war mit Wähner ein Gelehrter, der sich vorrangig der alttestamentlichen Exegese widmete, scheinbar keine Einführungen in das Arabische las und in diesem Sinne als Vertreter der ersten Phase bezeichnet werden könnte. Sein Nachfolger war mit Koehler bereits ein Orientalist der zweiten, mit Diederichs indes wiederum ein Vertreter eher der ersten Phase. Wie an den anderen Universitäten wurde die zweite Phase von Professoren geprägt, die entweder eher im Bereich der Arabistik oder der Exegese wirkten. Mit Eichhorn und der Professur für orientalische und bibelexegetische Fragen erfuhr die doppelte Ausrichtung des orientalistischen Ordinariats eine strukturelle Festigung. Die Professur

418 Ebd., 12f. 419 Ebd., 9f.

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Ewalds markiert den Beginn der dritten Phase, in der sich der Schwerpunkt der Orientalistik deutlich auf die arabische Sprache und Literatur verlagerte, während exegetische Interessen in den Hintergrund rückten. Deutlicher als an den Universitäten Jena und Leipzig aber blieben sie in Göttingen nicht als Theologie, sondern Philosophie Teilgebiet orientalischer Studien. 3.3.3 Johann Jacob Reiske Mit Johann Jacob Reiske gilt es, sich einem für die Geschichtsschreibung der Orientalistik entscheidenden Gelehrten zu widmen, der ebenso wie sein einstiger Hallenser Banknachbar Johann David Michaelis im formal strengeren Sinne gar kein Orientalist war. Doch spätestens seitdem Johann Fück Reiske in den „Arabischen Studien“ an einen „endscheidenden Wendepunkt“ der Entwicklung der Arabistik zu einer „selbständigen Wissenschaft“ gestellt hat,420 die „Mündigsprechung der arabischen Philologie“ durch die Genialität des sogenannten „ersten namhaften Arabisten, den Deutschland hervorgebracht hat“, bemerkte und seinen „Kampf um die Befreiung der Arabistik aus den Fesseln der Theologie“ skizzierte,421 gereicht Reiske die fehlende universitäre Karriere zum Titel des „verkannte[n] Genie[s]“422 und des eigentlichen „Begründer[s] der Orientalistik“423. Und während die Geschichtsschreibung Reiske zu ihrem messianischen Helden beruft, erklärt sie seinen Banknachbarn zu einem niederträchtigen Gockel. Denn Michaelis, der „kühl berechnende[] Egoist“424 sei es gewesen, der die Berufung des „wahrhaft grosse[n] Philologe[n]“ Reiske zu verhindern „und damit einen Nebenbuhler zu beseitigen“ gewusst habe, „der ihn als Orientalisten tief in den Schatten gestellt hätte“425. Die Zahl der Veröffentlichungen zu Johann Jacob Reiske ist äußerst gering. Häufig wird er bloß erwähnt, wobei sich die meisten Autoren mit der steten Wiederholung und Zitation Fücks begnügen. Bereits einige Jahre vor Fücks vermeintlicher Wiederentdeckung Reiskes426 erschien ein sehr ausführlicher Artikel über ihn

420 Fück: Die Arabischen Studien (1944), 86. 421 Fück: Die Arabischen Studien (1955), 108.124. 422 STROHMAIER, Gotthard: Johann Jacob Reiske über die Aufgaben der Arabistik. In: Reuschel, Wolfgang [Hg.]: Orientalische Philologie und arabische Linguistik. Berlin 1990, 24-27 (hier: 24). 423 Vgl. EBERT, Hans-Georg/ HANSTEIN, Thoralf [Hg.]: Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung: Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert. Leipzig 2005. 424 Fück: Die Arabischen Studien (1955), 119. 425 Smend: Johann David Michaelis (1898), 12. 426 So Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 14.

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in der „Allgemeinen Deutschen Biographie“427. In mehreren Einzeldarstellungen widmet sich der Arabist und Gräzist Gotthard Strohmaier Reiske.428 In seinen zumeist nur sehr kurzen Abhandlungen weist er auf die fehlende Würdigung Reiskes durch eine Monographie hin und vermutet, dass der „Grund dafür […] nicht zuletzt gerade in der Größe des Mannes liegen“ möge, „weil nach ihm die beiden Seiten seines Wirkens, die arabistische und die gräzistische, schwerlich von einem einzigen Autor gleichmäßig gewürdigt werden konnten“.429 Als ebenso wahrscheinlich allerdings mag es nach unzureichenden Arabisch- oder Griechischkenntnissen gelten, dass die lateinische Sprache, in der nahezu alle Schriften Reiskes verfasst sind, bisher eine umfassendere Untersuchung seines Werkes verhindert hat. Die Klage Strohmaiers trifft heute allerdings nur noch bedingt zu. Im Jahr 2005 erschien eine erste Aufsatzsammlung, die sich ausschließlich mit dem Leben und Werk Johann Jacob Reiskes befasst.430 Die folgende Darstellung kann die fehlende Aufarbeitung des Reiske’schen Werkes nicht leisten. Vor dem weiteren Ziel der diskursiven Verortung Michaelis’ will sie einzig Reiskes zweifelhafte historiographische Rolle als „verkanntes Genie“ untersuchen und widmet sich in diesem Zusammenhang vorrangig seinen Lebenserinnerungen und der Auseinandersetzung mit seinem vermeintlichen Rivalen Michaelis. Ihre Absicht ist es, aufzuzeigen, dass sich Reiske zumindest aus der historischen Perspektive nicht zum Protagonisten eines Evangeliums eignet, sondern bestenfalls als ein großer Prophet bezeichnet werden kann. 3.3.3.1 Über den „Märtyrer der arabischen Literatur“ – Johann Jacob Reiskes Lebenserinnerungen „Die Vorsehung hat mich zu einem Kundschafter gemachet. Ein gewaltiger Wind Gottes hat mich auf die arabische Küste verschlagen. Das ist, ein unaufhaltbarer Trieb, den die häufigen Schwierigkeiten noch mehr erhitzeten, hat mich in meinen jüngern Jahren auf die arabische Literatur gelenket. Ich bin in dem Lande gewesen. Ich habe mich so ziemlich darinn umgesehen. Ich bin, ohne Ruhm zu melden, so tief hineingedrungen, daß ich nicht viele Fußstapfen vor mir gefunden. Ich bin endlich wieder heimgekommen. Nun soll ich Rede und Antwort 427 FÖRSTER, Richard: Reiske, Johann Jacob. In: ADB 28 (1889), 129-143. 428 Vgl. neben dem bereits erwähnten Artikel Strohmaier: Johann Jacob Reiske über die Aufgaben der Arabistik – STROHMAIER, Gotthard: Johann Jacob Reiske, ein Orientalist ohne Orientalismus. In: Ebert/ Hanstein [Hg.]: Johann Jacob Reiske, 141-145; STROHMAIER,

Gotthard: Johann Jacob Reiske – Byzantinist und Arabist der Aufklärung. In:

Klio 58,1 (1976), 199-209; STROHMAIER, Gotthard: Johann Jacob Reiske – der Märtyrer der arabischen Literatur. In: Das Altertum 20 (1974), 166-179. 429 Strohmaier: Reiske – Byzantinist, 199. 430 Ebert/ Hanstein [Hg.]: Johann Jacob Reiske.

112 | F REMDE V ERGANGENHEIT geben, wie ich das Land gefunden habe. Ich sage demnach: Arabien ist ein vortreffliches Land. Es wachsen kostbare Früchte darinnen. Aber .... Es ist ein weiter Weg dahin. Man ist darum noch nicht in Jerusalem, wenn man gleich zu Rom ist. Ich rathe es keinem Studenten Arabisch zu lernen. Sie vertändeln damit ihre Zeit, die sie besser anlegen können.“431

Reiske stellte sich selbst als „Märtyrer der arabischen Literatur“432 und „Kundschafter“ Arabiens vor. Zeugnis seiner Lebenserinnerungen gibt zunächst seine von ihm selbst aufgesetzte „Lebensbeschreibung“433 aus dem Jahr 1770, die allerdings erst 13 Jahre später unter der Hand seiner Frau Ernestine Christine Reiske erschien. Nach ihren eigenen Angaben habe sie in der Hoffnung, „daß es dem Leser nicht unangenehm seyn wird, sich die Begebenheiten [ihres] Freundes von ihm selbst erzählen zu lassen“, „fast alles so gelassen, wie es war“ und nur wenige Stellen durch die Streichung „einige[r] zu starke[r] Ausbrüche der Hypochondrie, oder vielmehr der Unzufriedenheit, bey Erinnerung der erlittenen Ungerechtigkeiten“ gekürzt.434 Die Darstellung der „Lebensbeschreibung“ wird durch den „arabischen Lebenslauf“435 ergänzt, den Reiske in dem Aufsatz „Gedanken, wie man der arabischen Literatur aufhelfen könne, und solle“ erzählte. Seine Lebenserinnerungen sollen nachfolgend resümiert werden. Reiske wurde am 25. Dezember 1716 in Zörbig geboren. In den Jahren 1728 bis 1732 besuchte er das Hallenser Waisenhaus436, wo er – „[v]on Kindesbeinen an […] kränklich, traurig, niedergeschlagen, leutescheu, hypochondrisch“ – vielerlei „Unglück“ erlitt.437 Die Leidenserfahrungen der Kindheit und Jugend setzten sich im 431 REISKE, Johann Jacob: Gedanken, wie man der arabischen Literatur aufhelfen könne, und solle. In: Ders.: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, darinnen verschiedene Zusätze und Verbesserungen, nebst einem ausführlichen Register über alle zehn Theile enthalten sind: Eilfter Theil. Leipzig 1757, 148-200 (hier: 153). 432 Reiske: Gedanken, 160; Reiske: Lebensbeschreibung, 11. 433 REISKE, Johann Jacob: D. Johann Jacob Reiskens von ihm selbst aufgesetzte Lebensbeschreibung. Leipzig 1783. 434 Reiske: Lebensbeschreibung, Vorwort. Die Streichungen sind im Text durch Gedankenstriche markiert. 435 Reiske: Gedanken, 154. 436 Hier war Michaelis sein Mitschüler (Reiske: Lebensbeschreibung, 5): „[D]essen [Baumgartens] jüngerer Bruder, Nathanael, der nachmals als Probst zu Berlin gestorben ist, wie auch der noch lebende Herr Hofrath Michaelis zu Göttingen, waren meine Mitschüler. Wir drey saßen gemeinglich in einer Classe beysammen.“ 437 Vor allem habe Reiske unter der Zucht und ihren „kleinlauten, schüchternen“ Wunden gelitten, von denen er sich „nie wieder“ erholen sollte. Ein weiteres „Unglück“ sei es gewesen, dass er in Halle „meistentheils unter Lehrern“ gestanden habe, „die keine

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Studium fort. Seit 1733 besuchte Reiske die Leipziger Universität, studierte allerdings nur „nach [seiner] Fantasie“: „Die Schüchternheit hinterte mich, mein academisches Leben recht nützlich und weislich anzulegen. Ich lebte für mich, studirte nach meiner Fantasie, hörte keine Collegia, hatte keinen Lehrer, keinen Anweiser, keinen Freund, fragte niemanden um Rath; und hätte mir auch jemand guten Rath gegeben, so würde ich ihn doch, aus Einfalt und zugleich auch aus Stolz, verworfen haben. Ich gieng gar nicht den gewöhnlichen Weg; war fleißig und förderte doch nicht. Ich studirte immer drauf los, ohne Ordnung und Endzweck, ohne zu wissen auf was; und ich muß gestehen, der größte Theil derer fünf Jahre, die ich als Student in Leipzig zubrachte, sind für mich verlohren gegangen.“438

In der geschilderten Unordnung und Zweckfreiheit „bemächtigte“ sich seiner „Seele, eine gewisse […] unsägliche und unaufhaltsame Begierde, arabisch zu lernen“.439 Inspiriert durch den Wunsch, „berühmt zu werden, und [sich] insonderheit auf eine nicht gemeine Art hervor zuthun“,440 investierte Reiske fortan sein „äuserst geringe[s] Vermögen“ in arabische Bücher, und war – „wie in allem“, was er je lernte – einzig sein eigener Lehrer. Nachdem er bereits 1736 das meiste von dem, was im Arabischen je gedruckt worden war, gelesen hatte,441 ergriff ihn der Wunsch Literatoren, keine wahren Schulleute waren“ und ihm „einen Ekel an den alten lateinischen Autoren“ verursachten, den er erst im Alter von 40 Jahren überwand, „da es zu späte war, das verwahrloste wieder einzubringen“. Und schließlich hätten ihn die „Betstunden, die [er] vor [sich] halten sahe und hörte, und folglich aus Neugier, aus kindischer Nachahmungssucht, und aus Zwange, mit besuchte“, zu einer Narrheit verführt. „[Z]u ganzen Stunden“ habe Reiske „aus dem Herzen beten“ können, sei ein „Betnarr“ gewesen. „Allein die Hitze verrauchte bald“, er sei ein Naturalist geworden, habe aber den „so weiten Sprunge, von einem Ende bis zum andern, über eine so große Kluft“ „nicht recht“ verkraftet (Reiske: Lebensbeschreibung, 3-8). Ernestine Reiske notierte im Zusammenhang mit dem geschilderten Gemüt ihres Mannes, dass ihm „ein Hang zur Traurigkeit […] angebohren“ war, da ihn seine Mutter im Zustand einer sieben Jahre währenden Schwermütigkeit gebar. Oft auch habe sie ihren Sohn durch ihre „wunderlichen Einfälle gequält “, indem sie ihn Kuren unterzog, „ohne daß ihm etwas fehlte“, so dass er „an seiner Gesundheit Schaden litt“, bald „schlechte Augen, bald ein Uebel am Halse“ bekam: „Auf diese Weise ward ihm sein Leben, schon in den erstern Jahren der sonst frohen Kindheit, elend gemacht“ (Reiske: Lebensbeschreibung, 5f. [Anm.]). 438 Reiske: Lebensbeschreibung, 8f. 439 Ebd., 9. 440 Reiske: Gedanken, 155. 441 Reiske: Lebensbeschreibung, 9f. Vgl. auch ebd., 15: „Im arabischen konnte ich nun weiter in Leipzig nichts mehr thun. Denn von gedruckten arabischen Büchern, hatte ich

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zu einer Reise in die Niederlande, um „die dortigen arabischen Manuscripte zu durchwühlen“.442 Gegen den Widerstand seiner Freunde, gegen den Rat auch seiner eigenen Vernunft, ohne Plan, Mittel, Sprachkenntnisse oder Bekannte verließ Reiske Leipzig und begab sich 1738 „muthig […], mit Herzhaftigkeit des Entschlusses, und mit der Hartnäckigkeit eines steifen Eigensinnes“ auf „[e]ine seltsame, abentheuerliche Reise“ in die Niederlande.443 Mittellos erreichte er Leiden und erfuhr, dass es für „Fremdlinge“ keine Stipendien gäbe, dass darüber hinaus auch der Zugang zur Bibliothek erkauft werden müsse. Einen „nothdürftigen Unterhalt“ konnte er sich mit Korrekturen und Privatunterricht im Lateinischen und Griechischen erarbeiten. Und es war Albert Schultens, der ihm die arabischen Manuskripte verschaffte, um derentwillen er seine Reise unternommen hatte.444 Um 1741, als es „mit [seinen] Sachen so leidlich gut“ ging, geschah Reiske ein „Unfall“, der sein ganzes Leben veränderte. Bisher hatte er sich mit den Korrekturen von Peter Burmanns Arbeiten Geld verdienen können, auch einmal eine Änderung im Text veranlasst, „mit der Burmann, wie er selbst gegen die Drucker geäusert hatte, wohl zufrieden war“. Doch Burmann starb und Reiske nahm sich mit weiteren Veränderungen des zu korrigierenden Textes „aus Unverstande, jugendlicher Hitze und Eitelkeit, gar zu viel heraus“. „Doch wünschte ich itzt selbst, daß ich nicht so naseweiß gewesen wäre. Damals wuste ich noch nicht, daß es eine Ungerechtigkeit […] sey, in das anvertraute Gut eines Verstorbenen hineinzupfuschen; und versucht sey derjenige, der das an meinen Schriften nach meinem Tode thut. Eine schwere Sünde! zwar eine bloße Sünde des Unverstandes und der Thorheit; […] und bald folgte darauf, eine harte und wohlverdiente Strafe. Diese Jugendsünde erregte mir viel Widerwärtigkeiten, und harte Verfolgungen von allen Seiten. Sie stürzte mein Glück“.445

alles gelesen, und von geschriebenen, hatten die hiesigen Bibliotheken wenig, und selbst das wenige war von keiner Wichtigkeit. Allemal konnte es meinen Durst nicht löschen.“ 442 Ebd., 9-11. 443 Ebd., 15f. Vgl. auch Reiske: Gedanken, 157: „Ueberdenke ich itzo meine holländische Reise mit Gelassenheit, so kann ich mich selbst nicht entbrechen, sie ein tollkühnes Unternehmen zu nennen.“ 444 Reiske: Lebensbeschreibung, 21f.: „Ich besuchte Herrn Schultens Collegia; er erwies mir die Liebe, und communicirte mir arabische Manuscripte aus der öffentlichen Bibliothek. Er wuste es wohl, daß ich sie mit nach Hause nahm; doch wollte er das nicht wissen. Es wurde vorgegeben, ich schriebe sie für ihn, in seinem Hause ab“. 445 Ebd., 24f.

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Frühere Freunde und Schüler sagten sich von ihm los, der Verdienst durch Korrekturen fiel größtenteils weg und Reiske sah sich genötigt, seine umfangreiche Bibliothek zu verkaufen. Er gab die Hoffnung, „in Holland fort zu kommen“ auf, wurde seiner Lebensart „überdrüßig, und sehnte [sich] nach etwas bessern und gewissern“. Auf Anraten Schultens, sich „wenigstens nach einer von den drey Hauptfacultäten […] nennen“ zu lassen, da „mit den Sprachen allein nicht […] durch die Welt [zu] kommen“ sei, begann Reiske um 1742 ein Studium der Medizin,446 das er 1746 mit einer Promotion abschloss. Die Doktorwürde erhielt er nach einem „großen Liebesdienst“ Schultens „umsonst“. Reiske hatte „bey jeder Gelegenheit“ „ausposaunt“, dass Schultens Art, „das Arabische zu treiben und zu befördern […] nicht viel fruchten könne“: „In seinen Originationen sey zu viel Spinnengewebe, zu viel willkührliches, schwankendes, leeres, das wenig oder gar keinen Nutzen schaffe. Wolle man dem Arabischen aufhelfen, so müsse man es nicht als Theologe treiben“.447 Schultens hatte von Reiskes Reden gehört und sich an der Medizinischen Fakultät für ihn eingesetzt – um „einen gefährlichen Feind los zu werden“. Mit ebendieser Absicht bestärkte er ihn auch in dem Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren, was Reiske im Juni 1746 tat.448 Wiederum in Leipzig wollte Reiske als „Medicus Practicus“ arbeiten, stellte aber alsgleich fest, dass ihn sein „vom Geräusche, Gewühle und Umgange mit Menschen, abgeneigtes Humeur; [seine] Neigung zur griechischen und arabischen Literatur“ und seine „anbebohrne Aengstlichkeit“ davon abhalten würden.449 Er verdiente sich einen gewissen Lebensunterhalt mit „Privatunterricht, Bücherschreiben, Corrigiren, Uebersetzen aus andern Sprachen ins Deutsche, mit Arbeiten an Journalen“, lebte aber „in einem so kläglichen Mangel, daß [er] manchen Tag nicht wuste, wo [er] Brod hernehmen sollte, [sich] des Hungers zu erwehren“.450 Daran änderte sich auch nichts, als er 1748 zum Professor der arabischen Sprache berufen wurde. Das Amt erbrachte ihm „keinen Pfennig“, denn Reiske las neben „einige[n]

446 Ebd., 25f. Vgl. ebd., 26: „Denn zur Theologie hatte ich keine Neigung, und der Jurisprudenz war ich gram.“ 447 Ebd., 31. 448 Ebd., 30-33. 449 Ebd., 30. An anderer Stelle heißt es (ebd., 42): „Mit der Praxi medica war hier für mich nichts zu thun. Gesellig war ich nicht. Zu den hiesigen Medicis mich zu halten, und ihnen zu famuliren, welches der einzige Weg für einen angehenden Medicum, hier aufzukommen ist, war ich theils zu stolz, theils zu schüchtern. Eben diese, zum Umgange mit Menschen übel aufgelegte Gemüthsart, verhinderte mich auch, mir selbst Kunden zu verschaffen“. 450 Ebd., 43f.

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wenige[n] privatissima, die zu lesen [ihm] niemand hätte wehren können, wenn [er] auch nicht Professor gewesen wäre“, keine Kollegien im Arabischen.451 Ebenfalls 1748 kam es zu einer erneuten Unannehmlichkeit mit Schultens. Reiske verfasste Rezensionen zu zwei Werken seines einstigen Förderers, die „unglücklich“ ausfielen, da er sie als ein „unpartheiischer Recensent“ schrieb, der sich einzig seinem Leser und dessen Forderung nach „eine[r] gründliche[n], und der Wahrheit gemäße[n] Nachricht“ verantwortlich wusste und also Schultens „Lieblingssystem […] verschrie“.452 Schultens antwortete mit Streitschriften, in denen er sein „von Rache, Unversöhnlichkeit, theologischem Hasse, Bitterkeit und Verfolgungssucht glühendes Gemüth“ aufdeckte und sich so sehr „erzürnte […], daß er in ein hitziges Fieber fiel, und starb“. Zwar schadete „seine gar zu bloß gegebne Heftigkeit der Eigenliebe und Rachsucht“ Reiske nicht beruflich, doch erlitt sein Gewissen eine „tödtliche Wunde“.453 „Nie kann ich, ohne reuvolles Nagen, an das Unrecht gedenken, das ich einem um mich verdienten Manne, aus Mangel an Ueberlegung, zugefügt hatte. Einem Manne, der wie ein Vater an mir gehandelt hatte […] Alles, was ich wider Herrn Schultens erinnerte, ist wahr, und wird ewig wahr bleiben; nur hätte es ein anderer sagen sollen, und nicht ich.“454

Im Jahr 1758 ereignete sich „eine große Veränderung“ seiner „Glücksumstände[]“. Reiske wurde zum Rektor der Leipziger Nikolaischule ernannt und erhielt damit ein Amt, das ihm bis zu seinem Tod im Jahr 1774 „das nothdürftige Auskommen“ gab.455 „Gott riß mich, auf eine unerwartete und wunderbare Weise, aus der Angst, und machte mir Luft. Er versetzte mich, aus der schmäligen Dürftigkeit, unter welcher ich bisher geschmachtet hatte, in etwas geräumere Umstände; und frohere Aussichten fiengen nunmehr an, meine für Kummer und Jammer vor der Zeit grau gewordenen und verwelkten Tage zu verjüngen. Gott führte mich, durch einen unverhofften Zufall, und durch viele dunkele Wege in das Amt, das ich nunmehr ins 12te Jahr bekleide; ein Amt, daran ich in meinem Leben vorher nie gedacht hatte. Es war ein Bret, das mir Gott, im Schiffbruche meiner zeitlichen Wohlfahrt, zuwarf. Die Noth zwang mich, es zu ergreifen; sonst wäre ich umgekommen. Ich erkenne

451 Ebd., 45f. 452 Ebd., 46f. 453 Ebd., 47f. 454 Ebd., 48. Ernestine Reiske notierte in diesem Zusammenhang, dass Reiske nicht für Schultens Tod verantwortlich war (ebd. Anm.). 455 Ebd., 76-79.

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hierinne die allmächtige Hand Gottes, die auch vom Tode erretten kann. Sein Lob soll immerdar in meinem Munde seyn.“456

Mit der Schilderung seiner göttlichen Rettung beschloss Reiske die Beschreibung seines bisher geführten Lebens. Des späten Amtes ungeachtet, das ihm zwar den Lebensunterhalt gesichert habe, letztlich aber nicht mehr als eine „bitter[e] Nothwendigkeit“457 war, ist seine Arbeit „keine erbauliche Lektüre“458, sondern die Erzählung eines ambitionierten Gelehrten, der vom Unglück verfolgt nie die Gelegenheit erhielt, sein Potential zu entfalten. Reiske stellte sich als einen „ganz ordinäre[n] Mann“ vor, der „nichts auserordentliches geleistet“, keine großen Taten vollbracht habe, dessen Wille vielmehr immer besser gewesen sei, als das Vermögen.459 Ernestine Reiske bemerkte, dass ihm „das Bücherkaufen oft nothwendiger zu seyn schien, als das Essen“. Für seine ständigen finanziellen Nöte, erklärte sie, sei auch er selbst verantwortlich gewesen. Denn er habe Bücher auf eigene Kosten drucken lassen, die „hernach in einer dunkeln Kammer vermoderte[n]“ und es zu sehr vernachlässigt, „mit Gelehrten, die gel. Zeitungen und Journale besorgten, Bekanntschaft zu unterhalten“.460 In Reiskes Erinnerung war es maßgeblich die Verachtung seines Jahrhunderts, die seine Armut begründete. Mag er sich zuweilen auch selbst sein Brot abgeschnitten461 oder Anlass zu gewissen Streitigkeiten gegeben haben, so scheint es doch die Verfolgungssucht seiner Zeitgenossen gewesen zu sein, die ihm die universitäre Karriere verhinderte und ihn zum Märtyrer der arabischen Literatur machte. Insgesamt urteilte Reiske, sei er im Arabischen zwar „nicht nur fleißig“ gewesen, „sondern förderte auch darinnen glücklich“,462 doch habe der „brennende[] Durst“ nach arabischer Literatur sein Unglück bedeutet. Denn „in einem Jahrhunderte, das ihn nicht brauchen, mithin auch nicht schätzen, und nicht belohnen, noch aufmuntern konnte“, sei er „zu frühzeitig“ gekommen.463 Es ginge ihm nahe, „einen Professorem Linguae Arabicae so weit herunter gebracht zu sehen, dass er anders nichts thun kann, als seine Katala durchpeitschen: weil sich unter jungen Leuten niemand findet, der an der höhern arabischen Literatur oder an 456 Ebd., 76f. 457 Reiske an Michaelis: Leipzig, den 20. December 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel I, 70. 458 Strohmaier: Reiske – Byzantinist und Arabist der Aufklärung, 199. 459 Reiske: Lebensbeschreibung, 1. 460 Ebd., 45.68 (Anm.). 461 Vgl. Reiske: Gedanken, 149-151. 462 Reiske: Lebensbeschreibung, 13. Vgl. auch Reiske: Gedanken, 160: „Der arabischen Sprache aufzuhelfen, habe ich gethan, was in meinem Vermögen stund, ja mehr als ich hätte thun sollen.“ 463 Reiske: Lebensbeschreibung, 11.

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der muhammedanischen Geschichte Geschmack fände“.464 Es sei zu hoffen, dass einmal „glücklichere Zeiten“ kommen werden, „da man die arabische Literatur höher achten, und fleißiger treiben wird, als man itzt thut“. „Ein Geist, mit einer solchen enthusiastischen Liebe zu dieser Sprache dergleichen damals meine jungendliche Seele anfeuerte, der wird gewiß alsdann Wunder thun, wenn große Herzen, oder begüterte Leute, sich dieser itzt verachteten Sprache annehmen werden; wenn jedermann sie treiben; wenn die Mode sie beliebt machen; wenn Vorschub, Beystand, Hülfsmittel und Belohnungen, eine Fahrt begünstigen und beschleunigen werden, die itzt mit widrigen Winden und mit empörten Wellen kämpfen muß.“465

„Freylich“, schrieb Reiske, hätte er „weit mehr leisten können, wenn [sein] Zeitalter [seiner] Art von Studien günstiger gewesen wäre“, wenn er auch nur „mehr Vorschub und Aufmunterung von [seinen] Zeitgenossen gefunden hätte“. Doch zumindest habe er „mehr gethan, als tausend andere, in [seinen] Umständen, gethan haben würden“.466 Die „widrigen Winde“ der „so genannte[n] heilige[n] Philologie“ hätten ihn von „Wunder[n]“ abgehalten.467 Doch ließe er sich nicht „von der Ungerechtigkeit der Menschen“ abschrecken, ginge seinen Weg vielmehr „unbekümmert fort“ und sei zuversichtlich, „daß Gott allezeit, es sey wenn und wie er wolle, das Gute belohnt, und das Böse bestraft“.468 Womöglich um Gott bei der Scheidung zwischen Gut und Böse zu unterstützen, schloss Reiske der Beschreibung seines Lebens eine alphabetische und kommentierte Liste seiner Bekanntschaften an,469 die auch Johann David Michaelis nicht unberücksichtigt ließ – allerdings in einer durch Ernestine Reiske gekürzten Fassung: „Aus Hofr. Michaelis Briefwechsel habe ich wenig Erbauung gehabt. Wäre er nicht gewesen, die arabische Literatur würde mehr durch mich gewonnen haben. Mich hat er gehindert, sie auszubreiten, und er hat dafür ihr wenig, oder gar nichts geholfen. --- Im Jahre 1754, hatte ich ihm meine Annales Moslemicos zugeschickt, und ihn gebeten, in den Commentariis Gottingensibus sie zu recensiren; und damit er desto besser im Stande wäre, solches zu thun, schickte ich ihm mein Exemplar von Vita Muhammedis […] mit, zu welchem ich die Varianten aus dem Leidner Codice hinzu geschrieben hatte. Allein, nicht nur gewährte er mich meiner Bitte nicht, sondern---“470 464 Reiske: Gedanken, 161. 465 Reiske: Lebensbeschreibung, 11f. 466 Ebd., 96. 467 Ebd., 12. 468 Ebd., 68. 469 Ebd., 102-136. 470 Ebd., 127f.

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3.3.3.2 Michaelis’ Antwort auf die Anklagen Reiskes Michaelis reagierte auf den Reiske’schen Kommentar mit einem umfangreichen Artikel in der „Neuen orientalischen und exegetischen Bibliothek“471, den er als „Nachtrag“ und „Zusatz“ zu Reiskes Leben verstand. Um der Vermutung eines Eingeständnisses zu wehren, habe er die ihn betreffenden Anklagen nicht übergehen können.472 Mit seiner Antwort bestritt Michaelis vier Anklagepunkte Reiskes und bemerkte zunächst: „Die erste Anklage ist also, ich habe R. gehindert, die Arabische Literatur auszubreiten. Wie das geschehen seyn soll, da ich nicht an Einem Ort mit ihm lebte, nicht mit den Buchhändlern, die etwan den Verlag seiner Schriften übernehmen konnten, in einer Connexion stand, früh in Recensionen seine Ausgabe Arabischer Schriften sehr anempfohl, […] ist schwer zu begreiffen: auf eine so unbestimmte Anklage läßt sich nicht antworten.“473

Um dennoch antworten zu können und „da von Correspondenz die Rede ist“, resümierte Michaelis seinen nur wenige Jahre währenden Briefwechsel mit Reiske. Er konzentrierte sich dabei vornehmlich auf die Geschichte der Arabischen Typen in Göttingen, die sich nach seinem Bericht wie folgt darstellte: In einem Brief474 an Münchhausen äußerte Reiske den Wunsch, Münchhausen möge erwirken, dass zwei Güsse der „vorzügliche[n]“ Londoner Arabischen Typen gemacht werden, um den einen der Universität Göttingen, den anderen ihm zum Druck arabischer Werke zu schenken. Münchhausen leitete den Brief mit der Bitte um eine Einschätzung an Michaelis weiter. Dieser antwortete: „Reiske sey ein grosser Gelehrter, und seine Arabischen Mscr. sehr wichtig; wahres Verdienst um Wissenschaften würde es seyn, und dem Könige zur Ehre gereichen, wenn er einen auswärtigen Gelehrten durch ein Geschenk Arabischer Typen unterstützte“. Die Entscheidung über eine Anschaffung der Typen für die Universität Göttingen überließ Michaelis Münchhausen. Er selbst wollte sich nicht für sie aussprechen, weil er die Erwartung der künftigen Nutzung für seine Werke fürchtete. Zwar würde er „mannigmahl in [seinen] Schriften […] ein Arabisch Wort oder Zeile setzen“ müssen, aber weder gäbe es arabische Manuskripte, die gedruckt werden könnten, noch Verleger für Arabische Bücher. Folglich habe Michaelis die Typen eher Reiske als Göttingen „gegönnt“, zugleich allerdings nicht geahnt, „daß [er] sie so viel würde gebrauchen können“. Nach einem weiteren Briefwechsel, in dem Münchhausen Michaelis um eine Einschätzung der Kosten gebeten hatte, veranlasste ersterer nur 471 Michaelis: Neue Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. I (1786), 131-160. 472 Ebd., 131. 473 Ebd., 133. 474 Eine Zeitangabe für den Brief fehlt – vgl. ebd., 134.

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einen Guss der Londoner Typen – und zwar für Göttingen. Michaelis wurde beauftragt, Reiske zu melden, dass die Typen angeschafft würden und auch ihm zur Verfügung stünden.475 In der sich anschließenden Korrespondenz mit Reiske erhielt er im Dezember des Jahres 1756 einen Brief476, durch den die Geschichte der Arabischen Typen eine zusätzliche Dimension gewann. Zwar bekundete Reiske zunächst seinen „unterthänigsten und verpflichtetsten Dank“, schrieb aber dann: „Haben gleich die Umstände Sr. Excellenz bisher nicht gestattet, etwas für mich zu thun, so kann doch eine anhaltende Empfehlung eines schmachtenden Literati über kurz oder über lang etwas fruchten. Doch kann ich Ewr. nicht bergen, daß, wenn Sr. Excellenz auch nur Mine machen wollte, als verlangte man mich nach Göttingen, solches bey den jetzigen Umständen meine Sache ungemein verbessern würde.“

Die Umstände, von denen Reiske berichtete, waren die Hoffnung auf eine Berufung nach Wittenberg und die Aussicht auf eine Erhöhung seiner Pension. Eine Berufung nach Göttingen – „wäre es auch nur zum Schein“ – könne seine „Obern nöthigen, die Gelegenheit, da man [ihn] versorgen kann, nicht aus den Händen zu lassen, sondern ihre Hülfe zu beschleunigen“. Zur Begründung seiner Bitte verwies Reiske auf seine missliche finanzielle Lage und den Nutzen für die Wissenschaften: „Käme ich auf diese Weise in etwas bessere Umstände, so würde ich auch mit der Arabischen Literatur mehr Nutzen schaffen. Daß ich solches bisher nicht gethan habe, das macht lediglich meine Dürftigkeit […] Meine Sachen stehn gegenwärtig auf einer gefährlichen Kippe […] Hilft mir Gott nicht bald auf die eine oder auf die andre Art, so bin ich für die Arabische Literatur, und wer weiß ob nicht auch für alle andre Literatur verloren. Doch das wolle Gott nicht. Indessen scheint es doch, wenn Gott nicht bald eine Aenderung macht, daß ich der bittern Nothwendigkeit nicht werde entgehen können, das Joch eines Schullehrers an einem unedlen Orte […] aufzunehmen. Und denn würde ich vollends gar zum Viehe werden. Die Unruhe, der Kummer, die Unzufriedenheit, das Murren, und die Sehnsucht nach einer Stelle, die meiner qualicunque scientiae gemäß ist, welche mein Gemüth Tag und Nacht durchwühlen und zerreissen, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Ich bin schon auf der äussersten Spitze des Abgrundes gerathen […] Helfen Sie mir aus meinem Verdrusse, Herr Professor! Ich weiß, Sie können es thun.“

475 Ebd., 134-139. 476 Michaelis datierte den Brief auf den Januar des Jahres 1757 und zitierte ihn in weiten Ausschnitten (139f.). Ein vollständiger Abdruck findet sich im ersten Band seines Briefwechsels, nach dem hier zitiert wird – Reiske an Michaelis: Leipzig, den 20. December 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel I, 66-72.

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Nach seinem eigenen Bericht reagierte Michaelis „verlegen“ auf die Bitte Reiskes. Denn einerseits sei „[a]n einen wahren Ruff nach Göttingen […] gar nicht zu gedenken [gewesen], da der Krieg vor der Thür war, der eigentliche Professor der morgenl. Sprachen, Wähner, noch lebte“, da außerdem Michaelis selbst die Vorlesungen über die Arabische Sprache hielt. Anderseits sei ihm „das Gesuch einer Scheinvocation […] zu unredlich [gewesen], als daß [er] es unterstützen konnte“. Heute bedaure er, Reiske nicht geantwortet zu haben, dass er ihn mit solchen Anträgen verschonen solle. Denn aus „Mitleid“ habe er dies nicht getan, sondern den Brief „mit einer grossen Entschuldigung, und Bitte, ihn nicht ad Acta zu nehmen, sondern [ihm] zu remittiren, damit er R. nicht Schaden könnte“, an Münchhausen weitergeleitet. Nur „zur Nothwehr“477, zu seiner Verteidigung gegen Reiske ließe Michaelis den Brief hier abdrucken, da er Reiske bei seinen Oberen auch nicht mehr schaden könne.478 Im Januar des Jahres 1757 erhielt Michaelis aus Hannover ein Schreiben mit folgendem Inhalt: „Es ist der Herr Professor Reiske als ein gar geschickter und gelehrter Mann hieselbst bekannt, und würde, wenn man jemand in hoc genere studiorum bedürfte, ohne Zweifel auf ihn reflectirt werden. Allein ihm blos zum Schein eine Vocation zu geben, ist weder dem Candori und Gedenkungsart des hiesigen Ministerii gemäß, noch Sr. Königl. Majestät Approbation darüber zu verhoffen“.479

Michaelis unterrichtete Reiske von der Ablehnung seines Gesuchs, vermutete, dass es ihn wohl nicht erbaut haben werde,480 während der Briefwechsel endete. Nach der Ankunft der Arabischen Typen in Göttingen teilte Michaelis Reiske mit, dass sie ihm nunmehr zum Druck seiner Bücher zur Verfügung stünden, wenngleich er geahnt habe, „[d]aß Reisken damit nicht geholfen wäre“, da er keinen Verleger hatte, und es nicht einmal einen Korrektor gegeben hätte. Doch Reiske habe den „Umstand, daß seine Schriften in Göttingen gedruckt werden sollten“, nicht dankend registriert, wie es ihm Michaelis aufgrund der erwarteten Aussichtslosigkeit geraten hatte, sondern „mit beiden Händen an[genommen]“. Er „bemerkte, damit die Correcturen genau würden, müsse er wol selbst nach Göttingen kommen, so lange der Druck daurete, redete von Diäten, wünschte auch, daß die Societät der Wissenschaften den Verlag übernehmen möchte“. Seine Antwort auf das Göttinger Angebot sandte Reiske an Münchhausen, der wiederum Michaelis mit einer Antwort beauftragte, der sich zwar nicht mehr erinnerte, was er damals schrieb, aber vermute477 Michaelis: Neue Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. I (1786), 139. 478 Ebd., 140f. 479 Ebd., 141f. 480 Vgl. ebd., 142: „[D]as war aber nicht meine Schuld: so gar er hätte sich scheuen sollen, solche Bitten an mich zu bringen.“

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te, dass er die Unmöglichkeit vorgestellt habe, und meinte „gewiß zu seyn, daß dis nicht in rauhen Ausdrücken geschehen ist“.481 Nach seiner Verteidigung gegen die erste Anklage Reiskes widmete sich Michaelis den drei weiteren Beschuldigungen. Dass er keine Arabischen Bücher herausgegeben oder übersetzt habe, und also mit Reiskes Worten, der Arabischen Literatur „wenig oder nichts geholfen“ hätte, erklärte er mit dem Mangel an Manuskripten und Verlegern, die nicht einmal den Koran drucken wollten, „der doch gewiß Käufer gefunden hätte“. Und wie Reiske „auf eigene Kosten für das Publicum […] drucken, was es nicht kaufen will“, habe Michaelis nicht gewollt. Zudem sei er „nicht einmahl Nominalprofessor“ der Arabischen Sprache gewesen, die er als eine bloße „Nebensache“ betrieb. Dennoch habe er getan, was er konnte, eine Reise nach Arabien initiiert und das Arabische gelehrt – „freilich nur den Anfang, denn weiter kann man in einem halben Jahr nicht kommen“482: „Weiter das Arabische anzuwenden, mußte ich denn meinen Zuhörern überlassen, ihrer sind zusammen etwan 300 gewesen, manche mögen es wieder vergessen, andere vergraben, andere in der Stille gebraucht haben, aber wieder andere haben es doch sehr nützlich und öffentlich angewandt“.483

Dem Wunsch Reiskes, seine „Annales Moslemicos“ zu rezensieren (die dritte Anklage), sei Michaelis nachgekommen, allerdings nicht in den „Commentariis Goettingensibus“, in denen keine Bücher rezensiert wurden, sondern in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“.484 Beim Lesen der vierten Anklage, nach der Reiske Michaelis ein Exemplar der „Vita Muhammedis“ geschickt habe, zweifle Michaelis, ob ihn sein Gedächtnis nicht betröge, „[d]enn freylich von Gedächtnißfehlern, sonderlich wo es auf 30 Jahr hinausgeht, wird sich niemand frey halten“. Er sei sich sicher, das genannte Exemplar nie von Reiske erhalten zu haben. Zwar befände es sich in seiner Bibliothek, sei aber „aus der Mosheimischen Auction gekaufft“. Zum Beweis seiner Unschuld verwies Michaelis auf den Katalog der Mosheimischen Bibliothek, der den Kauf bestätige. Wie das Buch indes in die Mosheimische Bibliothek gekommen sei, könne er sich nicht erklären. Da er sich Reiske aber „nicht als einen vorsätzlichen Lügner“ vorstelle, nähme er an, dass er ihm das Buch zwar schicken wollte, dass es aber durch ein Versehen an Mosheim gelangte. Sollte dies der Fall sein, sei Michaelis „erbötig, das Buch Ihr [Ernestine Reiske] unentgeldlich wieder zuzustellen, doch

481 Ebd., 142-144. 482 Ebd., 145f. 483 Ebd., 147. 484 Ebd., 147f. Vgl. auch Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 28 (1755), 249-252.

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so dass Sie vorhin schriftlich und deutlich anerkenne, die ganze Klage gegen [ihn] sey völlig ungegründet, und ihr seel. Mann habe sich geirret!“485 Mit der Widerlegung des vierten Anklagepunktes beschloss Michaelis seine Rechtfertigung. Grundsätzlich bezichtigte er Reiske trotz Bestreitung seiner sämtlichen Vorwürfe weder der Lüge noch der Verleumdung. Vielmehr stellte er ihn als einen „große[n] Gelehrte[n]“486 und für die Arabische Literatur „sehr wichtige[n] Mann“487 vor: „Wie es mir vorkommt, haben wir in Deutschland keinen im Arabischen gleich grossen Mann gehabt, der die Sprache so völlig und geläufig verstanden hätte.“488 Neben der „so grossen Fertigkeit in Abschreiben, Lesen, und Verstehen, Arabischer Bücher, als sich vermuthlich kein Deutscher rühmen kann“, lobte Michaelis Reiskes „eisernen Fleiß“ und sein „erstaunliche[s] Gedächtniß“. Zwar hätte er „als Autodidactus gewisse Fehler“, diese könnten aber insgesamt vernachlässigt werden. Seine Übersetzungen seien „sehr wichtig, gegen andere gerechnet, zuverläßiger“, seine Bücher „reichhaltig, zum Theil unentbehrlich“, ihr geringer Verkauf „ein grosser Schande“ „für das Publicum, für Arabische Literatur und Geschichtskunde“. 489 Für Michaelis selbst sei die Arabische Literatur immer nur eine Nebensache gewesen, wenngleich er tat, was er konnte. Die Tatsache, dass ihn Reiske als seinen Konkurrenten betrachte, sei ihm eine Ehre. Bestätigen könne er die Rivalität indes nicht. „Ehre wäre es mir nun immer, sein Rival gewesen zu seyn, auch der unterliegende, der merklich zurückbleibende, aber ich war es doch auf keine Weise. Wir wandelten dünkt mich beide in Arabischen Gegenden, aber auf einer so breiten Strasse, daß wir uns nicht begegnen konnten. Bey ihm war das Arabische Hauptsache, und er wandte es am meisten zur Geschichtkunde an; bey mir Nebensache, Hülfsmittel zur Erklärung der Bibel: ich gab im Arabischen, und das in Göttingen, Unterricht, den eigentlich für Anfänger […]; er gab in Leipzig […] keinen, […] sondern blos in privatißimis brachte er einzelne, die schon die Anfangsgründe wußten, weiter […] Ich schrieb, eben zum Leitfaden meiner Vorlesungen, Arabische Grammatiken. Er wollte keine schreiben, redet mit Abneigung von diesem Geschäfte […] – Wo kamen wir einander in den Weg?“490

485 Michaelis: Neue Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. I (1786), 148-151. 486 Ebd., 136. 487 Ebd., 131. 488 Ebd., 155. 489 Ebd., 155-159. 490 Ebd., 153-155.

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Michaelis stellte sich als einen zu Unrecht beschuldigten Gelehrten vor, der sich ohne größere Empörung um die Aufklärung der verschiedenen Anklagepunkte bemühte, hinter denen er einzig Gedächtnisfehler, nicht Bosheit vermutete. Zwar sähe er sich punktuell zur Notwehr genötigt, wolle grundsätzlich aber niemandem schaden. Insgesamt beantwortete er die Beschuldigungen mit jovialer Zurückhaltung, wobei der große Respekt, den er Reiske als Gelehrtem entgegenbrachte, nicht verdecken kann, dass er seinen Charakter als höchst zweifelhaft beschrieb. Denn nicht nur mangle es ihm an Redlichkeit, sondern auch an Dankbarkeit. „Ich habe so lange gelebt, daß ich mich, wiewohl zum Theil nur gegen Gedankenstriche, verantworten kann. Dis hat billig einen Einfluß auch auf die übrigen Anklagen, welche man in R. Leben gegen andere Gelehrte findet, die das Unglück hatten, mit ihm in nähern Zusammenhang zu kommen, (wovor ich mich hütete, so viel ich konnte, weil schon Schultens Klagen über ihn […] bekannt waren) sonderlich gegen seine Wohlthäter […]: könnten sie sich verantworten, so würde vermuthlich aller der schwarze Schatten wegfallen, den Reiske auf so ehrwürdige Characters wirft […] Ein sonderbahres Bekenntniß legt er doch selbst in seinem Lebenslauf ab, das mit immer wiederhohlter Schwärzung des Characters seiner Wohlthäter: es reue ihn, daß er nicht das rege Gefühl der Dankbarkeit gehabt habe. Andere Sünden mag einer reuig bekennen, von denen kann er sich bessern, aber mit dem Mangel dieses Gefühls ist es eine eigene Sache.“491

3.3.3.3 Ernestine Reiskes Schrift „An das Publicum“492 Der Konflikt zwischen Reiske und Michaelis entwickelte sich spätestens mit einem neuerlichen Einspruch Ernestine Reiskes zu einer öffentlichen Auseinandersetzung. Im Jahr 1786 veröffentlichte sie den vierseitigen Artikel „An das Publicum“, stellte ihn als notwendige Berichtigung der „schändliche[n] Recension“ Michaelis’ vor und ließ auch den Verstorbenen durch Streichung der Streichungen noch einmal zu Wort kommen. Einleitend erinnerte Ernestine Reiske an den Vorschlag Michaelis’, ihr das Buch „Vita Muhammedis“ (Anklage 4) zu schenken, wenn sie beweisen könne, dass es ihrem Mann gehört habe und dessen Beschuldigung zurücknähme. Sie habe „dem Herrn Ritter“ geantwortet, „wie es einer deutschen Frau geziemet, der die Ehre ihres Mannes noch im Grabe theuer ist“: „[Ich] erbot mich, zur Erkentlichkeit für seinen edelmüthigen Antrag, ihm für 500 Thaler Bücher zu schenken, wenn er sich öffentlich und deutlich, und völlig genugthuend für meines Mannes Ehre erklärte, dass alles, was er jemals böses und nachtheiliges von meinem Manne gesagt oder geschrieben, Unwahrheit gewesen sey, wenn er die schändliche Recension zu491 Ebd., 152f. 492 REISKE, Ernestine: An das Publicum. In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Jena 1786.

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rücknähme, ehe er dieses Stück der or. Biblioth. ausgeben würde, und die Lebensbeschreibung meines Mannes ganz unrecensirt liesse.“

Doch Michaelis’ Rezension erschien und „weil der Herr Ritter durch die dafür gesetzten Gedankenstriche so sehr beleidigt worden ist“, sah sich Ernestine Reiske veranlasst, den vollständigen Kommentar ihres Mannes abzudrucken. Um zunächst bei der Geschichte um die „Vita Muhammedis“ zu bleiben, sei vorerst das Ende seiner Notiz zitiert: „Allein nicht nur gewährte er mich meiner Bitte [der Rezension der „Annales moslemicos“] nicht, sondern leugnete auch nach Verlauf von 14 Jahren, als ich besagtes mein Exemplar ihm wieder abfodern liess, dass es mir zugehöre. Zwar gestand er, dass mein Name drinne stünde, und viele von mir hinzugeschriebene Varianten, so dass er sich selbst wundere, wie die dahinein kamen. Gleichwohl aber behauptete er, das Exemplar wäre sein, und er habe es aus der Mosheimischen Auction für sich erstanden. Kan wohl ein Vorgeben unverschämter und ungereimter erdacht werden?“

Reiske betrachtete sich selbst als Opfer eines Diebstahls, Michaelis als einen unverschämten Lügner, der ungeständig Ungereimtes erdenke. Seine Frau ergänzte das Urteil durch den Vorwurf „äusserste[r] Niederträchtigkeit“. Zum Beweis führte sie einen Brief vom 26. August 1755 an, in dem Michaelis „ausdrücklich schreibt“, dass er das Buch erhalten habe, „und sich entschuldigt, dass er noch keinen Gebrauch davon [habe] machen können“. Reiskes vollständiger Text kann neben dem vierten auch den ersten Anklagepunkt ergänzen. Nach einer umfänglichen Beschimpfung Michaelis’ widersprach er der Behauptung, Michaelis trage keine Schuld am Verlust des Geschenks der Arabischen Typen. Vielmehr habe er ihm das schon Versprochene entrissen. „Aus Hofr. Michaelis Briefwechsel, der eben nicht der stärkste gewesen, und auch seit vielen Jahren abgebrochen ist, habe ich wenig Erbauung gehabt. Er hat mir wenig geholfen, aber wohl viel geschadet. Hätte er mir nicht einen heillosen Streich gespielt, die arab. Literatur würde mehr durch mich gewonnen haben. Mich hat er gehindert sie auszubreiten, und er hat dafür ihr wenig oder gar nichts geholfen. Mich reuet es, jemals mit einem Manne mich eingelassen zu haben, der viel Stolz auf seine eingebildete Wissenschaft, und dabey ein böses Herz, und keine Ehre, kein Gewissen im Leibe hat. Ich hatte von dem grossen Musenfreunde, dem hannöverischen Minister von Münchhausen, die Versicherung erhalten, dass ich einige Centner arabischer Schriften […] zu einem königlichen Geschenke seiner Grossbrittanischen Majestät erhalten sollte, um damit arabische Bücher drucken zu können. Als diese Schriften unterwegs waren, wusste Herr Michaelis sie mir durch seine Ränke vor dem Maule weg zu fischen, und machte, dass sie zu Göttingen ungebraucht liegen blieben.“

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Gegen Michaelis versicherte Ernestine Reiske, ihr Mann habe nur um einen Guss der arabischen Typen gebeten. Und auch in weiteren Punkten widersprach sie der michaelischen Darstellung. Sie zweifelte, dass der Brief, in dem Reiske um eine Berufung nach Göttingen bat, aus der Feder ihres Mannes geflossen sei und vermutete, Michaelis habe ihn, da er ihn abdrucken ließ, um ihren Mann zu „beschimpfen“, „untergeschoben“. Seine behauptete Verlegenheit bestritt sie ebenso wie das vermeintliche Mitleid, das ihn veranlasst haben sollte, den Brief nach Hannover weiterzuleiten. „Des Herrn Ritters Verlegenheit hierbey konnte so gross nicht seyn; denn er war ja nicht verlegen, als er meinem Manne meldete, die erbetenen Typen blieben in Göttingen. Gab der Herr Ritter dem Minister diesen Brief, so war es Bosheit von ihm, nicht Mitleid; ob er gleich, um den Lesern Staub in die Augen zu werfen, damit sie seine wahre Gestalt nicht erkennen sollen, sein mitleidiges Herz gegen meinen Mann so schön schildert, dass man ihn küssen möchte.“

Michaelis stelle sich dar, „als ob er sein [Reiskes] bester Freund sey“, während Reiske doch gewusst habe, „dass der Herr Ritter (es sey aus Neid, oder natürlicher feindseliger oder höhnischer Gemüthsart) stets alle Gelegenheit hervorsuchte, in Collegiis über ihn zu spotten“. Und so war Ernestine Reiskes Urteil über „den Herrn Ritter“ denn auch eindeutig: „Anstatt dass der Hr. Ritter […] soviel von dem Mangel des Gefühls, und dem schlechten Herzen meines redlichen Mannes sagt, möchte er sein eigenes Gefühl, und sein eigenes Herz prüfen. Beides mag ich nicht haben!“ 3.3.3.4 Die Aufarbeitung des Konflikts durch Schlözer Sein letztes Stadium erreichte der Konflikt mit seiner Aufarbeitung durch August Ludwig Schlözer493. Im Jahr 1796 erschien sein Artikel „Michaelis und Reiske“494, den er mit der „Special=Verpflichtung, von dieser alten unseligen Fehde noch ein Wort an das Publikum gelangen zu lassen“, veröffentlichte – „-- ut post fata quiescat Livor --“495. In ihm stellte Schlözer Michaelis als einen Mann vor, „dessen vielleicht einziger Vertrauter in dessen letzten Lebensjahren [er] zu seyn die Ehre 493 Schlözer (1735-1809) war in den Jahren 1769-1809 ordentlicher Professor der Geschichte an der Universität Göttingen – vgl. Ebel: Catalogus Professorum Gottingensium, 104. 494 SCHLÖZER, August Ludwig: Michaelis und Reiske von Schlözer. Anhang zu Michaelis litterarischen Briefwechsel. In: Deutschland: Fünftes Stück. Berlin 1796, 163-228. Unterschrieben hatte Schlözer den Artikel bereits kurz nach Michaelis’ Tod am 24. Dezember 1791 (vgl. ebd., 166). 495 So die Worte der Titelunterschrift – ebd., 163.

