Fremde Moderne: Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft und nationale Narrative unter dem Franco-Regime, 1939-1964 9783110532227, 9783110529968

Perhaps more than any other 20th-century dictatorship, the Franco regime in Spain was determined to impose its own notio

211 18 3MB

German Pages 428 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
2. Konturierung, Perspektiven, Methoden
3. Quellen und Vorgehen
I. Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas und die „christliche Einheit der Wissenschaften“ in den 1940er und 1950er Jahren
1. Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge
2. Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren: ‚Spanische Wissenschaftstradition‘ und ‚fremde Moderne‘
3. Aufbruch in die Moderne? Geschichte und Geschichtswissenschaft im Umfeld des CSIC
II. Neue Projekte – neue Narrative: Jaume Vicens und die Escola de Barcelona in den 1950er Jahren
1. Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Forschungen und Deutungen zu Jaume Vicens
2. Republik, Bürgerkrieg, Diktatur: Der lange Weg zum Lehrstuhl
3. Jaume Vicens betritt die Bühne: Rückstandsdiskurse, neue Affinitäten und die Suche nach einem akademisch-wissenschaftlichen Profil
4. Die Escola de Barcelona: Drei Organe
5. Die nova història: Industriebürgertum, gescheiterte Industrialisierung und die Stunde Kataloniens
6. „Das exzessive Herrschaftsbestreben des Herrn Vicens“: Reaktionen auf die nova història
III. Wissenschaftspolitik und Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren: Das Ende des national-katholischen Narrativs und die Diagnose des ‚Rückstands‘
1. Eine neue Wissenschaft: Technisch-industrielle ‚Entwicklung‘, ‚Frieden‘ und die Desintegration des CSIC
2. Keine neue Geschichtswissenschaft: Historiografie im Schatten des desarrollismo
3. Jaume Vicens posthum: Traditionspflege, selektive Erinnerung und das Kapital des Erneuerers
Schlusswort
Verzeichnis der Abkürzungen
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Dank
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Fremde Moderne: Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft und nationale Narrative unter dem Franco-Regime, 1939-1964
 9783110532227, 9783110529968

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Andrés Antolín Hofrichter Fremde Moderne

Ordnungssysteme

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Band 52

Andrés Antolín Hofrichter

Fremde Moderne

Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft und nationale Narrative unter dem Franco-Regime, 1939 – 1964

ISBN 978-3-11-052996-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053222-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053011-7 ISSN 2190-1813 Library of Congress Control Number: 2018943577 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für Angelika und Luis Leopoldo

Inhalt Einleitung

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Gegenstand und Fragestellung

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.

Konturierung, Perspektiven, Methoden 12 Institutionen, symbolische Ordnungen, Diskurse 15 Geschichte der Geschichtswissenschaft als Wissenschaftsgeschichte: Denkstile, historische Narrative, 18 Strategien Wissenschaft und Politik – Konvergenzen und Divergenzen



Quellen und Vorgehen

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I Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas und die „christliche Einheit der Wissenschaften“ in den 1940er und 1950er Jahren  . . .

 . . . . .

Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles 35 Gefüge Wissenschaft zwischen ‚Eigenregie‘ und ‚Dienst am Vaterland‘ 37 43 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘ Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft 55 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren: ‚Spanische Wissenschaftstradition‘ und ‚fremde Moderne‘ 68 Vom Gleichgewicht der Wissenschaften zur Privilegierung der Technik 71 Historisch artikulierte Technikskepsis 80 Die neue Balance der Wissenschaften 90 Wissenschaftsdiskurse zwischen ‚tradición española‘ und ‚ciencia europea‘ 94 Der Weg zur ‚Normalität‘: Inszenierungen und institutionelle Ordnung im Zeichen des ‚Rückstands‘ 99

VIII

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Inhalt

Aufbruch in die Moderne? Geschichte und Geschichtswissenschaft im 118 Umfeld des CSIC Mobilisierung, erste Institutionalisierung und historiografische Produktion 121 Debatten, Nationalnarrative und der Export des spanischen 127 Geistes Die Suche nach internationaler Anerkennung und die unmögliche ‚Ökumene der Historiker‘ 133 Negativfolien und Abgrenzungen: Historischer Materialismus und „Positivismus“ 140 142 Aufbruch in die Moderne? Neue Themen, neue Techniken Narrative Hürden, ambivalente Signale und kein Geld für die (Geschichts)Wissenschaft 149

II Neue Projekte – neue Narrative: Jaume Vicens und die Escola de Barcelona in den 1950er Jahren 

Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Forschungen und Deutungen zu Jaume Vicens 161

 . .

Republik, Bürgerkrieg, Diktatur: Der lange Weg zum Lehrstuhl Akademische Sozialisation und erste Debatten 172 Eine signifikante Quellenlücke: Von Lorenzo Guillén und der 180 Geopolitik zum Lehrstuhl in Barcelona



Jaume Vicens betritt die Bühne: Rückstandsdiskurse, neue Affinitäten und die Suche nach einem akademisch-wissenschaftlichen Profil 196 Die Diagnose des ‚Rückstands‘ und die territoriale Ordnung des ‚Fortschritts‘ 196 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel 202 Paris 1950 213 Die ‚Annales‘ als Chiffre: Histoire totale, Abgrenzungsstrategien und Anti-Marxismus 218

. . . .

 .

172

Die Escola de Barcelona: Drei Organe 230 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales: Barcelona als „Getriebe der spanischen Geschichtsforschung“ 231

Inhalt

. .

 .. . . . . .



IX

Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der 251 katalanischen Schule Das polemische Potential einer Bibliografie: Der Índice Histórico Español und die „Eroberung der spanischen Hochebene“ 264 Die nova història: Industriebürgertum, gescheiterte Industrialisierung 284 und die Stunde Kataloniens Das katalanische Industriebürgertum und die mentale Geografie 286 Spaniens Die Geschichte im Konjunktiv: Desynchronisierung und 291 gescheiterte Industrialisierung Der europäische ‚Normalweg‘ und die spanische ‚Anomalie‘ 295 298 Katalonien in gesamtspanischer Mission Jaume Vicens als Intellektueller des katalanischen Bürgertums 302 Geschichtswissenschaft und Geltungsanspruch: Die ‚Annales‘ und 306 Katalonien „Das exzessive Herrschaftsbestreben des Herrn Vicens“: Reaktionen 310 auf die nova història

III Wissenschaftspolitik und Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren: Das Ende des national-katholischen Narrativs und die Diagnose des ‚Rückstands‘ 

Eine neue Wissenschaft: Technisch-industrielle ‚Entwicklung‘, ‚Frieden‘ und die Desintegration des CSIC 321



Keine neue Geschichtswissenschaft: Historiografie im Schatten des desarrollismo 336



Jaume Vicens posthum: Traditionspflege, selektive Erinnerung und das Kapital des Erneuerers 350

Schlusswort

374

Verzeichnis der Abkürzungen

387

X

Inhalt

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 389 Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen 389 Sekundärliteratur 399 415 Internetseiten Dank

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388

Einleitung Kaum eine europäische Diktatur hat im 20. Jahrhundert so viel Wert darauf gelegt, einen eigenen Begriff der Wissenschaft zu inszenieren wie das spanische FrancoRegime – und keine hat durch eigenes Zutun derart dazu beigetragen, diesen Versuch wieder zum Scheitern zu bringen. Noch vor Francisco Francos Tod im Jahr 1975 herrschte unter Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaftlern weitgehend Konsens darüber, dass die spanische Wissenschaft im internationalen Vergleich als rückständig zu gelten habe und dass dieser ‚Rückstand‘ mit dem Beginn der Diktatur sechsunddreißig Jahre zuvor seinen historischen Tiefpunkt erreicht hatte. Mit dem Spanischen Bürgerkrieg (1936 – 1939) war, so die gängige Deutung, eine „silberne Epoche“¹ zu einem abrupten Ende gekommen, in der Historiker wie Chemiker, Philosophen wie Physiker, Geografen wie Mediziner über zwei Jahrzehnte nach Zentraleuropa gereist waren, um sich in den Techniken der ‚modernen‘ Forschung zu schulen. Was dem Sieg der franquistischen Streitkräfte folgte, habe hingegen zu einem „gewaltigen Rückschritt“² geführt. Das erzwungene Exil renommierter republiktreuer Forscher, die massenhaften Personalsäuberungen und die wissenschafts- sowie bildungspolitischen Maßnahmen des neuen Staates seien Zeugnisse einer „anti-modernen Reaktion“³ gewesen, die aus der Wissenschaft ein Sinnbild der „Opposition zur modernen Wissenschaft“⁴ gemacht habe. So markiert das Jahr 1939 in der Forschung zur Geschichte der spanischen Wissenschaft bis heute den Beginn einer Epoche „rückwärtsgewandter Ideologie“⁵ und „autarker Wissenschaft“⁶, die Spanien den Pfad des wissenschaftlichen ‚Fortschritts‘ verwehrte. Um diese Diagnose einordnen zu können, empfiehlt es sich weniger, einen normativen Blick auf die konkreten Forschungspraktiken zu werfen, die in Spa Luis E. Otero: La edad de plata y la renovacio´n de la universidad espan˜ola, in: Ders. (Hg.): La Universidad nacionalcatólica. La reacción antimoderna, Madrid 2014, S. 15 – 67.  Pedro Ruiz Torres: La renovación de la historiografía española. Antecedentes, desarrollo y límites, in: Maria Cruz/Ismael Saz (Hrsg.): El siglo XX. Historiografía e Historia, Valencia 2002, S. 47– 76, hier S. 60.  So der Titel des jüngst erschienenen Sammelbandes von Luis E. Otero (Hrsg.): La Universidad nacionalcatólica. La reacción antimoderna, Madrid 2014.  Amparo Gómez: Ciencia y pseudociencia en los regímenes fascistas, in: Dies./Antonio Canales (Hrsg.): Ciencia y fascismo. La ciencia española de posguerra, Barcelona 2009 S. 13 – 47, hier S. 44.  José M. Sánchez Ron: La europeización científica de España, in: Josep Fontana/Ramón Villares (Hrsg.): España y Europa, Barcelona/Madrid 2008 (Historia de España 11), S. 289 – 535, hier S. 504.  María J. Santesmases: Genealogía. Las investigaciones biológicas en España, 1940 – 1956, in: Amparo Gómez/Antonio Canales (Hrsg.): Ciencia y fascismo. La ciencia española de posguerra, Barcelona 2009, S. 269 – 300, hier S. 271. https://doi.org/10.1515/9783110532227-001

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Einleitung

nien in den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg und noch während des Zweiten Weltkriegs vorherrschten. Die Identifikation des wissenschaftlichen ‚Rückstands‘ mit einer Diktatur, die vor allem in ihrer ersten Phase die katholische Essenz der Nation und das Erbe einer imperialen Vergangenheit einforderte, lässt sich vielmehr vor dem Hintergrund eines nationalhistorischen Modernisierungsnarrativs erklären, das die Geschichte Spaniens nach ihrer Abweichung von einem imaginierten europäischen ‚Normalweg‘ befragt.⁷ Dabei ist das Metanarrativ der ‚Modernisierung‘ keinesfalls ein Spezifikum der spanischen Nationalgeschichtsschreibung. Am prominentesten kam dieser Begriff seit Ende der 1950er Jahre in der US-amerikanischen Modernisierungstheorie und nicht zuletzt seit den 1970er Jahren in der deutschen Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zum Tragen.⁸ Die Diagnose des ‚Rückstands‘ besitzt im spanischen Fall allerdings eine gewisse Tradition, in der gerade die Frage nach der ‚Wissenschaft‘ eine besondere Gewichtung erhält. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nämlich dieser Begriff zu einem bevorzugten Gegenstand für intellektuelle Auseinandersetzungen, die im Grunde die spanische Nation über ihre Beziehung zur Aufklärung und zum technisch-industriellen Fortschritt und damit zu ‚Europa‘ zu definieren suchten. So wurde in den 1870er Jahren eine der zentralen national-identitären Debatten unter dem Namen Streit um die spanische Wissenschaft ausgetragen: Ausgehend von der Klage spanischer Aufklärer über den historisch geringen Beitrag, den inländische Forscher zum Fortschritt der positiven Wissenschaften geleistet hatten, begannen katholische Intellektu-

 In einer Studie des Historikers Julio Crespo mit dem bezeichnenden Titel Spanien in Europa. Von der Abschottung zur Moderne ist beispielsweise zu lesen, dass „[…] die Rolle Spaniens in der Neuesten Geschichte Europas eine der Marginalisierung und der inneren Abkehr werden [sollte]: Während seine Nachbarn des westlichen Europas den Weg der Industrialisierung, der Demokratie und des Liberalismus‘ aufnahmen, verpasste Spanien den Zug des europäischen Fortschritts und blieb alten Ruhmestaten verhaftet.“ Jegliches „Projekt des Wandels und der Modernisierung“ habe daher im spanischen Fall impliziert, so der Autor, „sich auf den Weg nach Europa zu machen“. Julio Crespo: España en Europa, 1945 – 2000. Del ostracismo a la modernidad, Madrid 2004, S. 11.  Vgl. zur US-amerikanischen Modernisierungstheorie vor allem David E. Engerman u. a. (Hrsg.): Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst/Boston 2003. Zur Verbreitung modernisierungstheoretischer Ansätze in der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte siehe beispielsweise Lutz Raphael: Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift fü r Historische Sozialwissenschaft’ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: GG 25 (1999), S. 5 – 37. Als einer der zentralen Bezugstexte in diesem Zusammenhang gilt Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Gö ttingen 1975. Einen guten Überblick über die Auseinandersetzungen um den Begriff der Modernisierung bietet Axel Schildt: Modernisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2. 2010, [Stand: 15. 5. 2017].

Einleitung

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elle ein Narrativ auszuformulieren, in dem die Nationalgeschichte nur insofern eine wahrhaft „spanische“ war, wie sie sich der Entfremdung von ihrem katholischen Wesen widersetzt hatte.⁹ Während eine liberal-laizistische Intellektuellenund Bildungsbewegung die Defizite der Forschung als Symptom eines allgemeinen Rückstands gegenüber ‚Europa‘ artikulierte, forderten national-katholische Denker eine theologisch fundierte spanische Wissenschaftstradition ein, die sich abseits der bedrohlichen Äußerungen der Moderne bewegt habe.¹⁰ Auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die Wissenschaft eines der zentralen Felder, auf denen das Verhältnis der spanischen Nation zum ‚europäischen Fortschritt‘ verhandelt wurde.¹¹ Angesichts des schmerzlichen Verlusts der letzten Kolonien im spanisch-amerikanischen Krieg im Jahr 1898 betraten konservative wie liberale Intellektuelle die öffentliche Bühne, um die Notwendigkeit einer sogenannten „Europäisierung Spaniens“ zu debattieren.¹² Wie sehr der Begriff der ‚Wissenschaft‘ mit demjenigen ‚Europas‘ zusammenfloss, bewies die Auseinandersetzung zwischen dem Kulturphilosophen José Ortega y Gasset (1883 – 1955) und dem Essayisten Miguel de Unamuno (1864 – 1936): Während Ortega mit dem Diktum „Europa es Ciencia“ die spanischen Eliten dazu aufforderte, zum Zweck der nationalen Regeneration die ‚europäische‘ Wissenschaft und Technik zu importieren, wandte sich Unamuno explizit gegen die europäisierenden Regenerationsprogramme unter der Devise „Sollen sie doch erfinden!“. Wenn jenseits der Pyrenäen die Wissenschaft und die Technik lägen, dann befänden sich diesseits der Geist und die Mystik.¹³ Diese Debatte spiegelte einen Wissenschaftsdiskurs wider, der sich nicht nur auf intellektueller, sondern auch auf institutioneller Ebene niederschlug. So

 Vgl. José Álvarez Junco: Mater dolorosa. La idea de España en el siglo XIX, Madrid 102007, S. 383 – 496; Santos Juliá: Historias de las dos Españas, Madrid 32005, S. 46 – 57.  Speziell zur sogenannten „Polémica sobre la ciencia española“ siehe Eusebio García: La polémica de la ciencia española (1876 – 1877). ¿Un debate ideológico acerca de las dos Españas?, in: Cuadernos del Instituto Antonio de Nebrija de Estudios sobre la Universidad 8 (2005), S. 71– 96.  Zum Europa-Bild und zum Begriff der Wissenschaft in den intellektuellen Auseinandersetzungen der 1920er und 1930er Jahre siehe Carl Antonius Lemke: Europabild – Kulturwissenschaften – Staatsbegriff. Die Revista de Occidente (1923– 1936) und der deutsch-spanische Kulturtransfer der Zwischenkriegszeit, Frankfurt am Main 2014, insbesondere S. 86– 138 und S. 221– 426.  Zur Forderung der „europeización de España“ siehe Juliá: Historias de las dos Españas, S. 141– 146. Eine hilfreiche historische Einordnung der unter dem Namen „Regeneracionismo“ bekannten intellektuellen- und politischen Reformbewegung bietet Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 11– 32 und S. 40 – 42.  Vgl. Miguel de Unamuno: Del sentimiento tra´gico de la vida en los hombres y en los pueblos [1913], Madrid 1965, S. 220 und S. 222.

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Einleitung

verbanden die wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen und Vereinigungen wie der Verband für den Fortschritt der Wissenschaften (Asociación para el Progreso de las Ciencias, 1908) das Institut für Katalanische Studien (Institut d’Estudis Catalans, 1907) und die Kommission fü r den Ausbau wissenschaftlicher Studien und Forschung (Junta para Ampliación de Estudios e Investigaciones Científicas, 1907) die Förderung der Forschung mit nationalen oder regionalen Zukunftskonzepten, in denen ‚Europa‘ als Ort der Wissenschaft und historischer Weg des ‚Fortschritts‘ erschien.¹⁴ Insbesondere die staatliche Junta para Ampliación de Estudios nahm als größtes wissenschaftspolitisches Programm das Erbe einer liberal-laizistischen Aufklärungsbewegung auf, die sich im Jahr 1876 unter dem Namen Institución Libre de Enseñanza gruppiert hatte.¹⁵ Die Präambel zum königlichen Gründungsdekret bettete die Junta in eine „glorreiche Tradition“ ein, die in der „Kommunikation mit der europäischen Wissenschaft“ bestanden habe. Seit dem Reformabsolutismus des späten 18. Jahrhunderts habe sich das Land um das „Ende der Isolation [bemüht], in die [es] vorher geraten war.“ Diese Abschottung zu überwinden konnte daher nichts anderes bedeuten, als das größte Förderprogramm der spanischen Forschung als Austauschprogramm zu konzipieren. Dementsprechend erfüllte die Junta in den folgenden zwei Jahrzehnten ihren Hauptauftrag darin, „eine größere Anzahl an Stipendiaten ins Ausland zu schicken […].“¹⁶ Bei Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1936 war die Wissenschaft als Begriff eine liberale Domäne. Allerdings wurde die Junta para Ampliación de Estudios als institutionelle Verkörperung dieser ‚Wissenschaft‘ im Kontext einer zunehmend polarisierten politischen Landschaft auch zu einer der bevorzugten Zielscheiben national-katholischer Kritik. So sah der Historiker und konservative Abgeordnete Pío Zabala (1879 – 1968) bereits im Jahr 1918 die Junta als Ausdruck einer säkularisierenden Bildungspolitik, die „sich jenseits allen religiösen Gemeinschafts-

 Vgl. Elena Ausejo: La Asociación Española para el Progreso de las Ciencias en el Centenario de su creación, in: Revista complutense de educación 19, 2 (2008), S. 295 – 310; Antoni Roca/Josep M. Camarasa: La promoción de la investigación en Cataluña. El Institut d’Estudis Catalans en el siglo XX, in: María J. Santesmases/Ana Romero (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008, S. 39 – 77; José M. Sánchez Ron (Hrsg.): La Junta para la ampliación de estudios e investigaciones científicas 80 años después, 1907– 1987, 2 Bde., Madrid, 1988.  Ein Überblick über die umstrittene liberale Bildungspolitik im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert in Till Kössler: Kinder der Demokratie. Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890 – 1936 (Ordnungssysteme 41), S. 61– 75.  Real decreto creando una Junta para ampliación de estudios e investigaciones científicas, Gaceta de Madrid, 15.1.1907, S. 165 – 167, hier S. 165 f.

Einleitung

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geistes und -interesses“ bewegte.¹⁷ Der Sieg der franquistischen Streitkräfte im Sommer des Jahres 1939 bot Gegnern der Junta wie Zabala schließlich Gelegenheit, eine neue ‚Wissenschaft‘ zu begründen, die sich diesem „religiösen Gemeinschaftsgeist“ verschrieb.¹⁸

 Diario de Sesiones de Cortes, 19.4.1918, S. 503, zitiert aus Otero: La edad de plata y la renovacio´n de la universidad española, S. 22.  Pío Zabala sollte der erste franquistische Rektor der Madrider Universidad Central werden und sich aktiv an der institutionellen und personellen Umgestaltung der Universitäts- und Forschungslandschaft der Nachkriegszeit beteiligen. Vgl. Carolina Rodríguez: La Universidad de Madrid en el primer franquismo. Ruptura y continuidad (1939 – 1951), Madrid 2002, S. 307– 351.

1 Gegenstand und Fragestellung Das Franco-Regime bewies bereits früh ein außerordentliches Interesse an der Institutionalisierung und Inszenierung einer eigenen, vom Erbe der Junta differierenden, „glorreichen Wissenschaftstradition“.¹⁹ Wenige Monate nach der Siegeserklärung wurde per Dekret eine neue Einrichtung ins Leben gerufen, die die Junta ablöste und bis in die 1960er Jahre das leitende wissenschaftspolitische Organ werden sollte. Der „Oberste Forschungsrat“ (Consejo Superior de Investigaciones Científicas, im Folgenden Consejo bzw. CSIC) erhielt dabei einen doppelten Auftrag: Einerseits sollte er die Funktion einer wissenschaftspolitischen Schaltstelle einnehmen, die über die Förderung von Forschungsvorhaben und ihre Koordination entschied. Andererseits beherbergte diese Einrichtung bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung zahlreiche Institute, die sämtliche Wissenszweige abdeckten und über landesweit verteilte Sektionen verfügten. Die Gründung eines solchen Forschungsrats folgte durchaus einem internationalen Trend. Etwa zeitgleich mit dem französischen Centre national de la recherche scientifique (1940) gegründet, stellte der Consejo einen Versuch dar, an den wissenschaftspolitischen Entwicklungen auf internationaler Ebene teilzuhaben, ohne die nationalen Spezifika aufzugeben. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (1911) und die NDW (1920) bzw. DFG (1929), der Consiglio Nazionale delle Ricerche (1923) sowie die in den 1920er Jahren gegründeten britischen Research Councils gaben den Impuls für eine Entwicklung, die staatliche Wissenschaftsförderung und nationale Interessensverfolgung eng miteinander verband.²⁰ In diesem Sinne stellte die spanische Initiative keine Besonderheit dar. Der CSIC besaß dennoch Eigenschaften, die ihn im internationalen Vergleich – mit Ausnahme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften – einzig Zum Wortlaut „gloriosa tradición científica“ siehe Kapitel I.1.2.  Die vorhandene Literatur zur Geschichte wissenschaftlicher und wissenschaftspolitischer Institutionen im Europa der Zwischenkriegszeit lässt sich kaum noch überblicken. An dieser Stelle seien lediglich folgende, allerdings methodisch sehr unterschiedlich fundierte Arbeiten zitiert: Margit Szöllösi-Janze: Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: Rüdiger vom Bruch (Hrsg.) Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 60 – 74; Karin Orth/Willi Oberkrome (Hrsg): Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920 – 1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010; Denis Guthleben: Histoire du CNRS de 1939 à nos jours, Paris 2003; Raffaella Simili/Giovanni Paoloni (Hrsg.): Per una storia del Consiglio Nazionale delle Ricerche, 2 Bde., Rom/Bari 2001; David Edgerton: Science in the United Kingdom. A Study in the Nationalization of Science, in: John Krige/Dominique Pestre (Hrsg.): A Companion to Science in the Twentieth Century, New York 2003, S. 759 – 776. https://doi.org/10.1515/9783110532227-002

1 Gegenstand und Fragestellung

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artig machten.²¹ Erstens erhielt er eine symbolische Aufladung, die sich sowohl in der Organisation als auch in den institutseigenen Symbolen und Ritualen ausdrückte. In jährlich stattfindenden Plenarversammlungen traten Wissenschaftshonoratioren sowie Vertreter aus Politik, Kirche und Militär zusammen, um die Zäsur zur Vorkriegszeit zu inszenieren und den Aufbruch in eine neue Ära der ‚spanischen Wissenschaft‘ sprichwörtlich auf die Bühne zu bringen. Jenseits seines Lenkungs-, Koordinations- und Forschungsauftrags erfüllte der Consejo zuallererst eine Funktion als Symbolinstitution, und zwar in zweifacher Hinsicht: Er war einerseits als Institution entlang eines bestimmten symbolischen Haushalts aufgebaut, der auf einen spanischen Weg abseits der technisch-industriellen Moderne verwies, und dennoch versuchte, den „Erfordernissen der Moderne“²² gerecht zu werden. Andererseits wurde er zum pars pro toto der Wissenschaft in dem Sinne, als er zum bevorzugten Gegenstand für Diagnosen zum Stand der ciencia española im Allgemeinen herangezogen wurde. Gerade vor dem Hintergrund eines längst etablierten Forschungsfeldes, das nach dem Verhältnis von Wissenschaftsdiskursen und der Konstruktion von Nationalidentitäten fragt, ist der CSIC bereits aufgrund seiner nationalen Gewichtung und symbolischen Aufladung ein bemerkenswerter Fall.²³ In dieser Symbolfunktion lag auch der Grund für seine Entstehung: Es ist bezeichnend, dass er, zweitens, von einer Elite katholischer Intellektueller, Wissenschaftler und Politiker entworfen, institutionalisiert und geleitet wurde. Der CSIC sollte den Bruch mit dem liberal-laizistischen Erbe inszenieren und die spanische Wissenschaft zurück auf den Pfad der „christlichen Einheit“ bringen, die, so das Gründungsgesetz, „im 18. Jahrhundert zerstört“ worden war.²⁴ Der  Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas ist selbst in komparativ angelegten Gemeinschaftswerken zur Geschichte von Wissenschaftsinstitutionen im weitestem Sinne kaum behandelt worden. Eine Ausnahme bilden Amparo Gómez/Antonio F. Canales/Brian Balmer (Hrsg.): Science Policies and Twentieth-Century Dictatorships. Spain, Italy, and Argentina, Farnham 2015; Miguel A. Ruiz Carnicer: Die spanischen Universitäten während der Franco-Diktatur, in: John Connelly/Michael Grüttner (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 2003, S. 101– 127, allerdings nur die S. 119 – 122. Zur Sowjetischen Akademie der Wissenschaften siehe Loren R. Graham: Science in Russia and the Soviet Union. A Short History, Cambridge 1993, S. 173 – 196.  Zum Worlaut „exigencias de la modernidad“ siehe Kapitel I.2.  Vgl. Ralph Jessen/Jakob Vogel: Die Naturwissenschaften und die Nation. Perspektiven einer Wechselbeziehung in der europäischen Geschichte, in: Dies. (Hrsg.): Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt/New York 2002, S. 7– 37.  Ley de 24 de noviembre de 1939 creando el Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Boletín Oficial del Estado, 28.11.1939, S. 6668 – 6671, hier S. 6668. Vor diesem Hintergrund wird erst verständlich, dass das Franco-Regime – selbst im Gegensatz zum katholisch geprägten portugiesischen Estado Novo – die bestehenden Einrichtungen nicht ‚nur’ säuberte und ideolo-

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1 Gegenstand und Fragestellung

Consejo symbolisierte in seiner Gründungsphase die Rückeroberung der Wissenschaft im Geiste eines Katholizismus, der für sich in Anspruch nahm, seit jeher die Geschichte und das Wesen der Nation bestimmt zu haben.²⁵ Diese Konstruktion einer ‚Wissenschaftstradition‘ lässt sich zwar auch in anderen Kontexten beobachten;²⁶ singulär ist in diesem Fall allerdings, dass eine neu gegründete Wissenschaftsinstitution in der Mitte des 20. Jahrhunderts symbolisch Bezug auf ein voraufklärerisches und vorindustrielles Zeitalter nahm. Die vorliegende Arbeit wird am Beispiel des Consejo Superior de Investigaciones Científicas die Geschichte der Wissenschaftspolitik unter dem Franco-Regime untersuchen und nach ihrem Verhältnis zu nationalhistorisch artikulierten Wissenschafts- und Modernediskursen fragen. Dabei möchte sie der doppelten Dimension des CSIC gerecht werden: Als Symbolinstitution der spanischen Wissenschaft einerseits, die in den ersten Jahren der Diktatur auf das Postulat der „christlichen Einheit“ aufbaute, sich aber dann im Laufe der 1950er und 1960er Jahren einem Begriff der Wissenschaft als Naturwissenschaft und Technik zuwandte. Auf der anderen Seite wird der Consejo aber auch als Institution verstanden, in der wissenschaftspolitische Entscheidungen zugunsten oder eben zuungunsten bestimmter Forschungszweige getroffen wurden. Gerade der Blick auf eine Ökonomie wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit, die explizit zwischen ‚Geist‘ und ‚Technik‘, ‚nationaler Tradition‘ und ‚fremder Moderne‘ unterschied, erweist sich als besonders fruchtbar. Während die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes anfangs die Geisteswissenschaften als wahrlich ‚spanische‘ Wissenszweige förderte, privilegierte sie später zunehmend die naturwissenschaftlichen und vor allem die technischen Forschungszweige und eignete sich so eine noch in den 1940er Jahren als ‚fremd‘ begriffene Moderne an – eine Aneignung, die vor dem Hintergrund der politischen Isolation, in die die franquistische Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg geriet, nicht zuletzt auch einen politischen Zweck erfüllte.

gisch neu ausrichtete, sondern eine gänzlich neue Institution gründete. Vgl. Fátima Nunes: The History of Science in Portugal (1930 – 1940). The sphere of action of a scientific community, in: eJournal Portuguesa de Historia 2, 2 (2004), S. 1– 17.  Zur Geschichte der seit den 1880er Jahren unter dem Namen „National-Katholizismus“ bekannten Denktradition siehe vor allem Alfonso Botti: Cielo y dinero. El nacionalcatolicismo en España 1881– 1975, 2., erw. Aufl., Madrid 2008.  Vgl. Sylvia Paletschek: The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism. The German University in the First Half of the Twentieth Century, in: Margit Szöllösi-Janze (Hrsg.): Science in the Third Reich, Oxford/New York 2001 (German Historical Perspectives 12), S. 37– 58; ähnlich, jedoch unter Verwendung eines erinnerungskulturellen Ansatzes Nunes: The History of Science in Portugal (1930 – 1940).

1 Gegenstand und Fragestellung

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Auf einer zweiten Ebene werden die Auswirkungen dieser wissenschaftspolitischen Aufmerksamkeitsverschiebung auf die Wissensproduktion und die Verteilung der Ressourcen Gegenstand der Analyse sein. In einer Fallstudie wird die Geschichtswissenschaft untersucht, deren Status sich zwischen 1939 und Mitte der 1960er Jahre entscheidend änderte.Wie kaum eine andere Disziplin erfüllte sie in den ersten Jahren der Diktatur die Funktion einer Legitimationswissenschaft.²⁷ In einem Kontext, in dem die „symbolische Konstruktion“²⁸ des gesamten Nuevo Estado auf ein Zeitalter der Katholizität und imperialen Größe verwies, (re)produzierte die Geschichtswissenschaft ein national-katholisches Narrativ, das auf das 15. und 16. Jahrhundert, auf die Katholische Monarchie und auf das überseeische Imperium blickte und sich abseits der technisch-industriellen Moderne abspielte. Allerdings konnte die Geschichtswissenschaft diese Vorrangstellung nicht allzu lange behaupten. So vollzog sich der wissenschaftspolitische Wandel auf Kosten der ‚spanischen Wissenschaftstradition‘ und der aus ihr hervorgehenden Hierarchie der Forschungszweige. Die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im Speziellen büßten ihren ehemals privilegierten Status ein, was sich auf allen Ebenen der Förderung niederschlug und zu gescheiterten Projekten, frustrierten Karrieren und enttäuschten Erwartungen führte. Im Laufe der 1950er Jahre eröffnete sich dadurch ein Deutungsvakuum, das insbesondere die Neuverortung der Geschichte Spaniens in der technisch-industriellen Moderne betraf. Diese Problemlage wird am Beispiel des historischen Instituts des Consejo und seines intellektuellen Umfelds untersucht. Im Mittelpunkt der Analyse steht dabei die akademische und intellektuelle Biografie des katalanischen Wirtschafts- und Sozialhistorikers Jaume Vicens (1910 – 1960) und der von ihm gegründeten Escola de Barcelona. ²⁹ Dass die Wahl gerade auf diesen Historiker und

 Vgl. Peter Schöttler: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 – 1945. Einleitende Bemerkungen, in: Ders. (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 7– 30.  Die außerordentliche Bedeutung, die Symbole für die Konstruktion des franquistischen Staates spielten, ist erst in den letzten Jahren in den Fokus der Forschung gerückt. Der bisher wichtigste Beitrag stammt weiterhin von Zira Box: España, año cero. La construcción simbólica del franquismo, Madrid 2010. Siehe dazu auch die jüngst erschienenen Sammelbände von Javier Moreno/Xosé M. Núñez Seixas (Hrsg.): Ser españoles. Imaginarios nacionalistas en el siglo XX, Barcelona 2013; Stéphane Michonneau/Xosé M. Núñez Seixas (Hrsg.): Imaginarios y representaciones de España durante el franquismo, Madrid 2014 (Collección de la Casa de Velázquez 142).  Der Autor dieser Untersuchung hat sich dafür entschieden, die Namen der katalanischen Akteure – darunter auch Jaume Vicens – in ihrer katalanischen Schreibweise wiederzugeben. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Vornamen in den Quellen zuweilen in ihrer spanischen „Übersetzung“ erscheinen. Somit wird beispielsweise „Jaume“ zu „Jaime“, „Jordi“ zu „Jorge“ und

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1 Gegenstand und Fragestellung

seinen Schülerkreis fällt, liegt vor allem darin begründet, dass er bis heute eine Identifikationsfigur darstellt und als ‚Modernisierer‘, ‚Europäisierer‘ und ‚Erneuerer‘ der spanischen Geschichtswissenschaft gilt. Vicens verkörpert in den meisten Rückblicken auf die Geschichte des eigenen Fachs den Beginn einer ‚Erneuerung‘ der spanischen Historiografie, die sich in dem Maße von der Wissenschaftspolitik und dem Franco-Regime selbst abwandte, wie sie sich seit Beginn der 1950er Jahre ‚verwissenschaftlichte‘ und das national-katholische Narrativ hinter sich ließ. Dabei tritt Jaume Vicens in den gängigen Deutungen aufgrund dreier Verdienste hervor. Erstens gilt der katalanische Historiker als Begründer einer spanischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die mit den kultur- und ideenhistorischen Perspektiven brach, die im historiografischen Feld der 1940er und 1950er Jahre dominierten. Dies habe er, zweitens, über eine Rezeption der französischen Annales-Strömung erreicht, die darüber hinaus die ‚Rückkehr‘ der spanischen Historiografie in die internationale Geschichtswissenschaft eingeläutet habe. Drittens wird Vicens als einer der ersten und wichtigsten Historiker aufgeführt, die die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens im 19. Jahrhundert zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung machte und dabei ihren ‚Rückstand‘ gegenüber ‚Europa‘ historisch problematisierte. Im Kontext dieser Deutung erscheint der katalanische Historiker als Teil einer „Modernisierung“ des Faches sowie einer „geistigen Liberalisierung“ und intellektuellen Befreiung von der Diktatur.³⁰ Die akademische und intellektuelle Laufbahn des katalanischen Historikers wird allerdings nicht in der Absicht verfolgt, ihm die Qualität des ‚Erneuerers‘, ‚Europäisierers‘ oder ‚Modernisierers‘ zu- oder abzusprechen. Es wird darum gehen, die Genese dieser Zuschreibungen in den Kontext einer Biografie zu stellen, die sich nach 1939 gänzlich innerhalb der Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen des franquistischen Staates und zunehmend auch im Widerstreit mit diesen abspielte. Vicens’ Umgang mit einem sich verändernden intellektuellen und beruflichen Horizont, seine enttäuschten Erwartungen und gescheiterten Ambitionen, seine Konflikte mit dem CSIC und dessen akademischem Umfeld

„Josep“ zu „José“. Im Regelfall wird auch darauf verzichtet, die in Spanien üblichen zweiten Nachnamen (bspw. Jaume Vicens Vives) aufzuführen. Die einzigen Ausnahmen bilden solche Fälle, bei denen die Akteure ausdrücklich mit beiden Nachnamen signierten und der Forschung auch nur über diesen Doppelnamen bekannt sind (bspw. Florentino Pérez Embid).  Für eine ausführliche Diskussion des Forschungsstands siehe Kapitel II.1; vgl. zur „geistigen Liberalisierung“ und „Modernisierung“ Elias Díaz: Intellektuelle unter Franco. Eine Geschichte des spanischen Denkens, 1919 – 1975, Frankfurt a. M. 1991, S. 59 – 84, insbesondere S. 76 f.; Miquel A. Marín: A través de la muralla. Jaume Vicens Vives y la modernización del discurso histórico, Barcelona 2010.

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lassen sich nicht von seiner historiografischen Produktion trennen, in der er die Geschichte Spaniens in der technisch-industriellen Moderne als ‚Anomalie‘ innerhalb ‚Europas‘ zu beschreiben begann. Darüber hinaus arbeitete der katalanische Historiker für sich und seine Escola an einem Profil, das offensiv auf Begriffe wie Erneuerung, Wissenschaft und Europa aufbaute. Welche Diskurse sich hinter diesen Begriffen verbargen, wie sich ihre Semantik verschob und wie es dazu kam, dass Jaume Vicens und seine Escola noch unter dem Franco-Regime nicht nur als ‚Erneuerer‘, sondern auch als Gegner einer staatlich geförderten Historiografie Eingang in die facheigene Erinnerung erhielten, sind Fragen, die den zweiten Teil der Arbeit leiten werden.

2 Konturierung, Perspektiven, Methoden Die vorliegende Arbeit untersucht in einer Kombination aus makro- und mikrohistorischen Perspektiven das Verhältnis von franquistischer Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft und Narrativen der spanischen Geschichte. Dabei wird der Fokus auf zwei miteinander verflochtene Prozesse gelegt: Einerseits auf die Divergenz zwischen der (wissenschafts)politischen Sphäre und Teilen einer historischen Forschung, die alternative Deutungsangebote zu formulieren begann; andererseits auf den Übergang von einem Nationalnarrativ, das einen Weg abseits einer ‚fremden‘, technisch-industriellen Moderne postulierte, hin zu einem anderen, der diese Moderne als Pfad des ‚Fortschritts‘ verhandelte. Damit zielt die vorliegende Studie auf eine Kulturgeschichte der Wissenschaft in politikhistorischer Absicht. Die Analyse von Wissenschafts- und Technikdiskursen, symbolischen Ordnungen und historischen Narrativen, Strategien und Konflikten im Kampf um Ressourcen und Deutungshoheiten erlaubt es, Prozesse der inneren Auflösung, der Desintegration und des Deutungshoheitsverlusts des Franco-Regimes offenzulegen. Bevor jedoch das begriffliche Instrumentarium erläutert werden kann, das für die Analyse der Wirtschaftspolitik des Franco-Regimes, der geschichtswissenschaftlichen Produktion und des Verhältnisses zwischen beiden Ebenen herangezogen wird, müssen einige Präzisierungen hinsichtlich der verwendeten Begriffe sowie der Wahl der Untersuchungsgegenstände und des Zeitabschnitts vorgenommen werden. Technisch-industrielle Moderne, Modernisierung, Europa, Wissenschaft: Die Tatsache, dass diese Begriffe bisher meist in Anführungsstrichen gesetzt wurden, liegt darin begründet, dass sie nicht Analyse-, sondern Quellenbegriffe darstellen. Es wird hier demnach nicht darum gehen, inwiefern der Consejo oder bestimmte Historiker zu einem Prozess der ‚Modernisierung‘ beitrugen, ‚Wissenschaft‘ oder ‚Pseudowissenschaft‘ produzierten oder Spanien auf einen Weg nach oder weg von ‚Europa‘ brachten. Diese Deutungskategorien besitzen vielmehr ihre eigene Geschichte und eine Semantik, die offen, umstritten und wandelbar war.Während die Quellen explizit von ‚Europa‘, ‚ciencia‘ und ‚modernidad‘ sprechen, kommt der Begriff der technisch-industriellen Moderne hingegen als solcher nicht vor. Wenn hier dennoch von technisch-industrieller Moderne die Rede ist, dann deshalb, weil die Akteure selbst die europäische Geschichte seit dem 18. Jahrhundert als einen Weg imaginierten, der von Technik, Industrie und einer der Aufklärung verpflichteten Wissenschaft bestimmt war. Sie waren die trojanischen Pferde einer ‚fremden Moderne‘, die die christliche Gesellschaftsordnung und die Katholizität der Nation zu zersetzen drohten. Insofern wird hier nicht nach dem Verhältnis zur Moderne gefragt, sondern nach dem Umgang mit einer Imagination, https://doi.org/10.1515/9783110532227-003

2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

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die als ersehnter oder aber bedrohlicher Zukunftshorizont erschien und darüber hinaus für viele Akteure in ‚Europa‘ und damit an einem anderen Ort stattfand.³¹ Consejo Superior de Investigaciones Científicas und Jaume Vicens als Sonden: Weder war der CSIC das einzige wissenschaftspolitische Instrument, das dem Franco-Regime zur Verfügung stand, noch war Jaume Vicens der einzige Historiker, der ein alternatives Narrativ der Geschichte Spaniens zu formulieren begann. Für den Consejo ist es vielmehr so, dass er zwar bis in die 1960er Jahre das zentrale Lenkungsorgan und die wichtigste Forschungseinrichtung darstellte, ihm jedoch zahlreiche andere staatlich geförderte Wissenschaftsinstitutionen beiseite und teilweise auch entgegen standen. Die Universitäten, die Akademien der Wissenschaften sowie die von Ministerien und anderen staatlichen Einrichtungen abhängigen Institute boten ein heterogenes Spektrum, das sich nicht auf den Obersten Forschungsrat reduzieren lässt.³² Vor allem das ambivalente Verhältnis zwischen dem Consejo und den Universitäten sorgte für Spannungen, die für diese Arbeit von entscheidender Bedeutung sind. Ferner war der CSIC innerhalb der politischen und akademischen Kreise des Franco-Regimes keineswegs unumstritten. Als Projekt und Plattform einer katholischen Elite wurde er mehrmals zur Zielscheibe innerfranquistischer Kritik, die vor allem aus den Reihen der faschistischen Falange und später auch anderer Fraktionen kam. Daher lässt sich am Consejo Superior de Investigaciones Científicas nicht die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes ablesen. Als Sonde ist er aber dennoch geeignet, da er nichtsdestotrotz die zentrale Schaltstelle und die mit Abstand wichtigste Bühne für die Symbolisierung und Inszenierung der ‚spanischen Wissenschaft‘ darstellte. Auch die Biografie des katalanischen Historikers ist nicht repräsentativ in dem Sinne, dass sich an ihr die Entwicklung der gesamten spanischen Geschichtswissenschaft analysieren ließe. Bis zuletzt operierten er und seine Mitarbeiter von der Universität Barcelona aus. Vicens blieb nicht nur dem akademischen Machtzentrum in Madrid fern, sondern konstruierte die Gruppenidentität

 Die Arbeit zielt also nicht auf eine neue Bilanzierung etwaiger ‚moderner’ Elemente der Diktatur, wie sie von Jeffrey Herf für den deutschen Fall unternommen wurde. Vgl. Jeffrey Herf: Reactionary modernism. Technology, culture, and the politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge (u. a.) 1984. Zur aktuellen Forschungslage zum Verhältnis von ‚Faschismus’ und ‚Moderne’ siehe Fernando Esposito: Faschismus und Moderne, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.): Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014, S. 45 – 57.  Vgl. José M. Sánchez Ron: Cincel, martillo y piedra. Historia de la ciencia en España. Siglos XIX y XX, Madrid 1999, S. 373 – 430; Ana Romero/María Jesús Santesmases (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008; Amparo Gómez/Antonio Canales (Hrsg.): Ciencia y fascismo. La ciencia española de posguerra, Barcelona 2009; zu den Universitäten siehe Carolina Rodríguez: La historiografía española sobre universidades en el siglo XX. Líneas de trabajo y tendencias historiográficas, in: Revista de historiografía 3 (2005), S. 28 – 41.

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

seiner Escola in Konkurrenz zur ‚kastilischen‘ Hauptstadt. Doch gewähren gerade die Konflikte, in die der streitfreudige Historiker mit seinen Kollegen und mit dem Consejo geriet, einen Einblick in die etablierten wissenschaftlichen Gepflogenheiten, historischen Deutungsangebote und akademischen Umgangsweisen, mit denen Vicens zu brechen schien. Erst nach seinem frühen Tod im Jahr 1960 rückte er vom Rand in die Mitte einer facheigenen Erinnerung, die ihn aus sehr unterschiedlichen Gründen zum maestro stilisierte. Zeitliche Eingrenzung, 1939 bis 1964: Es ist unumstritten, dass das Jahr 1939 eine wichtige Zäsur in der spanischen Geschichte markiert. Der gewaltsame Übergang zu einer Diktatur, die sich zunächst an den Achsenmächten orientierte, um schließlich auf eine katholisch-ständestaatliche Legitimationsgrundlage umzusatteln, brachte eine Umwälzung staatlicher Institutionen auf fast allen Ebenen mit sich.³³ Dies galt auch, und in besonderem Maß, für die Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen. Bestehende Institutionen wie die Universitäten wurden über militärische oder zivile Verfahren von unerwünschtem Lehrpersonal gesäubert, die Lehrpläne und Forschungsziele einer grundlegenden Revision unterzogen, Einrichtungen wie die Junta de Ampliación de Estudios durch neue wie den Consejo Superior de Investigaciones Científicas ersetzt. Sämtliche Forscher, die nicht das Land verlassen hatten, bewegten sich nach dem Sieg der franquistischen Streitkräfte in einem neuen ideologischen und institutionellen Rahmen.³⁴ Dass die vorliegende Arbeit zwar am Beginn der Diktatur ansetzt, jedoch einen Zeitraum umfasst, der bis Mitte der 1960er und nicht bis zur Auflösung des Regimes ein Jahrzehnt danach reicht, hat folgende Gründe: Der CSIC erfüllte vor allem in diesem Zeitabschnitt seine Funktion als Symbolinstitution der spanischen Wissenschaft, wobei er im Jahr 1964 anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums ein letztes Mal zur Bühne für Inszenierungen und zur Projektionsfläche für Diskurse über den Weg der spanischen Wissenschaft wurde. Das genannte Jubiläum fiel zudem mit den groß angelegten Feierlichkeiten zu den „25 Jahren spanischen Friedens“ und der Ausrufung des propagandistisch ausgeschlachteten

 Zu den Kontinuitäten und Brüchen siehe Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, S. 177– 198; José M. Marín/Carme Molinero/Pere Ysàs: Historia política de España, 1939 – 2000, Madrid 2001, S. 28 – 41.  Vgl. Jaume Claret: El atroz desmoche. La destrucción de la Universidad española por el franquismo, 1936 – 1945, Barcelona 2006; Josep L. Barona (Hrsg.): El exilio cienti´fico republicano, Valencia 2010; José M. López: Los refugios de la derrota. El exilio cienti´fico e intelectual republicano de 1939, Madrid 2013; Luis E. Otero (Hrsg.): La destruccio´n de la ciencia en España. Depuracio´n universitaria en el franquismo, Madrid 2006.

2.1 Institutionen, symbolische Ordnungen, Diskurse

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„Ersten Entwicklungsplans“ zusammen.³⁵ Damit geriet auch ein bestimmter Entwicklungsdiskurs in den Mittelpunkt der franquistischen Legitimationsrhetorik, der das national-katholische Narrativ und die ursprüngliche symbolische Ordnung des CSIC unbrauchbar machte. Anders als der Bürgerkrieg und der Beginn der Diktatur markiert das Jahr 1964 jedoch keine historische Zäsur. Insofern bricht diese Untersuchung nicht in der Mitte der 1960er Jahre ab, sondern verfolgt bestimmte Entwicklungen bis in die Mitte der 1970er Jahre. Der Verzicht auf eine klare Periodisierungsgrenze wird nicht zuletzt dadurch motiviert, dass die Diktatur zwar mit einem klaren Bruch begann, jedoch nicht mit einem solchen endete. Der als Transición benannte Übergang zur parteiendemokratischen Verfassungsordnung ermöglichte zahlreiche Kontinuitäten auf personeller, kultureller, institutioneller sowie rechtlicher Ebene.³⁶ Dies gilt auch für die Geschichte der Wissenschaftspolitik und der spanischen Geschichtswissenschaft: Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas blieb als größte Forschungseinrichtung über das Ende der Diktatur hinaus bestehen. Wissenschaftspolitische sowie akademische Machtkonstellationen verschoben sich nur graduell und auch die Geschichtswissenschaft erlebte kaum eine Umwälzung.³⁷ Der hier gewählte Zeitraum soll daher einer Periodisierung vorbeugen, die allzu sehr darauf abzielt, die Wissenschaftsgeschichte unter dem Franco-Regime als eine geschlossene Epoche zu behandeln.

2.1 Institutionen, symbolische Ordnungen, Diskurse Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas wurde sowohl als zentrales wissenschaftspolitisches Instrument als auch als Symbolinstitution der spanischen Wissenschaft gegründet. Seine institutionelle Ordnung, die jährlich stattfindenden, ritualisierten Plenarversammlungen, seine neue Architektur, die institutseigene Symbolik, die Benennung von Instituten und Zeitschriften – dies alles waren Zeichen, die eine neue Ordnung der Wissenschaften kommunizierten. Gerade diese symbolische Aufladung soll zum Anlass genommen werden, den CSIC unter einem Gesichtspunkt zu analysieren, der als solcher in den bisherigen

 Vgl. Carme Molinero/Pere Ysàs: Modernización económica e inmovilismo político, in: Jesús A. Martínez (Hrsg.): Historia de España. Siglo XX, Madrid 32007, S. 131– 242, insbesondere S. 136 – 138 und S. 172– 174.  Vgl. Walther L. Bernecker: Spaniens Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Deutungen, Revisionen, Vergangenheitsaufarbeitung, in: VfZ 52 (2004), S. 693 – 710.  Vgl. Ignacio Peiró: Historiadores en España. Historia de la historia y memoria de la profesión, Saragossa 2013, S. 15 f.

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

Arbeiten zur Geschichte der Wissenschaftsinstitution noch nicht berücksichtigt worden ist.³⁸ Es geht nämlich darum, diese Institution als symbolische Ordnung zu analysieren. In Anlehnung an die Forschungsperspektive der historischsoziologischen Institutionentheorie des SFB 537 ‚Institutionalität und Geschichtlichkeit‘ konzentriert sich diese Arbeit auf drei fundamentale Funktionen der Symbolizität von Institutionen.³⁹ Erstens transportiere sie eine „Leitidee“, die über Inszenierungen, Rituale und anderen Medien kommuniziert werde. Zweitens gewährleiste die Institution als symbolische Ordnung eine „Stabilisierung“ dahingehend, dass sie sowohl soziale Spannungen als auch inhaltliche Widersprüche in einer symbolisierten Einheit aufgehen lasse. Drittens übertrage die Symbolizität die für sie charakteristische semantische Unschärfe auf die Institution, die gerade dadurch als Projektionsfläche für sehr unterschiedliche Erwartungen dienen könne.⁴⁰ In diesem Sinne wird hier der institutionellen Ordnung, den Symbolen, Inszenierungen und Ritualen eine kommunikative Funktion zugesprochen. Der CSIC

 Zur neuen Institutionengeschichte weiterhin maßgeblich sind Szöllösi-Janze: Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik; Rüdiger vom Bruch: ‚Wissenschaft im Gehäuse’. Vom Nutzen und Nachteil institutionsgeschichtlicher Perspektiven, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37– 49; Lutz Raphael: Organisational Frameworks of University Life and Their Impact on Historiographical Practice, in: Rolf Torstendahl/Irmline Veit-Brause (Hrsg.): History-Making. The Intellectual and Social Formation of a Discipline (Proceedings of an International Conference, Uppsala, September 1994), Stockholm 1996, S. 151– 167. Eine neuere Systematisierung wissenschaftshistorischer Herangehensweisen bietet Mitchell G. Ash: Von Vielschichtigkeiten und Verschränkungen. „Kulturen der Wissenschaft – Wissenschaften in der Kultur“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), 91– 105.  Vgl. Gert Mellville/Karl-Siegbert Rehberg/Peter Strohschneider: Forschungsprogramm, in: Gert Melville (Hrsg.): Ein Sonderforschungsprogramm stellt sich vor, Dresden 1997, S. 11– 33.  Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Machtmechanismen (TAIM), in: Gerhard Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47– 84; ders.: Weltpräsenz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hrsg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3 – 49. Keines der zahlreichen Teilprojekte dieses SFBs widmete sich der Geschichte wissenschaftlicher Institutionen im 19. und 20. Jahrhundert. Siehe dazu die drei Sammelbände, die aus dem SFB hervorgegangen sind: Gert Melville (Hrsg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001; ders./Hans Vorländer (Hrsg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Weimar/Wien 2002; Gert Mellville/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/ Weimar/Wien 2012.

2.1 Institutionen, symbolische Ordnungen, Diskurse

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symbolisierte eine „christliche Einheit der Wissenschaft“ und die Wiederaufnahme einer „spanischen Wissenschaftstradition“. Die symbolische und institutionelle Ordnung transportierte zwar keine konkrete Epistemologie, die die Forscher sich hätten aneignen können oder müssen.⁴¹ Die symbolische Ordnung des Consejo kommunizierte allerdings eine bestimmte Hierarchie der Wissenschaft, aus der sich die wissenschaftspolitischen Prioritäten und eine Ökonomie wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit ableiteten. In seiner institutionellen, organologisch konzipierten und rituell inszenierten Einheit stabilisierte der Consejo ferner die in den Diskursen angelegte Spannung zwischen ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ und brachte sie ins Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht und mit ihm die symbolische Ordnung selbst sollte sich allerdings in dem Maße auflösen, wie im Laufe der 1950er Jahre die technische Forschung und die Naturwissenschaften privilegiert wurden. Schließlich war dem Consejo auch eine semantische Unschärfe zu Eigen, die seine – allem Wandel zum Trotz – hohe Anpassungsfähigkeit erklärt und auf die die Akteure sehr unterschiedliche Erwartungen an das spanische Wissenschaftssystem projizieren konnten. Die vorliegende Untersuchung soll sich dabei nicht auf eine Analyse der Rituale, Inszenierungen und Symbole beschränken, sondern diese an Wissenschaftsdiskurse rückbinden, die sich um den Consejo herum formierten. Anhand von Reden, wissenschaftlichen Abhandlungen, wissenschaftspolitischen Programmen, intellektuellen Debatten, der Tagespresse und auch privater Korrespondenzen lassen sich die diskursiven Formationen analysieren, die die inszenierte Integrität der „spanischen Wissenschaft“ stützten oder auch gefährdeten.⁴² Ebenso in die Untersuchung werden ökonomische und politische Fragen nach der  So sickerte beispielsweise das Primat der Theologie, das im Zentrum der symbolischen Konstruktion des Consejo lag, nicht bis in die einzelnen Forschungsbereiche durch, was insbesondere für die naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen gilt. Anders Ruiz Carnicer: Die spanischen Universitäten während der Franco-Diktatur, S. 119 – 122; vgl. beispielsweise auch zur technischen und biologischen Forschung Santiago López: El Patronato Juan de la Cierva. III Parte, la investigación científica y tecnológica, in: Arbor 162 (1999), S. 1– 32; Santesmases: Genealogía. Las investigaciones biológicas en España. Auf eine Spurensuche epistemologischer Neuformulierungsversuche auf dem Feld der Physik haben sich erstmals begeben Néstor Herrán/ Xavier Roque: An Autarkic Science. Physics, Culture, and Power in Franco’s Spain, in: Historical Studies in the Natural Sciences 42, 2 (2013), S. 202– 235.  Die Verwendung des Diskursbegriffs folgt hier nicht seiner strengsten Auslegung. Er wird verwendet, da er einerseits den Blick für semantische Verschränkungen, dichotomische Konstruktionen und die ihnen innewohnenden Ambivalenzen und blinden Flecken schärft. Andererseits impliziert er die Analyse semantischer Strukturen, über die ihre Träger nicht frei verfügten und die gerade deshalb eine wissenschaftspolitische Praxis jenseits der reinen Intentionalität bedingten. Vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt/New York 2008; Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 10 – 60.

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

Bereitstellung finanzieller Ressourcen, dem institutionellen Aus- und Abbau sowie den innerfranquistischen Machtkämpfen einfließen. Sie übten selbst einen großen Einfluss auf die Ausrichtung des Consejo, seine institutionelle Integrität und die Handlungsspielräume der wissenschaftspolitischen Elite aus. Eine Perspektive, die sich auf die symbolische Ordnung und die Wissenschaftsdiskurse beschränkt, läuft beispielsweise Gefahr, die gravierende finanzielle Notlage auszublenden, in der sich der CSIC vor allem im zweiten Jahrzehnt seines Bestehens befand. Die Privilegierung der technischen Bereiche war auch mit der Forderung verbunden, die Forschung „rentabel“ zu machen – ein ökonomisches Argument, das vor allem von solchen politischen Fraktionen eingebracht wurde, die ohnehin die Kompetenzen des Consejo einschränken wollten. So standen seine historischen Institute ab Mitte der 1950er Jahre am Rande ihrer Auflösung, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass die wissenschaftspolitische Elite sie als Garanten der spirituellen Kontinuität der Nation betrachtete.

2.2 Geschichte der Geschichtswissenschaft als Wissenschaftsgeschichte: Denkstile, historische Narrative, Strategien Die Geschichtswissenschaft ist seit jeher Gegenstand historisch artikulierter Reflexionen, die zumeist von den Vertretern der Disziplin selbst getragen werden. Doch erst in jüngerer Zeit haben Studien zur Historiografiegeschichte jene Perspektiven und Methoden auf ihren Gegenstand angewendet, die längst den Tenor einer sozial- und kulturhistorisch inspirierten Forschung darstellen.⁴³ Sie begreift die Geschichtswissenschaft als eine sozial artikulierte und kulturell vermittelte Form der Konstruktion historischen Wissens und der Vergangenheitsdeutung. Auch diese Arbeit geht von einem konstruktivistischen Ansatz aus, der weniger die Frage danach stellt, ob Wissen, sondern vielmehr wie Wissen konstruiert wird.⁴⁴ Aus der Vielfalt wissenschaftssoziologischer Ansätze wird sich diese Arbeit vornehmlich auf den von Ludwik Fleck geprägten Begriff des Denkstils

 Aus der mittlerweile unüberschaubaren Anzahl an historiografiegeschichtlichen Arbeiten sei hier lediglich auf einen Sammelband verwiesen, der die neuesten Zugänge anhand von Einzelstudien vorstellt. Vgl. Jan Eckel/Thoms Etzemüller (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007.  Zu den konstruktivistischen Ansätzen in der Historiografiegeschichte siehe den entsprechenden Exkurs in Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005 (Moderne Zeit 10), S. 62– 68.

2.2 Geschichte der Geschichtswissenschaft als Wissenschaftsgeschichte

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stützen.⁴⁵ Dabei lassen sich die analytischen Vorzüge des Begriffs am besten durch die Abgrenzung zu einem anderen Ansatz erklären, der über einen längeren Zeitraum eine prominente Rolle in der Wissenschaftssoziologie gespielt hat. So soll hier Thomas Kuhns Modell der Paradigmenwechsel als Kontrastfolie dienen, um das Konzept des Denkstils zu konturieren und seine konkreten Implikationen für das hiesige Vorgehen hervorzuheben.⁴⁶ Im Gegensatz zum Paradigmenbegriff, der vor allem nach dem theoretischen und empirischen Kerngehalt einer sogenannten „Normalwissenschaft“ sucht und die Geschichte der Wissenschaft über die krisenhaften Umstürze dieser Normalwissenschaft erklärt, geht es bei der Verwendung des Denkstilbegriffs nicht um die Frage nach der Dynamik von Wissensfortschritt.⁴⁷ Er ist in dem Sinne kulturalistisch, dass er die wissenschaftliche Produktion als Äußerung eines Denkstils begreift, der von einem Denkkollektiv getragen wird.⁴⁸ Dieser Denkstil schreitet nicht voran, sondern verändert sich in Funktion multipler, nicht ausschließlich forschungsinterner Faktoren. Auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft übersetzt bedeutet dies, dass bestimmte Erklärungsmodelle oder Periodisierungsangebote wie diejenigen, die die national-katholischen Historiker vertraten, nicht so sehr aufgrund ihres empirischen Gehalts und ihrer theoretischen Kohärenz durch andere, erkenntnisreichere Deutungen ersetzt wurden. Diese Veränderungen geschahen vielmehr auf der Grundlage weiter gefasster Denkstile, die untereinander konkurrierten und deren Durchsetzung nicht in der Kategorie des ‚Fortschritts‘ beschrieben werden kann.⁴⁹ Ferner bezeichnet ein Paradigma eine Wissensstruktur, die von der Empirie und anderen Paradigmen zunehmend nach ihrer Konsistenz geprüft wird. Der Umsturz einer etablierten Normalwissenschaft geschieht somit endogen. Es ist die

 Dieser Ansatz hat schon in anderen historiografiegeschichtlichen Studien Verwendung gefunden. Vgl. Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945 – 1980, Stuttgart 1994; und vor allem Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001 (Ordnungssysteme 9).  Vgl. Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1973.  Zum Begriff der „Normalwissenschaft“ und zum „Fortschritt durch Revolution“ siehe ebd., S. 25 – 48 und S. 171– 185.  Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], Frankfurt a. M. 1980.  Etwa in diesem Sinne verwendet den Denkstilbegriff auch Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 2– 7 und S. 268 – 295; für die Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft ist der Paradigmenbegriff von Gonzalo Pasamar: La influencia de Annales en la historiografía española durante el franquismo. Un esbozo de explicación, in: Historia Social, 48 (2004), S. 149 – 172, verwendet worden

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

Forschungstätigkeit, die die wissenschaftliche Dynamik bedingt.⁵⁰ Der Denkstilbegriff eröffnet hingegen den Blick für vermeintlich exogene Faktoren. Tradierte Semantiken, Publikationsformen, wissenschaftsinterne und -externe Erwartungshaltungen bedingen die Perspektiven, die Schwerpunkte und die Resultate der Forschung. Fleck denkt dabei das Denkkollektiv, auf den sich Denkstile stets beziehen, als esoterischen Kreis, als Kreis der „Eingeweihten“, verkennt jedoch nicht die Einwirkung der „exoterischen Kreise“, mit denen das Denkkollektiv in Verbindung steht, auf die Ausformung des konkreten Denkstils.⁵¹ Aus der Frage danach, wie historisches Wissen entsteht, erfolgt sogleich auch die Frage nach der konkreten Gestalt, die dieses Wissen annimmt. Ungeachtet aller unterschiedlichen Positionen herrscht in den neueren Forschungen Konsens darüber, dass sinnhafte Erzählungen konstitutiv bei der Konstruktion und der Vermittlung historischen Wissens sind.⁵² Diese Untersuchung nimmt daher den Begriff des Narrativs auf und fragt nach den narrativen Mustern, die sowohl der national-katholischen Geschichtsschreibung als auch den Thesen und Forschungsschwerpunkten der Escola de Barcelona zugrunde lagen. Dabei stützt sich die vorliegende Arbeit auf Jan Eckels Vorschlag, jenseits von Hayden Whites bekannter plot-Typologie das Raster möglicher Narrative offen zu lassen: „So können historische Texte als Verfalls- und Erfolgsgeschichte, als Überwindungsgeschichte, als Erzählung einer verlorenen, idealen Zeit oder eines Irrweges, wie auch zeitlich als Zyklen- oder Stadienmodell angelegt sein.“⁵³ Welche epochalen Schwerpunkte wurden gelegt, wie die historischen Abläufe angeordnet, wessen Geschichte wurde erzählt, welche Akteure privilegiert, welchen narrativen Mustern wurde gefolgt und welche Geltungsansprüche für die Gegenwart aus ihnen formuliert? Dies sind die wichtigsten Fragen, die aus einer narratologisch informierten Perspektive an die Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime gestellt werden sollen.

 Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 65 – 89.  Vgl. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 3 – 29. Ludwik Fleck zeigt dies am Beispiel der Syphilisforschung, die von der moralisch konnotierten Semantik des Syphilisbegriffes, den gesellschaftlichen Erwartungen sowie von den Formen wissenschaftlicher Kommunikation abhängig war. Vgl. ebd., S. 138 ff.  Eine gute Einführung zu der Verwendung narratologischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft bietet Jan Eckel: Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung, in: Ders./Thomas Etzemüller (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, S. 201– 229.  Ebd., S. 215; Whites Einteilung der plots in Tragödien, Komödien, Satiren und Romanzen in Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991, S. 19 – 23.

2.2 Geschichte der Geschichtswissenschaft als Wissenschaftsgeschichte

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Zur mittlerweile kaum mehr überschaubaren Forschungsliteratur über das Aufkommen und die Entwicklung von Nationalnarrativen ist auch eine Vielzahl an Studien zum spanischen Fall hinzugekommen.⁵⁴ Dabei stellt die Komplexität der unterschiedlichen, miteinander in Wettstreit stehenden regionalen und nationalen Identifikationsangebote, die sich in Spanien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausbildeten, ein zentrales historisches Phänomen dar.⁵⁵ Gesamtspanische, katalanische, baskische, kastilische und andere Narrative konkurrierten um eine eigene Deutung der spanischen Vergangenheit und Gegenwart. Eine Studie zur spanischen Geschichtswissenschaft muss dieser Komplexität Rechnung tragen und eine Tendenz in der Forschung konterkarieren, wonach alle nicht zentralistischen und nicht national-katholischen Narrative zugleich vage als antifranquistisch eingeordnet werden.⁵⁶ Die vorliegende Arbeit stellt nicht nur Denkstile und Narrative in den Mittelpunkt. Eine Betrachtung der Wissenschaft als soziales Gefüge erfordert, auch solche soziologischen Charakteristika wissenschaftlicher und akademischer Interaktion mit zu berücksichtigen, die nicht unmittelbar aus dem Fleckschen Ansatz hervorgehen. Dabei gehören die Kategorien der Soziologie Pierre Bourdieus bereits zum begrifflichen Grundstock vieler kulturhistorischer Studien, darunter auch denjenigen, die sich mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft befas-

 Verwiesen sei hier lediglich auf die vergleichenden und transnationalen Studien in Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hrsg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, und auf die vier bisher erschienenen Bände der Reihe ‚Writing the Nation. National Historiographies and the Making of Nation States in 19th and 20th Century Europe’; zu Spanien siehe insbesondere Ricardo García Carcel (Hrsg.): La construcción de las historias de España, Madrid 2004; Antonio Morales Moya/Mariano Esteban de Vega (Hrsg.): Alma de España? Castilla en las interpretaciones del pasado español, Madrid 2005; Carolyn P. Boyd: Historia Patria. Politics, History and National Identity in Spain, 1875 – 1975, Princeton 1997; Carlos Forcadell (Hrsg.): Nacionalismo e historia, Zaragoza, 1998; zur Verortung Kataloniens im gesamtspanischen Narrativ siehe die jüngst erschienene Monographie von Alfonso Manjón Esteban: Las reconstrucciones del pasado nacional. Cataluña en el discurso de la historiografía de posguerra (1939 – 1959), Salamanca 2014.  Vgl. Xosé M. Núñez Seixas: Überlegungen zum Problem der territorialen Identitäten. Provinz, Region und Nation im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Christina Benninghaus u. a. (Hrsg.): Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 115 – 136.  So beispielsweise bei Enric Guinot: La història oficial. El discurs històric des de la Facultat de Filosofia i Lletres de la Universitat de València en el primer franquisme (1939 – 1960), in: Saitabi 47 (1997), S. 11– 20; Enric Pujol: Història i reconstrucció nacional. La historiografia catalana a l’època de Ferran Soldevila (1894– 1971), Barcelona 2003 (Recerca i pensament 18).

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

sen.⁵⁷ Zwar wird hier nicht das Ziel verfolgt, eine quantitative Analyse des spanischen Historikerfelds zu liefern oder Fragen des symbolischen und sozialen Kapitals systematisch nachzugehen.⁵⁸ Dennoch sind die Impulse aus seiner Kultursoziologie für diese Arbeit grundlegend, denn sie machen auf die Bedeutung akademischer Macht- und Prestigeverhältnisse aufmerksam.⁵⁹ So lassen sich die Karrierechancen der untersuchten Historikergruppe, ihre Handlungsspielräume, die Konflikte und Bündnisse, die sie eingingen, nur vor dem Hintergrund der Position verstehen, die sie innerhalb des spanischen Felds einnahmen bzw. einzunehmen versuchten. Beispielsweise bestand eine der folgenreichsten und erfolgreichsten Strategien des katalanischen Historikers Jaume Vicens darin, sein Profil und seine intellektuelle Biografie an die französische Annales-Strömung zu koppeln. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich dieser Transfer allerdings nicht allein über die selektive Adaption von Perspektiven und Methoden erklären. Er muss ferner vor dem Hintergrund auto- und kollektivbiografischer Konstruktionsbedürfnisse sowie der Strategien verstanden werden, die Vicens verwandte, um sich innerhalb des spanischen Historikerfelds relational zu verorten.

2.3 Wissenschaft und Politik – Konvergenzen und Divergenzen Schließlich muss geklärt werden, aus welchem Blickwinkel diese Arbeit die Interaktion zwischen Wissenschaft und Politik untersucht. Die bisherigen Deutungen zur Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft seit dem Ende des Bürgerkriegs gehen meist von einem fundamentalen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Diktatur aus. Professionalisierung, Internationalisierung, Demo-

 Vor allem Lutz Raphael hat dazu beigetragen, Bourdieus Soziologie für historiografiegeschichtliche Studien weiter zu entwickeln. Vgl. Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre; ders./ Pierre Bourdieu: Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael, in: GG 22 (1996), S. 62– 89.  Die bisher umfangreichste Analyse des historiografischen Feldes bietet Miquel A. Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, 1948 – 1975. La historia local al servicio de la patria, Saragossa 2005; ders.: La historiografía española en los años cincuenta. La institucionalización de las escuelas disciplinares, 1948 – 1965, unveröffentl. Diss., Universidad de Zaragoza 2008.  Vgl. Lutz Raphael/Olaf Blaschke: Im Kampf um Positionen. Änderungen im Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, S. 69 – 109; vgl. zu den Kapitalsorten Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983 (Soziale Welt 2), S. 183 – 198; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987.

2.3 Wissenschaft und Politik – Konvergenzen und Divergenzen

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kratisierung der historischen Perspektiven, stetiger Zuwachs der Forschungsautonomie gegenüber staatlich gelenkter Forschungspolitik: Gerade die Generation jener Historiker, die die Transición von der Diktatur in die Demokratie erlebten, legten die Grundlage für eine Geschichte des eigenen Fachs, die bis heute einem Narrativ der intellektuellen Emanzipation vom Franco-Regime im Zeichen der ‚Verwissenschaftlichung‘ und der Rückkehr in die internationale ‚Ökumene der Historiker‘ folgt.⁶⁰ ‚Objektivität‘, Forschungsfreiheit und ein vage definierter liberalismo stehen der Ideologisierung, Instrumentalisierung und einem nicht weniger vage definierten franquismo gegenüber.⁶¹ Die übliche Verkopplung von Wissenschaft und liberal-demokratischer Ordnung suggeriert eine Perspektive, in der Diktatur und die Geschichte als Wissenschaft als unvereinbar, wenn nicht gar konträr erscheinen.⁶² Was aus dieser Annahme für eine Geschichte der Historiografie folgt, ist entsprechend problematisch: Ausgehend von der Konzeption von Wissenschaft und Politik als zwei Sphären, deren Zuständigkeitsbereiche und Interessenshorizonte sich prinzipiell unterscheiden, begreift diese Perspektive ihre Interaktion meist als Intrusion. Dieser Logik zufolge entfremden insbesondere diktatorische Regime die Wissenschaft in dem Maße, wie sie über sie herrschen. Zahlreiche Studien haben die ehemals vorherrschende Missbrauchsrhetorik sowie den daraus resultierenden Tenor kollektiver Selbstexkulpation und fremder Anklage längst hinter sich gelassen und einen kritischen Blick auf verschiedenste

 Genaueres dazu in Kapitel II.1. und III.3.  So hielt beispielsweise der Historiker Pedro Ruiz Torres im Jahr 2002 fest, dass der „Triumph der Befürworter Francos einen gewaltigen Rückschritt der spanischen Historiografie bewirkte. Einige Jahre lang gab es fast eine Rückkehr zu antiliberalen Geschichtsauffassungen des 19. Jahrhunderts.“ Der von Ruiz aufgespannten Rückschritt-Fortschritt-Achse folgend wurde diese „antiliberale Geschichtsauffassung“ in den 1950er und 1960er Jahren von einer wissenschaftlichen und damit „liberalen“ bzw. demokratisch inspirierten Geschichtswissenschaft abgelöst: „Gerade die Wandlung der Historiografie in eine wissenschaftliche Disziplin zeigt, dass dieser Prozess in Spanien fern von den dominanten Gruppen stattfand, dass er seine eigene revolutionäre Utopie besaß – die Demokratie […].“ Pedro Ruiz Torres: La renovación de la historiografía española, S. 60 und S. 73.  Diese Verkopplung wird nicht immer derart explizit gemacht, wie es bei Ruiz Torres der Fall ist, doch sie liegt den meisten Deutungen zugrunde. So bei José M. Jover: El siglo XIX en la historiografía española contemporánea (1939 – 1972), in: Ders. (Hrsg.): El siglo XIX en España. Doce estudios, Barcelona 1974, S.9 – 153; Antonio Morales Moya: Historia de la historiografía española, in: Miguel Artola (Hrsg.): Enciclopedia de Historia de España, 7 Bde., Madrid 1988 ff, Bd. 7: Fuentes. Indice, S. 634– 85; Álvaro Ribagorda: La fractura de la historiografía española durante la postguerra franquista, in: Cuadernos de Historia Contemporánea 23 (2001), S. 373 – 383. Für eine weitere Kritik an dieser Perspektive siehe die Einleitungen zu den Kapiteln I.2. und I.3.

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

Bereiche der Wissenschaft und Wissenschaftspolitik unter Diktaturen gerichtet.⁶³ Die vorliegende Arbeit nimmt die Anregungen aus den neueren Forschungen auf und folgt einer Perspektive, die das Verhältnis von Wissenschaft und Diktaturen nicht als Intrusion, sondern als Interaktion begreift.⁶⁴ So hat unter anderem Mitchell G. Ash auf eine Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik aufmerksam gemacht, die nicht zuletzt durch den Austausch materieller sowie immaterieller Ressourcen gekennzeichnet war.⁶⁵ Die Nachfrage auf der einen Seite

 Zur Missbrauchsrhetorik siehe Herbert Mehrtens: ‚Missbrauch’. Die rhetorische Konstruktion der Technik in Deutschland nach 1945, in: Walter Kertz (Hrsg.): Technische Hochschulen und Studentenschaft in der Nachkriegszeit, Braunschweig 1995, S. 33 – 50; angesichts der ausufernden Bibliografie zur Wissenschaftsgeschichte unter den beiden deutschen Diktaturen sei hier lediglich verwiesen auf Herbert Mehrtens: Kollaborationsverhältnisse. Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie, in: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hrsg.): Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994, S. 13 – 32; Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002; Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann u. a. (Hrsg.): Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: GG 27 (2001), S. 5 – 40; und den Überblick zur Geschichte der Geisteswissenschaften in Jan Eckel: Geist der Zeit, Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, S. 52– 88; für die Logik von Anklage und Verteidigung in der Geschichtswissenschaft war die Auseinandersetzung um Werner Conze am Frankfurter Historikertag 1998 symptomatisch. Siehe dazu Jan Eike Dunkhase: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft), S. 8.  Die Perspektive der ‚Einmischung’ findet sich vor allem in den Forschungen zur Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft. Für die Geschichte naturwissenschaftlicher Disziplinen liegen mittlerweile neuere Studien vor, die diese Verkopplung aus unterschiedlichen Perspektiven hinterfragen.Vgl. v. a. Herrán/Roque: An Autarkic Science. Physics, Culture, and Power in Franco’s Spain; Lino Camprubí: One Grain, One Nation. Rice Genetics and the Corporate State in Early Francoist Spain (1939 – 1952), in: Historical Studies in the Natural Sciences 40, 4 (2010), S. 499 – 531; ders.: Engineers and the Making of the Francoist Regime, Cambridge (Mass.) 2014; Antoni Malet: José María Albareda (1902– 1966) and the formation of the Spanish Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Annals of Science 66 (2009), S. 307– 332; María J. Santesmases: Peace Propaganda and Biomedical Experimentation. Influential Uses of Radioisotopes in Endocrinology and Molecular Genetics in Spain (1947– 1971), in: Journal of the History of Biology 39,4 (2006), S. 765 – 94.  Den Ressourcenbegriff entwickelt Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressource für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – die Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32– 51; ders.: Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: AfS 50 (2010), S. 11– 46.