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hatte – einen Mann über dies, der nicht nur 22 Jahre [sein] Kollege, sondern der [sein] specieller Lehrer war, dem [er] [seine] ganze Bildung im kritischen historischen Fache zu verdanken habe“. Mit seiner Aufarbeitung des Konflikts erwies sich Schlözer folglich als Verwalter des michaelischen Erbes,496 wobei er einräumte, dass ihn die „Dankbarkeit“ nie „verblenden“ würde, Michaelis’ „wirkliche Fehler zu entschuldigen, oder gar abzuläugnen“. Er habe es allein für ungerechtfertigt gehalten, ihn „auf eine so empfindliche Weise“ angegriffen zu sehen.497 In seinem sehr umfangreichen Artikel widmete sich Schlözer dem Briefwechsel zwischen Reiske und Michaelis, gab Inhalte detailliert wieder und kann so grundsätzlich einiges Licht in die divergierenden Erinnerungen bringen. Seine Rekapitulation498 der Geschichte um das verlorene Buch lässt vermuten, dass letztlich beide Protagonisten recht hatten. Reiske hatte Michaelis das Buch 1755 unverlangt geborgt. Ein Jahr später kaufte Michaelis dasselbe Buch in einer Auktion und vergaß, Reiske sein Exemplar zurückzuschicken. 1768 forderte dieser sein Buch von Michaelis zurück, der der Forderung nachkam. In seiner Lebensbeschreibung beschuldigte Reiske Michaelis, ihm das Buch erst nach einer Mahnung zurückgegeben zu haben, doch wurde die Beschuldigung nicht vor 1783 bzw. in ihrer vollen Länge 1786 bekannt, als der 70jährige Michaelis sich offensichtlich nicht mehr an alle Ereignisse erinnerte. Mit Blick auf den prekären Brief, in dem Reiske um eine Scheinberufung nach Göttingen gebeten hatte, stellte Schlözer gegen Ernestine Reiskes Vermutung fest, dass Michaelis ihn ihrem Mann nicht untergeschoben habe.499 Und schließlich legte er dar, dass die Geschichte um die Arabischen Typen500

496 Vgl. ebd., 164: „Ich war es, der dem sel. Michaelis den (von ihm auch befolgten) Rath gab, auf das An das Publicum des Hr. Prof. Reiske, welches weit und breit Sensation machte, nicht zu antworten: nicht als wenn ich glaubte, daß Antworten auf Beschuldigungen, die des Mannes moralische Ehre angriffen, entbehrlich wären, sondern weil ich hoffte, daß dereinst ein Dritter, der vielleicht Akten in die Hände bekäme, mit kalter aber sorgfältiger Kritik, jene angefochtene Ehre siegreicher, als Er selbst in seinen Affekt, würde retten können.“ 497 Ebd., 163-166. 498 Ebd., 168-189 (vgl. v.a. 187-189). 499 Ebd., 207. Darüber hinaus rechtfertigte Schlözer Michaelis’ Verhalten, indem er erklärte – ebd., 211f.: „M. war ein Mann von strenger Moral, sogar von pietistischer – ängstlicher Gewissenhaftigkeit: aber er war dabei ein harter Mann, weil er aus väterlicher und Waisenhäuser=Zucht unmittelbar in volle Unabhängigkeit gekommen war […] Also – hatte er kein Gefühl von des, ihm im Alter gleichen, ihm in einigen Arten gelehrter Kenntnisse überlegenen, und damals ohne alle Ressourcen verlassenen R’s Lage; sondern haschte aus dessen Jammer, Klagen und Vorschlägen bloß die Bitte um eine Scheinvokation nach Göttingen auf, fand darin etwas Unredliches, sandte dessen Brief

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den michaelischen Erinnerungen entspreche, während Reiskes Angabe, Münchhausen habe ihm die Typen versprochen, ein „derbes Unfaktum“501 sei. Zwar habe „[d]er ehrliche Mann“ nicht gelogen, doch „betrog“ ihn sein Gedächtnis zuweilen: „als er seine Biographie schrieb, habe er das meiste vergessen, was er theils selbst vor 14 Jahren geschrieben habe, theils ihm geschrieben worden war. Da wähnte er, Münchhausen habe ihm die Versicherung gegeben, dass er eine arabische Druckerei zum Geschenke erhalten solle. Da glaubte er, M. habe ihm diese versprochene Typen, wie sie schon unterwegs gewesen, vor dem Maule weggefischt.“502 Insgesamt machte Schlözer für die „unselige[] Fehde“ folglich vorrangig ein Vergessen auf beiden Seiten geltend. Wichtiger als die Aufklärung des Konflikts sind Schlözers Anmerkungen zur Situation der Orientalistik im 18. Jahrhundert, die er verschiedentlich und vornehmlich aus Unverständnis gegenüber Reiskes Vorstellungen formulierte. So schrieb er in Reaktion auf Reiskes Idee, den Verlag für seine Schriften selbst zu übernehmen: „Er der 100 Rthlr. Pension hatte, wollte arabische Bücher, im J. 1755, wo vielleicht in Deutschland nicht 20 Gelehrte waren, die sich, mit dem Arabischen viel abgaben, in seinen Verlag nehmen? Er, der nur 5 Wochen vorher […] selbst an M. seine traurige Erfahrung überschrieben hatte, wie sehr er bei seinem lateinischen (nicht arabischen) Abulfeda, als Selbstverleger, zu Schaden gekommen sei? / Wußte er nicht, daß von jedem Buche wenigstens 200 Stück verkauft werden müßten, wenn er seine baare Auslage wieder herausziehen sollte? – Meinte er, zur Emporbringung einer neuen Literatur brauche es weiter nichts, als Urschriften von derselben drucken zu lassen? Und Höfe sollten das Projekt thätig mit Gelde unterstützen? Wie wenig kannte der doch schon 40jährige Mann seine deutsche Hofwelt! – Oder Gott sollte Zwecke ohne Mittel erreichen machen, d.i. Wunder thun, zu Gusten des 503 R-schen Enthusiasmus für arabische Literatur?“

Und auf einen speziellen Vorwurf antwortete Schlözer nur mit rhetorischer Sprachlosigkeit: „M. habe die arabische Literatur ‚wenig oder gar nichts geholfen.‘ Hierüber hier kein Wort. Hoffentlich wird Deutschland und unser Jahrhundert nicht undankbar seyn; und die Verdienste des unvergeßlichen Mannes auch um dieses gelehrte Fach, werden in noch helleres Licht gesetzt werden, als bereits hie und da geschehen ist. Ich frage nur: wie viele Gelehrte in selbst, mit einer nicht empfehlenden Vorbereitung, an den Minister ein, und veranlaßte dadurch die empfindliche Resolution von 17. Jan. 1757.“ 500 Ebd., 190ff. 501 Ebd., 223. 502 Ebd., 227. 503 Ebd., 193f.

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Deutschland haben sich in den letzten 40 Jahren mit dem Arabischen abgegeben, verglichen mit der Zahl aller vorhergegangenen? und wessen Schüler waren bei weitem die meisten jener Gelehrten? und wie viele Schüler hat R. durch Unterricht und Schriften gezogen? ob er gleich im Arabischen ungleich fertiger als M. war.“504

3.3.3.5 Reiskes orientalistisches Programm Die Fragen Schlözers verweisen auf die formal-pragmatische Ebene des Konflikts: Reiske war des Arabischen mächtiger als Michaelis, dieser indes hatte mehr Schüler. Im Folgenden sollen die inhaltlichen Differenzen zwischen Reiske und Michaelis bzw. zwischen Reiske und der orientalistischen Praxis im 18. Jahrhundert betrachtet werden. Der Fokus wird sich dabei auf Reiskes Konzept zur Erbauung der Orientalistik richten, wie er es in Abgrenzung zum dominierenden bibelphilologischen Konzept in seinem schon erwähnten Artikel „Gedanken, wie man der arabischen Literatur aufhelfen könne, und solle“ und einer Abhandlung über die „Arabische Dichterey“505 vorstellte. Reiskes orientalistisches Programm gründete auf einer scharfen Kritik an der zeitgenössischen Arabistik. Zwar erkannte er den bibelphilologischen Nutzen des Arabischen an, da die arabische Sprache „im Grunde eins“ mit der hebräischen und folglich das „vornehmste“ Mittel zu ihrer Erforschung sei,506 allerdings bestritt er, dass aus dem Arabischen, das der „natürliche[n] Aenderung aller Sprachen“ unterworfen sei, ein „sicherer Schluß“ auf das Hebräische gezogen werden könne.507

504 Ebd., 221f. 505 REISKE, Johann Jacob: Kurtzer Entwurff der Arabischen Dichterey (= Vorrede). In: Ders.: Thograi’s sogenanntes Lammisches Gedichte aus dem Arabischen übersetzt nebst einem kurtzen Entwurff der Arabischen Dichterey. Friedrichstadt 1756, 8-25. 506 Reiske: Gedanken, 148. Vgl. auch REISKE, Johann Jacob: (Rezension:) Joh. Dav. Michaelis, Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 7 (1757), 294-300. Hier heißt es, S. 300: „Das Arabische nämlich sehen wir ebenfalls für nichts anders, als für ein sehr ausgeartetes Hebräisches an“. Vgl. ebenfalls Reiske: Arabische Dichterey, 8: „Die Arabische Dichterey ist der Hebreischen in vielen Stücken ähnlich. Und das kan auch nicht anders seyn. Araber und Hebreer sind zwey Völcker, die von einem gemeinem Vater abstammen. Sie haben beyde unter einer Himmelsgegend gewohnt, einerley Lebensart, Sitten und Neigungen gehabt, eine Sprache geredet, die im Grunde einerley, und nur in Nebendingen so wenig von einander unterschieden ist, daß beyde Völcker sich unter einander gar wohl haben verstehen können. Die Verschiedenheit beyder Sprachen steht in einerley Verhältniß als die Obersächsische mit der Niedersächsischen.“ 507 Reiske: Rezension Beurtheilung, 299f.

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Durch einen Vergleich des Hebräischen mit dem Lateinischen versuchte er, „den theologische[n] Glaube[n] vom Arabischen“508 als Trugschluss zu offenbaren: „Z.E. das Wälsche, Spanische und Französische sind Töchter des alten Lateins […] Folglich würde man […] um gut Latein zu lernen, vom Italienischen, Spanischen und Französischen den Anfang machen müssen. Allein wir geben es einem jeden Kenner dieser neuern Sprachen, die nur ein ausgeartetes und verderbtes Latein sind, und des Lateins selbst, zu bedenken, wie man dabey fahren würde; und ob es nicht weit sicherer sey, das Latein selbst unmittelbar anzugreifen.“509

Reiskes Kritik bewegte sich auf zwei Ebenen. Zunächst verurteilte er die Ergebnisse der theologisch motivierten Arabistik. Die „ungeschickten Anwendungen des Arabischen“510 einiger Theologen brächten Ableitungen und Erklärungen hervor, „dabey einem ganz schlimm wird“511. Damit zusammen hing sodann der Vorwurf einer insgesamt ungenügenden Auseinandersetzung mit der arabischen Sprache, die er als Ursache der zweifelhaften Ergebnisse vorstellte: „Es ist leichter, es ist angenehmer, zu muthmaßen, zu klügeln, zu träumen, als durch langsames bedächtliches Bemerken der Art einer Sprache, und durch langanhaltendes aufmerksames Lesen der Dichter, ihr gleichsam den Schleyer abzunehmen.“512 In der Konsequenz seiner Kritik missbilligte Reiske den arabischen Sprachunterricht, wie er bisher betrieben und auch gefordert würde. „[J]unge Studiosi theologiae“, die zu ihm kämen und Interesse am Erlernen des Arabischen zeigten, mahnte er davon ab513: „Sie vertändeln damit ihre Zeit, die sie besser anlegen können.“514 Um das Hebräische aus dem Arabischen erläutern zu können, sei „ein an508 Reiske: Gedanken, 148. 509 Reiske: Rezension, 300. 510 Reiske: Gedanken, 149. 511 Ebd., 165. Vgl. auch Reiske: Lebensbeschreibung, 12: Die Erfahrung bestätige, „daß es, mit Vergleichung der hebräischen und arabischen Sprache, meistentheils auf Muthmaßungen und Geklügle hinaus laufe.“ 512 Reiske: Gedanken, 167. Vgl. auch ebd., 164: „Woher kömmt es aber, daß man in Erläuterung des Hebräischen aus dem Arabischen seither so wenig gefördert hat, da doch unterschiedene Theologi sich dieser Sprache mit Ernste angenommen haben, die auch zum Theil alle nöthige Geschicklichkeit besaßen, und alle gehörige Werkzeuge in Händen hatten? Es kömmt daher. Die Herren hatten wohl einen guten Willen, aber sie fiengen es verkehrt an. Sie spanneten die Pferde hinter den Wagen […] Man demonstriret a posteriori, von der Wirkung geht man auf die Ursache zurück, nicht umgekehret“. 513 Reiske: Gedanken, 149. 514 Ebd., 153. Vgl. auch ebd.: „Eine Gans flog über den Rhein; eine Gans kam wieder heim. So geht’s einem Studenten auch, der auf Universitäten arabisch lernet, und so

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haltender Fleiß von vielen Jahren, und ein ämsiges aufmerksames Lesen, insonderheit arabischer Dichter“ notwendig. Nicht indes reiche es aus, „die Grammatik inne zu haben, und seinen Alkoran mit Hülfe eines Wörterbuches, und einer Uebersetzung übel und böse genug übersetzen zu können“.515 Überhaupt sei die theologische Benutzung des Korans problematisch. Reiske hielt den Koran für ein „schlechtes Buch […], das seines Inhaltes wegen nicht verdienet angesehen zu werden“ und dessen „ein Theologus […] gar wohl entbehren könne“.516 Wenn man ihn aber gebrauche, müsse es unter Maßgabe der Auseinandersetzung mit der Bibel geschehen, das heißt in Berücksichtigung verschiedener Lesarten und der muslimischen Auslegung.517 Schließlich käme es „nicht darauf an, was für einen Sinn manche Stelle haben könne, der sich auch gar wohl schickete; sondern was für einen Sinn die Muhammedaner darinn finden“.518 Bei aller Kritik an der Anwendung des Arabischen auf das Hebräische betonte Reiske immer wieder, dass die philologia sacra für ihn selbst „etwas gleichgültiges“ sei.519 Auch könne er sie nicht „wider sein Naturell“ lehren, sei nicht „einer von denen, welchen vor nichts ekelt, das Geld einbringt, und bey welchen die Lockspeise des Gewinnstes die Stelle des innern Berufes vertritt“, obwohl er einsähe, „daß [er] mit Petri Netze mehr Fische fangen würde“: „Fienge ichs am rechten Ende an, machte ichs den Leuten fein leichte, brächte ich ihnen bey daß sie schon genug Arabisch könnten, wenn sie den Alcoran verstünden; führete ich meinen ganzen arabischen Kram auf die hebräische Bibel zurück; wäre ich ein wenig feiner, und schnitte ich ein wenig mehr auf: so würde ich schon mehr Zulauf haben.“520

In Ansehung der geäußerten Ablehnung und Gleichgültigkeit gegenüber der bibelphilologisch orientierten Orientalistik seiner Zeitgenossen fragt sich, welche Motive Reiske zur Auseinandersetzung mit der arabischen Literatur bewogen. Wenig überraschend erschöpften sie sich nicht in seinem ganz persönlichen Interesse, „berühmt wenig Bücher, als Muße hat, die Sprache zu treiben. Das wenige, das er davon lernet, vergißt er, ehe er wieder heim kommt.“ 515 Ebd., 150. 516 Ebd., 189. 517 Vgl. ebd., 190-192. 518 Ebd., 192f. Weiter heißt es hier: „Was würden wir zu einem Muhammedaner sagen, der, ohne unsere Theologie in ihrem weitesten Umfange zu kennen, eine Uebersetzung vom neuen Testamente machete, und seine philosophische Brühe darüber hingösse. Das würde ein muhammedanisches neues Testament seyn, aber kein christliches.“ 519 Reiske: Ebd., 162f. Vgl. auch ebd., 152: „Kurz, theologische Studia sind mein Werk nicht.“ Vgl. ebenfalls Reiske: Lebensbeschreibung, 12. 520 Reiske: Gedanken, 151f.

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zu werden“521. Vielmehr behauptete Reiske, dass „[z]ur Ergäntzung der Geschichte des menschlichen Verstandes […] auch die Geschichte des Arabischen“ gehöre. Zwar müsse „uns“, da wir „mehr zum Ueberlegen und Beurtheilen, als zum Erfinden“ geschickt seien, die arabische Dichterei „befremden“; zwar mag sie „uns“ als „schwülstig, übertrieben und rasend“ vorkommen und derart mißfallen, dass wir es Reiske nachtun und ihrer „spotten“, sie sogar „hassen“,522 doch sei „nicht alles […] darum albern, weil es uns so vorkommt. Haben die Arabischen Dichter manches lächerliches und geringhältiges an sich, so ersetzen sie solches mit einer ungleich größern Menge von bewundernswürdigen und unnachahmbaren. Wären wir an ihrer Stelle, das ist, belebte uns ihr Lufftstrich, so würden auch wir eben dieselben Regungen empfinden, wir würden eben so dencken, so sprechen und handeln, wie sie. Wir würden in allen unsern Trieben ausschweiffen. Unsre Liebe würde nicht nur ins lächerliche fallen […] sondern sie würde sich auch bis zum Rasen vergehen. Unser Zorn würde biß zur Wuth entbrennen.“523

Was könne man, so die rhetorische Frage Reiskes, anderes als die „unverstellte Sprache der Natur“ von einem Volk erwarten, „das in einer sehr großen Freyheit, und bey nahe in dem ursprünglichen Stande der Natur lebt, […] das weder durch die bescheidnen Vorstellungen einer bloß natürlichen Sittenlehre, noch durch die sanfften Lehren der Offenbahrung gebändigt, und noch darzu von Jugend auf in den verderblichen Wahn auferzogen und gesteifft worden ist: wahre Ehre laße sich anders nicht, als durch Befriedigung seiner Triebe erhalten“. Doch, so Reiskes Fazit: „Auch von der Seite will der Philosoph den Menschen kennen lernen“.524 Und die Sorge, dass die „Arabische Wuth“ „ansteckend“ sei und etwa durch die Beschäftigung mit dem Arabischen entstünde, sei unbegründet: „Nicht alle Gemüther steckt die Arabische Wuth an. Manche können sicher und getrost dieses Lazareth betreten. Nur die Uebereinstimmung der Gemüthsart macht, daß das Gifft hafftet. Eine Arabische Hartnäckigkeit, und für Tücke aus Unschuld und Unkunde der Welt gesicherte Großmuth, deren Folgen meistentheils Reue begleitet, kommt der itzt herrschenden Klugheit, die voll von Eigennutz vortheilhaffte Niederträchtigkeit so hoch schätzet, als sie gewinnlose Edelmuth verachtet, seltsam vor. Und darum darf man sich nicht fürchten, daß die Seuche, der arabische Trotz, viel Unheil anrichten werde.“525 521 Ebd., 155. 522 Vgl. Reiske: Arabische Dichterey, 8: „Die schwülstigen, närrischen und rasenden Einfälle der Arabischen Dichterey mißfallen mir, ich spotte ihrer, ich haße sie.“ 523 Ebd., 9. 524 Ebd. 525 Ebd., 10.

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Die gravierenden geschmacklichen und charakterlichen Unterschiede zwischen „uns“ und den Arabern gründeten vorrangig in einem verschiedenen „Lufftstrich“, der sich auf die „Gemüthsart“ auswirke. Trotz bzw. gerade in ihrer Befremdlichkeit war die arabische Literatur für Reiske folglich – und wie Jan Loop herausstellt – ein „Zeugnis[] der vielgestaltigen Manifestationen des menschlichen Verstandes“ und in diesem Sinne „von zentraler Relevanz“.526 Während sich seine bibelphilologisch motivierten Zeitgenossen der arabischen Literatur zunächst widmeten, um ihre christlichen Wurzeln zu ergründen, wollte er sie als historischer Anthropologe studieren.527 526 LOOP, Jan: Kontroverse Bemühungen um den Orient. Johann Jacob Reiske und die deutsche Orientalistik seiner Zeit. In: Ebert/ Hanstein [Hg.]: Johann Jacob Reiske, 4585 (hier: 82). Insgesamt urteilt Loop zu Reiskes orientalistischem Programm (ebd., 85): „Gerade im Vergleich mit der Vorgehensweise seiner Kontrahenten aus der exegetischen Zunft war dieses Reiskesche Projekt, so kann hier zusammenfassend festgehalten werden, geprägt von einer bemerkenswerten Bemühung um eine wert- und vorurteilsfreie Wahrnehmung des Fremden. Reiske entging der Versuchung, den Orient in ein wie auch immer geartetes vorgebildetes historisches System einzupassen und dabei in reduktionistischer und essentialisierender Manier alle ‚widerstrebenden‘ Elemente auszublenden. Sein umfassendes historisches Wissen bewahrte ihn davor, die arabischislamische Kultur einseitig als unveränderlich-uniform zu beurteilen und auf eine menschheitsgeschichtliche Kindheitsstufe zurückzusetzen. Vielmehr war Reiske einem unbefangenen sachlichen Zugang verpflichtet und bemühte sich, den komplexen sprachlichen, historischen und kulturellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen – der Orient sollte mithin in seiner gesamten Breite und Vielschichtigkeit wahrgenommen werden. Was den Ansatz von Reiske überdies auszeichnet, ist das Fehlen einer schroffen Entgegensetzung von Orient und Okzident: Hier hinein fügt sich das von Reiske vertretene dialogische Konzept einer ‚transkulturellen Hermeneutik‘, welches mit der Maxime, die eigenen Wahrnehmungs- und Interpretationsstrukturen stets durch den Einbezug der fremden Deutungen zu steuern und zu korrigieren, der Gefahr einer monopolistischen, eurozentrischen Vereinnahmung fremdkultureller Texte entging. Daneben werden zwar die Unterschiede etwa im Geschmack und der Lebensweise zwischen Orient und Okzident auch von Reiske in teilweise drastischen Vergleichen herausgestrichen. Doch es kommt dabei nicht zu einer schier unüberbrückbaren dialektischen Abgrenzung einer fortgeschrittenen europäischen Hochkultur von einem stagnierenden geschichtslosen Orient. Vielmehr ist die Dichotomisierung von Eigenem und Fremdem durch ein humanistisches Gleichheitspostulat und durch einen vergleichenden Blick auf die jeweilige Geschichte aufgehoben.“ 527 Vgl. Loop: Kontroverse Bemühungen, 82 und ebd., 85: Die Orientalistik „sollte die Erforschung der Triebkräfte hinter den menschlichen Handlungen und somit hinter der Geschichte der Menschheit auf eine breitere empirische Basis stellen.“

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Als den „einzige[n] Weg“528, der arabischen Literatur aufzuhelfen, betrachtete Reiske den Druck arabischer Bücher und plädierte damit implizit für einen Abbruch der institutionellen Orientalistik: „So lange man auf Universitäten mehr nichts lehret, als conjugiren und decliniren, oder nur etwa den Alcoran wieder aufwärmet; so lange kömmt man nicht einen Schritt weiter. Man gebe aber nur itzo den Leuten gute arabische Bücher, daraus sie was nützliches lernen können, als gute Geschichtschreiber, Dichter, und Sprachlehrer, in die Hände: so wird man diese Sprache bald unter uns blühen, und mit Macht zunehmen sehen […] Ich sage es noch einmal, arabische Bücher drucken zu lassen, ist das einzige Mittel, dieser Literatur aufzuhelfen. Alle andere Vorschläge und Anstalten taugen nichts, und richten mehr nicht aus, als ein Schlag ins Wasser. Man predige viele hundert Jahre nach einander, daß das Arabische nützlich und nöthig sey; man kaue und bläue es den Theologen noch so sehr ein, daß sie das Hebraische ohne das Arabische nicht verstehen können; man studiere sich in der arabischen Grammatik, (das ist, in den Anfangsgründen der Sprache) zu tode; so wird das alles doch eben so viel seyn, als einem Todten befehlen aufzustehen.“529

Konkret schlug Reiske vor, arabische Druckereien anzulegen und über 100 Jahre arabische Dichter zu drucken und zu edieren.530 Alsdann müsste man die Bücher „den Leuten in die Hände spielen, und sich die Lust darüber zu philosophiren ganz und gar vergehen lassen“. Von selbst würden spätere Generationen „darauf verfallen, das Gute, das darinn stecket, herauszuklauben“.531 Reiske erinnerte in diesem Zusammenhang an den Weg, den die griechische Literatur genommen habe. Zunächst seien die griechischen Schriftsteller gedruckt, ein Menschenalter darauf aber übersetzt, 100 Jahre später endlich kommentiert worden: „Das ist der Weg der Natur, den muß auch die arabische Literatur gehen, oder sie kömmt nicht vom Flecke.“532 3.3.4 Zusammenfassung Referenzbereich Auf Grundlage der Analysen zur Vergabepraxis orientalistischer Lehraufträge an den vier größten deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert lässt sich folgendes Bild rekonstruieren: Während sich die Orientalistik im europäischen Ausland schon seit dem 16. Jahrhundert institutionalisierte, liegen die nennenswerten Anfänge des Lehrstuhls für orientalische oder morgenländische Sprachen in Deutschland erst im 528 Reiske: Gedanken, 160. 529 Ebd., 161f. 530 Ebd., 164.167.187. 531 Ebd., 164f. 532 Ebd., 199.

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späten 17. Jahrhundert. Für die Frühphase der Professur kann angenommen werden, dass sie der Ausbildung in den biblischen Sprachen diente und vornehmlich die Lehre des Hebräischen, Aramäischen und Griechischen umfasste. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erweiterte sich der Kanon des universitären Lehrangebots um das Arabische. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die ursprünglich von Albert Schultens formulierte Erkenntnis, dass das Hebräische mit anderen semitischen Sprachen verwandt sei. Ermöglicht wurde sie durch einen Paradigmenwechsel an der Wende zum 18. Jahrhundert. Hatte in früheren Jahrhunderten die Angst vor der osmanischen Bedrohung die Auseinandersetzung mit dem Orient bestimmt, so versprach die Begegnung nunmehr eine „neue Auferstehung der Wissenschaften“.533 Begünstigt wurde das Studium des Arabischen durch eine Umbruchsituation, in der sich die Theologie befand. Durch Pietismus und Aufklärung gewann die exegetische Ausbildung eine neue Bedeutung, während das Dogma der claritas scripturae durch die entstehende historische Bibelkritik in Frage gestellt wurde, wie auch die Vorrangstellung der Theologischen Fakultät innerhalb des universitären Gefüges. Die morgenländischen Sprachen, das hieß vor allem das Hebräische, Aramäische und Arabische wurden im Rahmen der exegetischen Ausbildung gelehrt. Der unterrichtete Orient lag in den Grenzen des Nahen Ostens und wurde nicht ausschließlich durch den Professor für orientalische Sprachen vorgestellt, sondern zuweilen auch durch einen Lektor für arabische Sprachen. Diese strukturelle Offenheit, verbunden mit der Feststellung einer Diskontinuität in der Vergabe von Lehraufträgen und dem orientalistischen Interesse seiner Inhaber bei inhaltlicher Begrenzung auf den biblischen Raum und nur grundlegender Lehre des Arabischen deutet an, dass sich die Orientalistik im 18. Jahrhundert in einer noch frühen Phase befand. Die Grundlagen der Disziplin waren gering, ihr Rahmen variabel. Mit Ausnahme der Klagen Reiskes aber gab es keine Einwände gegen diese frühe Verfassung der Orientalistik, vielmehr behandelte man das Arabische offensiv als „Hülfsmittel zur Erklärung der Bibel“ und tat grundsätzlich, was man konnte, so dass in Abgrenzung zu den künftigen Entwicklungen von einer Phase der Genügsamkeit gesprochen werden kann. 533 Vgl. HARBSMEIER, Michael: Orientreisen im 18. Jahrhundert. In: Wiesehöfer, Josef/ Conermann Stephan (Hg.): Carsten Niebuhr (1733-1815) und seine Zeit: Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.-10. Oktober 1999 in Eutin. Stuttgart 2002, 6384. Harbsmeier bezeichnet die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert als „mentalitätsgeschichtliche Epochenschwelle“ und verweist in diesem Zusammenhang auf „das Abklingen der türkisch-osmanischen Bedrohung, […] die Nachwirkungen des Westfälischen Friedens, das Nachlassen der konfessionellen Auseinandersetzungen zugunsten der Stabilisierung absolutistischer Strukturen, und vielleicht auch einige der Prozesse, die im nachhinein als ‚wissenschaftliche Revolution‘ bezeichnet worden sind“ (ebd., 64f.).

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Das erweiterte Lehrangebot wurde offensichtlich von vielen Studenten wahrgenommen. Michaelis hatte 300 Schüler, unter ihnen allerdings nur wenige mit einem weiterführenden Interesse am Arabischen. Auch gab es nur einzelne Gelehrte, die sich mit dem Arabischen beschäftigten. Um 1750 waren es nach Angaben Schlözers zwanzig. Die Situation, in der sich die Orientalistik im 18. Jahrhundert befand, spiegelte sich im Buchmarkt: Weder gab es Verleger, noch Korrektoren für arabische Bücher. Arabische Typen waren selten. Reiske musste seine Werke im Selbstverlag herausbringen, erzielte allerdings nur geringe Verkaufszahlen. Für die wenigen, die ein näheres Interesse am Arabischen aufbrachten, war eine Reise nach Leiden und die dortige Bibliothek unerlässlich. Für weiterführende Studien in Deutschland musste die Arabistik im Rahmen biblischer Fragestellungen und häufig „dürftig“ gelehrt werden. Aller Mängel ungeachtet aber ist ersichtlich, dass die Orientalistik im Vergleich zu früheren Zeiten blühte. Waren es auch nur wenige, die sich mit den orientalischen Sprachen beschäftigten, so waren es gerade diese wenigen, die der Disziplin den Weg ebneten, indem sie die Sprachen lehrten, Unterrichtsmaterialen veröffentlichten und durch ihre publizistischen Tätigkeiten „den wissenschaftlichen Austausch der Orient-Gelehrten“ förderten, „erstmals […] eine nationale und internationale Öffentlichkeit“534 und die Voraussetzungen für die künftigen Entwicklungen schufen. Die Phase der Genügsamkeit muss folglich gleichzeitig als Pionierphase der Orientalistik bezeichnet werden. Mit dem 19. Jahrhundert verließ die orientalistische Professur die Phase der Genügsamkeit. Die Zahl der Kundigen wie auch die Zahl der verfügbaren Texte in arabischer Sprache war gewachsen. Der biblische Fokus wich einem literarischen und geschichtswissenschaftlichen Interesse, während sich die entstehende Disziplin immer stärker in die Philosophische Fakultät hinein bewegte und der untersuchte Orient nunmehr „das ganze Morgenland“ umfasste. Die orientalistischen Studien hatten ein Stadium erreicht, in der sie sich aus eigener Kraft erhielten und weiter ausbreiteten. Die neuen Entwicklungen hatten allerdings keinen Einfluss auf den universitären Bedarf. „[W]er den Orientalisten aufsuchte“, so die Feststellung Mangolds, „studierte noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts meistens Theologie und wollte vor allem in die Grundzüge des Hebräischen eingeführt werden“.535 Die Diskrepanz zwischen den Hörerinteressen und der Neuausrichtung der Disziplin führte zu ambivalenten Berufungsentscheidungen der Universitäten und einer klaren Positionierung der Theologischen Fakultät. Sie reklamierte einen Anspruch auf die Lehre des Hebräischen, forderte aber keinerlei Recht auf die Orientalistik, wie sie sich unabhängig von exegetischen Fragestellungen an den Philosophischen Fakultäten zu etablieren begann. Nach einem grundsätzlichen Desinteresse, wie es sich schon im 18. Jahrhundert in dem Vorschlag Hiob Ludolfs, das „Orienta534 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 36. 535 Ebd., 61.

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le“ aus dem Titel „Collegium Orientale Theologicum“ zu streichen, bekunden konnte, sind für die Bewertung der fehlenden Ambitionen der Theologischen Fakultät sicherlich auch die Arbeiten Wilhelm Gesenius’ zu berücksichtigen, die die Hebraisitik auf eine neue Grundlage stellten. Die Folgen der Diskrepanz waren insbesondere für die lehrenden Orientalisten erheblich. Da sie zugleich immer auch Theologen sein mussten, waren sie zu einem Spagat zwischen den eigenen und den Hörerinteressen gezwungen, der eine Unzufriedenheit begründete, die sich in Abgrenzungstendenzen zur Theologie äußerte. Und hatte sich Michaelis im 18. Jahrhundert noch damit begnügt, dass das Arabische überhaupt gelehrt wurde, so war für die Anfänge des 19. Jahrhunderts die Disqualifikation dieser Genügsamkeit zu einer Fachbeschränktheit charakteristisch. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich folglich durch eine Stimmung der Ungenügsamkeit aus, und ist gleichzeitig als Entwicklungsphase der Orientalistik zu bestimmen, oder – wie Andrea Polaschegg feststellt – als „Musterbeispiel“ dessen, „was Niklas Luhmann unter dem Begriff der funktionalen Ausdifferenzierung fasst – evolutionär gedacht als diskontinuierliche Bildung eines Subsystems (Orientalistik) und sein Herauslösen aus einem übergeordneten System (Theologie)“536. Die Entwicklungsphase der Orientalistik hin zu ihrer Eigenständigkeit dauerte sehr viel länger als bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts. Vielmehr blieb – wie Sabine Mangold zeigt – gerade die Verbindung von Orientalistik und Bibelwissenschaften ein Charakteristikum der deutschen Orientalistik bis weit ins 19. Jahrhundert hinein: „Spätestens um 1850 endete an den meisten Hochschulen die Vertretung der Exegese durch den Orientalisten. Der Hebräisch-Unterricht dagegen blieb noch länger die Aufgabe des Professors für orientalische Sprachen; aber auch dies änderte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In der Forschung wählten weiterhin einige Orientalisten Themen, die sich auf die Bibel und die Welt des christlichen Orients bezogen. Allerdings verstanden auch sie ihre Arbeiten nicht mehr primär als Dienstleistung für die Theologie, sondern betrachteten die Forschungsprobleme unter historischen oder religionsgeschichtlichen Aspekten. Der Bezug zur Religion und zur Bibel blieb aber, durchaus beabsichtigt, weiterhin bestehen. Für die Jahre bis zur Jahrhundertmitte traf Heinrich Ewalds Beobachtung zu, daß die ‚jetzigen morgenländischen Studien in Deutschland‘ sich bei aller Emanzipation von der Theologie gerade darin vom Ausland unterschieden, ‚dass das Biblische darin noch eine sehr bedeutende Rolle spielt‘. Die von Michaelis einst begründete ‚Verbindung von Orientalistik und Bibelwissenschaft in der philosophischen Fakultät‘ fand hier ihre Fortsetzung und erwies sich als eine der bis weit ins 19. Jahrhundert hinein prägenden Traditionslinien innerhalb der deutschen Orientwissenschaft.“537 536 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 180 unter Verweis auf Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 41993. 537 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 63.

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3.4 T RANSFORMATIONEN Die Analysen von Aufnahme- und Referenzbereich haben gezeigt, dass die deutsche Orientalistik des 18. Jahrhunderts Wandlungsprozessen unterliegt. Diese sollen nun mit Hilfe von Transformationstypen538 beschrieben werden. Der zentrale Diskurs des Aufnahmebereichs wird durch Johann Fücks „Arabische Studien“ und seine Rezipienten geführt. Er zeichnet sich durch vier Behauptungen aus: Erstens (i) habe die Orientalistik im 18. Jahrhundert in den Fesseln theologischer Spekulation gelegen, aus denen sie sich zweitens (ii) im 19. Jahrhundert befreite, um nunmehr nicht bloß Hilfswissenschaft der Theologie, sondern eine eigenständige Disziplin zu sein. Drittens (iii) hätte die Verselbständigung bereits sehr viel früher beginnen können, wäre nicht viertens (iv) Johann Jacob Reiske das Opfer der Niedertracht seines Kontrahenten Johann David Michaelis geworden. Im Rekurs auf den Referenzbereich ist festzustellen, dass (i) die Orientalistik im 18. Jahrhundert im Rahmen exegetischer Studien betrieben wurde und über nur geringe Grundlagen verfügte. Die erste Behauptung hat folglich einen rekonstruierenden Charakter, wobei sich die Transformation insbesondere infolge der wertendenden Wortwahl und also in der interpretativen Dimension der Rekonstruktion539 ereignet. Auch für die zweite Behauptung (ii) kann der Transformationstyp der Rekonstruktion beansprucht werden. Diese erschöpft sich allerdings nicht in der Interpretation, sondern steht im Zusammenhang mit dem Transformationstyp der Ausblendung540. Denn wie gezeigt werden konnte, verließ die Orientalistik im 19. Jahrhundert zwar ihre Pionierphase und trat in einen Prozess der Verselbständigung, insgesamt aber blieb sie infolge der Hörerinteressen durchaus ungewollt, mit ihrem anhaltenden biblischen Bezug allerdings „durchaus beabsichtigt“541 Teilgebiet auch der Theologie. Der Transformationstyp der Ausblendung ist kennzeichnend auch für die dritte und vierte Behauptung, vereinigt sich hier allerdings nicht mit der Rekonstruktion, sondern als formale Dekontextualisierung zunächst mit der Assimilation542, dann 538 Vgl. zu diesen Bergemann [u.a.]: Transformation, 47-56. 539 Rekonstruktion: „Transformation, die in Orientierung an und durch Verbindung von Fragmenten oder auch nur Indizien erfolgt. Rekonstruktionen sind Versuche der Wiederherstellung eines verlorenen oder nur fragmentarisch erhaltenen Ganzen, die die Authentizität des Transformierten behaupten und die interpretative Dimension der Transformation vernachlässigen.“ 540 Ausblendung: „Transformation, bei der das Interesse des Transformationsagenten auf ein bestimmtes Objekt konzentriert ist, während andere Gegenstände oder Sachverhalte im Umkreis dieses Objekts vernachlässigt oder ausgeblendet werden.“ 541 Vgl. Anm. 537. 542 Assimilation: „Transformation, die Elemente des Referenzbereichs in die Zusammenhänge der Aufnahmekultur integriert und sie miteinander verbindet.“

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mit der Negation543. Die diskursive Heroisierung Reiskes (iii) unterstellt in Überschneidung mit dem Referenzbereich, dass sich die weitere Entwicklung der Orientalistik in Reiskes Werk ankündigte. Indes verschweigt sie, dass Reiske in einem Zeitalter, in dem sich kaum jemand mit dem Arabischen beschäftigte, die Bemühungen der wenigen nur mit Vorwürfen bedachte. Auch forderte er ein Programm, das vor dem Hintergrund der geringen Grundlagen einer werdenden Disziplin, die sich maßgeblich durch singuläre Forschungsleistungen erhielt und nicht auf strukturellen Interessen gründete, unrealistisch war. Damit sägte er „an dem Ast […], an dem er und seine Zunftgenossen saßen“544 und verhinderte sich vor allem selbst die universitäre Karriere. Um eine Assimilation handelt es sich bei der Heroisierung Reiskes insofern, als dessen Selbstvorstellung unkritisch in die Geschichte der Orientalistik integriert wird und zum Gründungsmythos der Disziplin avanciert. Dieser Gründungsmythos umfasst (iv) die Negation des Referenzobjekts Johann David Michaelis, dessen theologisch-philosophisches Programm als negativer Bezugspunkt ebenso präsent ist wie sein Umgang mit Reiske, während seine Bedeutung für die Entwicklung der Orientalistik, also etwa die Überwindung von Vorurteilen und die Erschaffung von Grundlagen für ein breiteres Interesse und künftige Forschungen, an der Grenze zur Ignoranz545 und zugunsten des Gründungsmythos ausgeblendet wird. Die verschiedenen Transformationstypen, die sich im Zusammenhang mit dem „Verunreinigungsdiskurs“ zeigen, Rekonstruktion, Ausblendung, Assimilation und Negation, vereinigen sich im Zusammenspiel von Interpretation, Integration und Dekontextualisierung zu einer Montage546, die den Referenzbereich als Opfer seiner Zeit erzeugt. Umgekehrt präsentiert Said die Orientalistik mit seiner These der Verflechtung von wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Orient und imperialer Politik als Täter bzw. Tatinstrument westlicher Interessen und bezeugt den Transformationstyp

543 Negation: „Transformatorisches Verfahren der aktiven und expliziten Ausgrenzung. Das Objekt wird zurückgewiesen, bleibt aber gerade in der negativen Bezugnahme stets präsent bzw. wird dadurch erst konstruiert.“ 544 Strohmaier: Reiske, ein Orientalist ohne Orientalismus, 143. 545 Ignoranz: „Transformation, die Tatsachen oder Sachverhalte nicht beachtet. Dies kann entweder den bewussten Verzicht auf eine Auseinandersetzung oder auch die (unbewusste) Unfähigkeit meinen, etwas zur Kenntnis zu nehmen.“ 546 Montage: „Transformation, die unterschiedliche Elemente aus dem Referenzbereich isoliert übernimmt und diese zu Elementen anderer Bereiche, aber auch miteinander in Beziehung setzt […] Montage kann auch als Prozess von Dekontextualisierung (Ausschneiden) und Rekontextualisierung (Collagieren) aufgefasst werden.“

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der Inversion547. Said schreibt eine Geschichte der Orientalistik, deren Pointe die zerstörerische Negation ihres Objektes ist, wobei sich mit der expliziten Ausblendung deutscher Entwicklungen die Ignoranz gegenüber einer möglichen Antithese verbindet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die implizite Folge der Ausblendung. Denn indem die Orientalistik Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande infolge kolonialer Bemühungen unter den Verdacht des Orientalism gerät, erhält die Orientalistik Deutschlands infolge fehlender kolonialpolitischer Ambitionen – zumindest theoretisch – den Status des Unverdächtigen. Und während Said diesen Status zugunsten der Generalverdächtigung gar nicht erst diskutiert, löst er das implizite Bedauern Sabine Mangolds aus, die mit der Feststellung, dass „[d]ie neue, unter politischen Vorzeichen initiierte Beschäftigung mit dem Orient und seinen Sprachen“ die französische Orientalistik „aus ihrer Hilfsfunktion für die Theologie [befreite]“,548 die Orientalismus-Debatte zugunsten der Verunreinigungsbehauptung karikiert. Der dritte Diskurs des Aufnahmebereiches wird durch die Behauptung einer positiven Bedeutung der Theologie für die Entwicklung der Orientalistik im 18. Jahrhundert beschrieben. Er zeigt die größte Überschneidung mit dem Referenzbereich und erweist sich unter Zurückweisung der ex-post-Perspektive als Versuch der Rekonstruktion. Allerdings läuft er Gefahr, die weitere Geschichte der Disziplin auszublenden bzw. zu unterschätzen. Zwar befand sich die Orientalistik im 18. Jahrhundert dank ihres exegetischen Rahmens in einer Pionierphase, doch verließ sie selbige – und das heißt auch ein Stadium der Dürftigkeit – erst mit der Erweiterung der Fragestellung hin zu literarischen und geschichtswissenschaftlichen Themen. Indem die frühe Orientalistik nicht den „Ganz-oder-gar-nicht-Pfad“ beschritt, wie ihn Reiske mit der Forderung des 100jährigen Drucks arabischer Dichter unter Verzicht auf die zeitverschwendende Maßnahmen eines breit angelegten Arabischunterrichts beschrieben hatte, beförderte sie die orientalischen Studien effektiv, gewiss aber nicht ideal und musste sich schon bald den Vorwurf der Ungenügsamkeit gefallen lassen. Insgesamt betrachtet, schreiben die konkurrierenden Diskurse im Aufnahmebereich mit Ausnahme der Orientalism-These einen Konflikt fort, der im Referenzbereich angelegt ist. Beginnend mit einer Gelehrtenfehde im 18. Jahrhundert, die neben dem Streit um ein Buch und eine misslungene universitäre Karriere auch eine Auseinandersetzung um das bessere orientalistische Programm war, verließ er das Duell hin zu einem breiteren Publikum im 19. Jahrhundert infolge der Diskrepanz zwischen konservativen Hörerinteressen und neuen Ansätzen der Orientalisten, ma547 Inversion: „Transformation, die Elemente der Referenzkultur als solche erkennbar bleiben lässt, zugleich aber semantische Verschiebungen erzeugt. Die Inversion erscheint als radikale Form der Umdeutung an der Grenze zur Negation.“ 548 Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 39.

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terialisierte sich in Abgrenzungsbemühungen gegenüber exegetischen Fragestellungen einerseits und dem Bekenntnis zur Theologie als dem Charakteristischen der deutschen Orientalistik andererseits und ist heute als Vorstellung eines Kampfes von Theologie und Philosophie um ihre orientalistischen Anrechte Teil der Geschichtsschreibung. Gleichzeitig bezeugen die verschiedenen Diskurse des Aufnahmebereiches und der Referenzbereich mit einer Vielzahl von Transformationstypen einen komplexen Wandlungsprozess, der die deutsche Orientalistik des 18. Jahrhunderts einem diffusen Meinungsgemenge überlässt. Es zeigt, dass dem „Wie sollte es anders sein“ der Bemühung um Objektivität und Wahrheit letztlich die Faktizität von Subjektivität und Wirklichkeit entspricht. Darüber hinaus erzählt es die Geschichte eines Gelehrten, der im Gelöbnis der Wahrheit, der Verpflichtung auf die Vernunft und als Philosoph alles Theologische von sich wies, mit der Abkehr von früherer frommer Beschränkung die Orientalistik überhaupt erst ermöglichte und sich damit selbst die Steine seiner Verwerfung erschuf.

4.

Ex Oriente Lux – Der Philologe Michaelis und der Orient

„Wir hatten dieses Buch in Händen, da wir Knaben waren; und da wir zwanzig waren und meinten, weit zu sein von der Kinderzeit, nahmen wir es wieder in die Hand, und wieder hielt es uns wie sehr hielt es uns wieder! In der Jugend unseres Herzens, in der Einsamkeit unserer Seele fanden wir uns in einer sehr großen Stadt, die geheimnisvoll und drohend und verlockend war, wie Bagdad und Basra. Die Lockungen und die Drohungen waren seltsam vermischt; uns war unheimlich zu Herzen und sehnsüchtig; uns grauste vor innerer Einsamkeit, vor Verlorenheit, und doch trieb ein Mut und ein Verlangen uns vorwärts und trieb uns einen labyrinthischen Weg, immer zwischen Gesichtern, zwischen Möglichkeiten, Reichtümern, Düften, halbverhüllten Mienen, halboffnen Türen, kupplerischen und bösen Blicken in dem ungeheuren Basar, der uns umgab […] Gleich einer magischen Tafel, worauf eingelegte Edelsteine, wie Augen glühend, wunderliche und unheimliche Figuren bilden, so brannte das Buch in unseren Händen: wie die lebendigen Zeichen dieser Schicksale verschlungen ineinanderspielten, tat sich in unserem Inneren ein Abgrund von Gestalten und Ahnungen, von Sehnsucht und Wollust auf. Nun sind wir Männer, und dieses Buch kommt uns zum dritte Mal entgegen, und nun sollen wir’s erst wirklich besitzen […] je länger wir lesen, desto schöner geben wir dieser Welt uns hin, verlieren uns im Medium der unfaßlichsten naivsten 549

Poesie und besitzen uns erst recht.“

Nach seiner dritten Begegnung mit den „Erzählungen aus den tausendundein Nächten“ entdeckt Hugo von Hofmannsthal in der Sammlung von Märchen vor allem eine „unendliche[] Heiterkeit“. „Wo hatten wir unsere Augen“, fragt er, „da wir

549 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Einleitung zu dem Buch, genannt Die Erzählungen der Tausendundein Nächte. In: Littmann, Enno [Übersetzer]: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten: Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden: Zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe vom Jahre 1839 übertragen von Enno Littmann: Erster Band. Leipzig 31966, 7-15 (hier: 7.10).

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dies Buch ein Labyrinth und voll Unheimlichkeit fanden!“550 Geheimnisvoll, drohend und lockend noch hatte es in den Händen des Zwanzigjährigen gebrannt und ihn mit Furcht erfüllt. Später ist Hoffmannsthal der labyrinthische Weg früherer Jahre nicht mehr als „ein Irrgarten, aber ein Irrgarten der Lust“. Denn erst als Mann sollte er dieses Buch, „das ein Gefängnis zum kurzweiligen Aufenthalt machen könnte“551, wirklich besitzen, und sich selbst „erst recht; wie jemand, in einem schönen Wasser badend, seine Schwere verliert, das Gefühl seines Leibes aber als ein genießendes, zauberisches erst recht gewahr wird“552. Als Hofmannsthal seine Einleitung zu Enno Littmanns Übersetzung der „Erzählungen aus den tausendundein Nächten“ schrieb, war das Buch dem europäischen Publikum bereits mehr als 200 Jahre bekannt. In den Jahren 1704-1717 hatte Jean Antoine Galland (1646-1715) das Werk aus einer syrischen Handschrift und nach mündlichen Erzählungen ins Französische übertragen. Seine Fassung bildete die Grundlage auch für die ersten deutschen Übersetzungen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts erschienen, bevor die Sammlung 1824/25 erstmals aus dem Arabischen übertragen wurde.553 Die Übersetzungsgeschichte der Erzählungen verweist exemplarisch sowohl auf die Veränderungen, die sich zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert innerhalb der Orientalistik vollzogen, als auch auf den Mentalitätswandel an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert. Nachdem die osmanische Bedrohung das 17. Jahrhundert dominiert hatte, betrat Europa im 18. Jahrhundert ein neues Stadium der Auseinandersetzung mit dem Orient, das es erlaubte, den Orientalen nicht mehr nur als muslimischen Feind wahrzunehmen. Die Gründe für eine solche Auseinandersetzung konnten dabei sehr unterschiedlich sein. In diesem Kapitel werden Kaufleute, Missionare und Forscher ebenso begegnen wie gelehrte Gesellschaften und ein engagierter König. Sie alle besuchten den Orient – sei es leibhaftig nach einer wochenlangen Schiffsreise, sei es aus der heimischen Studierstube über einen fliegenden Teppich von Texten und Büchern. Die gelehrte Begegnung mit dem Orient im Rahmen der werdenden orientalistischen Disziplin gründete in der herausragenden Bedeutung, die der arabischen Sprache für das Verständnis biblischer Texte zugeschrieben wurde. Die Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Legitimation der Arabistik als Hilfswissenschaft der Bibelphilologie zeigen sich exemplarisch an der Orient-Reise des armchair travellers Johann David Michaelis. Der erklärte Philosoph, der sich einzig der Wahrheit verpflichtet wissen wollte und den Hörsaal nach dem Bericht eines Studenten stets mit der Bibel unter dem Arm betrat, stellt mit seinen orientalistischen Arbeiten einen Orient vor, dessen Grenzen nicht durch Topographie, Politik oder 550 Ebd., 14. 551 Ebd., 15. 552 Ebd., 10. 553 Vgl. Polaschegg: Der andere Orientalismus, 152-155.

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Religion, sondern durch Sprache markiert werden. Näheren Einblick in seinen philologisch konnotierten Orient geben die beiden Schriften „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen“ und „Von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache“, deren Argumentationen nachfolgend skizziert werden sollen. Ganz im Sinne des armchair travellings führen sie in die textuelle Auseinandersetzung von Orient und Okzident, bereiten aber zugleich das Projekt einer tatsächlichen Reise in den Orient vor, die unter dem Namen Arabische Reise bekannt ist und weniger ihrem Initiator Johann David Michaelis denn ihrem einzig Überlebenden Carsten Niebuhr den diskursiven Status eines Helden verliehen hat. Die Geschichte der Arabischen Reise wird im zweiten Teil des Kapitels im Fokus stehen. Den Hintergrund der Untersuchung bilden neben der Frage nach dem Nutzen und der Notwendigkeit einer Reise in den Orient zwei Verdachtsmomente, die im vorigen Kapitel angedeutet wurden. Zwar konnte gezeigt werden, dass das Fück’sche Urteil der Gefangenschaft der Arabistik unter den „Fesseln der Theologie“ vornehmlich dem historischen Wandel geschuldet ist, doch bleibt zu fragen, ob die bibelphilologische Ausrichtung der jungen Disziplin nicht auf ein weitgehend antiquarisches Interesse am Orient verweist, das eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Orient verhinderte. Der zweite Verdacht wird durch Edward Saids These der Verflechtung von Orientalistik und Orientalismus und die Frage nach dem politischen Potential der michaelischen Orient-Reise beschrieben. Wie der Titel „Ex Oriente Lux“ andeutet, wird sich zeigen, dass Michaelis den Orient nicht mit der kolonialen Rüstung eines aufklärenden Imperators betrat, sondern mit einer bestimmten Hoffnung, einer Hoffnung, die Hugo von Hoffmannsthal als die Erfahrung beschreibt, sich selbst zu besitzen. Inwiefern oder ob dieser Besitz des eigenen Selbst aber möglich ist ohne die Aneignung des Anderen – sei es auch nur eines Buches – wird zu klären sein.

4.1 „[D] ENN

DIE AUSGESTORBENE H EBRÄISCHE S PRACHE LEBET NOCH “ – „B EURTHEILUNG DER M ITTEL , WELCHE MAN ANWENDET , DIE AUSGESTORBENE H EBRÄISCHE S PRACHE ZU VERSTEHEN “ (1757) 554

Mit der „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen“ erschien im Jahr 1757 die philologische Dogmatik Michaelis’. Dem Titel des Werks gemäß wollte Michaelis „die verschiedenen Mittel nahmhaft machen, die man angewandt hat, die Hebräische Sprache zu erklären, und

554 MICHAELIS, Johann David: Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen. Göttingen 1757 (hier: 142).

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sie zugleich beurtheilen“, wobei er das Ergebnis seiner Beurteilungen bereits zu Beginn vorstellte: „Einige [der Mittel] sind gantz verwerflich, andere gut, aber unzulänglich: die Kenntniß der übrigen morgenländischen Sprachen ist das beste, und giebt die meiste Hülfe und Gewißheit.“555 Mit seiner These stand Michaelis in der Nachfolge des Leidener Gelehrten Albert Schultens (1686-1750), der die Bedeutung der semitischen Sprachen für die Erforschung des Hebräischen herausgestellt hatte.556 Michaelis hatte Schultens, der ihm „unter allen holländischen Gelehrten am besten gefiel“ und auch „sehr gütig“

555 Ebd., 8. 556 Zu Schultens vgl. DIESTEL, Ludwig: Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche. Jena 1869, 450-452. Nach dem Einfluss Schultens ist auch die frühere Erwähnung der These in anderen Werken Michaelis’ zu erwähnen: so in der Göttinger Antrittsschrift „Von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden“ und der „Hebräischen Grammatik“ (MICHAELIS, Johann David: Hebräische Grammatik nebst einem Anhange von gründlicher Erkenntniß derselben. Halle 1745). Hier wie dort allerdings werden die „übrigen morgenländischen Sprachen“ längst nicht in der herausragenden Rolle vorgestellt, wie sie ihnen mit der „Beurtheilung“ zukommt. In der Antrittsschrift konnte Michaelis „den Nutzen oder vielmehr die Nothwendigkeit dieser Sprachen“ sowohl voraussetzen als auch spärlich begründen. „[U]nentbehrlich“ seien sie jenen, „die das Hebräische gründlich verstehen wollen“ und würden „auch wircklich die Mühe, die man sonst auf das Hebräische allein verwendet, erleichtern, wenn man sie mitlernet“ (Michaelis: Wahrheit, 46f.). Und in seiner „Hebräischen Grammatik“ sind die „mit der Hebräischen Sprache verwandten dialecti“ das vierte von insgesamt fünf „Hülfs=Mittel[n]“, die Michaelis nannte, um „uns die wahre Bedeutung der verborum [des Hebräischen zu] entdecken“ (Michaelis: Hebräische Grammatik, 104 [Anm.]). Im Anhang der „Grammatik“ heißt es ähnlich: „Doch was uns die fast ausgegangene Hebräische Sprache nur unvollkommen zeiget, können wir öfters aus den mit ihr verwanten, der Chaldäischen, Syrischen, Aethiopischen, und sonderlich der Arabischen Sprache mit mehrerer Gewißheit erlernen. Dieses sind die Sprachen, die wir als verwante Dialecten, und Töchter Einer Mutter, nemlich der urältesten Sprache, anzusehen haben“ (Michaelis: Hebräische Grammatik: Anhang, 19). In der Vorrede der Grammatik findet sich darüber hinaus eine Andeutung der superlativischen Bedeutung des Arabischen: „[…] Schultens, welcher letztere durch seine gewiß recht ausnehmende Erkentniß der Arabischen Sprache vor andern im Stande ist, auch das verborgenste in der ausgestorbenen Hebräischen Sprache zu erkennen“ (Michaelis: Hebräische Grammatik: Vorrede). In beiden Werken werden die „übrigen morgenländischen Sprachen“ folglich durchaus als ein notwendiges Mittel zum Verstehen des Hebräischen präsentiert, keineswegs aber als „das beste“.

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gegen ihn war,557 im Zuge seiner Reisen nach England kennengelernt und leugnete den Einfluss seines Lehrers auf sein philologisches Denken ebenso wenig wie er sich selbst den „Ruhm der Neuigkeit“ zugedachte: „Was hier vorgetragen ist, sollte billig niemanden unbekannt seyn, der sich auf die morgenländischen Sprachen legt: und ob es gleich einigen fremde vorkommen möchte, so entsage ich doch gern allem Ruhm der Neuigkeit. Andere haben längstens vor uns den Weg gezeigt, den ich auch anpreise […] Vielleicht wird unter allen diesen keiner seyn, mit dem ich so sehr übereinstimme, als mit dem seel. Schultens […] Ich habe […] viel von ihm gelernt, welches ich gleich zum voraus bekenne, um ja nirgends, wo ich etwas aus ihm genommen habe, eines gelehrten Diebstahls schuldig zu werden.“

558

Im sechsten der in insgesamt 60 Paragraphen untergliederten „Beurtheilung“ erläuterte Michaelis die eigentliche Prämisse seiner Abhandlung: dass nämlich die hebräische Sprache ausgestorben sei. Wider die Annahme ihrer Lebendigkeit unter Juden behauptete Michaelis, dass Juden kein zuverlässigerer Zeuge für die Klärung der Bedeutung hebräischer Wörter seien als „wir“. Denn erstens sei es „einmahl falsch, daß die Hebräische Sprache ihre Mutter=Sprache sey: sie lernen sie so wohl als wir“. Zweitens hätten sich die „Sitten der Juden […] unter den Persern, Griechen und Römern ungemein, noch mehr aber in ihrer 1700 jährigen Zerstreuung unter andere Völker geändert“.559 Eine sprachliche oder sittliche Sukzession der Juden des 18. Jahrhunderts zu den Israeliten der mosaischen Zeit schloss Michaelis somit aus. Vielmehr behauptete er, dass sie in sprachlicher Hinsicht einzig Nachkommen Europas seien: „Eine verdorbene Europäische Sprache, war ihnen mit der Milch eingeflößet […] Von dem Geist, der die alten Dichter beseelte, als noch das güldene Alter der Hebräischen Sprache war, welchem wir die Lieder Mosis, die rührend=schönen Klagen Hiobs und Jeremia, die Psalmen 557 MICHAELIS, Johann David: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, mit Anmerkungen von Hassencamp. Nebst Bemerkungen über dessen litterarischen Character von Eichhorn, Schulz und dem Elogium von Heyne. Rinteln/ Leipzig 1793, 28. 558 Michaelis: Beurtheilung, Vorrede. Zur „Neuigkeit“ Michaelis vgl. SCHULZ, Johann Christoph Friedrich: Bemerkungen über J. D. Michaelis Litterarischen Charakter. In: Michaelis: Lebensbeschreibung, 227-264 (hier: 243): „Von Schultens lernte er [Michaelis] das Hebräische aus den noch lebenden Dialecten desselben, besonders aus dem Arabischen, erklären: denn was man hierin vor Schultens Zeiten, besonders in Teutschland, was selbst der ältere Michaelis da geleistet hatte, ist kaum nennenswerth […] Michaelis war der erste Ausländer, der diese Schultensische Behandlungsart des Hebräischen außerhalb Holland verbreitet hat.“ 559 Michaelis: Beurtheilung, 28f.

148 | F REMDE V ERGANGENHEIT Davids, und die Poesien der Propheten zu danken haben, hat dis von den schönen Wißenschaften entfernte Volk, dessen Gelehrte höchstens eine schul=mäßige Gelehrsamkeit ohne Umgang mit den angenehmen Musen hatten, seit viel hundert Jahren keine Triebe mehr empfunden. Was jetzt die Juden Lieder nennen, ist das elendeste Zeug, dabey einem, der Geschmack hat, übel werden muß.“

560

Mit Verzicht auf die Anmerkung der „Verderbtheit“ der Sprache, die allein „Übelkeit“ verursache, erläuterte Michaelis an späterer Stelle, dass das noch heute lebendige, jüdische Hebräisch, die „Rabbinische Sprache“, „nur ein Hebräisches der Gelehrten“561 und in seinen Wortbedeutungen durchaus „willkührlich“ sei: „Mehr als tausend Jahre nach Untergang des Hebräischen brauchten die Rabbinen das biblische Wort nicht in der Bedeutung, die es wircklich hatte, sondern so, wie sie es erklärten: sie machten Kunst=Bedeutungen, und ein Europäisch=Hebräisch. Haben sie die wahre Bedeutung getroffen, so ist es gut: allein aus der Rabbinischen Sprache kann ich sie so wenig erweisen, als aus dem Zeugniß der Rabbinen.“

562

Mit der Erklärung, dass die „Rabbinische Sprache“ keinen „Beweiß der Bedeutung der Hebräischen Wörter abgeben könne“563, erreichte Michaelis das Ziel einer Argumentation, deren eigentliche Absicht die Verurteilung des Mittels der „Rabbinischen Sprache“ war, deren Aussage aber zunächst seine Prämisse betraf: Die hebräische Sprache ist ausgestorben. Mit dem jüdischen Hebräischen der „Rabbinischen Sprache“ ist die Tote einzig namentlich auferstanden. Durchaus aber konnte Michaelis die Verdienste der lebendigen um die ausgestorbene Sprache honorieren. Schließlich hätten den Christen ohne das jüdische Wissen um das Hebräische die ersten Lehrmeister gefehlt, denn „[d]ie ersten unter den Christen, die es nach der Aufweckung der Wißenschaften aus einem langen Schlafe oder Tode, im 16ten Jahrhundert gewaget haben, Hebräisch zu verstehen, haben es von den Juden gelernt“.564 Darüber hinaus sei in jüdischen Erklärungen „oft vieles gute und wahre“ zu finden, das man „in den besten Auslegungen der Christen vergeblich“ suche.565 Und so empfahl Michaelis denn auch unbedingt das 560 Ebd., 29. 561 Ebd., 246. Zur „Rabbinischen Sprache“ heißt es hier: „Man benennet nehmlich mit diesem Nahmen diejenige Hebräische Sprache, der sich die Rabbinen, theils etwas früher, sonderlich aber im 10ten und 11ten Jahrhundert als einer Gelehrten=Sprache bedienet haben, und die nachher die Gelehrten=Sprache unter den Juden geblieben ist.“ 562 Ebd., 249f. 563 Ebd., 246. 564 Ebd., 27. 565 Ebd., 28.

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Erlernen der Rabbinischen Sprache.566 Allein „ihr gutes“ sei „dadurch nicht als wahr erwiesen, weil es Juden gesagt haben“.567 Juden hätten „weiter nichts, als eben die Hülfs=Mittel, die wir besitzen, das Hebräische zu verstehen“ und dies „meistens viel unvollständiger als wir“.568 Tatsächlich nämlich hätte „uns die Bekanntschaft, welche wir durch die Griechen und Lateiner mit der alten Welt haben, in den Stand“ gesetzt, „manches richtiger zu verstehen“ als „sie“, die sich nicht „durch Griechische und Lateinische Philologie […] zu dieser Arbeit gewöhnt[en]“.569 Nach dem Erweis des Hebräischen als eine ausgestorbene Sprache widmete sich Michaelis seiner zweiten Prämisse: dass die „Hebräische Sprache“ ohne „Mittel“ nicht zu verstehen sei. Das Ziel seiner Argumentation war auch hierbei nicht die Erläuterung der Prämisse, sondern die Abwehr möglicher Einwände gegen den Nutzen der „morgenländischen Sprachen“. Nach selbigen solle es „zur Deutlichkeit der Hebräischen Bibel gehören, daß man sie ohne andere Hülfe (ohne Gelehrsamkeit) dechifriren kann“. Michaelis begegnete dererlei Stimmen spöttisch: „denn, sagt er [Jacob Gousset], er könne sich nicht einbilden, daß Gott verlange, wir sollten so viel morgenländische Sprachen lernen, um sein Wort zu verstehen. Eine gutherzige Hoffnung! ein anderer wird sich nicht einbilden, daß Gott überhaupt verlange, daß wir Gelehr570

samkeit anwenden sollen, sein Wort zu verstehen“.

/ „[S]ollte Gott gewollt haben, daß der

so sein Wort verstehen will, so wie Gousset 40 Jahr lang mit Rathen zubringen, und doch alsdenn so wenig gewisses finden sollte?“

„[D]ie Lehre von der Vorsehung Gottes“ dürfe kein „Deckmantel des Unfleißes und der Unwissenheit“ sein. Wolle man die Vorsehung Gottes als Argument betrachten, dann für die These und nicht ihre Anfechtung. Denn „wider alles was einer zum voraus vermuthen könnte“, habe Gott es „durch Erhaltung der Arabischen Sprache […] möglich gemacht […], Bücher einer vor 2000 Jahren ausgestorbenen Sprache […] so hinlänglich zu verstehen“.571 Allerdings wollte Michaelis eben dieses Argument nicht gebrauchen und „von einer Berufung auf die Providentz den Vortheil vor die Göttlichkeit dieser Schriften nehmen, den vielleicht einige Theologen gel566 Ebd., 250: „Dis heißt nicht: man soll nicht Rabbinisch lernen, sondern nur, man soll es nicht dazu anwenden, wozu es nicht dient. Sein wahrer Nutzen ist, daß man die Schriften der Rabbinen verstehet: und wer diese sehr schätzbaren Erklärungen unserer ersten Lehrer im Hebräischen, die zum Theil viel besser sind, als gewisse Commentarii der Christen, nicht entbehren will, der wird die so sehr leichte Sprache lernen […] müssen.“ 567 Ebd., 28. 568 Ebd., 30. 569 Ebd., 31. 570 Ebd., 56. 571 Ebd., 187.

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tend zu machen suchen würden“.572 Vielmehr schrieb er „hier als Philologe“,573 hinter dessen Spott sich eine Polemik gegen „die Heiligkeit, Göttlichkeit, und Unveränderlichkeit“574 der hebräischen Sprache und damit eine Relativierung der lutherischen Lehre von der claritas scripturae verbarg. Die Sprache dieser Schrift sei „nichts anders […] als die Sprache der Cananiter“575. Ihre fehlende Göttlichkeit indes könne nicht bedeuten, dass der hebräische Text „als vollkommen undeutlich und ungewiß gleichsahm verlohren“ wäre, „denn die ausgestorbene Hebräische Sprache lebet noch in der mit ihr verwandten Arabischen, und in einer großen Menge Syrischer und anderer morgenländischer Schriften“.576 Mit der Erläuterung seiner Prämissen entfaltete Michaelis seine These. Voraus setzte er dabei, dass die „morgenländischen Sprachen“ „nicht so wohl eigene und besondere Sprachen, als vielmehr bloße Dialecten einer und eben derselben weit ausgebreiteten Sprache sind, zu der die Hebräische gleichfalls gehört“.577 Er bezeichnete die verschiedenen „Dialecten“ auch als „Mund=Arten“ jener einen großen Sprache, die er „in der einfachen Zahl die Morgenländische“ nannte.578 Sie umfasse neben der noch lebenden arabischen Sprache auch „die zwar ausgestorbene, allein in vielen Schriften erhaltene Syrische und Chaldäische, ferner diejenigen, von 572 Ebd., 255. 573 Ebd. 574 Ebd., 93. Darüber hinaus mangle es der hebräischen Sprache auch an Reinheit: „Bey andern [weniger vernünftigen Leuten] lautet er [der Einwurf] etwan so: es ist unrecht, die reine und göttliche Sprache der Hebräer aus den unreinen Dialecten zu erläutern, denn die unverfälschte Sprache, die von Gott herstammt, hat sich blos unter dem Volcke Gottes erhalten. Gerade, als wenn die Reinigkeit der Sprache ein Kennzeichen der Kirche oder des Volckes Gottes wäre! Ich sehe auch nicht, warum man einen andern morgenländischen Dialect vor unrein halten wollte, weil er nicht Hebräisch ist […] Es ist dis eben so ungerecht, als wenn der Francke den Niedersachsen, Undeutsch nennen wollte, weil er seine Mund=Art nicht hat“ (ebd., 179f.). 575 Ebd., 93. 576 Ebd., 142. 577 Ebd., 146. 578 Ebd., 155: „Es würde ein großer Irrthum seyn, wenn wir diese Mund=Arten in dem Verstande Sprachen nennen wollten, in welchem wir etwan Deutsch, Englisch, und Frantzösisch, vor drey Sprachen rechnen: jener ihre Verwandtschaft ist ungemein viel näher, und sie sind im eigentlichen Verstande nur Mund=Arten oder Dialecten einer großen Sprache, die ich in der einfachen Zahl die Morgenländische nennen möchte. Wer sie gelernt hat, und über ihren Unterscheid gebührend nachdencket, wird sie einander nicht unähnlicher finden, als die Dialekten Deutschlandes, die bisweilen im Reden sehr verschieden klingen, und daher von dem Ungelehrten nicht verstanden werden, im Schreiben aber schon das klärer entdecken, worin sie übereinstimmen.“

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denen wir weniger Denckmähler haben, die Aethiopische und Samaritanische, und endlich die Thalmudische, nicht aber die Rabbinische“.579 Allerdings habe die arabische Sprache unter ihren verschiedenen Verwandten den Vorzug, „daß man sie ungemein viel öfter, und zuversichtlicher zur Aufklärung des Hebräischen gebrauchen kann“.580 Als Beweis der Nähe der arabischen zur hebräischen Sprache führte Michaelis neben einer Vielzahl philologischer Argumente verschiedene Bibelstellen an. So scheine aus Ri 7,9-14 zu folgen, „daß Gideon die Reden der Araber in ihrem Lager behorchet und verstehet“.581 In Gal 4,25 und „an dem eintzigen Orte, wo er [Paulus] eine eigentlich so genannte philologische Anmerkung über ein Hebräisches Wort macht“, erläutere er es aus dem Arabischen.582 Und überhaupt könne die nahe Verwandtschaft beider Sprachen „den nicht befremden, der bedencket, daß die Arabische, oder wie sie die Juden nennen, die Ismaelitische Sprache, von den Nachkommen Abrahams, also von den nächsten Brüdern der Israeliten geredet ward“.583 Zur Klärung der Verwandtschaftsbeziehungen und gegen den Irrtum der Mutterschaft behauptete Michaelis, es sei „falsch, daß die übrigen morgenländischen Sprachen Töchter der Hebräischen sind“. Vielmehr seien sie „Schwestern dieser Sprache Canaans“.584 Neben der Göttlichkeit des Hebräischen bestritt er folglich seine Ursprünglichkeit. Denn es sei „noch durch nichts erwiesen, daß alle Sprachen 579 Ebd., 154f. Zum „Thalmudischen“ vgl. ebd. 245f.: „Blos die noch nicht sehr lange Zeit, welche seit dem Aussterben der Hebräischen Sprache verflossen war, und der glückliche Umstand, daß die Verfasser des Thalmuds das Chaldäische als ihre Muttersprache redeten, macht daß man dieser gemischten Sprache manches Ueberbleibsel der alten und richtigen Bedeutungen zutrauen, und sie zum Beweiß anführen darf: welches Vertrauen auch die Erfahrung unterstützt.“ Vgl. zu Umfang und Ursprung der morgenländischen Sprachen auch MICHAELIS, Johann David: Cod. Ms. Mich. 76. Universitätsarchiv Göttingen. Der Codex enthält eine unvollendete „Geschichte der morgenländischen Sprachen“ (Kapitel III – Geschichte der chaldäischen, syrischen, thalmudischen Sprache – und Kapitel IV – Geschichte der arabischen und äthiopischen Sprache – fehlen). Hier bezeichnete Michaelis die hebräische Sprache ausdrücklich nicht als die älteste (ebd., 52) und schreibt: „Die Hebräische, Samaritanische, Syrische, Chaldäische, Arabische und Äthiopische Sprache sind mit einander verwandt. Niemand der sie versteht wird dieses läugnen […] Und diese Sprachen sehe ich für unmittelbare Töchter der ältesten Sprache der Menschen an“ (ebd., 55). 580 Michaelis: Beurtheilung, 251. 581 Ebd., 156. 582 Ebd., 161. 583 Ebd., 157. 584 Ebd., 191. Das Arabische freilich sei „die allernächste Schwester der Hebräischen“ (ebd., 163).

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von Einer, am wenigsten daß sie von der Hebräischen abstammen“.585 Mit der impliziten Behauptung der Anarchie der Sprachen wider den Einwand ihrer Hierarchie und dem Konstrukt der „Morgenländischen Sprache“ wandte sich Michaelis gegen das Konzept einer Ursprache, das im Kontext einer komplexen Sprachursprungsdiskussion steht, die im 18. Jahrhundert stattfand und mit der Berliner Preisfrage von 1771 ihren Höhepunkt erreichte.586 Trotz der nicht zu überbietenden Nähe des „jetzige[n] Arabisch[en] um Mecca herum“ zu dem „Hebräischen des Moses“587 warnte Michaelis vor der „übertriebene[n] Hoffnung“, dass „schlechterdings alles Dunckele einer vor 2000 Jahren untergegangenen Sprache, durch die Kenntniß die wir von den ihr verwandten Mund=Arten haben, oder haben können, völlig aufgeklärt“ würde „und nichts schweres übrig“ bliebe.588 Darüber hinaus missbilligte er die „Mode“, „es mag nöthig seyn oder nicht, den Leser mit Arabischem aufzuhalten“ und gab die Möglichkeit auch eines „eckelhaft[en] und verächtlich[en]“ Gebrauchs des Arabischen zu bedenken: „Gehet es weiter, so bekommen wir eine Secte, die das Arabische völlig so gut anwendet, wie einige die ersten Sätze der Metaphysik, und das Kleid der mathematischen Methode, wodurch das Gute, so Schultens gestiftet hat, in einem eintzigen Menschen=Alter wider vernichtet, und das Richtige seiner Philologie mit dem Unrichtigen dem größern Theil der Gelehrten so ver589

haßt und lächerlich werden wird, als es ihnen anfangs neu und unbekannt war.“

Der Gefahr eines modischen Missbrauchs des Arabischen ungeachtet äußerte Michaelis insgesamt eine „hoffnungsvolle Aussicht, die nicht blos den Theologen, und Philologen, sondern alle und jede Gelehrten, so die Wissenschaften nicht nach dem Brodte abmessen, vergnügen wird“. Denn wie die „erste Auferstehung der Wissenschaften im 15ten Jahrhundert“ dadurch entstand, „daß die besten Denckmähler des alten Griechenlandes und Roms wider bekannt wurden“, „so müßte es eine neue Auferstehung der Wissenschaften geben“, „wenn die Schriften des Orients, die in Syrischer und Arabischer Sprache vorhanden sind, und wenigstens eben so viel Natur= und Geschicht=Kunde, und noch dazu manches so uns näher angehet enthalten, eben so bekannt würden“.590

585 Ebd., 75. 586 Vgl. dazu NEIS, Cordula: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts: Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin/ New York 2003. 587 Michaelis: Beurtheilung, 254. 588 Ebd., 204f. 589 Ebd., 210. 590 Ebd., 253.

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Der theologischen Angst, dass diese neuen Entdeckungen, die man „aus dem Arabischen“ und damit „aus der Sprache Muhammeds“ mache, eine neue Glaubenslehre nach sich ziehen würden, entgegnete Michaelis eine längere Anklage ihrer Vertreter. Sie seien der „ungelehrter[e] Theil unter denen, die sich von der Gottesgelahrtheit nennen“ und „eine Disciplin sehr fürchterlich und aller Gegenanstalten würdig“ finden, wenn „sie neu und unbekannt“ ist.591 Wiewohl die Disziplin der Erklärung des Hebräischen aus den „morgenländischen Sprachen“ nicht mehr neu sein dürfte, „reden sie von Gefahr der reinen Lehre, ohne irgend die eintzelne Lehre angeben zu können, welcher die Gefahr drohen mag“.592 Die Erfahrung aber schon lehre, „wie unnöthig und ungegründet“ die Furcht sei. „Bey allem eigenen Gebrauch des Arabischen“ sei Michaelis selbst „nie einer Spur einer neuen Glaubens=Lehre ansichtig geworden“, habe vielmehr größere Gewissheit der „alte[n], sonderlich [der] Lehre von Christo, aus vielen Stellen des A.T.“ erlangt.593 Mit einer Karikatur der angeklagten „Gottesgelahrten“ schloss Michaelis sein Plädoyer zunächst vorläufig: „In der That ist die Besorgniß dieser Leute eine schlechte Schmeicheley gegen die Glaubens=Lehre, für welche sie so zärtlich scheinen wollen. Kommt ihnen denn diese so schlecht gegründet vor, daß sie Gefahr läufft, zu verlieren, wenn man im Hebräischen nicht entweder den gewöhnlichen Uebersetzungen ohne Beweiß folgen, oder die Bedeutungen rathen, sondern davor den ältesten und vernünftigsten Weg einschlagen wollte, die ausgestorbene 594

Mund=Art aus der nächstverwandten lebenden zu verstehen?“

591 Ebd., 264. 592 Ebd., 266f. 593 Ebd., 265.268. Nicht nur die eigene Erfahrung aber negiere die Furcht. Michaelis konnte auch auf andere Vertreter der Disziplin verweisen (ebd., 268): „Welcher unter allen denen, die sich bisher dadurch bekannt gemacht, und dabey von Kennern das Zeugniß haben, das Arabische zu verstehen, (denn andere möchten freilich wunderlich Zeug dichten können) welcher Pocoke, Bochart, Schultens, Celsius, hat dadurch eine Glaubens=Lehre geändert?“ In indirekter Relativierung der Furcht schrieb Michaelis an anderer Stelle: „Wenn wir mit Hülfe dieser verwandten Mund=Arten das ausgestorbene Hebräische erläutern, so handeln wir in der That eben so, wie die Abendländischen Sprach=Gelehrten, die das alte Gothische, oder Fränckische […] lesen, und aus dem Deutschen, dem Dänischen, dem Schwedischen, dem Isländischen, dem Englischen, erklären und verstehen, woran niemand etwas zu tadeln findet, sondern es vor den sichersten und eintzigen Weg hält“ (ebd., 160). 594 Ebd., 268.

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Zum letzten Schluss ließ Michaelis ein Argument folgen, das auch an Spott nicht spart und sich seinerseits als Karikatur der Argumentation der „Beurtheilung“ vorstellt: „Der gantze Verdacht würde nie entstanden seyn, wenn man gewußt hätte, daß nicht der größeste Nutzen des Arabischen in Entdeckung des neuen und unbekannten, sondern in Bestätigung der bekannten und gewöhnlichen Bedeutungen bestehet: welche man sonst nur auf guten Glauben, oder auf schwächere Beweise annimt […] Dis konnten freilich die nicht wissen, die das Arabische selbst nicht kannten, sondern von dessen Nutzen blos aus Schriften urtheilten, in denen des bekannten nicht gedacht, sondern nur die neuen Entdeckungen der Welt vorgelegt wurden. Unwissenheit ist auch hier die Mutter des Argwohns, so wie anderwerts der Inquisition.“

595

Nachdem Michaelis auf mehreren hundert Seiten die exegetische Notwendigkeit der Kenntnis der arabischen Sprache hatte begründen können, eröffnete er am Ende des Werks, dass sich ihr Nutzen in der Bestätigung des Bekannten, ihre Notwendigkeit im Gewinn von Gewissheit erschöpfe. Die nächste Verwandte der hebräischen Sprache offenbare folglich vor allem das, was ehedem zu wissen war. Damit wäre das Arabische als das beste Mittel, die hebräische Sprache zu verstehen, durch die Intuition als das sodann allerbeste Mittel noch übertroffen. Michaelis selbst legte diese Schlussfolgerung nahe, indem er eine „hermeneutische Regel“ formulierte, die „mit Ausnahme der an und vor sich schweren Stellen“ gelte, „deren aber wenige sind“: „[D]er wahre Sinn ist der, welcher einem der Sprache kundigen und vorhin gar nicht eingenommenen Leser sogleich von selbst beyfällt, wenn er geschwinde und im Zusammenhange lieset: der aber weit öfter unrichtig, den selbst der Sprachkundige erst mit Mühe erkünstelt.“

596

Dem überraschenden Finale der „Beurtheilung“ zum Trotz zeigt ein resümierender Blick auf die fachspezifischen Pointen des Werks ein wenig irritierendes Bild. Im Kontext der Theologie und einer Auseinandersetzung um die lutherische Lehre vom Prinzip sola scriptura liest sich Michaelis’ Polemik gegen die „Heiligkeit, Göttlichkeit und Unveränderlichkeit der Schrift“ als eine Relativierung der Formel sacra scriptura sui ipsius interpres597. Für die Rekonstruktion der Orientalistik im 18. 595 Ebd., 274. 596 Ebd., 353. 597 Vgl. Luther, Martin: WA 7, 97, 23. Zur „Untergrabung“ des Prinzips sola scriptura vgl. WEIDNER, Daniel: ‚Menschliche, heilige Sprache‘: Das Hebräische bei Michaelis und Herder. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 95

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Jahrhundert und ihre Bewertung sei herausgestellt, dass Michaelis mit seiner „Beurtheilung“ versucht war, das Studium der „morgenländischen Sprachen“ und vor allem des Arabischen zu befördern. Dabei räumte er nicht nur fromme Vorbehalte aus, sondern verhehlte auch seinen Wunsch nicht, „daß man bey den morgenländischen Sprachen lieber von einer andern den Anfang machen, und mit dem Hebräischen beschließen möchte“. Der Vorschlag, der „die […] allgemeine Gewohnheit wider sich“ hatte, zielte auf ein leichteres Erlernen des Hebräischen, das „[u]nter den drey morgenländischen Sprachen, der Syrischen, Arabischen, und Hebräischen, […] bey weiten die schwerste“ sei: „sowohl weil sie ausgestorben ist, und wir in ihr so gar wenige Schriften übrig haben, als auch wegen anderer Ursachen“.598 Vor einer solchen Beförderung des Arabischen mögen die bibelphilologischen Motive Michaelis’ – zumindest hinsichtlich der Urgeschichte der Orientalistik – als zweitrangig betrachtet werden. Nicht zuletzt ist die „Beurtheilung“ eine philosophische Arbeit. Mit der Behauptung der Anarchie der Sprachen und der Negation einer Ursprache stellte sich Michaelis als der „Professor der Weltweisheit“ vor, der er nach einer Unlust für die Theologie, gegen die Unterstellung einer Professur für orientalische Sprachen und gemäß seiner „Lebensbeschreibung“ war. Für die Entwicklung der Sprache und gegen die Annahme ihrer Göttlichkeit beanspruchte er das Prinzip der „rhetorischen Derivation“. Danach lassen sich die Worte nicht auf eine allgemeine Bedeutung reduzieren, aus der sich dann mittels einer „logischen Deduktion“ weitere Bedeutungen ableiten ließen.599 Vielmehr gebe es eine „Grundbedeutung“, aus der sich in rhetorischer Freiheit, die sich näherhin als Freiheit des Gebrauchs qualifizieren lässt, neue Bedeutungen bildeten. „Wer sich einbilden wollte, daß er aus der Grund=Bedeutung des Stamm=Wortes alle übrige Bedeutungen desselben, und der von ihm entstandenen Wörter, von selbst entdecken, oder gar (2003), 171-206. Weidner stellt fest, dass es Michaelis und der Hebraistik des 18. Jahrhunderts durch die „Desakralisierung der hebräischen Sprache“ gelingt, das „alte Programm, die Schrift aus der Schrift zu verstehen“, aufzuheben und durch ein anderes zu ersetzen, „das zugleich morphologisch-sprachanalysierend und sprachvergleichend ist: die Suche nach den Wurzeln unter Rückgriff auf eine verwandte Sprache“ (ebd., 173). 598 Michaelis: Beurtheilung, 340f. Michaelis sei „gewiß versichert, wenn man auf eben die vernünftige Art, welche man in diesen Beyspielen billigen wird, vom Syrischen oder Arabischen zu den kleinen Ueberbleibseln des Hebräischen fortginge, so würden die Schwierigkeiten verschwinden, die manchen beym Hebräischen lange plagen, oder abschrecken, und man würde in eben der Zeit, in der man sonst im Hebräischen einige Fertigkeiten erlanget, auf guten Glauben anderer etwas zu übersetzen, noch etwas mehr und zuverläßiger Hebräisch, und dabey jene Sprachen oben drein fassen“ (ebd., 345f.). 599 Vgl. Weidner: ‚Menschliche, heilige Sprache‘, 176f.

156 | F REMDE V ERGANGENHEIT erweisen könne, der würde sich sehr betrügen. Die Art, wie neue Bedeutungen entstehen, ist zu mannigfaltig, als daß man sie gleichsahm alle von vorne überrechnen könnte: und unter den unzähligen uneigentlichen Bedeutungen, die ein Wort haben könnte, sind immer nur wenige durch den Gebrauch ausgewählt. Auf diesen kommt es an: die blosse Etymologie würde uns nur mögliche Bedeutungen zeigen, der Gebrauch aber die wenigen, die aus einer so grossen Menge wirklich sind.“ – „Vieles ist in der Abstammung, dessen der Gebrauch vergißet.“

600

Den Nutzen der Etymologie schätzte Michaelis folglich als „nicht zu groß“ ein. Zugleich allerdings sei „es auch unrecht […], ihr denselben schlechterdings abzuleugnen“, „sind doch gewiß nicht wenige Wörter, bey deren zweiter Bedeutung man sich stets der ersten erinnert“.601 Michaelis’ Kritik der Etymologie gründete in sprachtheoretischen Überlegungen, die einen immanenten Sprachursprung voraussetzten. Sprache entstehe „durch Noth und durch gesellschaftliche Triebe“, die sich als „[d]ie große Begierde“ materialisierten, „etwas Nahmenloses zu benennen“. „[B]isweilen auch“ könnten „die heftigern Affecten Liebe, Furcht, Zorn“ die Erfindung der Sprache bewirken.602 Diese ereigne sich folglich mit Notwendigkeit.603 Für die weitere Ausbildung der Sprache beanspruchte Michaelis das Prinzip des Zufalls, „wenn man unter Zufall eine Zusammenkunft unbemerckter oder unvorhergesehenen Ursachen verstehet“. Ein zufälliger Schall und die „Association der Ideen“ bildeten dabei das Wort: 600 Michaelis: Beurtheilung, 18f. Vgl. auch MICHAELIS, Johann David: Dogmatik. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Göttingen 1784, 16f.: „denn der wahre Sinn einer Redensart ist nicht, was sie nach Etymologie oder eigentlichsten Bedeutung jedes Worts, sondern nach dem Sprachgebrauch bedeutet. Redete z.E. eine Offenbahrung vom Untergang der Sonne, so ist das kein Widerspruch gegen die unwidersprechlich erwiesene Lehre des Copernicanischen Systems, daß die Sonne stille steht, und die Erde sich bewegt: denn selbst der Copernicaner sagt ja, das noch dazu wol im Calender, Sonnen=Untergang, und es würde wunderliche Sprachneuerung und Thorheit seyn, dafür Erden=Untergang, oder, Untergang der Stadt (z.E. Göttingens Untergang, Lauenburgs Untergang) in der der Calender geschrieben wird, zu setzen.“ 601 Michaelis: Beurtheilung, 18f. Für das Hebräische bemerkte Michaelis zudem: „In einer Sprache wie die Hebräische ist, da manche Neben=Bedeutung vielleicht nur ein eintziges mahl vorkommt, und aus dem Zusammenhange der Rede gefunden werden muß, ist einem die Etymologie auch hiezu nöthig: denn wo man nicht durch diese geleitet würde, so dürfte man durch den bloßen Zusammenhang, in den sich so gar mannigfaltige Ideen schicken, ehe auf Irrthum als auf Wahrheit kommen“ (ebd., 21). 602 Michaelis: Beurtheilung, 110f. 603 Vgl. auch ebd., 111: „[…] Erwachsene[], die noch keine Sprache gehabt hätten, (solche allein aber werden einen Trieb und Ursache haben, eine neue Sprache zu erfinden)“.

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„Wer eine neue Sache siehet, höret vielleicht um die Zeit einen mit ihr nicht verwandten menschlichen Schall, der gantz eine andere Absicht hatte. Dieser Schall wird ihm durch die Association der Ideen künftig bey der Sache wider beyfallen, und bey ihm die Sache: er wird, wenn die Sache noch nahmenlos ist, durch den Schall bey andern eben die Idee, die er dabey empfindet, zu erwecken suchen, und wenn solches nicht gleich glücket, durch Zeigen, und Beschreibungen zu Hülfe kommen: bald aber wird es der Nahme der Sache werden, und die Sprache bereichern.“

604

„Lehrmeister des Ursprungs der Sprachen“ und Zeuge seiner Theorie waren Michaelis „lallende[] Kinder“.605 Oft wüsste man nicht, „wie es zugehet, daß sie eine Sache so sonderbar benennen“. Fragt man aber nach, „so haben sie zufällig bey Erblickung der Sache den Schall gehöret“.606 Auch bewiesen Kinder, wie sich Sprache nicht allein reaktiv, also in Absicht der Benennung einer Sache, sondern aus reiner Geschwätzigkeit607 entwickle. So versuchten sie, „wenn sie zuerst anfangen lallen zu wollen, […] bey einem kleinen Uebermuth und Freude hundert verschiedene Syllben“, womit sie einen Schall hervorbrächten.608 Und „[g]äbe das Kind einen Schall bey einer Sache von sich“, würde dieser künftig auch von den liebenden Eltern, bald „gegen die benachbarte Familie gebraucht, und denn ein Theil der neuen Sprache werden“. „Auf die Art“ der willkürlichen Benennung infolge lallenden Übermuts „würde ein beysammen wohnendes Geschlecht, das von sprachlosen 604 Ebd., 108f. 605 Ebd., 109. Zum Beweis seiner Theorie berief sich Michaelis auf die Erfahrung (ebd., 111): „Daß auf diese Art die Kinder ihre Sprache bilden würden, so oft ihnen kein natürlicher Schall beyfiele, ist doch wohl aus den Erfahrungen, die ein jeder mit ihnen anstellen kann, außer Zweifel.“ 606 Ebd., 109. 607 Vgl. MICHAELIS, Johann David: Cod. Ms. Mich. 72. Universitätsarchiv Göttingen. Hier (S. 19) heißt es: „Die menschliche Natur hat einen Trieb zu reden: Er gehet bey einigen bis zur unerträglichsten Geschwätzigkeit.“ Der Cod. Ms. Mich. 72 enthält Michaelis’ „Preisschrift vom Ursprung der Sprache“. Danach gründe Sprache neben dem „Trieb zu reden“, auch im „Trieb der Nachahmung“ (ebd., 15), vor allem aber in der „Liebe beider Geschlechter gegen einander“. Sprache sei die „Tochter“ der „Menschenliebe, der überfließenden Freude, des Spiels, und einer geheimen beym Austausch der Gedanken empfundenen Wollust“ (ebd., 23). Vgl. auch ebd., 3: „Ich glaube, daß zwey erwachsene Personen, von verschiedenem Geschlechte, die die Liebe mit einander verbände, bald eine Sprache erfinden würden, sonderlich, wenn sie beysammen blieben, und die Früchte ihrer Liebe das zweite oder dritte Jahr erreichten.“ Zur gesamten „Preisschrift vom Ursprung der Sprache“ vgl. Neis: Anthropologie im Sprachdenken, 518-549. 608 Michaelis: Beurtheilung, 110.

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Leuten herstammete, z. E. von solchen, die auf einer wüsten Insul an das Land gesetzt wären, nachdem man ihnen die Zungen ausgeschnitten hätte, reden lernen, ehe es noch wüßte was Sprache ist, oder daß es in der Sprache Buchstaben gebe“.609 Mit der Theorie der Sprachentwicklung, wie sie in der „Beurtheilung“ vorgestellt ist, verwies Michaelis auf sein sprachtheoretisches Programm. Dieses entfaltete er in seiner Beantwortung einer Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften, der die nachfolgende Aufmerksamkeit gelten soll.

4.2 „B EANTWORTUNG DER F RAGE VON DEM E INFLUSS DER M EINUNGEN IN DIE S PRACHE UND DER S PRACHE IN DIE M EINUNGEN “ (1759) Mit der Frage nach dem „Einfluß der Meinungen eines Volks auf die Sprache und der Sprache auf die Meinungen“ eröffnete die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften im Jahr 1759 eine Serie von insgesamt fünf sprachtheoretischen Preisaufgaben, die sie im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte.610 Michaelis’ „Beantwortung“611 der Frage erhielt den Preis der Berliner Akademie. 1762 erschien eine französische Übersetzung612, die einzelne Zusätze enthält. Da

609 Ebd., 112f. 610 Zu den sprachtheoretischen Preisfragen und ihren institutionellen Grundlagen vgl. HASSLER, Gerda: Sprachtheoretische Preisfragen der Berliner Akademie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts: Ein Kapitel der Debatte um Universalien und Relativität. In: Romanistik in Geschichte und Gegenwart 3,1 (1997), 3-26. 611 MICHAELIS, Johann David: Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen eines Volcks in seine Sprache, und der Sprache in die Meinungen; welche den, von der Königlichen Academie der Wissenschaften für das Jahr 1759, gesetzten Preis erhalten hat. In: Dissertation Qui A Remporté Le Prix proposé Par L’Académie Royale Des Sciences Et Belles Lettres De Prusse, Sur L’Influence Réciproque Du Langage Sur Les Opinions, Et Des Opinions Sur Le Langage. Avec Les Pièces Qui Ont Concouru. Berlin 1760. 612 MICHAELIS, Johann David: De l’influence des opinions sur le langage, et du langage sur les opinions. Dissertation qui a remporté le prix de l’Académie Royale des Sciences & belles letters de Prusse, en 1759. Breme 1762. In den Folgejahren entstanden auf Grundlage der französischen auch eine englische und niederländische Übersetzung: MICHAELIS, Johann David: A dissertation on the influence of Opinions on Language, and of Language on Opinions; together with an enquiry into the advantages and practicability of an universal learned language. London 1769; MICHAELIS, Johann David: Prysverhandeling over den wederkeerigen invloed van de aangenoomen begrippen

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sich die Erweiterungen als Supplement I613 und Supplement II614 sowie als Nachtrag mit dem Titel „Où l’on examine s’il est possible d’inventer une langue savante proprement ainsi nommée“615 identifizieren lassen, wird die nachfolgende Analyse der Preisschrift die deutsche und originale Fassung voraussetzen und nur dort auf die französische Übersetzung zurückgreifen, wo sich die Ergänzungen als aufschlussreich hinsichtlich des sprachtheoretischen Programms Michaelis’ erweisen. Michaelis begann seine Abhandlung „nach dem eigenen Urtheil der Academie“ mit der „leichteste[n] Seite der Frage“ und handelte zunächst „Von dem Einfluß der Meinungen eines Volcks in die Sprache“. In diesem ersten Abschnitt der „Beantwortung“ stellte er seine These vor und behauptete den „unläugbaren Satz“, dass die „Meinungen und Einsichten des Volcks […] die Sprache“ bilden, da doch „[n]iemand […] zweifeln [könne], daß wir die Dinge so benennen und beschreiben, wie sie uns vorkommen“.616 Durchaus allerdings gingen „[n]icht alle und jede Meinungen […] in die Sprache über“, denn: „Ihre Gesetze sind democratisch: nur das, was den meisten gefällt, wird gebräuchlich […] Höchstens ist das im Reiche der Sprachen nicht gantz democratisch, daß der gemeine Haufen sich nach dem cultivirtern Theil in vielem richtet: doch welche Democratie wird man finden, in der der einfältige Bürger nicht dem Einsichtsvollen zuweilen folget.“

617

Infolge ihrer demokratischen Entwicklung bewahre die Sprache eines Volks einen „grossen Schatz von Wahrheiten oder Irrthümern“.618 So scheint es, „daß die Morgenländer […] das doppelte Geschlecht der Pflantzen von je her geglaubet haben, dessen Entdeckung in den nördlichen Gegenden erst unserem [dem 18.] Jahrhundert onder een volk op de nationaale taal, en van de taal op de nationaale wyze van denken: waarin tevens verscheide plaatsen der H. S. opgehelderd, de oorsprong van eene menigte vooroordeelen aangeweezen, en veelvuldige zo geleerde als gemeene dwaalingen verbeterd worden. Harlingen 1771. / Zur Verortung der Preisschrift innerhalb europäischer Sprachtheorien vgl. HASSLER, Gerda: Sprachtheorien der Aufklärung: Zur Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß. Berlin 1984; RICKEN, Ulrich [u.a.]: Sprachtheorie und Weltanschauung: Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin 1990. / Zur Resonanz und Wirkung vgl. CHRISTMANN, Hans Helmut: Beiträge zur Geschichte der These vom Weltbild der Sprache. Mainz 1967. 613 Michaelis: De l’influence, 68-73. 614 Ebd., 74-78. 615 Ebd., 154-176. 616 Michaelis: Beantwortung, 3-5. 617 Ebd., 5. 618 Ebd., 6.

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aufbehalten war“. Und dies sei kein Wunder, habe doch der Palmbaum mit seinem „unläugbar“ doppelten Geschlecht jedermann vor Augen gestanden. Der Einsicht gemäß sei vom Palmbaum auch auf andere Pflanzen geschlossen und das doppelte Geschlecht aller Gewächse behauptet worden. Dergleichen wahre Satz sei sodann durch den menschlichen Verstand „nach seiner großen Geneigtheit etwas ähnliches zu erwarten, und die gantze Natur recht gleich und einförmig zu bilden“, übertrieben worden. Und so stellten sich die Morgenländer auch die „Glieder, die wir doppelt haben, als Mann und Weib“ vor. Dies zeige sich sprachlich in einem männlichen Suffix der „gedoppelten Glieder“, die als Feminina konstruiert werden.619 Das Beispiel, das den vorteilhaften und nachteiligen Einfluss der Meinungen eines Volks in die Sprache erklären mag, diente der Bekräftigung der These, dass die Sprachen „eine Sammlung der Weisheit und des Genies gantzer Völcker“ seien, „zu dem ein jeder das seinige gegeben hat“620. Ihre Erläuterung erreichte mit dem Ende des ersten Abschnitts ihren Abschluss, bevor sie in eine weitere These überführt wurde, die Michaelis im zweiten und dritten Abschnitt seiner Abhandlung entfaltete. Eingeleitet wird sie durch ein recht anschauliches Beispiel, das den ersten Abschnitt beschließt: „Eine kalkartige Erde, die dem Mehl an Gestalt ähnlich, und bisweilen von dem geschäftigen Hunger in theuren Zeiten ausgegraben ist, hat man für wahres Mehl, und für ein Wundergeschenck der Allmacht an die Armen gehalten. Dieser Irrthum hat ihr den Nahmen des Bergmehls gegeben, den selbst der Gelehrte gebrauchen muß, wenn er verstanden seyn will. Der Nahme wird wiederum den Irrthum verewigen helfen, der Tausenden den Tod ver621

ursacht haben mag, als sey dis nicht Kalk, sondern Mehl, und zur Nahrung geschickt“.

Nach diesem Beispiel besteht zwischen Meinungen und Sprache eine Wechselwirkung, die sich nicht im Einfluss der Meinungen auf die Sprache erschöpft, sondern auch einen Einfluss der Sprachen in die Meinungen bedeutet. „Von dem vortheilhaften Einfluß der Sprachen in die Meinungen“ handelte Michaelis im zweiten Abschnitt seiner Beantwortung. Seiner Argumentation folgend leiste jene Sprache den entscheidend „vortheilhaften Einfluß“ in die „Denckungs=Art“ eines Volks, die sich durch einen 619 Ebd., 11. 620 Ebd., 15. Zur Erläuterung des „ein jeder“ heißt es hier weiter: „[…] nicht blos der Gelehrte, der oft ein kleines Genie hat, und noch öfter durch Vorurtheile abgehalten wird etwas neues zu entdecken, und am Ende doch nur den hundertsten Theil der Menschen ausmacht, sondern auch der witzige, und der Natur gleichsam näher wohnende Ungelehrte; nicht blos der, dessen Gedanken die Menge annahm, sondern auch der weiter sehende Kätzer“. 621 Ebd., 12.

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„Reichthum an Wörtern“ auszeichne.622 Dieser gehe im vollkommensten Fall so weit, „daß alles und jedes, was der Mensch dencken kann, sein eigenes, deutliches, einheimisches Wort hat, damit es ohne lange Umschreibung bezeichnet werden kann: ja daß man auch im Stande sey, es unter mehr als einem Gesichtspuncte vorzustellen“.623 Die Vorteilhaftigkeit gründe dabei in einer gesteigerten Wahrnehmung, die die Wissenschaft eines Volks befördere, könne man doch das, „[w]as man nicht nennen kann“, auch nicht bemerken: „tausend Leute aber würden auf die Geschencke der Natur mercken, wenn sie einen einheimischen Nahmen davon gehört hätten“.624 Durch eine Breite des Vokabulars würde auch „der Ungelehrte“ „einigermaßen ein Halbgelehrter“, insofern er „von manchen Dingen Nachricht“ bekäme, „davon er sonst gar nichts weiß“.625 Folglich konnte Michaelis behaupten: „Wer die Muttersprache vollkommener macht, der macht das gantze Volck klüger, und die Gelehrsamkeit ihm leichter.“626 Herausragendes Beispiel für eine an einheimischen Wörtern reiche Sprache waren Michaelis die beiden „morgenländischen“, das Arabische und Hebräische: „Diese sind nicht nur an einheimischen Nahmen der Gewächse fast so reich, als die Natur ihres Landes es zugab: sondern ihre schönsten Schriftsteller, ihre Poeten, gebrauchten auch diese Nahmen so häufig, daß sie keinem Gelehrten und keinem schönen Geiste unbekannt bleiben konnten. Wollte er die Natur nicht aufsuchen, so verfolgten ihn doch die Nahmen davon in der Studir=Stube. Unter einem Volcke von so glückseeliger Sprache wird nicht nur der Kräuter=Beflissene mit weniger Mühe und Zeitverlust mehr lernen: sondern auch der, so sein Werck nicht aus der Kräuterkunde macht, wird mit den Wercken der Natur kaum so unbekannt bleiben können, als bey uns.“

627

622 Über einen Reichtum an einheimischen Wörtern hinaus gründe der vorteilhafte Einfluss der Sprache auch in der Etymologie, die „einem jeden, der die glückliche Sprache mit der Muttermilch eingesogen hat“, entdecke, „was unter andern Völkern der Philosophe mit Mühe erfinden muß“ (ebd., 13; vgl. auch ebd., 38). 623 Ebd., 38. 624 Ebd., 32. Vgl. auch ebd., 26: „Denn wircklich findet es sich, daß wir auf Dinge nicht so leicht mercken, wenn sie keinen Nahmen haben: so bald wir sie aber zu benennen wissen, so läßt der vorhin nur einen Augenblick daurende Anblick eine bleibende Idee in unserm Gemüthe zurücke. Der Taube wird den Unterscheid mancher Dinge, z.E. der Bäume und Pflanzen, weniger bemercken, als der, so eine Sprache kennet: und eben so gehet es auch dem, der eine an Wörtern allzu arme Sprache hat.“ 625 Ebd., 26f. 626 Ebd., 32. 627 Ebd., 27f.

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Eine derartige Glückseligkeit vermisste Michaelis in der deutschen Sprache. Ihr „[M]angelhaftes“ sei allerdings – ganz im Sinne der im ersten Abschnitt erläuterten These – nicht auf ein persönliches Versagen zurückzuführen. Denn tatsächlich könne man die deutsche Sprache „reich nennen: allein theils ihr Reichthum, theils ihre ausgearteten Kinder, haben sie dürftig gemacht“.628 Zum Beweis der Dürftigkeit des Deutschen beklagte Michaelis die Namenlosigkeit von Gewächsen. „[F]ast alle Schuld“ daran sei den „Botanicis zu geben“, die „sich der lateinischen Nahmen fast mit Ausschließung, ja wol mit Tadel der Einheimischen“ bedienten: „andere Gelehrte ahmen ihnen nach, und düncken sich artiger und zunftmäßiger zu reden, wenn es undeutsch ist, und das blos den Bauren gelassene Wort, muß bäurisch und unedel klingen, bis es gar vergessen wird.“629 Das Gewächs habe also einen deutschen Namen. Dieser sei allerdings sehr wenig bekannt und dem Gelehrten noch fremder als der lateinische, und „so ist es für die Gelehrsamkeit eben so gut, als hätte er keinen“.630 Wider die botanische Praxis äußerte Michaelis den patriotischen Wunsch, dass „ein großer Botanicus“ den einheimischen Namen „im mündlichen und schriftlichen Vortrag“ gebrauche, „und den lateinischen Nahmen blos zur Erklärung an die Stelle setzte, die man noch jetzt zuweilen dem deutschen aus Gütigkeit einräumt“.631 Eine Armut an einheimischen Worten, wie sie die deutschen Botaniker beförderten, begründe einen „nachtheiligen Einfluß der Sprachen in die Meinungen und Einsichten“. Von diesem handelte Michaelis im dritten Abschnitt seiner Preisschrift. Als Beispiel für die negative Folge einer Armut des Vokabulars führte er unter anderem die Äthiopier an, „die kein besonderes Wort für Person und Natur hatten, und sich deswegen in die Lehre von einer Person und zwey Naturen Christi nicht finden konnten“.632 Eine Gefahr läge auch in einem sprachlichen „Ueberfluß“ durch Synonyme, die „unschädlich“ seien, „wenn man sie überall verstehet“, sogar der „Zierde“ und „Abwechselung im Reden“ dienten. Wenn der eine bei übermäßigem Reichtum an Worten den anderen hingegen so wenig verstünde, „als wenn sie zwey verschiedene Sprachen hätten“, sei der Überfluß schädlich.633 Zudem benannte Michaelis die „Zweideutigkeit“, „Nebenbegriffe und Urtheile“, die „Etymologie 628 Ebd., 29. 629 Ebd., 30. 630 Ebd., 29. 631 Ebd., 30f. Dort heißt es überdies: „Ich will die Lateinische Sprache nicht von den Universitäten verdrängen helfen: allein den Wunsch halte ich für patriotisch, daß sie in den Lehrsälen der Naturgeschichte und Botanik der Mutterspauche [sic!] Platz mache […] Dürfte man nicht die Botanicos um den patriotischen Entschluß ersuchen, deutsch zu lehren?“ 632 Ebd., 39f. 633 Ebd., 43.

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und Redensarten“ als nachteilige Einflüsse. Zuletzt beklagte er „[e]inen gewissen Eigensinn und übermäßige Liebe willkührlich dafür erklärter Schönheiten“634, denn „[d]ie allzu große Zärtlichkeit des Ohrs in Absicht auf den Wohlklang; und sein eigensinniger Haß gegen barbarische Töne, gebieret gewisse historische Irrthümer“.635 Michaelis beschloss den dritten Abschnitt seiner Abhandlung mit einer Anmerkung über „eine gelehrte Sprache“ für die „aus so verschiedenen Völckern bestehende Republik der Gelehrten“. „[N]icht durch Wahl, sondern durch Zufälle, und zum Theil aus der Hand der Religion“, sei diese gelehrte Sprache die Lateinische. Aufgrund ihrer Armut an Wörtern der Naturgeschichte sei selbige allerdings zuweilen unbequem. Die „Republik der Gelehrten“ „wäre weit glücklicher, wenn das Loos die Griechische Sprache getroffen hätte, bey der doch die Lateinische in der Medicin und Natur borgen muß, und dabey allen dunckel ist, die kein Griechisch verstehen“.636 Ein komparatives Glück könnte auch durch die arabische Sprache entstehen, wie Michaelis in der letzten Notiz des dritten Absatzes festhielt: „Der Orient, dem eine falsche Religion die Arabische zur Gelehrten=Sprache gegeben hat, könnte glücklicher seyn als wir. Ihr Reichthum ist fast unerschöpflich, für die Natur hat sie so viel Wörter, daß sie uns damit beschenckt hat: und sie ist beynahe so unveränderlich, als eine todte Sprache. Allein alle diese Vorzüge sind verschwendet! Der Muhammedaner braucht keine gelehrte Sprache: denn er ist nicht gelehrt.“

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Diese abrupte Unterbrechung der Argumentation ist hinsichtlich des vorgestellten Orient-Bildes bemerkenswert. Es zeigt, dass Michaelis die Araber als „Muhammedaner“ gleich doppelt ausgrenzte. Einmal gehörten sie nicht zum „wir“ jener „Republik der Gelehrten“, deren Glück durch eine zuweilen unvorteilhafte Sprache bedroht scheint. Darüber hinaus aber sei ihnen der Zugang zu eben jener GelehrtenRepublik aufgrund fehlender Gelehrsamkeit ohnehin verschlossen. Innerhalb der „Beantwortung“ bleiben diese Gedanken singulär. Im nachfolgenden vierten und letzten Abschnitt widmete sich Michaelis „den Mitteln wider den schädlichen Einfluß der Sprachen“, wobei die „Academie […] das beste Mittel erwählet“ habe, „dem schädlichen Einfluß der Sprachen zu steuren, da sie befohlen hat, ihn zu beschreiben“638 – wie Michaelis grundsätzlich bemerkte. Ihm indes komme es auf vier Stücke an: „1) auf Vermeidung der Irrthümer, die aus einer Sprache entstehen können: 2) auf Erhaltung des guten, und 3) Verbesserung

634 Ebd., 39. 635 Ebd., 67f. 636 Ebd., 73f. 637 Ebd., 74. 638 Ebd., 77.

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des fehlerhaften in einer Sprache“.639 Das vierte Stück, die „Untersuchung der Frage, ob eine neue durch und durch eigentliche Sprache der Gelehrsamkeit zu erfinden sey“, wird nur erwähnt. Die „Untersuchung“ selbst findet sich erst in der französischen Übersetzung der „Beantwortung“. Gegenüber den drei ersten Stücken, die weitgehend auf das vorherige verweisen können, verdient sie eine genauere Betrachtung, insofern sie weiteren Aufschluss über die Sprachtheorie Michaelis’ gibt, wenngleich auch sie an die Ausführungen über die Sprache der „Republik der Gelehrten“ anschließen kann. Anlass der Untersuchung war Michaelis der Wunsch bedeutender Gelehrter, dass die Wissenschaften eine eigene Sprache hätten, „die von keiner Nation geliehen und allein Erfindung der Philosophen, in einem Wort: eine wahrhaft gelehrte Sprache“ wäre. In dieser Sprache hätte jede Idee ihren eigenen Charakter und könnte nicht auf andere Ideen übertragen werden, womit alles Unpassende und jede Ambiguität des Wortes ausgeschlossen würde.640 Michaelis bezweifelte sowohl die Möglichkeit als auch den versprochenen Nutzen einer solchen Sprache. Von seinen zahlreichen Einwänden seien nur einige erwähnt. Die Möglichkeit einer erfundenen Gelehrtensprache bestritt er vornehmlich mit dem Argument der Grenzen des Erinnerungsvermögens und des menschlichen Verstandes, der sich im Allgemeinen schon durch das Lateinische überfordert sähe. Das Gedächtnis würde durch eine notwendig ungeheure Menge an Worten überlastet.641 Die neue Sprache müsste mithilfe einer künstlichen Instruktion erlernt werden: „Welch abermalige Qual für das Gedächtnis“, wenn man bedenke, wie leicht sich eine noch lebende Sprache lernen ließe, wie langsam wir hingegen im Lateinischen voranschritten.642 Und am 639 Ebd., 75. 640 Michaelis: De l’influence, 154f.: „La considération des défauts attachés à toutes les langues connues a fait souhaiter à des esprits du premier ordre que les sciences eussent un langage propre, qui ne fût emprunté d’aucun peuple, & qui ne fût dû qu’à l’invention des Philosophes, en un mot une langue vraiment savante. Dans cette langue chaque idée auroit son caractère propre et incommunicable à d’autres idées, cc qui seroit disparoître toute impropriété & toute figure de mot.“ 641 Ebd., 161: „Cette langue, pour satisfaire à tous les besoins, exigeroit une quantité prodigieuse de caracteres, qui lasseroit déja les efforts du plus grand génie, l’esprit inventeur seroit accablé sous ce fardeau de la memoire.“ 642 Ebd., 163: „Ce n’est point par l’usage, mais par une instruction artificielle que nour pourions apprendre tous ces sons ou tous ces caracteres: nouveau supplice pour la memoire! Autant qu’il est aisé de se familiariser avec un langage que l’on parle tous les jours, & qui a cours dans la vie commune, sur tout si l’on s’aide de quelque teinture de Grammaire; autant cette étude devient-elle pénible, lorsque nous sommes uniquement réduits au secours de l’art: quel tems ne nous faut-il pas pour apprendre un peu de latin? & combien peu pour apprendre les langues vivantes?“

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Ende würde die Notwendigkeit der Kenntnis der lateinischen und anderer gelehrter Sprachen nicht entfallen, könnte uns doch die neue Sprache die Vergangenheit nicht entdecken.643 Nähme man auch an, dass alle diese Hindernisse bewältigt werden könnten und tatsächlich die Möglichkeit einer gelehrten Universalsprache bestünde, würde das Volk zunehmend ignoranter, denn die neue Sprache würde eine Grenze zur Gelehrsamkeit errichten, so dass es von nun an keine Mitte mehr zwischen den Gelehrten und Ungelehrten gäbe.644 Und aller Ängste ungeachtet sei doch gewiss, dass die Gelehrtensprache eine extreme Verarmung der Muttersprache begründete, wodurch ihr möglicher Gewinn nichtig würde.645 Mit dieser Bestreitung des Nutzens einer erfundenen Gelehrtensprache wiederholte Michaelis eine der wesentlichen Aussagen seiner Preisschrift in ihrer Umkehrung. Wie nämlich die Verbesserung der Muttersprache die Gelehrsamkeit des ganzen Volkes befördere, begünstige ihre Verschlechterung die Ungelehrsamkeit. Die Wiederholung lenkt zurück auf die Argumentation der „Beantwortung“, die sich im neuerlichen Blick nicht mehr nur als sprachtheoretische Abhandlung, sondern als eine politische Streitschrift für die Verbesserung der Muttersprache zeigt646 und dabei alle Konsequenzen ihres Programms berücksichtigt: so in der Ablehnung gelehrter Höhenflüge durch die Erfindung einer eigenen Sprache, die niemand versteht; in der Ablehnung des übermäßigen Gebrauchs des Lateinischen, das kaum jemand versteht und überdies aufgrund gelehrter Feinfühligkeiten die Verdrängung der Muttersprache provoziert; und zuletzt in der Forderung des patriotischen Ent643 Ebd., 164: „Ajoutons que cette langue même ne nous dispenseroit pas encore ni de la langue latine, ni des autres langues savantes. La caractéristique nouvelle ne nous donneroit pas la clé des découvertes des tems passés: on n’y trouveroit pas les sources de l’Histoire ancienne: enfin les livres où se puise la Religion ne sont pas écrits en cette caractéristique, mais en Grec & en Hébreu.“ 644 Ebd., 164: „Mais je suppose que l’on pût surmonter tous ces obstacles […]: il n’en pourroit pourtant résulter que des suites pernicieuses. Je vois dabord le peuple tout entier, & tous ceux qui ne sont point savans de profession devenir de jour en jour plus ignorans: la caractéristique tire un voile entre eux & les sciences, à peu près comme les Hieroglyphes le saisoient chez les Egyptiens: desormais tout ce qui n’est pas du corps des letters, est peuple, il n’y a plus de milieu.“ 645 Ebd., 166 : „Mais quand même on trouveroit mes craintes peu fondées, au moins est-il incontestable que la caractéristique appauvriroit extrêmement nos langues maternelles, & par là nous seroit perdre tout ce qu’elle auroit pû nous faire gagner par d’autres endroits.“ 646 Vgl. auch Haßler: Sprachtheoretische Preisfragen, 5: „Die Art der Aufgabenstellung [der Berliner Akademie] weist eindeutig darauf hin, daß es um einen bestimmten Zweck ging, nämlich die Sprache als Mittel der Kommunikation, vor allem aber des Denkens zu vervollkommnen.“

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schlusses, auf Deutsch zu lehren. In der Erläuterung der Konsequenzen werden die sprachtheoretischen Voraussetzungen nicht vernachlässigt. Danach wird Sprache einmal als ein statisches Konzept vorgestellt, als ein Schatz, der Weisheiten ebenso aufbewahrt wie Irrtümer. Statisch ist die Sprache in ihrer Eigenschaft als Objekt menschlicher Erfindung, insofern die Meinungen und Einsichten eines Volkes die Sprache nach demokratischen Regeln und dem Prinzip des Gebrauchs bilden. Statisch ist die Sprache auch in ihrer Eigenschaft als Subjekt. Denn die Meinungen, die die Sprache bildet, spiegeln letztlich die Meinungen ihres Erfinders. Sodann aber wird Sprache als ein dynamisches Konzept vorgestellt, das der Verbesserung ebenso fähig ist wie der Verschlechterung. Sprache verwandelt darüber hinaus ein Wort in eine Idee: Einer Sprache gelingt es, dass Menschen Kalk verspeisen. Ihr todbringendes Eigenleben hat allerdings auch ein angenehmes Pendant, denn der Ungelehrte wird durch die Sprache einigermaßen zu einem Halbgelehrten. Eine Ausnahme bildet lediglich der „Muhammedaner“. Trotz seiner vollkommenen, glücklichen Sprache, die eigentlich ein Indiz seiner hohen Gelehrsamkeit wäre, bleibt, nein ist er ein Ungelehrter und alles Glück ist verschenkt. Die philologischen Arbeiten Michaelis’ erschließen eine zweifache Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit der Begegnung von Orient und Okzident. Die „Beurtheilung“ konnte zeigen, dass eine Reise in den Orient als dem arabischen Dialekt erforderlich ist, um die „ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen“. Vor der Behauptung einer Dürftigkeit des Deutschen nach seiner problematischen Intellektualisierung durch das Lateinische lässt die „Beantwortung“ vermuten, dass sich Michaelis’ orientalistisches Interesse dem patriotischen Wunsch der Verbesserung der Muttersprache durch die Überführung arabischen Vokabulars ins Deutsche verdankte. Eine verbesserte Muttersprache würde „das Volk klüger und die Gelehrsamkeit ihm leichter machen“, und es ist anzunehmen, dass sie sich durch den überflüssigen Reichtum des Arabischen rechtfertigte, denn im Gegensatz zum Deutschen brauche „der Araber keine gelehrte Sprache, denn er ist nicht gelehrt“. Im Kontext der Arabischen Reise, deren Geschichte nun im Fokus stehen soll, erfuhren die Begründungen ihre Konkretisierung.