2.3 Wissenschaft und Politik – Konvergenzen und Divergenzen

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nach Herrschaftslegitimation und Expertise und auf der anderen nach Positionen und Prestige sowie nach Finanzierung trug maßgeblich dazu bei, dass gerade unter Diktaturen mit einem starken Mobilisierungsbedarf politische Zielsetzungen und wissenschaftliche Produktion in hohem Maße miteinander konvergierten.⁶⁶ Wie insbesondere die Forschung zur Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus herausgearbeitet hat, brachten große Teile der human- und naturwissenschaftlichen Forschung ihre Wissensbestände in einen Markt ein, in dem sie wiederum in einer Währung belohnt wurden, die sich in neuen Karrierewegen, gestiegener Deutungsmacht oder auch politischer Mitgestaltungskraft ausdrückte.⁶⁷ Auch in anderen Diktaturen bedingte diese Dynamik – je nach politischer und ideologischer Prioritätenordnung – den Status bestimmter Wissenszweige. So erlangte beispielsweise die Geschichtswissenschaft in der DDR, wie Martin Sabrow gezeigt hat, durch ihre marxistisch-leninistische Grundlegung eine privilegierte Stellung. Sie entwickelte sich während der 1950er Jahre gleichsam ‚von unten‘ zu einer „beherrschten Normalwissenschaft“⁶⁸ auf der Basis einer in ihren Leitkategorien historisch-materialistischen Geschichtsdeutung. Gehen die methodisch maßgeblichen Studien zur Wissenschaft im Nationalsozialismus und in der DDR meist von einem Phänomen der Konvergenz aus, so hat es diese Arbeit mit einer Entwicklung zu tun, in der sich immer mehr spanische Historiker in ihrer strategischen Ausrichtung, ihren Deutungsangeboten und politischen Einstellungen von der franquistischen Wissenschaftspolitik und zuletzt auch vom Franco-Regime entfernten. In den bisherigen Erklärungsmustern erscheint diese Divergenz, wie anfangs beschrieben, als Produkt einer normativ verstandenen ‚Verwissenschaftlichung‘, die sich gerade als solche der politischen Einflussnahme und der Nachfrage nach Legitimation entziehen musste. Jeder Einsatz für die Geschichte als Wissenschaft wird damit rückwirkend innerhalb eines wie auch immer gearteten intellektuellen Liberalisierungs-, wenn nicht sogar Demokratisierungsprozesses eingeordnet.⁶⁹ Dagegen soll im Folgenden gezeigt werden, dass erst die Dysfunktionalität der Interaktion zwischen spanischer Geschichtswissenschaft und franquistischer Wissenschaftspolitik die Bedingungen dafür schuf, dass sich viele

 Diese Einteilung bezieht sich auf Eckel: Geist der Zeit, S. 76 ff.  Vgl. dazu beispielsweise die Studien zur „Ostforschung“ unter dem Nationalsozialismus von Michael Grüttner: Ostforschung und Geschichtswissenschaft im Dritten Reich, in: AfS 43 (2003), S. 511– 517; sowie aus biografiehistorischer Perspektive Dunkhase: Werner Conze, S. 40 – 50.  Martin Sabrow: ‚Beherrschte Normalwissenschaft’. Überlegungen zum Charakter der DDRHistoriographie, in: GG 24 (1998), S. 421– 445; ders.: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949 – 1969, München 2001 (Ordnungssysteme 8).  Nicht so allerdings bei Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, 1948 – 1975.

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2 Konturierung, Perspektiven, Methoden

Historiker enttäuscht vom Consejo und zuletzt auch vom Franco-Regime selbst abwandten. Nicht das Streben nach ‚Wissenschaft‘ im Zeichen einer „demokratischen Utopie“⁷⁰, sondern vielmehr die Verweigerung der notwendigen rhetorischen, symbolischen, aber auch institutionellen und finanziellen Ressourcen durch die Diktatur gab den Anstoß für Umdeutungsleistungen, in denen der franquistische Staat zunehmend zum Gegner und Verhinderer ‚wahrer‘ Wissenschaft und historischen ‚Fortschritts‘ wurde.

 Ruiz Torres: La renovación de la historiografía española, S. 73.

3 Quellen und Vorgehen Die Multiperspektivität dieser Arbeit bedingt, dass Quellen sehr unterschiedlicher Art herangezogen werden. Sie lassen sich entlang der zwei gewählten Schwerpunkte gruppieren – die Geschichte des CSIC und die Laufbahn Jaume Vicens’: Die Analyse der symbolischen Ordnung, der Inszenierungspraktiken und der Wissenschaftsdiskurse wird sich zunächst auf die gedruckten Quellen stützen, die der Consejo selbst produzierte. So gab der Oberste Forschungsrat für die Jahre zwischen 1940 und 1962 etliche Jahresberichte heraus, die über die Tätigkeit der einzelnen Institute Auskunft gaben und die jährlichen Plenarversammlungen penibel protokollierten – ihre Teilnehmer, die geladenen Gäste aus Wissenschaft, Kultur und Politik, die sorgfältig geregelten Sitzordnungen, die Reden politischer und wissenschaftlicher Würdenträger, die ritualhaften Preisverleihungen und ‚Darbringungen‘ ausgewählter Arbeiten an Francisco Franco, Ernennungen und Einweihungen. Diese sogenannten Memorias del Consejo Superior de Investigaciones Científicas waren in gewisser Weise selbst ein Produkt der Inszenierung, die sie protokollierten, und sind gerade deswegen als Quelle unverzichtbar.⁷¹ Neben den Memorias gehört die Zeitschrift Arbor zu den relevantesten Publikationen des Consejo. Im Jahr 1944 als zentrales Sprachrohr der Institution gegründet, wurde sie bald zu einem wichtigen Träger für intellektuelle Debatten und für die Bekanntmachung von Forschungslinien und -ergebnissen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Wissenschaft. Schließlich orientiert sich die Wahl der gedruckten Quellen an den wichtigsten wissenschaftspolitischen und intellektuellen Akteuren des Consejo. Sein Initiator und bis in die 1960er Jahre seine wichtigste Leitfigur, José M. Albareda (1902– 1966), der Präsident und zeitweilen auch Erziehungsminister, José Ibáñez Martín (1896 – 1969), sowie Intellektuelle wie Florentino Pérez Embid (1918 – 1974) und Rafael Calvo Serer (1916 – 1988) sind nur einige der Autoren, auf die diese Arbeit wiederholt Bezug nehmen wird. Eine Analyse der Wissenschaftsdiskurse erfordert allerdings auch, weitere Kreise zu ziehen und solche Publikationen zu berücksichtigen, die sich als signifikante Nebenschauplätze herausstellen. Dazu gehören intellektuelle Zeitschriften und andere Veröffentlichungen, die nicht von der Institution, aber von ihrem näheren Umfeld ausgingen. Zuletzt stützt sich dieser erste Strang der Arbeit auf Berichte aus der weitgehend gleichgeschalteten Tagespresse sowie auf Texte zur Regulierung des institutionellen Auf- und Ausbaus des CSIC im weitesten Sinne.

 Die Unterbrechung ihrer Veröffentlichung zu Beginn der 1960er Jahre ist ein in Kapitel III.1. eigens thematisiertes Phänomen. Im Folgenden als ‚CSIC: Memoria, Jahr’ zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110532227-004

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3 Quellen und Vorgehen

Jenseits der gedruckten und öffentlich zugänglichen Quellen greift die Untersuchung auf interne Korrespondenzen und Berichte zurück, die einen Einblick in Entscheidungsprozesse, Krisen und Konflikte im Inneren sowie mit anderen staatlichen Stellen gewähren. Entscheidungen wurden vielfach auf der Grundlage persönlicher Absprachen getroffen – ein Prozedere, dessen Intransparenz nicht nur für Historiker ein Problem darstellt, sondern bereits von manchen zeitgenössischen Kritikern des CSIC beklagt wurde.⁷² Umso wichtiger ist es daher, auf interne Berichte sowie auf die Korrespondenz zurückzugreifen, die die wissenschaftspolitische Elite untereinander und in diesem Fall auch mit dem geschichtswissenschaftlichen Institut des Consejo hielt. Diese Informalität lässt bereits erahnen, welchen Problemen eine archivgestütze Studie zum zentralen wissenschaftspolitischen Organ des Franco-Regimes begegnet. Charakteristisch nicht nur für den Consejo, sondern für fast alle führenden Ebenen des franquistischen Staatsapparats ist zunächst die Patrimonialisierung staatlicher Archivbestände. Amtliche Korrespondenzen, Berichte, Sitzungsprotokolle und zahlreiche andere Geschäftsunterlagen wurden in vielen Fällen buchstäblich mit nach Hause genommen und schließlich in Privatarchive überführt.⁷³ So liegen beispielsweise wichtige institutionelle Unterlagen des CSIC in der privaten Universidad de Navarra, die Nachlässe von Teilen der politischen Elite des Regimes gesammelt hat und deren Archiv gleichsam zu einem inoffiziellen Staatsarchiv ausgewachsen ist. Für die vorliegende Arbeit wurden dort insbesondere die Bestände von José M. Albareda, Rafael Calvo Serer und Florentino Pérez Embid konsultiert, die nicht nur auf intellektueller Ebene tätig waren, sondern wichtige Posten innerhalb und außerhalb des Consejo bekleideten.⁷⁴ Der Quellenkorpus bezieht des Weiteren Dokumente aus dem offiziellen Institutionsarchiv des CSIC mit ein, das größtenteils im Zentralen Verwaltungsarchiv (Archivo General de la Administración del Estado) lagert. Neben dem institutseigenen Nachlass des CSIC

 Anders als beispielsweise bei den Forschungen zur Geschichte der DFG wird es hier nicht möglich sein, die Förderungskriterien und -praktiken über eine Auswertung etwaiger Gutachten zu ermitteln, da ein solches Gutachtensystem im Consejo nicht existierte. Für eine Studie auf Grundlage der DFG-Gutachten siehe Patrick Wagner: Grenzwächter und Grenzgänger der Wissenschaft. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Geistes- und Sozialwissenschaften 1920 – 1970, in: Karin Orth/Willi Oberkrome (Hrsg): Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920 – 1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010, S. 347– 361.  Dieses Grundproblem sprach Javier Tusell bereits Mitte der 1980er Jahre an. Vgl. Javier Tusell: Franco y los católicos. La política interior española entre 1945 y 1957, Madrid 1984, S. 11.  Der Nachlass des Erziehungsministers und langjährigen Präsidenten des CSIC, José Ibáñez Martín, wurde erst nach Beenden der Archivrecherchen freigegeben, so dass der Autor diesen Bestand nicht mit berücksichtigen konnte.

3 Quellen und Vorgehen

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bietet schließlich das vergleichsweise besser geordnete Archiv der Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen des Außenministeriums nützliches und inhaltlich wichtiges Quellenmaterial.⁷⁵ Da sich diese Arbeit dem Consejo nicht nur ‚von oben‘ nähert, sondern einen Schwerpunkt auf die in ihm betriebene historische Forschung legt, kommen zu den genannten Quellen noch weitere hinzu, die vor allem das geschichtswissenschaftliche Institut, das sogenannte Jerónimo Zurita, und dessen Umfeld betreffen. Dieser Quellenkorpus umfasst einerseits die wichtigsten Publikationen, wie die im Jahr 1940 gegründete und als zentrales Sprachrohr der spanischen Geschichtswissenschaft lancierte Zeitschrift Hispania und die Veröffentlichungen derjenigen Historiker, die dem CSIC am nächsten standen oder sogar leitende Funktionen einnahmen. Andererseits hinterließ dieses Institut einen eigenen Nachlass mit internen Geschäftsunterlagen, die wiederum in einem gesonderten Archiv im heutigen Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum (Centro de Ciencias Humanas y Sociales) eingesehen werden können. Auch der zweite Teil der Arbeit, der sich mit Jaume Vicens und der von ihm gegründeten Escola de Barcelona befasst, greift sowohl auf gedruckte Quellen als auch auf Archivmaterial zurück. Die erste Hälfte dieses Quellenkorpus beinhaltet zunächst die Veröffentlichungen des katalanischen Historikers selbst, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass Vicens nicht nur auf fachlicher Ebene Monografien, Aufsätze und Rezensionen verfasste. Wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird, war er auch auf publizistischer Ebene sehr aktiv. Häufig nutze er intellektuelle Wochen- und Monatszeitschriften, um seine Projekte und diejenigen seiner Mitarbeiter bekannt zu machen sowie Kritik und Lob an seinen Kollegen und an dem Consejo zu äußern.⁷⁶ Jenseits der Texte von Jaume Vicens selbst sind auch jene Publikationen von Interesse, die von seinem nächsten Mitarbeiterkreis oder im Namen der Escola veröffentlicht wurden. Die Zeitschrift Estudios de Historia Moderna sowie die laufende und kommentierte Bibliografie Indice Histórico Español bilden dabei jeweils einen inhaltlichen Schwerpunkt dieses zweiten Abschnitts. Ein besonderes Augenmerk wird schließlich auf jene Publikationen gelegt, die sich auf die eine oder andere Weise

 Wohlgemerkt auch nur vergleichsweise: So stellte Birgit Aschmann bei ihrer Recherche fest, dass auch „dort die Aktenlage offenbar nach einem nicht nachvollziehbaren und vor allem kaum rekonstruierbaren Ordnungssystem erfolgte.“ Birgit Aschmann: „Treue Freunde…“? Westdeutschland und Spanien 1945 – 1963, Stuttgart 1999 (Historische Mitteilungen 34), S. 16.  Bis auf wenige, allerdings signifikante Ausnahmen sind sämtliche Aufsätze, Artikel und Rezensionen in einer zweibändigen, in den 1960er Jahren erschienenen Werkausgabe gesammelt worden. In Kapitel III.3. wird diese Quelle selbst historisch eingeordnet. Vgl. Jaume Vicens: Obra dispersa, hrsg. v. Miquel Batllori/Emili Giralt, 2 Bde., Barcelona 1967.

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3 Quellen und Vorgehen

mit Jaume Vicens’ Thesen, seiner Figur oder seiner Forschergruppe befassten, darunter die zahlreichen Nachrufe, Werkausgaben, Festschriften und biografischen Rückblicke, die dem Tod des katalanischen Historikers im Jahr 1960 folgten. Grundlegend für diesen zweiten Teil der Arbeit ist ferner die Korrespondenz, die die Mitglieder der Escola de Barcelona mit Kollegen, wissenschaftspolitisch relevanten Ämtern und auch untereinander führten. Dabei greift die Untersuchung nicht nur auf die zwei edierten Briefsammlungen zurück, die für Vicens bereits vorliegen⁷⁷, sondern konnte auch den Privatnachlass einer seiner engsten Mitarbeiter, Emili Giralt (1927– 2008), nutzen, der mit zahlreichen Historikern außerhalb sowie innerhalb Spaniens korrespondierte.⁷⁸ Den wichtigsten Quellenbestand bietet allerdings das gut sortierte Archiv des Centro de Estudios Históricos Internacionales, das bis heute als Forschungseinrichtung der Universidad de Barcelona besteht. Dieses Archiv enthält die gesamte Geschäftskorrespondenz des Instituts sowie weitere Unterlagen zu den vom CEHI herausgegebenen Estudios de Historia Moderna und Indice Histórico Español. ⁷⁹ Der Quellenkorpus zu Jaume Vicens wird schließlich durch diejenigen Unterlagen ergänzt, die in den staatlichen Archiven lagern. Obwohl der Zugang zu den Personalakten der meisten Historiker aus seinem näheren Umfeld noch gesperrt ist, sind sämtliche Archivalien, die den katalanischen Historiker selbst betreffen, frei zugänglich. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Bestände zu den einschlägigen Zensursowie zu den Säuberungs- und Berufungsverfahren, die Vicens jeweils Anfang und Ende der 1940er Jahre durchlief. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, die in ihrer Anlage sowohl thematisch als auch chronologisch gegliedert sind. Den zwei gewählten Schwerpunkten entsprechend wird sich Kapitel I mit der Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes in den 1940er und 1950er Jahren am Beispiel des Consejo befassen. Es beginnt mit einer Analyse seiner symbolischen und institutionellen Ordnung (I.1.), wobei drei Aspekte im Vordergrund stehen: Die Wissenschaft als ‚Dienst am Vaterland‘, die Konstruktion einer ‚spanischen Wissenschaftstradition‘ unter national-katholi-

 Josep Clara u. a. (Hrsg.): Epistolari de Jaume Vicens Vives, 2 Bde., Girona 1997 f., im Folgenden Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 1 bzw. Bd. 2; Jaume Sobrequés (Hrsg.): Història d’una amistat. Epistolari de Jaume Vicens i Vives i Santiago Sobrqués i Vidal (1929 – 1969), Barcelona 2000. Letzere Sammlung enthält die Briefe beider Korrespondenten.  Der Nachlass Emili Giralts ist mittlerweile in den Bestand des Museu de les Cultures del Vi de Catalunya (Vinseum) de Vilafranca del Penedès übergegangen.  Im Laufe der Recherche wurden Interviews mit zwei weiteren Mitarbeitern von Vicens, Jordi Nadal (geb. 1929) und Josep Fontana (geb. 1931), geführt. Die Gespräche boten allerdings nur Orientierungsinformation. Sie werden daher nicht als Quellen herangezogen. Der Autor dieser Untersuchung erhielt keinen Zugang zum Privatnachlass der Familie Jaume Vicens.

3 Quellen und Vorgehen

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schem Vorzeichen und die territoriale Ordnung des CSIC. Auf dieser Grundlage werden in Kapitel I.2. die zwei zentralen wissenschaftspolitischen Verschiebungen untersucht, durch die sich der CSIC im Übergang von den 1940er zu den 1950er Jahren charakterisierte: Einerseits der Wandel einer Wissenshierarchie, die zunächst die Geisteswissenschaften privilegierte, um anschließend die technische Forschung stark aufzuwerten; andererseits der Übergang des Consejo von einer Institution, die das Postulat des national-katholischen Sonderwegs verkörperte, zu einer Einrichtung, von der aus der Aufbruch in die technisch-industrielle Moderne inszeniert wurde. Das abschließende Unterkapitel I.3. ist der spanischen Geschichtswissenschaft in den 1940er und 1950er Jahren und insbesondere dem historischen Institut Jerónimo Zurita des CSIC gewidmet. Hier sollen vor allem die Auswirkungen einer wissenschaftspolitischen Aufmerksamkeitsverschiebung offengelegt werden, die die Geschichtswissenschaft nicht mehr als Legitimationswissenschaft heranzog und die den national-katholischen Deutungsversuchen die diskursive und sogar finanzielle Grundlage entzog. Kapitel II ist der akademischen Karriere des katalanischen Historikers bis zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1960 gewidmet. Nach der Verortung dieser symbolträchtigen Figur der spanischen Geschichtswissenschaft in der Forschung und Öffentlichkeit (II.1.) verfolgt dieses Kapitel zunächst die frühe Laufbahn des jungen Historikers – von seiner akademische Sozialisation an der Universität Barcelona über die Zäsur des Bürgerkrieg bis hin zu seiner endgültigen Neueingliederung in das franquistische Universitäts- und Wissenschaftssystem am Ende der 1940er Jahre (II.2.). Dem anschließenden Unterkapitel zur intellektuellen Neuorientierung Jaume Vicens’ im Übergang von den 1940er in die 1950er Jahre (II.3.) folgt eine Analyse der drei Organe, die bis 1960 die Grundpfeiler der Historischen Schule von Barcelona bilden sollten: Der Centro de Estudios Históricos Internacionales, die Zeitschrift Estudios de Historia Moderna und die laufende Bibliografie Índice Histórico Español (II.4.). Die neuen Narrative, die Jaume Vicens in den 1950er Jahren aufzustellen begann, werden zwar in diesen Abschnitten bereits angesprochen. Im Zentrum der Analyse stehen sie jedoch erst in Kapitel II.5. Abschließend werden die zwar seltenen, dafür aber besonders aussagekräftigen Reaktionen auf einige Werke Vicens’ und auf seinen ambitionierten Umgangsstil untersucht. Die Wissenschaftspolitik, ihr Verhältnis zur spanischen Geschichtswissenschaft und die Verhandlung der Figur Jaume Vicens’ in den 1960er Jahren werden schließlich in Kapitel III behandelt, das die wichtigsten Argumentationsstränge dieser Arbeit nochmals zusammenführt. Erstens problematisiert es die Auflösung der symbolischen Ordnung des CSIC und seine institutionelle Desintegration vor dem Hintergrund der aufkommenden Entwicklungsdiskurse, die die Diktatur seit Beginn der Dekade als neue Legitimationsgrundlage heranzog (III.1.). Am Beispiel

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3 Quellen und Vorgehen

des historischen Instituts des Consejo wird ferner die sich verschärfende Entprivilegierung der Geschichtswissenschaft in ihren konkreten institutionellen, finanziellen und forschungspraktischen Auswirkungen aufgezeigt (III.2.). Abschließend wird schließlich die selektive Erinnerung an den katalanischen Historiker analysiert, der vom Rand in die Mitte der facheigenen Erinnerung wanderte und auf dessen symbolisches und soziales Kapital zuallererst seine Schüler, aber auch bedeutende Teile der spanischen Historikerschaft und zuletzt sogar der CSIC selbst zurückgriffen (III.3.).

I Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas und die „christliche Einheit der Wissenschaften“ in den 1940er und 1950er Jahren

1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge Am 28. Oktober 1940 fand in der Aula des im Jahr zuvor gegründeten Consejo Superior de Investigaciones Científicas die erste wissenschaftliche Plenarversammlung des ‚neuen Spanien‘ statt.¹ Noch während des Bürgerkrieges und als Resultat unterschiedlicher Entwürfe², war im November des Vorjahres und damit knapp acht Monate nach der Verkündung des Sieges durch die nacionales dieses zentrale Organ der franquistischen Wissenschaftspolitik unter folgender Präambel ins Leben gerufen worden: „Die Hispanidad hat in den entscheidensten Konjunkturen ihrer Geschichte ihre geistigen Energien darauf konzentriert, eine universelle Kultur zu erschaffen. Dies muss auch der erhabenste Ehrgeiz des jetzigen Spaniens sein, das den Willen verspürt, angesichts der vergangenen Unzulänglichkeiten und des Stillstands seine glorreiche wissenschaftliche Tradition zu erneuern.“³

Von den „Imperativen der Koordination und der Hierarchie“, von der Durchdringung der „Ordnung der Kultur“ durch die „wesentlichen Gesinnungen unseres glorreichen Movimiento“ und vom Vermengen der Lehren aus „der universellen und katholischen Tradition“ mit den „Erfordernissen der Moderne“ war dort, wie auch ein Jahr später in der Plenarversammlung, die Rede.⁴ Der Verweis auf die Hispanidad, der Überbegriff für ein rassisch-kulturell verstandenes Erbe des ehemaligen Imperio, gab der wissenschaftspolitischen Sprache der unmittelbaren Nachkriegszeit zudem den Anstrich imperialer Expansion. Diese nicht nur in Ansprachen und Zeitungsartikeln, sondern auch in Gesetzestexten und

 Die Revolutionsrhetorik des ‚neuen Spaniens‘ wurde insbesondere in den ersten Jahren des Franco-Regimes bemüht, so auch in den Reden vor der Plenarversammlung des CSIC. Vgl. CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 28 ff. Mit der Abnahme faschistischer Rhetorik und Symbolik nach 1942/ 1943 verschwand auch zusehends die Bezeichnung „Nueva España“. Zur symbolischen und rhetorischen „Entfaschisierung“ des Franco-Regimes siehe Ismael Saz: El primer franquismo, in: Ayer 36 (1999), S. 201– 222.  Zu den Entwürfen siehe Antoni Malet: Las primeras décadas del CSIC. Investigación y ciencia para el franquismo, in: Ana Romero/María Jesús Santesmases (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008, S. 211– 256; José María López Sánchez: El árbol de la ciencia nacionalcatólica. Los orígenes del Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Cuadernos de historia contemporánea 38 (2016), S. 171– 184.  Ley de 24 de noviembre de 1939 creando el Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 383 – 387, hier S. 383.  Ebd. https://doi.org/10.1515/9783110532227-005

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diversen Dekreten an die franquistische Rhetorik anknüpfende Sprache, übertrug dem CSIC eine politische Aufgabe, die weit über die Neukoordination der vor dem Bürgerkrieg bestehenden Wissenschaftslandschaft hinausreichte.⁵ Die bisherigen Studien zur Geschichte des CSIC haben zu Recht auf persönliche und institutionelle Kontinuitäten zwischen den franquistischen und den vorfranquistischen Wissenschaftsorganen verwiesen. Der Consejo erscheint dort in vielerlei Hinsicht als Erbe der universitätsbasierten Vorkriegsforschung sowie der 1907 gegründeten und laizistisch inspirierten Junta para la Ampliación de Estudios. ⁶ Diese Forschungsperspektive hat sich jedoch zugleich darauf konzentriert, die institutionelle Realität des Consejo, seine konkrete Funktionsweise entweder zu akkreditieren oder aber kritisch zu beleuchten. Der Forschungsrat der 1940er Jahre und sein „symbolisches Geschwätz“ ⁷, so ein späterer Leiter der Institution, besäßen hingegen keinerlei wissenschaftshistorischen Wert. Sie gehörten bestenfalls in die Kuriositätenkammer der Wissenschaftsgeschichte. Dieses Kapitel will sich dem entgegen den Diskursen, Symbolen und Inszenierungen widmen, zumal ein vergleichender Blick über den nationalgeschichtlichen Tellerrand hinaus, wie in der Einleitung bereits hervorgehoben, die Besonderheiten dieses wissenschaftspolitischen Großprojektes gerade auf diesen Ebenen hervortreten lässt. Der Consejo stellte ein Vehikel dar, um eine neue Wissenschaftstradition zu konstruieren, die sich, durch das franquistische Siegesdenken bedingt, von den vorwiegend laizistischen Wissenschaftsvorstellungen der Vorkriegszeit radikal abgrenzte. Durch den CSIC wurde somit die Zäsur mit der Vorkriegszeit markiert und der Aufbruch in eine neue, wiedergewonnene Ära der spanischen Wissenschaft sprichwörtlich auf die Bühne gebracht. Um diesen inszenierten Auf-Bruch zu analysieren, müssen zunächst die drei Haupt-

 Für eine Institutionsgeschichte wissenschaftlicher Einrichtungen vor dem spanischen Bürgerkrieg vgl. vor allem José M. Sánchez: Institucionalización de la investigación en España en el primer tercio del siglo XX. Perspectiva comparada en el contexto del surgimiento de las grandes instituciones de la investigación europea, in: Ana Romero/María Jesús Santesmases (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008, S. 23 – 38; ders. (Hrsg.): La Junta para la ampliación de estudios e investigaciones científicas 80 años después, 1907– 1987, 2 Bde., Madrid 1988.  Zur Frage der Kontinuität auf institutioneller und persönlicher Ebene siehe José R. Urquijo: Ruptura y creación. Primeros años, in: Miguel A. Puig-Samper (Hrsg.): Tiempos de investigación. JAE-CSIC, cien años de ciencia en España, Madrid 2007, S. 259 – 267; den Bruch mit der Vorkriegszeit betont vor allem López Sánchez: El árbol de la ciencia nacionalcatólica. Los orígenes del Consejo Superior de Investigaciones Científicas, S. 171– 184.  Carlos Sánchez del Río: La investigación científica en España y el CSIC, in: Arbor 135 (1990), S. 61– 73, hier S. 64. Eine ähnliche Kritik an dieser soeben zitierten Perspektive auf die Geschichte des CSIC übt auch Antoni Malet in Malet: Las primeras décadas del CSIC, S. 211 f.

1.1 Wissenschaft zwischen ‚Eigenregie‘ und ‚Dienst am Vaterland‘

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merkmale herausgearbeitet werden, durch die sich die symbolische Ordnung des Consejo auszeichnete: Die Wissenschaft als Dienst am Vaterland, die Konstruktion einer national-katholischen Wissenschaftstradition und die territoriale Ordnung der spanischen Forschungslandschaft. Alle drei Aspekte bauten dabei auf die Abgrenzung gegenüber einer Wissenschaft der Vorkriegszeit auf, die als Ausdruck falsch verstandener Forschungsfreiheit sowie eines liberal inspirierten Zentralismus‘ und Laizismus‘ gedeutet wurde.

1.1 Wissenschaft zwischen ‚Eigenregie‘ und ‚Dienst am Vaterland‘ Die dominierende Konstante in der wissenschaftspolitischen Quellensprache über den CSIC bis zu seinem vorerst letzten gemeinsamen Plenum im Jahr 1958 war ein Verständnis der wissenschaftlichen Tätigkeit als Dienst an der Patria (Vaterland). Es überrascht kaum, dass der Terminus Patria eines der diskursiven Grundelemente eben dieser Sprache bildete.⁸ In der Gründungsphase der Institution stellte der servicio a la Patria für den Erziehungsminister José Ibáñez Martín (1896 – 1969) gleichsam das eigentliche Ziel jeglicher Form von intellektueller Produktion dar: „Daher verschreibt sich der Intellektuelle unserer Tage im totalen Geist der Hingabe und der Aufopferung der heiligen Bruderschaft einer wissenschaftlichen Arbeit, welche die neuen Generationen in der Aula, im Seminar und im Labor in einem eng geschnürten Gedankenbündel zusammenführt, um mit vereinter Kraft dem Vaterland zu dienen und diesem Größe zu verleihen.“⁹

Das Wort „Bündel“ (haz) sowie weitere Beispiele aus dem Falange-Wortschatz von Ibáñez Martín verschwanden im Jahr 1943 abrupt aus der wissenschaftspolitischen Sprache. Dieser Wandel in der Sprache nicht nur des Ministers für Nationale Erziehung, sondern auch der übrigen Redner war der ab 1943 verfochtenen Neutralitätspolitik des Regimes, seiner strategischen Distanzierung gegenüber falangistischer und damit an das Bündnis mit den Achsenmächten erinnernder Rhetorik und Symbolik geschuldet.¹⁰ Ausdrücke wie „Phalanx der Wissenschaft“ oder Hinweise auf den „revolutionären“ Charakter des CSIC wurden ab diesem Zeitpunkt in den betrachteten Reden kaum oder gar nicht mehr verwendet.  Zur Begriffsgeschichte siehe Ismael Saz: Patria, in: Javier Fernández (Hrsg.): Diccionario político y social del siglo XX español, Madrid 2008, S. 916 – 929.  CSIC: Memoria, 1941– 1942, S. 37.  Vgl. Ismael Saz: Fascismo y Franquismo, Valencia 2004, insbesondere S. 151– 170.

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Dennoch blieb die Sprache der Wissenschaft als Dienst am Vaterland und an der Nation über die Jahre seiner Amtszeit (1940 – 1951) hinweg erhalten. Der servicio a la Patria sollte nicht nur in einem Bildungsauftrag an die Intelligenz bestehen, den „neuen Generationen“ die geistige Richtung zu weisen. Er wurde ferner mit den konkreten Erwartungen an die wissenschaftliche Praxis selbst verknüpft und er lieferte dem Nachfolger Ibáñez Martíns, Joaquín Ruiz Giménez (1913 – 2009) zufolge, zugleich jene intrinsische Motivation, die auch den „spanischen Krieg“ inspiriert hatte: „Zu jener Stunde, in der der Tod notwendig ist, wird das Vaterland durch das Sterben auf offenem Feld, unter dem blauen Himmel, geschaffen.“ In Zeiten des Friedens, „wenn das Leben [im Gegensatz zum Tod] Wichtigkeit erlangt“, würde „das Vaterland auch durch die Entdeckung einer linguistischen Verbindung oder der Gewinnung einer neuen chemischen Synthese geschaffen […].“¹¹ Der Verweis auf den Bürgerkrieg diente an dieser Stelle dazu, den patriotischen Einsatz für den ‚nationalen Kreuzzug‘ auf den wissenschaftlichen Einsatz zu transferieren. Dahinter verbarg sich die Vorstellung einer Selbstmobilisierung der Forschung, die nun ihren Beitrag für den Aufbau und die Konsolidierung des Neuen Staats leisten sollte. Der Chemiker José María Albareda, Mitbegründer des CSIC und bis zu seinem Tod im Jahre 1966 einer seiner zentralen Entscheidungsträger, wies in seinem Hauptwerk Consideraciones sobre la investigación científica (1951) eben diesem „Dienst am Vaterland“ eine prominente Rolle zu.¹² Diese etwa 450seitige, recht introspektive Abhandlung über Gegenwart und Zukunft der Wissenschaft in Spanien war den „jungen Forschern“ gewidmet und an diese richtete sich der Autor mit seinen Ausführungen über die Forschung als „Arbeitsgeist“¹³. Insbesondere in Bezug auf die Dienstbarkeit der Wissenschaft argumentierte Albareda, dass „die Wissenschaft dienen muss; denn all das, was nicht dient, dient zu nichts. Im Dienst zeigt sich menschliche Größe in ihrer reinsten Form im Gegensatz zu allem mehr oder weniger verhüllten Ungehorsam.“¹⁴ Die Auffassung von der Wissenschaft als „bescheidenem und aufrichtigem Dienst an der Wahrheit“ stand bei Albareda in keinem Spannungsverhältnis zu ihrer patriotischen Aufgabe: „Es gibt keine Unvereinbarkeit von authentischer Entwicklung der Wissenschaft und dem Dienst an der vaterländischen Gemeinschaft“¹⁵ – so Albaredas Diktum.

 CSIC: Memoria, 1951, S. 97.  Vgl. Antoni Malet: José María Albareda (1902– 1966) and the formation of the Spanish Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Annals of Science 66 (2009), S. 307– 332.  José M. Albareda: Consideraciones sobre la investigación científica, Madrid 1951, S. 12.  Ebd., S. 253.  Ebd., S. 254

1.1 Wissenschaft zwischen ‚Eigenregie‘ und ‚Dienst am Vaterland‘

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Hierbei sollte der Dienst als Indienststellung seitens der Forscher und nicht als Indienstnahme seitens des Staates geleistet werden. Im 1953 erschienenen La investigación científica en el mundo betonte daher Juan Roger, Leiter der Abteilung für Wissenschaftliche Dokumentation des CSIC, die Erwartungen an die Forscher auf unmissverständliche Weise: „Der Staat wies dem Consejo bei seiner Errichtung ein wissenschaftliches Ziel zu und es ist die spanische Wissenschaft, die eigenständig und unabhängig arbeitet, um der Nation das Resultat ihrer Forschungen zu überreichen.“¹⁶ Diese Form des servicio a la patria, im Denkmuster der „Eigenständigkeit“ begriffen, war insbesondere bei Albareda ein distinktives Merkmal. Er verband sie mit einer katholisch fundierten ‚Freiheit‘ des Geistes, die er wiederum im Consejo aufgehoben sah: „Die Wärme des Individuellen ist jedoch in der Welt noch nicht erloschen und es gibt weiterhin Institutionen, in denen das Individuum frei erkannt wird, ohne seinen Arbeitsbeitrag ökonomisch zu bemessen.“¹⁷ Der Consejo garantiere, so die Logik, die ‚Freiheit‘ des forschenden „Individuums“, auf je eigene Weise und ohne Zwänge den Dienst am Vaterland zu leisten.¹⁸ Der politische Impetus, der die charakteristische Betonung der intellektuellen „Eigenregie“ der Forschung motivierte, stand dabei seit Ende des Zweiten Weltkrieges in direkter Verbindung zu einem der zentralen franquistischen Legitimationsmuster. Postulierten katholische Regimeeliten und Intellektuelle Spaniens Weg zwischen „zersetzendem Parteienliberalismus“ und „durchherrschendem Sowjetkommunismus“, so fand diese Strategie auch in den wissenschaftspolitischen Reden ihren Widerhall.¹⁹ Um dem „Risiko [vorzubeugen], einer übertriebenen Reglementierung der wissenschaftlichen Tätigkeit zu verfallen“²⁰, argumentierte Ruiz Giménez in der bereits zitierten Rede von 1951 wie folgt: „Aus einem theoretischen Blickwinkel ist es vorstellbar, dass der Staat hinsichtlich der Organisation der Forschung einen dieser drei Standpunkte einnimmt: die totalitäre Vereinnahmung, die entschiedene Enthaltung und die Koordination bzw. gesteuerte Hilfeleistung.“²¹

 Juan Roger: La investigación científica en el mundo, Madrid 1953, S. 131.  Albareda: Consideraciones, S. 14.  Der von Albareda verwendete Individuumsbegriff entspricht in etwa dem, den Marin Greiffenhagen für den deutschen Konservativismus herausarbeitet. Vgl. Marin Greiffenhagen: Das Dilemma des deutschen Konservativismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 131 ff.  Zu dieser Positionierung der katholischen Eliten siehe Javier Tusell: Franco y los católicos. La política interior española entre 1945 y 1957, S. 89 ff.  CSIC: Memoria, 1951, S. 86.  Ebd., S. 91 f.

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Die Zuordnung zu den jeweiligen zeitgenössischen politischen Systemen legte Ruiz Giménez gleich im Anschluss dar: „Während jedoch der zweite Standpunkt, jener also, der dem radikalen Liberalismus eigen ist, sich als anachronistisch und veraltet herausstellt hat und in allen Breitengraden allmählich aufgegeben wird, triumphiert hingegen der erste, nämlich derjenige der vollständigen und vereinnahmenden Intervention des Staates in jenen Ländern, die unter der marxistischen Herrschaft leiden: So in Russland – und damit auch in den unglücklichen Nationen ihres Einflussbereiches […].“²²

Die Bedingung dafür, dass diese „Koordination oder Hilfeleistung“, wie sie Ruíz Giménez in Anlehnung an Albaredas Konzeption formulierte, in der Lage sei, zur Konvergenz der politischen Ziele und der wissenschaftlichen Tätigkeit zu führen, hing einerseits von der Art und Weise ab, wie diese „Koordination“ konkret organisiert werden würde. Andererseits nahm sie jedoch auch die Bereitschaft der Forschenden vorweg, sich in den Dienst der politischen Ziele des Regimes zu stellen. Wo die konkreten Grenzen dieser „Eigenregie“ lagen, wird in einem späteren Kapitel anschaulich am Beispiel der Historikergruppe um Jaume Vicens gezeigt werden. Wie wichtig aber die imaginierte Gemeinschaft von Wissenschaft und Staat – stellvertretend für die Patria – für die Wissenschaftspolitik bis Ende der 1950er war, zeigt sich in der ständigen Inszenierung eben dieser Gemeinschaft in den Jahresfeiern des CSIC. Von 1940 bis 1957 folgten die anfangs erwähnten Plenarversammlungen einem strikten Protokoll – die Kleiderordnung: „akademischer Anzug, Uniform oder Galaanzug“²³. Den Vorsitz hatten, neben dem Staatschef Francisco Franco selbst, meist der Erziehungs- und Industrieminister, diverse Bischöfe und der Generalsekretär des CSIC, José M. Albareda, sowie wechselnde Honoratioren der spanischen Wissenschaft inne. Nach einem obligatorischen Messebesuch folgten die Ansprache des Erziehungsministers und die knapp gehaltenen Vorstellungen der Errungenschaften eines jeden Forschungsinstituts. Der Schlussfeier schenkte das Zeremoniell besondere Aufmerksamkeit: Nach dem Festvortrag eines der im CSIC ansässigen Forscher hielten der Erziehungsminister und teilweise auch Franco selbst eine Laudatio auf den CSIC als Speerspitze der spanischen Forschung. Diesen Reden folgte dann die protokol-

 Ebd., S. 92.  So die Anweisung des Sekretariats des CSIC an Antonio de la Torre, Direktor des historischen Instituts des CSIC, anlässlich der Einladung zu den Feierlichkeiten von 1951. ACCHS, Caja 873, Carpeta 24/10. Im selben Schreiben wird auf die „Notwendigkeit [hingewiesen], dass in der Aula keine leeren Plätze bleiben.“

1.1 Wissenschaft zwischen ‚Eigenregie‘ und ‚Dienst am Vaterland‘

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larisch festgehaltene, vom Minister für Nationale Erziehung dirigierte Darbringung (ofrenda) wissenschaftlicher Arbeiten an den Caudillo: „Gleich einer weiteren Welle dieser Strömung, als authentisches und treues Resümee der erreichten Forschungsarbeiten der Institute, bringt der Consejo Ihnen, mein Herr, auch heute die veröffentlichten Bücher eines Jahres dar, das sich dem Ende neigt; sie sind die Frucht, gewürzt mit wissenschaftlicher Berufung und dem erhabenen Streben, das spanische Geistesgut zu bereichern.“²⁴

Diese Zeremonie der ofrenda wissenschaftlicher Erzeugnisse an den „Schutzherrn“²⁵ Franco, hier für das Jahr 1945 beschrieben, wiederholte sich im gesamten Zeitraum der 1940er und 1950er Jahre. Dem Generalísimo wurde eine Werkauswahl überreicht, die in der Regel aus der Reihe vom CSIC prämierter Studien stammte, wobei Francisco Franco seinen Namen der höchstdotierten Auszeichnung verlieh. Diese „Darbringung“ zusammen mit der Preisverleihung inszenierten wie kein anderer Akt das Prinzip der wissenschaftlichen Tätigkeit als „Dienst am Vaterland“, mit Franco als personifiziertem Fluchtpunkt und dem „erhabenen Streben, das spanische Geistesgut zu bereichern“ als intimem Antrieb. Zudem verlieh die Bezeichnung dieser Zeremonie als ofrenda – im Deutschen Darbringung, aber auch Opfergabe – den CSIC-Plenarversammlungen eine sakral-liturgische Komponente, die zusammen mit dem Motiv der „Schutzherrschaft“ Francos nicht zuletzt auf Repräsentationsformen der katholischen Monarchien verwies. So feierte Ibáñez Martín in einem Entwurf für eine für das Jahr 1954 geplante Rede bezeichnenderweise die „Autonomie, die Francisco Franco dem Consejo aufgrund seiner frühen Volljährigkeit gewährt hat, ähnlich wie es seinerzeit bei den Königlichen Akademien der Fall war, die von fortschrittsliebenden Monarchen begründet und gefördert wurden.“²⁶ Der Historiker Gonzalo Pasamar hat in einer Untersuchung auf die „oligarchischen Strukturen“ der institutionellen Funktionsweise und der Personalpolitik des frühen CSIC aufmerksam gemacht. Der Consejo habe, so Pasamar, unter an-

 CSIC: Memoria, 1945, S. 80.  Die Bezeichnungen von Francisco Franco als ‚Mäzenen‘ (mecenas), Schutzherr (protector) und Stifter lassen sich über den gesamten Zeitraum, in dem Plenarversammlungen stattfanden und protokolliert wurden, wiederfinden. Im Jahr 1944 veranlasste Ibáñez Martín ferner die Gravur einer lateinischen Inschrift, die über den Eingang zum Hauptgebäude bis in das Jahr 2010 (sic!) wie folgt prangen würde: „Franciscus Franco, victor instaurandum curavit. Franco instigante a fundamentis dicasterium feliciter erectum.“ Siehe dazu CSIC: Memoria, 1944, S. 56.  José Ibáñez Martín, Entwurf aus dem Jahr 1954 für eine Rede vor dem Plenum des Consejo. Diese Rede wurde schließlich ein Jahr später und in veränderter Form gehalten. AGA, Fondo Educación, (5)004 Caja 31/11588, 10 Seiten, hier S. 2.

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derem die Funktion einer Plattform für die Beförderung wissenschaftlicher und politischer Karrieren erfüllt.²⁷ Obwohl sich auf der hier betrachteten Diskurs- und Inszenierungsebene die klientelistischen Praktiken kaum abzeichnen, lässt die Praxis der soeben genannten Preisverleihung eine Verschränkung wissenschaftlicher Auszeichnungen mit akademischer sowie politischer Laufbahnen beispielhaft erkennen: Fray Justo Pérez de Urbel (1895 – 1979), Benediktinermönch, Kaplan der Sección Femenina der Falange und erster Abt der Klosterresidenz des Valle de los Caídos erhielt im Jahr 1944 den mit 50 000 Peseten dotierten Francisco Franco-Preis für seine Geschichte des Herzogtums Kastilien − ungeachtet der Tatsache, dass Pérez de Urbel zu der Zeit im Beirat des Consejo saß.²⁸ Im Jahr 1951 wurde der Historiker Federico Suárez Verdaguer, Consejero Nacional de Educación zwischen 1953 und 1957 mit dem Raimundo Lulio-Preis ausgezeichnet.²⁹ Das prominenteste Beispiel dieser Verschränkung im Bereich der Naturwissenschaften bietet der Fall des Chemikers Manuel Lora Tamayo (1904– 2002), der den Francisco Franco-Preis im Jahr 1945 erhielt. Der spätere Bildungs- und Wissenschaftsminister (1962– 1968) begann seine wissenschaftliche Karriere im Consejo, um diese schließlich auch als Präsident desselben zu beenden (1967– 1971).³⁰ Auf eine Gesamtanalyse der vergebenen Preise über den betrachteten Zeitraum soll an dieser Stelle verzichtet werden. Wie in späteren Kapiteln symptomatisch gezeigt werden wird, spielten sie auch in den Karrierewegen der Historikergruppe um Jaume Vicens eine bestimmende Rolle. Im Allgemeinen erfüllten diese Preise ihre Funktion als wissenschaftliche Auszeichnung zumindest in den ersten Jahrzehnten der franquistischen Wissenschaftspolitik. Im Kontext des hier untersuchten Wissenschaftsverständnisses als ‚Dienst am Vaterland‘, in Reden und Publikationen diskursiv geformt und in den Zeremonien der Plenarversammlungen inszeniert, weisen auch die Preise und ihre Verleihungspraxis auf

 Vgl. Gonzalo Pasamar: Oligarquías y clientelas en el mundo de la investigación científica. El Consejo Superior en la Universidad de posguerra, in: Juan J. Carreras/Miguel A. Ruiz Carnicer (Hrsg.): La Universidad española bajo el régimen de Franco (1939 – 1975), Saragossa 1991, S. 305 – 339.  Zur Biograpfie dieser schillernden Figur siehe Ignacio Peiró: La Santa Cruzada de fray Justo Pérez de Urbel. Un catedrático de Historia franquista, in: Ders./Carmen Frías Corredor (Hrsg.): Políticas del pasado y narrativas de la nación. Representaciones de la Historia en la España contemporánea, Zaragoza 2015, S. 229 – 275.  Zur Laufbahn Suárez Verdaguers siehe Ignacio Peiró/Gonzalo Pasamar: Diccionario Akal de historiadores españoles contemporáneos (1840 – 1980), Tres Cantos 2002, S. 605.  Im Jahr 1990 bot die Zeitschrift Arbor den ehemaligen noch lebenden Direktoren des CSIC die Gelegenheit zu einer Selbstdeutung ihrer Laufbahn im CSIC, so auch die von Manuel Lora Tamayo: Recuerdos del Consejo Superior de Investigaciones Científicas en su 50a Aniversario, in: Arbor 135 (1990), S. 99 – 115.

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘

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ein zentrales Charakteristikum des CSIC hin: Das zentrale Organ der spanischen Wissenschaft gründete von Beginn an auf der Vorstellung einer Wissenschaftsgemeinschaft, die sich die wissenschaftspolitischen Ziele „eigenständig“ zu eigen machen sollte. Dass diese „Gemeinschaft“ in den ersten zwei Jahrzehnten des CSIC durch die Plenarversammlungen stetig inszeniert wurde, macht die Funktion dieser wissenschaftlichen Großeinrichtung als Bühne für die Repräsentation einer neuen Wissenschaft im Aufbruch umso deutlicher. Der inszenierte Auf-Bruch wird auch in den nächsten Abschnitten eine wichtige Rolle spielen, zumal er mehrere Um- und Neudeutungen erfuhr.Wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, kam in den Wissenschaftsdiskursen und -inszenierungen die Konstruktion einer Wissenschaftstradition zum Ausdruck, die im Wesentlichen historisch artikuliert war und – wie die ‚Liturgie‘ bei den Plenarversammlungen und die Rede über die ‚Schutzherrschaft‘ Francos – auf eine vormoderne Epoche verwies.

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘ Am 15. Dezember 1944, wenige Tage nach der Plenarversammlung des CSIC, widmete die Tageszeitung ABC der Wissenschaftsinstitution einen Artikel mit dem Untertitel: „Der Bischof von Vitoria übereichte [dem CSIC] einen Reliquienschrein, der einen Splitter des Schädels des Heiligen Isidor enthält.“ Der Anlass für diese Schenkung der kirchlichen Hierarchie an das zentrale Organ der spanischen Wissenschaft war die anstehende (Ein)Weihung des „prächtigen Tempels des Consejo“, der Heilig-Geist-Kirche auf dem Gelände des CSIC in Madrid.³¹ Die Gabe war dabei nicht nur institutionell-feierlicher Natur. Sie sollte in erster Linie das enge Verhältnis zwischen Katholizismus und spanischer Wissenschaft symbolisieren, wie der Bischof bei der Übergabe betonte: „Aus ganzer Seele bitte ich Gott, dass er durch die Fürsprache des weisen Enzyklopädisten und Schmiedes der spanischen Einheit, den Heiligen Isidor, unermessliches Licht auf alle Mitglieder des Consejo ausströmen lassen möge, damit die spanische Wissenschaft in auf ewig überschäumender Liebe zu Spanien und unserer hochheiligen Religion die Gipfel des Wissens erklimmen möge.“³²

 Zur Architektur des CSIC-Komplexes siehe Salvador Guerrero: El conjunto urbano del CSIC en Madrid. Retórica y experimentalismo en la arquitectura española del primer franquismo, in: Miguel A. Puig-Samper (Hrsg.): Tiempos de investigación. JAE-CSIC, cien años de ciencia en España, Madrid 2007, S. 285 – 291.  ABC, 15.12.1944, S. 7.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

Die Sprache des Bischofs vereinte durch den Verweis auf die „Liebe“ zu Spanien und zur Religion zwei Komponenten des CSIC als Wissenschaftsprojekt: Einerseits lehnte er sich an das Verständnis von der Forschung als „Dienst am Vaterland“ an, andererseits knüpfte er diesen Dienst, diese „Liebe“ an den katholischen Glauben als wahrheitsstiftendes Element. Nicht umsonst erfüllte der Heilige Isidor von Sevilla (556 – 636) die Funktion des geistigen Schutzherren des Consejo. Als historische Figur verband er Wissenschaft („Enzyklopädist“), „Glauben“ und politische „Schmiede“ Spaniens dank seiner evangelisierenden Tätigkeit auf der iberischen Halbinsel des frühen Mittelalters. Glauben und Vaterland wurden somit gemäß einem national-katholischen Narrativ untrennbar miteinander verkoppelt, das als Fundament für das Gebäude der neuen spanischen Wissenschaft dienen sollte. Die Bedeutung des Katholizismus’ für den CSIC beschränkte sich nicht lediglich auf öffentliche Fremdzuschreibungen der Kirchenhierarchie.Vielmehr war die katholische Ausrichtung tief in der Konzeptualisierung und Institutionalisierung des Consejo selbst verwurzelt. Die Gründung des CSIC gab den Anlass für die Inszenierung eines Auf-Bruchs, der eine neue Epoche katholischer Wissenschaft durch die Überwindung vergangener geistiger Irrwege einleiten sollte – entsprechend der späteren Diagnose von José María Albareda in seinem 1953 erschienenen Werk Consideraciones sobre la Investigación Científica: „Die Wissenschaftler haben [vor 1939] ihre Pflichten gegenüber Gott und den Menschen missachtet, indem sie eine atheistische Wissenschaft begründeten […].“³³ Auch Francisco Franco bestärkte in einer Rede vor der Versammlung spanischer Wissenschaftsvertreter im Jahr 1949 die „wiederhergestellte“ Verbindung zwischen katholischem Glauben und Wissenschaft, indem er jene auf der Aktivseite der franquistischen Legitimationsbedürfnisse verbuchte: „Wenn unsere hartnäckigen Verleumder aus böswilligen und sektiererischen Absichten heraus dieses Kapitel unserer intellektuellen Aktivität [gemeint war die Wissenschaft] als bevorzugte Zielscheibe gewählt haben, um eines Tages zu behaupten, dass unsere Rasse zu jeglichem kulturschöpfenden Beitrag in der bedeutenden zivilisatorischen Aufgabe unfähig sei, dann haben sie dies gerade aus dem Grund getan, weil sie sich gedrängt fühlten, unsere ureigene Wissenschaftsauffassung zu diskreditieren, nämlich die Auffassung von der Wissenschaft als Verbündete Gottes und nicht als pantheistische Gottheit, in der der letzte Grund der Dinge und die letzte Essenz der Schöpfung ruhen würde.“³⁴

 Albareda: Consideraciones, S. 434.  CSIC: Memoria, 1949, S. 94.

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘

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Die Verleumdung vermeintlicher spanischer Errungenschaften durch meist nicht näher bezeichnete „Verschwörer“ war ein gängiges Motiv in den Reden Francos.³⁵ An dieser Stelle und vor dieser Zuhörerschaft knüpfte er jedoch an die traditionsreichen Auseinandersetzungen um das problematische Verhältnis der „spanischen Wissenschaft“ zu den im 19. Jahrhundert aufkommenden positiven Wissenschaften an. Die als „Streit um die spanische Wissenschaft“ bekannte Debatte, die nach der Publikation der Schriftensammlung Polémicas, indicaciones y proyectos sobre la ciencia española des jungen Gelehrten Marcelino Menéndez Pelayo (1856 – 1912) im Jahr 1876 entbrannte, markierte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Frontlinien zwischen den Vertretern einer laizistischen und einer katholisch fundierten Wissenschaft.³⁶ Menéndez Pelayo, der dank dieser und anderer Werke zur zentralen Figur der national-katholischen Gelehrsamkeit emporgestiegen war, bewahrte in der ersten Phase des Franco-Regimes seine Funktion als Identifikationsfigur und quasi unbestrittene Autorität in Sachen traditionalistisch-nationaler Deutungen der spanischen Ideengeschichte. Sein viel zitiertes Diktum aus den 1880er Jahren, wonach die Essenz Spaniens darin läge, „Bekehrer der halben Erdkugel“ gewesen zu sein, „der Hammer, der die Häresie zerschlägt, das Licht von Trient, das Schwert Roms, das Wiegebett von Sankt Ignatius“, verschmolz den Katholizismus mit der spanischen Nation: „dies ist unsere Größe und unsere Einheit; wir haben keine andere.“³⁷ Im Sinne der diskursiven Abgrenzung und des inszenierten Auf-Bruchs gegenüber einer vergangenen Epoche setzte der Erziehungsminister Ibáñez Martín das Ende der „Polemik“ zeitgleich mit der Gründung des CSIC und dem Sieg der nacionales im Bürgerkrieg an: „Obwohl die superbia vita ihrer Anstifter viel Blut und viele Tränen gekostet hat, endet jene Polemik am heutigen Tag und das neue Spanien, das so viele Demütigungen und Ängste überlebt hat, ist im Nachhinein zum Symbol des Sieges von Don Marcelino über jene Pygmäen geworden, welche die jahrhundertealte Rinde der spanischen Nation lediglich anzukratzen vermochten.“³⁸

 Zur Biografie, zum politisch-idologischen Denken und zur öffentliche Person Francos siehe Paul Preston: Franco. A Biography, London 1993; Antonio Cazorla Sánchez: Franco. The Biography of the Myth, London 2014; Carlos Collado Seidel: Franco. General – Diktator – Mythos, Stuttgart 2015.  Vgl. Eusebio García Fernández: La polémica de la ciencia española (1876 – 1877). ¿Un debate ideológico acerca de las dos Españas?, in: Cuadernos del Instituto Antonio de Nebrija de Estudios sobre la Universidad 8 (2005), S. 71– 96.  Marcelino Menéndez Pelayo: Historia de los heterodoxos españoles. Bd. 2, Madrid 1978 [ursprünglich 1880 – 1882], S. 658.  CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 30.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

Die Funktion Menéndez Pelayos als autoritative Instanz zeigte sich nicht nur in der stetigen Thematisierung dieses Denkers in den einschlägigen Publikationsorganen der intellektuellen Eliten des Franquismus, sondern auch im finanzträchtigsten Editionsvorhaben in der Geschichte des vordemokratischen CSIC. ³⁹ Zwischen 1940 und 1974 publizierte der Consejo unter enormem finanziellen Aufwand die Reihe Edición nacional de las obras completas de Marcelino Menéndez Pelayo, bestehend aus insgesamt 65 Bände.⁴⁰ Die Edition der Schriften dieser geisteswissenschaftlichen Identifikationsfigur des National-Katholizismus war jedoch nicht nur ein Projekt unter anderen Projekten, wie die umfangreiche Korrespondenz zwischen José M. Albareda und einem seiner engsten Mitarbeiter während der Gründungszeit des CSIC, Alfredo Sánchez Bella (1916 – 1999), belegt. Der Initiator des CSIC, Albareda, und der spätere Direktor des Instituto de Cultura Hispánica (1946 – 1956) sowie Informations- und Tourismusminister (1969 – 1973) Sánchez Bella veranlassten diese Großedition mit offiziellem Charakter und planten eine begleitende „Propaganda“⁴¹, die, über Presse und Radio, Menéndez Pelayo mit der Entstehungsgeschichte des CSIC verbinden sollte⁴² – eine Verbindung, die derart nachhaltig hergestellt wurde, dass die Zeitung El Correo Catalán im Jahr 1960 die Errungenschaften der Institution mit folgenden Worten pries: „Große und fruchtbare Arbeit. Der CSIC, das große Werk, nach dem sich bereits Menéndez Pelayo sehnte, feiert die ersten zwanzig Jahre seines Bestehens.“⁴³ Menéndez Pelayo war nicht die einzige Figur der spanischen Geistesgeschichte, die für den symbolischen Aufbau des Consejo selektiv verwendet wurde. Das institutionelle Gefüge des CSIC bestand zu Beginn aus sechs Abteilungen, dann aus zwei weiteren bis Ende der 1940er Jahre. Die sogenannten Patronatos erhielten dabei programmatische Namen, die sich durch eine spanische Wissenschaftstradition im Sinne des neuen Regimes wie ein roter Faden zogen:

 Zur Figur Menéndez Pelayos im Kontext innerfranquistischer Auseinandersetzungen siehe Santos Juliá: Historias de las dos Españas, Madrid 32005, S. 355 ff., insbesondere S. 359.  Während der drei Jahre von 1942 bis 1944 wurden 550 000 Peseten für dieses Editionsvorhaben veranschlagt. Dies entsprach etwa sechzig Prozent des Budgets des zentralen geschichtswissenschaftlichen Instituts (Jerónimo Zurita) und rund acht Prozent desjenigen aller geisteswissenschaftlichen Institute für denselben Zeitraum. Eigene Berechnung aus den Memorias der Jahre 1942 bis 1944.  Schreiben von Enrique Sánchez Reyes an Sánchez Bella, 3.10.1940, AGUN, Fondo Albareda, 006/001/075.  Siehe dazu den sechsseitigen Bericht des Verantwortlichen für die Edition, Enrique Sánchez Reyes, an Sánchez Bella und Albareda, ebd. Die Korrespondenz zwischen Albareda und Sánchez Bella zum ursprünglichen Editionsvorhaben in AGUN, Fondo Albareda, 006/001.  El Correo Catalán, 1.4.1960, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10413.

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘

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Patronato Alfonso el Sabio (anorganische Naturwissenschaften): Alfons X.von Kastilien, genannt der Weise (1221– 1284), ‚Gelehrtenkönig‘ und König Kastiliens während der Reconquista. Patronato Raimundo Lulio (Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften): Katalanischer Theologe und Logiker (1232– 1315). Sein arbor scientiae stellt bis heute das Symbol des CSIC dar.⁴⁴ Patronato Alonso de Herrera (organische Naturwissenschaften): Kaplan des Großinquisitors Kardinal Cisneros, Botaniker (1470 – 1539) und Autor des Traktats Agricultura general (1513). Patronato Saavedra Fajardo (Internationale Studien): Benannt nach dem Diplomaten und politischen Gelehrten Diego Saavedra Fajardo (1584– 1648), Autor des Fürstenspiegels Idea de un príncipe político cristiano, representada en cien empresas (1640) und zentrale Figur des national-katholischen Narrativs der Nachbürgerkriegszeit aufgrund seiner vermeintlichen Verteidigung des „spanischen Weges“ für ein katholisches Europa bis zum Westfälischen Frieden.⁴⁵ Patronato Quadrado (lokale Studien): Der mallorquinische Gelehrte und Archivar José M. Quadrado (1819 – 1896), „in erster Linie katholischer Apologet“⁴⁶, verlieh dieser im Jahr 1948 gegründeten Abteilung für lokale Studien seinen Namen. Patronato Ramón y Cajal (Medizin): Als einziger spanischer Nobelpreisträger (1906) außerhalb der literarischen Sparte, fungierte der Histologe Santiago Ramón y Cajal (1852– 1934) als internationaler Prestigeträger.⁴⁷ Patronato Juan de la Cierva (Ingenieurswissenschaften): Der Ingenieur Juan de la Cierva (1895 – 1936) galt als Beispiel der Vereinigung von nationalem Einsatz und technischem Erfindungsgeist, da er einen Vorläufer des Helicopters, den sogenannten autogiro, erfand und zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges aktiv für die nacionales Partei genommen hatte. Patronato Menéndez Pelayo (Geisteswissenschaften)

 Vgl. http://www.csic.es/web/guest/home, [Stand: 8. 3. 2017].  Ein besonders klaren Exponenten für diese national-katholischen Einbettung lieferte die vom CSIC herausgegebene Monografie von José M. Jover: 1635. Historia de una polémica y semblanza de una generación, Madrid 1949.  So die Einschätzung eines seiner Kritiker, Mario Méndez Bejarano: Historia de la filosofía en España hasta el siglo XX, Madrid 1925 f., S. 443.  Zur Figur Ramón y Cajals siehe etwa Alfredo Rodríguez: Ciencia y regeneracionismo. Santiago Ramón y Cajal y la política científica en la España del dintel del nuevo siglo (1898 – 1907), in: Octavio Ruiz-Manjón/María A. Langa (Hrsg.): Los significados del 98. La sociedad española en la génesis del siglo XX, Madrid 1999, S. 703 – 712. Zur Kontinuität von Cajals „Vermächtnis“ nach dem Jahr 1939 siehe María Jesús Santesmases: El legado de Cajal frente a Albareda. Las ciencias biológicas en los primeros años del CSIC y los orígenes del CIB, in: Arbor 160 (1998), S. 305 – 332.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

Die Benennung dieser zentralen Abteilungen und auch der ihnen unterstellten Forschungsinstitute nach den Größen des national-katholischen Wissenschaftsnarrativs zielte auf die Selbstvergewisserung einer ‚wahrhaft spanischen‘ und damit nicht laizistischen Wissenschaftstradition, an die der Consejo anschließen sollte.⁴⁸ Diese Gelegenheit zur Selbstvergewisserung, die Chance überhaupt, den symbolischen Aufbau des CSIC zur Konstruktion eines solchen nationalen Erbes zu nutzen, wurde nicht nur von den wissenschaftspolitischen Trägern, sondern auch von internationalen Kollegen erkannt. So gab die Diskussion im Anschluss an einen Vortrag Albaredas vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen im Sommer 1954 dem Kirchenhistoriker Georg Schreiber (1882– 1963) dazu Anlass, den „vorbildlichen“ Charakter dieser Initiative zu unterstreichen: „Ein anderes noch im Unterschied zu Deutschland. Es betrifft die Benennung, die Firmierung und die Flagge der Wissenschaftsinstitute [gemeint sind die Patronatos]. Diese sind in der Peninsula gern nach großen Wissenschaftspersönlichkeiten benannt. Dies ist gewiss eine Ehrung, die selbstverständlich sein sollte. In dieser Wertung einer großen Tradition ist uns Spanien weit voraus.Was Sie, Herr Referent, an Patronaten genannt haben, ist vorbildlich.“⁴⁹

Die lobenden Worte des Prälaten Georg Schreiber und auch die Anerkennung der übrigen anwesenden wissenschaftspolitischen Honoratioren folgten ihrer Form nach den Gepflogenheiten der akademischen Diplomatie.⁵⁰ Auf inhaltlicher Ebene machten sie jedoch auf den Wert der „Wissenschaftspersönlichkeiten“ für

 In eben diesem Sinne hielt der Chemiker Antonio Gregorio seinen Festvortrag zur ‚Erfolgsgeschichte‘ der spanischen Wissenschaft vor der Plenarversammlung des CSIC im Jahre 1940.Vgl. die abgedruckte Festrede in CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 11– 28.  Der zitierte Diskussionsbeitrag in José M. Albareda: Die Entwicklung der Forschung in Spanien. Vortrag vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Sondersitzung am 23.6.1954, hrsg. von Leo Brandt, Köln/Opladen 1956, S. 43, kursiv im Original.  Ihr Inhalt ist hingegen vor dem Hintergrund eines katholischen Abendlanddenken zu verstehen, der in der westdeutschen Nachkriegszeit in bestimmten Kreisen – zu denen auch der ehemalige Abgeordnete der Weimarer Zentrumspartei Schreiber gehörte – eine bewundernde Haltung für ‚das katholischste Land Europas‘ hervorbrachte – so vor allem in der deutschsprachigen Zeitschrift Neues Abendland. Vgl dazu Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, Oldenbourg 1999 (Ordnungsysteme 4). Albaredas Vortrag gab den Anstoß zu einer um die Defizite der bundesdeutschen Forschungsorganisation kreisenden Diskussion, an der auch der Initiator der KFA Jülich Leo Brandt teilnahm und die von einer für diese Kreise charakteristischen Rückstandrhetorik geprägt war. Vgl. Bernd-A. Rusinek,: Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der KFA Jülich von ihrer Gründung bis 1980, Frankfurt/New York 1996, S. 203 – 215. Von dieser Konferenz Albaredas hat Albert Presas: Nota histórica. Una conferencia de José María Albareda ante las autoridades académicas alemanas, in: Arbor 160 (1998), S. 343 – 357 berichtet.

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘

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die Konstruktion einer nationalen Wissenschaftstradition aufmerksam. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Ahnengalerie nicht nur dem national-katholischen Narrativ entsprach, sondern es auch zusammen mit seinen Diskontinuitäten und blinden Flecken widerspiegelte. Betrachtet man nämlich die Chronologie der Geburtsdaten derjenigen, die den insgesamt 40 Patronatos und Institutos ihren Namen gaben, so lässt sich die Unstetigkeit des national-katholischen Narrativs visualisieren:

Abb. 1: Anzahl der Institutos und Patronatos des CSIC nach den Jahrhunderten, in denen ihre Namensgeber geboren wurden.

Die Linie der gewählten Persönlichkeiten beginnt in der Epoche der christlichen Reconquista, setzt sich im Zeitalter des beginnenden Imperiums fort, wird für die Jahrhunderte des Niedergangs der spanischen Hegemonie in Europa und der Aufklärung prompt unterbrochen, um im späten 19. Jahrhundert auf der Grundlage national-katholischer Denker erneut wiederaufgenommen zu werden.⁵¹ Diese Diskontinuität ist in narratologischer Hinsicht deswegen bedeutsam, da sie das von konservativ-katholischer Seite verfochtene Schema von Aufstieg, Glanzzeit, Niedergang und Neuaufstieg Spaniens exemplarisch widerspiegelt und zugleich auf den zentralen blinden Fleck des national-katholischen Narrativs verweist: Das Zeitalter der positiven Wissenschaften und der industriellen Technik. Die Gründe dafür, dass die Jahrhunderte zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Aufkommen national-katholischer Denker ausgespart wurden, waren vielfältig. Aus dem Blickwinkel imperialer Größe koinzidierte diese Zeitspanne  Vier dieser Figuren wurden vor 1400 geboren, 21 hingegen im 15. und 16. Jahrhundert, nur zwei im 17. und vier im 18. Jahrhundert. Die übrigen neun sind dem späten 19. Jahrhundert zuzuordnen.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

mit der sogenannten decadencia, die als Begriff selbst eine lange Tradition besaß und den Verlust der Hegemonie in Europa sowie der überseeischen Kolonien als Untergang des ‚eigentlichen Spaniens‘ deutete.⁵² Diese decadencia beschrieb jedoch auch einen Prozess des inneren, nationalen Verfalls in den Kategorien fehlender nationaler, moralisch-religiöser und sozioökonomischer Kohäsion. Der Bankrott des spanischen Staates und die Pauperisierung der spanischen Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert, die karlistischen Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts, das Erstarken liberalen und laizistischen Gedankenguts nach den napoleonischen Kriegen sowie das Aufkommen peripher-nationalistischer Bestrebungen waren nur einige der vermeintlichen Begleiterscheinungen dieser decadencia in ihrer national-katholischen Auslegung. Die Exklusion dieser Epoche der spanischen Geschichte war, aus der Logik des besprochenen Narrativs betrachtet, in dieser Hinsicht kongruent. Problematischer war hingegen ihr Ausschluss in Bezug auf die Konstruktion eines wissenschaftshistorischen Erbes. Auf dieser Ebene resultierte die Unstetigkeit des roten Fadens nicht aus einer Kritik an bestimmten soziopolitischen Zuständen oder am mangelnden Gewicht Spaniens im internationalen Mächteverhältnis. Sie war vielmehr durch das Spannungsverhältnis bedingt, das sich aus dem Versuch ergab, ein katholisch inspiriertes Wissenschaftssystem und Wissenschaftserbe in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu konstruieren, welches das weitgehend säkularisierte Wissenschaftsverständnis seit der Aufklärung aussparte. Dieser blinde Fleck in der Konstruktion einer Wissenschaftstradition verweist dabei auf ein grundlegendes Problemverhältnis: Die technisch-industrielle Moderne als diskursiv angelegte Gefahr innerhalb des franquistischen Wissenschaftsdiskurses selbst. Als blinder Fleck wird an dieser Stelle die Exklusion jener Epoche aus dem Pantheon der „Wissenschaftspersönlichkeiten“ deswegen bezeichnet, da dieser Ausschluss weniger auf einer Kritik als vielmehr auf einer Nicht-Thematisierung basierte. Dieser blinde Fleck sollte, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden wird, die wissenschaftspolitische Sprache in den 1950er und 1960er Jahre einholen. Während der 1940er Jahre galt jedoch die Feststellung, die die Zeitung ABC im Jahr 1944 für den Consejo als Stellvertreter der spanischen Wissenschaft formuliert hatte. Waren die Natur- und Technikwissenschaften von universeller Bedeutung, so waren es die Geisteswissenschaften von spezifisch nationaler: „Denn es gibt einen Enthusiasmus für wissenschaftliche Studien, der zeitgemäß und im engeren Sinne spanisch ist, und eine spezielle Psychologie des spanischen Wis-

 Vgl. etwa Sören Brinkmann: Aufstieg und Niedergang Spaniens. Das Dekadenzproblem in der spanischen Geschichtsschreibung von der Aufklärung bis 1898, Saarbrücken 1999.

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘

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senschaftlers, die Forschung, Methode und Funde färbt, was vor allem für die Geisteswissenschaften gilt.“⁵³ Die „Psychologie des spanischen Wissenschaftlers“ bestimmte ihn zwar nicht für die Geisteswissenschaften allein. Ingenieurs- und Naturwissenschaften bildeten einen wichtigen und notwendigen Bestandteil der wissenschaftspolitischen Bestrebungen des CSIC. Sie machte jedoch die Geisteswissenschaften zu einem Bereich, in dem das „im engeren Sinne Spanische“ erst zur Geltung kam. In diesem Selbstverständnis betonte auch die syndikalistische Tageszeitung Pueblo, dass „die Geisteswissenschaften in der Organisation [gemeint ist der Consejo] jenen Rang [einnehmen], der ihnen selbstverständlich zusteht.“⁵⁴ Die Ordnung und Hierarchie der konstruierten Wissenschaftstradition, die Privilegierung der Geisteswissenschaften innerhalb dieser Ordnung, so wie sie vom CSIC symbolisiert wurde, manifestierte sich nicht nur im institutionellen Aufbau, in editorischen Vorhaben und in den Wissenschaftsdiskursen. Der ideelle Zusammenhalt der neu gegründeten Institution wurde zudem durch das für sie gewählte Symbol verdeutlicht: Den arbor scientiae des bereits erwähnten mittelalterlichen Theologen und Logikers Raimundus Lullus. Dieses Symbol, das bis heute als Wahrzeichen des Consejo erhalten geblieben ist und als bunte Fensterfront den Eingangsbereich zum Hauptgebäude schmückt, repräsentierte das neue Projekt in bildhafter Form und enthielt neben einer historischen auch eine organologische Vorstellung der spanischen Wissenschaft.⁵⁵ Die staatlichen Archivbestände zur frühen Institutionalisierungsphase des CSIC geben kaum Aufschluss darüber, welche Überlegungen zu dieser symbolischen Darstellung seitens der über den Aufbau des Consejo entscheidenden Personen angestellt wurden. Auch Albaredas Privatnachlass, der einen Großteil der wichtigsten Akten zur Geschichte des CSIC enthält, gewährt keinen Einblick in die Entstehungsgeschichte dieser und anderer symbolischer Konzeptionen.⁵⁶ Dennoch ist die Tatsache, dass der arbor scientiae als Symbol für den CSIC gewählt und bis heute beibehalten wurde, bezeichnend. Ähnlich wie bei der Benennung der Patronatos wurde der CSIC durch ein katholisches und damit im

 ABC, 15.12.1944, S. 7.  Pueblo, 2. 2.1951, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9907.  Die Bänder, die den Baum mit den Disziplinen schmücken, sind heute allerdings nicht mehr beschriftet.  Vgl. zu den Archivbeständen des CSIC Alfredo Rodríguez: Funtes documentales para la historia del CSIC, in: Arbor 163 (1999), S. 349 – 364. Der Privatnachlass von José M. Albareda ist erst seit wenigen Jahren im Archiv der Universidad de Navarra einsehbar. Trotz der wichtigen Bestandslücken in Bezug auf die unmittelbare Nachkriegszeit handelt es sich bei diesem Privatnachlass um einen zentralen Archivbestand für die Geschichte des CSIC.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

Abb. 2: Árbol de la Ciencia, Symbol des CSIC (Aus: José Ibáñez Martin: Diez años de servicio a la cultura española, 1939 – 1949, Madrid 1950, S. 15)

1.2 Wissenschaft, Katholizismus und das ‚nationale Erbe‘

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franquistischen Sinne national inspiriertes Wissenschaftssymbol repräsentiert, das auf voraufklärerische Zeiten verwies. Die Theologie, die in der CSIC-Symbolik den Baumstamm darstellte, aus dem die restlichen Disziplinen erwuchsen, nahm erneut den Platz der ‚Ersten Wissenschaft‘ in dieser Wissenshierarchie an. In seiner von organischer, insbesondere botanischer Rhetorik überwuchernden Rede vor dem Plenum des Consejo im Jahr 1941 führte Ibáñez Martín wie folgt aus: „Üppig erwuchs der imperiale Baum der spanischen Wissenschaft im Garten der Katholizität und er verschmähte es nicht, die heilige und göttliche Wissenschaft als besondere Faser und Nerv in seinem Stamm zu beherbergen, aus dessen Säften sich das ganze buschige Geäst einstimmig ernährte. Die theologische Genialität Spaniens, die für den Dienst an der Katholizität des Glaubens erblühte, soll auch zu diesem erhabenen Zeitpunkt den ersten Rang bei der wissenschaftlichen Wiedergeburt einnehmen. Unsere gegenwärtige Wissenschaft will – verbunden mit jener, die uns in den vergangenen Jahrhunderten als Nation und als Imperium definierte – in erster Linie katholisch sein.“⁵⁷

Die Baum-Rhetorik als diskursives Mittel, um sowohl die katholische Hierarchie der Wissenschaften als auch ein organologisches Verständnis des Zusammenhaltes der Disziplinen zu postulieren, wurde in den ersten Jahren des CSIC ubiquitär verwendet. Sie verlieh darüber hinaus sogar dem zentralen Sprachorgan des Consejo seinen Namen: Die Zeitschrift Arbor war im Jahr 1944 gegründet worden, um „die offenkundige christliche Harmonie der Wissenschaften zu rühmen.“⁵⁸ Zugleich aber erforderte die Wahl dieses ‚Baumes der Wissenschaft‘ seine Anpassung an die wissenschaftssemiotischen Bedürfnisse der 1940er Jahre. Daher wählte man nicht die ursprünglichen sechzehn Äste des mittelalterlichen Erkenntnissystems als symbolische Ordnung des Consejo, sondern die hauptsächlich durch die Patronatos gegliederten Disziplinen mit der Theologie als Stamm.⁵⁹ Diese Adaption des arbor scientiae erfüllte drei Funktionen: Erstens fügte sich der vereinfachte, bis auf die Patronatos beschnittene Baum besser in die institutionelle Struktur des Consejo ein, ohne dabei auf seine wesentlichen semantischen Komponenten zu verzichten – Katholizismus und organologisches Denken. Zweitens besaß er die Eigenschaft, eine bestimmte Wissenschaftsordnung zu vermitteln, ohne dabei – und im Gegensatz zur lullianischen Version –  CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 33.  CSIC: Memoria, 1944, S. 45.  Zur ursprünglichen lullianischen Wissenschaftskonzeption siehe Anthony Bonner: The Structure of the Arbor Scientiae, in: Fernando Domínguez Reboiras/Pere Villalba Varneda/Peter Walter (Hrsg.): Arbor scientiae. Der Baum des Wissens von Ramon Llul. Akten des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 40-jährigen Jubiläums des Raimundus-Lullus-Instituts der Universität Freiburg i.Br., Barceona 2002, S. 21– 34.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

eine ausdifferenzierte Erkenntnistheorie zu postulieren. Aus dem ‚Baum der Wissenschaft‘ des CSIC ging nämlich kein epistemologisches System hervor. Weder die Jahresberichte, noch die Reden vor der Plenarversammlung, noch die Zeitschrift Arbor unternahmen konsequente Versuche, die Theologie in den einzelnen Disziplinen neu zu verorten.⁶⁰ Auch das bereits zitierte Hauptwerk José M. Albaredas, die Consideraciones sobre la investigación científica aus dem Jahr 1951, verwendete eine organologische und vom Katholizismus geprägte Sprache in extenso, ging jedoch in keinem seiner Kapitel auf den arbor scientiae als Wissenssystem ein. Drittens machte die Abwesenheit eines epistemologischen Ausbaus des arbor aus diesem Symbol zum einen ein semiotisches Reservoir für rhetorische Mittel und Metaphern im Rahmen essayistischer Auseinandersetzungen.⁶¹ Zum anderen war dem arbor scientiae aber auch eine für die Symbolizität charakteristische semantische Unschärfe eigen. Er erfüllte als Symbol die Funktion eines „flexibel interpretierbare[n] […] Deutungs- und Identifikationsangebot[s]“⁶², das organologische und katholische Wissenschaftsvorstellungen suggerierte, sich aber auf kein konkretes Signifikat festlegen ließ. Eine epistemologisch untermauerte Wissenshierarchie ging aus der symbolischen Ordnung des CSIC demnach nicht hervor. Die vom ABC diagnostizierte „spezielle Psychologie des spanischen Wissenschaftlers“ fügte sich in diese organisch gedachte und katholisch inspirierte Hierarchie ein, ohne dass dabei eine strukturierte, für die wissenschaftliche Praxis präskriptive Doktrin resultierte, wie in einem späteren Kapitel insbesondere für die Geschichtswissenschaft unter dem CSIC deutlich wird. Nationale, katholische und organologische Elemente prägten die zentrale wissenschaftliche Einrichtung als Symbol der spanischen Wissenschaft, wobei jene stets historisch artikuliert waren und sich in ihnen die Unstetigkeiten und inneren Spannungen offenbarten. Zumindest auf symbolischer Ebene konnte der Consejo die ihm in der Präambel zum Gründungsgesetz aus dem

 Zwar eröffnete der junge Religionsphilosoph Raimundo Panikar die erste Ausgabe der Zeitschrift Arbor mit dem Versuch, die ‚verlorene Einheit der Wissenschaften‘ im Glauben zu begründen, doch kann dieser Aufsatz nicht als Programm oder gar als Manifest einer im Übrigen inhaltlich sehr disparaten Zeitschrift gelten. Vgl. Raimundo Paniker: Visión de síntesis del universo, in: Arbor 1 (1944), S. 5 – 40.  So beispielsweise in Albaredas Consideraciones. Dieses Werk kann an dieser Stelle nicht eingehend analysiert werden, doch werden die zentralen Aspekte in diesem und in anderen Kapiteln zitiert. Die wohl beste Analyse von Albaredas Denken bietet Malet: José M. Albareda, S. 307– 332, zu den Consideraciones siehe insbesondere S. 322 ff.  Christoph Boyer: Zur spezifischen Symbolizität spättotalitärer Herrschaft, in: Gert Melville (Hrsg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 639 – 658, hier S. 641.