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4.3 D IE ARABISCHE R EISE „An einem windstillen Wintermorgen, am 4. Januar 1761, lassen sich fünf Männer in Reisekleidung vom Zollhaus auf die Reede von Kopenhagen hinaus rudern. Mit dem Rücken zur Sonne können sie die Stadt am Ufer liegen sehen. Die kleine, kosmopolitische Reichshauptstadt mit dem vornehmen Viertel um die nagelneue, von Eigtved erbaute Amalienborg herum, entfernt sich langsam im gleichsam fadenscheinigen Januarlicht. Vor ihnen, in einem Sonnenstreifen, wartet das Kriegsschiff Grönland. Wenn sie die Augen fast schließen, können sie gegen das Licht die Masten und Riggen sehen; und vielleicht hat der eine oder der andere unter ihnen sich ein wenig beklommen gefühlt beim Anblick der schwarzen Silhouette. In den kommenden Wochen soll sie das Schiff da draußen den langen Weg nordwärts um Skagen herum und wieder südlich durch das Mittelmeer bis nach Konstantinopel bringen. Von dort aus wollen sie nach Alexandria, Kairo und Suez, dann weiter über das Rote Meer bis zur Südspitze der arabischen Halbinsel, dem Wunderland mit Weihrauch, Myrrhen und Balsam, dem 647

Paradies auf Erden […]“

Im Januar des Jahres 1761 verließ das Kriegsschiff „Grönland“ den Hafen Kopenhagens, um sich auf eine Reise in die Vergangenheit zu begeben. Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit steuerten fünf Männer in die Gegenwart des „glücklichen Arabiens“. Begleitet von der reichen Zuversicht, einen Raum des Stillstands zu finden, begegneten sie der Malaria648, die vier Expeditionsteilnehmer in den Tod führte, und allein den deutschen Mathematiker Carsten Niebuhr verschonte, der 1767 in den dänischen Hafen zurückkehrte. Initiator der sogenannten Arabischen Reise war Johann David Michaelis, dessen Rolle sich allerdings nicht in der ersten Anregung der Reise erschöpfte. Maßgeblich trug er auch zu ihrer Realisierung bei, indem er ihre Notwendigkeit nachwies, die Expeditionsmitglieder auswählte, eine ausführliche Instruktion verfasste und den Forschungsgegenstand selbst mittels eines Fragen-Katalogs definierte. Michaelis ist somit auch als Inspirator der Arabischen Reise zu bezeichnen. Die nachfolgende Darstellung ihrer historischen Umstände wird sich auf seine Vorstellung der Araber und Arabiens, wie sie sich im Zusammenhang mit den verschiedenen Phasen der Expedition zeigt, konzentrieren.

647 HANSEN, Thorkild: Reise nach Arabien: Die Geschichte der königlich dänischen Jemen-Expedition 1761-1767. Hamburg 1965, 9. 648 Vgl. BECK, Hanno: Carsten Niebuhr – der erste Forschungsreisende. In: Ders.: Große Reisende: Entdecker und Erforscher unserer Welt. München 1971, 92-117 (hier: 109).

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4.3.1 Pro Scientia – Über das Motiv der Reise Abbildung 6: Reiterstandbild Friedrichs V.

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Das berühmte Reiterstandbild vor Schloss Amalienborg in Kopenhagen würdigt Friedrich V. von Dänemark bis heute als „tutor artium“. Das Renommee des dänischen Königs aber bedurfte des Denkmals nicht, eilte ihm vielmehr voraus.649 Als sich Michaelis im Jahr 1756 mit dem Vorschlag einer Forschungsreise nach Arabien an Friedrich V. wandte, äußerte er die Hoffnung, dass, „wenn irgend ein Monarch den Wissenschaften ein so erwünschtes Geschenk machen würde“, es „der nordische August unserer Zeiten seyn“ müsse.

649 Dem gebildeten Europa wurde der König von Dänemark schon vor Amtsantritt Friedrichs V. als Schirmherr der Kultur und der Wissenschaften bekannt, als Christian VI. 1737 die Ägypten-Reise des Seeoffiziers Frederik Ludvig Norden förderte. Ihr Ziel, Handelsbeziehungen mit dem Kaiser von Äthiopien herzustellen, unterlag ihrem Resultat: gesammelte Informationen und Abbildungen waren ihr einziger Erfolg. Vgl. RASMUSSEN,

Stieg: Carsten Niebuhr und die Arabische Reise 1761-1767: Katalog der Aus-

stellung der Königlichen Bibliothek Kopenhagen in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium des Landes Schleswig-Holstein: Landesbibliothek Kiel, November 1986Februar 1987. Heide in Holstein 1986, 8. Dass die Arabische Reise ihren „speziellen Anknüpfungspunkt in der Reise nach Ägypten hatte“ (ebd.), ist zu vermuten.

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„Ich gestehe es, meine Leser würden diese Hoffnung, sonderlich bey einem Ausländer, und der kein Unterthan des Königs von Dänemark ist, etwas dreist und unüberlegt finden, wenn es nicht dem ganzen Europa bekannt wäre, wie sehr Ihre Majestät der allgemeine Beschützer der Gelehrsamkeit sind, und wie edelmüthig Allerhöchst Dieselben den Wissenschaften aufhelfen, darum, weil sie Wissenschaften sind.“

650

Wie das Gesuch auf Beschenkung, Protektion und Edelmut zeigt, begründete Michaelis seine Hoffnung mit einer Bedürftigkeit der Wissenschaften. Die Hinwendung zu ihrem „großen und gnädigen Beschützer“ scheint nur folgerichtig. Motiv der michaelischen Hoffnung mag Friedrichs Kulturpolitik gewesen sein, die mit der Gründung der Königlich Dänischen Kunstakademie im Jahr 1754 und der Berufung zahlreicher ausländischer Künstler und Literaten einen besonderen Umfang hatte.651 Nach dem Urteil Ole Feldbæks trat der dänische Monarch auf dem Gebiet der Wissenschaften als Mäzen in Erscheinung, dem das Ziel der bloßen Integration Dänemarks in den europäischen Diskurs nicht genügte, der vielmehr „den Wunsch hegte, seinen Beitrag zur gemeinsamen Aufklärung im kulturell grenzenlosen Europa zu liefern“.652 Unabhängig von der Breite der Kulturpolitik Friedrichs gab Michaelis der seit 1620 bestehende Handelsstützpunkt Tranquebar an der indischen Ostküste Anlass zur Hoffnung auf Förderung seines Vorschlags. Von Tranquebar aus, in dem seit 1706 neben dänischen Kaufleuten auch Missionare der Dänisch-Halleschen Mission wirkten,653 stellte er sich vor, könnte die Expedition leicht ihren Anfang nehmen: 650 MICHAELIS, Johann David: Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen. Frankfurt a.M. 1762, Vorrede (*10f.). Vgl. auch Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff. Göttingen, im October 1756. In: MICHAELIS, Johann David: Literarischer Briefwechsel: Geordnet und herausgegeben von Joh. Gottlieb Buhle: Erster Theil. Leipzig 1794, Nr. 84: „Se. Majestät, der König von Dänemark, haben zwar das mit mehrern Monarchen unsrer Zeit gemein, daß Allerhöchstdieselben ein Gönner und Beförderer der Wissenschaften sind; allein Sie haben in der gnädigen und weisen Wahl zum voraus, daß Sie es auf eine andre Art sind, und Ihre Wohltaten an etwas Wichtiges wenden, und nicht entweder die Wohltaten verschwenden, oder zum voraus das Camerale der Wissenschaften berechnet sehen wollen. Diesem Monarchen […] wird die Nachwelt und die Gelehrsamkeit die Entdeckungen dieser Reise zu danken haben“. 651 Vgl. FELDBÆK, Ole: Aufklärung und Absolutismus: Die Kulturpolitik Friedrichs V. In: Bohnen, Klaus/ Øhrgaard, Per [Hg.]: Aufklärung als Problem und Aufgabe: Festschrift für Sven-Aage Jørgensen zum 65. Geburtstag. Kopenhagen 1994. 652 Ebd., 32 [Herv. i.O.]. 653 Vgl. dazu GENSICHEN, Hans-Werner: Dänisch-hallische Mission. TRE 8 (1981), 319322.

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„Tranquebar erinnerte mich natürlicher Weise an den großen und gnädigen Beschützer der Wissenschaften, unter dessen Scepter es zu stehen das Glück hat“.654 Mit der Bedürftigkeit der Wissenschaften und der Tatsache von Handel und Mission bewegte sich die Arabische Reise zwischen einer Mehrzahl möglicher Motive. Seiner Laudatio auf Friedrich gemäß bekannte sich Michaelis einzig zu seinen gelehrten Absichten. Spätestens nach der postkolonialen Kritik aber ist die Glaubwürdigkeit dieses Bekenntnisses, das sich nunmehr als Hypothese vorstellt, zu prüfen. Bekräftigt wird die Hypothese zunächst durch das Kriterium, das Michaelis benannte, um Friedrich V. für seine diakonische Rolle als „Beschützer der Wissenschaften“ zu qualifizieren. Denn indem der König den Wissenschaften seine Gunst erweise, allein „weil sie Wissenschaften sind“, bezeuge er seine Unabhängigkeit von einer utilitaristischen Perspektive. Diese Unabhängigkeit sei es, die ihn von anderen Monarchen unterscheide. Wiederholt machte Michaelis deutlich, dass er in der Dominanz gerade finanzieller Absichten die Ursache der Bedürftigkeit der Wissenschaften bzw. ihre eigentliche Bedrohung sah, und beanspruchte damit hinsichtlich der Gunst zugleich den Imperativ des pro scientia: „Zum Nachtheil beydes der Wissenschaften und der Landeseinkünfte, siehet man die Wissenschaften zu oft blos als eine Finanz= oder Commerciensache an, und fragt zu früh, was sie dem Staate eintragen werden? Sie werden ihm viel einbringen: allein was es sey, das kann man unmöglich vorhersagen, ehe man die Entdeckungen gemacht hat, die zu machen waren. Hätte jemand vor dreyhundert Jahren gefragt: was wird man für Nutzen davon haben, wenn man aus Neugier, und um die Welt zu umsegeln, weiter gegen Westen schiffet? so wäre die vernünftige Antwort gewesen: die Völker die es thun, werden Nutzen davon haben, allein 655

welchen, das weiß ich nicht, sonst müßte ich schon dort gewesen seyn.“

Die Forderung der allein gelehrten Begründung wurde durch das Versprechen eines futurischen Nutzens etwa zugunsten der „Landeseinkünfte“ begleitet. Diese Tatsache provoziert den Verdacht auch anderer Absichten, die sich mit einer Reise in den Orient verbanden. Ein solcher Verdacht lässt sich mit Ausnahme der nachfolgend zitierten Anmerkung jedoch nicht bestätigen. Michaelis beschrieb hier die Möglichkeit der Verwirklichung der Reise durch einen Missionar der Tranquebarischen Mission, die den Vorzug hätte, sich aus den Entdeckungen ergebende Fragen durch die Gelegenheit auch zu mehrmaligen Reisen ins Landesinnere zu beantworten: „Vielleicht wäre es möglich, daß diese wiederholten Reisen auch zu dem Endzwecke, den er als Missionarius hat, nützlich würden. Denn ob er gleich bey der ersten Reise allein des ge654 Michaelis: Fragen, Vorrede (*9f.). 655 Ebd., (*32f.).

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lehrten Endzwecks, wegen dessen er gesandt wird, eingedenk seyn, und von der Religion nichts erwähnen müßte, um nicht dadurch sich verdächtig zu machen, und den Zutritt zu versperren, der zur Kenntniß Arabiens nöthig ist; so würde er doch Gelegenheit genug haben, zu sehen, ob es ohne Hinderniß seines diesmaligen Zwecks möglich sey, auf künftigen Reisen die christliche Religion auch nur historisch nud [sic!] im Discourse bekannter zu machen, oder dortigen Christen mit Büchern oder Unterricht zu statten zu kommen.“

656

Michaelis machte deutlich, dass der missionarische Nutzen keineswegs dem „gelehrten Endzweck[]“ der vorgeschlagenen Reise entspreche, sondern ihm allenfalls nachfolgen könnte und ließ somit kein Interesse erkennen, das sein wissenschaftliches Motiv funktionalisiert hätte.657 Es kann vermutet werden, dass die Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektive hin zu nützlichen Möglichkeiten einzig der Bewerbung einer gelehrten Expedition in den Orient diente und letztlich ein Plädoyer für die Bewilligung der Arabischen Reise war. Auch die Absichten Dänemarks scheinen den gelehrten Endzweck nicht zu konterkarieren.658 Dies wird besonders in Ansehung der ersten dänischen Reaktion auf den Vorschlag Michaelis’ deutlich.

656 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff. Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 316f. 657 Dass ein missionarisches Interesse im Kontext einer Reise in den Orient im 18. Jahrhundert keineswegs abwegig ist, zeigt ein Brief Johann Heinrich Callenbergs an Michaelis vom 24. Juli 1758 (In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I [1794], Nr. 96): „Ich wünsche übrigens von Herzen, daß Sr. Königlichen Majestät in Dänemark theuerstes Gemüth, bey dem löblichen Vorhaben, durch die gemeldete vorseyende Absendung der drey Subjecte nach Arabien, der Gelehrsamkeit einen Vortheil zu verschaffen, Anlaß gegeben werden könnte, Dero Sorgfalt darauf mit zu richten, daß den elenden Seelen in selbigen Ländern, wenigstens durch den der Theologie Beflissenen, welcher sich unter den dreyen mit befinden soll, so viel die Gelegenheit es zugeben wollte, (daran es gewiß nicht fehlen, und die von einem der Sache Christi redlich Ergebenen bald bemerkt werden würde), etwas von der heilsamen Erkenntniß Christi beygebracht werden möchte. Der bey unserm Institute befindliche Vorrath von gedruckten Büchern, welche Araber verstehen, sollte mit zu Dienste stehn.“ 658 Vgl. auch HÜBNER, Ulrich: Johann David Michaelis und die Arabien-Expedition 17611767. In: Wiesehöfer, Josef/ Conermann, Stephan [Hg.]: Carsten Niebuhr (1733-1815) und seine Zeit: Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.-10. Oktober 1999 in Eutin. Stuttgart 2002, 363-401 (hier: 386): „Mögen bei Friedrich V. und Bernstorff auch andere als nur wissenschaftliche Motive eine Rolle gespielt haben wie zum Beispiel die Chance, neue Wege zu den ostindischen Kolonien Dänemarks zu entdecken – in der königlichen Instruction und dem Fragen-Katalog von Michaelis ist von solchen kaufmännisch-kolonisatorischen Motiven jedenfalls nichts zu spüren.“

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Bernstorff, Chef der Deutschen Kanzlei in Kopenhagen und Außenminister Dänemarks,659 schrieb darin: „Der zu gleicher Zeit von Ewr. gethane Vorschlag, von hieraus Leute, die schon in der Arabischen Sprache einige Fertigkeit erlangt haben, nach Tranquebar, und von dort nach Arabien zu senden, kann den Wissenschaften nicht anders als vortheilhaft seyn, und werde ich meines Theils gerne alles, diese Absichten zu befördern, mit beytragen. Zum voraus aber muß ich mir von Ewr. erbitten, mir Dero nähere Gedanken zu eröffnen: Wie viel Jahre ihnen zu diesem Vorhaben zu bestimmen? Wie sie eigentlich ihre Reise anzustellen? Und wie hoch die dazu 660

benöthigte Unkosten sich jährlich belaufen würden?“

Der wissenschaftliche Nutzen des von Michaelis vertretenen Anliegens stand für Bernstorff so weit außer Frage, dass er nicht einmal eine Begründung seiner Notwendigkeit verlangte. Er erbat allein Antworten auf die höchst pragmatischen Fragen nach den erforderlichen Kosten und der Durchführung der Reise. Michaelis folgte der Bitte mit einem sehr ausführlichen Schreiben, ließ allerdings schon in der Aufnahme der Fragen Bernstorffs erkennen, dass der wissenschaftliche Nutzen für ihn keinesfalls selbstverständlich war: „Was die von Ew. Hochgebohrnen Excellenz mir gnädig vorgelegten beiden Fragen anlangt, 1) wie eine Reise zum Nutzen der Gelehrsamkeit von Tranquebar aus nach dem glücklichen Arabien einzurichten sey; 2) wie viel sie ohngefähr kosten dürfte? so antworte ich 661

unterthänigst […]“

659 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Kulturpolitik Dänemarks nur namentlich ein Werk des Königs war: „Die Vorstellung von Friedrich V als tutor artium war eine Fiktion. Bereits bei seiner Thronbesteigung im Jahre (1746) war es dem innersten Kreis klar, daß dem 23-jährigen König die für die Wahrnehmung seiner Funktionen als absoluter Monarch die persönlichen Voraussetzungen fast vollständig abgingen. Seine Trinksucht war zu jenem Zeitpunkt bereits stark entwickelt; und der im Januar 1766 in den Armen seines väterlichen Freundes, des Oberhofmarschalls Adam Gottlob Moltke, starb, war ein menschliches Wrack […] Die politische Realität war die, daß der dänische Absolutismus jetzt soweit etabliert war, daß der Staat auch ohne die aktive Teilnahme des Königs funktionieren konnte […] Die Kulturpolitik im Namen des Königs wurde also von Moltke und den Ministern betrieben“ (Feldbæk: Aufklärung und Absolutismus, 34f.). Die Rolle Bernstoffs bei der Realisierung der Arabischen Reise kann folglich nicht unterschätzt werden. 660 Von Bernstorff an Michaelis. Kopenhagen, den 3. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 81. 661 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff. Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 299 [kursiv d.Verf.].

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Durch die Einbindung der finalen Bestimmung der Reise in die Frage nach ihrer Durchführung, durch die Erweiterung der Frage Bernstorffs nach dem Wie um das Adverbial „zum Nutzen der Gelehrsamkeit“, zeigte Michaelis, dass die Erreichung des Zwecks an Bedingungen geknüpft ist – das heißt, damit die Reise der Gelehrsamkeit nützlich sei, müsse sie auf eine bestimmte Weise vorgenommen werden, die wiederum auch ihre Wissenschaftlichkeit begründe. Vor der Absicht der näheren Bestimmung des pro scientia als des Motivs der Arabischen Reise soll im Folgenden ihre wissenschaftliche Begründung untersucht werden, wobei einmal auf die Vorrede der „Fragen an eine Gesellschaft Gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen“ zurückgegriffen werden kann, sodann und vor allem auf den schon erwähnten Brief Michaelis’ an den Freiherrn von Bernstorff vom 30. August des Jahres 1756, in dem er in mehr als einem Dutzend Paragraphen erläuterte, wie eine Reise in den Orient zu unternehmen sei. Mit dem ersten Paragraphen seines Briefes an Bernstorff stellte Michaelis die Dringlichkeit einer vorherigen Vorbereitung des Reisenden heraus. Verlangt wurde „eine so gute Kenntniß des Arabischen, als in Europa und aus Büchern zu erhalten möglich ist“, damit der Reisende „nicht nöthig habe, die kostbare Zeit der Reise auf das zu wenden, was man aus Europa mitbringen kann, sondern vielmehr sogleich im Stande sey, dem Zwecke [seiner] Reise nahe zu treten“.662 Umgekehrt sah Michaelis gerade in einer unzureichenden sprachlichen Vorbereitung den ersten entscheidenden Mangel vorheriger Reisen in den Orient: „Die nach dem Orient vorgenommenen Reisen haben bisher die Kenntnisse der Europäer sehr erweitert: allein es ist gewiß, daß die meisten Reisenden zum Besten der Gelehrsamkeit noch mehr würden geleistet haben, wenn es ihnen nicht an zwey unentbehrlichen Hülfsmitteln gemangelt hätte. / Das eine ist, die vorher und zwar grammaticalisch erkennte Sprache des Landes, in welches man reiset.“

663

Neben der Verschwendung kostbarer Zeit, die den Mangel begründe, nannte Michaelis weitere Bedrohungen des „Besten der Gelehrsamkeit“ durch unzureichende Sprachkenntnisse. Dabei folgte seinen zunächst allgemeinen Verweisen auf das Misstrauen der Einwohner, das ein tiefes Eindringen in das fremde Land erschwere, die Problematik eines Dolmetschers und das Ziel einer „freyern und angenehmern Unterredung“ eine Ausführung über die Konsequenzen für die Wissenschaften: „Wie viel kommt in der Geographie und Naturgeschichte auf Namen an, wie sie an Ort und Stelle geschrieben und ausgesprochen werden? und was für Verwirrung oder Dunkelheit ent662 Ebd. 663 Michaelis: Fragen, Vorrede (*1f.).

174 | F REMDE V ERGANGENHEIT stehet daraus, wenn diese Namen unrichtig geschrieben sind? Wer der Sprache des Morgenlandes nicht kundig ist, […] der wird diese Namen mit lateinischen Buchstaben schreiben, allein immer einer anders als der andere […] Wir bekommen vielleicht bey Lesung verschiedener Reisebeschreiber zehn Ideen von einer einzigen Sache: sie sind eine unnütze Last für unser Gedächtniß, sie sind ein Irrthum, indem wir einerley Sache von sich selbst unterscheiden; und sie würden wahr und brauchbar seyn, so bald sie durch eine richtige Schreibung des Wortes in eine einzige Idee zusammen flössen.“

664

Eine mangelnde Fertigkeit des Reisenden im Arabischen führe demnach zu Irrtümern der heimischen Gelehrsamkeit. Interessant ist Michaelis’ Beurteilung der Philologie für die Wissenschaften. Denn ihre Bedeutung erschöpfe sich eben nicht im bloßen Erlernen einer fremden Sprache. Vielmehr bildeten ihre Erkenntnisse, seien sie irrtümlich, seien sie richtig, die Grundlage anderer Wissenschaften, wie zum Beispiel der Naturgeschichte: „Die Naturgeschichte soll zwar billig mehr als ein bloßes Lexicon über die Namen der Naturgeschenke seyn: allein die Anfangsgründe dieser Wissenschaft, die ich ihr Alphabet nennen möchte, sind doch in der That nur ein Wörterbuch, in eine gewisse Ordnung nach natürlichen Classen gebracht, und mit Definitionen versehen.“

665

Michaelis erhob die Philologie folglich zu einer ersten Wissenschaft. Sind aber Naturgeschichte wie auch Geographie von der Philologie abhängige Wissenschaften, und haben bisherige Expeditionen in Ermangelung philologischen Verstandes zu Irrtümern geführt, legt sich die Vermutung nahe, dass das Ziel der Reise letztlich ein philologisches war. Die Begründung der Reise nach Arabien, die das allgemein-wissenschaftliche Motiv hin zu bestimmten Zielsetzungen konkretisierte, findet sich im vierten Paragraphen des Schreibens Michaelis’ an Bernstorff und also im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage nach der Durchführung der Reise „zum Nutzen der Gelehrsamkeit“666. Das heißt, der Zweck der Reise war für Michaelis eine Bedingung ihres Erfolges hinsichtlich ihrer Metabestimmung pro scientia. Somit wird nach finanziellen oder missionarischen Absichten der Reise auch das Motiv bloßer Abenteuerlust unwahrscheinlich. Diese Vermutung bestätigt sich in Ansehung der genannten Zwecke, denn bereits in Erläuterung des ersten machte Michaelis deutlich, dass er nicht das Risiko des Unbekannten, sondern vielmehr die nähere Bekanntschaft mit Bekanntem suchte: 664 Ebd., (*2-4). 665 Ebd., (*4). 666 Vgl. Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff. Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 299.

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„Der Zweck der Reise würde seyn: 1) die Gewächse und Fossilien des glücklichen Arabiens den Europäern bekannter zu machen, vornämlich die, deren Namen in der Bibel vorkommen […] Was vor eine Bereicherung dies vor die Natur=Kunde wäre; ist von selbst klar, vor die morgenländische Philologie wäre es desto erwünschter, weil die Namen der Kräuter und Bäume so sehr häufig in der Bibel vorkommen, daß man stets im Lesen gehindert wird, auch sehr oft, bey Anspielungen auf dieselben, des übrigen Sinnes der Bibel verfehlt, wenn man sie nicht kennt.“

667

Der beschriebene Zweck widerspricht der Vermutung einer vornehmlich philologischen Zielsetzung der Reise nicht. Die Arabische Expedition richtete sich auf Namen. Als ein weiteres Ziel der Philologie aber – neben ihren bereits erwähnten Aufgaben der Sprachbildung und der Erschließung von Wörterbüchern etwa für die Naturgeschichte – benannte Michaelis die Textkritik der Bibel. Diese theologische Wendung mag wenig irritieren, bedenkt man die „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen“, und die dort vertretene These, dass das eben „beste Mittel“ die noch lebendige Sprache der Araber sei. Die philologische Dogmatik Michaelis’ erklärt allerdings ebenso wenig, warum die „ausgestorbene hebräische Sprache“ überhaupt verstanden werden muss, noch warum gerade der bekennende Philosoph, der lustlose Theologe Michaelis, sie verstehen wollte, so dass sich nunmehr die Frage stellt, wie ein solcher Philosoph zugleich ein solcher Theologe sein konnte. Die Quellen erschließen eine mehrfache Beantwortung der Frage. Zunächst bezeichnete Michaelis die Bibel als das „allerälteste“668 und zugleich „allerwichtigste Buch des Alterthums“669 und betrachtete sie demnach als ein historisches Dokument. Historische Bedeutung gewinne sie ferner als Gründungsurkunde des Christentums: „Sie werden mir es aber nicht übel nehmen, wenn ich ihnen bekenne, daß mir bey einem Buch, auf welches sich unsere ganze Religion gründet, alles wichtig scheinet, was dessen wahren Verstand aufkläret.“670 Ein näheres Interesse für die theologische Bedeutung der Bibel etwa als Zeugnis des Glaubens ließ Michaelis nicht erkennen. Vielmehr betonte er ihren philosophischen Wert. Die Bibel sei eines „moralischen Inhalt[s]“671 und könne vor dem „Richterstuhl der Philosophie“ bestehen,672 der einzig nach dem Kriterium der Vernunft als Zeugin „philosophisch=evidente[r] Wahrheit“673 urteile. Sie wird folglich 667 Ebd., S. 302-304. 668 Michaelis: Fragen, Vorrede (*9). 669 Ebd., (*9). 670 Ebd., (*28). 671 Ebd., (*29). 672 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII (1775), 37f. 673 Ebd., 83f.

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als ein Buch der Wahrheit vorgestellt, das den „Dank“ der Philosophie verdiene.674 Die „Aufklärung ihres wahren Verstandes“675, angefangen bei der Kritik ihres Textes und ihrem sprachlichen Verstehen, ist in diesem Sinne eine philosophische Aufgabe. Seiner Argumente ungeachtet war sich Michaelis der Problematik des Theologenpelzes seiner Philosophie bewusst. Er sah „zu voraus […], daß dieß einigen misfallen, und als gar zu theologisch vorkommen wird“. Gerade den Gelehrten aber, denen die Bibel ein „verhaßtes Buch“ sei, hielt Michaelis ihre Verdienstlichkeit – insbesondere die des Alten Testaments – entgegen: „Allein über das ist das alte Testament ein Buch, welches uns gleichsam zwinget in die ganze Naturgeschichte und Sitten der Morgenländer hineinzugehen, wenn wir es verstehen wollen. Beynahe dreyhundert Namen aus dem Gewächsreiche, ich weiß nicht wie viele aus dem Thierreiche, und ziemlich viele Namen der Edelgesteine, kommen in demselben vor: mit Sitten der Morgenländer, mit Geographie ist es ganz durchflochten […] Wer blos darum fraget, damit er dieß allerälteste Buch verstehen möge, der wird unvermerkt verleitet, nach den größten Theil der Naturgeschichte und nach den meisten Sitten des Orients zu fragen, und an die meisten dieser Fragen würde er nicht gedacht haben, wenn nicht dieß so sonderbare Ueberbleibsel des orientalischen Alterthums ihn darauf geleitet hätte. Ich weiß wirklich kein ander Buch zu nennen, das in diesem Stück der Gelehrsamkeit so vortheilhaft wäre […] gewiß die Naturgeschichte ist eine ihrer größten Schuldnerinnen.“

676

Als Zusammenfassung allen Wissens in Namen und Wahrheiten sei die Bibel nicht nur Gläubigerin der Philosophie, sondern auch der orientalischen Ethnologie, Naturgeschichte und Geographie. Es wurde bereits erwähnt, dass Michaelis die Bibel als ein historisches Dokument betrachtete. Nachzutragen ist, dass er keineswegs die Wahrheit ihrer Schilderungen behauptete, sondern allein ihre Historizität als „Ueberbleibsel“677 einer vergangenen Zeit. In dieser Zeit, die über dreitausend Jahre zurückreiche, finde sich die biblische Bühne. Schauplatz ihrer Erzählungen sei der Orient. Dieser Logik gemäß sei eine zunächst metaphorische Reise in den mosaischen Orient „zwingend“678 erforderlich, um die Bibel zu verstehen. Zugleich aber verlange das Verstehen auch eine tatsächliche Reise in den gegenwärtigen Orient, denn:

674 Vgl. Michaelis: Fragen, Vorrede (*29). 675 Vgl. ebd., (*28). 676 Ebd. 677 Ebd., (*29). 678 Vgl. ebd.

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„Man wird schwerlich ein Volk finden, welches seine Sitten so lange unverändert behalten haben sollte, als das Arabische […] So viel wir von diesen Sitten wissen, das kommt mit den ältesten Sitten der Israeliten so genau überein, daß es der Bibel die reichsten und schönsten Erläuterungen giebt.“

679

Der gegenwärtige Orient komme mit dem mosaischen Orient „genau überein“, so dass eine Reise in die Gegenwart eben auch in die biblische Vergangenheit führe. Michaelis stützte diese Behauptung, indem er auf die Sitten der Araber verwies. Unter Berufung auf Ergebnisse gelehrter Beobachter konnte er in der „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ feststellen, „[d]aß die Sitten der Araber […] nach Jahrtausenden so ungeändert geblieben sind, und den Sitten Abrahams gleicher sehen, als unsere den Sitten unserer Vorfahren aus dem 16ten Jahrhundert“. Folglich werde „aus den Sitten der jetzigen Araber die Lebensbeschreibung der um so viel tausend Jahr ältern Patriarchen im ersten Buch Mosis erläutert“.680 Und Unveränderlichkeit war Michaelis auch hinsichtlich des geographischen Arabiens das wahrscheinliche Charakteristikum: „Vielleicht ist kaum ein Land der Veränderung zum bessern oder schlimmern weniger fähig, als die immer wider einerley werdenden, und von der armen Natur für herumziehende Viehhirten ewig bestimmten Wüsten Arabiens. Wenn auch dort einmahl der Zufall auf Jahrhunderte etwas ändert, so kommt doch alles wider, so bald der Zufall aufhört, in seinen alten Zu681

stand zurück.“

Zuletzt sei es – wie bereits aus der „Beurtheilung“ hinlänglich bekannt – die arabische Sprache, die dem biblischen, „ausgestorbenen“ Hebräischen die „reichsten und schönsten Erläuterungen“ zu geben vermöge: „Es ist nämlich Hebräisch und Arabisch nur ein verschiedener Dialekt einer und eben derselben Sprache, und ungeachtet des großen Zwischen=Raums der Zeit ist doch das jetzt in Arabien Geredete, oder das im Koran befindliche Arabische, wenn man es ohne die willkührlichen Zusätze der Grammatiker so ausspricht, wie es geredet wird, von dem Hebräischen des Moses nicht weiter, ja nicht völlig so weit entfernt, als Obersächsisch und Niedersächsisch von einander.“

682

679 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff. Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 305. 680 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. V (1773), 112f. 681 Ebd., 114. 682 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff. Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 303.

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Vor dieser Argumentation gewinnt die philologische Absicht, die sich für Michaelis mit einer Reise nach Arabien verband, ihre Begründung. Sind Hebräisch und Arabisch Schwestern, so bedarf es zur Erklärung der Bibel einer Kenntnis der Gewächse und Fossilien des „glücklichen Arabiens“. Dieser erstgenannte Zweck der Reise zeigt, dass die Notwendigkeit einer gelehrten Expedition in den Orient vornehmlich aus einer philologischen Dringlichkeit erwuchs. Zugleich aber verweist die textkritische Absicht auf den Text selbst. Und so ist vorerst resümierend festzuhalten, dass die Arabische Reise ihre entscheidende Begründung in der Bibelwissenschaft fand. Die Erläuterung vorrangig des Alten Testaments, dessen Zeit und Ort Michaelis im gegenwärtigen Orient behauptete, war ihr Ziel. Unter Berücksichtigung der dogmatischen Prämissen des Inspirators der Reise wird allerdings deutlich, dass Michaelis die Bedeutsamkeit der Bibel vorrangig in der Philosophie, Historie und den Naturwissenschaften sah, deren Prolegomenon sie ist, deren Schuldnerinnen sie sind. Die verschiedenen Schuldnerinnen der Bibel erhielten mit der Formulierung der weiteren Zweckbestimmungen der Arabischen Reise ihre singuläre Würdigung. Zielte der erste Zweck neben der Textkritik der Bibel vornehmlich auf die Naturkunde, so kündigte Michaelis mit dem zweiten, „[v]on den Sitten, der Bau=Art u.s.f. des glücklichen Arabiens eine unterhaltende und nützliche Nachricht zu geben“, einen Nutzen für die orientalische Völkerkunde an. Im Kontext der Erläuterung dieser Absicht ließ er allerdings kein ernstliches Interesse an den gegenwärtigen Sitten Arabiens und der Araber erkennen. Er verwies ausschließlich auf ihre Spiegelung der mosaischen Zeit und somit auf das Ziel, „der Bibel die reichsten und schönsten Erläuterungen“ zu geben. Die exegetische Notwendigkeit der Expedition erwachse dabei aus der Versäumnis bisheriger Nachrichten, die aufgrund ihres Ursprungs vornehmlich im „wüsten Arabien“ ein unzulängliches Verständnis, „welches noch das beste ist“, oder – „so wohl das gewöhnlichste ist“ – eine unrichtige Auslegung gerade jener Bibelstellen, in denen Gebäude beschrieben werden, provozieren würden.683 Mit der Anführung des dritten Zwecks stellte Michaelis die geographische Notwendigkeit einer Forschungsreise nach Arabien heraus, „als davon man beynahe gar nichts weiß, als was uns die viele hundert Jahre alten Arabischen Geographien sagen, die noch dazu von wenigen gebraucht werden, und bey den steten Veränderungen der Länder und Städte jetzt sehr unzulänglich sind“. Trotz des Nachsatzes, in dem er erklärte, dass er den „Nutzen einer bessern Geographie eines solchen Landes […] nicht zu berühren“ braucht, ließ er ein womöglich okkupatorisches Motiv hinter der Absicht der geographischen Erschließung Arabiens nicht vermuten. So betonte er in Darstellung der Absicht einzig, dass die vorherrschende Unkenntnis „hindert, viele Stellen der Bibel zu verstehen“, wobei ihm zunächst an der Schlichtung der „Streitigkeiten über den Durchgang der Israeliten durch das rothe 683 Ebd., 305f.

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Meer“ gelegen war.684 Michaelis verzichtete hier wie schon in Erläuterung des ersten Zwecks auf eine Begründung der Notwendigkeit der bibelwissenschaftlichen Perspektive für die Naturwissenschaften, die er voraussetzte: sie „ist von selbst klar“.685 In Beschreibung des vierten Zwecks, namentlich „von der Geschichte […] der Araber, genauere Nachricht zu geben“, deutete Michaelis an, dass sich die Reise aus der Dringlichkeit der Beantwortung konkreter Fragen erkläre. Er erwähnte Albert Schultens, der zur Prüfung der Originalität seiner vermeintlich zuverlässigen Manuskripte wohl weiterer Nachricht aus Arabien und der Kenntnis zum Beispiel der „ewigen Denkmäler[] der Geschichte“ bedurft hätte.686 Exemplarisch nahm Michaelis damit die Aussage des sechsten Paragraphen vorweg, in dem es heißt: „Es würde sehr nützlich seyn, wenn ihm [dem Reisenden] […] eine ganze Sammlung von Fragen [mitgegeben würde], die solche, welche Arabien schon etwas kennen, beantwortet zu wissen wünschen, und aus Büchern auf der Studir=Stube nicht beantworten können.“

Dass der Initiator der Expedition ihr selbst Fragen mitzugeben hatte, die er „aus Büchern auf der Studir=Stube nicht beantworten“ konnte, ist wenig überraschend: „Ich arbeite seit einiger Zeit an einer Sammlung solcher Fragen, die sich leicht auf einige hundert erstrecken dürfte, die ich in eine gewisse Ordnung bringen wollte.“687 Nach der unzureichenden sprachlichen Vorbereitung, stellte Michaelis in dem Vorwort seiner späteren 100 „Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer“ das Fehlen vorheriger Fragen und also einer Instruktion der Reisenden hinsichtlich dessen, „was man noch aus Arabien gebraucht“688, als zweite Schwäche bisheriger Reisen in den Orient vor: „Der zweyte Mangel ist, daß den Reisenden allein überlassen wird, was sie von auswärtigen Ländern melden sollen, ohne ihnen Fragen vorzulegen, und sie zu unterrichten, was wir zu wissen begierig sind.“

689

Die Begründung des Mangels geschah dabei vor der Bestimmung der Reise „zum Besten der Gelehrsamkeit“. Denn:

684 Ebd., 306f. 685 Ebd., 304. 686 Ebd., 308. 687 Ebd., 314. 688 Ebd., 300. 689 Michaelis: Fragen, Vorrede (*6).

180 | F REMDE V ERGANGENHEIT „Sie [die Reisenden] sehen unzählige Dinge vor Augen, auf die sich nicht merken; allein sie würden ihnen einen Blick gönnen, wenn sie wüßten, daß gerade dieß die Sache sey, darnach ein Gelehrter in Europa fraget, und die er zu Aufklärung einer Dunkelheit gebrauchen kann [...] Dieß kann eine sehr kleine Kleinigkeit seyn, sehr bekannt in den Ländern, nach denen 690

man reiset; und eben deshalb schreibt man es nicht auf, weil es dort so bekannt ist.“

Neben dem „ungünstigen Blick“ vermutete Michaelis eine „Zerstreuung“ der Reisenden aufgrund der Kürze der Zeit, die sie an einem zu untersuchenden Ort verbringen und hindern könnte, sich auf alles zu besinnen, „was zur Erforschung einer Wahrheit dienen kann“. Ihnen gegenüber habe „der in seiner Studierstube müßige Gelehrte“ nicht nur die nötige Zeit, sondern auch die „Bücher bey der Hand, aus denen kann er vielleicht zehn data zusammen suchen, zu denen nur noch das eilfte fehlt, um die Wahrheit zu erfinden. Dieß eilfte schwebt dem Reisenden vor Augen, allein er läßt es ungebraucht vorbey, denn er kann keine Bibliothek mit sich führen.“691 Das zweite „unentbehrliche Hülfsmittel“ einer Reise in den Orient gründe somit in der Notwendigkeit der Anleitung der Wahrnehmung der Reisenden hin zu einer Konzentration auf eine zu „erfindende“ Wahrheit, die Folge einer durch die Vielfalt des Sichtbaren und einen Mangel an Zeit bedingten Überforderung des Blicks sei. Als Instrument der Instruktion schlug Michaelis den Fragen-Katalog vor, dessen Nützlichkeit nach der Möglichkeit zur Beantwortung gelehrter Fragen auch aus der Notwendigkeit der Substitution einer nur unbestimmten Beobachtung durch die Fokussierung allein auf ein „elftes Faktum“ erwachse. Dabei folge die Dringlichkeit der Substitution aus dem Anspruch des superlativischen Nutzens der Reise für die Gelehrsamkeit. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass Michaelis mit dem Vorschlag einer gelehrten Expedition in den Orient durchaus bemüht war, ein nach seinen Worten „vortreffliches Gemählde“692 Arabiens und seiner Einwohner zu gewinnen. Entscheidend allerdings ist, dass er das Gemälde selbst bereits besaß, allein ohne alle farblichen Nuancen zu kennen. Denn Authentizität erwies sich für Michaelis mit Blick auf den Orient als genaue Übereinkunft mit dem biblischen Szenario. Tat690 Ebd., (*6f.). Vgl. auch ebd. (*27): „Je mehr der Reisende weiß, was im Orient wichtig, und der Aufmerksamkeit würdig ist, jemehr wird er auf das alltägliche, so er vor Augen hat, aufmerken, und sich nach den Dingen erkundigen, um die er sich sonst nicht bekümmert hätte.“ 691 Ebd., (*7f.). 692 Ebd., (*5): „Von den Sitten, den Rechten, der Politik eines Volkes wird wohl gewiß niemand eine Kenntniß durch Reisen erlangen, der seine Sprache nicht verstehet. Man schicke einen, der nichts als deutsch gelernet hat, nach Frankreich oder England: er wird uns vortreffliche Gemählde von diesen Völkern mitbringen!“

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sächlich war ihm an der Erforschung zum Beispiel der arabischen Sitten gelegen – allerdings vornehmlich jener, „welche der heiligen Schrift und den mosaischen Gesetzen ein Licht geben“693. Dass die Hinwendung zur Vergangenheit ein Gegenwartsinteresse nicht negierte, wird durch die Betonung der besonderen Bedeutung der Bibel für die orientalische Ethnologie deutlich, generiere der Versuch, die Bibel zu verstehen doch „unvermerkt“ auch die Möglichkeit der Begegnung arabischer Gegenwart. Entscheidend aber ist, dass das „vortreffliche Gemählde“ durch die Bibel gezeichnet wird und damit ein authentisches ist. Michaelis begegnete dem Araber als dem Zeugen einer Vergangenheit, die er besaß, ohne sie gänzlich zu verstehen. Die Suche nach der verlorenen Zeit war der Anlass der Arabischen Reise, ihr Zweck nicht die Zeichnung eines Bildes vom Orient, sondern die Vollendung einer Skizze zu einem vortrefflichen Gemälde mittels eines „elften Faktums“. 4.3.2 Die Auswahl der Expeditionsmitglieder Sieben Wochen nach seinem Schreiben an Bernstorff erhielt Michaelis die Zusage der vollständigen Bewilligung der vorgeschlagenen Reise durch den dänischen König.694 In den vier folgenden Jahren, die bis zur Abreise der „Grönland“ vergingen, unterhielt er eine regelmäßige Korrespondenz mit Bernstorff, deren hauptsächlicher Gegenstand die Vorbereitung der Expedition durch die Auswahl ihrer Mitglieder war. Michaelis schlug zunächst den „Candidat[en] Ström aus Norwegen“ vor, der nach zweijähriger Vorbereitung „das beste Subject seyn [würde], so man wünschen könnte“.695 Ströms Ernennung durch den dänischen König folgte kurze Zeit später.696 Erst zuletzt wurde der Kandidat selbst mit seiner „gnädige[n] Wahl“ konfrontiert und bemerkte, „daß er sich vor der Reise fürchte, zu welcher er von Sr. Majestät bestimmt war“. Michaelis entschuldigte sich bei Bernstorff für seinen voreiligen Vorschlag, rechtfertigte sich mit der Angst vor „frühzeitige[r] Schwatzhaftigkeit“ und gestand:

693 Instruction §35 - vgl. Anm. 725. 694 „Ich habe das Vergnügen, Ewr. zu benachrichtigen, daß der König den von Ihnen mit so vieler Einsicht gemachten Entwurf einer nach dem glücklichen Arabien vorzunehmenden Reise völlig genehmiget, und den Studiosus Ström, in Absicht des von Ihnen ihm beygelegten guten Zeugnisses, dazu ernannt habe“ (Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 2. Octob. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I [1794], Nr. 83). 695 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 301. 696 Vgl. Anm. 694.

182 | F REMDE V ERGANGENHEIT „Da ich nun überhaupt bey Hrn. Ström einen Trieb zum Reisen bemerkt hatte, so unterstand ich mich, ihn zu nennen, weil ich ihn wegen seines Fleißes und seiner Leibes=Constitution vor geschickt hielt, und hoffte, die Entfernung würde ihn so wenig geschreckt haben, als sie mich schrecken sollte, wenn ich in eben den Umständen wäre […] Die Schuld ist mein. Es fiel mir gar nicht ein, daß sich auf Dänischen Schiffen, die itzt von den Unfällen des Krieges frey sind, jemand vor dieser Reise scheuen würde. Es kann einer sonst der brauchbarste Mensch, und ein sehr guter Gelehrter seyn, und doch die weite See, ob sie gleich weniger fürchterliches hat, als die zwischen Ländern, und die fremden Namen Asiens scheuen.“

697

Die Absage Ströms war einem gewissen Magister von Haven förderlich. Wie Michaelis berichtete, war von Haven über die Ernennung seines Göttinger Kommilitonen698 „auf eine erlaubte Weise eifersüchtig“ gewesen und wünschte nun, „daß er an Ströms Stelle destinirt werden möchte“. Sein Wunsch wurde von Michaelis nur zögerlich unterstützt. Die im Vergleich zu Ström „gar anders beschaffne[] Constitution“ des Dänen sei besorgniserregend. Es müsse befürchtet werden, „daß man durch den Tod oder Krankheit ihn und die Frucht der Reise verlieren könnte“. Von Haven begegnete dererlei Bedenken mit der Gewissheit, dass „die Reise zur See […] seiner Gesundheit nicht schaden“ solle, „die er selbst am besten kenne“. Seine anfänglichen Eifersüchteleien gegenüber Ström wurden Michaelis als „Eifer des Hrn. von Haven in der Sache“ nun zu einem „guten omen“. Neben dem nötigen Fleiß und der Kompetenz habe er „die größte Begierde zu dieser Reise, und also gleichsam die Seele dazu“.699 697 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, im October, 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 85. 698 Ström und von Haven hatten unter Michaelis in Göttingen studiert - vgl. Hübner: Michaelis und die Arabien-Expedition, 380. 699 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, im October, 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 84f. In der späteren Vorrede zu seinen „Fragen“ sind Michaelis’ einstige Zweifel an der Ernennung von Havens nicht mehr zu erahnen (Michaelis: Fragen, Vorrede [*11f.]): „Es war zwar nicht vorgeschrieben, von welcher Nation er seyn sollte: allein meine Freude ward doch verdoppelt, da ich unter meinen Zuhörern einen gebohrnen Dänen fand, der sich nicht aus Pflicht oder Absichten, sondern blos aus einer Zuneigung den morgenländischen Sprachen mit einem sehr glücklichen Erfolg gewidmet hatte, und der den Orient zu sehen wünschte.“ Wiederum anders klingt der Bericht in Michaelis’ Lebensbeschreibung (Michaelis: Lebensbeschreibung, 68f.): „Nur machte mich gleich, bey dem ersten Antrage, sein Körper bedenklich, von dem ich kaum glauben konnte, daß er die Beschwerlichkeiten, einer solchen Reise ausstehen würde […] Aber noch ein besonderer Umstand kam hinzu, um dessen Willen ich nicht wohl unterlassen konnte, ihn vorzuschlagen: er hatte etwa anderthalb Jahre vorher, da er sich von mir für beleidigt hielt, Grobheiten gegen mich be-

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In den Umständen der Ernennung von Havens werden mit einer guten „Leibes=Constitution“ und einem „Eifer […] in der Sache“, sowie mit Fleiß und Kompetenz als akademischen Voraussetzungen die verschiedenen Kriterien deutlich, die die Auswahl der Expeditionsmitglieder begründeten. Wie das Beispiel der Absage Ströms zeigt, scheint auf der Seite der Kandidaten der Aspekt der Furcht die entscheidende Rolle hinsichtlich des Teilnahmewunsches gespielt zu haben, den allerdings sowohl Bernstoff als auch Michaelis für unbegründet hielten. Für Bernstorff handelte es sich um die bloße „Einbildung“ einer Gefahr700, während es Michaelis gar nicht erst einfiel, mit Furcht zu rechnen701. Ihn selbst hielte einzig seine Familie von der Reise ab.702 Ängstlichkeiten seien grundsätzlich unentschuldbar: „Wäre ich in den Umständen, daß ich Reisen von Jahren vornehmen könnte, so würde ich mich um eine solche Gelegenheit recht drängen […] Ich schätze es […] für die, die in ein fast gar nicht von Gelehrten besuchtes Land reisen können, für ein großes Glück, daß ich solchen ihre Furchtsamkeit oder Bequemlichkeit kaum vergeben kann.“

703

Nach der Ernennung von Havens, der die Reise als Philologe antrat, und auch auf dessen Wunsch hin, „wenigstens einen Gefährten zu haben, der sich auf die Naturgeschichte gelegt hätte“704, wurde die Expedition sukzessive um einzelne Fachkompetenzen erweitert. Maßgeblicher Organisator der weiteren Suche nach geeigneten Kandidaten war Michaelis, dem Bernstorff im Auftrag des dänischen Königs zwei-

gangen, dieß gereute ihn aber in wenig Monaten […] Man überlege, was man von mir würde gedacht haben, wenn ich unter diesen Umständen sein Gesuch abgeschlagen hätte.“ 700 Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 22. April 1758. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 92. 701 Vgl. Anm. 697. 702 „[W]enn ich keine Familie hätte, so thäte ich die Reise selbst“ (Michaelis an Forskål: Göttingen, den 1. Jan. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I [1794], Nr. 101). 703 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 10. Jul. 1758. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 94. 704 Michaelis: Fragen, Vorrede (*13). Natürlich war es auch Michaelis’ Wunsch, die Expedition mit mehreren Gelehrten durchzuführen. Rückblickend schrieb er ebd., Vorrede (*12f.): „Ein einziger Gelehrter, der sich ordentlich nur einer Gattung von Wissenschaften gewidmet hat, kann unmöglich so viel leisten, als eine Gesellschaft von Gelehrten, deren jeder seine eigene Wissenschaft treibet.“ Allein die Dreistigkeit des Wunsches habe ihn ob der vielen Unkosten, die er verursachen würde, von seiner Äußerung abgehalten.

184 | F REMDE V ERGANGENHEIT

mal die Aufgabe übertrug, „ein geschicktes Subject auszuwählen“705. Nach einer erneuten Absage eines gewissen Böltzing „aus Furcht“706 zeigte sich zunächst der deutsche Mathematiker Carsten Niebuhr „völlig zu dieser Reise entschlossen“, – freilich „wenn er in die Bedingungen des Böltzing treten, d.i. zur Präparation jährlich 500 Rthlr. erhalten kann“.707 Näheren Einblick in die Umstände der Berufung Niebuhrs gibt sein Sohn Barthold Georg Niebuhr. In einer Schilderung der ersten Begegnung seines Vaters mit der Expeditionsteilnahme708 ließ er keinen Zweifel an der Exzellenz der Nominierung: „‚Hätten Sie wohl Lust nach Arabien zu reisen?‘ ‚Warum nicht, wenn jemand die Kosten bezahlt!‘ erwiederte mein Vater, den nichts an die Heimath fesselte, und ein unbeschränkter Trieb nach Kenntnissen in die Weite zog. ‚Die Kosten […] soll Ihnen der König von Dännemark bezahlen.‘ Er erklärte sich über den Gegenstand und seine Veranlassung. Niebuhr 709

war augenblicklich entschlossen“.

Nach Niebuhr wurde der Schwede Petrus Forsskål als Naturforscher nominiert.710 Forsskål reagierte zögerlich auf das Angebot. Er dankte „gehorsamst“ und erbat sich 14 Tage, um die notwendige Einwilligung seines Vaters einzuholen, derer er

705 Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 22. April 1758. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 92. Vgl. auch von Bernstoff an Michaelis: Kopenhagen, den 24. May 1757. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 90. 706 Vgl. NIEBUHR, Barthold Georg: Carsten Niebuhr’s Leben. Kiel 1817, 12. 707 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 10. Jul. 1758. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 94. Vgl. auch Michaelis: Fragen, Vorrede (*14). 708 Niebuhr, Barthold Georg: Carsten Niebuhr’s Leben, 12ff. 709 Ebd., 12f. 710 Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 27. Jan. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 102. Das erste Schreiben von Michaelis an Forsskål bestätigt nochmals die Kriterien, die die Auswahl der Expeditionsteilnehmer begründeten: „Ihre große Liebe zu diesen Wissenschaften, Ihre Geschicklichkeit darin, der glückliche Umstand, daß Sie bereits Arabisch gelernt haben, und zu der Reise keine vorläufige Präparation gebrauchen, bewegen mich, zu wünschen, daß Sie diese Reise thäten. Da es nicht das wüste, sondern das glückliche Arabien ist, deßen Einwohner cultivirt sind, und der Weg über Tranquebar geht, so sehe ich keine Gefahr, ja gewiß, wenn ich keine Familie hätte, so thäte ich die Reise selbst“ (Michaelis an Forskål: Göttingen, den 1. Jan. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I [1794], Nr. 101).