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft

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Jahr 1939 auferlegte Aufgabe erfüllen: die „Wiederherstellung der im 18. Jahrhundert zerstörten christlichen Einheit der Wissenschaften“.⁶³

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft „Der Baum des Consejo strebt danach, über die gesamte Flur des Vaterlandes seine Wurzeln auszuschlagen und seine Äste auszubreiten.“⁶⁴ Mit diesen Worten verknüpfte Ibáñez Martín vor dem Plenum des Consejo im Dezember 1941 die organische, vom ‚Baum der Wissenschaften‘ geprägten Rhetorik mit der dritten zentralen Konstante des wissenschaftspolitischen Diskurses: Die räumlich-territoriale Erstreckung des wissenschaftlichen „Dienstes am Vaterland“ auf einem regional differenzierten, jedoch national einheitlichen „Vaterlandsboden“.⁶⁵ In einem Redeabschnitt unter dem Titel „Der Baum weitet sich auf ganz Spanien aus: Lebenskraft und Vielfalt“, fuhr der Erziehungsminister damit fort, lokale Zweigstellen des CSIC als Beispiel einer neuen, dezentralisierten und räumlich extensiven Wissenschaftslandschaft zu beschreiben. Diese Lokalinstitutionen sollten Zeugnis darüber ablegen, „dass die Knospen desselben Baumes sich teilen und verzweigen und somit zeigen, dass, wenn der Consejo nicht im Raum der spanischen Hauptstadt, sondern im ganzen Nationalgebiet eingeschrieben ist, dann auch die Unterabteilungen nicht auf den Hauptstadtsitz beschränkt bleiben.“⁶⁶ Wie bereits in Bezug auf die anderen beiden Konstanten ausgeführt, wurde auch hier die neue Wissenschaftsordnung durch die botanische Rhetorik als organisches Kontrastprogramm zur artifiziell „zersetzten“ Vorkriegszeit inszeniert und diskursiv geformt. Diese Abgrenzung galt dabei gegenüber zwei gegensätzlichen Tendenzen, die der Neue Staat in polarisierter Form zur Erbschaft der Republik deklarierte und zu deren Aufhebung der CSIC einen wesentlichen Beitrag zu leisten hatte: Einerseits die identitäre Desintegration der spanischen Nation aufgrund regionalistischer und peripher-nationalistischer Bestrebungen, andererseits die allzu starke, vom liberalen Staat getragene intellektuelle Zentralisierung. Die Abgrenzung gegenüber der ersten Tendenz machte sich exemplarisch gegenüber jener Region bemerkbar, die vor Ausbruch des Bürgerkriegs politische  Ley de 24 de noviembre de 1939 creando el Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Boletín Oficial del Estado, 28.11.1939, S. 6668 – 6671, hier S. 6668.  CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 96.  CSIC: Memoria, 1942, S. 48.  CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 96.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

Autonomiebestrebungen mit intellektueller Institutionalisierung gepaart hatte. Während der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts und bis zum Einmarsch der nacionales in Barcelona im Januar 1939 war in Katalonien ein institutionelles Geflecht entstanden, das aus der Sicht der Sieger zum intellektuellen Träger des katalanischen Sezessionismus geworden war. Die Animositäten richteten sich vornehmlich gegen das Institut d’Estudis Catalans, 1907 als katalanisches Pendant zur Madrider Junta para la Ampliación de Estudios gegründet, sowie gegen die Universidad de Barcelona, zumal letztere seit den 1930er Jahren eine erhebliche Autonomie genossen hatte. Der Bürgerkrieg bedeutete für die beiden Institutionen eine sozial- und institutionsgeschichtliche Zäsur. Die Arbeiten Jaume Clarets geben genaue Auskunft über die Säuberungs- und Umstrukturierungswelle, durch die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein signifikanter Teil der katalanischen Akademiker aus dem Wissenschafts- und Bildungswesen entfernt wurde.⁶⁷ Die Autonomie der Universidad de Barcelona wurde rückgängig gemacht, das Institut d’Estudis Catalans der Obhut regimetreuer katalanischer Eliten unterstellt.⁶⁸ Dieser Bruch innerhalb der katalanischen Wissenschaftslandschaft fand jedoch, im Gegensatz zum Bruch mit laizistischen Traditionen, nur einen geringen Widerhall auf der diskursiven Ebene. Die wissenschaftspolitische Elite verzichtete weitgehend auf die Beschwörung des katalanischen „Übels“ zugunsten eines positiv gewendeten regionalistischen Integrationsdiskurses, der auch hier organische Züge annahm. Unter der Überschrift „Einheitliches Leben, expansive Verästelung, sich mehrende Knospen, Streben zum Mittelpunkt, zum eigentlichen und einzigen Baum“⁶⁹ gab der Jahresbericht des CSIC von 1942 die folgenden Worte Ibáñez Martíns wieder: „In der mediterranen Großstadt [gemeint ist Barcelona vor 1939] hatte sich eine deformierte Forschungslandschaft entwickelt, die darauf angelegt war, so viel wie möglich zur Absonderung und Abspaltung beizutragen. Darin lagen zwei Übel, die in zweifacher Hinsicht parteiisch waren: das geistige Übel, das die historischen Studien vom nationalen Kurs [cauce = Flussbett] abbrachte und das wissenschaftliche Übel, welches das intellektuelle Vermögen Barcelonas verstümmelte und jene Wissenschaften vernachlässigte, die sich nicht für partikularistische Ziele eigneten.“⁷⁰

 Vgl. Jaume Claret: El atroz desmoche; ders.: La repressión franquista a la universitat catalana. La universitat de Barcelona autònoma, de la Segona República al primer franquisme, Barcelona 2003.  Antoni Roca/Josep M. Camarasa: La promoción de la investigación en Cataluña. El Institut d’Estudis Catalans en el siglo XX, in: María J. Santesmases/Ana Romero (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008, S. 39 – 77.  CSIC: Memoria, 1942. S. 37.  Ebd.

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft

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Textstellen wie diese, in denen die katalanische Vorkriegsproblematik explizit angesprochen wurde, waren zwar selten. Sie offenbarten jedoch die semantischen Gegensätze, mit denen der franquistische wissenschaftliche Diskurs mit der regionalen Vielfalt operierte. Der „Absonderung“, dem „Partikularismus“, der „Parteilichkeit“ wurde implizit ein Integrationsgedanke entgegengesetzt, der sich der organischen und naturgebundenen Sprache bediente: Die „Verstümmelung“ eines folglich mit dem Rest Spaniens organisch zusammenhängenden intellektuellen Vermögens Kataloniens, das Abbringen der historischen Studien – und damit der historischen Narrative – vom „Flussbett“ der Nationalgeschichtsschreibung und die „Entstellung“ der natürlichen Wissenschaftsordnung. Gerade letztere sah Ibañez Martín bereits im Jahr 1942 auf katalanischen Boden wieder hergestellt: „Heute wächst dort die Mathematik-, Physik-, Chemie-, Agrarforschung, etc. Und die historischen Forschungen wachsen ebenso und sie verwachsen mit jenen anderer Städte, weil wir nicht eine Parteilichkeit mit einer anderen besiegen wollen, sondern durch Integration, durch die Sehnsucht nach Vollkommenheit.“⁷¹ Der eigentliche Stein des Anstoßes war allerdings nicht die erste, sondern gerade die zweite Vorkriegstendenz hin zu einer allzu starken Zentralisierung. Zugleich bot sie auch eine hilfreichere Kontrastfolie für die territoriale Neuordnung der Forschung. Wie der Minister in der bereits zitierten Rede erklärte, sei die spanische Wissenschaft während der „Epoche vor 1936 […] fragmentiert, eingekapselt, personalistisch, ausschließend, verhüllend und verheimlichend“ gewesen.⁷² Von der Republik geerbt habe die neue Epoche „eine individualistische, ausgerenkte Forschung, ein Durcheinander vereinzelter Bemühungen“, dessen „verstreute Blumen“, von Unkraut gereinigt, gebündelt werden müssten.⁷³ Nicht die Regionalisierung der Forschung war damit für die wissenschaftspolitische Elite des Franquismus der letzte Grund für die Desintegration der spanischen Wissenschaft. Vielmehr fungierte die Konzentration der wissenschaftspolitischen Bemühungen der Junta para la Ampliación de Estudios auf die Hauptstadt Madrid als Negativfolie für die neue „expansive Verästelung“ des CSIC. Die neue Forschungseinrichtung, stellvertretend für die „spanische Zivilisation“, so ein früher Rückblick im Vorwort zum Jahresbericht von 1945, „beschränkte ihre Blütenstände nicht auf das Gelände der politischen Hauptstadt, sondern trug ihre edlen Früchte vielmehr in alle vier Himmelsrichtungen der Nation.“⁷⁴

   

Ebd. Ebd., S. 45. Ebd., S. 52. CSIC: Memoria, 1945, S. III.

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1 Der inszenierte Auf-Bruch: Symbolische Ordnung und institutionelles Gefüge

Die diskursive Abgrenzung gegenüber dem Zentralismus der Vorkriegszeit hielt sich konstant über die ersten zwei Jahrzehnte des Bestehens des CSIC, ungeachtet sich wandelnder politischer Legitimationsgrundlagen und wissenschaftspolitischer Schwerpunktsetzungen. So verwies beispielsweise der Öffentlichkeits- und Pressebeauftragte des CSIC, Juan Roger, in seinem Plädoyer für eine multizentrische Forschungslandschaft im Jahr 1953 auf die allerdings nicht näher spezifizierten „Nachteile der Zentralisierung“.⁷⁵ Auch die Tagespresse griff die politische Devise der Dezentralisierung auf, wenn sie, wie hier die ABC zeitgleich mit Roger, die „Qualität und Authentizität“ der Forschung von der Überwindung hauptstädtischer Konzentration bedingt sah: „Unsere stärkste Hoffnung, dass die Qualität und die wissenschaftliche Authentizität die Rhetorik und die administrative Ertraglosigkeit einer Zentralisierung ersetzen, die Jahrzehnte unserer Kultur geprägt hat, liegt auf dem Consejo und den Männern, die diesen bilden.“⁷⁶ Schließlich lag auch für den Erziehungsminister Jesús Rubio knapp zwanzig Jahre nach der Gründung des CSIC die wichtigste Errungenschaft der Institution in ihrer räumlichen Erstreckung, bzw. in der „nationalen Ausrichtung, die den Forschungsarbeiten zugewiesen worden ist, nachdem sie vor unserem Kreuzzug noch auf das Werk einiger weniger Madrider Gelehrten beschränkt war.“⁷⁷ Die Abgrenzung gegenüber den zwei Vorkriegstendenzen – nationalwissenschaftliche Desintegration und hauptstädtische Konzentration – war eines der zentralen diskursiven Mittel, um den CSIC als neues, integratives und organisch zusammenhängendes Wissenschaftsprogramm zu propagieren. Gleichsam als Fazit und Devise dieses räumlich ausgedehnten Entwurfs der spanischen Forschung kann die einfache Formel betrachtet werden, die José M. Albareda sowohl vor der ersten Plenarversammlung im Jahr 1940 als auch in seiner privaten Korrespondenz anbrachte: „Der Consejo ist kein Punkt, er ist eine Landkarte.“⁷⁸ Tatsächlich waren kartografische Darstellungen der landesweiten Niederlassungen des CSIC ein beliebtes bildliches Begleitmaterial für Informationsbroschüren, Jubiläumsvorträge und Abhandlungen zur Geschichte und Struktur der Organisation.⁷⁹ Das Zusammenfügen einer „individualistische[n], ausgerenkte[n] For-

 Juan Roger: La investigación científica en el mundo, Madrid 1953, S. 131.  ABC, 21.11.1953, S. 60.  CSIC: Memoria, 1957, S. 167.  CSIC: Memoria, 1940, S. 8. Dieselbe Figur findet sich beispielsweise in seinen Briefen an Francisco L. de Riviere, 1940, AGUN, Fondo Albareda, 006/001/021– 1 und 006/001/036 – 1.  So beispielsweise die ausfaltbare Landkarte im Jahresbericht von 1941 und auch im Druck von Albaredas Rede vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Albareda: Die Entwicklung der Forschung in Spanien) und in der Broschüre zur Feier des

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft

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schung“, das Bündeln des „Durcheinander[s] vereinzelter Bemühungen“ sollte in einer Topografie der spanischen Wissenschaft resultieren, in der die einzelnen Regionen im organischen Ganzen der spanischen Wissenschaft aufgehen würden. Doch auf welcher Grundlage baute diese räumliche Verteilung auf? Gerade eine aus regionalistischer Perspektive dem Franco-Regime kritisch gegenüberstehende Forschung hat in Bezug auf seine Wissenschafts- und Intellektuellengeschichte das Bild eines zentralisierten und regionalismusfeindlichen Regimes geprägt.⁸⁰ Die Genese und das Bestehen dieser weiterhin dominierenden Deutung können zwar aus der Perspektive der Säuberungswellen und der de facto institutionellen Zentralisierung des CSIC verständlich erscheinen. Sie sieht jedoch über die bedeutsame Tatsache hinweg, dass das ideologische Geflecht, aus dem sich die unterschiedlichen politischen Praktiken und Diskurse des Franco-Regimes speisten, eine wichtige dezentralisierende, wenn nicht sogar regionalistische Komponente beinhaltete. Bestimmte Manifestationen dieses „franquistischen Regionalismus“ sind in den letzten Jahren von der Forschung insbesondere in Hinblick auf die Konstruktion regionaler Subjekte anhand einer Politik der Folklore untersucht worden.⁸¹ Auch innerhalb der regimeinternen Debatten, die von 1948 an franquistische Intellektuelle in ein vorwiegend katholisch-traditionalistisches und ein überwiegend falangistisch-syndikalistisches Lager aufteilten, identifiziert der Historiker Ismael Saz eine vehemente Verteidigung der tradierten regionalen Differenzen, gespeist aus einem bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden antiliberalen Traditionalismus.⁸² Hinsichtlich der Wissenschaftspolitik des Consejo und seiner territorialen Ausdehnung lag auch hier das Schwergewicht zumindest auf diskursiver Ebene nicht so sehr auf der Seite anti-regionalistischer, sondern vielmehr anti-zentralistischer Tendenzen:

zehnjährigen Bestehens der Institution in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10413. Letztere war ihrer grafischen Darstellung nach sogar den frühneuzeitlichen Seekarten nachempfunden.  Dieses Bild erwuchs aus der katalanistisch motivierten Anklage an die Kulturpolitik des Franco-Regimes im weitesten Sinne. Maßgeblich geprägt hat dieses Bild das weiterhin zitierte Werk von Josep Benet mit dem bedenklichen Titel L’intent franquista de genocidi cultural contra Catalunya, Barcelona 1995. Eine dritte Auflage ist im Jahr 2009 erschienen. Eine deutlich differenziertere Sicht nimmt Antoni Malet: El papel político de la delegación del CSIC en Catalunya (1941– 1956), in: Arbor 160 (1998), S. 413 – 439, ein.  Vgl. Ismael Saz/Ferran Achilés (Hrsg.): La nación de los españoles. Discursos y prácticas del nacionalismo español en la época contemporánea, Valencia 2012, darin insbesondere Juan C. Colomer: ‚El regionalismo bien entendido‘. Una política de construcción nacional, S. 379 – 392.  Vgl. Ismael Saz: España contra España. Los nacionalismos franquistas, Madrid 2003, S. 379 – 396.

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„Anders ausgedrückt, die Forschung soll zur Provinz werden; […] die kulturelle Würdigung der Provinz besteht nicht darin, ihr auf mechanische Weise Ideen und Anregungen zuzutragen, die in den zentralen Institutionen vorgefertigt werden, sondern vielmehr darin, dass sie den eigenen Boden beackert und auf diese Weise selbst ihre authentischen Produkte hervorbringt.“⁸³

– so Jesús Rubios Dichotomisierung der Wissenschaftsordnung in eine zentralistisch-mechanisch-artifizielle und eine provinziell, bzw. regional-organischauthentische Variante. Obwohl die unterschiedlichen franquistischen Lager ihren Glauben an die Notwendigkeit einer landesweiten Erstreckung staatlicher Einrichtungen teilten, waren die spezifisch dezentralistischen Vorstellungen im Personenkreis des CSIC besonders akzentuiert. Antoni Malet hat mit Recht auf die regionalistische Sozialisation Albaredas im Saragossa der 1920er Jahre hingewiesen und die zentrale Argumentation seines Jugendwerks mit dem Titel Biología política treffend zusammengefasst: „It is a centralist system that imposes from above the same uniform political structure upon all the Spanish provinces. And since it does not respect their natures, it generates malfunctions and corruptions.“⁸⁴ Aussagekräftig für den Intellektuellenkreis um die Zeitschrift Arbor und deren Konzeption der territorialen Ordnung war auch die Stellungnahme ihres Wortführers, Rafael Calvo Serer (1916 – 1988), aus dem Jahr 1949: „Gegenüber jenen Doktrinen, die uns das 19. Jahrhundert angeboten hat, als seien sie neu – der Totalitarismus in all seinen Varianten – und gegenüber der liberalen Demokratie, die ihre Ohnmacht vor dem Feind gesteht, gewinnt die politische Doktrin der spanischen Tradition an neuem nationalen und universellen Wert: Nicht-höfische, sondern traditionelle, erbliche, antiparlamentarische und dezentralisierte Monarchie.“⁸⁵

Die politische Dimension der Texte von Albareda und Calvo Serer muss an einer anderen Stelle bewertet werden. Hier machen sie jedoch deutlich, dass die dezentrale Komponente des Consejo einen Hintergrund organologisch-traditionalistischer Vorstellungen besaß, die den Zentralismus in den Limbus „ohnmächtiger“ oder „totalitärer“, jedenfalls korrumpierender Begleiterscheinungen einer liberalen Moderne verbannte.

 CSIC: Memoria, 1958, S. 39.  Malet: José María Albareda (1902– 1966) and the formation of the Spanish Consejo Superior de Investigaciones Científicas; Albaredas verfasste seine knapp hundert Seiten umfassende Abhandlung im Alter von 21 Jahren. Vgl. José María Albareda: Biología política, Saragossa 1923.  Rafael Calvo Serer: España, sin problema, in: Arbor 14 (1949), S. 160 – 173, hier S. 171, kursiv im Original.

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft

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Die Rede von einer Dezentralisierung der spanischen Wissenschaft muss, wie bisher gezeigt wurde, vor dem Hintergrund des Aufbaus des CSIC als Kontrastprogramm zur Wissenschaftsorganisation der Vorkriegszeit und organologischtraditionalistischer Territorialvorstellungen verstanden werden. In diesem Sinn war auch auf der Ebene der territorialen Ordnung die Inszenierung eines AufBruchs von zentraler Bedeutung. Der franquistische Dezentralisierungsdiskurs darf jedoch in keiner Weise mit einer regionalen Autonomie in Sachen wissenschaftspolitischer Planung und Institutionalisierung verwechselt werden. Der „organische Zusammenhang“ der regionalen Verteilung der spanischen Forschung, die „Verästelung“ der vom Consejo abhängigen Institute und Sektionen über das gesamte Territorium dienten vielmehr dem Ausbau der Reichweite staatlicher Einrichtungen und ihrer Hierarchisierung. Drei Merkmale zeichneten in dieser Hinsicht die Institutionalisierung des CSIC in Hinblick auf seine territoriale Ordnung aus: Die Inkorporation bereits bestehender Institutionen, die Förderung landesweiter Sektionen und – hier das scheinbare Paradoxon – eine tiefgreifende Zentralisierung. Die Inkorporation und Anbindung bestehender Institutionen war das erste und wichtigste Mittel für den Aufbau des CSIC. In gewisser Weise baute der Consejo damit auf den Ruinen der Forschung auf, die er zu überwinden suchte. Die Infrastruktur der Junta para la Ampliación de Estudios und die Universitäten dienten dabei als Hauptträger der neuen Einrichtung, nachdem die königlichen Akademien der Wissenschaft nach der Jahrhundertwende weitgehend zu akademischen Ahnengalerien geworden waren.⁸⁶ Während dem CSIC von der Junta para la Ampliación de Estudios nach 1938 lediglich eine Gebäudeinfrastruktur zur Verfügung stand, zwang die institutionelle Kontinuität der Universitäten zu einer Reformulierung vom Verhältnis von Forschung und Lehre im Sinne ihrer „organischen Integration“.⁸⁷ So sahen sowohl das Gründungsgesetz des Consejo aus dem Jahr 1939 als auch die Universitätsverordnung von 1943 eine nicht unumstrittene Anbindung beider Institutionen in Form gemeinsamer Entscheidungsund Beratungsgremien vor. Von zentraler Bedeutung waren hier die tribunales de oposición, das heißt, die fünfköpfigen, vom Erziehungsministerium berufenen

 Insbesondere zur akademischen Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertwende siehe Ignacio Peiró: Los guardianes de la historia. La historiografía académica de la Restauración, Saragossa 22006.  Wie Mariano Peset gezeigt hat, bedeutete der Sieg der nacionales für die Grundstrukturen der Universität anders als für die Junta para la Ampliación de Estudios keinen radikalen Bruch. Vgl. Mariano Peset: La Ley de Ordenación Universitaria de 1943, in: Juan J. Carreras Ares (Hrsg.): La universidad española bajo el régimen de Franco (Actas del congreso celebrado en Zaragoza entre el 8 y el 11 de noviembre de 1989), Saragossa 1991, S. 125 – 158.

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Ausschüsse, die über die Besetzung der Universitätslehrstühle entschieden und in die formale Kontrolle des CSIC gerieten.⁸⁸ Ferner sollte das Ziel, „die Universität [anders als es die JAE getan hatte] nicht von den Forschungszentren zu trennen“⁸⁹ durch die Eingliederung von Lehrstuhlinhabern in die leitenden Positionen der Patronatos, Institute und Sektionen des CSIC erreicht werden. Eine weitere Inkorporation bestehender Institutionen in die Organisationsstruktur des CSIC wurde durch die Gründung des Patronato Quadrado für lokale Studien im Jahr 1949 vollzogen. Die Errichtung dieses Patronato bezweckte nicht so sehr die Förderung lokaler Studien – dies lässt sich auch anhand der geringen finanziellen Zuwendungen für diese Einrichtung zeigen⁹⁰ – sondern vielmehr, „die Isolation der althergebrachten Zentren des spanischen Gebiets zu brechen […].“⁹¹ Ziel war es also, den CSIC als Dachorganisation für bereits bestehende lokale Institutionen und Gelehrtenverbände zu etablieren, wie Miquel Marín auf institutionsgeschichtlicher Ebene gezeigt hat.⁹² Zur Zeit seiner Gründung gehörten dem Patronato Quadrado die neunzehn wichtigsten Gelehrteninstitutionen der Provinzhauptstädte an. Bis ins Jahr 1959 wuchs diese Zahl auf dreißig. Die meist sehr geringen finanziellen Zuwendungen gingen bezeichnenderweise an solche Institutionen, die als intellektuell-kulturelle Zentren der Regionen oder Provinzen galten. So gehörten neben dem vergleichsweise sehr aktiven Instituto Fernando el Católico aus Saragossa auch die forschungsfremden städtischen Museen von Las Palmas oder Pontevedra zum Organigramm des Quadrado. Die Gründung dieses Patronato kann somit als weiterer Versuch gedeutet werden, die Reichweite staatlicher Einrichtungen räumlich auszubauen – in einer Form lokaler Elitenpolitik auf der intellektuellen, wissenschaftlichen und kulturellen Ebene. Eng mit der Inkorporation bestehender Institutionen verbunden war das zweite institutionelle Merkmal des Consejo auf räumlicher Ebene: Die Politik landesweiter Zweigstellenbildung. Diese Politik baute rechtlich ebenfalls sowohl auf dem Gründungsgesetz des CSIC als auch auf der Universitätsverordnung von 1943 auf. Mit der ersten Gesetzesgrundlage wurde zunächst eine Ausweitung der

 Siehe dazu den Art. 58 der Ley de 29 de julio de 1943 sobre ordenación de la Univesidad española, in: Boletín Oficial del Estado, 31.7.1943, S. 7406 – 7431.  Consejo Superior de Investigaciones Científicas (Hrsg.): Estructura y norma de la investigación nacional, Madrid 1940, S. 12.  Im Jahr 1950 standen dem gesamten Patronato Quadrado 345 000 Peseten zur Verfügung – etwa die Hälfte der Mittel, die allein an das geschichtswissenschaftliche Institut Jerónimo Zurita vergeben wurden. Vgl. CSIC: Memoria, 1950, Anhang zum Haushalt.  CSIC: Memoria, 1949, S. 80.  Vgl. Miquel A. Marín: Los historiadores españoles en el franquismo 1948 – 1975. La historia local al servicio de la patria, Saragossa 2005.

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft

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Aktivitäten des Consejo durch die Vervielfachung der von den Patronatos abhängigen Institutos und ihrer lokalen Zweigstellen, der Secciones, in die Wege geleitet. Das neue Forschungsorgan war im Jahr 1940 bereits in 58 Städten vertreten und zählte 33 Institutos, wobei die Anzahl der letzteren in den folgenden zehn Jahren auf 101 anstieg.⁹³ Ibáñez Martín glorifizierte diesen Ausbau 1945 im Sinne der Dezentralisierung: „Die Beständigkeit dieses Entwurfs war derart, dass die Institute ihre Sektionen in unterschiedlichen Städten vervielfacht haben […]. Die Führerschaft steht dabei immer jener Stadt zu, die aus historischen und traditionellen Gründen sowie aufgrund der größten Pflege einer Disziplin den stärksten Führungsimpuls aufweisen kann.“⁹⁴ Ferner eröffnete das Universitätsgesetz von 1943 dem Consejo die Möglichkeit, die eigenen Forschungsvorhaben auf lokaler Ebene an die Lehrstühle dadurch zu koppeln, dass es die Entscheidung über die Finanzierung der universitätsgebundenen Institute weitgehend dem Forschungsrat überließ. Zwar schrieb der Gesetzestext vor, dass den Lehrstühlen ausreichend finanzielle Mittel für die Forschung bereit stehen sollten.⁹⁵ Über die faktisch notwendigen Zusatzfinanzierungen entschied jedoch der Consejo – auf der Grundlage nicht formalisierter Anträge und frei von einem externen oder internen Gutachtensystem. Schon diese Gegebenheiten im Reglement schufen Anreize, die Lehrstuhlinhaber zu einer administrativen Bindung ihrer Forschungseinrichtungen an den CSIC zu bewegen. Dabei veranlasste die Informalität der Finanzierungsentscheide die Institutsleiter dazu, sich sowohl in institutioneller, als auch in privater Hinsicht in eine möglichst günstige Position gegenüber den Entscheidungsgremien und -trägern des Consejo zu stellen.⁹⁶ Die dadurch geförderte Gründung lehrstuhlgebundener Sektionen sicherte den Professoren zwar zusätzliche finanzielle Mittel. Sie machte aus ihren Lehrstühlen aber auch neue Zweigstellen des nationalen Forschungsorgans. Wie sich in den zwei soeben skizzierten Merkmalen andeutet, ging die Inkorporation bestehender Einrichtungen in den CSIC sowie die Gründung von Zweigstellen und die Anbindung neuer Forschungsinstitute an den Universitäten mit einer Zentralisierung der wissenschaftspolitischen und damit vor allem auch finanziellen Entscheidungsmacht einher. Diese Zentralisierung, drittes Merkmal

 Zuzüglich der 25 Institute des Patronato Quadrado.  CSIC: Memoria, 1945, S. 59 f.  Ley de 29 de julio de 1943 sobre ordenación de la Univesidad española, in: Boletín Oficial del Estado, 31.7.1943, S. 7406 – 7431.  Eine systematische Untersuchung der Finanzierungsverfahren und der ihnen zugrunde liegenden Entscheidungskriterien liegt bisher nicht vor. In den Abschnitten zur Geschichtswissenschaft werden jedoch einige Fallbeispiele gegeben.

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des neu geschaffenen Forschungsrates auf räumlicher Ebene, äußerte sich insbesondere in der Organisationsstruktur der Entscheidungsgremien. An deren Spitze stand der Exekutivrat (Consejo Ejecutivo), dem die Leitung der Patronatos unterworfen war. Den Patronatos unterstanden wiederum die einzelnen Institutos und ihre lokalen Secciones. Ein Großteil der Verwaltung und die personalstärksten Institute residierten ebenfalls in der Hauptstadt, so dass sich faktisch eine starke Konzentration nicht nur der Entscheidungsmacht, sondern auch der Forschungsaktivitäten ergab. Sowohl Leitung als auch Verwaltung hatten dabei ihren Sitz im neu erbauten Gebäudekomplex des CSIC in Madrid. Die im Laufe der frühen 1940er Jahre fertig gestellte Gebäudeanlage in privilegierter urbaner Lage umfasste unter anderem die im vorherigen Abschnitt erwähnte Heilig-Geist-Kirche.⁹⁷ Im selben Areal befand sich ebenfalls die symbolträchtige Residencia de Estudiantes, eine Wohnanlage der Junta para la Ampliación de Estudios, die im Jahr 1910 eigens zur Unterbringung namhafter in- und ausländischer Stipendiaten erbaut worden war.⁹⁸ Von dieser symbolträchtigen Förderfunktion weitgehend beraubt, sollte die Residencia nach 1939 zwar zu einem CSIC-internen Wohnheim werden. Die repräsentative Funktion der Madrider Zentrale übernahm hingegen das von Miguel Fisac (1913 – 2006) entworfene Hauptgebäude, das, von einer Parkanlage umgeben, ab 1946 die Plenarversammlungen beherbergte. Gerade der Ausbau des Hauptsitzes des Consejo, zumal auf dem Boden eines der Vorzeigeinstitutionen der liberalen Junta para la Ampliación de Estudios, verweist auf die für diesen Abschnitt zentrale Ambivalenz der franquistischen Wissenschaftseinrichtung. Der Consejo als dezentralisierendes Projekt baute auf diskursiver Ebene, wie bisher gezeigt, auf der Negativfolie einer vermeintlich zentralistischen Junta para la Ampliación de Estudios auf. Gleichzeitig ließ der Forschungsrat machtpolitisch, institutionell und auch architektonisch die „natürlichen cauces“ (Flussbetten) der spanischen Wissenschaft in der Madrider Zentrale zusammen fließen. Die Anklage der Konzentration wissenschaftlicher Einrichtungen in der Hauptstadt vor 1939 wurde damit vom beispiellosen Ausbau einer wissenschaftspolitischen Zentrale begleitet, die die bestehenden Einrichtungen, wie die Residencia de Estudiantes, in die neue Struktur sprichwörtlich einbaute. Albaredas Maxime „Der Consejo ist kein Punkt, er ist eine Landkarte“ stand somit in einem spannungsreichen Verhältnis zu einer institutionellen Praxis, in der das von Ibáñez Martín beschworene „Streben zum Mittelpunkt, zum

 Vgl. Guerrero: El conjunto urbano del CSIC en Madrid, S. 285 – 291.  Zur neueren Forschung zur Geschichte der Residencia de Estudiantes siehe José C. Mainer/ José García-Velasco: Nuevas aportaciones en torno a la historia de la Residencia de Estudiantes, in: Boletín de la Institución Libre de Enseñanza 85/86 (2012), S. 9 – 10.

1.3 Der CSIC und die territoriale Ordnung der spanischen Wissenschaft

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eigentlichen und einzigen Baum“ die Hauptstadt Madrid auf nicht ausgesprochene Weise zum Stammsitz deklarierte. Zwar ging dieses Spannungsverhältnis zwischen zentralistischen und dezentralistischen Tendenzen teilweise im besprochenen organischen Wissenschaftsverständnis auf, das eine Aufwertung der „Provinz“ nur im Zusammenhang mit ihrem Beitrag zu den Früchten der nationalen Wissenschaft zuließ. Zentral und dezentral waren damit zwei Seiten derselben Medaille. Dennoch konnte diese regionale Auffassung die dem Projekt inhärente Spannung nicht vollständig aufheben. Die Wissenschaftspolitik des frühen Franco-Regimes gründete in territorialer Hinsicht vielmehr auf einer Ambivalenz, die sowohl die flächendeckenden Ansprüche der wissenschaftspolitischen Elite befriedigen, als auch den lokal- und regionalelitären Vorbehalten gegenüber dem Consejo entgegenkommen sollte. Bereits in den ersten Monaten der Institutionalisierung des CSIC sah sich José María Albareda beispielsweise veranlasst, die Ausweitung des neuen Organs gegenüber den „althergebrachten Zentren“ der Stadt Barcelona zu preisen.⁹⁹ In einem Brief an Francisco L. de Riviere, damaliger Kulturreferent der Provinzialregierung in Katalonien, kündigte Albareda die Aufforderung des Consejo zur „Mitarbeit“ mit jener kulturpolitischen Instanz an. Nach einem einleitenden Verweis auf die notwendige „Korrektur jener Richtungen“ der Vorkriegszeit bediente sich der CSIC-Generalsekretär dem vorhin erläuterten Dezentralisierungsargument: „Was den Consejo betrifft, sind sein Gründungsgesetz und seine Ansprüche im vollen Sinne des Wortes national, das heißt, er richtet sich auf fruchtbringende Weise an ganz Spanien, ohne sich darauf zu beschränken, die Bezeichnung ‚national‘ lediglich den Zentren der Hauptstadt der Nation zu verleihen.“ Auch der katalanischen Metropole sollte demnach das Privileg zukommen, „nationale“ Forschung zu beherbergen: „Barcelona darf von unseren Erwägungen nicht ausgeschlossen werden, ganz im Gegenteil: es scheint klar zu sein, dass dort die Möglichkeit zur Entwicklung fruchtbarer Forschungsarbeiten besteht.“¹⁰⁰ Wenige Wochen später sah sich Albareda allerdings genötigt, den CSIC nicht zu preisen, sondern vielmehr zu verteidigen und dem „Argwohn“ einer (nicht archivierten) Antwort von Riviere zu begegnen: „Es erübrigt sich, Ihnen zu sagen, wie sehr der Consejo und insbesondere ich frei von all dem sind, was jeglichen Argwohn motivieren könnte.“ Albareda verwendete auch hier die bereits bekannte argumentative Strategie: „Der Consejo, um bildlich zu sprechen, möchte  Zur Institutionalisierung des CSIC und die mit ihr einhergehende Einbindung lokaler Eliten in Katalonien siehe Antoni Malet: El papel político de la Delegación del CSIC en Cataluña (1941– 1956), in: Arbor 160 (1998) S. 413 – 439.  Brief von José M. Albareda an Francisco L. Riviere, 4.6.1940, AGUN, Fondo Albareda, 006/ 001/021– 1.

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eine Landkarte haben, das heißt, er begnügt sich nicht damit, einige Zentren in Madrid zu besitzen. […] Unser Wunsch ist es, nutzbringende Forschungszentren in allen kulturellen Hauptstädten Spaniens zu bilden und damit selbstverständlich auch und sehr speziell in Barcelona aufgrund des Ranges der Stadt.“¹⁰¹ Um sicher zu gehen, dass das dezentrale Prinzip der Wissenschaftspolitik des Consejo deutlich geworden war und um zu zeigen, dass die bildungspolitische Elite Kataloniens keine Zentralisierung zu befürchten hatte, ging Albareda zu einer Aufzählung der landesweiten, geplanten und bereits eingeweihten Institutionen des CSIC über, um sich schließlich argumentativ sogar auf das deutsche Beispiel regional verteilter, aber kulturell bedeutender Einrichtungen zu stützen. Die Gleichzeitigkeit des nationalen Ausbaus des Consejo und des Dezentralisierungsdiskurses setzte sich auch in den Folgejahren fort. Im selben Jahr, in dem ein vom CSIC einberufener Kongress (1945) für lokale Studien die Gründung des Patronato Quadrado einleitete, begegnete Albareda den Zentralisierungsvorwürfen von Josep Puig i Cadalfach, Direktor des weiterhin bestehenden Institut d’Estudis Catalans, mit folgenden Worten: „In Wahrheit greift der Consejo in keinster Weise in die Situation ein, die die kulturellen Einrichtungen Kataloniens durchleben. […] Trotz seiner Reichweite hat der Consejo nie beansprucht, ein totales Wissenschaftsorgan zu sein […].“¹⁰² Die Spannungen blieben auch nach 1945 erhalten und sie verstärkten sich sogar zunehmend, insbesondere hinsichtlich des katalanischen Raumes. Nichtsdestotrotz ging auch in den 1950er Jahren die Devise Albaredas, der Consejo habe „nie beansprucht, ein totales Wissenschaftsorgan zu sein“, mit solchen Initiativen einher, die gerade in die gegensätzliche Richtung wiesen. So begründete Juan Roger vor Albareda die Notwendigkeit einer bio-bibliografischen Großpublikation im Jahr 1954 mit dem Argument, dass sie „die Wichtigkeit und die Bedeutung des Consejo beweisen kann, indem sie offenlegt, dass die gesamte wissenschaftliche und literarische Welt Spaniens dieser Körperschaft angehört.“¹⁰³ Auch das Verhältnis des CSIC zu den Universitäten blieb ambivalent und brachte Debatten hervor, die seine Rolle anhand der Problematik außer- und inneruniversitärer Forschung sowie des Zusammenhangs von Forschung und Lehre

 Brief von José M. Albareda an Francisco L. Riviere, 11.7.1940, AGUN, Fondo Albareda, 006/ 001/036 – 1.  Brief von José M. Albareda an Josep Puig i Cadalfach, 21.12.1945, AGUN, Fondo Albareda, 006/062/038. Der erste Kongress für Lokale Studien fand im Jahr 1945 in der nordspanischen Stadt Jaca statt.  Brief von Roger an Albareda vom 28.9.1954, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173. Die bio-bibliografische Publikation erschien unter dem Titel Colaboradores e Investigadores del Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid 1956.