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sich „noch nicht versichern“ dürfe. Sobald diese aber vorläge, sei er „in Gottes Namen entschlossen, die vorgeschlagene Reise zu übernehmen“. „[M]ir soll es ein Vergnügen sein, den Wissenschaften auch mich aufzuopfern. Denn ohne allerhand Gefährlichkeiten wird es nicht ablaufen. Mein Schicksal ist aber allerwärts in des Höchsten Händen.“

711

Auch äußerte er die „Hoffnung“, sollte er „nach Europa“ wiederkommen, „und etwa eine erwünschte Bedienung in Schweden, oder anderswo, nicht erhalten“ können, in Dänemark „ein anständiges Brodt zu verdienen“.712 Da sich sein Vater „gar zu große Gefahr und gar zu wenigen Vortheil“ für seinen Sohn vorstellte, gelang es Forsskål nicht, seinen „Beifall“ zu erlangen.713 Auf seine Absage reagierte der Nominierte mit „einige[n] Bedingungen […], unter denen er die Reise übernehmen wolle“: „1) daß ihm die Präparations=Pension von 500 Rthlr. jährlich vom Anfange dieses Jahrs angehen möchte […] 2) Daß ihm der Titel als Professor gegeben werde […] 3) Er bittet, daß er nach seiner Zurückkunft eine Pension Zeitlebens, ohne ein Amt an einem gewissen Orte zu 714

haben, genießen möge, die er auch auswärts verzehren könne“.

Mehr als zwei Wochen vor der tatsächlichen Bewilligung dieser offensichtlich vorteilhaften Bedingungen durch den dänischen König715 schrieb Forsskål Michaelis, dass ihm sein Vater die Reise „endlich erlaubt[]“. Im gleichen Brief rechtfertigte er sich auch für die Forderung einer Pension, von der er hoffte, Michaelis werde „nichts Irraisonables“ an ihr finden, „[…] da gewiß unter der Zeit, da ich in den Diensten der Wissenschaften Gesundheit und Leben wage, viele meiner Jugendfreunde […] zu Professoraten und bessern Aemtern […] befördert werden; da auch oft bei dergleichen langen Reisen, wenn das Leben errettet wird, die 711 Forskål an Michaelis: Upsala, den 30. Jan. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 103. 712 Ebd. Michaelis selbst allerdings hatte Forsskåls Hoffnung provoziert (vgl. Michaelis an Forskål: Göttingen, den 1. Jan. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I [1794], Nr. 101). 713 Forskål an Michaelis: Upsala, den 27. Febr. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 104. 714 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 31. May 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 108. 715 Vgl. von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 21. Jul. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 110.

186 | F REMDE V ERGANGENHEIT Gesundheit oft so viel leidet, daß die Fähigkeit und Vermögen, von eigener Arbeit sich zu ernähren, größtentheils verlohren seyn kann. Der Faulheit werde ich mich doch nie ergeben, so lange mir Gott Kräfte, andern nützlich zu seyn, verleiht.“

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Das vielleicht stärkste Argument für seine Forderung war Forsskål indes sein Vater, der durch „sichere und leuchtende Vortheile“ habe „befriedig[t]“ werden müssen,717 denn seine Erlaubnis sei allein einem „allzuinständige[n] Bitten“ geschuldet, und keiner Überzeugung. „[D]as Recht zu seiner väterlichen Liebe“ habe Forsskål „durch Ungehorsam“ ohnehin verloren, so dass ihm nun nicht mehr denn die Hoffnung auf Versöhnung bliebe.718 Vor den Verhandlungen Forsskåls und der Tragödie um die „väterliche[] Liebe“ zeigt sich der Wunsch zur Teilnahme an der Expedition als das entscheidende Kriterium der Zusage ihrer Mitglieder. Der Wunsch allein konnte die Furcht überwinden – freilich nicht ohne einen gewissen Beistand durch den einen oder anderen Vorteil. Aber wie auch immer der Wunsch sich begründen mochte – sei es durch das finanzielle Motiv oder das des narzisstischen Wohlbefindens eines werdenden Helden, sei es durch das angegebene Motiv der Gelehrsamkeit, für die Forsskål auch bereit war, das Martyrium zu erleiden,719 – entscheidend ist, dass die Expeditionsmitglieder in den Orient reisten, weil sie es wollten. Dem Initiator der Expedition indes verhinderten familiäre Umstände die Reiselust. Und er würde alles Weitere so planen, dass zumindest niemand mehr in den Orient müsste. Ohne Michaelis’ Hilfe wurde die Expedition noch um zwei weitere Mitglieder erweitert. Wenige Monate vor der Abreise wurde vermutlich auf Anraten der Professoren Ascanius und Oeder, die zu bedenken gegeben hatten, „ob es nicht rathsam 716 Forskål an Michaelis: Upsala, den 6. Jul. 1759. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 109. 717 „Allein bei dem allen versichere ich aufrichtig, daß mein eigener Vortheil mich weit weniger dieses auszubitten veranlaßt hat, als der Unwillen meines Vaters über diese Reise“ (ebd.). 718 „Wenn es nicht angeht, mir so viel Glück zu verschaffen, daß ich mir Hoffnung machen kann, mit meinem Vater versöhnt zu werden, muß ich mich auch damit begnügen“ (ebd.). 719 Zu einer Charakterstudie der Expeditionsmitglieder vgl. Beck: Carsten Niebuhr, 92117. Zu von Haven notiert Beck: „So war er von Anfang an wie eine Klette mit der Expedition verbunden“ (ebd., 97); „Denn v. Haven entpuppte sich als Lebemann mit einer unüberwindlichen Neigung zu jenem Grad von Bequemlichkeit, den man vergröbernd Faulheit nennt […] Er ist eine der ersten Inkarnationen jenes immer wiederkehrenden Typs des gelehrten Nichtstuers, der von seinen Unterstützungen gut lebt, dabei aber in die Lage eines Musikschülers gerät, der die Geigenstunden schwänzte und deshalb nie richtig spielen konnte“ (ebd., 99).

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wäre, daß noch ein Adjunct mit gegeben würde, der zugleich eine Kenntniß von der Arzneywissenschaft besäße, um der Mission bey vorfallenden Krankheiten eines oder des andern Mitgliedes zu dienen“,720 der dänische Mediziner Christian Carl Cramer ernannt. Man wünschte darüber hinaus, „daß dem Historico naturali ein Mahler möge zugegeben werden, weil Untersuchungen in seiner Wissenschaft, ohne Erläuterung durch Zeichnungen, ihren Nutzen gar oft nur zur Hälfte erreichen“721. Und so wurde zuletzt auch der deutsche Zeichner Georg Wilhelm Baurenfeind berufen. 4.3.3 Zur „Instruction“ der Reisenden „Als das Jahr der wirklichen Abreise herannahete“, mahnte Bernstorff Michaelis, die versprochene Instruktion für die Reisenden zu entwerfen.722 Ein erster Entwurf erreichte Bernstorff am 15. Juli 1760.723 Michaelis überarbeitete die Instruktion mehrfach, indem er sie – „wo [er] es nöthig, oder dem Endzwecke der Reise vorträglich erachte[te]“ – um Hinweise verschiedener europäischer Gelehrter erweiterte und verbesserte.724 Die endgültige Fassung der „Instruction“725 wurde fünf 720 Anmerkungen der Proff. Ascanius und Oeder über die Instruction für die Reisenden nach Arabien. In: Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 21. Octbr. 1760. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 124. Weiter heißt es: „[…] anbey dem Historico naturali an die Hand zu geben, um so viel mehr, da in diesen Ländern die Qualität eines Arztes die beste Recommendation ist und der Einfluß davon bey mehr als einer Gelegenheit auf die ganze Mission sich erstrecken könnte.“ 721 „[…] weil so viele Naturalien sich auf keine andere Art erhalten laßen; weil solche freye Zeichnungen nach der Natur an sich eine ganz andere Arbeit sind als Geographische Zeichnungen nach Cirkel und Lineal; und weil überall der Mathematikus mit seinen eigenen Sachen genug zu thun haben wird“ (ebd.). 722 Michaelis: Fragen, Vorrede (*17). Vgl. auch Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 8. Jan. 1760. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 116. 723 Vgl. von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 5. Aug. 1760. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 117. 724 Von Bernstorff an Michaelis: Kopenhagen, den 21. Octbr. 1760. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 124. Vgl. auch Michaelis: Fragen, Vorrede (*21): „Ich habe die allergnädigste Erlaubniß erhalten, diese oft erwähnte Instruction, so wie sie nach und nach durch den Beytrag mehrerer Gelehrter zur Vollkommenheit gediehen […]“ 725 Die „Instruction“ wird hier nach ihrem vollen Wortlaut zitiert, der auf eine Abschrift in von Havens Reisejournal zurückgeht. FRIEDRICH V./ BERNSTORFF, J. H. E. Frh. von: Die königliche Instruktion für die Teilnehmer der Expedition. In: Rasmussen: Carsten Niebuhr und die Arabische Reise, 59-78.

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Monate nach ihrem ersten Entwurf, am 15. Dezember 1760, von Friedrich V. und Bernstorff herausgegeben. In 43 Paragraphen regelte sie die Expedition grundlegend und fasste ihre wesentlichen Motive zusammen. So definierte sie zunächst den Zweck der Reise (§1): „Vorernannte Reisende sollen sämtlich mit einander nach dem glücklichen Arabien sich begeben, und gemeinschaftlich diesen von Uns allergnädigst vorgesetzten Endzweck stets vor Augen haben, daß sie in diesem Lande so viele Entdeckungen für die Gelehrsamkeit machen, als ihnen möglich seyn wird.“

Im folgenden zweiten Paragraphen war einschränkend vermerkt, dass es dem Zweck der Expedition nicht gemäß sei, „nur überhaupt eine Reise zum Besten der Gelehrsamkeit vor[zu]nehmen“, sondern „das glückliche Arabien [zu] untersuchen“. In diesem Sinne und um eine „Collision“ „der Neugier, in anderen Ländern Entdeckungen zu machen“ mit dem „Hauptzweck der Reise“ zu verhindern, wurden den Reisenden längere Aufenthalte und etwaige „Detours und Nebenreisen“ untersagt. Die Dauer der Reise wurde auf „zwey, oder wo es nötig ist, drey Jahr“ begrenzt726, ihr Hin- und Rückweg festgelegt (§3). Die gewissenhafte Dokumentation der Reise wurde unter anderem durch den Kauf von Manuskripten (§11), die Anfertigung von Zeichnungen, Rissen und Landkarten (§§15,21,27), der Sammlung von Naturalien (§19), vor allem aber durch ein „Diarium“ (§8) gefordert: „Jeder Reisende soll sein eigenes Diarium halten, und dem Gedächtniß nichts anvertrauen, sondern sich das, was er bemerket hat, noch vor Ende des Tages, oder, wenn unüberwindliche Hindernisse dieses verbieten, vor Ende der Woche aufzeichnen, und zwar vollständig, und so, daß ein jeder es verstehen kann, wenn er auch durch den Tod abgefordert und gehindert würde, Ausleger seiner Worte zu seyn.“

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726 Dabei sollte die „allererste Sorge“ der Reisenden sein, „daß sie das Arabische gleich fertig reden lernen, ohne welche Fertigkeit sie nie den von Uns vorgesetzten Zweck hinlänglich werden erfüllen können.“ 727 Weiter heißt es hier: „Wenn einerley von mehr als einem, doch ohne vorgängige Abrede unter ihnen, in sein Diarium eingetragen wird, so wird solches Uns desto mehr zu allergnädigstem Wohlgefallen gereichen, als man in Europa eine Sache kennen lernet, die zwey Reisende aus einem verschiedenen Gesichtspuncte beschrieben haben, und das zuverlässiger glaubt, was von mehreren Zeugen bestätiget ist.“ Durchaus wurde auch damit gerechnet, dass, „wenn zwey von einerley Sache reden“, ein Diarium dem anderen widerspricht, was allerdings „für ein Merckmahl der historischen Treue an[ge]sehen“ und nicht „übel“ gedeutet würde.

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Abschriften der Tagebücher wie auch alle weiteren Dokumentationen sollten „von Zeit zu Zeit“ nach Kopenhagen gesendet werden (§9), wie „denn auch dasjenige, was die Reisenden […] dereinst selbst mitbringen, nirgend anders als eben dahin getreulich und pflichtmässig abgeliefert und übergeben werden muß“ (§15). Die Instruktion mahnte die Expeditionsmitglieder, vor allem jene „specielleren Fragen“ „sorgfältig“ zu beantworten, „die ihnen von dem Professor Michaelis mitgegeben oder nachgesendet werden“, aber auch die Fragen anderer Gelehrter nicht zu vernachlässigen (§14). Letztere Fragen waren im Zusammenhang mit der Erarbeitung der Instruktion entstanden, nachdem Michaelis in mehreren Zeitungen einen Aufsatz veröffentlicht hatte, in dem er Gelehrte bat, „daß sie [ihm] mit ihrem Rath zu Hülfe kommen, sonderlich aber die Fragen anzeigen möchten, die sie von den Reisenden beantwortet zu sehen wünschten“.728 Dem Aufruf war unter anderen729 die „Academie des inscriptions et des belles lettres“ in Paris gefolgt, die einen eigenen Fragen-Katalog verfasste, den Michaelis später im Anhang seiner „Fragen“ abdrucken ließ. Die Fragen der Pariser Akademie wie auch die „verschiedener anderer auswärtige[r] Gelehrte[r]“ (§14) wurden „den Reisenden im Original mitgegeben“, „damit sie nicht in einer zweyten Hand, und gleichsam unter der Feder eines Uebersetzers, etwas verliehren möchten“. Mit Michaelis’ Fragen hätten sie „nichts zu thun“.730 Nach diesen Anweisungen wurde schließlich auch das Verhalten der Reisenden bestimmt. Sie haben sich gegen die Einwohner Arabiens der „grössesten Höflichkeit zu befleissigen“ (§10). In dem gemeinhin zitierten und geläufigeren Abdruck der Instruktion, der sich gesondert in Michaelis’ „Fragen“ findet und dort die Funktion erfülle, den „Lesern zum voraus einen völligern Begriff von dem [zu] machen, was sie von dieser Reise erwarten können“731, heißt es in vollständiger Zitation des Paragraphen: „Die sämmtlichen Reisenden haben sich gegen die Einwohner Arabiens der größten Höflichkeit zu befleißigen. Sie sollen ihrer Religion nicht widersprechen, noch weniger sie auch nur implicite verächtlich machen. Sie sollen sich dessen enthalten, was jenen verdrießlich ist: auch solche Theile ihrer Beschäftigung, die bey den Unwissenden Mahumedanern den Verdacht erwecken, als wollte man Schätze aufgraben, Zauberey treiben, oder etwas zum Schaden des Landes auskundschaften, auf die unmerklichste Art vornehmen, und so gefällig einkleiden, als möglich ist. . . . . . .“

728 Michaelis: Fragen, Vorrede (*17). 729 Vgl. die „Beylagen“ zu dem Brief von Bernstorffs an Michaelis, Kopenhagen, den 21. Octbr. 1760. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 124. 730 Michaelis: Fragen, Vorrede (*17). 731 Ebd., (*22).

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„Im Interesse der eigenen Sicherheit, aber auch aus Taktgefühl heraus sollten die Reisenden nicht mit dem Schwung wissenschaftlicher Konquistadoren, sondern mit der Sanftmut von Gästen zu Werke gehen“732 – so das treffliche Resümee Jürgen Osterhammels. In der Tat wurde mit dem zehnten Paragraphen nicht allein Höflichkeit oder vielleicht sogar „Respekt vor den fremden Kulturen“733 gefordert, sondern auch ein möglichst unauffälliges Verhalten, um der Gefahr muslimischen Argwohns entgegenzuwirken. Nach Michaelis’ Angaben verweisen die Punkte, die am Ende dieses Paragraphen, aber auch an anderen Stellen der Instruktion erscheinen, auf „einige Sachen […], die das Publicum nicht angehen“734. Ein Vergleich der gekürzten mit der vollständigen Fassung bestätigt dies grundsätzlich. Insgesamt handelt es sich um sechs Kürzungen735, die das Verhältnis der Expeditionsmitglieder untereinander bestimmen und finanzielle Fragen klären.736 Einzig in diesem einen Fall irritiert die Auslassung, heißt es doch weiter: „Sie sollen nie die Araber durch Europäische Freyheiten gegen das Frauenzimmer oder durch Intriguen mit demselben zu der bey diesem Volcke unauslöschlichen Eifersucht und Rache reitzen. So wenig die Absicht dieser Instruction ist, ihnen die allgemeinen Pflichten der Moral einzuschärfen, so ernstlich wird ihnen doch verboten, irgend eine unrechtmässige Liebe auf solche verheirathete oder ledige Person zu werfen, die diese orientalische Rachgier rege machen könnten. Sie sollen nie, auch wenn sie noch so sehr gereizet werden, in Scheltworte ausbrechen, oder da wo sie unter dem Schutze der bürgerlichen Obrigkeit sind, sich durch Thätlichkeiten verteidigen. Die Erfahrung lehret, wie gefährlich dieses in Ländern sey, in denen die Muhammedanische Religion herrschet, und wo man die Beschimpfung eines Muselmanns mit dem Tode des Beleidigers rächet. Und da ein solches Vergehen den übrigen Reisenden gleichfalls Verdruß zu ziehen könnte, so wird nicht allein ernstlich davor gewarnet; sondern Wir verbieten auch dergleichen Übereilungen nachdrücklich. Wer gegen diese Vorschriften handelt und sich dadurch Unglück zuziehet, den können Wir nicht anders als seinen Schicksal überlassen, und Wir obligiren die übrigen Reisende nicht, sich seiner so anzunehmen, daß sie dadurch selbst in Gefahr gerathen könnten.“

732 OSTERHAMMEL, Jürgen: Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 2010 [gebundene Erstauflage 1998], 159. 733 So Hübner in Zusammenfassung des zehnten Paragraphen der „Instruction“ (Hübner: Michaelis und die Arabien-Expedition, 386). 734 Michaelis: Fragen, Vorrede (*21). 735 §§ 4.6.7.10.11.23. 736 Die Reisenden wurden einander gleichgestellt: „Die reisende Gelehrte sind einander völlig gleich, und hat deren keiner, es sey unter welchem Praetexte es wolle, über den andern sich einiger Auctorität oder Superiorität anzumassen“ (§6). Die Reisekasse war Niebuhr anvertraut (§7).

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Es soll hier nicht über das Warum der Auslassung spekuliert werden, die sich wohl kaum dem vorgestellten Portrait der muslimischen Araber verdankt, wie es in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung ist, sondern vielmehr der eingeforderten Absage an Ketzereien, Affären und Gewalt und der gegebenen Zusage, die einzelnen Reisenden im Falle des Zuwiderhandelns, im Stich zu lassen. Natürlich kann ebenfalls vermutet werden, dass das Publikum an den geäußerten Befürchtungen und ihrer instruktiven Berücksichtigung durchaus interessiert gewesen wäre. Angefangen mit ihrem 16. Paragraphen gab die Instruktion spezielle Anweisungen für die einzelnen Expeditionsteilnehmer, die hier nur in ihrem jeweiligen Hauptpunkt genannt seien. Von Forsskål wurde erwartet, „daß er die Vorschriften, welche Linnäus in seiner Dissertation, Instructiones Peregrinatoris betitelt, Reisenden gegeben hat, beobachte“ (§16).737 Cramer wurde „der Gesellschaft der Reisenden insgemein zum Besten und Beitritt in Krankheitsfällen […] als ein Mitglied […] zugeordnet“ (§23). Ganz im Sinne des zehnten Paragraphen und seiner Mahnung zu strategischem Verhalten sollte Cramer „auch willig seyn, den Arabern mit seiner Wissenschaft […] dergestalt zu dienen, daß er dadurch seinen Mitgefährten die Gunst der Grossen, welche sie schützen können, das Zutrauen dieses Volcks und neue Wege tiefer in Arabien zu dringen verschaffe“ (§26). Niebuhr wurde „zuförderst die Besorgung der Geographie“ aufgetragen, „sonderlich in so ferne sie durch genaue Nehmung der Longitudinum und Latitudinum und durch Bestimmung der [Entfernung der] Örter von einander berichtiget wird“, um sodann „eine gebesserte Charte von Arabien“ zu entwerfen (§27). Baurenfeind wurde angewiesen, „den sämtlichen Reisenden zu Verfertigung der von ihnen ihm aufgetragenen Zeichnungen und Gemählde mit aller Willigkeit an Hand zu gehen“ (§43). Und von Haven „als Philologus, merket die Sitten und Gebräuche des Landes, vornehmlich die, welche der heiligen Schrift und den mosaischen Gesetzen ein Licht geben“ (§35). Darüber hinaus beschloss der 37. Paragraph: „Er ist sorgfältig, dasjenige in der arabischen Sprache, so man in Büchern und Lexicis nicht hat, das Provincielle und Gemeine, zur Erklärung der Bibel zu sammlen und dabey jedesmahl die bemerckten Redensarten in einem solchen Zusammenhange aufzuzeichnen, daß Europäische Gelehrte, die nicht selbst nach Arabien gehen, dennoch im Stande sind, zu urtheilen.“

Nach dem gesetzten Zweck der Expedition erwies sich von Haven als der wichtigste Expeditionsteilnehmer. Ihm wurde die Erläuterung der Bibel, die die Reise begründete, ebenso anvertraut wie die Entdeckung der Vergangenheit durch die Begegnung mit den Sitten und Gebräuchen Arabiens. Zugleich war er instruiert, Beur737 „Dabey sollen Bocharti Hierozoicon und Celsii Hierobotanicum gewissermassen seine Hauptbücher seyn, die er mit der Natur vergleicht, ihre Fehler verbessert und ihre Lücken ersetzet“.

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teilungen auch aus der heimischen Studierstube zu ermöglichen und damit die Notwendigkeit für künftige gelehrte Reisen in den Orient aufzuheben. Da die sorgfältige Dokumentation der Reise gefordert wurde, war selbige Aufgabe allerdings allen Reisenden aufgetragen. Nach der Zurückweisung sämtlicher Gefährlichkeiten der Reise durch Michaelis und Bernstorff ist ein wenig irritierend, dass die Forderung der Dokumentation die Allgegenwart des Todes voraussetzte – sei es durch Krankheiten oder die „orientalische Rachgier“. Insgesamt aber überrascht die Instruktion nicht, sondern wird den Ankündigungen gerecht. Dabei ist insbesondere an die Vorstellung einer notwendigen Wahrnehmungsschulung in Vorhersehung mannigfacher Überforderungen zu erinnern, der sich das Verbot der Neugierde und die Verpflichtung zur Beantwortung spezieller Fragen verdankten. 4.3.4 Die „Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer“ Am vierten Januar des Jahres 1761 verließ die „Gesellschaft gelehrter Männer“ den Kopenhagener Hafen und brach zur Expedition in den „heissen Himmelsstrich“ des „glücklichen Arabiens“ auf. Mit sich führte sie die königliche „Instruction“ und jene gelehrten Fragen, die „nichts“ mit dem Fragen-Katalog Michaelis’ „zu tun“738 hatten. Letzterer indes, die „Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen“, der als das zweite „unentbehrliche Hülfsmittel“ der Expedition angekündigt worden war, war noch nicht fertiggestellt. Allein zwei Fragen lagen der Expedition mit Beginn der Reise vor.739 In einem Brief an Bernstorff vom 30. April 1761 rechtfertigte sich Michaelis für die Verzögerung, indem er erklärte, dass ihn „in den vergangenen Jahren die Universitäts=Arbeit“, im letzten Jahr „die große Unruhe“ des Siebenjährigen Krieges von der „wirklich weitläufige[n] und mühesame[n] Beschäfftigung“ der Aufsetzung der Fragen abgehalten habe. Zugleich versprach er, zu versuchen, die „Schuld“, „in der [er] noch zu seyn glaub[t]“, „während der Arabischen Reise abzutragen“.740 Der Versuch gelang, blieb aber hinsichtlich seines eigentlichen Ziels von nur mäßigem Erfolg. Eine andauernde mentale Präsenz der Fragen, wie sie Michaelis zur Bedingung dafür erklärt hatte, dass der Reisende „deutlich sehen kann, was man schon weiß, und was noch zu wissen begehrt wird“, wurde aufgrund ihrer ver-

738 Vgl. Michaelis: Fragen, Vorrede (*17). 739 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. IV (1773), 70f. Vgl. auch NIEBUHR, Carsten: Beschreibung von Arabien: Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammelten Nachrichten. Kopenhagen 1772, XVIf. 740 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 30. April 1761. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. II (1795), Nr. 4.

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zögerten Fertigstellung unmöglich.741 Den zwei formulierten Fragen wurden „stückweise“ weitere „zu Constantinopel, in Aegypten, die letzten in Jemen“ nachgesandt bis auch diese „Abschickung unterblieb, weil es immer schwerer ward, sie nunmehr an die Reisenden zu bringen“. Im Jahr 1762 erschien die endgültige Fassung der Fragen als Druck, erreichte Carsten Niebuhr allerdings ob der Schwierigkeiten erst im August des Jahres 1764, „also über ein Jahr nach dem Tode seiner beiden Reisegefährten, an welche die Fragen eigentlich gerichtet waren“.742 Die einzelnen Fragen waren in ihrer Hauptzahl einige Seiten lang, zuweilen aber auch bis zu fünfzig. Denn: „Sollten sie von Nutzen seyn, so mußte gemeiniglich die Frage nicht mit einer geitzigen Kürze in zwey Zeilen zusammen gepreßt werden, sondern es waren bisweilen kleine Abhandlungen nöthig. Dieser Ueberfluß braucht wohl keine Entschuldigung: es wird niemand so unbillig seyn darüber mit mir zu zürnen. Ausführliche Fragen, die selbst etwas von Antwort enthalten, lassen sich angenehmer lesen, als die gar zu kurzen.“

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Michaelis verfasste hundert Fragen. Ihre nicht „geitzige Kürze“ bewirkte allerdings eine Multiplikation. Wollte man die Fragen nämlich „nicht nach der darüber gesetzten Zahl, sondern nach den Sätzen [d.h. Fragen], die sie enthalten, zählen […], so würden sie mehr als tausend betragen“.744 In ihrer Reihenfolge ist eine Ordnung nicht erkennbar. Inhaltlich bezogen sich beinahe alle Fragen auf die Erklärung der Bibel und bestätigten somit ihre Ankündigung. Häufig betrafen sie Erzählungen des Pentateuchs und erwogen etwa eine Profanierung von Wundern. So war es zum Beispiel die Absicht der Frage nach der „Ebbe an der äußersten Spitze des rothen Meers“ (II.), „mit Gewißheit zu bestimmen, ob durch eine Ebbe über Ebbe, welche ein der Fluth widriger Nord=Nord=West=Wind verursachte, so viel von dem Meer hat ausgetrocknet werden können, daß den Israeliten eine Straße durch dasselbe geöffnet ward“. Vereinzelt finden sich auch neutestamentliche Fragen, so zum „Gleichniß von viererley Acker“ (XIII.), in dem „einer hundertfältigen Vermehrung des Getraides als einer nicht ungewöhnlichen Sache gedacht“ werde. Eine derartige Fruchtbarkeit war Michaelis „fast unglaublich“, könne man doch in der kornreichsten Landschaft 741 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 30. Aug. 1756. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), Nr. 82, S. 314. Vgl. ebd.: „Er [der Reisende] muß sie [die Fragen] stets im frischen Andenken haben, und zu diesem Ende sie öfters durchlesen.“ 742 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. IV (1773), 70f. Vgl. auch Niebuhr: Beschreibung von Arabien, XVIf. 743 Michaelis: Fragen, Vorrede (*22). 744 Ebd., (*26).

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Deutschlands „von einem Scheffel Aussaat“ höchstens zehn ernten. Stelle man sich nur vor, dass ein Acker „10 oder 40mal soviel Früchte trüge, als ein wohlgerathener Acker in unsern fruchtbarsten Gegenden, so müßte entweder das Korn sich wegen Schwere der Aehren legen und verfaulen, oder die grössere Menge der dickstehenden Halmen würde Sonne und frische Luft so ausschließen, daß das Korn von unten auf verfaulete“. Und wo würde die Ernte „Platz auf dem Acker finden?“ Seine Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Gleichnisses waren Michaelis Anlass einer mehrfachen Frage. Zunächst wollte er wissen, „ob im Orient noch jetzt irgendwo eine solche Fruchtbarkeit angetroffen werde“ und räumte ihre Möglichkeit folglich durchaus ein. Sodann aber würde die weitere Frage entstehen, wie sie „gegen den vorigen Zweifel gerettet werden könne, daß der Acker nicht Platz genug vor sie haben würde“. Und letztlich würde es „[e]ine sehr öconomische Frage […] seyn, wie ein so einträglicher Acker natürlich und chymisch beschaffen sey? wie er bestellet werde? und ob es möglich sey etwas davon bey uns nachzuahmen.“ Sollte sich im Gegenteil keine derartige Fruchtbarkeit finden, stelle sich die Frage, „wie die heiligen Schriftsteller, die doch ihr eigen Land kennen mußten, zu solchen Ausdrücken […] gekommen sind? Rechnen etwan die Morgenländer anders als wir, und sagen, der Weizen bringe hundertfältige Frucht, wenn sie in den meisten Weizenähren 100 Körner finden?“ Wie sich an dem Fragen-Kanon zu diesem Gleichnis zeigt, zielte Michaelis’ beinaher „Unglaube“ nicht auf die Enttarnung einer etwaigen biblischen Unwahrheit. Vielmehr galt er einem Nichtverstehen in Folge der Indienstnahme des eigenen Verstandes und seiner Einwände. In diesem Sinne verdankte sich die Frage nach dem „Gleichniß von viererley Acker“ bloßen Verständnisschwierigkeiten. Ein weiteres Beispiel für derartige Schwierigkeiten – mit einem allerdings deutlicheren Fokus auf dem Bemühen ihrer Überwindung –, findet sich in der Frage nach dem „abwechselnd süßen und bittern Wasser“ (XIX.): „Da die Israeliten bisweilen bitteres Wasser finden, und dabey ihr Lager haben, es aber doch nicht wahrscheinlich ist, daß Moses, ein 40jähriger Kenner Arabiens, sie an Oerter geführt haben werde, wo das Wasser nie trinkbar war: so entstehet bey mir die Vermuthung, daß solches Wasser abwechselnd süß und bitter gewesen sey […] Wird diese meine Vermuthung durch die Erfahrung bestätiget?“

In anderem Fall waren die Verständnisschwierigkeiten bereits ausgeräumt, und die Frage beabsichtigte nur einen Bericht dessen, „was wir zum Theil schon wissen“, allein durch das Zeugnis der Reisenden noch „gewisser“ wüssten, „da wir sie als unverdächtige Zeugen kennen“. Einen vergewissernden Bericht erbat sich Michaelis mit der Frage nach den „verschiedenen Gattungen des arabischen Manna“ (XXVI.), das nach „wahrscheinliche[r] Vermuthung“ durch den Stich eines Insekts entstehe und folglich ebenso wie das calabrische Manna, das „ganz gewiß nach dem

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Stich der saugenden cicada ausquillet“. Michaelis verlangte „desto mehrere[] Sorgfalt und Unpartheylichkeit“ in dieser Frage, „weil es noch bis jetzt in Deutschland wahre Gelehrte unter den Philologen giebt, welche sich hiervon nicht überreden können, sondern lieber mit den Alten glauben wollen, das Manna falle aus der Luft“. Auch im Interesse der Erklärung der Bibel standen Fragen, die vordergründig nicht in selbigem erkennbar sind. Im Kontext der 17. Frage nach dem „[m]edicinische[n] Gebrauch des Oels“ und der Auslegung von Mk 6,13 und Jak 5,14 verwies Michaelis auf die Vermutung einiger Exegeten, „die dort erwähnte Wundergabe habe blos darinn bestanden, ein im Orient gewöhnliches natürliches Genesungsmittel untrüglich, und aller Gewalt der Krankheit überlegen zu machen“. Michaelis war „gewiß, daß die alten Aerzte des Orients das Salben mit Oel sehr häufig als Genesungsmittel gebraucht“ haben. „Sollte bey den Muhammedanern […] noch etwas hiervon übrig seyn“ und „falls sich ein in unserer Europäischen Praxis unbekannter Nutzen dieses Salbens ergebe[]“, so bat er zu bemerken, „ob er etwan seinen Grund in einer besondern Beschaffenheit der Leiber im Orient habe, deren Schweislöcher durch das häufige Baden geöffneter seyn können, als bey uns“. Zu einem Großteil behandelten die Fragen bibelphilologische Einzelprobleme nach der Art der 32. Frage, in der Michaelis „[i]nsonderheit […] etwas von den in der Bibel Levit. XI. und anderwärts genannten Heuschreckenarten wissen“ wollte und zunächst erinnerte, „daß es ungewiß sey, ob Levit. XI. vier Gattungen von Heuschrecken gemeynt sind, oder Heuschrecken von verschiedenen Alter, welches die Natur selbst durch die vier Häutungen der Heuschrecken in vier Perioden abtheilet“. Der Erinnerung folgte eine lange vierseitige Abhandlung über die einzelnen Namen der Heuschrecken, wie sie in Lev 11,22 erwähnt sind. Michaelis äußerte verschiedene Vermutungen, hatte bei dem Namen ʬʖ ˏʸʔʍ ʧ die größte Hoffnung auf eine zuverlässige Erläuterung, „da es im Arabischen übrig ist, und nach Golii Zeugniß eine ungeflügelte Heuschrecke, (vielleicht die nach der dritten Häutung?) bedeutet“ und fragte zum Namen ʡʕʢʧʕ , der zwar „ein im Hebräischen allgemeinerer Name der Heuschrecke“ sei, „der aber Leuit, XI. in einer engern Bedeutung vorkommt“: „Sollte dieß wohl die zum viertenmal gehäutete und nun geflügelte Heuschrecke seyn? Sie würde gleichsam die Verhüllte genannt seyn […] Wäre dieß wohl der Vorstellung der Araber gemäß? Kommt ihnen die völlig erwachsene, sich nunmehr begattende, und mit Flügeln bedeckte Heuschrecke, als ein bekleidetes und verhülletes Frauenzimmer vor?“

Unterhaltsamer werden die Fragen, sobald sich Michaelis den Sitten und Gebräuchen des Orients zuwandte und zum Beispiel nach „dem Beyschlaf zur Zeit der monatlichen Reinigung, und dessen Schaden im Orient“ (X.) fragte. Anlass der Frage waren Michaelis gewisse arabische „Hausgeschichte[n]“, die von einer „son-

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derbare[n] Lust zum Beyschlaf in der Zeit der monathlichen Reinigung“ berichteten. Er zeigte sich zunächst irritiert über diesen „desto wunderlichere[n] Eigensinn“ arabischer „Wollust“, müsste doch „bey der Vielweyberey der Antrieb dazu“ wegfallen, „der in Europa einige Ehemänner fast zu dieser Unreinlichkeit zwinget“. Er erinnerte sodann, dass Moses diesen Beischlaf mit der Strafe des Todes bedenke (Lev 20,18), was vermuten ließe, „daß er sehr schädliche Folgen, wenigstens von dessen öftern Wiederholung, dazu die morgenländische Wollust trieb, besorget haben müsse“. Und so kam Michaelis zu seiner eigentlichen Frage: „Da nun in unsern Ländern dieser Beyschlaf eher eckelhaft, oder unanständig, als schädlich ist, so entstehet die billige Frage: ob unter dem heißen Himmelsstrich schlimmere Folgen desselben, wenigstens wenn er oft wiederholet wird, bekannt sind als bey uns.“

Ein weiteres Beispiel gibt die 52. Frage. Sie behandelte den „medicinischen Nutzen der Beschneidung der Knaben und Mädchen“, wobei „gewiß zu seyn“ scheine, „daß die Beschneidung in den mittägigen Ländern einen medicinischen Nutzen habe“. Forsskål und Cramer wurden gebeten, „auf den Einfluß der Beschneidung in die Gesundheit näher Acht zu geben“, ob sie etwa nach dem Zeugnis des Philo ein „Verwahrungsmittel gegen Carbunkeln“ sei. Dann müssten „Unbeschnittene in jenem warmen Clima häufig mit Carbunkeln geplagt, Beschnittene aber ihnen weniger unterworfen“ sein. Michaelis fragte, wie dies zu erklären wäre: „Ist die Vorhaut selbst weiter gegen Mittag anders als im gemäßigten Himmelsstriche beschaffen? oder rührt es von mehrerer Stärke der Samentheilchen, oder sonst woher?“ Neben der Theorie der Carbunkeln gäbe es die Vermutung eines präventiven Nutzens der Beschneidung, die verhüten solle, „daß nicht bey allzulanger oder engen Vorhaut der Beyschlaf durch eine Phymosin wegen der damit verknüpften Schmerzen unmöglich würde […] Ist etwan dieß bey uns seltene Uebel in den heißen Ländern wegen Grösse der Vorhaut gewöhnlicher? und woher kommt dieses? von der Natur, oder von frühzeitigen wollüstigen Ziehungen der Vorhaut?“ Die Beschneidung der Mädchen bat Michaelis „anatomisch zu beschreiben, das ungewöhnliche an den Geburtsgliedern, welches die nöthig macht, […] anzuzeigen, auch zu melden, ob solches von der Natur selbst, oder“ ebenfalls „von frühen Betastungen mit eigenen Händen herrühren möge“. Die Folgen „stumme[r] Sünden“ durch den Gebrauch der eigenen Hände thematisierte auch die Frage nach den nach der Hochzeit aufbewahrten „Zeichen der Jungfrauschaft“ (LVI.). Vor der Erklärung von Dtn 22,15-17 und der Beobachtung mehrerer Reisender, „[d]aß die Araber bey den Verheyrathungen in Absicht auf die Zeichen der Jungfrauschaft nicht so gütig sind, als bey uns die Juristen zu seyn pflegen“, zeigte sich Michaelis besorgt:

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„Da auch wohl gewiß ist, daß junge Frauenspersonen zwar nie ohne Verschulden, aber doch ohne fleischliche Berührung einer Mannsperson die Zeichen der Jungfrauschaft verlieren, oder doch bey dem ersten Beyschlaf unkenntlich machen können; nämlich durch allerley mit eigener Hand oder vermittelst eines Instruments vorgenommene geile Kitzelungen, oder durch allerley unreine Spiele mit ihres gleichen; und zu allen solchen künstlichen Geilheiten der heisse Himmelstrich geneigter, und gleichsam erfinderischer ist, als der gemäßigte: so möchte ich wissen, ob die mittägigen Völker auf einen solchen Verlust der Jungferschaft gar nicht denken? ob sie ihn der Hurerey gleich schätzen? [...] ob nicht bisweilen Beyspiele von Unglück bey Personen die ohne Beyschlaf und durch stumme Sünden die Jungfrauschaft verlohren haben, die Hochzeiten eines so eifersüchtigen und auf dieses Merkmal so klugen Volks zeichnen?“

Die Zahl der Fragen nach den Sitten und Gebräuchen erschöpft sich weithin in den wenigen hier zitierten. Ebenfalls nur vereinzelt lassen sich Fragen finden, die keiner biblischen Referenz bedurften, wie die neunte nach der „Form der Hütten der Arabischen Bedouin“, oder die 25. nach den Feuerhölzern, durch die sich die Araber Feuer verschaffen. Michaelis bat um eine botanische und ökonomische Beschreibung, „auch von dem Holze, wo möglich einige Proben mit zu bringen, weil ihm die Araber nachrühmen, dass es vor allem andern Holze zu diesem Endzweck bequem, und, wie sie es nennen, reich an Feuer sey, daher man begierig seyn kann, es in Kunstcabinetten zu sehen“. Ein weiteres Beispiel ist die 24. Frage nach dem „Winde Samum“, der durch Reisebeschreiber als ein „giftige[r] und tödtende[r] Ostwind[]“ beschrieben werde, „der im Julio und Augusto bisweilen 7. Minuten, nie länger an einander wehen soll“. Michaelis gestand, dass wohl „[e]iniges von ihm berichtete […] Fabel zu seyn“ scheint, „allein die Hauptsache ist allzusehr bestätiget, als daß man daran zweifeln könnte“. Und so fragte er, wie der Wind töte, und worin sein Gift bestehe. Da aber „die Orientaler keine Naturkundigen“ seien und „ihre Meynungen“ zur Beantwortung der Frage folglich „eine bloße Nebensache“, nahm sich Michaelis die „Freyheit ein Experiment vorzuschlagen“: „Das Experiment ist: Man halte ein Thier von nicht allzuhartem Leben bereit, das man bey entstehendem Winde, wenn man sich selbst der Sicherheit wegen niederwirft, an einer Stange 4 oder 5 Schuhe hoch von der Erde aufgerichtet erhalten könne. Wenn es vom Winde getödtet ist, so wird die Eröffnung desselben vermuthlich etwas von den Ursachen des Todes verrathen.“

Der wenigen Beispiele ungeachtet verdeutlicht der resümierende Blick, dass die Fragen insgesamt im Interesse der Erklärung der Bibel standen und damit dem

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Zweck der Reise entsprachen.745 Durchaus aber verfolgten sie weitergehende Interessen, berührten Themen der Zoologie, Botanik, Geographie und Medizin, wobei sie sich zuweilen eine für die europäische Praxis nützliche Erkenntnis versprachen. Für „Fehltritte“ infolge der disziplinären Breite rechtfertigte sich Michaelis mit dem Hinweis auf ihre entschuldbare Unvermeidlichkeit: „Meine ganze Verantwortung ist, daß mir diese Fehltritte unvermeidlich gewesen sind. Die Fragen laufen in mehr als eine Disciplin, und es gereicht mir zu keinem Vorwurf, wenn ich diese Wissenschaften nicht in ihrem ganzen Umfang kenne. Ich glaube, ich kann ohne Beschämung in der Naturgeschichte, oder in der Medicin Fragen thun, die der Naturkenner oder der gelehrte Arzt nicht gethan haben würde, wenn es nur Sachen betrifft, die der Philologe bey Erklärung der Bibel zu wissen wünschen konnte, und doch keinen Unterricht da antraf, wo er ihn zu suchen pfleget.“

746

Auch merkte Michaelis an, dass er, „um indessen so wenig überflüssiges oder fehlerhaftes einzumengen, als möglich wäre“, die Fragen bei „mancher vergnügten Stunde“ in einer „Gesellschaft gelehrter Freunde“ diskutiert habe, die zuweilen zu einer Änderung Anlass gaben oder eine weitere Frage entdeckten, selten aber nur eine Frage mit „Facta“ beantworten konnten.747 Auffällig ist, dass sich Michaelis in seinen Fragen, die er als „Register über [seine] Unwissenheit“748 vorstellte, das ein System nicht erkennen lässt, um große Genauigkeit in der Referenz auf den Wissenschaftsdiskurs und die Vermutungen anderer Gelehrter bemühte. Keinesfalls also sind die Fragen allein Folge einer apathischen Gelehrsamkeit, die an den Wänden der eigenen Studierstube scheiterte. Vielmehr scheinen sie den Erkenntnisstand der damaligen Zeit zu spiegeln.749 So begründet sich eine Relativität gewisser Absurditäten. Grundsätzlich aber waren die einhundert Fragen von Michaelis formuliert und lassen ein recht „vortreffliches Gemählde“ seines Orients erkennen. Zunächst scheint die Grenze zwischen Europa als dem „gemäßigten“ und dem Orient 745 Vgl. Michaelis: Fragen, Vorrede (*29f.): „Einigen Gelehrten ist die Bibel ein […] verhaßtes Buch […] Denen muß ich nur sagen, daß es dem Zweck der Reise gemäß war, Fragen zur Erläuterung der Bibel zu thun. Andere haben aus andern Wissenschaften gefragt […] Von mir vor meine Person kann man mit Recht nicht mehr erwarten, als daß ich vor den Theil der Gelehrsamkeit sorge, den ich treibe.“ 746 Michaelis: Fragen, Vorrede (*22f.). 747 Ebd., (*24f.). 748 Ebd., (*36). 749 Vgl. Hübner: Michaelis und die Arabien-Expedition, 396: „Sie [die Fragen] belegen den Wissensstand und gleichzeitig die Wissenslücken der damaligen Zeit […] Darüber hinaus bezeugen sie auch die Wege und Methoden, das damalige Wissen zu verbessern bzw. zu verbreitern.“

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als dem „heissen Himmelsstrich“ durch das Klima markiert, das sodann einen Unterschied begründe, der sich da und dort in Komparativen vorstellt. Geneigter zu der ein oder anderen Unanständigkeit, wollüstig, ekelhaft, eifersüchtig trotz Vielweiberei sei der malerisch bemalte Araber – und vielleicht rechnet er auch anders als wir. 4.3.5 Die Reise und ihre Ergebnisse Erst im Dezember 1762 erreichte die Expedition den Jemen. Ihr Unglück begann nur wenige Monate später. Von Haven, um den Michaelis „gleich anfangs besorgt gewesen war“, starb, aber Forsskål, „für den [er] gar nichts fürchtete“, starb auch; „ferner der Mahler, auch, der ein besseres Exempel hätte geben sollen, der Medicus“.750 Der Tod ließ allein Carsten Niebuhr zurück, der sich „völliger Gesundheit“ erfreute, seitdem er sich „bloß mit Morgenländern“ umgab und lernte, „wie man sich in diesen Ländern in acht nehmen müsse“.751 Die Vermutung, seine Reisegefährten seien „durch ansteckende Seuchen hingerissen“ worden, „weil sie so bald nach einander gestorben sind“, hielt er für einen Irrtum. Er glaubte vielmehr, die „Gesellschaft gelehrter Männer“ trage selbst „Schuld“ an ihren Krankheiten, auch an ihrem Tod. „Unsere Gesellschaft war zu groß, als daß wir uns frühzeitig hätten bequemen sollen, nach der Art des Landes zu leben. In verschiedenen Monaten hatten wir gar kein trinkbares starkes Getränk erhalten können, wozu wir doch gewohnt waren, gleich wohl aßen wir beständig Fleischspeisen, welche in allen heissen Ländern für sehr ungesund gehalten werden. Die kalte Abendluft war uns nach heissen Tagen so angenehm, daß wir uns ihr zu sehr aussezten. Auch auf die sehr merkliche Verschiedenheit der Wärme in den bergigen Gegenden, und den niedrigen Ebenen, hätten wir aufmerksamer seyn sollen.“

752

In seiner „Lebensbeschreibung“ hielt Michaelis fest, dass wohl niemand etwas für die Todesfälle gekonnt habe. Seine Enttäuschung indes konnte er nicht verbergen, denn „wie viel grösser würde der gelehrte Gewinnst der Reise gewesen seyn“, „wä-

750 Michaelis: Lebensbeschreibung, 75. Vgl. auch Niebuhr: Beschreibung von Arabien, IX: „Herr von Haven starb schon 1763 den 25ten May zu Móchha, und Herr Forskål am 11ten Julius zu Jerîm, einer andern Stadt in Jemen. Nach dem plötzlichen Verlust dieser unsrer beyden Reisegefährten, beschlossen wir übrigen mit dem lezten von den Schiffen, welche in diesem Jahre von Móchha nach Indien segelten, nach Bombay zu gehen, und auf diesem Wege starb Herr Baurenfeind am 29ten August auf der See, in der Nähe der Insel Socotra, Herr Cramer aber am 10ten Februar 1764 zu Bombay.“ 751 Ebd., X. 752 Ebd., IX.

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ren die sämtlichen Reisenden wider zurück gekommen“.753 Gerade die dänische Wahl des Mediziners erwies sich für ihn als eine Fehlentscheidung. Viel lieber hätte er den Göttinger Studenten Hensler an Cramers Stelle gesehen: „Wäre der mitgereist, so wären vielleicht auch einige der gestorbenen Reisenden am Leben geblieben, und was hätte man von einem solchen Genie für Entdeckungen zu erwarten gehabt!“754 Über Niebuhr hatte Michaelis keine vergleichbare Hoffnung geäußert. Allerdings sollte sich seine Aufgabe auch in der Beschreibung der Geographie der durchreisten Länder und in der Obhut über die Reisekasse755 erschöpfen. Der Absicht der Reise, „der Bibel die reichsten und schönsten Erläuterungen“ zu geben, konnte er nicht im gleichen Maße gerecht werden wie von Haven und Forsskål, denn er verstand kein Hebräisch. Und auch mit dem Arabischen hatte er sich vor seiner Abreise nur kurz beschäftigen können.756 Mit dem Tod seiner Reisegefährten erweiterte sich Niebuhrs Aufgabe. Hatte er sich vorher nicht „um die Fragen aus der Philologie, Naturkunde und der Arzneywissenschaft zu bekümmern“, war er nun bestrebt, auch sie zu beantworten.757 Und so begann er, „von der Lebensart, den Sitten und Gebräuchen der Araber etwas aufzuzeichnen“. 1767 kehrte Niebuhr nach Dänemark zurück. Seine Aufzeichnungen wurden mit der Veröffentlichung zweier Beschreibungen Arabiens auch einem breiten Publikum bekannt. 1772 erschien die „Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammelten Nachrichten abgefasset“. 1774, 1778 und 1837 (posthum) folgten die drei Bände der „Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern“. In beiden Werken, vornehmlich aber in der „Beschreibung“ war Niebuhr um die Beantwortung der michaelischen Fragen bemüht, wenngleich er fürchtete, nicht fachgerecht urteilen zu können. Er gestand, dass man 753 Michaelis: Lebensbeschreibung, 75. Weiter heißt es hier: „Der Verlust wurde noch dadurch vergrössert, daß sie keine vollständige Tagebücher geführet hatten, wie ihnen doch in der Instruction aufgetragen war; vermuthlich im Vertrauen auf ihr Gedächtnis und auf ihr fortdauerndes Leben.“ 754 Ebd., 72. 755 Vgl. ebd., 71: „[I]ch sollte einen nennen, dem man die Casse am besten anvertrauen könnte, ich nannte Niebuhr; denn er hatte eigenes Vermögen, war ein gesetzter junger Mann, und schon als Student, wo ich mich recht entsinne, Vormund über einen Sohn seines eigenen gewesenen Vormundes.“ 756 Vgl. Niebuhr: Beschreibung von Arabien, XIVf. 757 Ebd., XVII. In diesem Zusammenhang schrieb Niebuhr, dass es für ihn „sehr vortheilhaft“ gewesen sei, dass die Fragen „nicht zu kurz abgefaßt waren“. So sei er „mit der Sache bekannt“ geworden und habe „vorher einigermaßen einen Begrif“ von dem erhalten, wonach er fragen sollte.

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von ihm keine vollständige Antwort auf die Fragen, die in ihrer größten Anzahl zu Wissenschaften gehörten, denen er sich selbst nicht gewidmet hat, erwarten könne. So habe er „wegen der Fragen aus der hebräischen Sprache weiter nichts thun können, als den Gelehrten Juden die Wörter zu zeigen, und ihre Antwort zu bemerken“.758 Die Zweifel an seinem eigenen Urteil hatten Niebuhr auch dazu veranlasst, Michaelis eine Abschrift von allem, was er selbst zur Beantwortung der Fragen aufgezeichnet, und was er „hierher gehöriges unter Forskåls Papieren gefunden hatte“, mit der Bitte zuzusenden, „es aufmerksam durchzusehen, auszustreichen, zu verbessern oder [ihm] sonst eine Anmerkung darüber zu schreiben“. Michaelis kam der Bitte nicht nach. Niebuhr bedauerte, keine erheblichen Verbesserungen in seinem Manuskript gefunden und „die Anmerkungen, welche [er] nachgeschickt erwartete, noch bis jezt nicht erhalten [zu] habe[n]“. Er veröffentlichte seine Aufzeichnungen dennoch, wollte es aber nicht „wagen“, „die Beantwortung der Fragen allein drucken zu lassen“ und verband sie „lieber“ mit seiner geographischen Beschreibung des Landes.759

758 Ebd., XVIIf. Niebuhr verwies hier auch auf weitere Schwierigkeiten, die eine vollständige und richtige Beantwortung der Fragen verhindert hätten: „Wegen der übrigen Fragen erkundigte ich mich so wohl bey Mohammedanern, als bey Christen, und es kostete mich oftmals auch sehr viele Mühe einige Erläuterungen darüber zu erhalten. Es ist für einen Reisenden, welcher nur eine kurze Zeit in einer Stadt bleiben kann, oft schwer mit Leuten in Bekanntschaft zu kommen, die von den Einwohnern für gelehrt gehalten werden, und wenn man auch würklich einigemal Zutritt bey ihnen erhält, so macht es ihnen doch gar kein Vergnügen, von einem Fremden mit Fragen überhäuft zu werden. Man muß deswegen nach allem, was man zu wissen verlangt, nur beyläufig fragen. Hierzu gehört nicht nur viele Gedult und Zeit, sondern man muß auch sehr aufmerksam und mistrauisch auf die Antworten seyn, weil man auch in den Morgenländern Leute findet, die mit Fleiß, oder aus Unwissenheit Unwahrheiten sagen, um einen Fremden nicht gleich von allem zu unterrichten, oder um das Ansehen zu haben als wüßten sie alles. Ich habe zwar die Nachrichten, und diejenigen von welchen ich sie erhalten haben, so viel nur möglich war, geprüft, und mich wegen der Beantwortung einer Frage gemeiniglich bey mehr als einem erkundigt; ich bin aber dennoch nicht gewiß, ob ich nicht bisweilen unrecht unterrichtet worden bin, und werde es daher gerne ändern, wenn jemand mir dergleichen Stellen anzeiget.“ Vgl. auch ebd., XXXVIf.: „Weil aber die Philologie gar nicht meine Wissenschaft ist, so muß ich nochmals bemerken, daß ich selbst nicht beurtheilen kann, ob die Erklärung derselben allezeit richtig ist. Ich habe die Bedeutung bloß so aufgezeichnet, wie ich sie von den morgenländischen Juden, Christen und Mohammedanern erhalten habe.“ 759 Ebd., XIXf.

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In seiner späteren Rezension der „Beschreibung“ entschuldigte sich Michaelis bei Niebuhr, schrieb, er hätte sein Manuskript mit „grossem Vergnügen“ gelesen. Es täte ihm leid, dass „Herr N.“ „böse“ auf ihn sei. Doch er sei „gar nicht misvergnügt“ über die Umgestaltung der Aufzeichnungen von einer bloßen Beantwortung der Fragen hin zur vorliegenden Beschreibung Arabiens. Durch die Änderung gewinne der Leser „doch wirklich“ etwas, denn die Antworten auf die „Fragen“ stünden „in der Mitte anderer gemachter Beobachtungen besser, als vorhin ausser dem Zusammenhang“.760 Seine „Undienstfertigkeit“ gegenüber der Bitte Niebuhrs rechtfertigte Michaelis mit einer längeren Beschreibung seiner Zeitnöte und der mangelnden Lust, „etwas bey einer fremden Schrift zu erinnern“. Überdies fand er „gemeiniglich nichts zu erinnern“, wohl hingegen Fehler, „aber sehr selten, und von der Art, daß sie besser stehen bleiben“.761 Denn: „[U]nsere Fragen und Antworten sollten so ehrlich und unverdächtig aussehen, als ein gerichtliches Protocoll [...] wer könnte sicher seyn, daß ich nicht aus Liebe zu meinen Meinun762

gen etwas geändert, oder zu ändern gerathen hätte?“

Grundsätzlich äußerte Michaelis die versöhnliche Hoffnung, dass das Missvergnügen Niebuhrs das Vergnügen des Publikums sei. Vielleicht wird es „Herrn N. Antworten eben deswegen höher schätzen“, weil Michaelis „nichts von dem that, was [Niebuhr] verlangte“. „Überhaupt“ aber „verbat“ sich Michaelis „von nun an, und auf immer“, dass ihm Manuskripte mit der Bitte um eine Meinung zugeschickt werden.763 Insgesamt beurteilte er Niebuhrs Werk sehr positiv, lobte seinen „sehr glücklichen Blick“ und „grössesten Eifer für die Wissenschaften“.764 Allein die Tatsache der Befragung auch von Juden zur Beantwortung der Fragen provozierte seine ausdrückliche Kritik: „Manche Sachen, die Herr N. zu Beantwortung meiner Fragen sagte, waren überflüßig, oder die Nachrichten waren am unrechten Orte aufgesucht, z.E. wenn er Juden befragt hatte, welches freilich meine Absicht nicht gewesen war. Für diejenigen, denen diese Fragen zunächst bestimmt waren, hatte ich nicht nöthig, dis zu erinnern: sie wußten schon, wie unzuverläßig das ist, was die Juden nach einer so langen Zerstreuung unter andere Völker, und nachdem das Hebräische schon seit ein Paar tausend Jahren ihre Muttersprache nicht ist, von der Be760 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. IV (1773), 72f. 761 Ebd., 73-75. 762 Ebd., 76. 763 Ebd., 73f. Weiter schrieb Michaelis: „[I]ch glaube nicht, daß ich Pflicht dazu habe, und die Zeit mangelt mir so sehr, daß man mich eher beschuldigen wird, ich nehme zu viel, als zu wenig Arbeit über mich.“ 764 Ebd., 71.

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deutung Hebräischer Wörter, sonderlich der in die Naturgeschichte gehörigen sagen, daß wir das beste davon schon wirklich in den Büchern der gelehrten Rabbinen haben, und daß ich eigentlich Nachricht verlangte, was dis und jenes Wort bey den Arabern in ihrer Muttersprache bedeute.“

765

Michaelis wies in seiner Rezension der „Beschreibung“ auf verschiedene Ergebnisse Niebuhrs hin, vor allem aber jene, die „den Liebhaber der morgenländischen Philologie näher angehen“766. So sei zum Beispiel die 52. Frage nach dem „medicinischen Nutzen der Beschneidung“ „völlig beantwortet“. Niebuhr bestätige Michaelis’ Vermutungen, indem er berichte, dass die Beschneidung einen „physicalischen Nutzen“ in der Vermeidung „eine[r] gewisse[n] Art Beulen“ habe, dass überdies „einige Männer erst durch die Beschneidung zum Beyschlaf tüchtig werden“. Nur „wenn man ihn flüchtig lieset“, scheine Niebuhr, „den medicinischen Nutzen der Beschneidung in südlichen Ländern in Zweifel zu ziehen: in der That aber leugnet er nur, daß sie dort der Gesundheit wegen nothwendig, d.i. wie er verstanden seyn will, allgemein nothwendig sey, weil so manche in eben den oder gleich heissen Ländern ihre Kinder nicht beschneiden, die doch eben so gesund leben, als beschnittene Muhammedaner und Juden“.767 In der Tat hatte Niebuhr gleich im ersten Absatz seiner Beantwortung der Frage bemerkt, dass es ihm „nicht wahrscheinlich“ sei, „[d]aß die Beschneidung in den heissen Ländern wegen der Gesundheit nohtwendig sey“, um wenig später „einen physicalischen Nutzen“ zu vermuten. „[G]ewiß“ sei die Beschneidung „sehr nützlich“, „nothwendig“ allerdings sei „[d]as Waschen des ganzen Körpers, und besonders der heimlichen Theile […] in den heißen Ländern“: „[E]iner meiner Freunde in Indien, der sich in diesem heißen Lande nur nach europäischer Art reinlich gehalten, hatte eine Art Beulen unter der Eichel bekommen […] Er wusch nachher diesen Theil des Leibes fleissig, und seitdem spürete er dergleichen nicht mehr.“

768

Den „wahre[n] Nutzen der Beschneidung“ erkannte Niebuhr in der zweiten Vermutung Michaelis’. Viele Männer würden erst durch die Beschneidung „zum Beyschlaf tüchtig“, wenngleich sie nicht „bey allen Morgenländern nothwendig“ sei. Niebuhr hatte einen „Christenknaben“ beobachtet, der „eine so kurze Vorhaut“

765 Ebd., 77f. 766 Ebd., 65. 767 Ebd., 93f. 768 Niebuhr: Beschreibung von Arabien, 76-78.

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hatte, „daß sie nur wenig von der Eichel bedeckte“. Er nahm an, daß der Junge beschnitten sei, was sich aber nicht bestätigte769, so dass er nunmehr vermutete: „Wenn es also nicht selten ist, daß Knaben ohne Vorhaut geboren werden, so kann dieses die Morgenländer […] zuerst auf die Gedanken gebracht haben, daß die Vorhaut von keinem Nutzen sey. Und weil man sie bisweilen zum Beyschlaf hinderlich fand, so kann dieß die Beschneidung verursacht haben.“

770

Gegen die Befürchtung, dass sich die michaelische Zeitnot und Lustlosigkeit nicht allein auf die Korrektur von Niebuhrs Manuskript, sondern auch auf die Ergebnisse der Reise erstrecken könnte, verdeutlicht ein Vergleich der Antwort auf die Frage nach dem medizinischen Nutzen der Beschneidung und ihrer Aufnahme in der Rezension exemplarisch das große Interesse Michaelis’ an den Beobachtungen der Expedition. Michaelis nahm Niebuhrs Ergebnisse auf und gab sie ohne wesentliche Auslassungen wieder. Er verwies auf Niebuhrs Meinung zur Frage und widersprach so der Annahme, er suche allein die Bestätigung seiner eigenen Vermutungen. Die Beobachtung, dass Michaelis die „Beschreibung“ weniger lustlos denn ernst nahm, bestätigt sich auch mit Blick auf den eigentlichen Ort ihrer Diskussion: Im „Mosaischen Recht“. Im vierten Band handelte Michaelis unter Paragraph 186 vom „Endzwecke der Beschneidung“ und bemerkte nochmals, dass Niebuhr die Frage nach ihrem medizinischen Nutzen beantwortet habe. Zur Bestimmung des medizinischen Endzwecks der Beschneidung zitierte er Niebuhrs Beantwortung beinahe vollständig.771 So sehr sich Michaelis aber für die Ergebnisse der Expedition interessierte, so wenig Einfluss hatten sie auf seine Vorstellung vom Orient. Niebuhr hatte sich allenthalben bemüht, hervorzuheben, dass es weniger Unterschiede zwischen Europa und dem Orient gebe, als man in Europa vermute, dass er die „gemeiniglich als ungesittet, habsüchtig und räuberisch“ beschriebenen Araber „nicht so schlimm gefunden“ habe.772 In der Beantwortung der Frage nach den Zeichen der Jungfrauenschaft hatte er nach der zutreffenden Rezension Michaelis’ beobachtet, dass „die 769 Ebd., 78f. Niebuhr äußerte seinen „Verdacht gegen einen alten Maroniten, daß [er] glaubte der Knabe wäre beschnitten. Dieser aber wollte bemerkt haben, daß man dergleichen sehr oft bey solchen Leuten sähe, welche in dem abnehmenden Monde geboren würden, ja daß sie zuweilen gar keine Vorhaut hätten. Unsere Ärzte werden sich vermuhtlich erinnern dergleichen Beyspiele auch in Europa gesehen zu haben. Ich zweifle aber daß sie die Ursache davon dem Monde zuschreiben“ (ebd., 79). 770 Ebd., 79. 771 MICHAELIS, Johann David: Mosaisches Recht: Vierter Theil. Frankfurt a.M. 31799, 3547. 772 Niebuhr: Beschreibung von Arabien, X.

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Arabischen Sitten […] jetzt viel gütiger“ seien, „als die ehemaligen […] Israelitischen“, wenn auch „nicht gar nicht darauf geachtet“ wird.773 Dass der These einer sittlichen Übereinkunft von gegenwärtigen Arabern und mosaischen Israeliten damit widersprochen war, reflektierte Michaelis nicht.774 An anderer Stelle zitierte er Niebuhr mit einer „artige[n] Anmerkung“, die ihm „entwischt“ sei.775 Niebuhr hatte im Kontext der Erklärung der arabischen Zeitrechnung notiert: „Aber glücklich sind die nordischen Völker, daß die mohámmedanische Religion sich nicht bis in ihre Gegenden ausgebreitet hat. Sie würden, wenn der Ramadân in den Sommer fiele, aus Gehorsam gegen die Religion, todt hungern müssen.“776 Michaelis bemerkte zu dieser Schlussfolgerung: „(Ein sonderbahrer Fehler des Arabischen Propheten, der gleich zeiget, daß seine Religion entweder nicht die allgemeine für das ganze menschliche Geschlecht, oder, weil er sie dazu bestimmet hat, nicht die wahre seyn kann. Gott konnte den Fehler nicht begehen).“777 Eine ähnliche Ablehnung der muslimischen Religion deutete sich auch in der Rezension der späteren „Reisebeschreibung nach Arabien“ an. Niebuhr hatte von einer Arabischen Universität in Damar berichtet, „auf der 500 junge Leute seyn sollen, die den Koran studiren“. Michaelis schrieb, dass er „[v]on einer Arabischen blos theologischen Universität“ nicht viel, vor allem „nichts dem gleiches, was [er] von der schlechtesten christlichen“ erwarte, „weil die Muhammedanische Religion so sehr die Untersuchung ausschließt und Zweifeln verbietet, anstatt daß wir das Zweifeln und Untersuchen gebieten“. Dennoch wollte er „gern von einer so zahlreichen Arabischen Universität, ihren Lehrern, Art zu unterrichten, und Sentimens, etwas wissen“.778 Grundsätzlich aber war der muslimische Araber, wie ihn Niebuhr fand, nicht der, den Michaelis mit dem Projekt der Arabischen Reise gesucht hatte.

773 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. IV (1773), 88. Vgl. Niebuhr: Beschreibung von Arabien, 35-39. 774 Ebenso wenig ging Michaelis auf Niebuhrs Feststellung ein, „daß einige [Frauen] das Zeichen der Jungfrauschaft von Natur nicht gehabt, und andere es durch einen unschuldigen Zufall verloren hätten“ (Niebuhr: Beschreibung von Arabien, 37). Vgl. dagegen Michaelis’ in den „Fragen“ geäußerte Gewissheit, „daß junge Frauenspersonen […] nie ohne Verschulden […] die Zeichen der Jungfrauschaft verlieren“ (Frage LVI). 775 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. IV (1773), 103f. 776 Niebuhr: Beschreibung von Arabien, 110. 777 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. IV (1773), 104. 778 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VII (1774), 44. Vgl. NIEBUHR,

Carsten: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern:

Erster Band. Kopenhagen 1774, 407.

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4.4 AUF

DER

S UCHE

NACH DER VERLORENEN

Z EIT

Michaelis hatte die Reise als eine Expedition in die Vergangenheit konzipiert. Die Begegnung mit dem Orient, so erhoffte er sich, könne der Bibel, die „viel zu klein“ sei, „als daß man aus ihr allein eine todte Sprache hinlänglich erlernen, und gleichsahm entziefern könnte“779 aber auch anderen Wissenschaften Aufklärung hinsichtlich eines „elften Faktums“ und also dessen, „was noch zu wissen begehrt wird“, verschaffen. Seine Orient-Reise führte ihn durch Bücher und gelehrte Gespräche nicht an einen Ort, sondern in eine Zeit, in der Sprache und Sitten der biblischen Patriarchen lebendig waren. „Zum Besten der Gelehrsamkeit“ diente die Expedition in die muslimische Gegenwart des „glücklichen Arabiens“ der Rückkehr in die mosaische Vergangenheit. Der Araber, den Michaelis mit der Arabischen Reise suchte, sollte als Nachfahre Moses Zeuge einzig einer verlorenen Zeit sein. Das dezidiert antiquarische Interesse bedeutet das Fehlen einer kolonialen Perspektive. Die Arabische Reise zeichnete sich nicht durch geopolitische Zielsetzungen780, sondern durch eine „relative ökonomische und politische Ungebundenheit“781 und eine explizit wissenschaftliche Motivation aus. Wie Eric Achermann betont, scheint es wenig sinnvoll, der wissenschaftlichen Begründung eine imperiale Implizität zu unterstellen, die sich selbst zu verbergen suchte, könne sich die Frage nach der Notwendigkeit einer derartigen Strategie der Tarnung doch nur rhetorisch stellen.782 Für die Wissenschaftlichkeit der Reise spricht ihre sorgfältige Vorbereitung und die grundsätzliche Offenheit, die ihre verschiedenen Phasen prägte. Die „Instruction“ war das Produkt mehrerer Entwürfe, die fortwährend um Hin779 Michaelis: Beurtheilung, 337. 780 Vgl. ECK, Reimer: Christlob Mylius und Carsten Niebuhr: Aus den Anfängen der wissenschaftlichen Forschungsreise an der Universität Göttingen. In: Göttinger Jahrbuch 34 (1986), 11-43 (hier: 12). 781 ACHERMANN, Eric: Reisen zwischen Philologie und Empathie: Michaelis und die Niebuhr-Expedition. In: Cardanus 3 (2002), 51-78 (hier: 63). 782 Achermann: Reisen zwischen Philologie und Empathie, 68: „Ebenso wenig ist das Urteil nachvollziehbar, daß Michaelis’ Absage an jegliche Form eines militärischen oder ökonomischen Expansionismus und seine Favorisierung der Wissenschaftlichkeit gar die subtilere, da verborgene Spielart imperialistischer Strategien sowie sich wissenschaftlich gerierender Hegemonieansprüche und antisemitischer Ausgrenzungsphantasien sei. Schlüsse dieser Art können und müssen als geradewegs falsch bezeichnet werden.“ - Ebd., 71: „Wenn nun aber Michaelis seine eigentlichen Intentionen zu verbergen trachtete, dann stellt sich die Frage, wieso er dies täte. Ist die Zeit, in der er wirkt, etwa so profund von der Schadhaftigkeit der Kolonialpolitik, des Antijudaismus und der europäischen Hegemonie überzeugt, daß er sein Spiel mit ausgeklügeltsten Tricks zu verdecken suchte?“

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weise europäischer Wissenschaftler erweitert und verbessert wurden. Die Reisenden, die sie bestimmte, bildeten eine ebenso internationale wie interdisziplinäre Gruppe. Multiperspektivische Beobachtungen wurden gefordert, subjektive Neugierden verboten. Der Expedition war neben der Beantwortung der michaelischen Fragen, die selbst schon das Resultat gelehrter Diskussionen waren, auch die Beantwortung von Fragen anderer europäischer Wissenschaftler aufgetragen. Insgesamt erwies sich die Arabische Reise folglich als ein europäisches Projekt zur Förderung der Wissenschaften, das weder von expansionistischen Absichten bestimmt wurde noch die allein subjektiven Bedürfnisse eines einzigen Gelehrten spiegelte.783 Dieses Ergebnis kann allerdings nicht über die Kehrseite der verschiedenen Argumente hinwegtäuschen. Denn wie sich die Wissenschaftlichkeit der Arabischen Reise in ihrer grundsätzlichen Offenheit bestätigt, findet sie ihre Bestreitung in einer ebenso grundsätzlichen Geschlossenheit. Diese ergibt sich aus dem Verbot der Neugierde zugunsten der Konzentration auf ein „elftes Faktum“, dem klaren Erwartungshorizont der Expedition, der sich ihrem philologischen und biblischen Fokus verdankte, der Trennung des michaelischen Fragen-Katalogs von den Fragen Dritter, denen als Appendix allein eine sekundäre Bedeutung zukam, der argumentativen und organisatorischen Beschränkung auf die Notwendigkeit allein einer einzigen Reise und der Sehnsucht nach bloßer Bestätigung, wie sie sowohl die „Beurtheilung“ als auch die „Fragen“ äußerten.784 Die Geschlossenheit der Reise 783 Ähnlich urteilt Eck (: Aus den Anfängen der wissenschaftlichen Forschungsreise an der Universität Göttingen, 19): „Es ist dieses Aussenden eines Teams von Spezialisten, das sich bei Vorbereitung und Ausbildung auf die lebhafte Teilnahme zahlreicher Gelehrter des In- und Auslandes stützen konnte, das die göttingisch-dänische Arabienexpedition von 1761 zu einem Meilenstein in der Geschichte der Forschungsreisen macht.“ Julia Chatzipanagioti bezeichnet die Arabische Reise als „die erste wissenschaftliche Expedition moderner Prägung. Es gibt Reisen, die als Vorläufer dieser Expedition betrachtet werden können, in keiner aber findet man alle die Merkmale versammelt, die die Unternehmung von 1761 in sich vereinigt, nämlich die auf interdisziplinärer und internationaler Zusammenarbeit basierende Vorbereitung und Leitung des Unternehmens, die Erstellung und die Veröffentlichung eines detaillierten wissenschaftlichen Fragebogens und die interdisziplinäre Zusammensetzung der Gruppe der Reisenden, deren Teilnehmer gezielt in Hinsicht auf die Besonderheiten der Expedition ausgebildet wurden“ (CHATZIPANAGIOTI, Julia: Eine Reise in die Gegenwart der Vergangenheit: die Expedition von Carsten Niebuhr nach Arabien, 1761-1767. In: Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightenment: Bd. 2. Oxford 1996, 863-866). 784 Vgl. FEUERHAHN, Wolf: A Theologian’s List and an Anthropologist’s Prose: Michaelis, Niebuhr, and the Expedition to Felix Arabia. In: Becker, Peter/ Clark, William [Hg.]: Little Tools of Knowledge: Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Michigan 2001, 141-168. Ebd., 146: „[O]bservations remains for him

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verweist auf ihren eigentlichen Ort: die Studierstube, deren Wände die Grenze der michaelischen Orient-Reise markierten. Aus einer gelehrten Gefangenschaft heraus entwarf Michaelis das Projekt der Arabischen Reise, sah gar keine Gefahren, sah tödliche Gefahren, und sich selbst mit einem hölzernen Löffel zwischen Moses und Aaron über Heuschrecken diskutieren. Infolge seiner herausragenden Rolle bei der Organisation der Expedition übertrug Michaelis seine eigene Gefangenschaft auf die Gesellschaft der Reisenden.785 Der „Instruction“ gemäß bestand ihre eigentliche Aufgabe darin, sich zunächst mittels einer gründlichen Vorbereitung zu originalgetreuen Duplikaten des armchair travellers umzubilden, um ihn sodann mitsamt seiner gepolsterten Rüstung in den Orient zu tragen.786 Doch die Inszenierung missglückte. Die Expeditionsmitglieder starben und ließen allein den Geographen zurück, der des Hebräischen nicht mächtig und im Arabischen nur wenig ausgebildet war. Auch lag ihm der michaelische Fragen-Katalog nicht vor. Gemessen an den Prämissen einer erfolgreichen Reise, wie sie Michaelis in ihrer Antragstellung und dem Vorwort seiner „Fragen“ formuliert hatte, war die Expedition gescheitert. Zwar war es Niebuhr trotz der Umstände gelungen, viele der aufgesetzten Fragen zu beantworten, insgesamt aber zeigte seine Beschreibung Arabiens nicht das, was Michaelis prophezeit hatte. Denn Niebuhr präsentierte mehr als nur ein „elftes Faktum“. Er stellte Michaelis und dem europäischen Publikum einen Araber vor, der kein Vertrauter, sondern ein Fremder war.

[Michaelis] but a supplement or confirmation of the armchair academic’s pre-view.“ Ebd., 149: „What the expedition was supposed to find was thus set in advance.“ 785 Vgl. auch Chatzipanagioti (: Eine Reise in die Gegenwart der Vergangenheit: 864), die die hier aufgestellte Behauptung allerdings als Frage formuliert: „Der Gelehrte, Gefangener der Studierstube, entwirft das Bild eines entfernten Landes, und der Reisende durchquert den geographischen Raum, um festzustellen, ob dieses Bild der Realität entspricht. Die Funktion der Theorie und der Erfahrung als sich ergänzendes oder widersprechendes Paar ist das Problem, das hier explizit formuliert wird. Impliziert ist noch ein zweites Problem, nämlich ob nur der Gelehrte ein Gefangener seiner vier Wände ist, abhängig von den Informationen, die der Reisende sammelt, oder ist auch der Reisende auf seine Art ein Gefangener, befangen und gefangen in dem von dem Gelehrten vorab entworfenen Bild, das er verifizieren oder verwerfen soll?“ 786 Vgl. auch Feuerhahn (: A Theologian’s List, 149 [Herv. i.O.]): „The travelers are under control from his armchair. The scientific traveler, with the proper gaze and knowing a proper language for science, would discern Felix Arabia and the Land of the Bible amid everyday things and the illusions of the exotic, and would return for the benefit of ‚Oriental Studies‘. The theological theoretician, Michaelis, may remain comfortably at home and await the return of the expedition. As in a well-run academic examination, the professor puts the questions and has trained his pupils about how to answer them.“

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Die Behauptung der zivilisatorischen Rückständigkeit der als Nachfahren der Israeliten verstandenen Araber, mithin die Konstruktion eines Archaischen787 durch das Konzept eines statischen, unveränderbaren Orients788 verweist neben der Geschlossenheit der Arabischen Reise auf einen Orientalismus, der sich fern von geopolitischen Zielsetzungen als intellektuelle Form der Aneignung des Orients präsentiert. Entscheidend allerdings ist, dass Michaelis den Orient nicht als das schlechtere Andere konstruierte, dessen Erfindung sich der Legitimation hegemonialer Ansprüche verdankte, sondern als das bessere aber verlorengegangene Eigene. Die Araber erschienen als der einzige Zugang zur eigenen Vergangenheit – und zwar nicht trotz, sondern wegen ihrer Rückständigkeit. Als die israelitischen Vorfahren gehörten sie zur christlichen Familie Europas. Die michaelische Aneignung des Orients war folglich – und gegen die Vorstellung grundsätzlich exkludierender europäischer Fremdbilder, wie sie etwa Saids Thesen suggerieren – eine inkludierende.789 Die Form der Inklusion gründete in einem egozentrischen Orient-Bild, das sich durch den Wunsch nach Ahnenforschung inspiriert sah, wobei die genealogischen Interessen Michaelis’ auf paradoxale Zuschreibungen verwiesen. Denn innerhalb der Sphäre der Differenz zeigte sich das Eigene als das christliche Europa, das Andere als der Orient. Die Grenze wurde vornehmlich durch Sprache und Sitten markiert, und auch durch die je verschiedenen klimatischen Bedingungen – wie es die Rede vom sogenannt „heissen Himmelsstrich“ andeutet. Gleichzeitig war Michaelis das Andere als orientalischer Ahne auf seltsame Weise vertraut, während 787 Vgl. WEIDNER, Daniel: Politik und Ästhetik: Lektüre der Bibel bei Michaelis, Herder und de Wette. In: Schulte, Christoph [Hg.]: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist: Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hildesheim [u.a.] 2003, 35-65 (hier: 64). 788 Vgl. zu diesem und der Vorstellung vom Orient bei Hegel, Schlegel und Michaelis LOOP, Jan: Timelessness. Early German Orientalism and its Concept of an Un-historical ‚Orient‘. In: Görner, Rüdiger/ Mina, Nima [Hg.]: ‚Wenn die Rosenhimmel tanzen‘: Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 2006, 11-25. 789 Vgl. in diesem Zusammenhang Osterhammel, der zwischen einer „inklusiven“ und „exklusiven Europazentrik“ unterscheidet. Während die inklusive Europazentrik, die die „weltgeschichtliche[] Überlegenheit des modernen Europa“ behauptete, ohne andere Zivilisationen abzulehnen oder abzuwerten, „die Aufklärung von Anfang bis Ende“ charakterisiert habe, sei die exklusive Europazentrik, „die Beschränkung des eigenen Horizonts auf die abendländische ‚Culturwelt‘ des weißen Mannes, […] das Markenzeichen erst des 19. Jahrhunderts“ (Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, 62f.). Vgl. auch ebd., 380: Der inklusive Europazentrismus betrachtete „die Überlegenheit Europas als eine Arbeitshypothese, die von Fall zu Fall korrigierbar war“, der exklusive Europazentrismus, setzte sie als Axiom voraus.

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ihm das christliche Europa als fremd und unverständlich erschien. Das Ziel, das er mit seiner Orient-Reise verfolgte, war das Verstehen dieses Fremden, das er als das Eigene wahrnahm, sein Mittel die Erforschung des Anderen, das er als das Vertraute konstruierte. Vor dem Axiom der Fremdheit des Eigenen verschiebt sich das vermeintliche Paradoxon auf die begriffliche Ebene. Es erklärt, wie Michaelis die Bestätigung des Bekannten suchen und sich Aufklärung mittels eines „elften Faktums“ versprechen konnte, und warum er sich mit der Bibel unter dem Arm auf die Suche nach einem Orient begab, den er bereits besaß. Und letztlich erhellt es auch die Widersinnigkeit der „Beantwortung“, die Feststellung eines Reichtums der Araber einerseits, ihrer Ungelehrsamkeit andererseits. Denn wie das Verstehen des europäischen Fremden die Begegnung mit dem orientalischen Vertrauten verlangte und die Notwendigkeit einer Reise in den Orient begründete, sah sich der Nutzen der Reise konterkariert, als der Vertraute an der Grenze seiner Religion zum Fremden wurde. Weder den muslimischen noch den jüdischen Araber sah Michaelis im Orient, sondern einzig den christlichen und kam so anders als Niebuhr nie dort an.

5.

Super Orientem Lux – Michaelis und der andere Orient

Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass sich Michaelis sehr viel weniger für kulturwissenschaftliche Fragen interessierte als für die Bedeutung einzelner Worte. In Zeiten, in denen der Islam zu Deutschland gehört und sich die Frage nach der Fremdheit des Eigenen auf ganz andere Weise stellt, als es hier geschieht, bewirkt ein derart nüchtern philologisches Interesse zuweilen ein Befremden. Ihm wird unterschiedlich begegnet. Einesteils wird die Konzentration auf die Philologie ganz grundsätzlich als mangelhaft deklariert. Wie dargestellt wurde, verdankt sich der Beitrag Michaelis’ zur Entwicklung der entstehenden Orientalistik aber gerade dem philologischen Fokus seiner Studien. Das Argument der Mangelhaftigkeit scheint mithin unangemessen. Mit dem Hinweis auf andere michaelische Schriften wird andernteils behauptet, dass Michaelis – sein Hauptwerk mag philologisch sein oder nicht – quasi eine Art Antisemit sei, was schlicht alles, vor allem aber seinen Beitrag zur Orientalistik verändere. Der Vorwurf setzt voraus, dass Michaelis’ Werk eine auch religiöse Dimension beinhaltet. Die Existenz einer solchen Dimension kann durch die bisherigen Ergebnisse bestätigt werden. Denn keineswegs erschöpfte sich die michaelische Argumentation in philologischen Detailstudien. Vielmehr beklagte sie den Verlust der Bibel, berief den Araber als Zeugen der mosaischen Zeit, stellte den Moslem als Ungelehrten und den Juden als jenen vor, von dem nichts mehr zu lernen sei. Ausgehend von diesen Beobachtungen soll im Folgenden die religiöse Dimension der Orientalistik Michaelis’ analysiert werden. Dabei wird zunächst sein Bild vom Araber als Moslem im Fokus stehen, wobei auf Texte zum sprachlichen Geschmack der Araber, zu ihrer Religion, ihrem Land und ihren Sitten und Gebräuchen zurückgegriffen werden kann. Mit der Absicht, den Vorwurf des Antisemitismus ernst zu nehmen, wird in einem zweiten Schritt der Versuch unternommen, Michaelis’ Bild der Juden anhand exemplarischer Texte vorzustellen, bevor zuletzt sein christliches Selbstverständnis anhand der Kategorien von fremd, eigen, anders und vertraut reflektiert wird. Insgesamt verfolgt das Kapitel das Ziel, den Rahmen,

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insbesondere die Voraussetzungen des orientalistischen Programms Michaelis’ zu erfassen, um nunmehr und nachdem Michaelis von der imperialen Verdächtigung freigesprochen werden konnte, die Gretchenfrage dieser Arbeit zu stellen: Ist Michaelis’ Beitrag am Ende doch nicht mehr als philologische Nichtigkeit mit theologischem Überfluss, er selbst ein Orientalist Said’scher Manier, ein Antisemit gar, oder vielleicht auch das düstere Gegenstück zum aufgeklärten Ideal Lessing’scher Prägung?

5.1 D IE ARABER 5.1.1 Über den „Arabischen Geschmack“ (1771) In welch engem Zusammenhang das philologische Programm und die religiösen Auffassungen Michaelis’ standen, verdeutlicht seine „Abhandlung vom Arabischen Geschmack“790. Das Werk erschien erstmals im Jahr 1771 und zwar als Vorrede zu einer „Arabischen Grammatik“791. Ganz im Sinne der übergeordneten Schrift beab790 MICHAELIS, Johann David: Abhandlung vom Arabischen Geschmack (= Vorrede zur ersten Ausgabe, in der vom Arabischem Geschmack gehandelt wird). In: Michaelis: Arabische Grammatik (1771 und 1781), III-CXII. Vgl. auch MICHAELIS, Johann David: Vorrede (= Von dem Geschmack der Morgenländischen Dichtkunst). In: Löwen, Johann Friedrich: Johann Friedrich Löwens, Mitglieds der Götting= und Helmstädtischen deutschen Gesellschaften, Poetische Nebenstunden in Hamburg, mit einer Vorrede des Herrn Prof. Johann David Michaelis, von dem Geschmack der Morgenländischen Dichtkunst. Leipzig 1752, IX-XLVII. 791 MICHAELIS, Johann David [Hg.]: Erpenii Arabische Grammatik, abgekürzt, vollständiger und leichter gemacht, von Johann David Michaelis: nebst den Anfang einer Arabischen Chrestomathie, aus Schultens Anhang zur Erpenischen Grammatik. Göttingen 1771. Michaelis stellte das Werk als „eine neue Grammatik“ vor, die auf die Grammatik des Niederländers Thomas Erpenius aus dem Jahre 1613 zurückgreife, sie durch Kürzungen und Zusätze verbessere, und „Erpenii Nahmen aus Dankbarkeit gegen ihn auf den Titel“ setze, um das, was „so sehr mit seiner Hülfe geschrieben“, dem Anschein der michaelischer Zueignung zu entziehen. Er bezeichnete die Grammatik des Erpenius als die „bey weiten […] beste“ „unter den sämmtlichen Arabischen und Hebräischen Grammatiken, in einem Alter von anderthalbhundert Jahren“. Seine gekürzte Neuauflage des Werks begründete Michaelis mit gestiegenen Kosten (ebd., 1ff.). Nach zehn Jahren erschien die „Arabische Grammatik“ in einer zweiten Auflage (MICHAELIS, Johann David: Arabische Grammatik, nebst einer Arabischen Chrestomathie, und Abhandlung vom Arabischen Geschmack, sonderlich in der poetischen und historischen Schreibart: Zweite, umgearbeitete und vermehrte Ausgabe. Göttingen 1781), allerdings ob einer

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sichtigte Michaelis einzig den sprachlichen bzw. „Geschmack der Araber der Dichtkunst“792 zu beschreiben. Als das entscheidende Kriterium einer gerechten Beurteilung stellte er die Berücksichtigung der Dynamik des Geschmacks vor. Dieser bliebe „nicht beständig einerley“, sondern unterliege den gleichen Veränderungen wie die Sprache selbst. Letztere indes entwickle sich regressiv, das heißt, sie sinke von einem „güldene[n] Alter“, das „nicht von langer Dauer zu seyn“ pflegt, „in das silberne, denn in ein noch schlechteres herab“. Wolle man folglich „von einer Sprache richtig urtheilen“, müsse man „ihr Zeitalter“ unterscheiden, und nicht etwa „aus den schlechten Dichtern, oder andern Schriftstellern der mittleren Zeit, den Geschmack der […] Dichtkunst und Sprache“ bestimmen.793 Diese Regel gelte für das Lateinische ebenso wie für die morgenländischen Sprachen, die „ihr güldnes Alter schon um viele Jahrhunderte überlebt“ hätten.794 Die „güldne[] Zeit der morgenländischen Dichtkunst“ habe länger gedauert, „als in irgend einer europäischen Sprache“.795 Sie würde „jetzt in den Jahrbüchern der Araber aus Frömmigkeit die Zeit der Unwissenheit genannt […], weil sie noch nicht durch die Religion Muhammeds erleuchtet war“ und „ging mit Muhammed zu Ende“.796 Der Geschmack dieser Epoche erinnere an das Hebräische, das „in Hiob, den Liedern Mosis, und Debora, und den Psalmen herrschet“797 und sei „nicht so Vielzahl von Überarbeitungen mit Verzicht auf „Erpenii Nahmen“ und dem Rat, „die erste Edition […] für ein ausgedientes Buch anzusehen, irgend in einen ehrbahren Winkel zu stellen, und sich die neue Ausgabe anzuschaffen“ (ebd., Vorrede zur zweiten Ausgabe, 1f.). In der Vorrede zur zweiten Ausgabe rechtfertigte Michaelis sich bereits im ersten Absatz für die Änderung des Titels und wiederholte seine Dankbarkeit gegenüber Erpenius: „Ich gebe nun die Grammatik, die vor zehn Jahren unter anderer Gestalt und Ueberschrift erschien, so vermerth und umgearbeitet heraus, daß ich auch den Titel nothwendig ändern, und sie nicht mehr, wie damahls, Erpenii Arabische Grammatik, abgekürzt, vollständiger und leichter gemacht, sondern gerade zu meine Arabische Grammatik nennen muß. Den Dank, den ich Erpenio schuldig bin, wird er in der Vorrede zur ersten Ausgabe, die ich wegen ihres Inhalts hier wieder abdrucken lasse, auf immer behalten“ (Michaelis: Arabische Grammatik [1781], Vorrede zur zweiten Ausgabe, 1). 792 Michaelis: Abhandlung vom Arabischen Geschmack, XXX. 793 Ebd., XXXIIf. 794 Michaelis: Von dem Geschmack der Morgenländischen Dichtkunst, XII. 795 Ebd., XIV. 796 Michaelis: Abhandlung vom Arabischen Geschmack, XXXVIII. 797 Ebd., XXXV. Die Ähnlichkeit habe durchaus Grenzen, denn „auch Sitten der Völker und Beschaffenheit des Landes“ machen „einen Unterscheid“: „der Araber besingt häufig die Blutrache, in der bey ihm die Ehre der Tapferkeit bestehet, das thut der Hebräer nicht, denn bey ihm hatte Moses die Blutrache unter die Aufsicht der Obrigkeit ge-

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sehr und so wesentlich von dem unsrigen verschieden […], als man gemeiniglich denkt“798. Vielmehr würde die „Nachahmung“ des arabischen Geschmacks der goldenen Zeit „auch in unsern Sprachen dem Dichter Ehre machen“799, da beide Geschmäcker „dem Ursprunge nach“ „näher mit einander […] verwandt [seien], als man denket“800. Mit Muhammed habe eine allmähliche Verschlechterung des arabischen Geschmacks begonnen, die im „Tod des guten Geschmacks“801 gipfelte. Der vermeintliche Prophet sei „von Natur“ kein Dichter gewesen, „viel zu ungelehrt und uncultivirt, ein guter Schriftsteller zu werden, obgleich bisweilen einige Zeilen in seinem Coran vorkommen, die sich ganz gut lesen“ ließen. Grundsätzlich aber sei die „Schreibart“ des Korans „übel“: „oft für Prosa selbst zu niedrig, zu nachläßig und zu schleppend, und der Reim, den Muhammed am Ende jedes Verses anbringen will, verstellet sich noch am meisten“. Zum „schlimm[en]“ Nachteil des arabischen Geschmacks habe Muhammed „seine eigene Schreibart“ so sehr gefallen, „daß er sie zum Zeichen seiner göttlichen Sendung machte“, womit er den Glauben begründete, „daß der Coran das nie von Menschen zu erreichende Muster der schönen Schreibart sey“.802 „Nach Muhammeds Zeit“ habe „sich das ganze Volk der Araber in Eroberer“ verwandelt und so den weiteren geschmacklichen Verfall verursacht. Denn den seltenen Fall ausgenommen, „als […] die vorhin geschmacklosen und rauhen Römer Griechenland eroberten, und ihren Geschmack dort bildeten“, pflege „eine Sprache nicht leicht ausser ihrer Heymath, und in Colonien, wo noch eine andere Muttersprache geredet wird, recht zu gedeyhen: sie wird arm, weil man nicht von allen Dingen in ihr redet; sie sinkt nach und nach in die todte durch Kunst erlernte Sprache […] [O]ft verändert schon ein auswärtiger Aufenthalt von bracht: in Arabien ist die Natur arm und einförmig, der Araber muß sich also mit den Bildern begnügen, die ihm sein Vaterland giebt; der Hebräer hat schon mehr Veränderung und Mannigfaltigkeit, und borget sonderlich aus dem Gewächsreich Schmuck für seine Poesie, er redet hingegen nicht viel von dem Cameel, welches, als das einheimische Thier, und der Reichthum der Araber, häufiger in ihren Gedichten vorkommt, als Europäische Leser es gut finden möchten. Allein, bey dem allen wird man doch zwischen den besten Gedichten der Araber aus dem güldenen Zeitalter, und den im Alten Testament enthaltenen Hebräischen eine gewisse kenntliche Aehnlichkeit wahrnehmen“. 798 Michaelis: Von dem Geschmack der Morgenländischen Dichtkunst, XIV. 799 Ebd., XV. 800 Ebd., XXVII. 801 Michaelis: Abhandlung vom Arabischen Geschmack, L. 802 Ebd., XLII-XLV.

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10 Jahren bey gebohrnen Deutschen die Schreibart, und nimt ihr wenigstens das biegsahme und kunstlose. Was mußte nun der Arabischen Sprache in Ländern widerfahren, deren Sprache von ihr noch viel weiter verschieden war, und die selbst im 7ten und 8ten Jahrhundert längstens den guten Geschmack verlohren hatten?“

803

Zwar hätten Gelehrsamkeit und Grammatik der Araber von der Begegnung mit den Büchern der Griechen profitiert, „[a]lein, Gelehrsamkeit und Grammatik sind noch nicht Geschmack“.804 Und seien die „einheimischen alten Dichter“ durchaus auch zu der Zeit der Eroberungen gelesen worden, so wäre doch ein „Unterscheid zwischen, lesen, und glücklich nachahmen“. Darüber hinaus gebe es eine „unglückliche Nachahmung“, der einige Araber, „sonderlich einige Geschichtschreiber“ verfallen seien. Sie hätten sich die „Schreibart der Dichter zum Muster“ gewählt und damit eben jenen „Schwulst“ erschaffen, „an den man gemeiniglich denket, wenn man vom morgenländischen Geschmack redet“.805 Nach fremden Siegen über Arabien vor allem durch die Tataren habe sich die „nachgeahmte“ arabische Sprache mit dem fremden Geschmack vermischt, „Schwulst und Unnatürliches“ multipliziert806 und damit das Ende des guten Geschmacks besiegelt, das letztgültig mit dem der „Herrschaft der Türken“ eingetreten sei. „Unwissenheit, Barbarey, Regierungsform, und Aberglaube“ – „alles“ habe sich hier „vereiniget […], der Tod des guten Geschmacks zu seyn“.807 Natürlich würde man „unrecht thun, wenn man von den ausserhalb Arabiens wohnenden Arabern, die unter einem so unwissenden Volk, als die Türken jetzt sind, stehen, noch den Geschmack ihrer Vorfahren vor 1200 Jahren fodern wollte“.808 Die diagnostizierte Geschmacklosigkeit könne folglich keinesfalls als Allgemeinurteil über die 803 Ebd., XLVIf. 804 Ebd., XLVIII: „Es ist wahr, die Araber dachten nicht immer barbarisch […]; sie lernten die Bücher der Griechen schätzen, die sie in den eroberten Ländern fanden, übersetzten sie in ihre Sprache, und nahmen die aus dem grössesten Theil von Europa vertriebenen Wissenschaften auf. Philosophie, Mathesis, Astronomie, Geschichtkunde, Geographie, die mathematische sowohl als die historische, Chemie und Medicin, blüheten unter ihnen: selbst die Grammatik ward nun nach dem Muster der Griechischen ausgearbeitet.“ 805 Ebd., XLIX. 806 Durchaus kannte Michaelis Ausnahmen der Annexion durch den „Schwulst“ (ebd., L): „Es ist mir so gar nicht unbegreiflich, ihn [den Schwulst] entstehen zu sehen, daß ich mich ehe wundere, wie selbst aus diesen Zeiten Schriftsteller übrig sind, deren Schreibart wenig von diesem Fehler angestecket ist, und die sich ganz gut lesen lassen, sonderlich einige Geschichtschreiber, denen es nicht um Schmuck und Schönheit der Schreibart, sondern blos um die Sache zu thun war.“ 807 Ebd., XLIXf. 808 Ebd., L.

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Araber gelten und damit ein „Unrecht“ unterstützen, das sie häufig hätten „über sich ergehen lassen müssen“: „Man klagt über Schwulst der Morgenländer, und zwar so, daß der Tadel die Araber mit treffen soll; aber die Exempel sind gemeiniglich Arabien ganz ausländisch. Vielleicht verdiente der Geschmack, von dem man redet, ehe den Nahmen des Tatarischen, auch selbst alsdenn, wenn die Bücher in Arabischer Sprache geschrieben sind, denn sie gehören in die Zeiten hinein, da schon Tatarische Völker den Orient erobert hatten. Will man ihn Orientalisch nennen, so kann man es freilich thun; nur muß man auch wissen, daß er alsdenn mit dem alten Arabischen oder Hebräischen Geschmack keine Verwandschaft oder Aehnlichkeit hat, und so wenig verdient Arabisch genannt zu werden, als man den Geschmack, in welchem die Gothen und andere deutsche Nationen in den mitleren Zeiten schrieben, deshalb den Römischen nennet, weil sie Lateinische Wörter misbrauchten.“

809

Mit der Feststellung des Todes endet die Darstellung der geschmacklichen Entwicklung der arabischen Sprache. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Arabische nach michaelischer Einschätzung nicht jener „Schwulst“ ist, den man meinen dürfe, wenn man vom orientalischen Geschmack spricht. Das ursprüngliche Arabische, die nächste Schwester der hebräischen Sprache, scheint vielmehr ebenso golden wie die Epoche, der es zugeschrieben wird. Doch nach dem Urknall sprachlicher Regression durch Mohammed ist aller einstige Reichtum dahin, und es herrscht nicht mehr denn Geschmacklosigkeit – einigen wenigen Ausnahmen ungeachtet.810 809 Ebd., XXXIIIf. 810 Freilich bliebe dem „unpartheyischen Geschmack“ der Leser auch eine andere als die michaelische Einschätzung gestattet – vgl. ebd., CXff.: „Doch ich will selbst nicht urtheilen, sondern dis dem Geschmack, dem ganz unpartheyischen Geschmack meiner Leser, überlassen. Der muß empfinden, nach ihm muß die Critik sich bilden, und von ihm Regeln abstrahiren.“ Seinen eigenen Geschmack bestimmte Michaelis mit plötzlich poetischen Worten: „Geschmack ist nicht das blasse Kind der Nacht, Das Wörter einzeln liest, und bey den Büchern wacht, Nie, als bey Todten lernt, und eine jede Blume Mit rechtem Nahmen nennt, auch sie nicht, die dem Ruhme Des Dichters neidisch winkt, der jedes dreiste Wort Und jedes Erstemahl misfällt, sie die den Ort Im alten Buch vermißt, wo dis schon stehen sollte, Und, weil sie den nicht fand, die Stirn in Runzeln rollte: Nicht die beym Schwulst erstaunt, und morgenlän=

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In der Würdigung des ursprünglichen Arabischen, das als Verwandte des Hebräischen gepriesen wird, erinnert die michaelische Argumentation grundsätzlich an die im vorherigen Kapitel besprochenen Texte und Ergebnisse. Indem Michaelis auf den Wert des Arabischen hinsichtlich des Verstehens des Hebräischen verwies und sich gegen das Vorurteil des arabischen „Schwulstes“ wandte, das zumindest für die „güldene Zeit“ unzutreffend sei, bemühte er sich um die Beförderung des arabischen Sprachstudiums. Gegenüber der bereits behandelten Pointe der Konstruktion des Arabers als Relikt der mosaischen Zeit, der als Zeuge der Vergangenheit berufen wird, gehen die Ausführungen über den arabischen Geschmack aber einen entscheidenden Schritt weiter. Denn sie benennen das Ende der Zeugenschaft. An der Grenze zu seiner eigenen Religion wird aus dem Araber, von dem sich Michaelis Aufklärung seiner Unwissenheit versprechen konnte, als Moslem ein geschmackloser Fremder.

disch nennt, Was freilich Deutsch nicht ist, weil es kein Deutscher kennt. Nein! jene Wollust ists, die, um sich zu vergnügen, Von selbst zum Schönen eilt, von unerkannten Zügen Entführt, hier trunken lobt die trunkne Einbildung Des Dichters, fühlt mit ihm, und wird Begeisterung. Bald eckel, und verwöhnt vom reichen Ueberfluß Des Besten, wenn sie nicht entzückt wird, gähnen muß, Ein unanständig Wort schroff in den Ohren hört, Kunst für Natur nicht nimt, was Schwulst, und was gelehrt, Was mühsam ist, verläßt, und eh man Regeln machte, Von selbst beym Schlaaftrunk schlief, beym Lächerli= chen lachte. Von ihr lernt die Critik tief unter ihrem Sitz Als Schülerin, und nimt das Richteramt vom Witz. Sie stielt ihr jeden Blick, und forscht der Ursach nach, Liest jede Thräne auf, und laurt auf jedes Ach: Den Werth Anacreons, den Werth der Elegien, Lernt sie im nassen Aug, und in der Wangen Glühen. Wie heilig! wenn sie nie nach größrer Herrschaft strebt, Vor sich Gesetze giebt, Geschmack, dich überlebt!“ Ob dieses Gedicht von gutem Geschmack zeugt, soll in aller Unparteilichkeit nicht beurteilt werden.

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Trotz der allgemeinen Verurteilung seiner Schreibart betonte Michaelis, dass er mit Anfängern im Arabischen „am allerliebsten“ den Koran lesen würde.811 Denn dieser habe einen mehrfachen Vorteil, wobei der letzte, dass nämlich die „Manuskripte des Corans […] in Deutschland wegen der ehemaligen Türkenkriege, in denen sie erbeutet wurden, häufig“ seien, unverständlich ist, musste Michaelis doch 1753 die Lehre des Arabischen durch das Studium des Korans aufgeben, weil er seinen Zuhörern „keine Exemplarien weiter zu verschaffen wußte“.812 Ein weiterer Vorteil des Korans bestehe in seiner grundsätzlichen Leichtigkeit, wobei „seine häufigen Wiederhohlungen […] ihn dem Anfänger noch leichter“ machen und ihn gleichsam „zwingen […], Vocabeln zu behalten, die er so oft gelesen hat“.813 Und schließlich sei der Koran „interessant“814, zunächst da man in ihm vielen „Sitten und Herkommensrechte[n] der alten Araber […], die Muhammed in geschriebene Gesetze verwandelte“ begegnen könne,815 sodann aber auch, „weil er die Erkenntnißquelle einer von so viel Millionen Menschen angenommenen Religion ist, und noch dazu der einzigen unter allen falschen, die einen gewissen Respect verdient, weil sie die Hauptsätze der natürlichen Religion zum Grunde legt. Je näher sie der christlichen Religion wegen dieser Ursache kommt, und je häufiger die Widersacher aller geoffenbahrten Religionen die Muhammedanische erhoben haben, um die christliche zu demüthigen, desto mehr verdient ihre Erkenntnißquelle gekannt und untersucht zu werden, und desto interessanter ist der Coran in der Grundsprache, und ohne alle Zusätze und Verdrehungen seiner spätern Ausleger, dem Philosophen, dem es wirklich um Wahrheit zu thun 816

ist“.

811 Ebd., X. 812 Ebd., XIIIf. Vgl. auch ebd., Xf: „und den [Koran] habe ich auch immer zum Grundegelegt, bis man endlich keine Corane mehr bekommen konnte, und ich die letzten, noch vom vorigen Jahrhundert, in einem Winkel des Buchladens übrigen Hinkelmannischen Corane von der Heroldischen Buchhandlung in Hamburg für meine Zuhörer gekauft hatte.“ 813 Ebd., XI. 814 Michaelis war sich „gewiß“, dass „man aus einem Buch, das die Neugier reitzet, eine Sprache besser lernt“, „als aus einem, dabey man lange Weile hat“. Er wünschte sich „nie Zuhörer, bey denen dis nicht einträfe: denn die wenigen, vielleicht zum blossen Lernen einer Sprache nicht übel geschickten, die aus jedem uninteressanten Buch die Sprache eben so gut lernen, weil sie einen gewissen blos auf die Sprache figirten Eifer mitbringen, kommen [ihm] zu sehr als Maschinen vor, von deren Sprachkenntniß [er] in der Zukunft nicht mehr wichtiges und interessantes erwarte[t], als der Anfang davon war“ (ebd., XIII). 815 Ebd., XIIf. 816 Ebd., XIf.

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Nach der Feststellung seines pädagogischen Nutzens deutete Michaelis mit dem Hinweis auf den auch philosophischen Wert des Korans an, dass sich seine Verurteilung der Erkenntnisquelle der „Muhammedanischen Religion“ keineswegs in der Diagnose tragischer Geschmacklosigkeit erschöpfte. Denn „wenn man auch dem Coran alle mögliche Gerechtigkeit widerfahren läßt, so wird doch sehr bald in die Augen fallen, daß er nicht von Gott eingegeben seyn könne, und die christliche Religion wird bey dieser Vergleichung ungemein gewinnen“.817 5.1.2 Über die Religion 5.1.2.1 Beurteilung des Korans Einen Versuch, „dem Coran alle mögliche Gerechtigkeit widerfahren“ zu lassen, unternahm Michaelis im Jahr 1775. Im achten Teil seiner „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ rezensierte er die deutsche Koranübersetzung Friedrich Eberhard Boysens,818 widmete sich allerdings weniger der Kritik der Übersetzung819 als einer ausdrücklich subjektiven Untersuchung des Korans. Michaelis betonte, dass man den Koran selbst durchlesen müsse, um die Zulässigkeit seiner Rezension zu prüfen. Er könne ihn nur beschreiben, wie er ihm „vorkommt“820 und dies auch nur „unter gewissen Rubriken“, sähe er sich doch ob der „Widerhohlungs=reichen Unordnung“ des Buches außerstande, „[e]ine förmliche Recension nach Capiteln“ zu 817 Ebd., XII. 818 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII (1775), 30-98; BOYSEN, Friedrich Eberhard: Der Koran, oder das Gesetz für die Muselmänner, durch Muhammed den Sohn Abdall. Nebst einigen feyerlichen koranischen Gebeten, unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Register versehen, und auf Verlangen herausgegeben von Friedrich Eberhard Boysen. Halle 1773. 819 Grundsätzlich aber glaubte Michaelis Boysen „im Nahmen aller Kenner“ dafür danken zu können, dass er „einen Wunsch so vieler, die gern den Koran in ihrer Muttersprache ohne Widerwillen (denn der stieg einem bey andern Uebersetzungen auf) lesen, und verstehen möchten, so gut erfüllet“ (Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII [1775], 31). Boysens Übersetzung ließe sich „noch besser lesen, als das angebliche Arabische Meisterstück“ (ebd., 46) und sei zumindest dem Anschein nach zuverlässig (ebd., 55). Und nach einer mehr als 12-seitigen Probe dieser Zuverlässigkeit, die die Übersetzung exemplarisch zitierte und kommentierte, fragte und antwortete Michaelis, – gerade als habe er die Ermüdung seines Lesers provozieren wollen: „Soll ich weiter fortfahren? […]: oder wäre es meinen Lesern lieber, wenn ich eine Recension des Korans selbst gäbe, die wenigstens so kaltblütig und unpartheyisch von einem über 1100 Jahr alten Buch noch nicht gegeben ist […] Ich dächte, dis letzte würden sie vorziehen“ (ebd., 74f.). 820 Ebd., 98.

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verfassen.821 Die Notwendigkeit der Rezension selbst indes stand für ihn außer Frage. Nachdem Michaelis bereits in der „Arabischen Grammatik“ auf den Wert des Korans für den „Philosophen, dem es wirklich um Wahrheit zu thun ist“, hingewiesen hatte,822 betonte er ähnlich auch in der Rezension, dass der Koran vor allem aus philosophischen Gründen eine ausführliche Betrachtung verdiene. Denn „nach der Religion, die in der Bibel gelehret wird“, sei „keine so vernünftige […], als die Muhammedanische“.823 Sie behielte „beynahe den ganzen Inhalt der natürlichen Religion“ bei, „sonderlich die Lehre von einem einzigen allmächtigen und unendlichen Gott, und einem zukünftigen Leben, in dem gestraft und belohnet wird“ und habe das Verdienst, „den Götzendienst gestürzt, und den Dienst des wahren Gottes, so wie ihn Christen, Juden, Muhammedaner, und Deisten, gemeinschaftlich erkennen, eingeführt zu haben“. Auch habe nach der jüdischen und christlichen Religion „keine einzige so vortheilhafte Wirkungen zur Besserung des menschlichen Herzens gehabt […], als die muhammedanische“.824 Dem also, „der über das menschliche Herz, und blos als unpartheyischer Zuschauer über die Religionen des Erdbodens philosophiren will“, könne eine solche Religion nicht „gleichgültig“ sein. Und auch die „politischen Veränderungen“, die sie bewirkte, sollten die Begierde wecken, „die Triebfeder zu kennen, die so grosse Dinge ausrichtete“.825 „Zu was vor einem Volk machte sie innerhalb zwey oder dreyer Menschenalter die vorhin so unberühmten Araber! Was für Siege! was für Eroberungen, bis in die innersten Wüsten von Afrika hinein, bis in Gegenden, wohin weder Griechen noch Römer mit ihren Heeren gekommen waren!“

826

Nicht zu vernachlässigen seien auch ihre „sonderbahre[n]“ und „schädliche[n] politische[n] Folgen“, die andeuteten, „daß etwas in der Muhammedanischen Religion seyn müsse, daß den Staaten zuletzt nachtheilig wird“:

821 Ebd., 75. 822 Michaelis: Abhandlung vom Arabischen Geschmack, XII. 823 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII (1775), 31-33. 824 An anderer Stelle heißt es: „Sonderlich wird das Almosengeben anempfohlen, und vor allen Dingen sehr auf das Gebet gedrungen, und dis scheint eben die Ursache davon zu seyn, daß die Muhammedanische Religion die ist, die nach der christlichen den meisten Einfluß auf das Hertz gehabt hat und noch hat“ (ebd., 87). 825 Es seien zwar „nicht die sanften und bleibenden [Veränderungen] der christlichen Religion“, auch nicht jene, die Völker „recht glücklich, und Länder auf die Dauer so mächtig […] machen, als jetzt Europa ist: aber doch die großen“ (ebd., 32). 826 Ebd.

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„ewige Umstürze von Staaten, und die immer mit Unglück der Völker verbunden, nichts so bleibendes, als wir in Europa kennen, nirgends eigentlich Freyheit und Glück der Völker, ungeachtet viel ungebundene Frechheit und Gesetzlosigkeit war, jetzt sehen wir keinen einzigen Muhammedanischen Staat glücklich, ja nicht einmahl mächtig, ungeachtet sie die weiten 827

Länder in sich fassen, in denen sonst alle Macht der Welt beysammen war“.

Im Zentrum der Rezension stand die philosophische Auseinandersetzung mit dem Koran. Vorrangig konzentrierte sich Michaelis auf die Beschreibung des Propheten Mohammed, den er als „Moralisten“, „Gesetzgeber“, „Logicus und Disputator“ und schließlich als „Historicus“ vorstellte, wobei sein Urteil von „ziemlich gut“ bis „wo möglich noch schlechter“ reichte. Als zumindest „für Araber ziemlich gut“ und das heißt, „nicht so schlimm, als man ihn sich vorzustellen pflegt“, bewertete Michaelis Mohammed, „[w]o er andern Regeln giebt“. Im Verbot weder der Polygamie noch der Ehescheidung sei er nicht nachlässiger als Mose, „[e]her wäre er ein zu strenger Moralist, da er Wein und Spiel schlechterdings verbietet“.828 „Viel schlechter!“ hingegen sei er als „Gesetzgeber“: „In der Wahl unter den einander widersprechenden [älteren] Herkommensrechten, und ihrer Anwendung, ist er unglücklich, wie man es von einem zu erwarten hat, der bey diesem Geschäfte nicht hergekommen war, und so darzu kam, als untrüglicher Prophet in Gottes Nahmen Gesetze zu geben, ehe er je darüber philosophirt, oder Erfahrung gesammlet hatt.“829 „Sehr schlecht“ schließlich sei Mohammed als „Logicus und Disputator“, „[w]o möglich noch schlechter“ indes als „Historicus“: „Allerley Geschichte, so wohl biblische als Arabische, deren viele im Grunde wahr seyn mögen, und dem, der sie mit Critik lieset, wol einmahl wozu nüzlich seyn können, hat er erzählen gehört: allein aus Mangel des Lesens in Büchern und der Chronologie mengt er sie auf die lächerlichste Weise durch einander. Haman wird zum Premier=Minister des Pharao, der den Babylonischen Thurm bauet, um in den Himmel zu steigen, den Gott, von dem Moses redet, zu sehen, und wol gar, ihn todt zu stechen. Maria die Mutter Jesu, ist Mosis und Aharons Schwester, u.s.f.“

830

Mit der Diagnose historischer Inkompetenz erreicht die komparativische Vorstellung Mohammeds ihren Höhepunkt. Die „unzähligen offenbahren historischen 827 Ebd., 33f. 828 Ebd., 76-78. Das hätte Michaelis „an der Moral auszusetzen, daß vorsätzliche und unvorsätzliche Sünden nicht so unterschieden sind, als die christliche Religion, und die gesunde Philosophie es thut. Sonst ist sie für Araber ziemlich gut“. 829 Ebd., 79f. 830 Ebd., 80f.