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thematisierte. Bildungspolitisch einflussreiche Personen wie der ehemalige Hardliner-Falangist Pedro Laín Entralgo (1908 – 2001) und der Traditionalist Alvaro d’Ors (1915 – 2001) vertraten die Position, den Schwerpunkt der Forschung den Universitäten zu überlassen und damit den Zuständigkeitsbereich des Consejo auf seine Koordinationstätigkeit zu beschränken.¹⁰⁴ Demgegenüber trat Albareda für die bereits erläuterte Verlagerung der wissenschaftspolitischen Entscheidungsgewalt und der Forschungsarbeit in das Innere des Consejo ein.¹⁰⁵ Erst diese Versuche zur Vereinnahmung der Forschung – und mit ihr der Forschungszentren – machen die späteren Konflikte mit den peripheren Universitäten verständlich, die Gegenstand des zweiten Strangs dieser Arbeit sind.

 Zu dieser Auseinandersetzung siehe Carolina Rodríguez: Las universidades españolas en el arranque del franquismo. Los años cuarenta, in: Cuadernos del Instituto Antonio de Nebrija 5 (2002), S. 85 – 126.  Albareda: Consideraciones, S. 97.

2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren: ‚Spanische Wissenschaftstradition‘ und ‚fremde Moderne‘ Das institutionelle Gefüge des Consejo Superior de Investigaciones Científicas spiegelte eine symbolische Ordnung und Hierarchie der Wissenschaften wider, die sowohl in Bezug auf den Zusammenhang der einzelnen Disziplinen, als auch im Hinblick auf die wissenschaftspolitische Organisation eng mit organologischen, katholischen und dezentralistischen Vorstellungen verbunden war. Die ‚neue Wissenschaft‘ des ‚neuen Spaniens‘ gehorchte auch in ihrem symbolischen Aufbau, in ihrer Inszenierung und diskursiven Ausformung einer konstruierten Tradition, die auf Katholizität und imperiale Größe verwies und dabei das Zeitalter der Aufklärung und Industrialisierung weitgehend aus dem nationalen Wissenschaftsnarrativ aussparte. Die „Wiederherstellung der im 18. Jahrhundert zerstörten christlichen Einheit der Wissenschaften“¹, wie es im Gründungsgesetz des CSIC vom 24. November 1939 hieß, beinhaltete die Konstruktion einer Ordnung, die die einzelnen Wissenschaftszweige symbolisch aus dem theologischen Stamm des arbor scientiae hervortreten ließ. In den letzten Abschnitten wurden die Ambivalenzen thematisiert, die diesen Wissenschaftsdiskursen, -inszenierungen und -symboliken inhärent waren. Während der ersten zwei Jahrzehnte nach der Gründung des Consejo blieben die Katholizität, der Dienst am Vaterland und die dezentralistische Ordnung tragende Säulen im neuen Gebäude der spanischen Forschung. Ungeachtet dieser Konstanten vollzog der CSIC von seiner Gründung bis Ende der 1950er Jahre einen radikalen Wandel, der Gegenstand dieses Unterkapitels sein wird. Schon im Laufe der 1940er Jahre begannen sich zwei folgenreiche Entwicklungen abzuzeichnen: Zum einen verlagerte der Consejo seine Aufmerksamkeit zunehmend auf die Natur- und insbesondere die Technikwissenschaften. Die Geisteswissenschaften büßten daraufhin ihren privilegierten Status ein, was sich auf allen Ebenen der Förderung niederschlug. Zum anderen wandelte sich der CSIC spätestens ab Ende der 1940er Jahre zu einer Bühne, auf der die Teilhabe Spaniens am Westen inszeniert werden konnte. Damit erstarkte allerdings auch der Topos des ‚Rückstands‘, der zwar von Beginn an in den national-katholischen Wissenschaftsdiskursen angelegt war, jedoch erst im Zuge der Aufwertung der Naturwissenschaften und vor allem der Technik vollends in den Vordergrund trat.  Ley de 24 de noviembre de 1939 creando el Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Boletín Oficial del Estado, 28.11.1939, S. 6668 – 6671, hier S. 6668. https://doi.org/10.1515/9783110532227-006

2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

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Bezeichnenderweise haben die bisherigen Studien zur Geschichte des CSIC und seiner Forschungsinstitute diese zwei Entwicklungen kaum thematisiert.² Der Grund dafür liegt weniger an mangelnden Quellen als vielmehr an den Perspektiven, die in jenen Arbeiten zum Tragen kommen. So gehen die meisten Studien, erstens, von einem engen Wissenschaftsbegriff aus. Die historia de la ciencia oder auch de la investigación científica befasst sich ausschließlich mit der Geschichte der Natur-, Lebens- und Technikwissenschaften. Dies gilt auch dann, wenn sich diese Studien der ‚integrativen‘ Wissenschaftspolitik des CSIC annehmen.³ Diese Verengung des historischen Wissenschaftsbegriffs entspricht zwar einer auch auf internationaler Ebene traditionsreichen Distanz der history of science von den geisteswissenschaftlichen Disziplinen als Untersuchungsgegenstand.⁴ Ferner ließe sich diese Absonderung im spanischen Fall auf die begriffliche Trennung von ciencias und letras bzw. humanidades zurückführen.⁵ Die Ausblendung des gesamtwissenschaftlichen Kontextes wird aber vor allem dann zum Problem, wenn man eine Institution wie den CSIC analysiert, der explizit auf das Postulat der Einheit der Wissenschaften und ihrer konkreten Ordnung aufbaute. Von einem historischen Wissenschaftsbegriff auszugehen bedeutet hier also, die Verschiebungen innerhalb der Wissenschaftsdiskurse und der institutionellen Ordnung des Consejo in den Blick zu nehmen. An die Stelle einzelner, parallel verlaufender Fachgeschichten tritt hier eine Ökonomie wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit in den Vordergrund, die sämtliche Forschungszweige umfasste und von der Ressourcenknappheit im weitesten Sinne bestimmt wurde.

 Auf die internationale Dimension des CSIC als Forschungsdesiderat verweist auch Lorenzo Delgado Gómez-Escalonilla: Dimensión internacional del CSIC, in: Miguel A. Puig-Samper (Hrsg.): Tiempos de investigación. JAE-CSIC, cien años de ciencia en España, Madrid 2007, S. 269 – 277.  So die einschlägigen Publikationen von Ana Romero de Pablos/María J. Santesmases (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Madrid 2008, Amparo Gómez Rodríguez/Antonio F. Canales Serrano (Hrsg.): Ciencia y fascismo. La ciencia española de posguerra, Barcelona 2009, sowie das Dossier ‚Spanish Science under Franco‘ der Zeitschrift Minerva 43,3 (2005). Die vom Consejo eigens herausgegebene Geschichte der Institution (Miguel A. Puig-Samper: Tiempos de investigación) besteht aus einer Aneinanderreihung separater Disziplingeschichten ohne perspektivischen Zusammenhang und methodische Reflexion.  Beispielsweise enthält die einschlägige The Cambridge History of Science erst in ihrem siebten, den Sozialwissenschaften gewidmeten Band zwei Aufsätze zur Geschichtswissenschaft. Vgl. David C. Lindberg: The Cambridge History of Science, 7 Bde., Cambridge 2002 ff., Band 7: The Modern Social Sciences, Hrsg. v. Theodore M. Porter, Dorothy Ross.  Obwohl seit der Rezeption Wilhelm Diltheys in Spanien die Bezeichnung ciencias del espíritu parallel zu jener der letras oder humanidades Gebrauch findet, fallen dennoch die ‚Geisteswissenschaften‘ nicht in das semantische Blickfeld einer eng gefassten Geschichte der ciencias. Vgl. dazu die oben zitierten Sammelbände. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft wird vielmehr gesondert als historia de la historiografía untersucht.

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So ging die Aufwertung bestimmter Bereiche, wenn nicht mit der Abwertung, dann doch mit der Ausblendung anderer einher, die noch in den 1940er Jahren einen privilegierten Status genossen hatten. Ein zweites Merkmal der einschlägigen Studien zur Geschichte des CSIC im Speziellen und der spanischen Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen ist das Ausklammern der diskursiven, symbolischen und inszenatorischen Ebenen. Die Geschichte der Wissenschaft hat sich bisher darauf beschränkt, die wissenschaftliche Produktion und ihre meist streng institutionellen Kontexte zu untersuchen. Gerade bei den technischen Wissenschaften ist man von einem engen Technikbegriff ausgegangen, der die semantischen Felder, in denen sich Begriffe wie Technik und Industrie, aber auch Geisteswissenschaft oder Wissenschaftstradition bewegten, außen vor lässt.⁶ Im Gegensatz dazu werden hier vor allem die Wissenschaftsdiskurse und -inszenierungen sowie die mit ihnen eng verflochtene Wissenschaftspolitik im Vordergrund stehen. Im CSIC spiegelte sich nämlich eine spezifische Form der historisch artikulierten Technikskepsis wider, die an das national-katholische Narrativ gebunden war. Die Analyse dieser Diskurse und Narrative wird zeigen, inwiefern Technik und Wissenschaft zu Begriffen wurden, an denen sich die Gefahren und Chancen der technisch-industriellen Moderne für einen historisch artikulierten, national-katholischen Sonderweg austarieren ließen. Drittens herrscht weiterhin eine ausgeprägte Fortschrittsperspektive, die vor allem die Wissenschaftspolitik und den Consejo danach bemisst, inwiefern sie zur ‚guten‘ Forschung oder aber zur ‚Pseudowissenschaft‘ beitrugen. Dieser normative Zugang zur Wissenschaftsgeschichte unterscheidet zudem zwischen einer ‚ideologisierten‘ und einer vermeintlich ‚ideologiefreien‘ Forschung, die sich seit den 1950er Jahren allmählich von den Zwängen der Diktatur befreit habe.⁷ Vor allem die Naturwissenschaften und die Technik erscheinen darin als Bereiche, die

 Zur Technikgeschichte als Forschungsfeld siehe beispielsweise Martina Heßler: Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung. Zusatztext, in: Dies.: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt, New York 2012, (http://studium.campus.de/sixcms/media.php/274/Hessler_Zusatzkapitel_Internet.pdf) [Stand: 23.6. 2017]. Den Anstoß zu einer methodisch reflektierteren Technikforschung gab in Spanien Agustí Nieto-Galán: ¿Cómo escribir la historia de la tecnología en España?, in: Revista de Historia Industrial 18 (2000), S. 203 – 217.  Vgl. Amparo Gómez: Ciencia y pseudociencia en los regímenes fascistas, in: Dies./Antonio F. Canales (Hrsg.): Cienica y fascismo. La ciencia española de posguerra, Barcelona 2009, S. 13 – 47; dies.: Presentación, in: Ebd., S. 9 – 12. Zur Gegenüberstellung von „Wissenschaft“ und „Pseudowissenschaft“ als diskursive Legitimationsstrategie siehe beispielsweise Jens Thiel/Peter Th. Walther: ‚Pseudowissenschaft‘ im Kalten Krieg. Diskreditierungsstrategien in Ost und West, in: Dirk Rupnow u. a. (Hrsg.): Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2008, S. 308 – 342.

2.1 Vom Gleichgewicht der Wissenschaften zur Privilegierung der Technik

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sich Kraft ihrer inhärenten Rationalität den Instrumentalisierungsversuchen des Franco-Regimes widersetzten. Der Weg des ‚Fortschritts der Forschung‘ führt in dieser Logik weg von der Diktatur, und er mündet meist auch in einer idealtypisch imaginierten modernidad, die mit Internationalität und nicht zuletzt mit ‚Europa‘ in Verbindung gebracht wird.⁸ Die Charakterisierung der Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes als „antimodern“ übergeht jedoch die Tatsache, dass der CSIC sich durchaus den ‚modernen‘ Wissenschaften annahm und darüber hinaus eine klare Internationalisierungspolitik verfolgte.⁹ Die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes verschrieb sich bald einer neuen ‚Wissenschaft‘, die aus ihrer Sicht für internationale Anbindung und Moderne stand. Allerdings war diese Hinwendung nicht weniger diskursiv und symbolisch geformt als die vermeintlich ‚ideologisierte‘ Wissenschaft unter national-katholischem Vorzeichen. Der Oberste Forschungsrat war – sowohl in den 1940ern als auch zwanzig Jahre später – ein Ort für nationalhistorisch artikulierte Standortbestimmungen Spaniens in der technisch-industriellen Moderne.

2.1 Vom Gleichgewicht der Wissenschaften zur Privilegierung der Technik Der CSIC als ein Projekt zur (Wieder‐)Herstellung der christlichen Einheit der Wissenschaft baute, wie in den letzten Abschnitten dargelegt, auf einer Hierarchie auf, die zwar den technischen Disziplinen einen wichtigen Rang zuwies, sie je-

 Vgl. José M. Sánchez Ron: La europeización científica de España, in: Josep Fontana/Ramón Villares (Hrsg.): España y Europa, Barcelona/Madrid 2008 (Historia de España 11), S. 289 – 535; ders.: Cincel, martillo y piedra. Historia de la ciencia en España. Siglos XIX y XX, Madrid 1999, S. 344– 402. Ähnlich bei Luis Sanz: Estado, ciencia y tecnología en España, 1939 – 1997, Madrid 1997.  Vgl. Luis E. Otero (Hrsg.): La Universidad nacionalcatólica. La reacción antimoderna, Madrid 2014. Gleichwohl aus deutlich differenzierter Perspektive ziehen beispielsweise auch Amparo Gómez und Inmaculada Perdomo aus der expliziten Abgrenzung des Consejo gegenüber der liberal-laizistischen und international ausgerichteten Junta Para la Ampliación de Estudios der Vorkriegszeit einen bezeichnenden Schluss: „[…] angesichts der Tatsache, dass die JAE die Eingliederung der spanischen Wissenschaft in internationale Kreise förderte, kann jene Opposition in letzter Instanz nur als Opposition gegen die moderne Wissenschaft verstanden werden.“ Gómez: Ciencia y pseudociencia en los regímenes fascistas, S. 44; vgl. auch Inmaculada Perdomo: La destrucción del legado de la JAE. La política científica del régimen franquista, in: Dies./Antonio Canales (Hrsg.): La ciencia española de posguerra, Barcelona 2009, S. 13 – 47, hier S. 137– 164.

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doch nicht in den Horizont weltanschaulicher Ziele integrierte. Die bereits zitierte Rede Francos vor der Plenarversammlung des Consejo im Jahr 1950 war in dieser Hinsicht symptomatisch: „Wir behaupten, dass es keinen besseren Weg gibt, das wissenschaftliche Ideal zu preisen, als ihm ein Streben nach Ewigkeit zu verleihen und es auf diese Weise zum Vehikel einer gemeinsamen Geschichte zu machen, die den göttlichen Ursprung des Menschen über alle Werte erhebt, ohne dabei die Errungenschaften der Technik zu missachten.“¹⁰ Im Gesamtkonzept dieser neuen „wissenschaftlichen Ideale“ war die Platzierung der „Errungenschaften der Technik“ in einem Nebensatz nicht nur syntaktischen Zwängen geschuldet. Ebenso gehorchte die Förderung der Technik durch das Patronato Juan de la Cierva nicht ausschließlich ökonomischen Zwecken. Franco wählte diese Worte fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs während der internationalen Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen des Consejo. Gäste aus Deutschland, den Vereinigten Staaten, Frankreich, der Schweiz und weiteren vierzehn Staaten des westlichen Blocks traten zu einer Zeit, in der das Franco-Regime seine politische Isolierung zu überwinden suchte, in einer Art paradiplomatischen Geste vor den Caudillo – eine Gelegenheit, die der politischen Elite des Regimes eine geeignete Bühne bot, um das neue Forschungsorgan und seine Konzeption zu inszenieren.¹¹ Der Ablauf der Feierlichkeiten, die ganze fünf Tage in Anspruch nahmen, war darauf ausgelegt, den Gästen die Harmonisierung von ‚spanischer Tradition‘ und Wissenschaft, darunter auch der technischen, vor Augen zu führen. Wie die jährlichen Plenarversammlungen, so begann auch diese Veranstaltung im Jahr 1950 mit einem religiösen Auftakt. Nach einer Messe in der Heilig-Geist-Kirche des CSIC wurden die Gäste direkt im Anschluss in den Festsaal im Hauptgebäude des Consejo geführt. Sehr akribisch sind in den Jahresberichten des Consejo die Eröffnungsfeier samt der Sitzordnung jener Würdenträger beschrieben, die gemeinsam mit dem Erziehungsminister José Ibáñez Martín den Vorsitz der Feier einnahmen. Von ihm ausgehend saßen rechts der Industrieminister, Juan Antonio Suanzes, der Vizepräsident des Consejo, José García Siñériz und der Staatssekretär des Erziehungsministeriums und späterer Minister, Jesús Rubio. Zu seiner Linken wiederum nahmen der Bischof von Madrid-Alcalá, Leopoldo Eijo y Garay, der Dekan der Philosophischen und Philologischen Fakultät der Madrider Universidad Central und Albareda selbst als Sekretär des CSIC Platz. Obwohl in den einschlägigen Archiven keine Unterlagen aufzufinden sind, die explizite Rück-

 CSIC: Memoria, 1949, S. 94.  Die übrigen Repräsentanten stammten aus Österreich, Belgien, Brasilien, dem Vatikan, Chile, Dänemark, Finnland, Frankreich, Holland, England, Irland, Italien, Portugal und Schweden.

2.1 Vom Gleichgewicht der Wissenschaften zur Privilegierung der Technik

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schlüsse auf die Motivation dieser Anordnung zulassen würden, so war diese keineswegs zufällig gewählt worden. Betrachtet man die Sitzordnung als Inszenierung der Wissensordnung, so hielten sich Kirche-Theologie-Geist und Industrie-Ingenieurswissenschaften-Technik auf jeweils der Linken (Eijo y Garay) und Rechten (Suanzes) die Waage. Juan Antonio Suanzes repräsentierte dabei nicht lediglich den staatlich gesteuerten industriellen Sektor. Als Leiter des Instituto Nacional de Industria und Präsident des Patronato Juan de la Cierva verkörperte seine Anwesenheit geradezu die Wertschätzung von angewandter Forschung und Technik. Die Präsenz des Madrider Dekans der Philosophischen und Philologischen Fakultät auf der nächsten Hierarchiestufe auf Seiten des Bischofs wurde auf der rechten Seite durch den Ingenieur und Leiter des Nationalen Instituts für Geophysik, García Siñériz (1886 – 1974), ausgeglichen. Zwei Vertreter der wissenschaftsstiftenden Institutionen, Erziehungsministerium und Consejo Superior de Investigaciones Científicas, bildeten schließlich den Rahmen dieser Anordnung. Eine eingehende Betrachtung der protokollierten Vorsitze für die insgesamt 28 Eröffnungs- und Abschlussfeiern der Plenarversammlungen in den Jahren 1940 bis 1958 macht darüber hinaus deutlich, welche Amts- aber auch Wissenshierarchien in Szene gesetzt werden sollten. Mit Bezug auf die amtlichen Hierarchien war die zentrale Anwesenheit des Staates durch den Vorsitz des Erziehungsministers bei der Eröffnungs- und des Caudillos bei der Abschlusssitzung stets sicher gestellt. Ebenfalls konstant war die Präsenz der Kirche, meist vertreten durch den bereits genannten Bischof der Diözese Madrid-Alcalá oder dem Erzbischof von Toledo und Kardinal Enrique Plá y Deniel (1876 – 1968), der für seine entscheidende Parteinahme für die Streitkräfte Francos bei Ausbruch des Bürgerkriegs bekannt war.¹² Einen ständigen Sitz erhielten auch die hohen Amtsträger des Consejo wie García Siñériz und José M. Albareda, die für die gefeierte Institution als Vizepräsidenten und Sekretäre antraten. Schließlich bot der Vorsitz des Plenums auch Raum für Ehrungen sowie institutionelle und sogar diplomatische Gesten. Über den gesamten Zeitraum durften verschiedene Vertreter aus der Madrider Universität, den Akademien der Wissenschaften und der Künste, ehemalige Minister und Mitglieder des Ehrenbeirats in diese physische und zugleich symbolische Nähe zum Caudillo oder zu seinem Erziehungsminister treten. Hinsichtlich der oben beschriebenen Platzierung der Technikwissenschaften lässt sich allerdings ein deutlicher Wandel beobachten. Das Privileg, bei der Eröffnungssitzung des Plenums unmittelbar zur Linken von Ibáñez Martín zu sitzen,  Vgl. dazu sein berühmt gewordener Hirtenbrief aus dem Jahr 1936; Enrique Plá y Deniel: Las dos ciudades. Carta pastoral a los diocesanos de Salamanca (30.9.1936), in: José Manuel Sabín Rodríguez (Hrsg.): La dictadura franquista (1936 – 1975). Textos y documentos, Madrid 1997, S. 314 f.

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kam dem damaligen Industrieminister Suanzes im Jahr 1949 zum ersten Mal zu. In den vorangehenden Versammlungen hatte die Präsenz industrie- und techniknaher Einrichtungen eine Ausnahme im sonstigen Kreis kirchlicher und CSICeigener Amtsträger gebildet. Dies sollte sich jedoch ab 1950 ändern, da das Juan de la Cierva von nun an einen ständigen Sitz am Präsidialtisch entweder der Eröffnungs- oder der Abschlusssitzung erhielt. Die Anwesenheit seiner Direktoren bedeutete eine entscheidende symbolische Aufwertung der Abteilung für technische Forschung des CSIC, zumal dieses Privileg keinem der anderen sieben Zweige des ‚nationalen Wissenschaftsbaumes‘ – weder vor noch nach 1949 – zukommen sollte.¹³ Die Präsenz am Vorstandstisch der Plenarversammlungen, die stets auch in der Tagespresse aufgeführt und auf diese Weise einem breiten Publikum bekannt gemacht wurde, war nicht der einzige Rekurs, um auf repräsentativer Ebene wissenschaftspolitische Signale zu setzten und Forschungsfelder symbolisch aufzuwerten. Auch die Entwicklung der wissenschaftlichen Auszeichnungen und Preise, mittels derer der Oberste Forschungsrat die Deutungshoheit über die Relevanz wissenschaftlicher Arbeiten für sich beanspruchte, sprechen diese Sprache. Bis 1948 wurden in den Geistes- und Naturwissenschaften identisch dotierte Preise vergeben: In beiden Wissenszweigen stellte der Premio Francisco Franco mit 50 000 Peseten die höchste Auszeichnung dar. Dem national-katholischen Wissenschaftsnarrativ und der institutionellen Ordnung des Consejo folgend wurden ferner die Leistungen einzelner Forscher mit dem Premio Raimundo Lulio, dem Antonio de Nebrija und dem Luis Vives für Geistes- sowie dem Premio Alfonso el Sabio, dem Ramón y Cajal und dem Alonso de Herrera für Naturwissenschaften mit 20 000 Peseten honoriert. Schließlich folgten, drittens, die mit 5000 Peseten dotierten Preiskategorien Menéndez Pelayo (für die Geisteswissenschaften) und Juan de la Cierva (für die technischen Wissenschaften).¹⁴ Ähnlich und zeitgleich zu den Sitzordnungen änderte sich auch hier die Balance der Wissenschaften, die bis in die späten 1940er Jahre noch paritätisch ausgezeichnet worden waren. Artikel 19 des Dekrets vom 9. Januar 1948 zur Neuregelung des Consejo löste den Preis Juan de la Cierva von der naturwissenschaftlichen Sparte, indem er ihn zu einer neuen Kategorie erhob und vier Auszeichnungen einführte: Zwei für indi-

 Zwar fanden durchaus auch Amtsträger geisteswissenschaftlicher Disziplinen einen Ort in dieser Ehrenrunde. Sie nahmen ihren Sitz jedoch nicht in dieser Funktion, sondern vielmehr als Vertreter anderer akademischer Institutionen ein.  Diese Daten wurden den Jahresberichten (1940 – 1958) entnommen. Die Archivbestände des CSIC enthalten zwar die Unterlagen zu den jährlichen Preisausschreibungen. Die Abwesenheit von Gutachten oder sonstigen schriftlichen Bewertungen der eingereichten Studien macht es jedoch schwer, Rückschlüsse auf die Gründe und Kriterien der Preisverleihungen zu ziehen.

2.1 Vom Gleichgewicht der Wissenschaften zur Privilegierung der Technik

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viduelle und zwei für kollektive Forschung im technischen Bereich, jeweils in Höhe von 40 000 und 20 000 Peseten.¹⁵ Dass jenes Patronato der aufsteigende Stern im Kosmos der franquistischen Wissenschaft war, zeigte sich insbesondere seit den 1950er Jahren. Seit 1955 änderte sich nämlich die Benennung und erhöhte sich die Dotierung der Preise. Der neue Premio Francisco Franco für technische Wissenschaften wurde von 40 000 auf 100 000 Peseten für Gruppenforschung und von 20 000 auf 50 000 Peseten für Einzelleistungen aufgestockt. Die zweite Kategorie, der Premio Juan de la Cierva, belohnte die Ausgezeichneten wiederum mit 60 000 bzw. 20 000 Peseten. Berücksichtigt man die chronisch hohen Inflationsraten seit Ende des Bürgerkriegs bis Anfang der 1960er Jahre, scheint die Steigerung dieser Beträge eher einer Anpassung der Forschungspreise an die Entwertung der Nationalwährung zu gehorchen. Bei einer jährlichen Durchschnittsinflation von geschätzten 14 % von 1940 bis 1951 und 6,7 % von 1951 bis 1958 war der reale Wert der Preise zwischen den Jahren 1948 und 1955 immerhin um ca. 7 % gestiegen.¹⁶ Signifikant hinsichtlich der Aufwertung im Gesamtkontext der Wissenschaftsordnung war jedoch, dass alle anderen Preiskategorien trotz dieser Entwicklung unverändert blieben, was einem Realwertverlust von ca. 45 % für denselben Zeitraum entsprach. Die Geistes- und Naturwissenschaften verharrten in ihren ursprünglichen Dotierungen, so dass ab Mitte der 1950er Jahre den technischen Disziplinen allein so viel Preisgeld zustand wie den gesamten restlichen Wissenszweigen.¹⁷ Einen zunehmend privilegierten Raum nahm das Juan de la Cierva, pars pro toto der spanischen Technikforschung, auch in Form repräsentativ ausgerichteter und medial aufbereiteter Einweihungen institutseigener Einrichtungen ein. Die Inbetriebnahme der neuen Forschungsanlagen des Insituto de Óptica Daza de Valdés ¹⁸ im Jahr 1950 wurde nicht umsonst im Rahmen der international ausgerichteten Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen des Consejo mit dem Besuch Francisco Francos beehrt. Auch die Einweihung des zentralen Gebäudes des Juan

 Vgl. Decreto del 9 de enero de 1948 por el que se modifican varios artículos del de 10 de febrero de 1940 y complementarios referentes al Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Boletín Oficial del Estado, 24.1.1948, S. 337– 339.  Bis Anfang der 1960er Jahre gibt es in Spanien kaum verlässliche Statistiken, weswegen aggregierte Inflationsraten nicht vorhanden sind. Verlässliche Daten zur Inflation in Spanien in den ersten 25 Jahren des Franco-Regimes sind erst nachträglich von Wirtschaftshistorikern errechnet worden. Die hier verwendete statistische Grundlage stammt aus Manuel-Jesús González González: La economía política del franquismo (1940 – 1970). Dirigismo, mercado y planificación, Madrid 1979, S. 36 – 40.  Nimmt man das Jahr 1940 als Ausgangsbasis, war der Realwert dieser Preisdotierungen im Jahr 1958 um ganze 85 % gesunken.  Benannt nach dem cordobesischen Optiker Benito Daza de Valdés (1591– 1634).

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de la Cierva und angegliederter Institute am 31. März 1955 wurde auf besondere Weise in Szene gesetzt. Dieses Mal besuchten der Caudillo und der Erziehungsminister die Anlagen in Begleitung eines Großteils der industriepolitisch relevanten Prominenz. Der Industrieminister Joaquín Planell (1891– 1969), der Marineminister Admiral Salvador Moreno (1886 – 1966), der Präsident des Instituto Nacional de Industria Juan Antonio Suanzes, José Ibáñez Martin und schließlich die „rechte Hand“ Francos, Luis Carrero Blanco (1904 – 1973), wohnten der festlichen Einweihung bei, die die Tagespresse in all ihren Einzelheiten und in wörtlicher Übereinstimmung mit den Presseerklärungen des Consejo der Öffentlichkeit bekanntgab. „Seine Exzellenz weihte das Hauptgebäude des Patronato ‚Juan de Cierva‘ ein“¹⁹ betitelte die ABC Sevilla am Folgetag ihren Bericht zur Plenarversammlung des Obersten Forschungsrates. Die Deutung dieses Ereignisses lieferte die auflagenstärkste spanische Tageszeitung in ihrer gesamtspanischen Ausgabe, indem sie einen Auszug der Rede des Erziehungsministers, Ruíz-Giménez, zitierte: „Wahrlich hat eine neue Stunde Spaniens geschlagen, dank der Bemühungen der Staatsgewalt um den Fortschritt der Wissenschaft“.²⁰ Dass die „Bemühungen der Staatsgewalt um den Fortschritt der Wissenschaft“ nicht erst Mitte der 1950er Jahre ein zentrales Element der Wissenschaftsinszenierungen bildeten, haben bereits die vorangehenden Kapitel gezeigt. Bemerkenswert war bei diesen Einweihungen und ihrem propagandistischen Ausbau jedoch, dass die Sorge um die ‚Wissenschaft‘ zunehmend zur Sorge um die ‚Technik‘ wurde. Die Technik nahm dabei immer mehr den semantischen Raum des Begriffs ‚Wissenschaft‘ ein. Dies gilt etwa auch für die Feierlichkeiten von 1955, im Rahmen derer der ‚Fortschritt der Wissenschaft‘ unter dem Vorzeichen der symbolischen Aufwertung der angewandten Disziplinen stand. Die Worte von Ibáñez Martín vor dem versammelten Plenum waren in dieser Hinsicht symptomatisch: „Die wissenschaftliche Tätigkeit bildet die Grundlage für die Technik und die Technik ist unerlässlich für die Entfaltung der wirtschaftlichen Realität.“²¹ Insbesondere die Rede von Jesús Rubio aus dem Jahr 1958 stand im Vorzeichen der diskursiven Privilegierung rentabler Technikforschung: „Die Forschung, rentables Kapital“; „Die Forschung, Quelle des Reichtums“; „Forschung und Technik“; „Bedingungen für eine rentable Forschung“; „Die Technik im Dienste des Menschen“²² – so lauteten die Zwischenüberschriften seines Vortrags. Im Gesamtzusammenhang der wissenschaftlichen Teilbereiche, die der Consejo

   

ABC Sevilla, 1.4.1955, S. 17. ABC, 1.4.1955, S. 33. CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 58. Ebd., S. 167– 174.

2.1 Vom Gleichgewicht der Wissenschaften zur Privilegierung der Technik

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beherbergte, nahm die Technik einen immer größeren repräsentativen, aber auch semantischen und sogar lexikometrischen Raum ein.²³ Wie aus Santiago López‘ Studie zur institutionellen Entwicklung des Patronato Juan de la Cierva hervorgeht, vollzog sich diese Aufwertung allerdings zeitweise auch vor dem Hintergrund einer gravierenden Stagnation der Forschungsarbeit. Nach einer Phase des Aufschwungs zwischen den Jahren 1946 und 1953 seien die technischen Institute in eine dauerhafte Krise geraten, die bis Ende des Jahrzehnts anhielt und über das Scheitern institutioneller Expansionspläne, mangelhafte Investitionen und die Substitution nationaler Forschung durch USamerikanische Technologieimporte zu erklären sei. Folgt man López, so erfüllten die technischen Forschungseinrichtungen bis auf eine kurze Zwischenphase – und damit gerade auch zu jener Zeit, in der sie ihre entscheidende Aufwertung erhielt – „keine Funktion mehr“.²⁴ Gleichwohl diese Krisendiagnose aus institutionsgeschichtlicher Perspektive stimmen mag, so bedarf sie einiger wichtiger Präzisierungen. Erstens war der Patronato Juan de la Cierva bis zur zweiten Hälfte der 1940er Jahre, aber auch darüber hinaus, vor allem ein nominaler Überbau für Forschungsinstitutionen, die nur teilweise funktionsfähig waren und in einzelnen Fällen nicht einmal in den Bereich technischer Forschung fielen.²⁵ Im Kontext der Inszenierung eines wissenschaftlichen ‚Auf-Bruchs‘ lag die Bedeutung des Patronato für angewandte Forschung nicht so sehr in seinem praktischen als vielmehr in seinem nominalen Wert. Nicht die Forschung selbst, sondern vielmehr ihre Inszenierung bildete die wissenschaftspolitische Priorität. So identifizierte der damalige Sekretär der Institution, Manuel Lora Tamayo, in einem dreiseitigen, an Albareda gerichteten Bericht von 1944 die Probleme der technischen Forschung des CSIC im „Wunsch nach Monumentalität“ der Entscheidungsgremien. Dieser habe der dazu beigetragen, dass „der Bewegungsantrieb abnahm, bis er verschwand. Die Kommissionen und die Organe sowie die Labore, für die keine Arbeitspläne formuliert worden waren, entfernten sich allmählich vom Werk [gemeint ist der CSIC als

 Die Begriffe Technik, Technologie, technisch und technologisch wurden ab Mitte der 1950er Jahre in den Eröffnungs- und Abschlussreden vor dem Plenum des CSIC vier- bis fünfmal so häufig verwendet wie noch zehn Jahre zuvor. Gemeint sind die Reden politischer Entscheidungsträger in den Plenarversammlungen des Consejo, nicht jedoch die ebenfalls bei diesen Veranstaltungen gehaltenen wissenschaftlichen Festreden.  Santiago López: El Patronato Juan de la Cierva. II Parte, la organización y la financiación, in: Arbor 159 (1998), S. 1– 44, hier S. 28.  Bis 1946 etwa waren das Nationale Institut für Geophysik und mehrere Sternwarten in das Juan de la Cierva integriert. Vgl. ebd., S. 4.

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Ganzes].“²⁶ Ferner zeigt der Bericht von Lora Tamayo, dass das industriepolitisch tonangebende Instituto Nacional de Industria trotz der Personalunion seiner Direktion mit jener des technischen Patronato im Jahr 1942 kaum Interesse daran zeigte, die darin betriebene Forschung anzuregen und damit die „Monumentalität“ mit konkreten Inhalten zu versehen. Seine „komplette Enttäuschung“ erwuchs damit aus der Kluft, die sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen „Monumentalität“ und „vernachlässigten Laboren“²⁷, zwischen Suanzes als Präsident des Patronato und Suanzes als Präsident des Instituto Nacional de Industria aufgetan hatte.²⁸ Diese Kluft schien sich zwar Ende der 1940er Jahre zu schließen, da sich nun Inszenierung und institutioneller Ausbau sowie finanzielle Zuwendung in ihrer Gewichtung zunehmend entsprachen. Die Entwicklung, die ab 1953 einsetzte, ließ allerdings den eigentlichen Zweck des Patronatos erneut zutage treten. Die Gleichzeitigkeit von institutioneller Krise und vorangetriebener Aufwertung auf symbolischer und sprachlicher Ebene legte Mitte der 1950er Jahre offen, dass die Funktion des Juan de la Cierva nicht in erster Linie industriepolitisch, sondern eher wissenschaftspolitisch im oben beschriebenen Sinne war. Es diente zur Inszenierung eines neuen industriepolitischen Wegs und der spanischen Fähigkeit, auf dem Gebiet der Technik Schritt zu halten. Zweitens erscheint die Stagnation des Juan de la Cierva unter einem anderen Licht, wenn man dieses Patronato nicht isoliert, sondern im Gesamtgefüge des CSIC und vor allem im Vergleich mit anderen Patronatos und Instituten betrachtet. Während die technischen Forschungsanstalten von 1950 bis 1957 sowohl eine feste Subvention von ca. 24 % des Gesamthaushalts des CSIC als auch sogenannte „Beiträge“ in vergleichbarer Höhe aus der Industrie erhielten, stagnieren die finanziellen Zuwendungen der geisteswissenschaftlichen Patronatos Raimundo Lulio (zwischen 4 % und 5 %) und Menéndez Pidal (zwischen 7 % und 8 %), ohne dabei zusätzliche Ressourcen mobilisieren zu können.²⁹ Die während der 1950er

 Bericht von Manuel Lora Tamayo an José M. Albareda, o.D. [1944], AGUN, Fondo Albareda, 006/062/031– 3.  Ebd.  Eine gut dokumentierte Übersicht über Biografie und Nachlass von Juan Antonio Suanzes bieten Elena Laruelo/Ana Sisniega: Historia de un archivo particular. El fondo documental de Juan Antonio Suanzes, o.A. 2011, http://www.archivoymemoria.com/jornada_05/comunicaciones_05.htm [Stand: 20. 5. 2017].  Eigene Berechnungen aus einer internen Memoria sobre el presupuesto del Consejo Superior de Investigaciones Científicas 1956/1957, mit 16 Seiten Haushaltsauflistung und 17 Seiten Erläuterung, am 28.4.1955 von José Royo an das Erziehungsministerium versendet, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/8811, sowie aus den Memorias der Jahre 1950 bis 1958 und den Angaben von Santiago López zum Juan de la Cierva in Santiago López: El Patronato Juan de la Cierva. II Parte, S. 24.

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Jahre stetig zunehmende Haushaltkrise des Consejo bedeutete gerade für jene Einrichtungen, deren alleinige Einnahmequelle in den staatlichen Subventionen lag, eine besondere Last, wie hier am Beispiel der historischen Institute gezeigt wird. Der Mangel an einer industriepolitischen Nachfrage nach technischer Wissensproduktion mochte zwar zutreffen. Eine vergleichsweise privilegierte Stellung genoss das Juan de la Cierva auf finanzieller Ebene jedoch weiterhin – einen „Vorsprung“ im Vergleich zu anderen Patronatos, den Juan Antonio Suanzes bereits Ende der 1940er Jahre selbst vor der Patronatsversammlung hatte einräumen müssen.³⁰ Drittens war eine stagnierende und nicht hinreichend geförderte technische Forschung symptomatisch für jene Probleme, die den CSIC seit Mitte der 1950er Jahre als Ganzes plagten: Chronische Unterfinanzierung und wissenschaftspolitische Spannungen mit übergeordneten und parallel agierenden Institutionen. Insbesondere war seit der Regierungsumbildung von 1951 und dem Amtsantritt von Joaquín Ruiz-Giménez als Nachfolger von Ibáñez Martín eine Distanzierung zwischen dem Erziehungsministerium und dem Consejo deutlich spürbar.³¹ RuizGiménez, der in den Jahren seiner Amtszeit zwischen 1951 und 1956 eine Reform des Schul- und Universitätswesens anregte, wählte für die bildungspolitischen Schlüsselpositionen mit Joaquín Pérez de Villanueva (Generalbeauftragter für das Hochschulwesen) und Pedro Laín Entralgo (Rektor der Universität Madrid) zwei Personen, die sich nicht nur entschieden für eine universitätsbasierte Forschung aussprachen. Zudem gehörten sie einem intellektuellem Lager des Franquismus an, das demjenigen des Consejo offen entgegenstand.³² Die verborgenen Spannungen zwischen unterschiedlichen Lagern der politischen Elite des Franco-Regimes, so wie sie von Ángel Ferrary und Javier Tusell beschrieben worden sind, zeigten sich auch hinsichtlich der Wissenschaftspolitik.³³ So warnte der Neuzeithistoriker Vicente Rodríguez Casado (1918 – 1990) zwei Jahre vor seiner Ernennung zum Zensurbeauftragten im Informationsministerium im Jahr 1957 José María Albareda vor den Intrigen, die Pérez de Villanueva „und Leute aus der  „Aus einfach zu erklärenden Gründen verfügen das Patronato Juan de la Cierva im Allgemeinen und das Instituto del Hierro y del Acero im Besonderen im Vergleich zu anderen Instituten des Consejo über mehr ökonomische Mittel.“ CSIC: Memoria, 1948, S. 80.  Vgl. Javier Muñoz Soro: Joaquín Ruiz-Giménez o el católico total. Apuntes para una biografía política e intelectual hasta 1963, in: Pasado y memoria. Revista de historia contemporánea, 5 (2006), S. 259 – 288.  Eine Gegenüberstellung beider Positionen bieten Ismael Saz Campos: España contra España. Los nacionalismos franquistas, Madrid 2003, S. 379 f; Santos Juliá: Historias de las dos Españas, Madrid 2004, S. 358 – 376.  Vgl. Alvaro Ferrary: El franquismo. Minorías políticas y conflictos ideológicos (1936 – 1956), Pamplona 1993; Javier Tusell: Franco y los católicos.

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Falange“ im Erziehungsministerium gegen den CSIC spannen: „Der spanische Staat kann sich nicht den Luxus einer Verdopplung der [öffentlichen] Dienste erlauben. Die Universitäten beanspruchen derzeit die Forschung für sich.“³⁴ So zitierte Rodríguez Casado aus einem Gespräch mit dem Generalbeauftragten für das Hochschulwesen, Pérez de Villanueva, wobei letzterer seine Angriffe insbesondere gegen José Ibáñez Martín gerichtet habe. Diese Spannungen waren, neben der schweren Haushaltskrise, die den Franco-Staat bis Ende der 1950er Jahre plagen sollte, mitverantwortlich für die chronische Unterfinanzierung des Consejo als Ganzes. Zwar war das Budget für den CSIC im Staatshaushalt zwischen 1947 und 1957 von ca. 41 auf ca. 122 Millionen aufgestockt worden.Vor dem Hintergrund der hohen Inflationsraten war dieses Budget für eine funktionsfähige Institution diesen Ausmaßes offensichtlich nicht ausreichend, wie Ibáñez Martín „fast schon auf dramatische Art und Weise“³⁵ dem Finanzminister Francisco Gómez de Llano darlegte. López’ Darstellung des Juan de la Cierva als eine von Krisen geplagte Institution, die seit Mitte der 1950er Jahre „keine Funktion“ mehr erfülle, greift demnach zu kurz. Erstens war die Stagnation dieses Patronato sowohl in finanzieller als auch in wissenschaftspolitischer Hinsicht in eine allgemeine Krise des Consejo eingebettet. Fehlende Finanzierung und zwischeninstitutionelle Spannungen waren folglich keine ausschließlichen Probleme des Juan de la Cierva. Diese erstreckten sich vielmehr auf die gesamte Institution. Ferner wurde das Patronato für technische Forschung im Vergleich zu anderen Wissenschaftszweigen nicht nur auf symbolischer und repräsentativer, sondern auch auf finanzieller Ebene spätestens seit Ende der 1940er Jahre deutlich privilegiert. Im Kontext einer allgemeinen institutionellen Schieflage genoss das Juan de la Cierva damit eine vergleichsweise bedeutende Stellung.

2.2 Historisch artikulierte Technikskepsis Trotz der zunehmenden Privilegierung der technischen Wissenschaften im Laufe der 1950er Jahre verwies die bereits zitierte Rede Francos vor der Plenarversammlung des Consejo im Jahr 1950 auf ein zentrales Merkmal des national-katholischen Wissenschaftsdiskurses: „[D]ie Errungenschaften der Technik nicht zu missachten“ deutete auf ein problematisches Verhältnis zur Technik und damit  Brief von José L. Rodríguez Casado an José M. Albareda vom 25.1.1955, AGUN, Fondo Albareda, 006/035/055 – 2.  Siehe dazu Ibáñez Martíns lebhafte Beschreibung des Treffens mit dem Finanzminister in seinem Brief an José M. Albareda vom 11.10.1955, AGUN, Fondo Albareda, 006/035/372– 2.

2.2 Historisch artikulierte Technikskepsis

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zur technisch-industriellen Moderne hin. Aus diesem Zitat sprach nämlich eine Technikskepsis, die eng mit der Vorstellung eines positiv bewerteten, spanischen und damit katholischen Sonderwegs verknüpft war. So begann beispielsweise für Luis Carrero Blanco in seinem 1950 unter Pseudonym erschienenen Buch España ante el mundo moderno, die Geschichte dieses Sonderweges nicht nur mit der politischen Machtzunahme des englischen Protestantismus und der Freimaurerei. Vor allem war es die Entdeckung der Dampfmaschine und damit der technische Fortschritt, der die Herausbildung der als zerstörerisch empfundenen Moderne in Gang gesetzt habe: „Aus der Entdeckung der Dampfmaschine entsteht der Maschinismus, der den Kapitalismus und soziale Ungerechtigkeit hervorbringt; und aus jener entstand in logischer Folge der Keim des Marxismus, der sich im Moment seiner praktischen Realisierung in den Kommunismus verwandeln musste, und Kommunismus, Kapitalismus, Liberalismus sowie Freimaurerei sind, zusammen mit dem Katholizismus, die wichtigsten Protagonisten der gegenwärtigen menschlichen Tragödie.“³⁶

In der Logik dieses Narrativs hatte Spanien die Gefahren einer technisierten Gesellschaft durch die feste Verankerung im Katholizismus umgangen und im spanischen Bürgerkrieg eindrücklich besiegt. Nicht umsonst baute Carrero Blancos Kapitel mit dem Titel „Das soziale Problem“ auf den inhärenten Gefahren der Technisierung auf.³⁷ Der „christliche Geist“, so die Schlussfolgerung des Autors, habe das katholische Spanien davor bewahrt, sich dem Geist der Technik zu verschreiben. Auch die wissenschaftspolitische Elite folgte diesem Deutungsschema. So warnte etwa Albareda in seinen im Jahr darauf publizierten Consideraciones davor, in der Technik eine Heilsbringerin zu sehen: „Der innerliche und anarchische Verfall, den uns der gesamte moderne Prozess gebracht hat, der die christliche Ordnung zersetzt hat, und die Entmenschlichung der humanen Werte, um diese zu voneinander unabhängigen kleinen Götzen zu erheben […] ließen die Wissenschaft zu einem der Mythen der heidnischen Restauration emporsteigen. Man kann beim Lesen dieser Werke des 19. Jahrhunderts, in denen versichert wird, dass das Wohlergehen der Menschheit durch den technischen Fortschritt sichergestellt werden könne, nur lachen oder Mitleid empfinden.“³⁸

 Luis Carrero Blanco [Pseud. Juan de la Cosa]: España ante el mundo. Proceso de un aislamiento, Madrid 1950, S. 16.  Ebd., S. 85 – 131, hier S. 88.  Albareda: Consideraciones, S. 419.

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Der Einsatz der Atombombe und die Entwicklung chemischer Waffen waren für Albareda der eindrückliche Beweis dafür, dass die Usurpation des Glaubens durch die Technik lediglich zu „menschlicher Tragödie und Schmerz“ führen konnte.³⁹ Die Re-Christianisierung der Wissenschaft, wie sie der Consejo durchsetzen sollte, stellte jenen Denkern zufolge den einzigen Garanten gegen die Zersetzung der „christlichen Ordnung“ durch eine rationalisierte und technisierte Weltsicht dar – eine Weltsicht, die auch für die Arbor-Intellektuellen, wie für José L. Pinillos im Jahr 1949, „Europa in Asche verwandelt hat[te].“⁴⁰ Deutschland, die Vereinigten Staaten, England und Frankreich seien Länder, so Pinillos wenige Monate zuvor, „wo der Fortschritt der technischen Zivilisation zu Verheerungen des Glaubens geführt hat. Spanien hingegen bewahrt in lebendiger Weise den Sinn für das Übernatürliche.“⁴¹ In einer Linie mit Carrero Blanco sah auch Pinillos den Katholizismus als jenen zivilisatorischen Weg, der Spanien von den „Verheerungen“ einer allzu materialistischen und technisierten Welt bewahrt hatte. Diese zivilisationskritische Bewertung der Technik in national-katholischen Kreisen war keinesfalls ein singuläres Merkmal politischer und intellektueller Kreise des Franquismus.Vielmehr war jene ablehnende Haltung gegenüber allem Technischen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ein Signum des europäischen Konservativismus.⁴² Gerade in Bezug auf Albaredas Konzeption der Wissenschaftsorganisation ist dabei jene Unterscheidung hilfreich, die Thomas Rohkrämer zwischen zwei semantischen Spielarten der Technik in der deutschen

 Ebd., S. 423.  Den geistigen Inbegriff dieses Szientismus erkannten sowohl Albareda als auch Pinillos in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, die letzterer unbekümmert im Diktum „Vom Fortschritt der Wissenschaften hängt unmittelbar der ganze Fortschritt der Menschheit ab“ zusammenfasste. „Die angsteinflößenden Ruinen Frankfurts und Berlins bezeugen zweifelsohne und auf selbstredende Weise die Richtigkeit der Prophezeiungen Fichtes.“ – so Pinillos Argument gegen die Tradierung von Fichtes Denken. José L. Pinillos: Crónica cultural española, in: Arbor 12 (1949), S. 605 – 612, hier S. 605.  José L. Pinillos: Crónica cultural española, in: Arbor 12 (1949), S. 443 – 450, hier S. 443.  Thomas Rohkrämers Studie zum Verhältnis von Moderne und Technik im Denken zivilisationskritischer Autoren in Deutschland zwischen 1880 und 1933 und Martin Greiffenhagens Untersuchung zum deutschen Konservativismus zeigen eindrücklich, wie spannungsreich die Akzeptanz von Technik im deutschen Konservativismus war. Dabei erkennt Rohkrämer bereits im Ersten Weltkrieg die „Ursache für eine neue Einstellung“, die in zivilisationskritischen Kreisen deutlich früher als im spanischen National-Katholizismus zu einer bejahenden Haltung zur Technik geführt habe. Vgl. Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880 – 1933, Paderborn (u. a.) 1999, S. 230 – 245. Bei Martin Greiffenhagen wiederum zieht sich die Technikskepsis deutscher Intellektueller bis weit in die 1950er Jahre hinein.Vgl. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservativismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 129 ff. und S. 316 – 347.

2.2 Historisch artikulierte Technikskepsis

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Zivilisationskritik ausmacht: Einerseits die vom Menschen erzeugten Artefakte – die Realtechnik, die Forschungsgegenstand des Juan de la Cierva war, aber auch Carrero Blancos „Dampfmaschine“ oder Albaredas „Atombombe“ hervorgebracht hatte. Der Begriff der Technik bezeichnete Rohkrämer zufolge aber auch „alle notwendigen Mittel für die Erreichung von Zwecken […]. Technik in diesem Sinne meint nicht nur Maschinen und Werkzeuge, sondern etwa auch nach Kriterien der Zweckrationalität strukturierte Organisationen wie eine Firma, eine Bürokratie oder sogar eine Armee.“⁴³ Die Technikskepsis erstreckte sich im Consejo auch auf diesen erweiterten Begriff der Technik. Nicht umsonst war Albareda stets darauf bedacht, eine allzu starke Bürokratisierung der Forschung zu vermeiden. Beispielsweise forderte er in seinen Consideraciones, dass die gesamte spanische Forschung nicht einer maschinellen Logik folgen solle, so „wie die großen Personalmobilisierungen […] in stark zentralisierten und straff organisierten Firmen, mechanisch wie eine Maschine“⁴⁴. Vielmehr sei die Wissenschaft im Gegensatz zur ‚mechanisierten Arbeitswelt‘ ein Bollwerk des individuell agierenden Geistes. Die Gefahr einer Überreglementierung bedeute, so der Vizepräsident des Consejo, „der Wissenschaft ihr Rückenmark zu entziehen, um aus ihr eine Verwaltungsangelegenheit zu machen.“⁴⁵ Nicht die Zweckrationalität einer institutionellen Struktur fördere die wissenschaftliche Produktion, sondern allein der „Lebenshauch des Geistes“: „Die Forschung nämlich ist Leben, sie besitzt einen Geist, der ihren Schöpfungen den Lebenshauch in mannigfaltiger Vielfalt verleiht. Und sobald dieser Geist an Kraft verliert, verkümmert die Forschung und löst sich im Nichts auf.“⁴⁶ Die Dichotomisierung in ‚lebendige‘ und ‚mechanische‘ Wissenschaftszusammenhänge implizierte eine Vorstellung des CSIC, in der Rationalisierung und Bürokratisierung der Arbeitsabläufe zwar teilweise notwendig, aber keinesfalls zur Leitidee der Institution gehörten. Diese Abwehrhaltung gegenüber zweckrationalisierenden Vorgängen reichte so weit, dass Albareda selbst in der Projektplanung einen „furchtbaren Feind“ der Forschung erkannte: „Der Typ [des Wissenschaftlers], der im Voraus Sachlagen problematisiert, ist ein furchtbarer Feind der Forschung, ‚Ich werde diese Arbeit angehen, dafür benötige ich aber jene Instrumente, jene Dienstreisen, jene Treffen‘ […].“⁴⁷ Zu Recht hat Antoni Malet die Tatsache, dass die Forschungsplanung und -finanzierung im Consejo weder projektbezogen war,

    

Rohkrämer: Eine andere Moderne?, S. 28. Albareda: Consideraciones, S. 14. Ebd., S. 47. Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 64.

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noch auf Gutachten beruhte, als Mittel interpretiert, die Entscheidungsgewalt der leitenden Personen ohne die Möglichkeit einer fachliche Kontrolle zu sichern.⁴⁸ Nichtsdestotrotz fügten sich die Informalität und das Ad-hoc-Vorgehen bei der Finanzierungsentscheidung darüber hinaus auch in eine Wissenschaftspolitik ein, die einer starken Reglementierung ihres vermeintlich organischen Zusammenhangs skeptisch gegenüber stand. Die Technikskepsis im national-katholischen Umfeld des Consejo umfasste folglich die beiden von Rohkrämer definierten Aspekte von Technik und damit nicht nur die Realtechnik – in Form der Dampfmaschine –, sondern auch, wie hier bei Albareda, die Organisation der Forschung. Ein zentrales Merkmal dieser franquistischen Spielart der Zivilisationskritik unterschied sie jedoch deutlich von der deutschen Variante. Die Realtechnik habe über Umwege, so Carrero Blanco in seinem bereits zitierten Fazit, die zentralen Erscheinungen der Moderne hervorgebracht. Damit habe sie die katholische Weltauffassung einerseits gefährdet, sie andererseits aber auch herausgefordert, sich um ihrer Bewahrung willen zu behaupten. Gerade diese Deutung Carreros, die nicht nur von Franco, sondern auch von den national-katholischen Intellektuellen geteilt wurde, beinhaltete eine diachrone Komponente, die in den von Rohkrämer und Greiffenhagen untersuchten Diskursen deutscher Intellektuellenkreise nicht zu finden ist.⁴⁹ Während der deutsche Konservativismus zwar dem Scientismus, der Technik, der Industrialisierung und allen voran ihren vermeintlichen Begleiterscheinungen kritisch gegenüber stehen konnte, war es ihm nicht möglich, diese Phänomene aus dem deutschen Nationalnarrativ zu tilgen. Die technisch-industrielle Moderne stellte somit eine inhärente Gefahr dar, die nolens volens mit der deutschen Geschichte verbunden war. Im national-katholischen spanischen Denken der 1940er und 1950er Jahre war die Frage nach der Technik hingegen stets mit der Frage nach einem spanischen ‚Sonderweg‘ verschränkt. Die Auseinandersetzung mit der technisch-industriellen Moderne wurde dabei durchweg historisch artikuliert: als Gefahr, Chance oder Möglichkeit, jedenfalls als eine externe Herausforderung, der  Vgl. Antoni Malet: José María Albareda (1902– 1966) and the formation of the Spanish Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Annals of Science 66,3 (2009), S. 307– 332, hier S. 330 ff.  So führt die Analyse des konservativen Traditionsbegriffs bei Greiffenhagen zu der Aussage, dass der „Konservativismus seinem eigenen Selbstverständnis zufolge keine Zeitmeinung, sondern eine Weltanschauung [ist], d. h. die ewig sich gleichbleibende Anschauung einer Welt, welche letztendlich nicht als Geschichte, sondern als Natur verstanden wird.“ Zwar zeichnete sich der spanische National-Katholizismus ebenfalls durch einen überzeitlichen Essentialismus aus, der in allen Epochen die ewige Wiederkehr des Gleichen erkannte, doch war jener stets in ein historisches Narrativ eingebunden, das die „Welt“ durchaus aus ihrer Geschichte hervortreten ließ. Vgl. Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservativismus, S. 146 f.

2.2 Historisch artikulierte Technikskepsis

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sich das ‚wahre‘ Spanien erst jetzt und auf eigene Weise zu stellen hatte. In diesem Sinne beschrieb der Historiker Florentino Pérez Embid in Arbor sich und seine Mitstreiter als eine Generation, die „ein Spanien vorgefunden hat, das sich nun den technischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten stellen muss, die Europa im Zeitalter des Maschinismus und der Industrialisierung zu seinen Gunsten gelöst hat.“⁵⁰ In enger intellektueller Verwandtschaft mit der symbolischen Ordnung des Consejo klammerte auch Pérez Embid in diesem Aufsatz aus dem Jahr 1949 die Jahrhunderte der Industrialisierung und der positiven Wissenschaften aus der Geschichte der spanischen Nation aus, um sie als externe Herausforderung an den katholischen ‚Sonderweg‘ aus der Geschichte hervortreten zu lassen. Deutlich ist diese Verschränkung der technisch-industriellen Moderne und der historischen Verortung Spaniens in der zentralen Intellektuellendebatte zu erkennen, aus welcher der soeben zitierte Aufsatz entnommen ist. Diese Debatte wurde Ende der 1940er bis in die 1950er Jahre hinein zwischen national-katholischen Denkern aus dem Umfeld des Consejo und ehemaligen Falangisten ausgetragen.⁵¹ Die essentialistische Aufladung dieser Debatte lässt sich bereits in ihren beiden 1949 erschienenen Hauptwerken erkennen, die bezeichnenderweise die Titel „Spanien als Problem“ (Pedro Laín Entralgo) und „Spanien ohne Problem“ (Rafael Calvo Serer) trugen.⁵² Während die national-katholischen Intellektuellen wie Rafael Calvo Serer, Florentino Pérez Embid oder Vicente Palacio Atard das politische ‚Sein‘ (ser) Spaniens in der katholischen und traditionalistischen Monarchie der Vormoderne wieder fanden, plädierten Laín Entralgo, Dionisio Ridruejo (1912– 1975) oder Antonio Tovar (1911– 1984) für die mehr oder weniger aufgeklärten Denktraditionen aus der neuesten spanischen Geschichte. Vielfach

 Florentino Pérez Embid: Ante la nueva actualidad del ‚Problema de España‘, in: Arbor 14 (1949), S. 149 – 160, hier S. 151.  Nachdem der Historiker Javier Tusell sie noch in den 1980er Jahren als reines Oberflächenphänomen eines Machtkampfes zwischen unterschiedlichen „Familien“ des Regimes abgetan hatte, erkennen jüngere Forschungen in ihr „zwei sich gegenüberstehende Projekte“, die nicht nur um die politische Vormacht, sondern auch um die Deutungshoheit über das „Wesen“ und damit über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der spanischen Nation stritten. Vgl. Tusell: Franco y los católicos, S. 314. Die These der „dos proyectos enfrentados“ stammt von Ismael Saz: Mucho más que crisis políticas. El agotamiento de dos proyectos enfrentados, in: Ayer 68 (2007), S. 137– 163. Weitere Studien insbesondere zum Intellektuellenkreis um die Zeitschrift Arbor bieten Sara Prades: Las plataformas de acción de la ‚generación de 1948‘ entre 1944 y 1956, in: Historia y política 28 (2012), S. 57– 82; Onésimo Díaz Hernández: Rafael Calvo Serer y el grupo Arbor, Valencia 2008.  Vgl. Pedro Laín Entralgo: España como problema, 2 Bde., Madrid 1949; Rafael Calvo Serer: España sin problema, Madrid 1949.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

sind sie daher als „liberale Falangisten“ bezeichnet worden.⁵³ Sie gingen dabei von einer konfliktreichen Spannung zwischen ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘, ‚Rückschritt‘ und ‚Fortschritt‘, ‚Spanien‘ und ‚Europa‘ aus, die als ungelöstes Problem in den neuen franquistischen Staat übergegangen war. Für den Intellektuellenkreis des Consejo hingegen hatte der Bürgerkrieg jegliche Spannung zugunsten der ‚wahren‘ Nation entschieden. Diese Interpretation findet sich in pointierter Form in einem 1949 erschienenen Aufsatz von Calvo Serer: „Glücklicherweise sind wir Spanier den zwei Jahrhunderten, in denen Spanien zur Diskussion stand, durch die energische, einschneidende und klare Tat des Jahres 1936 entkommen.“⁵⁴ Wie schon für Pérez Embid, so hatte sich dieses ‚Spanien ohne Probleme‘ nurmehr den „ökonomischen und technischen Schwierigkeiten“ zu stellen, die allerdings rein praktischer Natur waren: „[…] Spanien hat seit 1939 aufgehört, ein Problem zu sein, um sich nun bewusst zu werden, dass es mit vielen Problemen konfrontiert ist.“⁵⁵ – so das Fazit von Calvo Serer im bereits zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1949. Von der Forschung nicht hinreichend hervorgehoben worden ist die Tatsache, dass diese Debatte insbesondere von national-katholischer Seite historisch artikuliert wurde. Gerade ihre historische Aufladung machte aus der Debatte eine Auseinandersetzung um den nationalen „Sonderweg“ innerhalb einer imaginierten politischen, aber auch technisch-industriellen Moderne. In einem Aufsatz stellte Pérez Embid unter dem bezeichnenden Titel 1648* 1848* 1898* 1948* seine Generation vor die Aufgabe, den Irrweg, den Spanien – und mit ihm Europa – mit dem Westfälischen Frieden betreten hatte, wieder zu verlassen.⁵⁶ Jener Irrweg habe mit dem Verzicht auf eine rein katholische Ordnung Europas im Jahr 1648 begonnen und sich in den liberalen Revolutionen von 1848 und dem Verlust der letzten überseeischen Kolonien im Jahr 1898 fortgesetzt. Vor dem Hintergrund dieser Verfallsgeschichte forderte Pérez Embid eine nationale Kehrtwende hin zur Wiederbesinnung auf die ‚ursprünglichen‘ politischen und moralischen Werte: Katholizismus, Imperium und vorliberale Gesellschaftsordnung. Die Spanier von 1648 und 1948 und der Westfälische Friede lautete die Überschrift, unter der wiederum Vicente Palacio Atard den Münsteraner Friedensvertrag anlässlich seines 300-jährigen Jubiläums deutete:

 Vgl. Alvaro de Diego: Los falangistas „liberales“. Del totalitarismo „comprensivo“ al aperturismo tardofranquista, in: Antonio Cañellas (Hrsg.): Conservadores y tradicionalistas en la España del siglo XX, Gijón 2013, S. 193 – 226. Zur Herkunft dieser Bezeichnung siehe die kritische Studie von Santos Juliá: ¿Falange liberal o intelectuales fascistas?, in: Claves de Razo´n Pra´ctica 121 (2002), S. 4– 13.  Rafael Calvo Serer: España, sin problema, in: Arbor 14 (1949), S. 160 – 173, hier S. 160.  Ebd., kursiv im Original.  Vgl. Florentino Pérez Embid: 1648* 1848* 1898* 1948 *, Arriba, 10.6.1949.

2.2 Historisch artikulierte Technikskepsis

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„Wahrscheinlich müssen wir uns auf die Zeit vor Westfalen [gemeint ist der Westfälische Friede] berufen, wenn wir heilbringende Formeln für die Gegenwart finden wollen. Unter den Ruinen des Alten Spaniens liegen möglicherweise äußerst solide Grundfesten verschüttet. Werden sie – die Grundfesten der Welt von Gestern – womöglich dafür dienen, das Gebäude der Welt von Morgen zu errichten?“⁵⁷

Zwischen der „Welt von Gestern“ und der „Welt von Morgen“ stand für diese national-katholische Intellektuellenriege die Moderne als eine Epoche spirituellen Niederganges, politischer Konflikte, nationaler Dekadenz sowie rationalistischer und materialistischer Denkformen. Calvo Serer formulierte es wie folgt: „Seit dem 16. Jahrhundert weisen die moderne Kultur und mit ihr die nationalen Kulturen entgegengesetzte Charakteristika auf: es findet eine Verschiebung vom Spirituellen zum Materiellen, ein Abgleiten vom Tiefen zum Oberflächlichen, das nach und nach vom Theologischen (Gott) über das Philosophische (Mensch) zum Wissenschaftlichen (Natur) führt und zuletzt zur Vorherrschaft der Technik innerhalb einer vollständig materialisierten Kultur.“⁵⁸

Calvo Serers Deutung der Moderne als Verfallsgeschichte von der Spiritualität zur Materialität baute auf einer langen Tradition christlicher Aufklärungskritik auch jenseits der spanischen Grenzen auf. So hebt auch Greiffenhagen die „Reduzierung geistiger und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen auf Religionsverlust“⁵⁹ als Grundbaustein des europäisch-konservativen Gedankengebäudes der Nachaufklärungszeit hervor. Bezeichnend für die national-katholische Spielart war jedoch, dass die in ihr artikulierte spanische und somit katholische Nation diesem Prozess dank ihres katholischen Charakters lediglich als Zuschauerin beigewohnt hatte. Spanien, so Calvo Serer im selben Aufsatz, „distanziert sich während zweier Jahrhunderte von den Schicksalen Europas“.⁶⁰ Selbstverständlich wurde diese Distanz positiv bewertet, denn mit dem „modernen Europa“, so der Autor zwei Jahre später, „stimmen wir in seiner christlichen Epoche, nicht aber in seiner Modernität überein.“⁶¹ Die Debatte um das ‚Problem Spaniens‘ lässt damit erkennen, dass diese Gefahr in Gestalt eines gefahrenvollen Wegs daherkam, den die katholische Nation, in ihrem Wesen unberührt, nur partiell betreten hatte. Das

 Vicente Palacio Atard: Westfalia ante los españoles de 1648 y 1948 , in: Arbor 9 (1948), S. 53 – 58, hier S. 58.  Rafael Calvo Serer: Valoración Europea de la historia española, in: Arbor 2 (1945), S. 19 – 47, hier S. 21.  Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservativismus, S. 85.  Calvo Serer: Valoración europea, S. 41.  Rafael Calvo Serer: Una nueva generación española, in: Arbor 8 (1947), S. 333 – 348, hier S. 341.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Fazit des Historikers Palacio Atard in seinem zweihundertseitigen Essay zur Geschichte der spanischen Dekadenz brachte das Verhältnis dieses spanischen Sonderweges zur technisch-industriellen Moderne in sprechender Weise zum Ausdruck. Seine Intellektuellengeneration repräsentiere das „charakterlich gefestigte Spanien, das inmitten des modernen Europas hat leben können, ohne von der Moderne verseucht zu werden, obwohl es von Eisenbahnen und Laboren durchkreuzt worden ist.“⁶² Mit dieser pointierten Zusammenfassung, die in der Zeitschrift Arbor gefeiert wurde⁶³, hatte Palacio Atard vier wesentliche Merkmale des national-katholischen Narrativs zur Sprache gebracht: Erstens, die ‚europäische Moderne‘ als Epoche und Weg, die der spanischen Nation fremd geblieben war; zweitens, der Essentialismus einer Nation, die ihrem historischen Wesen treu geblieben war; drittens, die Verschränkung dieser ‚europäischen Moderne‘ mit Wissenschaft und industrieller Technik, mit „Eisenbahnen“ und „Laboren“ – eine Verschränkung, die durch die Konjunktion „obwohl“ angezeigt wurde. Technik und positive Wissenschaften seien somit auf der Seite jener „Moderne“ anzusiedeln, welche die historische spanische Nation nicht habe „verseuchen“ können. Damit waren die positiven Wissenschaften, die Technik und die Industrialisierung keine essentiellen Bestandteile jener Geschichte, die der spanischen Nation ihr Wesen verliehen hatte. Ein viertes Merkmal muss jedoch besonders unterstrichen werden, da es die zentrale Herausforderung für die national-katholische Elite der 1940er und 1950er Jahre widerspiegelte und darüber hinaus auch ihre Wissenschaftspolitik im Kern betraf. Trotz des Postulats differierender historischer Wege hielt Palacio Atard die Gleichzeitigkeit von spanischem ‚Sonderweg‘ und Partizipation an Technik und positiver Wissenschaft für möglich. So wie der CSIC als zentrales Organ der Wissenschaft mit der Mission beauftragt worden war, die im national-katholischen Diskurs angelegte Diskrepanz zwischen der „glorreichen spanischen Tradition“ und den „Erfordernissen der Moderne“ zu überbrücken, so lag auch für die Denker des ‚Spaniens ohne Problem‘ die zentrale Herausforderung ihrer Generation darin, die von ihnen imaginierte historische Dichotomie zu überwinden: „Tradition und Gegenwart, Geist und Technik, Humanismus und Katholizismus, kastilische Wesensart und Europäertum sind die Antriebskräfte einer neuen Generation.“⁶⁴ Diese Begriffspaare und die aus ihnen hervorgehenden Begriffsrei Vicente Palacio Atard: Derrota, agotamiento, decadencia en la España del siglo XVII. Un punto de enfoque para su interpretación, Madrid 1949, S. 179.  Vgl. Juan Sánchez Montes: Una revisión actual de las ideas sobre la decadencia española, in: Arbor 12 (1949), S. 613 – 617.  Calvo Serer: Nueva generación española, S. 348.

2.2 Historisch artikulierte Technikskepsis

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hen (Tradition-Geist-Katholizismus-kastilische Wesensart und Gegenwart-Technik-Humanismus-Europäertum) verweisen dabei auf ein semantisches Feld, in dem ‚Europa‘ und ‚Moderne‘, und mit ihr die positiven Wissenschaften und die Technik, zu semantischen Äquivalenten wurden. Diese Äquivalenz wird auch in der Aufgabe erkennbar, die Calvo Serer für das Nachkriegsspanien formulierte und in der er die Auflösung jener Dichotomie erkannte. „Europa“ solle lediglich dafür verwendet werden, um „von ihm all das anzunehmen, was für uns von Wert ist.Wir benötigen alles Positive, was die moderne Philosophie zu bieten hat, und wir müssen uns die außerordentlichen Kenntnisgewinne in den physischen und historischen Wissenschaften über die Materie und den Menschen aneignen. Zuletzt müssen wir die moderne Technik erlernen, jenes bedeutende Instrument, das sich dieser Tage gegen den Geist wendet und das durch jenen beherrscht werden muss, damit es dem Menschen dient, indem es ihn von der Natur befreit und ihn dazu befähigt, sich auf seinem Wege zu Gott zu vervollkommnen.“⁶⁵

‚Europa‘ liefere damit einen Horizont von „moderne[r] Technik“ und Wissen, die selektiv adaptiert werden müssten, ohne dass das ‚moderne Europa‘ als Ganzes zum Vorbild genommen würde. Pérez Embid bezog in ähnlicher Weise gegen die Positionen seiner Widerstreiter in der Debatte um das ‚Problem Spaniens‘ Stellung, indem er einen Leitsatz formulierte, der sich im selben Feld semantischer Äquivalente bewegte: „Dasjenige, was Laín den ungelösten Streit zwischen antitraditioneller Fortschrittsfreundlichkeit und gegenwartsfeindlichem Traditionalismus nennt, löst sich für uns in der geglückten Synthese: Hispanisierung [españolización] der Ziele und Europäisierung der Mittel.“⁶⁶ Calvo Serers „Vervollkommnung auf dem Wege zu Gott“ entsprach dabei der españolización der Ziele. Die „Europäisierung“ beschränkte sich hingegen auf die „Mittel“ und damit sowohl auf die „moderne Technik“ als auch auf die positiven Wissenschaften – auf jene zweckrationalen Instrumente, die jedoch nicht selbst zum weltanschaulichen Zweck werden sollten. Diese Formel ermöglichte es erst, eine partiell bejahende Haltung zu einer weiterhin als bedrohlich empfundenen Technik zu entwickeln.

 Ebd., S. 344.  Florentino Pérez Embid: Ante la nueva actualidad del ‚Problema de España‘, in: Arbor 14 (1949), S. 149 – 160, hier S. 159

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

2.3 Die neue Balance der Wissenschaften Angesichts der zahlreichen technikskeptischen Stimmen muss an dieser Stelle die folgende Frage beantwortet werden: Wie lässt sich die allmähliche Privilegierung der technischen Wissenschaften im Kontext einer Wissenschaftsordnung verstehen, die auf einem expliziten Einheitspostulat und einer Tradition im Sinne des national-katholischen ‚Sonderwegs‘ aufbaute und dabei gleichzeitig versuchte, die organische Balance ihrer Zweige herzustellen? Bisher dominiert in der Forschung ein rein wirtschaftspolitisches explanans für die Frage nach der Bedeutungszunahme der industriellen Technik.⁶⁷ Im Kontext der materiellen Nöte einer verlängerten Nachkriegszeit, die mit dem Bürgerkriegsende einsetzte, um sich im Jahr 1945 mit der gesamteuropäischen zu überlagern, setzten die falangistischen Vertreter der Wirtschaftsautarkie auf eine staatlich forcierte Industrialisierung. Für die als ingenierismo bekannte Prägung der frühen Wirtschaftspolitik des Franco-Regimes, welche die Figur des Ingenieurs als Leiter ökonomischer Planung ins Zentrum stellte, lag die oberste Priorität in der Entwicklung einer nationalen, weitgehend selbstgenügsamen Industrie.⁶⁸ Dies galt insbesondere für die Zeit nach 1945, als der bis dahin dominante Wissenstransfer aus Deutschland durch den Untergang des nationalsozialistischen Regimes abbrach, wie Albert Presas gezeigt hat.⁶⁹ Die Überwindung der materiellen Missstände machte für die wissenschaftspolitische Elite des Regimes somit eine Produktion technischen Wissens unabdingbar, die wiederum in den Dienst der nationalen Industrie gestellt werden sollte. Dieses strikt wirtschaftspolitische explanans verdeckt jedoch die ideengeschichtlichen Zwänge eines zivilisationskritischen Denkens, ohne welches das Verhältnis der franquistischen Wissenschaftspolitik zur Technik und anderer Wissenszweige nicht ausreichend erklärt werden kann. Denn die Technik wurde,

 Vgl. Santiago López: Las ciencias aplicadas y técnicas. La Fundación Nacional de Investigaciones Científicas y Ensayos de Reformas y el Patronato Juan de la Cierva del CSIC (1931– 1961), in: Ana Romero de Pablos/María J. Santesmases (Hrsg): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008, S. 79 – 106.  Vgl. v. a. Lino Camprubí: Engineers and the Making of the Francoist Regime, Cambridge (Mass.) 2014; Luis Eduardo Pires Jiménez/José Luis Ramos Gorostiza: Ingenieros e ingenierismo en la economía de la España autárquica. Una comparación con el caso portugués, in: Mediterráneo económico 9 (2006), S. 237– 249; Carlos Velasco Murviedro: El ‚ingenierismo‘ como directriz básica de la política económica durante la autarquía (1936 – 1959), in: Información Comercial Española 606 (1984), S. 97– 106.  Vgl. Albert Presas: Technological Transfer as a Political Weapon. Technological Relations between Germany and Spain from 1918 and the early 1950s, in: Journal of Modern European History 6 (2008), S. 218 – 236.