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Irrthümer“ des Propheten,831 zu denen auch seine prophetische Ankündigung durch Moses und Jesus gehöre,832 bilden den wesentlichen Kritikpunkt der KoranRezension. Neben den historischen Irrungen selbst beanstandete Michaelis vor allem die Behauptung Mohammeds, „den Koran aus unmittelbahrer göttlicher Eingebung zu haben“.833 Nach seinem Urteil könne „die Muhammedanische Religion nicht bestehen […], so bald Kenntniß der alten Geschichte unter dem [arabischen] Volk […] ausgebreitet würde“. „Sogar das Lesen der Bibel […] müßte ihr tödtlich werden, denn bald würde man sehen, was für Misgriffe der Prophet gethan hat, die man unmöglich auf Verfälschung der Bibel durch Juden oder Christen würde schieben können“.834 In Berücksichtigung der weiteren Argumentation Michaelis’ würde es allerdings eigentlich schon genügen müssen, die eigene Vernunft zu gebrauchen, um Mohammed als Betrüger zu enttarnen: „Der Prophet hatte das Unglück, sich in seinen göttlichen Aussprüchen und im Koran selbst, zu widersprechen: er selbst gesteht es, an der Wahrheit des Facti ist also wol nicht zu zweifeln […] Wenn er bisweilen im besten Dictiren des ihm vom Engel Gabriel vorgelesenen Korans ist, (beyläufig, bisweilen hat er ihn im Nachsprechen zu geschwind geschlabbert, und daher nicht recht auswendig gelernt, eine neue Quelle von Irrthümern [...] aber wenn dis auch nicht war, sondern der Prophet alles das Seinige that): raunte ihm Satan einige Stellen ein, die der Prophet ohne Arg zu haben mit in den Koran setzte, aber Gott setzte, nach seiner uner835

meßlichen Treue, immer einen Satz dagegen. Hiervon die Widersprüche“.

„[S]o einfältig“, sich mit einer solchen Erklärung „abfinden zu lassen“, würde „doch auch wol der Dümmeste nicht seyn […], sondern dem Muhammed antwor831 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII (1775), 81. 832 Ebd., 92: Die Juden werden „beschuldiget, daß sie aus Bosheit, Neid gegen die Araber, Widerspänstigkeit gegen den Propheten, und gemeine Abschreiber aus Gewinnsucht und für Geld, ihr Gesetz verfälscht, und die darin befindlichen herrlichen Weissagungen von Muhammed verunstaltet haben“. Vgl. auch ebd., 97f.: „Eine Bosheit der Juden war es, daß sie diese [Weissagungen Mosis und Christi von Muhammed] wider besser Wissen und Gewissen leugneten, oder gar ausliessen, worüber er sich sehr ereifert. Die Stelle im N.T. von der ihm ein Schmeichler weis gemacht haben mochte, sie handele von ihm, war vermuthlich eben die, auch von den Manichäern auf Manes gedeutete, Joh. XVI, 7. Bey diesem Itacismo ist einem Ungelehrten nichts leichter, als ʌĮȡĮțȜȘIJȠȢ für eben so viel als ʌĮȡĮțȜȣIJȠȢ zu halten, und daraus, berühmt, zu machen, denn war es Muhammed, mit seinem Nahmen genannt, und vorher verkündiget, […] was konnte deutlicheres gefodert werden?“ 833 Ebd., 84. 834 Ebd., 81. 835 Ebd., 89.

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ten: du bist ein durch dein eigenes Geständniß überführter Betrüger“.836 Um die Göttlichkeit des Korans und seiner Sendung zu beweisen, führe Mohammed auch die „unnachahmlich schöne Schreibart des Korans“ an. Allerdings könne man diese „ohne Gnade“ weder empfinden noch fühlen, und Michaelis jedenfalls „wäre nicht durch sie bekehret worden“.837 „Schreibart und Poesie“ des Korans waren nach den verschiedenen Beurteilungen Mohammeds eine weitere Rubrik, unter der Michaelis den Koran beschrieb.838 Schließlich widmete er sich der „Religion“ selbst. „In der Hauptsache […] die natürliche“ hielt er sie für die „[b]ey weitem […] vortheilhafteste Seite des Korans“. Allerdings – so der relativierende Hinweis – sei sie nicht das Produkt einer „tiefen philosophischen Untersuchung“ Mohammeds, sondern gründe in einer philosophischen Secte Arabiens. Und hätte Mohammed – so Michaelis weiter – nur diese vorgefundene natürliche Religion gepredigt und die Behauptung ihrer göttlichen Herkunft ausgelassen, „verdiente er nichts als Lob […]: Nur das bleibt sein Fall nicht völlig“.839 In Beschreibung der Religion zählte Michaelis verschiedene Merkmale auf, so z.B. die „Lehre vom Teufel“, die „etwas ausführlicher ist, als wir sie aus der Bibel nehmen könnten“,840 oder den Verzicht auf Wunder, der unter anderem damit erklärt werde, dass „Christus und andere Propheten schon […] so viel Wunder gethan hätten, als hinlänglich wären, jeden von der Wahrheit zu überzeugen“. Auch sei Mohammed „nicht dazu gesandt“ und die Gläubigen hätten sie „nicht nöthig“.841 In letzerer Behauptung sah Michaelis eine entscheidende Schwierigkeit der Religion, die die Lehre von der „unmittelbahre[n] Wirkung Gottes, durch welche jeder Gläubige erleuchtet werden muß […] aufs höchste“ triebe und sie zu einem ihrer Hauptsätze mache. Denn wem „Gott die Gnade verleihet, der glaubt ohne alle Gründe gerade zu, alles was der Prophet“ sage, „was er weiß und nicht weiß, versteht und nicht verstehet“. Und wie der Gläubige infolge göttlicher Gnade dem Glauben bestimmt sei, könne der Ungläubige „durch nichts zur Ueberzeugung von 836 So das Urteil im dritten Band der „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ nach Darlegung desselben Sachverhaltes – Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. III (1772), 62. 837 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII (1775), 97.75f.43f.47f. Über den Grund des Propheten, den Koran für „schön“ zu halten, spekulierte Michaelis, dass „[e]in Mann von seiner völlig ungelehrten Erziehung, und des Schreibens unkundig, […] leicht von einem Schmeichler betrogen“ würde, „zu glauben, die Sprüche die er dictirte wären göttlich schön, und überträfen alles jemahls vorhin geschriebene, das er nie gelesen hatte“ (ebd., 44 [Anm. l]). 838 Ebd., 75f. 839 Ebd., 82-84. 840 Ebd., 88. 841 Ebd., 95f.

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der Wahrheit des Korans und der Religion gebracht werden, […] sind doch an dem, der nicht ohne Gründe glaubt“, alle Gründe verloren. So müsse sich jener, der nicht glauben kann, „wenn er auch gern wollte“, „für einen Verworfenen halten […] oder […] die Religion nicht glauben“.842 Um den „Beweiß der Göttlichkeit des Korans, und seiner Religion“, die letzte Rubrik der michaelischen Beschreibung, sähe es insofern, „wie man will, am schlechtesten oder am besten aus“: „Wer die göttliche Erleuchtung hat, der fühlt und glaubt die Göttlichkeit des Korans, er verläßt sich auf das innere Zeugniß Gottes: was braucht der weiter Beweise? Aber nun ein solcher schwergläubiger und fühlloser, wie ich z.E. bin, der ich schlechterdings ohne Gründe nicht zu glauben weiß, und den Koran oft durchgelesen habe, ohne je etwas göttliches zu fühlen, wie soll dem geholfen werden? Den muß der Prophet selbst aufgeben!“

843

Mag es auch neben der Bibel „keine einzige uns bekannte angebliche Offenbahrung“ geben, „die vor dem Richterstuhl der Philosophie einigen Anspruch an weitere Prüfung ihrer Göttlichkeit machen [könne], als der Koran“, da „die andern […] wegen ihrer allzugroben Widersprüche gegen die natürliche Religion, oder sonst wegen ihres Inhalts, gleich weg[fielen]“,844 so sah sich Michaelis ob seiner „Schwergläubigkeit“ dazu gezwungen, die Göttlichkeit des Korans zu bestreiten. „[V]or dem Richterstuhl der Philosophie“ trug er verschiedene Argumente vor, die den göttlichen Anspruch des Korans negierten. Allen voran stand der Einwand, sein betrügerischer Prophet habe unzählige Male geirrt und sich „desto fürchterlicher“ bei seinen Irrungen auf Gott berufen845. Nicht nur aber Mohammed, sondern auch die muslimische Religion erwies sich für Michaelis als gänzlich unglaubwürdig. In Beurteilung des „schädlichen Einflusses der Muhammedanischen Religion in den Staat“ stellte er fest, dass erstens „die Lehre von den Pflichten gegen die Obrigkeit nirgends befindlich“ sei, da „Gehorsahm [einzig] gegen den Propheten gepredigt ward“. Zweitens habe Mohammed die Religion „blos national für Araber […] gemodelt“, „deren Herr [er] seyn wollte, ohne je von so großer Ausbreitung seiner Religion sich etwas träumen zu lassen“. Drittens seien „die Verwüstungen der Pest, und so viel anderes Unglück“ auf den „fürchterlichen Irrthum vom unbedungenen Rathschluß Gottes“ zurückzuführen. Das entscheidende Argument in diesem Zusammenhang aber lautete viertens, dass die muslimische Religion „Denken und Untersuchen gleich im ersten Ausbruch erstick[t]“846 und „weil sie gar kei-

842 Ebd., 93-95. 843 Ebd., 95. 844 Ebd., 37f. 845 Ebd., 81. 846 Ebd., 42.

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ne Untersuchung ausstehen kann, sie auch klüglich verbietet, so entfernt sie die Wissenschaften, wo nicht von dem Lande, doch von der Religion. In die Länder der Muhammedaner sind sie gleichsahm eingebrochen, und da wir in Finsterniß lebten, war es bey ihnen im medio aevo Licht; aber nur, diese Wissenschaften durften sich in Theologie nicht mengen, historische Untersuchungen durfte niemand anstellen, und darnach den Koran prüfen. Eine solche unwissende Religion voll Enthusiasmus wird immer viel Unglück stiften, und Staaten einem wallenden Meere gleich machen können.“

847

Insgesamt erscheint die Bestreitung der Göttlichkeit des Korans innerhalb der Rezension als eine bloße Behauptung. Ihrem Beweis widmete sich Michaelis an einem anderen Ort. 5.1.2.2 Bibel und Koran im Vergleich Eine weitere Besprechung des Korans präsentierte Michaelis im ersten Artikel seiner „Dogmatik“848. Unter dem Titel „Von der Göttlichkeit der den Juden und Christen gegebenen Offenbahrung“ und mit dem Ziel, die vorhandenen Offenbarungen auf ihre Göttlichkeit hin zu überprüfen, setzte er zunächst „Zeichen“ voraus, „an denen man eine falsche Offenbahrung von der wahren unterscheiden könne“, wobei er sich vorrangig den sogenannten „negative[n] Zeichen“ widmete – Zeichen also, „die blos die falschen [Offenbarungen] kenntlich und verwerflich machten“. Als das „erste Kennzeichen einer verwerflichen Offenbahrung“ benannte er „erweisliche Irrthümer“. Denn – so die Logik – da Gott nicht irre, könne auch eine irrende Offenbarung nicht von Gott sein.849 Michaelis unterschied fünf Arten von Irrtümern: 1.) „Widersprüche gegen gesunde Vernunft, und wahre Philosophie“, 2.) „historische Irrthümer“, 3.) den Selbstwiderspruch, 4.) „logicalische Irrthümer“ und 5.) „falsche Weissagungen“.850 Eine grundsätzliche Einschränkung des ersten negativen Prüfsteins ergebe sich in Berücksichtigung des prophetischen Selbstanspruchs. Das heißt: „Die Meinung ist hier nicht, wenn ein angeblicher Prophete irgendwo irret, (z.E. Muhammed gar vergiftete Speise zu sich nimt, die ihm ein Mädchen gebracht haben soll, um zu sehen, ob er ein Prophet sey) so sey er kein Prophet, denn ein von Gott gesandter Mann ist deshalb nicht allwissend, sondern nur treuer Ausrichter dessen, was ihm von Gott aufgetragen ist: aber wenn er etwas im Nahmen Gottes sagt, und es wird aus irgend einem Grunde einer of847 Ebd., 34f. (Anm. i). Die Argumente erscheinen hier allerdings in umgekehrter Reihenfolge. 848 MICHAELIS, Johann David: Dogmatik. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Göttingen 1784. 849 Ebd., 14f. 850 Ebd., 16-20.

226 | F REMDE V ERGANGENHEIT fenbahren Unwahrheit überwiesen, so ist er gewiß kein Bote Gottes. Eben diese Einschränkung muß man auch bey geschriebenen Büchern machen, die sich für eine Offenbahrung ausgeben: gesetzt, sie erzählten auch Geschichte, gäben sie aber nicht für von Gott eingegeben aus, so würde in solchem Fall ein historischer Irrthum sie nicht verwerflich machen.“

851

Als das zweite Kennzeichen einer sogenannten falschen Offenbarung betrachtete Michaelis die Nichtbeantwortung jener drei „grossen Fragen des menschlichen Geschlechts, um welcher willen eine Offenbahrung nöthig ist“, nämlich „1) ist nach diesem Leben noch ein anderes Leben, in dem Gott straft und belohnt? 2) Will Gott Sünde, vorsätzliche, wiederhohlte, lange fortgesetzte Sünde, vergeben, oder nicht? 3) Und auf welche Bedingungen will er sie vergeben?“852 Der Klärung der Voraussetzungen folgte die konkrete Prüfung der vorhandenen Offenbarungen. „Um nicht blos von der Bibel zu reden“ und weil einzig der Koran „noch einen irgend wahrscheinlichen Anspruch an die Ehre, eine Offenbahrung zu seyn, machen könnte“, weil er darüber hinaus „von Widersachern der christlichen Religion oft so sehr erhoben ist, um die Bibel herunter zu würdigen“, stellte Michaelis seine Untersuchung der Göttlichkeit als einen Vergleich von Bibel und Koran vor. Beginnend mit dem negativen Zeichen der Unfehlbarkeit hielt er zunächst fest, dass „kein Buch in der Welt […] so genaue und wiederhohlte Untersuchungen, mit der eifrigsten Bemühung Irrthümer darin zu entdecken, ausgestanden“ habe „als die Bibel“. Wäre also „etwas gegen sie einzuwenden“, müsste es „weltbekannt“ sein. Die christliche Religion nämlich verböte „das Prüfen nicht nur nicht“, sondern triebe dazu an, „anstatt daß der Koran blos geglaubt und nicht geprüft seyn will“. Grundsätzlich aber sei die Bibel „[n]och keiner Irrthümer […] überführt“. Sie widerspreche nicht der „gesunde[n] Vernunft und Philosophie“, sei hier vielmehr „überverdienstlich[]“, denn durch die Bibel habe sich die „Philosophie, sonderlich in der Sittenlehre gebessert“. Von den „National-Irrthümern des Volks […], unter dem sie geschrieben ward“ sei die Bibel „frey geblieben“, erzähle „z.E. nie […], ein Gespenst sey erschienen“. Und auch den historischen Irrtum kenne sie nicht. Allerdings wäre selbst ein erwiesener historischer Irrtum kein Beweis wider ihre Göttlichkeit, „denn sie selbst sagt nirgends, sondern es ist blos Meinung unserer Theologen, und vor ihnen, der Juden, daß ihre Schriftsteller auch in historischen Dingen inspirit waren“. Weder der „Widersprüche[] in Lehren“ noch „[l]ogicalischer Irrthümer im Schliessen“ sei „die Bibel bey allen scharfen Prüfungen bisher […] überführt“ worden, und „[f]alscher Weissagungen pflegt die Bibel eben nicht beschuldiget zu werden, sondern ehe zu genau eintreffender“.853

851 Ebd., 15. 852 Ebd., 20f. 853 Ebd., 30-40.

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In ihrer nicht zu erweisenden Fehlbarkeit unterscheide sich die Bibel in allen Punkten von dem als prüfungsunwillig vorgestellten Koran. Seine noch „beste Seite“ sei die „gut[e]“ Religion. „Allein so bald man Physik und Astronomie mit zur Philosophie rechnet“, verlöre er, „was er vorhin gewonnen hatte“ und widerspreche der gesunden Vernunft, „z.E. wenn Moses auf seinen Reisen an den Ort kommt, wo die Sonne in einem siedenden Brunnen untergehet, und das nicht Poesie, nicht Bild, sondern Geschichte“.854 Überhaupt sei „gerade Geschichte die schlimme Seite des Korans“. Denn „Muhammed gründet seine göttliche Sendung darauf, daß er Geschichte im Koran erzähle, die er als Mensch nicht hätte wissen können, und die Juden und Christen in ihren Offenbahrungen fänden, darüber erstaunten, daß er dis wisse, aber Gott habe sie ihm vom Himmel offenbahrt“.855 Und ganz im Sinne der michaelischen Prämisse, dass ein jeder erwiesene historische Irrtum die „Verwerfung“ eines Buches rechtfertige, das „auch in historischen Dingen aus göttlicher Eingebung geschrieben zu seyn“ behauptet,856 „würde nun schon jeder kleinste Irrthum den angeblichen Boten Gottes zum Betrüger herab setzen; aber die Irrthümer sind sehr grob“,857 „z.E. wenn der Koran Maria Jesu Mutter für Maria Mosis Schwester hält“858. „Ganz anders“ als die Bibel sei der Koran auch nicht frei von Widersprüchen in der Lehre – „zwar nicht wie er jetzt ist, sondern wie er zu Anfang war, und aus der Hand Muhammeds kam: er war der Widersprüche so überführt, daß Muhammed sie selbst eingestand, und zur Entschuldigung vorgab, ihm und allen andern Propheten Gottes raune der Teufel bisweilen einen Satz ein, dagegen denn aber Gott an einem andern Ort die Wahrheit eingebe, und den falschen Satz abschaffe“. „[Ü]ber alle Maasse schlecht“ bestehe der Koran die Prüfung auf „logicalische Irrthümer“. Seine Schlüsse seien „gerade das äusserste entgegengesetzte einer gesunden Logik, das Werk, nicht blos eines Irrenden, sondern eines unglücklich denkenden Betrügers“.859 Und obwohl das Kriterium „falscher Weissagungen“ auf den Koran nicht anwendbar scheine, da sich „Muhammed […] mit Weissagungen nicht abgeben“ wolle, erweise er sich letztlich auch an diesem Punkt als „unglücklich“. „Er [Mohammed] übereilte sich, Mecca, dem ungläubigen Mecca, den Untergang zu drohen; die Spötter fragten ihn, wenn das geschehen würde? Er: er wisse das Geheimniß nicht! Nur

854 Ebd., 33. 855 Ebd., 35f. 856 Ebd., 17. 857 Ebd., 36. 858 Ebd., 18. 859 Ebd., 38f.

228 | F REMDE V ERGANGENHEIT Mecca ist noch nicht untergegangen, und gar die Hauptstadt der Gläubigen geworden, daß es also wol nun hoffentlich nicht untergehen wird.“

860

Auch die weitere Prüfung seiner Göttlichkeit mittels des zweiten Kennzeichens einer verwerflichen Offenbarung bestehe der Koran im Gegensatz zur Bibel nicht. Denn während die Bibel die „grosse Frage von einem zukünftigen Leben“ ebenso deutlich beantworte wie „[d]ie zweite und dritte Frage, ob Gott vorsätzliche Sünden vergeben wolle? und auf welche Bedingungen?“, aus letzterer Fragen sogar, „wie es seyn soll, einen Theil ihres Hauptgeschäftes“ mache, könne dem Koran einzig „nicht abgeleugnet werden“, dass auch er die eine Forderung nach Beantwortung der Frage nach dem künftigen Leben erfülle. Darüber hinaus sage der Koran zwar „deutlich genug, und mit unzähliger Wiederhohlung, daß Gott Sünde vergebe“, allerdings habe er „bey den gar zu gleichlautenden und überflüßigen Widerhohlungen einer und eben derselben Sache […] von den Bedingungen zu wenig bestimmtes“. Neben dem Glauben an den einzigen wahren Gott und die Auferstehung der Toten fordere er gute Werke, lasse aber unbestimmt, ob die Sündenvergebung im Zeichen einer „wahre[n] Besserung des Herzens und Wandels“ stehe, oder einzig einzelne gute Werke verlange, „dadurch gleichsahm das vorige Uebel abgethan wird“.861 Nach der Anwendung der zwei Kennzeichen auf Bibel und Koran bedachte Michaelis eine dritte, „nicht völlig so dringende Foderung[]“.862 So sei „zu wünschen“, dass eine göttliche Offenbarung „auch die Hauptsätze der natürlichen Religion und 860 Ebd., 40. Nachzutragen ist ein weiteres Prüfungsmerkmal, das der Koran im Gegensatz zur Bibel ebenfalls „äusserst schlecht“ erfülle: „Bey der Bibel kommt noch ein neues Prüfungsmerkmahl hinzu, das ich vorhin, wo ich nur überhaupt a priore entwarf, nicht mit nennen konnte. In den Büchern Mose läßt sich Gott, von dem Mose gesandt zu seyn behauptet, herab, einem einzelnen Volk bürgerliche Gesetze zu geben? – Und gerade der Koran thut auch dasselbe. Wie sind nun diese? weise oder thöricht? So viel ich sehen kann, die Mosaischen im hohen Grad weise, politisch=gut, und gerade den Umständen des Landes, Klima und Volks angemessen […] Muhammeds seine äusserst schlecht” (ebd., 41). 861 Ebd., 42-44. 862 Vgl. Paragraph fünf der michaelischen „Dogmatik“: „Einige nicht völlig so dringende Foderungen an die Offenbahrung: von denen sich jedoch vermuthen läßt, daß Gott sie erfüllen werde, wenn Er eine Offenbahrung giebt“ (ebd., 25-29). Insgesamt stellte Michaelis vier weitere Forderungen. Nach der im Fließtext beschriebenen wünschte er, dass die Offenbarung „sehr alt sey“; er hoffte, dass Gott sie „nicht an einem Aborte der Welt versteckt, sondern an einem solchen Orte gegeben haben wird, wo es einem grossen Theil des menschlichen Geschlechts möglich ist, sie zu finden, wenn er sie sucht“; und schließlich „müßte sie in einer Sprache geschrieben seyn, die […] zu verstehen noch jetzt möglich ist“.

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Sittenlehre deutlich enthalte, weil sonst der grösseste Theil des menschlichen Geschlechts [d.s. Ungelehrte] zu ununterrichtet bleiben würde, oder blos Menschen glauben müßte“.863 Vor der bereits erwähnten Behauptung, dass der Koran im Gegensatz zur Bibel „blos geglaubt und nicht geprüft seyn will“, überrascht das Urteil über die Erfüllung des dritten Kriteriums wenig. Denn während die Bibel die Forderung „in sehr hohem Grad“ erfülle, sogar „überverdienstliches“ leiste, indem sie „natürlicher Weise mancherley Kenntnisse und Gelehrsamkeit“ ausbreite, während also „Gelehrsamkeit und Aufklärung […] die natürliche Begleiterin der Bibel“ sei, bewältige der Koran „das, was man von der Offenbahrung fodert, ärmlich, und doch mit Einmischung vieles verdächtigen“.864 Resümierend urteilte Michaelis weiter: „Nur er hindert den Untersuchungsgeist, weil er schlechterdings Glauben fodert, den nicht auf Beweise, nicht einmahl auf Wunder gegründet, sondern auf Gefühl übernatürlicher Gnade, […] auch kann man wegen seiner groben Fehler wider die Geschichte nicht an ihn gläubig bleiben, wenn man alte Geschichte kennet, diese verdränget also die Muhammedanische Religion, und sie hat auch nie bey Muhammedanern geblühet.“

865

Michaelis beschloss seine Untersuchung mit dem konsequenten Ergebnis, dass Gott „entweder […] so grausahm gewesen“ sei, „das menschliche Geschlecht ohne alle Offenbahrung hülflos zu lassen, oder die Bibel ist die wahre göttliche Offenbahrung“.866 In formalem Gegensatz zur Rezension der Koranübersetzung Boysens stellte er sein Resultat nicht als eine subjektive Erkenntnis vor, sondern formulierte es im Sinne eines quod demonstrandum erat und erweckt so den im Folgenden zu prüfenden Eindruck, sein Ergebnis gründe in einer objektiven Untersuchung. Mit Blick auf die Bibel war Michaelis bemüht, Einwände, die ihren Anspruch auf Göttlichkeit gefährden könnten, durch verschiedene Strategien zu widerlegen. In seiner Prüfung auf etwaige Irrtümer, z.B. „[g]ewisse[r] ungeheure[r] und unglaubliche[r] Zahlen der Chronick“, konnte er auf „offenbahre Fehler der Abschreiber“ verweisen.867 Zu Widersprüchen im Lukasevangelium bemerkte er, dass von der „göttliche[n] Inspiration“ des Evangelisten „überall kein[] rechte[r] Beweiß“ geführt werden könne. Weitere Widersprüche bei Matthäus erklärte er damit, dass „wir nicht den Grundtext sondern eine Griechische Uebersetzung haben“.868 In An863 Ebd., 25f. 864 Ebd., 45-47. 865 Ebd., 47. 866 Ebd., 51. 867 Ebd., 34. 868 Ebd., 37.

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sehung des Richterbuches und seiner „fabelhafte[n]“ Geschichte Simsons plädierte Michaelis für den Ausschluss des Buches aus dem biblischen Kanon. Gleiches Schicksal dachte er auch dem Esterbuch zu, denn es „enthält eine Geschichte, die zu glauben [ihm] unmöglich ist“.869 Und ähnlich fiel sein Urteil über die Offenbarung des Johannes aus. Zwar enthalte sie Weissagungen, „die bereits erfüllet seyn müßten, und nicht erfüllet sind“, doch könnten diese Irrungen nur gegen die Johannesoffenbarung selbst, „nicht gegen die übrige Bibel“ geltend gemacht werden.870 Letzteres Beispiel verdeutlicht, dass Michaelis die Bibel von ihren Einzelbüchern unterschied. Diese Unterscheidung ermöglichte es ihm, die christliche Offenbarung so weit zurechtzuschneiden, bis sie das Prädikat „göttlich“ erhielt. Die Bibel, die im Ergebnis ihrer Prüfung als „wahre göttliche Offenbahrung“ vorgestellt wurde – „doch so, daß man untersuchen soll, welche Bücher zu ihrem Umfang gehören“871, war folglich und nach ihrer michaelischen Beschneidung nicht mehr als eine Collage aus vermeintlichen Glaubwürdigkeiten. Unklar bleibt, ob die Hinweise auf Inspirationsmängel, Abschreib- oder Übersetzungsfehler als weitere Strategien der Widerlegung von Einwänden neben dem kanonischen Ausschluss selbst nur Kriterien des Ausschlusses sind und also keine souveränen Strategien, oder ob sie eigenständige Relativierungsoptionen für Irrtümer bilden. Festzuhalten aber ist, dass sich Michaelis’ Prüfung der Göttlichkeit der Bibel strukturell auf die Andeutung von Einwänden und ihrer Entkräftung stützte. Die Entkräftung bediente sich verschiedener Strategien, die insgesamt allerdings nur wenig überzeugen, insofern sie die Bereitschaft zu größeren Bastelarbeiten voraussetzen. Die durchaus schlüssig geführte Argumentation erscheint in ihren Entkräftungsversuchen demzufolge als eine bloße Behauptung, die sich der Absicht verdankt, einen Offenbarungscharakter der Bibel wider alle Irrtumsverdächtigungen zu bestätigen. Die Untersuchung des Korans war der Prüfung der Bibel strukturell ähnlich. Auch sie konzentrierte sich vorrangig auf Einwände und ihre Entkräftung. Allerdings betrafen die Einwände nicht einzelne Beispiele und die Möglichkeit eines punktuellen Irrtums, sondern den Koran als Gesamtwerk. Darüber hinaus richteten sie sich nicht gegen den Koran, wie im Falle der Bibel, begegneten ihm vielmehr als eine Andeutung seiner Göttlichkeit. Den Einwand, dass der Koran „Anspruch an die Ehre, eine Offenbahrung zu seyn, machen könnte“, entkräftete Michaelis ebenso wie jenen der „Widersacher[] der christlichen Religion“, die ihn erhöhten, „um die Bibel herunter zu würdigen“.872 Insgesamt ergab die Untersuchung zwar, dass der Koran den Kriterien einer göttlichen Offenbarung verschiedentlich gerecht werde, grundsätzlich aber bestehe er die Prüfung nicht. Die Entkräftung bediente sich der 869 Ebd., 34. 870 Ebd., 40. 871 Ebd., 51. 872 Ebd., 30.

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Strategie einer doppelten Entlarvung: von Irrtümern des Korans einerseits, seines „betrügerischen“ und „wahnwitzigen“873 Propheten andererseits. Weitere Strategien – etwa Abschreibfehler – sind nicht erkennbar. Den Versuch einer vernünftigen Erklärung einer unverständlichen, vielleicht auch irrtümlichen Perikope unternahm Michaelis in Untersuchung des Korans nicht. Wenn er darauf verwies, dass der Koran „Maria Jesu Mutter für Maria Mosis Schwester“ hielte, zog er nicht in Betracht, dass das der Begriff „Schwester“ auch im übertragenen Sinne verstanden werden könnte,874 dass Muslime Mirjam und Maria zu unterscheiden wissen. Wenn Michaelis Mohammed, der „Mecca, dem ungläubigen Mecca den Untergang“ gedroht habe, der falschen Weissagung bezichtigte, gab er wie auch beim vorherigen Beispiel nicht an, auf welche Sure er sich bezog. Eine Koran-Konkordanz, die auf der Suche nach der Prophezeiung eines Untergang Mekkas bemüht werden muss, führt zu Spekulationen. Denn der Koran beschreibt Mekka als „Mutter der Städte“ (Sure 6,92. 42,7), als einen „Versammlungsort für die Menschen“ (Sure 2,125) und eine „heilige“ (vgl. z.B. Sure 27,91) und „sichere Stätte“ (vgl. z.B. Sure 2,125), „voller Segen und Rechtleitung für die Weltenbewohner“ (Sure 3,96).875 Unheilsprophetie nach mustergültigen Sätzen wie „[Mekka] ist eine Stadt, die heimgesucht werden soll“ (vgl. Jer 6,6) oder auch „Und ich will [Mekka] zu Steinhaufen und zur Wohnung der Schakale machen“ (vgl. Jer 9,10; Mich 3,12) findet sich im Koran nicht. Einzig im Zusammenhang mit der Schlacht von Badr werden verschiedentlich Drohworte gegen die „ungläubigen“ Mekkaner erwähnt (vgl. Sure 8,14.19.34),876 die allerdings an keiner Stelle den Untergang Mekkas prophezeien. Tatsächlich aber behauptete Michaelis auch nicht, Mohammed predige den Untergang Mekkas, sondern den Untergang des ungläubigen Mekkas. Doch er scheint es behauptet haben zu wollen. Denn wie sonst ließe sich erklären, dass er Mohammed in der Absicht, ihn falscher Weissagungen zu überführen, einer wahren bezichtigte. Schließlich endete die Schlacht von Badr mit einem Sieg der Muslime über die nichtmuslimischen und in diesem Sinne ungläubigen Mekkaner. Wollte Michaelis aber 873 Vgl. ebd., 19. Hier heißt es: „Welches Buch falsche Weissagungen enthält, ist gewiß keine göttliche Offenbahrung, sondern das Werk eines Betrügers oder Wahnwitzigen.“ 874 Vgl. WENSINCK, A.J.: Maryam. In: The Encyclopaedia of Islam VI (1991), 628-632 (hier: 630): „It is not necessary to assume that these kinship links [to Moses and Aaron] are to be interpreted in modern terms. The words ‚sister‘ and ‚daughter‘, like their male counterparts, in Arabic usage can indicate extended kinship, descendance or spiritual affinity.“ 875 KHOURY, Adel-Theodor [Hg.]: Mekka. In: Ders. [Hg.]: Themenkonkordanz Koran. Gütersloh 2009, 280f. 876 Vgl. zu Sure 8 KHOURY, Adel Theodor: Der Koran: Arabisch-Deutsch: Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar: Band 7: Sure 7,1-206. Sure 8,1-75. Sure 9,1-129. Gütersloh 1996.

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den Untergang Mekkas behaupten, so erweist er sich selbst als der Betrüger, den er in Mohammed zu sehen wünschte. Resümierend ist festzuhalten, dass sich die Prüfungen von Bibel und Koran im Hinblick auf ihre Struktur nicht unterschieden. Und dennoch sprach Michaelis anders von der Bibel als vom Koran. Während er die Göttlichkeit der Bibel im Moment des Einwands bestritt, war es gerade diese Göttlichkeit, derer er den Koran verdächtigte. Die Entkräftung gestaltete sich in beiden Prüfungen gleich, insofern sie die Widerlegung des Einwandes bezweckte. Unterschiedlich hingegen waren die Behauptungen, die die Analysen begleiteten. Dem Einwand, die Bibel sei nicht göttlich, entgegnete Michaelis die Behauptung, die Bibel sei eigentlich gar nicht die Bibel, denn Prüfungsgegenstand dürfe allein ein sorgfältig beschnittenes Buch sein. Gegen den Koran protestierte Michaelis mit dem Hinweis auf verschiedene Irrtümer, die seine Göttlichkeit in Berücksichtigung der „Kennzeichen einer verwerflichen Offenbahrung“ ganz grundsätzlich bestreiten würden. Dass es sich hierbei vor allem um eine Behauptung, nicht aber um ein Ergebnis handelte, ergibt sich aus der Qualität der Kennzeichen, die ebenfalls als Behauptungen betrachtet werden müssen, insofern sie die Prämisse der Untersuchung bilden. Insgesamt erweisen sich die Prüfungen somit als Konstruktionen, deren Absicht es war, den Alleinanspruch der Bibel auf das Prädikat „göttlich“ festzustellen. 5.1.3 Über das Land und seine Bewohner Neben seiner ausführlichen Vorstellung des arabischen Geschmacks und der arabischen Religion beschrieb Michaelis Arabien und die Araber selbst nur sehr marginal. Der wahrscheinliche Grund für die fehlende eigenständige Behandlung des Themas erschließt sich im Kontext der Arabischen Reise. Mit seinen 100 „Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer“ legte Michaelis ausdrücklich ein Geständnis seiner „Unwissenheit“ ab.877 Land und Bewohner waren ihm folglich grundsätzlich nicht vertraut. Zugleich zeigt die verhaltene Reaktion auf Niebuhrs Beschreibungen, dass sich sein Interesse an den Arabern und Arabien in ihrer Abbildung der mosaischen Zeit erschöpfte. Fehlendes Wissen und Interesse hielten ihn indes nicht davon ab, sich zumindest durch vereinzelte Anmerkungen zum Thema zu äußern. Im nicht merklichen Modus des Spekulativen enthalten bereits die „Fragen“ verschiedentlich Darstellungen der Araber. Anders als Europäer würden sie häufiger baden, seien geneigter zu „künstlichen Geilheiten“ und „unreinen Spielen“, trieben Vielweiberei, hätten „eine sonderbare Lust zum Beischlaf in der Zeit der monatlichen Reinigung“ etc. Über die „Fragen“ hinaus finden sich in Michaelis’ „Orientalischer und Exegetischer Bibliothek“ und in seinem „Mosaischen Recht“ hin und wieder größere und zum Teil wiederkehrende Motive über das Land und 877 Vgl. Michaelis: Fragen, Vorrede (*36).

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seine Bewohner. So bemerkte Michaelis z.B., dass die Araber die Lebensart der „herumziehenden Hirten“ für edler hielten als die städtische: „Sie kommt ihnen […] freyer vor, weil man den herumziehenden Hirten, der sich mit seinen Heerden tief in die Wüsten begiebt, weniger zwingen kann, als den, der Haus und Acker hat“.878 Hinsichtlich einiger Sitten und Gebräuche erwähnte er, dass sich die Araber nach Niebuhrs Zeugnis „den Knebelbart, auf den einige Orientalische Völker so viel halten“, „entweder gar abzuscheeren“ pflegen „oder ihn doch nur sehr kurz […] tragen“.879 Auch sei es üblich „sich mit der ein unauslöschliches Dunkelblau zurücklassenden Al=Henna allerley Figuren und Charactere in die Haut zu brennen“. Einige würden „diese eingebrannten Mähler öffentlich im Gesicht und auf den Händen“ tragen, andere „an Orten des Leibes, die unter der Kleidung bedeckt sind“, z.B. auf dem Arm. Die Gründe für diese Sitte könnten verschieden sein. „[B]isweilen“ handle es sich bei dieser Art der körperlichen „Denkmähler“ um „Zierath“, „ein anderes mahl“ um „Aberglauben, einem Abgott zu Ehren, oder auch blos zum Andenken“. Michaelis hielt die vermutlich alte Sitte für eine „wunderliche Verstellung des Leibes“ und empfahl, sie zu verbieten, wie Moses es tat. Möchte auch „die lächerliche Göttin der Mode sie für Schönheit erklärt“ haben, „[w]enn sich die Mode ändert, kann man das Mahl nicht wieder ändern, und Völkern, die nicht eben so thöricht sind, ist man lächerlich“.880 Gelegentlich stellte Michaelis einzelne Tugenden der Araber vor, so z.B. die Ehre. Schon Laurent d’Arvieux habe bemerkt, „daß Eltern und Brüder sich noch jezt durch Unzucht ihrer Töchter und Schwestern für weit mehr entehret halten, als die Ehemänner, weil, wie sie sagen, der Mann seine Frau von sich jagen kann, Tochter und Schwester aber nie aufhört, Tochter und Schwester zu seyn, und daß, ungeachtet der Muhammedanischen Religion, die Rache der Araber gegen eine sie entbehrende [sic!] Tochter bisweilen noch jezt bis auf den Tod gehet“.881 Und auch die „Rache des Bluts“ könne als eine arabische Tugend bezeichnet werden. Zwar betonte Michaelis, dass er hier „nicht alle Araber ohne Unterschied“ meine, sondern vor allem die Beduinen, urteilte aber zugleich, dass „Recht und Pflicht, das Blut []eines entleibten Verwandten zu rächen“, „das herrschende Point d’honneur der ganzen Nation“ ausmache. Die „Rache des Bluts“ sei den Arabern das „höchste[] Lob“ und würde für Tapferkeit und Adel angesehen, während der höchste Grad der Verachtung den strafe, „der das Blut seines Verwandten nicht gerochen hat“. Gegenüber den sogenannten „pöbelhaft[en]“ Lastern des „filzigen Geiz[es]“ und der „Feigheit“ verbände die Blutrache zwei Tugenden, die die Araber „edel, oder adelich […] zu nennen pflegen, Tapferkeit, und Edelmüthigkeit in Absicht auf das 878 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. I 2(1793), 197. 879 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. IV 3(1799), 357. 880 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. IV 3(1799), 355f. 881 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. V 2(1792), 184.

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Geld“. Denn man müsse tapfer sein, um sich der Rache zu stellen, „und das Geld nicht lieben, sonst würde man […] Lösegeld annehmen, das oft für die Sicherheit des Lebens geboten“ würde, „und eins von beyden Lastern muß zum Grunde liegen, wenn man das Blut nicht rächet, entweder Mangel der Herzhaftigkeit, oder niedrige Gewinnsucht, die das Lösegeld annimmt“.882 Nach dem Zeugnis verschiedener Reisender könne die Gastfreiheit als eine Tugend der Araber, sonderlich der Beduinen gelten.883 Allein Eyles Irwin884 ginge so weit, das Gegenteil zu behaupten, „sich überall über Mangel der Hospitality zu beschweren“ und „seinen Lesern zu sagen, was andere Reisebeschreiber von der Redlichkeit der Araber gegen ihre Gastfreunde erzählen, habe er falsch befunden“.885 882 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. II 2(1793), 314f. 883 Michaelis berief sich hier auf die Zeugnisse von Carsten Niebuhr und Stephan Schulz. Schulz war „reisender Mitarbeiter“ des Callenbergischen Instituti Iudaici und verfasste ein fünfbändiges Werk (1771-1775), in dem er „die Führungen des Höchsten“, die er auf seinen Reisen durch Europa, Asien und Afrika erfahren habe, beschrieb (Vgl. SCHULZ, Stephan: Der Leitungen des Höchsten nach seinem Rath auf den Reisen durch Europa, Asia und Africa: Erster Theil: Aus eigener Erfahrung beschrieben; und auf vieles Verlangen dem Druck übergeben von M. Stephanus Schulz: vormaligen zwanzigjährigen reisenden Mitarbeiter bey dem Callenbergischen Instituto Iudaico, jetzigen Prediger bey St. Ulrich in Halle, und Director der besagten Anstalt. Halle 1771, Widmung). Im zehnten Teil seiner „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ rezensierte Michaelis den fünften und letzten Teil von Schulz’ „Leitungen des Höchsten“ und schrieb (vgl. Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. X [1776], 79f): „Die Haupttugend der Beduinen scheint denn doch am Ende die schon sonst bekannte sehr heilige Beobachtung der Gastfreundschaft zu seyn. Bey dieser hat das genossene Salz des andern sehr viel zu sagen: S. 246-249. Wer mit ißt, wenn das Salzfaß dabey stehet, darf dem, dessen Brodt er, oder der seins gekostet hat, nichts thun, wenn sie auch von einem feindlichen Stamm wären. Ein Araber selbst erzählte Herrn Sch. die Geschichte: eine Caravane merkt, daß gewisse feindliche Araber in der Ferne auf sie losgehn wollen, ein Kauffmann gräbt gleich sein Geld ein, macht Feuer darüber, kocht zu, empfängt die ankommenden Araber freundlich, und ohne zu bemerken, daß das Salzfaß dabey stehet, lassen sie es sich wohlschmecken; der Anführer erblickt das Salzfaß, sagt zum Kaufmann, mein Schade ist dein Vortheil, beraubt sie nicht allein nicht, sondern escortirt die Caravane umsonst bis an den Euphrat.“ 884 IRWIN, Eyles: A series of adventures in the course of a voyage up the Red-Sea, on the coasts of Arabia and Egypt; and of a route through the desarts of Thebais, hitherto unknown to the European traveller, in the year M.DCC.LXXVII. In Letters to a Lady. By Eyles Irwin, Esq. In the service of the honble. The East-India Company. Illustrated with maps and cuts. London 1780. 885 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XVI (1781), 23.

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Michaelis unterstellte Irwin, „sehr übel unterrichtet[]“ zu sein. Denn er schreibe ausschließlich von Stadteinwohnern, die sich wohl nicht in Hospitalität üben sollten, „sonst würden sie sehr überhäufft werden: sie sind Gastwirthe und auch in Europa giebt es Coupegorgen [d.s. Spelunken]“. Andere Reisende hingegen redeten von der Gastfreiheit der Beduinen, „die umsonst bewirthen“.886 Außerdem, und dies sei zugleich „das schlimmste“, habe Irwin nicht „am gemeinschaftlichen Tisch“ gegessen, „der eigentlich die Heiligkeit der Gastfreundschaft knüpfet“.887 Auch gegen weitere Beschwerden Irwins verteidigte Michaelis die Araber. Irwin selbst müsse sich für das „viele[] Widrige[], so [er] wirklich erlitten hat“, verantworten, denn er „verstand […] kein Wort Arabisch“, „schickte […] sich gar nicht in die Sitten der Araber“, „lebte, so viel er konnte, Englisch“ und hatte „bey Tische silberne Löffel und Becher“. Unter diesen Umständen sei es wenig verwunderlich, dass er „Bösewichter“ und auch „manche[] sonst nicht so bösen“ anzog.888 Die „Geldschneidereyen“ und Plünderungen, die Irwin der ganzen Nation nicht vergebe, seien „lauter Dinge […], die einem fremden der Sprache Unkundigen, ja wohl ihm selbst auch in England begegnen könnten, wenn er, wie er das Unglück hat, an die unrechten Leute käme“.889 „Andern Reisenden zum Besten, und um der Abschreckung von solchen Reisen vorzubeugen“, negierte Michaelis die Existenz einer arabischen Tugend zum Verbrechen und betonte, dass in Arabien mit ebenso vielen Gaunereien zu rechnen sei wie in Europa. Insgesamt empfahl er künftigen Reisenden, sich „in die Sitten, auch in die Armuth der Nation [zu] schicken“, denn so sei man sicherer.890 Mit dem Hinweis auf die arabische Tugend der Rachgier warnte er allerdings vor der Idee „manche[r] jener Länder nicht kundigen Leser“, sich gegen Übergriffe zu wehren und zitierte in diesem Punkt den Bericht Irwins: „Hätte jemand von ihnen [der reisenden Gesellschaft um Irwin] einen Muselman, auch noch so sehr in der rechtmäßigsten Vertheidigung seines Eigenthums oder Lebens, getödtet, so 886 Ebd., 48f. 887 Ebd., 24. 888 Ebd., 25f. Vgl. zum Hintergrund der silbernen Löffel und Becher ebd.: „Der bis zum Enthusiasm bewunderte grosse Scheick der Araber, der in Person kam, ihn zu retten, und ihm so sehr gütig begegnete, machte es ihm […] auf eine sehr höfliche Weise kenntlich. Irwin und seine Gesellschaft hatten bey Tische silberne Löffel und Becher, (die der grosse Scheick selbst nur von Holtz hatte) dis brachte sie bey einem sehr armen Volk in den Ruf, daß sie ausnehmend reich wären, und unermeßliche Schätze bey sich hätten. So viel eingebildete Schätze reitzten alle Bösewichter, und machten manchen sonst nicht so bösen zum Bösewicht.“ 889 Ebd., 23. 890 Ebd., 25f.

236 | F REMDE V ERGANGENHEIT würde nicht blos er, sondern die übrige unschuldige Gesellschaft, das Opfer der Rache unausbleiblich geworden seyn; denn nach Muhammedanischer Denkungsart, wie sie jetzt ist, ist freilich blos der Muhammedaner, Mensch, sein Leben heilig, und andere Menschen nicht Menschen, nicht einmahl zur Selbstvertheidigung berechtigt.“

891

Michaelis scheint zu behaupten, dass die „Muhammedanische Denkungsart“ einer Dynamik der Verrohung unterliege. Im Zuge einer Art frommer Entmenschlichung aller Nicht-Muslime verhindere sie gar die bloße Selbstverteidigung. Und nach diesem Hinweis auf die Gefahren der arabischen Rachgier widersprach Michaelis auch einer weiteren Vorstellung Unkundiger. Der Name „glückliches Arabien“, der dem „wüsten Arabien“ entgegengesetzt werde, würde einige betrügen. Sie stellten sich nach einer etwa „von Bewunderung und Liebe angefeurten Imagination“ vor, dass Arabien eine „viel prächtigere Natur“ böte als Europa. Allerdings wiesen verschiedene Reisebeschreiber darauf hin, dass die arabischen Gegenden in ihrer „Schönheit“ nicht mit europäischen zu vergleichen seien, vor allem nicht „mit den entzückenden Deutschlandes am Rhein und Mayn“.892 Die paradiesische Beschreibung des glücklichen Arabiens durch arabische Poeten gründe vermutlich darin, dass „die nicht so verschwenderische Natur den Menschen auf alle einzeln hingeworfene Schönheiten aufmerksahmer gemacht“ habe, „als bey uns, wo er ihrer zu viele hat“: „man wird mich verstehen, wenn man daran denkt, wie viel die Orientalischen Dichter das Wasser, die Quellen, ihre Schönheit, ihrer Süssigkeit, beschreiben; sie haben ihrer so wenig gute, daß jeder kleine wohlschmeckende Quell, den wir mit Füßen treten, entzückt.“

893

Michaelis nahm an, dass aus der Armut der Natur die Armut auch der arabischen Bevölkerung resultiere. Seine Vermutung würde durch einen mündlichen Bericht Carsten Niebuhrs bestätigt: „[D]ie Natur ist gegen Arabien so ungütig gewesen, daß die meisten Araber ordentlich arm seyn müssen, wenn nicht etwan einmal eine einzelne Familie oder Stadt durch Handlung oder durch ein besonderes Glück in der Schaafzucht bereichert wird […] und Herr Niebuhr hat mir mündlich von der Armuth der Araber eine Beschreibung gemacht, die das überstieg, was ich erwartet hätte.“

894

891 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XVI (1781), 26f. 892 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VII (1774), 103f. Vgl. auch Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. X (1776), 109. 893 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VII (1774), 37f. 894 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. II 2(1793), 146f.

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Michaelis zitierte Niebuhr nicht, verwies aber im vierten Band seines „Mosaischen Rechts“ ebenfalls auf einen mündlichen Bericht Niebuhrs zur Frage der arabischen Armut, der auch der Klärung dieser Stelle dienen mag. Im Kontext der Erläuterung der Opfergesetze hatte Michaelis bemerkt, „daß man in den südlichern Ländern nicht so täglich Fleisch ißt, als bey uns“, eine „gar zu lange“ Entbehrung allerdings zu einer „fast zur Krankheit werdende[n] Lüsternheit nach Fleisch“ führe, die freilich „wir“ nicht kennen würden, „weil wir täglich Fleisch essen, und bey uns der Aermste, Dienstboten, Tagelöhner, ja selbst Bettler nicht ausgenommen, schwerlich ganze Jahre hinbringen […] ohne Fleisch zu kosten“. Nach Niebuhrs Bericht aber lebten in Arabien „die Reichen fast nur so, wie bey uns die Armen“ und die Krankheit sei bekannt, hätte „sogar ihren eigenen Namen“.895 In vorläufiger Zusammenfassung der verschiedenen Punkte lässt sich festhalten, dass Michaelis die Araber als über Erwartung arm, gastfreundlich, ob einer ausgeprägten Rachgier aber als höchst gefährlich beschrieb. Die Vorstellung paradiesischer Pracht des Landes sei ein ebensolcher Irrtum wie jene der Göttlichkeit der muslimischen Religion. Letztere wäre zwar zuweilen ziemlich gut, grundsätzlich aber schlecht und habe den daeinst goldenen arabischen Geschmack verdorben. Als Moslem erschien der Araber in der zweiten Gestalt, die ihm Michaelis zu geben vermochte, nachdem er ihn als Überlebenden der mosaischen Zeit beschrieben hatte. Mit dem arabischen Juden nannte Michaelis einen dritten Araber, der nachfolgend im Fokus stehen soll.

5.2 D IE J UDEN 5.2.1 Über die arabischen Juden Michaelis interessierte sich für die arabischen Juden nur insoweit, als er für ihre Irrelevanz hinsichtlich der orientalischen Studien zu argumentieren versuchte. In seiner „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen“ erklärte er, dass Juden, obwohl sie die ersten „Lehrmeister“ der Christen im Hebräischen gewesen seien, nicht in sprachlicher und infolge der Diaspora auch nicht in sittlicher Sukzession zu den Israeliten der mosaischen Zeit stünden. Ihre Sprache sei nicht mehr denn ein „Europäisch=Hebräisch“, dessen beste Erkenntnisse schon bekannt wären, von deren Poesie „einem, der Geschmack hat, übel“ würde. Insgesamt folglich könnten arabische Juden im Gegensatz zu nichtjüdischen Arabern nicht als zuverlässiger Zeuge für die Erklärung des Hebräischen beansprucht werden.896 Die „chiastische Übertragung“897, mittels derer Michaelis im 895 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. IV 3(1799), 66f. 896 Vgl. Punkt 4.1 dieser Arbeit.

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muslimischen Araber den Patriarchen der Vergangenheit erkennen konnte, war ihm bei jüdischen Arabern nicht möglich. Im dritten Band seiner „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ schrieb er: „Juden und Israeliten ist ja nicht völlig einerley. Doch ohne über den Nahmen zu streiten! es ist eine solche Abwechselung von Glück und Cultur unter den Völkern, daß der jetzt verächtliche Nahme, Jüdisch, sehr unglücklich auf Israeliten vor 2500 oder 3000 Jahren angewandt wird, von deren Cultur wir solche Denkmähler, als das Buch Hiob und die Psalmen, übrig haben.“

898

Die michaelischen Vorstellungen lassen vermuten, dass er Juden sehr viel mehr zur Sphäre des Eigenen als des Fremden zählte. Ebenso wie das „wir“ seiner Argumentation haben sie den Zugang zur Vergangenheit verloren, und besitzen nun „weiter nichts, als eben die Hülfs=Mittel“, die wir haben, das fremdgewordene Eigene zu verstehen.899 Gleichzeitig jedoch deutete Michaelis an, dass Juden keineswegs zum „wir“ gehören, vielmehr scheinen sie Teil eines „verachteten“ Volkes zu sein, dessen Heimat weder Arabien, noch Europa, sondern die Diaspora ist. Dieser Andeutung soll im Folgenden nachgegangen werden. Dazu wird zunächst Michaelis’ Auseinandersetzung mit Lessings Lustspiel „Die Juden“ vorgestellt, die exemplarisch weiteren Aufschluss über sein Bild der Juden, ferner auch Einblick in sein christliches Selbstverständnis bzw. das „wir“ gibt. Ergänzend wird Michaelis’ Rezension von Christian Wilhelm von Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ besprochen. Der Text ist nicht von exemplarischer, sondern rezeptionsgeschichtlicher Relevanz und wird gemeinhin zitiert, um den Vorwurf des Antisemitismus gegen Michaelis zu erheben. Zu betonen bleibt, dass das michaelische Bild der Juden mittels der Bezugnahme auf nur zwei Auseinandersetzungen natürlich nicht hinlänglich beschrieben werden kann. Allerdings wäre eine ausführliche Besprechung der Absicht dieser Arbeit nicht gemäß. Für die Darstellung anderer relevanter Werke und Konflikte sei auf die Dissertationsschrift „Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung: Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitis-

897 Vgl. WEIDNER, Daniel: Strategien des Wissens, Taktiken des Reisens – Carsten Niebuhrs Reisen im Orient. In: Böhme, Hartmut [Hg.]: Topographien der Literatur: Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart 2005, 100-125 (hier: 103): „Michaelis will Unterstützung bei der Bibelauslegung, aber er will keine Altertümer; er will etwas über Israel herausfinden, aber nicht in Palästina, sondern in Arabien – in einer chiastischen Übertragung führt die Reise ins gegenwärtige Arabien in eine andere Zeit und einen anderen Raum: in das Israel der Patriarchen.“ 898 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. III (1772), 68. 899 Vgl. Michaelis: Beurtheilung, 30.

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mus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717-1791)“900 von Anna-Ruth Löwenbrück verwiesen. 5.2.2 Über die Juden im Allgemeinen – Michaelis’ Reaktion auf Lessings Lustspiel „Die Juden“ In seinem 1749 verfassten Lustspiel „Die Juden“901 schilderte Gotthold Ephraim Lessing die Begegnung eines Juden mit den Vorurteilen seiner Zeit: Ein Baron wird von seinem verkleideten Vogt und dessen Kumpanen überfallen und durch einen Reisenden gerettet. Aus Dankbarkeit nimmt der Baron den Reisenden mit auf sein Anwesen, wo verschiedene Protagonisten Hetzreden über Juden führen,902 denen gegenüber sich der Reisende als geduldig und höflich erweist. Als er am Ende des Stückes zunächst die wahren Diebe, sodann sich selbst als Jude enttarnt, erbittet er nicht mehr, als dass man „künftig von [seinen] Brüdern etwas gelinder und weniger allgemein urtheile[]“903. Nach kurzer Empörung schämen sich die Beteiligten ihres Verfahrens und alle Vorurteile sind dahin. Michaelis reagierte auf die Veröffentlichung des Stücks mit einer kurzen Beurteilung in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“904. Er resümierte, dass der „Endzweck“ des Lustspiels „auf eine sehr ernsthafte Sitten=Lehre [gehe], nehmlich die Thorheit und Unbilligkeit des Hasses und der Verachtung zu zeigen, 900 LÖWENBRÜCK, Anna-Ruth: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung: Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717-1791). Frankfurt a.M. 1995. 901 LESSING, Gotthold Ephraim: Die Juden: Ein Lustspiel in einem Aufzuge: Verfertiget im Jahr 1749. In: Ders.: G.E. Leßings Schrifften. Vierter Theil. Berlin 1754, 225-312. 902 Vgl. z.B. Martin Krumm (Lessing: Die Juden, 2. Auftritt [S. 235f]): „Ja! Ja! Ja! Das glaub ich ganz gewiß auch, daß es Juden gewesen sind. Sie mögen das gottlose Gesindel noch nicht so kennen. So viel als ihrer sind, keinen ausgenommen, sind Betrieger, Diebe und Strassenräuber. Deßwegen ist es auch ein Volk, das der liebe Gott verflucht hat. Ich dürfte nicht König seyn. Ich lies keinen, keinen einzigen am Leben.“ / Baron (Lessing: Die Juden, 6. Auftritt [S. 253]): „Ein Volk, das auf den Gewinst so erpicht ist, fragt wenig darnach, ob es ihn mit Recht oder Unrecht, mit List oder Gewaltsamkeit erhält - - Es scheinet auch zur Handelschaft, oder deutsch zu reden, zur Betriegerey gemacht zu sein. Höflich, frey, unternehmend, verschwiegen, sind Eigenschafften die es schätzbar machen würden, wenn es sie nicht allzusehr zu unserm Unglück anwendete - (er hält etwas inne) - - Die Juden haben mir sonst schon nicht wenig Schaden und Verdruß gemacht […] O! es sind die allerboßhaftesten und niederträchtigsten Leute.“ 903 Lessing: Die Juden, 22. Auftritt (S. 309). 904 Göttinigische Anzeigen von gelehrten Sachen. unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. 70. Stück. Den 13. Junius 1754.

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damit wir den Juden meistentheils begegnen“. Nach michaelischer Einschätzung allerdings verfehle das Stück seine Absicht, denn: „Der unbekannte Reisende ist in allen Stücken so vollkommen gut, so edelmüthig, so besorgt, ob er auch etwan seinem Nächsten Unrecht thun und ihn durch ungegründeten Verdacht beleidigen möchte, gebildet, daß es zwar nicht unmöglich, aber doch allzu unwahrscheinlich ist, daß unter einem Volcke von den Grund=Sätzen, Lebens=Art, und Erziehung, das wircklich die üble Begegnung der Christen auch zu sehr mit Feindschaft oder wenigstens mit Kaltsinnigkeit gegen die Christen erfüllen muß, ein solches edles Gemüth sich gleichsahm selbst bilden könne.“

905

Ein derart edler Jude, wie ihn Lessing mit dem Reisenden vorstelle, war Michaelis eine doppelte „Unwahrscheinlichkeit“. Erstens würden die „Grund=Sätze[] der Sitten=Lehre […] eine allgemeinere Redlichkeit“ verhindern, „sonderlich da fast das gantze Volck von der Handlung leben muß, die mehr Gelegenheit und Versuchung zum Betruge giebt als andere Lebens=Arten“.906 Und zweitens müsste „die üble Begegnung“ mit Christen, – obgleich sie darauf verweise, dass „die Laster der Juden […] mehr Laster ihres Unglücks […] als der Leute und des Volcks selbst sind“, – eher „Kaltsinnigkeit“, denn Güte bewirken. Lessing antwortete auf die michaelische Beurteilung seines Stückes mit einem längeren Artikel in der „Theatralischen Bibliothek“907. Er bestritt die Unwahrscheinlichkeit eines edlen Juden und merkte an, „daß dieses eben das Vorurtheil ist, welches [er] durch [sein] Lustspiel zu schwächen gesucht habe; ein Vorurtheil, das nur aus Stolz oder Haß fliessen kann, und die Juden nicht blos zu rohen Menschen macht, sondern sie in der That weit unter die Menschheit setzt“.908 „[L]ieber“ aber wolle er „einen andern reden lassen, dem dieser Umstand näher an das Herz gehen muß; einen aus dieser Nation selbst“909, einen, der „schamroth […] nicht im Stande“ sei „alles auszudrücken“, was ihn Michaelis’ Gedanken „haben empfinden las905 Vgl. auch ebd.: „Allein es kam uns stets vor, die Zuschauer würden aus Mangel der Wahrscheinlichkeit, daß es solche Juden gebe, nicht gerühret seyn.“ 906 Vgl. auch ebd.: „Aber auch die mittelmäßige Tugend und Redlichkeit findet sich unter diesem Volcke so selten, daß die wenigen Beyspiele davon den Haß gegen dasselbe nicht so sehr mindern, als man wünschen möchte.“ 907 LESSING, Gotthold Ephraim: Ueber das Lustspiel die Juden, im vierten Theile der Leßingschen Schriften. In: Ders.: Theatralische Bibliothek: Erstes Stück. Berlin 1754, 279-291. 908 Lessing: Ueber das Lustspiel die Juden, 283. Lessing betonte, dass es ihm mit seinem Lustspiel keineswegs darum ginge, „Juden […] bloß als ein unterdrücktes Volk“ darzustellen, sondern sie „als Juden“ zu betrachten (ebd., 291). 909 Lessing: Ueber das Lustspiel die Juden, 284.

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sen“910: Moses Mendelssohn. Empört über die „Göttingische Erinnerung“ hatte sich dieser 1754 mit einem Brief an den Berliner Arzt Aaron Emmerich Gumpertz gewandt, den Lessing nun vollständig wiedergab. „In Wahrheit! mit welcher Stirne kann ein Mensch, der noch ein Gefühl der Redlichkeit in sich hat, einer ganzen Nation die Wahrscheinlichkeit absprechen, einen einzigen ehrlichen Mann aufweisen zu können? […] Ist sein grausamer Richterspruch gegründet? Welche 911

Schande für das menschliche Geschlecht! Ungegründet? Welche Schande für ihn!“

Denjenigen, „der eine so allgemeine Verurtheilung“, wie sie Michaelis schreibe, „ohne Schauern“ lese, konnte Mendelssohn nur bedauern.912 Er vermutete, dass sie „aus der Feder eines Theologen geflossen“ sei, würden „[d]iese Leute [doch] denken der Christlichen Religion einen grossen Vorschub zu thun, wenn sie alle Menschen, die keine Christen sind für Meichelmörder und Strassenräuber erklären“.913 Die Vermutung Mendelssohns provozierte den entschiedenen Widerspruch Michaelis’, der sich in einer nächsten Ausgabe der „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“914 erneut äußerte. Zwar würde die „Leidenschaft“ des Briefes beweisen, dass sein Verfasser „sich sehr vor beleidiget hält“, aber dies könne nicht so weit gehen, „daß er wider alle Wahrscheinlichkeit“ meine, „die Recension dieser Comödie, diese grausame Seelen=Verdammung, möchte wol aus der Hand eines Theologen geflossen seyn: und darauf von Beurtheilern redet, die ihr Urtheil mit Blute versiegeln, mit denen wir, wie es scheint, in eine Classe kommen. Man lese doch die gantze Recension nach, und urtheile, ob ein so blutgierig=beschriebener Theologe, wenn er auch eine Comödie recensirte, so reden; ob er von dem Mangel an Tugend unter dem Jüdischen Volck so glimpfliche und zum Theil entschuldigende Ursachen angeben würde, als wir gethan haben. Hätte er ausser dem verstockten Unglauben an Christum, den 910 MENDELSSOHN, Moses: Brief an Gumpertz Ende Juni 1754. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Theatralische Bibliothek: Erstes Stück. Berlin 1754, 284-290 (hier: 285). Vgl. auch Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften: Bd. 11. Stuttgart 1974, 9-13. 911 Mendelssohn: Brief an Gumpertz Ende Juni 1754, 285. Vgl. auch ebd., 288: „Wie aber, soll dieses unglaublich seyn, daß unter einem Volke von solchen Grundsätzen und Erziehung, ein so edles und erhabenes Gemüth sich gleichsam selbst bilden sollte? Welche Beleidigung! so ist alle unsere Sittlichkeit dahin! so regt sich in uns kein Trieb mehr für die Tugend! so ist die Natur stiefmütterlich gegen uns gewesen, als sie die edelste Gabe unter den Menschen ausgetheilt, die natürliche Liebe zum Guten!“ 912 Ebd., 290. 913 Ebd., 287. 914 Göttinigische Anzeigen von gelehrten Sachen. unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. 146. Stück. Den 7. December 1754.

242 | F REMDE V ERGANGENHEIT wir nicht einmahl erwähnt haben, etwas genannt, so würden es bloß die bösen Sätze der Sitten=Lehre seyn, die einige Jüdische Lehrer geäussert haben, und die man gemeiniglich allen Juden ohne Unterscheid beymisset. Er würde vielleicht gar ihrer Gebete, die ihnen Haß gegen die Christen einflössen sollen, auf eine nicht richtige, aber unter solchen Eiferern nicht ungewöhnliche Art gedacht haben.“

Der Theologe, den Michaelis Mendelssohns Vermutung unterstellte, ist „blutgierig“, er urteilt übertrieben, scheut weder Verallgemeinerungen noch verzerrende oder gar falsche Darstellungen. Der Gedanke, Michaelis selbst könnte ein solcher Theologe sein, schien ihm, da er sich um entschuldigende Worte bemühe, und gewisse Argumente nicht einmal erwähne, gänzlich unwahrscheinlich. Der vermeintliche Theologe gab sich als Demokrat aus, wenn er – da ihn selbst die Kritik Lessings und Mendelssohn „nicht völlig überzeuget“, er aber nicht „Richter“ über seine eigene Rezension sein könne – den Leser um sein „unpartheyisch[es]“ Urteil bat. Und während der Leser zwischen den Unwahrscheinlichkeiten wählen durfte, zwischen nur frommem Gerede einerseits und nur naiver Prosa anderseits, erinnerte Michaelis, dass er einen „ausnehmend tugendhaften Juden nicht vor unmöglich, sondern vor allzu unwahrscheinlich gehalten“ habe. Lessings vornehmster Protagonist möchte ihm geantwortet haben, dass „[d]ie meisten Menschen […] zu verderbt [sind], als daß ihnen die Anwesenheit eines Wohlthäters nicht höchst beschwerlich sein sollte. Sie scheinet ihren Stolz zu erniedrigen“.915 5.2.3 Zur Frage der Judenemanzipation – Michaelis’ Rezension von Dohms „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden“ Im Jahr 1781 verfasste Christian Wilhelm Dohm die Schrift „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden“916. Mit der Absicht, „einen so beträchlichten Theil des Menschengeschlechts glücklicher und für unsre Staaten brauchbarer zu machen“ und „die Regierungen der Staaten [zu] ermuntern […], die Zahl ihrer guten Bürger dadurch zu vermehren, daß sie die Juden nicht mehr veranlaßten schlechte zu sein“,917 plädierte Dohm für die nutzbringendere Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft und ihre rechtliche Gleichstellung918. Sein Werk provozierte 915 Der Reisende in Lessing: Die Juden, 4. Auftritt (S. 244). 916 DOHM, Christian Wilhelm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin/ Stettin 1781. 917 Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Vorerinnerung. 918 Im Hintergrund dieser Forderung stand die Kritik an den sogenannten Judenverordnungen, die seit dem 16. Jahrhundert bestanden und Juden allein gegen Zahlung eines hohen Schutzgeldes den landesherrlichen Schutz gewährten. Dieser beinhaltete allerdings

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eine erhebliche publizistische Resonanz919 und veranlasste auch Michaelis zu einer ausführlichen Rezension des Werks in der „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“.920 Michaelis’ Beurteilung Dohms ging der relativierende Hinweis voraus, dass „dis Buch nicht sowohl in eine Orientalische, als politische Bibliothek“ gehöre, die „ausser [Michaelis’] Gesichtscraiß“ wäre. Allein weil man seine Meinung verlangt und um Klärung der Frage gebeten habe, „ob in der Verfassung und Religion des Jüdischen Volks etwas sey, daß Herrn D. Vorschlag unthunlich machte, oder begünstigte, so thue [er] es freymüthig, aber zugleich mit der zweifelnden sorgfältigen Aufmerksamkeit, die die Wichtigkeit der Sache erfodert“.921 Grundsätzlich hielt Michaelis Dohms Schrift für „[e]in wichtiges und sehr wohlgeschriebenes Buch“, obgleich er – wie er schon im ersten Satz der Rezension betonte – „in vielen Stücken verschieden denket“.922 In der Behauptung der größeren „Lasterhaftigkeit“ des Jüdischen Volks – wenigstens im Vergleich zu deutschen Bürgern – stimmte er Dohm zu, denn die „Diebes=Inquisitions=Acten“ würden belegen, „daß Juden 25mal lasterhafter sind als andere Einwohner Deutschlands“. Wie Dohm sah auch Michaelis die Ursache der gesteigerten „Lasterhaftigkeit“ in den Umständen, unter denen Juden lebten923: einzig das Recht, sich in einer Stadt niederzulassen und Handel zu treiben. Aus Zünften und Innungen waren Juden ausgeschlossen, der Zugang zu allen öffentlichen Ämtern und der Advokatur blieb ihnen verwehrt. Sie waren folglich auf Berufe beschränkt, die Christen als „unehrenhaft“ galten und Vorurteile provozierten (Vgl. Löwenbrück: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 34-36.52-58). Mit seiner Forderung der rechtlichen Gleichstellung der Juden verlangte Dohm die vollständige Erwerbsfreiheit ebenso wie die Abschaffung von Sonderauflagen, so auch des Schutzgeldes als Preis für die „bloße Existenz“: „Keine beschimpfende Unterscheidung müßte […] geduldet, kein Weg des Erwerbs ihnen gesperrt, keine andre als die gemeinen Auflagen von ihnen gefordert werden. Alle im Staat üblichen Abgaben müßten auch von ihnen entrichtet, aber ihre bloße Existenz nicht mit einem Schutzgeld erkauft, die Erlaubniß sich zu nähren nicht besonders bezahlt werden“ (Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, 110). 919 Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Schrift beantwortete Dohm mit einer Fortsetzung in Form eines zweiten Teils Einwürfe gegen eine „bürgerliche Verbesserung der Juden“: DOHM, Christian Wilhelm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden: Zweyter Theil. Berlin/ Stettin 1783. 920 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XIX (1782), 1-40. 921 Ebd., 3. 922 Ebd., 1. 923 Dohm war der Meinung, „daß die Juden von der Natur gleiche Fähigkeit erhalten haben, glücklichere, bessere Menschen, nützlichere Glieder der Gesellschaft zu werden;

244 | F REMDE V ERGANGENHEIT „[E]in Volk das […] von der kleinen Handlung leben muß, noch dazu von der Trödelhandlung, bey der täglich die Versuchung eintrit, gestohlne Waare zu kaufen, wird lasterhafter werden als wir, sonderlich, wenn bey ihm dadurch, daß es sich alle Verachtung gefallen lassen muß, die Ehre ganz ausgelöschet wird. Man nehme einem die Ehre, und das noch dazu einem Armen, für den sein Vermögen nicht Geissel stelle, so hat man den vollkommensten 924

lasterhaften“.

Nach dem Umstand der Beschränkung der wirtschaftlichen Möglichkeiten aber begründe die Religion der Juden einen Unterschied zu anderen Deutschen und Europäern, der hinsichtlich ihrer rechtlichen Gleichstellung zu bedenken sei. Denn die Juden hätten „sehr viel Nationalstolz, wozu ihr Begriff von sich als dem Volke Gottes wol nicht wenig beyträgt“, wenngleich Michaelis „aber auch nicht widersprechen [wolle], wenn man einen Theil davon auf das Temperament der Nation, das unverändert bleibt, weil sie sich nicht mit andern vermischt, rechnete“. Der Mangel an Ehre war Michaelis ebenso problematisch wie diese selbst, denn „der größste Theil der Juden“ würde „unerträglich, so bald er zu Ehren kommt“. Es gäbe zwar „Ausnahmen […]: aber sie sind doch selten“, so dass der Landesfürst „gegen seine angebohrnen Bürger hart handeln“ würde, wenn er „Juden vornehme Bedienungen anvertrauete“.925 Darüber hinaus enthielten „die Gesetze Mosis etwas, das die völlige Zusammenschmelzung der Juden mit andern Völkern, unmöglich macht, oder doch erschweret“. Denn „[i]hre Absicht ist es, sie als ein von andern Völkern abgesondertes Volk zu erhalten“.926 „und so lange die Juden Mosis Gesetze halten, so lange sie z.E. nicht mit uns zusammen speisen, und bey Mahlzeiten oder der niedrige im Bierkrug vertrauliche Freundschaft machen können, werden sie (von einzelnen rede ich nicht sondern von den größten Theil) nie mit uns so zusammenschmelzen, wie Catholic und Lutheraner, Deutscher, Wende und Franzose, die ein Einem Staat leben.“

927

Überhaupt würden die Juden einen Staat „immer als Zeitwohnung ansehen, die sie einmahl zu ihrem grossen Glück verlassen, und nach Palästina zurückkehren sollen“. Ein Volk, das solche Hoffnungen hege, würde „nie völlig einheimisch“, könne „wenigstens nicht die patriotische Liebe zum väterlichen Acker“ teilen, stünde sogar „in Gefahr, einmahl von einem Enthusiasten aufgewiegelt, oder vom Hameldaß nur die unseres Zeitalters unwürdige Drückung sie verderbt habe“ (Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden I, 130). 924 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XIX (1782), 5. 925 Ebd., 6f. 926 Ebd., 11. 927 Ebd., 12.

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schen Rattenfänger in die Irre geführt zu werden“.928 Insgesamt stelle die „Naturalisation der Juden“929 eine Bedrohung für den Staat dar. Denn der fehlende Patriotismus der Juden würde, „weil sie des Sabbaths nicht fechten“ von ihrer „Unbrauchbarkeit […] zu Kriegesdiensten“ begleitet.930 Diese führe den Staat in eine Ohnmacht und begünstige eine ungehinderte Vermehrung der Juden.931 Eine solche Zunahme der jüdischen Bevölkerung wiederum würde in dem „wehrlosesten verächtlichsten Judenstaat“ gipfeln, da „die deutschen Bürger […] gar beym Zunehmen der neuen Jüdischen abnehmen, und verdrängt werden“ möchten: „[B]ey schweren Kriegen […] [müssen] die Söhne des Bauren und Bürgers Soldaten werden […]; in einem solchen Kriege würde der mit Kriegesdiensten verschonte Jude sich sehr ausbreiten, und fast lauter Jüdische Handwerker würde man am Ende des Krieges sehen. Stände gar den Juden frey, Aecker, oder adeliche Güter an sich zu kaufen, und reiche Juden, die in andern Ländern nicht dergleichen Rechte hätten, wünschten ihr Geld anzulegen, so würden sie unsere Deutschen auskaufen, und denn hätten wir den wehrlosesten verächtlichsten Juden932

staat“.

Der „Alptraum“ einer deutschen „Nationalflagge mit schwarzem Hintergrund, rotem Halbmond und goldenen Sternen“,933 der in der jüngsten Vergangenheit an die Konsequenzen der Demokratie erinnert, scheint vor den Befürchtungen Michaelis’ wenig neu. Michaelis beschrieb die Abschaffung Deutschlands als die logische Konsequenz einer fatalen Politik, die Menschenliebe höher achtet als Darwinismus. Seiner Meinung nach würden „die Religionen einen […] grossen nie zu ändernden politischen ewigen Unterscheid“934 zwischen Deutschen und Juden begründen, so dass Juden „unsern Bürgern […] doch nicht gleich zu schätzen“ seien und „auch nicht völlig einerley Befreiungen mit ihnen geniessen sollen“.935 „Christen, die schützenden Bürger, die das Vaterland und auch den Juden mit dem Degen vertheidigen, Juden, Unterthanen die dem Staat nichts geben können, als Geld, auch nicht einmahl bis ins zehnte und spätere Geschlecht, Kinder zu Vertheidigung des Vaterlandes zeugen, wenn die Kinder nicht die väterliche Religion verlassen sollen. Auch hat Moses durch 928 Ebd., 13f. 929 Ebd., 7.11. 930 Ebd., 22. 931 Ebd., 15. 932 Ebd., 16f. 933 SARRAZIN, Thilo: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München 182011, 396.404. 934 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XIX (1782), 31. 935 Ebd., 12.

246 | F REMDE V ERGANGENHEIT seine Gesetze, sonderlich von reinen und unreinen Speisen, genug dafür gesorgt, daß sie, so lange sie diese halten, auch nach mehreren Geschlechten nie völlig mit uns als Ein Volk zusammenfliessen können.“

936

Die Unterschiede zwischen Christen und Juden, die Michaelis in der Auseinandersetzung mit Lessings Lustspiel und den Forderungen Dohms vorstellte, gründen in der Verschiedenheit der religiösen Voraussetzungen und ihren politischen Konsequenzen. An der Grenze der Religion stünden sich Christen, treue „Bürger“ ihres Vaterlandes, und Juden, geduldete „Unterthanen“ in einem einzig als „Zeitwohnung“ betrachteten Staat gegenüber. Im Gegensatz zu anderen Unterschieden wie z.B. der Wahrscheinlichkeit von Redlichkeit oder der Ausprägung des Hangs zur „Lasterhaftigkeit“, die z.B. durch die Aufhebung wirtschaftlicher Beschränkungen gemäßigt werden könnte, begründen die Religionen einen „nie zu ändernden“ und „ewigen“ Unterschied. Und während der Moslem auch als „Mohammedaner“ Zeuge der mosaischen Vergangenheit ist, bleibt der Jude immer nur Jude und untauglich für das Einerlei der Religionen.

5.3 D ER C HRIST „Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen haßt die andern Klumpen, weil sie 937

die andern sind […]“ KURT TUCHOLSKY

Das orientalische Glaubensbekenntnis Michaelis’ ist binitarisch konzipiert. Es behauptet die Auferstehung der israelitischen Ahnen in arabischen Muslimen. Infolge der Diaspora hätten Juden ihre Nähe zu den israelitischen Ursprüngen verloren, während ihr territorialer Status der Allgegenwart den Anspruch auf jede mit Ausnahme der göttlichen Staatsbürgerschaft verhindere. Der territoriale Ausschluss der Juden ist es, der Jonathan Hess zur These des „politischen Antisemitismus“938 Michaelis’ veranlasst. Hess führt das „rassisch antijüdische Vorurteil“ auf Michaelis zurück und stellt den Antisemitismus als ein Er936 Ebd., 31f. 937 TUCHOLSKY, Kurt: Der Mensch: Ein Schulaufsatz von Kaspar Hauser. In: Die Weltbühne 27 (1931), 889f. (hier: 890). 938 HESS, Jonathan M.: Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary: Orientalism and the Emergence of Racial Antisemitism in Eighteenth-Century Germany. In: Jewish Social Studies 6 (2000), 56-101 (hier: 58).

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gebnis der Entwicklungen in der biblischen Kritik und den orientalischen Studien vor939: „[T]he concept of antisemitism as it was used in the late nineteenth century was itself indebted to developments within Christian theological discourse. Indeed, the concept of an alien ‚Jewish race‘ that antisemites introduced as their innovation did not derive solely from nineteenth-century pseudoscience. It also had its roots in the ‚Orientalist‘ branch of theological discourse that, from the late eighteenth century on, had concerned itself with ‚Semitic‘ languages, ‚Semitic‘ peoples, and the ‚Semitic‘ race.“

940

Hess begründet seine These mit einer michaelischen „fantasy of Jewish colonial deportation“ zur „Lösung der jüdischen Frage“, die sich als ein „perverse symptom of a deep-seated Jew-hatred“ erweise.941 Sie offenbare sich in der Auseinandersetzung mit den Forderungen Dohms, konkret in folgender Äußerung: „Ein solches Volk [das Jüdische] kann uns vielleicht durch Ackerbau und Manufacturen nützlich werden, wenn man es auf die rechte Weise anfängt, noch nützlicher wenn wir Zuckerinseln hätten, die bisweilen Entvölkerung des Europäischen Vaterlandes werden, und bey dem 942

Reichthum den sie bringen ein ungesundes Clima haben“.

In seiner weiteren Argumentation beschreibt Hess die michaelische „Phantasie“ als eine andere Form des von Said formulierten Orientalismus. Mit dem Ziel, die Gegenwart zu „deorientalisieren“943, Mündigkeit („maturity“) über die „orientalische Kindheit“ zu gewinnen944 und die „imperiale Expansion“ zu rechtfertigen, behaupte Michaelis eine „intellektuelle Hegemonie“ Europas945. Zeuge seiner Behauptung ist Hess Michaelis’ „Mosaisches Recht“: „[H]is objective for writing the work [„Mosaisches Recht”] was to grasp the ‚foreign‘ and ‚Asiatic‘ laws of Moses in their historical specificity in order to enable Europeans to gain distance from their Oriental heritage. The clear-cut difference between Orient and Occident is not a given for Michaelis […] it represents precisely the distinction that Michaelis wants to produce […] Michaelis’s primary goal is not to empathize with the ancient Israelites but to intervene in contemporary politics. By putting the ‚foreign‘ and ‚Asiatic‘ laws of Moses in 939 Ebd., 59. 940 Ebd., 56. 941 Ebd., 59. 942 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XIX (1782), 12. 943 Hess: Colonial Imaginary, 65. 944 Ebd., 67. 945 Ebd., 62f.

248 | F REMDE V ERGANGENHEIT their proper historical context […] he wants to destroy their lingering hold on the present, purging the contemporary judicial system of traces of its Oriental heritage.“

946

Hess’ Thesen, seine Reduktion des michaelischen Werks auf die Idee von Rasse, Deportation, Säuberung und Lösung der jüdischen Frage, ist mit grundsätzlicher Kritik zu begegnen. Ihre Relativierung ergibt sich durch einen nur oberflächlichen Blick auf seine Rezeption der Quellen947 und die augenscheinlich anachronistische Konstruktion einer Kausalität zwischen Michaelis und der antisemitischen Realität des 20. Jahrhunderts. Erschreckend indes bleibt, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Hess der Begrifflichkeiten späterer Jahrhunderte bedienen kann, um seine Thesen zu stützen und dabei eine wissenschaftsethisch höchst problematische Verzerrung bzw. Transformation provoziert. Zur weiteren Besprechung seiner Thesen ist die Berücksichtigung des argumentativen Kontextes der michaelischen Ausführungen über die Araber und Juden, insbesondere auch ihrer Absichten notwendig. Michaelis behauptete die nächste Verwandtschaft zwischen dem Hebräischen und dem Arabischen. Aufgrund ihrer sprachlichen Nähe zur biblischen Vergangenheit erklärte Michaelis die Araber zum hilfreichsten Zeugen der Erklärung des „ausgestorbenen“ Hebräischen. Nicht nur aber verfügten sie über philologische Kompetenz, sondern stünden auch in sittlicher Sukzession zu den ehemaligen Israeliten, und zwar derart, „daß man glaubt, in der Hütte Abrahams zu seyn, wenn man

946 Ebd., 64f. [Herv. i.O.]. 947 Der oberflächliche Blick zeigt erstens, dass Michaelis den Begriff der „Rasse“ nicht verwandte. Vielmehr sprach er von „Juden“ und dies allenfalls mit dem Zusatz „Volk“ oder „Nation“. Zweitens ist die sogenannte „koloniale Phantasie“ keinesfalls Kennzeichen der Rezension. Michaelis äußerste sie allein punktuell und mit erheblichen Zweifeln: „Nur habe ich einen grossen Zweifel, ob die des Herumlaufens bisher gewohnten, sich vor Handarbeit so sehr scheuenden Juden, zum Ackerbau Lust haben werden. Auch werden christliche zu Kriegesdiensten brauchbare Colonisten, selbst aus andern Ländern, wenn man sie haben kann, dem Staat vortheilhafter seyn, als Jüdische“ (Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XIX [1782], 28). Drittens und zuletzt sei Michaelis’ sehr eindeutige Meinung zu Andreas Eisenmengers Werk „Entdecktes Judenthum“ (1711) zitiert: „Wer die besten Rabbinen selbst gelesen hat, wird wissen, daß Eisenmengers entdecktes Judenthum zwar ein curieuses Buch ist, das vielleicht geschrieben zu werden verdiente um auch Juden auf der schlimmen Seite kennen zu lernen, daß man aber doch der Jüdischen Religion groß Unrecht thun würde, wenn man sie darnach beurtheilte. Schriebe jemand nach eben der Art mit Aussuchung alles Bösen das sich bey irgend einigen unserer Schriftsteller fände, ein entdecktes Christenthum oder Lutherthum, so würden wir es mit Bewußtseyn unserer Unschuld eine Lästerschrift nennen“ (Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XV [1780], 177f.).

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die Beschreibung der herumziehenden Araber lieset“948. Im Sinne eines ex oriente lux behauptete Michaelis die Notwendigkeit der okzidentalen Begegnung mit dem Orient, um das fremdgewordene Eigene zu verstehen. In Umkehrung der These Hess’ ist folglich nicht von einer De-, sondern wenn überhaupt von einer Orientalisierung des Okzidents zu sprechen.949 Michaelis behauptete ferner den historischen und philosophischen Wert der Bibel, insbesondere auch der Kenntnis des mosaischen Rechts. In der Einleitung zu seinem monumentalen Werk schrieb er: „[S]ie [die mosaischen Rechte] verdienen in ihrem ganzen Zusamenhange nicht blos dem Philologen bekannt zu seyn, der sich mit den morgenländischen Sprachen beschäftiget, und sie nur wie einen Theil der Hebräischen Alterthümer betrachtet; sondern auch andern, dem Gottesgelehrten, dem Juristen, und demjenigen, der über die gesetzgebende Klugheit philosophiret, nicht so fremde und Asiatisch zu bleiben, als sie ihm bisher gewesen sind […] wer mit dem Auge eines Montesquieu die Gesetze ansehen will, dem ist es unentbehrlich, die 950

Rechte anderer Völker zu kennen; je entfernter an Zeit und Himmelsstrich, desto besser.“

Zugunsten der Gegenwart beabsichtigte Michaelis die Fremdheit des Vergangenen zu überwinden. Indem er die mosaischen Gesetze nicht einzig als Zeugnis des Asiatischen betrachtete, fand er in ihnen „ganz unerwartete und glänzende Proben einer gesezgebenden Klugheit“951. Mittels einer „verstehende[n] Annäherung“952 gelang es ihm, Grenzen zu relativieren: Die Vergangenheit ist nicht mehr nur Vergangen948 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. I 2(1793), 10. 949 Vgl. auch das ähnliche Urteil Jan Loops (LOOP, Jan: Timelessness. Early German Orientalism and its Concept of an Un-historical ‚Orient‘. In: Görner, Rüdiger/ Mina, Nima [Hg.]: ‚Wenn die Rosenhimmel tanzen‘: Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 2006, 11-25 [hier: 22]): „In their ‚naturalness‘ they [Arabs] rather represent some sort of authentic, pure, and unadulterated state, which Michaelis in his anti-Judaic attitude contrasted with the alleged ‚degeneration‘ of the Jews. Therefore Hess is misguided when he argues in a rather general manner that Michaelis’ goal was to ‚liberate the European present from the power of the Oriental past‘ and that he ‚tries to deorientalize the present‘. First of all, quite the contrary seems to be the case: his dealing with the ‚other‘ leads Michaelis not only to deliberations on the relativity and arbitrariness of different kinds of social norms, whether it be language, customs, taste, or laws; Michaelis also believed that an encounter with the ‚Orient‘ might enrich European literature and he sometimes seems to anticipate some kind of Romantic enthusiasm for the ‚Orient‘.“ Zu Loops zweitem Punkt vgl. Anm. 960. 950 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. I 2(1793), 1f. 951 Ebd., 3. 952 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 43.

250 | F REMDE V ERGANGENHEIT

heit, sondern Lehrbeispiel der Gegenwart. Der Verstehensprozess implizierte die Berücksichtigung von Umständen. Denn unabhängig von der Frage, ob die Gesetze Moses für die Israeliten die besten waren, stelle sich die Frage, ob sie nachahmenswert seien. „Sollen Gesetze gut seyn,“ so Michaelis, „müssen sie sich zu den Umständen des Volks schicken, dem sie gegeben werden, und diese sind bey jedem Volk anders“.953 Ein solcher Umstand sei z.B. die „Fruchtbarkeit des Landes“. Während es in einem fruchtbaren Land, „wo man den dreysigsten Scheffel erntete“, möglich gewesen wäre, „drey Zehnten [zu] geben“, würde es in der Lüneburger Heide mehr sein als die Pacht des Ackers und also unzumutbar.954 Ein anderes Beispiel sei „das Gefühl von der Grösse der Strafe“, mit dessen Hilfe Michaelis erklärte, warum Asiaten mit Schlägen, Europäer mit Gefängnis bestraft werden müssten: „Ein Volk, das zum Stillesitzen geneigt ist, mit Gefängnis zu strafen, ist vergeblich, falls der Ort des Gefängnisses nicht sehr unangenehm oder ungesund ist; in Asien müssen daher Schläge thun, was bei dem unruhigen Europäer ein Zimmer ausrichtet, vielleicht ein eben so gutes, als das, auf welchem ich jezt schreibe. Hingegen würden bei uns Schläge, wegen der damit verknüpften Schände, die von dem Recht des Degens und der Gegenwehr herzuleiten ist, für die meisten Verbrechen eine übertriebene Strafe seyn.“

955

Rudolf Smend ist beizupflichten, wenn er in Analyse des „Mosaischen Rechts“ feststellt, dass sich Michaelis „oft nicht hoch über dem Niveau eines Stammtisches“ bewegte.956 Seine Erklärungen waren zuweilen trivial, zuweilen komisch und häufig unzumutbar. Dennoch aber trugen sie dazu bei, dass die Grenze zwischen Fremdem und Vertrautem verschwamm. Sie relativierte sich durch den jeweiligen Umstand, der Unterschiede jeder Art zu erklären vermochte. In diesem Sinne sei die größere „Lasterhaftigkeit“ der Juden dem Umstand der Beschränkung der wirtschaftlichen Möglichkeiten geschuldet und der morgenländische Geschmack dem europäischen näher, als man denke:

953 Michaelis: Mosaisches Recht: Bd. I 2(1793), 17f. 954 Ebd., 18f. 955 Ebd., 21. Vgl. zu den weiteren Umständen ebd., 18-24. 956 SMEND, Rudolf: Aufgeklärte Bemühung um das Gesetz: Johann David Michaelis’ „Mosaisches Recht“. In: Geyer, Hans-Georg [u.a.] [Hg.]: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“: Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag. Neukirchen-Vluyn 1983, 129139 (hier: 137). Weiter schreibt Smend: „Aber bei aller Trivialität und auch unfreiwilligen Komik […] ist man doch immer wieder beeindruckt von der Breite der Interessen und der Fülle des Wissens um nahe und ferne Dinge, wie spätere Generationen es weder besaßen noch so unbefangen gebraucht hätten.“

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„Und warum sollen wir uns darüber verwundern, wenn die Gedanken, die ehemals nach dem Geschmack der morgenländischen Dichter gewesen sind, auch den Gedichten der Europäer eine wahre Zierde geben? Bey allem zufälligen Unterscheid des Geschmacks, welcher von der Gegend und Sitten der Völker herkömmt, bleibt sich doch das menschliche Herz überall gleich. Völker, die keine weitere Verbindung und Umgang unter einander haben, werden doch bisweilen auf einerley der Natur gemäße und reitzende Vorstellungen kommen; und die wahre und natürliche Schönheit wird doch überall gefallen, wenn gleich der unnöthige Putz, darinn sie erscheint, bey dem einen Volk anders ist, als bey dem andern, und, für sich allein betrachtet misfallen könnte.“

957

Die Behauptung der Gleichheit des menschlichen Herzens überrascht. Denn schwerlich lässt sich hinter der unterstellten Neigung der Araber zu diversen in Europa als „ekelhaft“ oder „unanständig“ geltenden Spielen, der Tugend der Blutrache oder der Notwendigkeit von Schlägen ein nathaneskes Motiv Michaelis’ vermuten. Glaubt man ihm aber die Rede von der bloßen Zufälligkeit der Unterschiede, die einzig im Hitzegrad des sogenannten Himmelsstriches und in den jeweiligen Sitten gründeten, so kann seinen Erklärungen ein gewisser Studierstuben-Charme nicht abgesprochen werden. Den Schutz der Zufälligkeit genossen indes nicht die religiösen Unterschiede und ihre Folgen. Ihnen widmete sich Michaelis nicht erklärend, sondern richterlich und behauptete den Urknall der Regression des Arabischen in Mohammed, die fehlende Göttlichkeit des Korans und einen „grossen nie zu ändernden politischen ewigen Unterscheid“ zwischen Juden und Christen. Die Differenz zwischen Judentum und Islam auf der einen und Christentum auf der anderen Seite war nicht mehr die zwischen Fremdem und Vertrautem, sondern zwischen Eigenem und Anderem. Michaelis konstruierte hier eine Grenze, die nicht der „Dynamik zwischen hermeneutischer DISTANZnahme und verstehender Annäherung“958 unterlag und ein ex oriente lux behauptete. Vielmehr bediente er sich einer Strategie der Differenzierung, die im Sinne eines super orientem lux über den Orient aufklärte. Im Duktus des Beweises stellte Michaelis muslimische Araber als Ungelehrte, Juden als Staatsfeinde vor. Die Ursache ihrer jeweiligen Alterität fand er in der Religion, die da die Untersuchung nicht ausstehen könne, dort einzig den göttlichen Staat anerkenne und die Teilhabe am weltlichen Staatsgeschehen in entscheidenden Punkten untersage. Offensichtlich behauptete Michaelis mit dieser Argumentation eine Überlegenheit des eigenen Christlichen über das andere Muslimische und Jüdische. Anders als Hess feststellt, geschah diese Hegemonialisierung aber nicht im Zuge einer Deorientalisierung der Gegenwart, sondern gerade umgekehrt im Zuge ihrer Orientalisierung. Indem Michaelis die Wurzeln des Eigenen im Orient entdeckte 957 Michaelis: Von dem Geschmack der Morgenländischen Dichtkunst, XXVIf. 958 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 43 [Herv. i.O.].

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und denselben Orient als unmündig präsentierte, erhob er einen Deutungsanspruch auf das Andere, das er in den Kategorien des Eigenen vorstellte. Anders gesagt, die Begegnung mit dem Orient ist notwendig, um das fremdgewordene Eigene zu verstehen, das Verstehen allerdings ist ein monologischer Akt, so von dem Orientalen zwar etwas zu erfahren ist, nichts aber zu lernen. Anders als Hess feststellt, verfolgte Michaelis auch nicht die Lösung etwa der jüdischen oder auch der muslimischen Frage, sondern einzig der christlichen. Denn die Differenzierung zwischen Eigenem und Anderem diente vordergründig nicht der Ausgrenzung des Anderen, sondern der Identifikation des Eigenen, wie es sich schon in der michaelischen Frage nach der Bibel zeigt. Überdies erweisen sich „Alteritätskonzepte“ auch generell als „eine konstitutive Größe kultureller Identitätsstiftung“: „Wer entdeckt, daß der Okzident sich gegen den Orient abgegrenzt, ihn zu seinem ‚Anderen‘ gemacht, dabei die eigenen Kategorien angelegt und sein Gegenüber verzerrt dargestellt hat, ist dabei also auf ein allgemeines Grundprinzip kultureller Identitätskonstitution gestoßen.“959 Die michaelische Identitätsfindung geschah weiterhin nicht nüchtern, sondern mit apologetischen Motiven.960 Eindrucksvoll zeigt sich dies in der Behauptung der Bibel als erstes Buch der Wahrheit, aber auch in der komparativisch vorgestellten Göttlichkeit des Christentums wider den Anspruch des Islams in den Prolegomena der michaelischen „Dogmatik“, die den Versuch zu unternehmen scheint, das Christentum zugleich als wahre Theologie und bessere Philosophie zu behaupten, – in Strategien also, der Herausforderung eines wachsenden Vernunftanspruchs an die biblische Offenbarung zu begegnen. Natürlich können die michaelischen Anstrengungen, die Bibel zu retten, schwerlich überzeugen. Der Orientalist beklagt das alleinige Interesse an der Aufklärung der Bibel, der Theologe die Notwendigkeit von Bastelarbeiten als Preis der Rettung und der Philosoph die Beweisführung selbst, die zwar den „Eindruck des Natürlichen und Selbstverständlichen“ macht, dabei aber „nichts weniger als evident“ ist.961 Und zwischen mangelnder Überzeu959 Ebd., 38.41. 960 Vgl. auch das Urteil Jan Loops (Timelessness, 22f.): „Second, it seems to be clear that the project pursued by Michaelis, specifically the historical/ spatial interpretation of biblical texts, had mainly an apologetic goal: by ‚orientalizing‘ the texts of the Old Testament, Michaelis’ goal was primarily to relieve the Bible from the ever more pressing charges which problematized its truth-content. Pointing to Oriental peculiarities such as a specific Oriental taste, he intended to explain obsolete and incomprehensible images, statements, and laws through their spatio-temporal validity without calling into question the divinity of the biblical texts.“ Zu Loops erstem Punkt vgl. Anm. 949. 961 HINRICHS, Berend: Die religionsphilosophischen Elemente in Johann David Michaelis’ Dogmatik. Göttingen 1911, 29.18. Konkret schreibt Hinrichs u.a. (ebd., 18): „Freilich ist Michaelis’ Beweis für die Göttlichkeit der Offenbarung nichts weniger als evident, da er ihm Prämissen zu Grunde legt, die keineswegs als allgemein anerkannte Wahrhei-

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gungskraft, diversen Unzumutbarkeiten bei kulturrelativistischer Grundhaltung und identitätsverträglicher Toleranz mag sich die Gretchenfrage nach der gegenwärtigen Laune des Geschmacks beantworten.

ten angesehen werden, und darin liegt eine petitio principii. Und wenn er glaubt, die Geschichtlichkeit der biblischen Wunderberichte und die Erfüllung aller Weissagungen nachweisen zu können, so zeigt sich darin allerdings seine wissenschaftliche Einsicht eng begrenzt. Das zum Schutze der Offenbarung so künstlich aufgerichtete Gebäude mußte zusammenstürzen, sobald die von ihm selbst eingeleitete philologisch= historisch=kritische Arbeit einsetzte.“

6.

Schluss

„[…] und haßt die eignen, weil sie die eignen sind.“

962

KURT TUCHOLSKY

Mit Johann David Michaelis begegnet der Nachwelt ein streitbarer Philosoph. Im Gelöbnis der „Vertheidig[ung] der Rechte der Wahrheit“963 widmete er sich der Erklärung der Bibel, die er als ein Buch verstand, das wegen seiner historischen Bedeutung und seines moralischen Inhalts zu würdigen sei, das darüber hinaus die Wahrheit im umfassendsten Sinne bezeuge. Als „Professor der Weltweisheit“ behauptete Michaelis die Vernunft und Göttlichkeit der Bibel, begründete den synonymen Gebrauch der Begriffe Wahrheit und Christentum und erwies sich letztlich als Verteidiger der Rechte der Bibel. Heilig indes war ihm nicht vieles. So bestritt er die Göttlichkeit der hebräischen Sprache ebenso wie ihren vermeintlichen Charakter als Ursprache. Das Hebräische sei nicht mehr als die Sprache der Kanaaniter, die den gleichen Veränderungen unterliege wie jede andere Sprache auch – und starb. Ihrem Tod als gesprochener Sprache, mithin die Tragik der verlorenen Bedeutung des biblischen Textes, begegnete Michaelis mit einem orientalistischen Programm, das die sogenannten morgenländischen Sprachen als das beste Mittel der Erklärung des ausgestorbenen Hebräischen beurteilte. Unter ihnen die größte Hilfe könne das Arabische und also die „Sprache Muhammeds“964 leisten. Die Angst vor der Ansteckung mit einer neuen Glaubenslehre hielt er für gänzlich unbegründet, wie auch die Furcht vor einer Reise nach Arabien. Das „große[] Glück“, „in ein fast gar nicht von Gelehrten besuchtes Land [zu] reisen“,965 erfuhr Michaelis selbst aufgrund familiärer Umstände nur als armchair traveller in den literarischen

962 Vgl. Anm. 937. 963 Michaelis: Wahrheit, 4. 964 Michaelis: Beurtheilung, 264. 965 Michaelis an den Freyherrn von Bernstorff: Göttingen, den 10. Jul. 1758. In: Michaelis: Literarischer Briefwechsel: Bd. I (1794), 94.

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und phantastischen Weiten seiner heimischen Studierstube und ihren gelehrten Besuchern. Von hier aus entwarf er den Plan für die erste wissenschaftliche Expedition in den Orient und entdeckte dem dänischen König und einem gelehrten Publikum, dass die verstummte Wahrheit des biblischen Wortes nur mit Hilfe des sogenannten Mohammedaners aufgeklärt werden könne, dessen Sitten den Beobachter in die Hütte Abrahams führten und dessen poetischer Geschmack an die Blüte der hebräischen Poesie erinnere. Michaelis stellte den muslimischen Araber als schlechthinnigen Zeugen einer fremden Vergangenheit vor, die er als unmittelbaren Zugang zur Wahrheit behauptete. Anders als der jüdische Araber, der nicht mit dem Israeliten verwechselt werden dürfe, war er ihm unersetzlich. Seiner Religion allerdings begegnete er mit großer Skepsis. Zwar könne sie vor dem „Richterstuhl der Philosophie“966 einigen Anspruch auf die Prüfung ihrer Göttlichkeit erheben, diese Prüfung aber offenbare eine Vielzahl von Irrtümern des Korans, hinter denen sich nicht selten ein Betrug Mohammeds verberge und die die fehlende Göttlichkeit des Buches unmittelbar bewiesen. Einer vergleichbaren Untersuchung des Judentums widmete sich Michaelis nicht. Auch verweigerte er sich einer theologischen Argumentation, die den „verstockten Unglauben an Christum“967 für die Unwahrscheinlichkeit eines redlichen Juden verantwortlich mache. Stattdessen führte er die Umstände, unter denen Juden leben müssten, für ihr erhöhtes kriminogenes Potential an, aber auch die Religion selbst, die einen „grossen nie zu ändernden politischen ewigen Unterscheid“968 zu Christen begründe und die Beschränkung ihrer bürgerlichen Rechte rechtfertige. Betrachtet man die michaelische Orient-Konstruktion insgesamt, so ist die Feststellung einer Doppelung unvermeidlich. Denn einerseits stellte Michaelis den muslimischen Araber als wichtigsten Zeugen der eigenen, aber fremdgewordenen Vergangenheit vor, zählte ihn folglich zum Eigenen und Vertrauten. Andererseits betrachtete er den gleichen muslimischen Araber wie auch den jüdischen hinsichtlich seiner Religion als Anderen. Das heißt, der Orientale wurde im Rahmen der eigenen Identitätsfindung, die als ein Prozess des Verstehens angelegt war, als israelitischer Ahne inkludiert, für diese selbst aber als Moslem oder Jude exkludiert. Inklusion und Exklusion lassen eine paradoxale Aneignung des Orientalen vermuten. Tatsächlich aber kennzeichnete die michaelische Orient-Konstruktion eine zweifache Strategie der Rettung der eigenen Identität. Denn der doppelten Konstruktion des Orients korrespondierte die doppelte Konstruktion des Eigenen, das Michaelis einmal als die verlorene Vergangenheit präsentierte, die mittels einer Erweiterung des Wissens durch die Begegnung mit dem Orient verstehend zurückgewonnen werden 966 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. VIII (1775), 37. 967 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen: unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften: 146. Stück. Den 7. December 1754. 968 Michaelis: Orientalische und Exegetische Bibliothek: Bd. XIX (1782), 31.

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sollte, und sodann als das bedrohte Gegenwärtige, das durch Abgrenzung vom Anderen geschützt werden musste. Die Streitbarkeit seiner Vorstellung vom Orient bleibt ebenso wie Michaelis selbst, der als Professor der Philosophie in Verpflichtung einzig auf die Wahrheit den Hörsaal stets mit der Bibel unter dem Arm betrat und die Begegnung mit einem Orient forderte, dessen beste Erkenntnisse er bereits besaß, von dieser Logik der Beweisführung allerdings unberührt. Ebenso streitbar wie Michaelis selbst ist indes auch seine Nachwelt. Im Selbstverständnis der Erforschung der reinen Wahrheit stellt die orientalistische Geschichtsschreibung selbige vorrangig im Rekurs auf die „Arabischen Studien“ Johann Fücks vor und beschreibt die Entstehung der Orientalistik als einen Prozess der Emanzipation, innerhalb dessen sich die Disziplin aus ihrer früheren Fesselung durch theologische Spekulationen befreit habe. Weiter erklärt sie Johann Jacob Reiske zum „Begründer der Orientalistik“ und behauptet, dass Reiske dem Fach zu einer frühen Verselbständigung hätte verhelfen können, wäre er nicht das Opfer der Niedertracht seines Kontrahenten Johann David Michaelis geworden. Die Rekonstruktion der Anfänge der Orientalistik konnte gegenüber dieser von der orientalistischen Geschichtsschreibung bevorzugten Darstellung, die andere Betrachtungen als bloße Randbemerkungen erscheinen lässt, das 18. Jahrhundert als eine Epoche vorstellen, die sich weniger in theologischer Spekulation erschöpfte, sondern die Orientalistik allererst begründete und ihrer späteren Entwicklung den Weg ebnete. Die Analysen konnten weiterhin zeigen, dass Michaelis als exemplarischer Orientalist des 18. Jahrhunderts angesprochen werden kann. Wie seine Zeitgenossen betrieb er die orientalischen Studien im Rahmen bibelwissenschaftlicher Fragestellungen und führte Studenten der Theologie zur Förderung ihrer exegetischen Kompetenzen in die orientalischen Sprachen ein, wobei er ein orientalistisches Programm vertrat, das die weite Verbreitung der Sprachkenntnisse anstrebte. In diesem Zusammenhang erwies er sich als herausragender Vertreter der Disziplin, der er nicht nur nachging, die er vielmehr auch massiv beförderte. So bewarb er das Studium des Arabischen, schlug es als Sprache vor, mit der man das exegetische Sprachstudium beginnen sollte, verwies auf die Leichtigkeit des Erlernens und entdeckte die Angst vor einer neuen Glaubenslehre durch das Sprachstudium mittels des Korans wie auch die Abscheu gegenüber dem sogenannten Schwulst des Arabischen als unbegründet. Darüber hinaus unterstützte Michaelis mit seiner „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ maßgeblich den internationalen Austausch der OrientGelehrten, machte ihre Ergebnisse einer deutschen Öffentlichkeit bekannt und schuf damit wie auch mit seiner Neubearbeitung der „Arabischen Grammatik“ des Erpenius entscheidende Grundlagen für weitere Forschungen und die Lehre des Arabischen. Seine Bemühungen gipfelten in der Organisation der Arabischen Reise als der ersten wissenschaftlichen Expedition nach Arabien und einem europäischen Projekt zur Förderung der Wissenschaften. Gewiss auch aufgrund der herausragenden Rolle, die Michaelis für die Frühphase der Orientalistik spielte, geriet er noch

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zu Lebzeiten in den Fokus der Kritik. Der Erste, der selbige vernehmbar und dank schlagzeilenträchtiger Vorwürfe wie Diebstahl (eines Buches), Verrat (eines Kollegen) und Betrug (um Forschungsmittel) mit einigem Aufsehen äußerte, war Johann Jacob Reiske. Er verurteilte die zeitgenössische Arabistik als ungeschickte Klügelei, die auf einem theologischen Glauben gründe, der ein Trugschluss sei. Denn stünde der bibelphilologische Nutzen des Arabischen auch außer Frage, so könne aus der einen Sprache doch keine sichere Kenntnis der anderen gewonnen werden. Reiskes Kritik mündete in der Weigerung, selbst arabische Kollegien zu lesen und dem Rat, die Studienzeit nicht mit dem Arabischen zu verschwenden, da für den Gewinn exegetisch relevanter Ergebnisse „ein anhaltender Fleiß von vielen Jahren“ notwendig sei.969 Mit seiner Behauptung, dass überhaupt „nur wenig Leute arabisch lernen“ müssten, „aber die es lernen, die müssen es rechtschaffen lernen“,970 erteilte er der zeitgenössischen Orientalistik eine Absage und forderte Qualität statt Quantität. Um selbige zu gewährleisten und die Disziplin auf eine feste Grundlage zu stellen, schlug er einen 100 Jahre andauernden Druck arabischer Dichter als den Weg vor, den die arabische Literatur gehen müsse, damit sie „vom Flecke“ käme.971 Mit seinem orientalistischen Programm und dem unerschütterlichen Glauben an dieses und sich selbst, der Reiske zum Druck seiner Werke im Selbstverlag veranlasste und seine fortdauernde Armut begründete, erwies er sich neben Michaelis als ebenfalls herausragender Orientalist des 18. Jahrhunderts. Anders als bei diesem allerdings waren Reiskes Bemühungen um die junge Disziplin im 18. Jahrhundert von keinem Erfolg gekrönt. Erst die Nachwelt und also eine institutionell etablierte Orientalistik, die sich mit theologischen Hörerinteressen konfrontiert sah, in denen sie heute offensichtlich eine Dauergefahr entdeckt, sollte Reiske die Rolle zugestehen, die er sich selbst von jeher zugedacht hatte, die eines „Märtyrer[s] der arabischen Literatur“972. Die Heroisierung Reiskes, wie sie die heutige Geschichtsschreibung vornimmt, geht mit der Disqualifizierung des bibelwissenschaftlichen Gründungsmoments der Orientalistik einher, wobei der michaelische Beitrag zur Entwicklung der Disziplin als ebenso nichtig wie fatal beurteilt wird. Mittels einer Montage, die insbesondere dem Nebeneinander von Rekonstruktion und Ausblendung bzw. den Facetten von Interpretation und Dekontextualisierung geschuldet ist, erzeugt der Aufnahmebereich den Referenzbereich als eine Epoche der Überfremdung („Fesselung“) durch theologische Interessen, die als das Andere fungieren und von dem als Eigenem verstandenen, „reinen“ Interesse abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung provoziert durchaus merkwürdige Konsequenzen. So erscheint der Einwand des Orientalism’ 969 Reiske: Gedanken, 150. 970 Ebd., 154. 971 Ebd., 199. 972 Ebd., 160; Reiske: Lebensbeschreibung, 11.

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karikiert, wenn der kolonialpolitische Hintergrund, der für die Entwicklung der orientalistischen Disziplin im europäischen Ausland bedeutend war, die sich gerade darin von der deutschen Orientalistik unterschied, während letztere sich durch ihren bibelwissenschaftlichen Impetus wiederum vom Ausland unterschied, aus der eigenen Überfremdungssituation mit Wehmut betrachtet wird. Darüber hinaus hat die Auseinandersetzung mit Johann Fück und dem zeitgeschichtlichen Hintergrund seiner „Arabischen Studien“ gezeigt, dass seine Beurteilung Reiskes der Konstruktion eines deutschen Helden und der impliziten Widerlegung des französischen Anspruchs auf die Begründung der Orientalistik dient, dass eine Geschichtsschreibung, die sich allenthalben und mit absoluter Selbstverständlichkeit auf Fück als Kronzeugen einer Argumentation beruft, die den Referenzbereich als Opfer theologischer Bevormundung behauptet, eine Fortschreibung nationalsozialistischer Ideologie betreibt. Der Merkwürdigkeiten ungeachtet ist allerdings nicht die Frage nach der Legitimität der allgegenwärtigen Darstellung der Frühphase der Orientalistik zu stellen, die ebenso wie die Frage nach dem medizinischen Nutzen der Beschneidung nur in die Irre führen kann. Vielmehr ist die Transformation der Orientalistik des 18. Jahrhunderts zu konstatieren und festzustellen, dass ihre Darstellung durch den Aufnahmebereich genau die ist, die das Selbstverständnis der Orientalisten bestimmt. Über die Gründe des Wandels ließe sich spekulieren. Es wurde gezeigt, dass seine Ursachen in der Ideologie des 20. Jahrhunderts, einem Wirklichkeitsverständnis, dass die Theologie als Wissenschaft innerhalb des universitären Kanons bestreitet und in der Geschichte der Disziplin im 19. Jahrhundert gesucht werden können. Darüber hinaus ist gewiss auch ein wissenschaftlicher Pragmatismus anzuführen, in dessen Folge die „Arabischen Studien“ allein aufgrund fehlender Alternativen zum Standardwerk avancierten. Insgesamt aber können derartige Spekulationen nur wenig zur Klärung des Warums beitragen und lenken letztlich auf die Frage der Legitimität zurück. Entscheidend bleibt, dass die Vorstellung der Befreiung der Orientalistik die vertretene Antwort auf die Frage nach den eigenen Ursprüngen liefert. Diese Antwort bedeutet die Negation des Eigenen in Form der eigenen Geschichte, die als eine andere wahrgenommen wird und zeigt hier eine erstaunliche Nähe zu Michaelis’ Konzeption der Fremdheit des Eigenen als der unverstandenen biblischen Vergangenheit. Ebenso wie ihre spätere Kritik setzte sie einen Widerstreit von Theologie und Philosophie voraus und behauptete die Reinheit einzig des philosophischen Zugangs. Dieser beinhaltete ein zerstörerisches Potential gegenüber den eigenen dogmatischen Voraussetzungen. Mit dem Ziel der Rückgewinnung der fremdgewordenen Identität begegnete Michaelis dem Eigenen mit Unverständnis. Doch bediente er sich mit der Konstruktion der Wahrheit der Bibel einer kurzlebigen Strategie. Wie Berend Hinrichs sehr treffend feststellt, „[musste] [d]as zum Schutze der Offenbarung so künstlich aufgerichtete Gebäude […] zusammen-

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stürzen, sobald die von ihm selbst eingeleitete philologisch=historisch=kritische Arbeit einsetzte“.973 Denn was als Befreiung von frommen Beschränkungen einst Ermöglichungsgrund der Orientalistik war, verselbständigte sich zu einer Exklusion biblischer Bezüge und der Negation theologischer Vergangenheitsmomente. Und im Freispruch von jedem theologischen Verdacht stellt sich der Orientalist in einem reinen Selbst vor, erinnert sich an einen Gelehrten, der sich einzig der Wahrheit verpflichtet wissen wollte und seine theologischen Zeitgenossen verspottete als ihren frühen Widersacher und deutet an, wie die Aufklärung ihre eigenen Großeltern frisst.

973 Hinrichs: Die religionsphilosophischen Elemente, 18.

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Religionswissenschaft Tommi Mendel Common Roads – Pilgern und Backpacking im 21. Jahrhundert Buch und DVD 2015, 152 S., kart., mit DVD, 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3019-0

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