2.3 Die neue Balance der Wissenschaften

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erstens, als reines Instrument im Dienst der Wirtschaftspolitik des Regimes betrachtet. Technik und positive Wissenschaften blieben zwar weiterhin Teil einer historisch gefahrvollen technisch-industriellen Moderne. Als Mittel erfuhren sie jedoch eine positive Umdeutung im Sinne der Sicherung der franquistischen Gesellschaftsordnung. Würde man die Technik nicht in die Schranken der reinen Instrumentalität verweisen, bestünde laut Ibáñez Martín nämlich die Gefahr, „dass die einseitige Pflege der Naturwissenschaften und der Technik die spirituelle Kontinuität unseres Landes zerschneiden könnte.“⁷⁰ Der utilitaristische Sinn der Technik war in dieser Logik auch ein Versuch ihrer Einhegung. Erst in dieser Balance ließ sich das scheinbare Paradoxon auflösen, das die symbolische Überhöhung der Technik bei einer gleichzeitig technikskeptischen Grundhaltung hervorrief. Trotz jener Versuche der diskursiven Einhegung der Technik blieb ihre Aufwertung ab Ende der 1940er Jahre nicht ohne Folgen für die Ordnung der Wissenschaften. Die Aufwertung der technischen Wissenschaften erforderte nämlich, zweitens, eine Neujustierung jener anfänglichen Balance der Wissenschaften, die den geistigen Disziplinen eine privilegierte Stellung zugesprochen hatte. Mit der Privilegierung der Technik hatte die franquistische Wissenschaftspolitik den Weg in eine von ihr imaginierte technisch-industrielle Moderne beschritten. Die franquistische Wissenschaftselite sah sich daher mit der Herausforderung konfrontiert, ein neues Gleichgewicht der Forschungszweige herzustellen. Die im wissenschaftspolitischen Denken angelegte Verschränkung von Technikskepsis und national-katholischem ‚Sonderweg‘ führte dabei zwangsläufig zu folgender Frage: Wie sollten die Gefahren vermieden werden, die die Inkorporation der Technik in den ‚spanischen Weg‘ mit sich bringen könnte? Die Antwort lieferte Ibáñez Martín als Präsident des Consejo im Jahr 1955 vor dem versammelten Plenum des Consejo: „Nichtsdestotrotz birgt der von uns eingeleitete neue Weg einige Gefahren. Darunter dürfen wir solche nicht vergessen, die eine dem materiellen Fortschritt zugewandte Gesellschaft bedrängen. […] Der Consejo – der einmal mehr seine flammende Bejahung der kirchlichen Lehre auf dem intellektuellen Feld proklamiert – ist sich dieser ernsten Gefahr bewusst und hat sich darum bemüht, den Vormarsch der Naturwissenschaften mit jenen geistigen Strebbögen zu verstärken, die das humanistische Wissen, eingerahmt in eine christlichen Weltsicht, bereitstellen kann.“⁷¹

 CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 60.  Ebd., S. 63.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Es ist bezeichnend, dass die repräsentative, institutionelle und auch finanzielle Aufwertung der technischen Wissenschaften die Balance zwischen der ‚Technik‘ und einer auf spirituellen Werten konstruierten Wissenschaftstradition umkehrte. Hatte Franco noch im Jahr 1950 davon gesprochen, die Technik nicht zu „missachten“, so waren nun die Geisteswissenschaften in Ibáñez Martíns Rede von tragenden Säulen zu „Strebebögen“ des spanischen Wissenschaftsgebäudes geworden.Vor diesem Hintergrund lieferte die neue Balance der Disziplinen Gründe für eine Stärkung der geistigen Disziplinen, allerdings auch für eine Verfestigung im Sinne ihrer vermeintlich katholischen Tradition, wie Ibáñez Martín in der selben Rede ausführte: „Mit Hilfe der Pflege und Verbreitung der Theologie, mit den humanistischen Wissenszweigen der Philosophie, der Geschichte, der Kunst oder der Geisteswissenschaften, durch die Wahl von Personen, die abseits technischer Fertigkeiten auch über christliche Bildung verfügen, können wir verhindern, dass der Vormarsch der empirisch-mathematischen Wissenschaften das Wachstum und den Antrieb der Geisteswissenschaften erstickt und eine deformierte Gesellschaft hervorbringt.“⁷²

Den Geisteswissenschaften, die unter der intellektuellen Obhut des Katholizismus zu stehen hatten, wies der Präsident des Consejo damit die Rolle der Garanten der spirituellen Kontinuität des Landes zu. Je größer die Bedrohung durch Technik und positive Wissenschaften erschien, desto wichtiger war es folglich, die national-katholisch geprägten Geisteswissenschaften zu fördern. Als ‚menschliches‘ Gegengewicht zu einer entsprechend ‚artifiziellen‘ Technik sollten sie verhindern, dass die positiven Wissenschaften gleichsam zum trojanischen Pferd einer gefahrenvollen Moderne werden würden. Nicht in allen Intellektuellenkreisen des franquistischen Spaniens trat die vorhin analysierte Technikskepsis derart stark in den Vordergrund. Vielmehr setzten zu Beginn der 1950er Jahre kleinere Debatten ein, die beispielsweise unter dem Titel „Vergangenheitsbezogenheit der Katholiken“ geführt wurden und die unter anderem die Frage stellten, ob „es dem Willen Gottes etwa angemessener [sei], mit dem Esel als mit dem Flugzeug zu reisen […]?“⁷³ Eine ähnliche Frage trug Ruiz Giménez im Jahr 1955, allerdings in abgeschwächter Form, dem Plenum des Consejo vor: „Warum sollten unsere Völker notwendigerweise nur Völker der Geisteswissenschaften und Waffen sein […] und nicht gleichzeitig auch Völker,  Ebd.  Luis Ponce de León: Sobre el ‚preterismo‘ de los católicos, in: Ateneo 2,48 (1953), S. 3. Diese Auseinandersetzung ist bisher lediglich von Leslie Mackenzie thematisiert worden in Leslie Mackenzie: The Political Ideas of the Opus Dei in Spain, in: Government and Opposition 8,1 (1973), S. 72– 92.

2.3 Die neue Balance der Wissenschaften

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welche die Herrschaft über die Technik ergreifen […]?“⁷⁴ Nichtsdestotrotz zeigten auch diese Aussagen, dass das Verhältnis zwischen katholischer Nation und moderner Technik weiterhin ein spannungsreiches war. Die Technik müsse zum Instrument des Geistes werden, damit jene nicht den Geist beherrschen könne. Eben diesen Gedanken hatte Calvo Serer schon im Dezember 1950 für die Leserschaft des ABC antizipiert, indem er die Nachkriegsentwicklungen in der westdeutschen Wissenschaftspolitik als Negativfolie und gefahrvollen Zukunftshorizont für Spanien darstellte. Der Autor berichtete in einem Artikel unter dem Titel ‚Wohin führt uns die Wissenschaft?‘ über drei im November 1950 in Köln, Bremen und Mainz abgehaltene Kongresse zur Gegenwart und Zukunft der Forschung in der neu gegründeten Bundesrepublik. Durch die Abwesenheit der zentralen, insbesondere katholischen Intellektuellenfiguren zeichneten sich in diesen Kongressen, so der Autor, die zwei zentralen Gefahren der zukünftigen Wissenschaftspolitik ab: Die Vernachlässigung der „scheinbar nutzlosen“ Geisteswissenschaften angesichts der „alles absorbierenden Sorge um die Wirtschaft“⁷⁵ einerseits; und der damit zusammenhängende Verzicht auf die ethische und moralische Führung durch die Geisteswissenschaften andererseits, die für die Lösung dieser Fragen prädestiniert seien. Immerhin hätten die „deutschen Intellektuellen“, so wie sich Calvo Serer ausdrückte, diese Gefahren im Ansatz erkannt und einen gedanklichen Weg eingeschlagen, den der Autor und mit ihm die national-katholischen Deutungseliten für Spanien längst verfochten hätten: „Alle stellen fest, dass sich die wuchernde Entwicklung der materiellen und biologischen Wissenschaften gegen den Menschen selbst richtet und dass all jenes, was diese Wissenschaften an Positivem besitzen, nur dann assimiliert werden kann, wenn sie parallel dazu von proportionalen und effektiven Anstrengungen der Geisteswissenschaften, verstanden in ihrer humanistischen, klassisch-christlichen Tradition, begleitet werden.“⁷⁶

Die Konzeption der Geisteswissenschaften als „Strebebögen“, als geistige Gegengewichte zu einer ansonsten führungslosen technisierten Welt, musste demnach mit der Verfestigung ihrer „klassisch-christlichen“, für Spanien nationalkatholischen Tradition einhergehen. Dabei führte der Rekurs des Autors auf die deutsche Intellektuellenlandschaft nicht gänzlich in die Irre, obschon aus ihr nur ein sehr bestimmter Kreis die spanische Wissenschaftspolitik – als fernes Vorbild – wahrnahm. In gewohnter profranquistischer Manier druckte die Zeitschrift Neues Abendland im Jahr 1952 einen Reisebericht des kroatisch-österreichischen

 CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 76 f.  Rafael Calvo Serer: ¿A dónde nos conduce la ciencia?, ABC, 5.12.1950, S. 9.  Ebd.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Journalisten und früheren Ustascha-Propagandisten Alfons Dalma ab, in dem der Consejo als strahlendes Sinnbild eines institutionalisierten Gleichgewichtes zwischen „Geist und Materie“ vorgestellt wurde: „[…] noch interessanter ist ein anderes Stadtviertel, das aus den Gebäuden des Consejo Superior, des Obersten Rates für die Förderung der Wissenschaften, besteht. Spanische wissenschaftliche Institute, luxuriös wie parlamentarische Ministerien im übrigen Europa. Sie beherbergen Wissenschaftler aus ganz Europa und Südamerika, jenseits jeder materiellen Sorge, mit allen wissenschaftlichen Hilfsmitteln ausgestattet, von keinem Leistungssoll belastet, ohne jede Kontrolle mit absolutem Vertrauensvorschuß beehrt. Der Geschichtswissenschaft oder der Philologie zum Beispiel stehen keine geringeren Mittel als der Atomphysik oder der Flugtechnik zur Verfügung. Geist und Materie im finanziellen Gleichgewicht. Sollte das kein europäischer Geist sein?“⁷⁷

Das Bild, das Dalma zeichnete, stellte die Monumentalität des Consejo in den Vordergrund und verklärte die finanziellen und politischen Bedingungen, unter denen das zentrale Organ der spanischen Forschung tatsächlich funktionierte. Auffallend war jedoch, dass er den Gleichgewichtsgedanken ins Zentrum seiner Huldigung des CSIC rückte. Dass Dalma dies gerade in jenen Jahren tat, in denen das vermeintliche Gleichgewicht im Consejo durch die Privilegierung der Technik ins Wanken geriet, war symptomatisch. Wie schon bei Calvo Serer musste die Verteidigung der Balance der Disziplinen gerade dann besonders betont werden, wenn sie in Gefahr zu geraten schien. Denn trotz der wissenschaftspolitischen Signale, die der Präsident des Consejo und die franquistischen Erziehungsminister für eine Ausbalancierung von Natur- und Geisteswissenschaften und damit von „Geist und Materie“ sandten, trat genau das ein, was der national-katholische Intellektuelle Calvo Serer 1950 befürchtet hatte. Im folgenden Jahrzehnt und insbesondere in den 1960er Jahren verschob sich die wissenschaftspolitische Aufmerksamkeit des Franco-Regimes auf die Technik und die angewandten Wissenschaften, und zwar ohne Ausgleich, ohne „parallele Anstrengungen“ gegenüber der ciencias del espíritu.

2.4 Wissenschaftsdiskurse zwischen ‚tradición española‘ und ‚ciencia europea‘ Im national-katholischen Wissenschaftsdiskurs im Umfeld des Consejo nahm das ‚moderne Europa‘ eine zwiespältige Rolle ein. Als historischer Weg stellte es eine  Alfons Dalma: Europa ohne Angst, in: Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte 7 (1952), S. 623 – 626, hier S. 624.

2.4 Wissenschaftsdiskurse zwischen ‚tradición española‘ und ‚ciencia europea‘

95

‚fremde Moderne‘ dar, die zwar auch Chancen, aber hauptsächlich Gefahren in sich barg und deshalb selektiv adaptiert werden musste. Wie gezeigt wurde, hatte Florentino Pérez Embid mit der Devise „Europäisierung der Mittel, españolización der Ziele“ ein neues Verhältnis der national-katholischen Elite zur Technik und damit zur technisch-industriellen Moderne postuliert, von der lediglich die zweckrationalen Instrumente angeeignet werden sollten. Die Verwendung des Begriffs „Europäisierung“, um die selektive Adaption des reinen Instruments der Technik im weitestem Sinne zu bezeichnen, verriet die semantische Nähe des Begriffs ‚Europa‘ zu denjenigen des ‚Mittels‘, des ‚Instruments‘ und der ‚Technik‘. Eine entgrenzte „Europäisierung“ würde, so wiederum Calvo Serer, aus den Spaniern „Fremde im eigenen Land“⁷⁸ machen. Zwar waren Wissenschaft und Technik als Erscheinungen dieser Moderne nicht weniger ‚fremd‘ als die Moderne selbst. Sie konnten jedoch, wie der Rechtshistoriker José Maldonado in Arbor ausführte, als Instrument bzw. „Arbeitsmittel“ adaptiert werden, wenn man wiederum nach positiven Beispielen aus dem 19. Jahrhundert suchte: „Nicht unter jenen [Wissenschaftlern müsste man suchen], die der aus dem Ausland eingeführten Wissenschaft in sektiererischer und parteilicher Absicht dienen wollten, als handle es sich um ein weiteres Instrument für den politischen Kampf unter antikatholischen und antispanischen Vorzeichen, sondern vielmehr unter jenen anderen, echten Männern der Wissenschaft, die nicht vergaßen, dass sie Spanier waren und sich gerade deswegen die Art und Weise aneigneten, mit der außerhalb Spaniens Wissenschaft betrieben wurde, um sie den Forschern im Land selbst bereit zu stellen, damit das aufgenommen werden könne, was wirklich assimiliert werden sollte: Die Methode, die Arbeitsmittel.“⁷⁹

Maldonado würdigte indes die Figur des Begründers der spanischen Rechtsgeschichte, Eduardo de Hinojosa (1852– 1919), indem er in ihm das Vorbild für eine „authentische spanische Wissenschaft“ erkannte, die „die Technik aus der Fremde“ zwar erlernt, nicht aber die „Ansichten eines ausländischen Systems“ auf die spanische Geschichte übertragen hätte.⁸⁰ Es ist dabei bezeichnend, dass Maldonados Biografie von Hinojosa an dem Punkt zur Wissenschaftlerbiografie wird, als der 26-jährige Jurist im Jahr 1878 eine „Studienreise nach Deutschland“ unternahm. Bezeichnend ist dies deshalb, da die Hinwendung zur Wissenschaft und somit die ‚Verwissenschaftlichung‘ der spanischen Rechtsgeschichte in dieser Erzählung mit der Auslandserfahrung Hinojosas zusammenfällt. Auch Al-

 Calvo Serer: Nueva generación española, S. 336.  José Maldonado: Científicos españoles del siglo XIX. Eduardo de Hinojosa y la Historia del Derecho, in: Arbor 14 (1949), S. 385 – 395, hier S. 385.  Ebd., S. 385 und 394.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

bareda verflocht in einem Aufsatz, der nicht umsonst den Titel „Die wissenschaftliche Eignung“ trug, die historische Etablierung wissenschaftlicher Disziplinen in Spanien mit dem Auslandsaufenthalt ihrer Gründer. Beispielsweise führte er darin den Erfolg der spanischen Geologie im 19. Jahrhundert auf diese Kontaktaufnahme mit dem Ausland zurück: „[…] wie war eine derartige wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Feld der Geologie möglich? Im Jahr 1818 machten sich fünf mit Stipendien ausgestattete Ingenieure auf den Weg zur Freiberger Bergbauschule […]; zwischen 1788 und 1850 waren es bereits ungefähr dreißig [spanische] Stipendiaten. In Almadén war im Jahr 1777 eine Bergbauschule gegründet worden; im Jahr 1828 gab es in Madrid, bei der Generaldirektion für Bergbau, bereits einen Lehrstuhl für Chemie, und im Jahr 1835 wird in Madrid die Bergbauingenieursschule errichtet.“⁸¹

Albareda ordnete die Institutionalisierungsphasen in einer Syntax an, die nicht der zeitlichen Abfolge gehorchte. War im Jahr 1777 bereits in Almadén der Grundstein für die Geschichte des spanischen Bergbaus und damit der Geologie gelegt worden, so rangierte dieses Datum in Albaredas Genealogie und in seinem Satzbau hinter der Auslandserfahrung der spanischen Stipendiaten. Der Ursprung einer geologischen Wissenschaft und der dazugehörigen Institutionalisierung lag, ähnlich wie bei Maldonado, im Transfer deutscher Bergbaulehren auf spanischem Boden. Der Vizepräsident des Consejo deutete nicht zufällig den Forschungs- bzw. Studienaufenthalt im europäischen Ausland als Ursprung wissenschaftlicher Schulung. Auch für Albaredas eigene akademische Laufbahn waren die Aufenthalte an den Hochschulen in Bonn, Königsberg und an der ETH Zürich (1928 – 1930) von zentraler Bedeutung gewesen.⁸² Die Ineinssetzung von Auslandsreise und der Erlangung wissenschaftlicher Reife war dabei ein traditionsreiches Merkmal biografischer Konstruktionen, das in den Intellektuellen- und Wissenschaftlerkreisen des Franquismus weit verbreitet war. Wie im zweiten Strang dieser Arbeit gezeigt werden wird, fungierte der explizite Verweis auf die Transfers ‚fremden‘ Wissens und ‚fremder‘ Wissenschaftstraditionen als Wegmarke für biografische Wendepunkte und für die Genealogie auch geisteswissenschaftlicher Disziplinen.⁸³

 José M. Albareda: La aptitud investigadora y otros factores de la producción científica, in: Arbor 17 (1950), S. 337– 355, hier S. 339.  Albareda selbst produzierte keine autobiografischen Texte. Eine entsprechende narrative Einbettung leistet jedoch die Biografie von Enrique Gutiérrez Ríos: José María Albareda. Una época de la cultura española, Madrid, 1970.  Es existieren bisher kaum Forschungen zur Konstruktion von Wissenschaftlerbiografien in Spanien. Im zweiten Strang dieser Untersuchung wird die Konstruktion einer solchen Biografie

2.4 Wissenschaftsdiskurse zwischen ‚tradición española‘ und ‚ciencia europea‘

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Was sagt nun diese diskursive Ambivalenz einer ‚europäischen Moderne‘, die sowohl ‚fremde Moderne‘ als auch zugleich Ursprung und Horizont spanischer Wissenschaft und Technik war, über die Wissenschaftsdiskurse unter dem Franco-Regime aus? An erster Stelle macht sie deutlich, dass sich die Wissenschaftsund Modernediskurse im Spanien der 1940er und 1950er Jahre – und darüber hinaus – auf einer Fortschritt-Rückstands-Achse bewegten, auf der die spanische Forschung trotz aller Versuche, nationale Wissenschaftstraditionen hervorzuheben, hinter der ‚modernen‘ und damit ‚europäischen‘ platziert wurde. Das Motiv des ‚Rückstands‘ war den franquistischen Wissenschaftsdiskursen selbst dann inhärent, wenn sie, wie bei Calvo Serer, das „besondere Wesen“ Spaniens hervorhoben: „Ohne die Teilhabe der Spanier an der Erforschung der Natur verneinen zu wollen, […] ist es tatsächlich so, dass sie keine für Europa bedeutenden Größen, wie Telesius, Bruno, Paracelsus, Bacon, Galileo, Kepler oder Newton hervorgebracht haben. Während in Europa die Renaissance, die Aufklärung, die Romantik und der Positivismus eine Hinwendung zur Natur bedeuteten, bei der Technik und Forschung Schritt für Schritt perfektioniert wurden, trat Spanien […] diesen Weg verspätet an, da sein besonderes Wesen und seine ihm eigene Größe nicht mit jenen Unterfangen übereingebracht werden können.“⁸⁴

Zwar versäumte auch Albareda nicht, die „erlauchten Persönlichkeiten“ der spanischen Wissenschaftsgeschichte zu würdigen. Einen historischen Rückstand musste er dennoch einräumen: „Auch wenn man eine Studie zu unseren Wissenschaftlern des vergangenen Jahrhunderts machen würde, müsste man nichtsdestotrotz die Armut des spanischen Beitrags zum Fortschritt der Forschung eingestehen. Dies ist jedoch noch lange kein Grund, einer Theorie der rassischen Unfähigkeit das Wort zu reden. Dieser Hypothese widersprechen zahlreiche Tatsachen: Beispielsweise der unwiderlegbare Tatbestand der Tätigkeit jener Spanier, die in ausländischen Wissenschaftsinstitutionen gearbeitet haben. Ein literarisches und gelehrtes Monumentalwerk hat für denjenigen, der die Wahrheit sucht, weniger Gewicht als diese Tatsachenkette, die aus der Arbeit unserer Stipendiaten im Ausland besteht.“⁸⁵

am Beispiel des katalanischen Historikers Jaume Vicens gezeigt. Zum Verhältnis von Auslandsaufenthalten und privater Erinnerung bisher María J. Santesmases: Viajes y memoria. Las ciencias en España antes y después de la guerra civil, in: Asclepio. Revista de historia de la medicina y de la ciencia, 59,2 (2007) S. 213 – 230; María J. Santesmases/Emilio Muñoz: Scientific Organizations in Spain (1950 – 1970). Social Isolation and International Legitimation of Biochemists and Molecular Biologists on the Periphery, in: Social Studies of Science 27,2 (1997), S. 187– 219.  Calvo Serer: Valoración europea de la historia española, S. 32.  Albareda: La aptitud investigadora, S. 337 und S. 340.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Der historische ‚Rückstand‘ der spanischen Wissenschaft, ihre „Armut“ im Verhältnis zum „Fortschritt der Forschung“, lag für Albareda nicht im ‚Wesen‘ oder ‚Volkscharakter‘ der Spanier begründet – in diesem Sinne gebrauchte der Autor das Wort „rassisch“.⁸⁶ Dennoch sah er den Beweis für die Fähigkeit der Spanier, Wissenschaft zu betreiben, in ihrer Präsenz an ausländischen Forschungsinstitutionen. Die Eignung für den ‚Fortschritt‘ verband Albareda auch hier unmittelbar mit der Eingliederung in die Forschungsinstitutionen jenseits der (nördlichen) Landesgrenzen. Ferner verwies das Motiv des ‚Rückstands‘ auf ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen zwei Wissenschaftsbegriffen. Die selektive Adaption jener ‚fremden Moderne‘ bedeutete, unter ‚Wissenschaft‘ zugleich die spanische Wissenschaftstradition (ciencia española) als auch die ciencia europea zu verstehen und auf diese Weise die Tür zu einer semantischen Überlagerung zu öffnen. Um jene Überlagerung aufzuheben und somit die zwei zentralen diskursiven Elemente – nationale Selbstbehauptung und nationaler Rückstand – in ein Gleichgewicht zu bringen, griff beispielsweise José L. Pinillos auf die Dichotomie Geist (Spanien)/Materie (Ausland) zurück. In seiner Rubrik Kulturelle Chronik Spaniens in Arbor hielt er anlässlich eines prominenten Besuchs aus dem Ausland im Jahr 1949 fest: „Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass beispielsweise Dr. Thomson, der auf Einladung des Instituts für Physikalische Chemie aus Oxford angereist ist, […] seine Fülle humanistischen Wissens durch den Besuch unserer Städte und unseres künstlerischen Reichtums bereichert hat?“⁸⁷ Der Weg des Transfers war also zweispurig. Die eine Spur, diejenige des „humanistischen Wissens“ und des geistigen „Reichtums“ führte von Spanien auswärts; die zweite,

 Es liegen bisher keine Studien vor, die die historische Semantik des Begriffs raza systematisch untersuchen würden. Es ist allerdings bezeichnend, dass dieser Begriff seit dem ausgehenden 19. und insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert vor allem an den weniger biologistisch, sondern vielmehr kulturell verstandenen Begriff der Hispanidad gekoppelt war. Die Hispanidad bezeichnete wiederum einen vom spanischen Kolonialreich ausgehenden Kulturraum, in dem die spanische Kultur (Sprache, Religion, Denktraditionen, Verhaltensmuster) eine hegemoniale Rolle beanspruchte. So feierte man seit 1918 (und bis 1987) die ‚Entdeckung‘ Amerikas durch Christoph Kolumbus am 12. Oktober unter den wechselnden Namen Fiesta/Día de la Raza und de la Hispanidad. Diese kulturalistische Prägung des Begriffs schloss keineswegs eine Überlagerung mit biologistischen Bedeutungen aus. Dennoch muss an dieser Stelle auf diese Polysemie des Rassebegriffs hingewiesen werden, da gerade katholische Intellektuelle mit ihm vornehmlich den ‚Charakter‘ oder das ‚Temperament‘ des ‚Spaniers‘ meinten. Zum Begriff der Hispanidad und dem 12. Oktober als Nationalfeiertag siehe Marcela García/David Marcilhacy: América y la fiesta del 12 de Octubre, in: Javier Moreno/Xosé M. Núñez Seixas (Hrsg.): Ser españoles. Imaginarios nacionalistas en el siglo XX, Barcelona 2013, S. 364– 398.  José L. Pinillos: Crónica cultural española, in: Arbor 12 (1949), S. 605 – 612, hier S. 610.

2.5 Der Weg zur ‚Normalität‘

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diejenige der Wissenschaften im Sinne ihrer „modernen“ Prägung hingegen inwärts. War ‚Europa‘ der Horizont moderner Wissenschaft und Technik, so musste Spanien für eben dieses ‚Europa‘ der Horizont geistiger Werte sein. Nur in dieser Symmetrie konnte das national-katholische Narrativ bei gleichzeitiger Inkorporation der ciencia europea Bestand haben. Der gefahrvolle Weg über die Pyrenäen führte unweigerlich über den Pfad der Wissenschaft, was sich nicht nur in den bisher analysierten Diskursen zeigte. Das gespannte Verhältnis zur ciencia europea, die Zweispurigkeit des Transfers und die Rückständigkeitsdiskurse durchdrangen auch die Inszenierungen des Consejo und seine institutionelle Ordnung.

2.5 Der Weg zur ‚Normalität‘: Inszenierungen und institutionelle Ordnung im Zeichen des ‚Rückstands‘ Entgegen dem Bild einer auf intellektuelle und wissenschaftliche Isolation zielenden Wissenschaftspolitik des Franco-Regime lässt sich zeigen, dass der CSIC, soweit es die außenpolitischen Rahmenbedingungen zuließen, von Beginn an, jedoch insbesondere seit Ende der 1940er Jahre, auf die internationale Karte setzte. Wie auch in anderen Bereichen inszenierte der Consejo seine Internationalität sowohl durch die von der Presse breit rezipierten Plenarversammlungen als auch durch seinen institutionellen Ausbau. Hierbei lassen sich drei Phasen unterscheiden. In einer ersten Phase, zwischen den Jahren 1940 und 1945, standen die Reden in den Plenarversammlungen zunächst unter dem Vorzeichen nationaler Selbstbehauptung. Die Frage nach dem Verhältnis von nationaler und internationaler Wissenschaft nahm darin zwar eine wichtige Rolle ein. Dieses Verhältnis wurde jedoch zunächst negativ bestimmt. Dies wurde in Ibáñez Martíns Rede vor der Plenarversammlung des Jahres 1943 am deutlichsten: „Spanien will nichts von denen, die, indem sie sich auf ihre ‚Freiheit‘ beriefen, es [das Land] zu einem kulturellen Vasallen zweitrangiger Figuren aus dem Ausland machen wollten […]. Spanien hat nichts von jenen Spaniern zu lernen, die, wenn sie Spanisch sprechen, lediglich ins Spanische übersetzen.“⁸⁸ Im Sinne der Rhetorik des AufBruchs richtete sich der Erziehungsminister gegen die Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen einer Vorkriegszeit, in der die vermeintliche spanische Essenz entfremdet worden war. Dabei war dieser angekündigte Bruch ein doppelter. Auf der einen Seite lehnte Ibáñez Martín den ‚fremden‘ Geist spanischer Einrichtungen wie der Institución Libre de Enseñanza und mit ihr der Junta para la

 CSIC: Memoria, 1943, S. 48.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Ampliación de Estudios ab.⁸⁹ Auf der anderen Seite war darin auch eine partielle Abgrenzung des ‚Spanischen‘ von dem ‚Nicht-Spanischen‘ abzulesen. Wie Ibáñez Martín bereits im ersten Plenum des Consejo verkündet hatte, war die Übersetzung des ‚Fremden‘ ins ‚Eigene‘ auf der Ebene der Wissenschaft gerade dann problematisch, wenn damit aufklärerisches und laizistisches Gedankengut mittransportiert wurde: „Unsere Wissenschaft, die spanische Wissenschaft unseres Imperiums, diejenige, die das neue Spanien mit aller Kraft vorantreiben möchte, weist die kantische These des absoluten Rationalismus zurück und lässt sich nicht dazu herab, anzuerkennen, dass der Mensch nicht in der Lage sei, durch kontinuierlichem Fortschritt in den Besitz der vollen Wahrheit zu gelangen.“⁹⁰

Dabei überlagerten sich in Ibáñez Martíns Reden die räumliche und die zeitliche Achse. Die wahrhaftig spanische Wissenschaft war nicht nur jene, die die Einflüsse von Außen abwehren konnte, sondern auch diejenige, die die ‚fremde‘ Aufklärung auf dem Weg von der imperialen Vergangenheit bis in die Gegenwart hatte überbrücken können. Gerade die Gründung des Patronato Quadrado für lokale Studien im Jahr 1948 bot Ibáñez Martín die Gelegenheit, diesen Gedanken erneut in einem historischen Rückblick auf das 19. Jahrhundert wiederaufzunehmen: „Die fremde Technik und die fremden Bräuche, das fremdartige und feindselige Denken überfielen die wichtigsten Bastionen unserer Kultur […]. Allein die pochende Vielfalt der spanischen Provinz zerschlug in diesen unwirtlichen Zeiten die unglückliche Europäisierung Spaniens und erhielt die althergebrachte spanische Geistesverfassung […].“⁹¹

Der spanische Geist hatte auf lokaler Ebene, so dieses Narrativ, der „fremden Technik“ und der „unglücklichen Europäisierung“ getrotzt. So lag es nun an einer neuen Elite, insbesondere am Consejo, eine ‚geglückte Europäisierung‘ zu vollziehen, ohne die Irrwege der Moderne als Epoche und als historischen Weg zu begehen. Diese letzte Bestimmung befand sich aufgrund der Vehemenz, mit der die Rettung der spanischen Essenzen vor „fremde[r] Technik und fremde[n] Bräuche  Mit der „zweitrangingen Figur“ bezog sich Ibáñez Martín insbesondere auf den deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781– 1832), dessen gesellschafts- und bildungspolitische Vorstellungen insbesondere unter liberal-laizistischen spanischen Staatsdenkern breit rezipiert worden waren. Der sogenannte Krausismo gilt gemeinhin als philosophischer Nährboden für die Institución Libre de Enseñanza.  CSIC: Memoria, 1941– 1941, S. 32.  CSIC: Memoria, 1948, S. 40.

2.5 Der Weg zur ‚Normalität‘

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[n]“ hochgehalten wurde, im Jahr 1948 bereits am Rand eines neuen diskursiven Rahmens. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die neue internationale Konstellation beförderten das Franco-Regime zunächst in eine Situation politischer Isolation, die erst zu Beginn der 1950er Jahre mit der Aufhebung des UN-Boykottbeschlusses aus dem Jahr 1946, dem Stützpunktabkommen mit den Vereinigten Staaten und den Konkordatsverträgen mit dem Vatikan (beide im Jahr 1953) schrittweise durchbrochen werden konnte.⁹² Angesichts der versperrten diplomatischen Wege bot die Wissenschaftspolitik eine geeignete Schleuse, um eine Teilhabe, wenn nicht an der Weltpolitik, dann zumindest an der internationalen Wissenschaft zu inszenieren. Dementsprechend zeichnete sich eine zweite Phase der franquistischen Wissenschaftspolitik zwischen den Jahren 1945 und 1950 durch eine Internationalisierungsoffensive aus, die ihren Höhepunkt in den Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen des Consejo erfahren sollte. Schon die Plenarversammlung im Dezember 1945 signalisierte eine klare Wende hin zu einer Rhetorik der „ökumenischen Zusammenarbeit“⁹³ mit den Staaten des westlichen Blocks. Nicht ohne Grund zitierte Ibáñez Martín hier weitläufig aus den UNO-Kommissionsberichten im Vorfeld der Gründung der UNESCO und aus den Ansprachen Frédéric Joliot-Curies (1900 – 1958), Präsident des Centre National de la Recherche Scientifique, und des neuen US-amerikanischen Präsidenten, Harry S. Truman.⁹⁴ Die Initiativen zur Gründung der UNESCO und der späteren National Science Foundation sowie die Fortführung des CNRS boten Ibáñez Martín die Gelegenheit, den Consejo in die wissenschaftspolitischen Entwicklungen der Nachkriegszeit einzuschreiben. Er sollte Consejo nun als Ausdruck der Wissenschaft im Dienste des internationalen ‚Friedens‘ stehen. Für Ibáñez Martín konnte dieser ‚Frieden‘ allerdings nur deswegen hergestellt werden, da sich andererseits die Tiefen der wissenschaftlichen Produktion vom „Wellengang“ der Tagespolitik deutlich abhoben – so derselbe Redner im darauffolgenden Plenum: „Dem Leben ist […] ein ausgedehntes und rauschendes Schwingen eigen, das die oberflächlichen Zuhörer betört und erstaunen lässt; doch unter diesem klangvollen Bereich fließen, wie im Meer, tiefe, stabile und schweigsame Strömungen. Unter dem trüben und leidenschaftlichen Wellengang der politischen Streitigkeiten leben die stillen Gelehrten-

 Den UN-Beschluss in General Assembly resolution 32 (I) vom 9. 2.1946 und General Assembly resolution 39 (I) vom 12.12.1946, in: http://www.un.org/documents/ga/res/1/ares1.htm [Stand 15.1. 2017]. Einen kurzen Überblick über die außenpolitische Entwicklung bietet Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, S. 226 f..  So der Titel eines Redeabschnittes von Ibáñez Martín, CSIC: Memoria, 1945, S. 67.  Siehe dazu ebd., S. 68 und S. 75 ff.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

kreisen, und von dort aus bringt die eifrige Arbeit des Consejo ein Echo weltumspannender Freundschaft hervor.“⁹⁵

Für die wissenschaftspolitische Elite des Franco-Regimes gewann die Wissenschaft nach 1945 die Bedeutung eines Forums, mit dem ideologische Differenzen überbrückt und der Ausbruch aus der politischen Isolation im Zeichen des ‚Friedens‘ inszeniert werden konnten.⁹⁶ Dieser neuen Bedeutung entsprechend betitelte die Tageszeitung Arriba ihren Bericht zum Plenum im Dezember 1945 mit den folgenden Überschriften: „Spanien hat ein Interesse daran, den intellektuellen und wissenschaftlichen Austausch mit dem Ausland zu fördern. Dies ist eine der wesentlichen Funktionen des Consejo de Investigaciones Científicas.“⁹⁷ War der CSIC noch wenige Jahre zuvor ins Leben gerufen worden, um eine nationale Wissenschaftstradition zu begründen, „ohne jedoch darauf zu verzichten, einen Blick auf das Ausland zu richten“⁹⁸, so war nun der „Blick“ einem „Austausch“ und das ‚Nicht-Verzichten‘ einer „wesentlichen Funktion“ gewichen. Das Reden über den „Austausch“ und über die Rolle Spaniens in der internationalen Wissenschaftsordnung verlieh dem Consejo indes nur einen Teil seines internationalen Profils. Dieses wurde ferner durch die Präsenz wissenschaftspolitischer Vertreter aus dem Ausland in den öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen der Institution unterstützt. Abgesehen von einigen Vertretern aus dem politisch affinen Portugal konnte der CSIC noch im selben Jahr der Ächtungserklärung durch die UNO (1946) auch weitere internationale Gäste begrüßen. Bei der Einweihung des zentralen Gebäudekomplexes des Consejo am 12. Oktober 1946 – zugleich Tag der Entdeckung Amerikas und spanischer Nationalfeiertag – begrüßte Ibáñez Martín, in Anwesenheit Francisco Francos, Vertreter aus den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Dänemark und dem Vatikan.⁹⁹

 CSIC: Memoria, 1946/1947, S. 65.  Die Nutzung internationaler Wissenschaftskooperation zu diplomatischen Zwecken ist dabei selbstverständlich kein spanisches Spezifikum. Wie Clark A. Miller etwa in Bezug auf die USamerikanische Außenpolitik zwischen 1938 – 1950 gezeigt hat, wurde die internationale Wissenschaftspolitik nach 1945 zu einem zunehmend wichtigen paradiplomatischen Betätigungs- und Einflussfeld, von dem der spanische Staat ebenfalls profitieren konnte. Vgl. Clark A. Miller: „An Effective Instrument of Peace“. Scientific Cooperation as an Instrument of U.S. Foreign Policy, 1939 – 1950, in: Osiris 21 (2006), S. 133 – 160. Siehe auch John Krige: American Hegemony and the postwar reconstruction of science in Europe, Cambridge 1997.  Arriba, 13.12.1945, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9909.  CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. VI.  Unter ihnen befanden sich die Zürcher Philologen Arnold Steiger und Fritz Ernst, der dänische Zellbiologe Albert Fischer sowie Lewis Hanke, Leiter für Lateinamerikanische Studien der Library of the Congress. Der Historiker Hanke (1905 – 1993) war Spezialist für spanische Kolonialge-

2.5 Der Weg zur ‚Normalität‘

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Ihren Höhepunkt erreichte die internationale Präsenz jedoch erst bei den Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen des Consejo im April 1950. Dieses Jubiläum, das sechs volle Tage dauerte, sollte nicht nur die Erfolge der jungen spanischen Wissenschaftsorganisation würdigen. Dieses X Aniversario stand sowohl medial als auch inszenatorisch unter dem Vorzeichen internationaler Partizipation und Anerkennung. Die Tageszeitung Informaciones kündigte am Tag der Eröffnung, dem 12. April, den Besuch von 180 ausländischen Gästen an. Arriba zählte nur vier Tage später bereits „[m]ehr als vierhundert Forscher aus aller Welt“, in einem Artikel mit der Überschrift „Unser Caudillo ist der tapferste Paladin des weltweiten Friedens und Wohlstands.“¹⁰⁰ Die von den Organisatoren archivierten Gästelisten führen 133 Vertreter aus siebzehn Ländern und offizielle Gesandtschaften aus einunddreißig Wissenschaftsinstitutionen auf. Unter den Letzteren befanden sich die Royal Society, die Max-Planck-Gesellschaft, der Deutsche Forschungsrat, das Centre National de la Recherche Scientifique, der Consiglio Nazionale delle Ricerche, die Library of Congress und die Smithsonian Institution – Institutionen, die aufgrund ihres Prestiges oder der politischen Bedeutung ihrer Herkunftsländer für das Franco-Regime eine gelungene Inszenierung der ‚Ökumene der Wissenschaft‘ erst möglich machten.¹⁰¹ Dass sich unter diesen Gästen auch mehrere Nobelpreisträger befanden, konnte der Consejo als größten Erfolg verbuchen: Howard W. Florey (1898 – 1968), George P. Thomson (1892– 1975), Edgar Adrian (1889 – 1977), Peter Debye (1984– 1966) und Otto Hahn (1879 – 1968), dem die britische Besatzungsmacht noch eineinhalb Jahre zuvor eine Reise nach Spanien verwehrt hatte¹⁰², füllten über die Dauer des Jubiläums die Seiten der wichtigsten Tageszeitungen.¹⁰³ schichte. Sein Aufenthalt in Spanien war auch seiner Forschung zur Figur Bartolomé de la Casas’ gewidmet, zu der er die Monografie The Spanish Struggle for Justice in the Conquest of America, Philadelphia 1949, publizierte. Hanke sollte, wie an anderer Stelle gezeigt wird, zur Kontaktperson von Jaume Vicens in Washington werden. Sowohl die Präsenz der zwei Zürcher Professoren als auch diejenige Fischers sind auf Albaredas Netzwerke in der Schweiz und im Feld der Molekularbiologie zurückzuführen. Vgl. Gutiérrez: José María Albareda.  Arriba, 16.4.1950; Informaciones, 12.4.1950, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9907.  Diese Gästelisten befinden sich in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/12673. Die Anwesenheit der deutschen Wissenschaftseinrichtungen geschah in einem Kontext, in dem die im Oktober 1954 unterzeichneten Kulturabkommen zwischen dem Franco-Regime und der jungen Bundesrepublik noch in weiter Ferne standen. Vgl. Birgit Aschmann: „Treue Freunde…“? Westdeutschland und Spanien 1945 – 1963, Stuttgart 1999 (Historische Mitteilungen 34), S. 392 ff.  Vgl. Otto Hahn: Mein Leben, erw. Neuaufl., München 61986, S. 221. Hahn schien eine besondere Vorliebe für Spanien zu haben. Seine Teilnahme am X Aniversario kommentierte er wie folgt: „Fünf Jahre nach Kriegsende durfte ich endlich auch wieder nach Spanien reisen. Ich befand mich bei der Zehnjahresfeier des Consejo Superior de Investigaciones Científicas in der Gesellschaft illustrer Gäste aus vielen Ländern, darunter auch aus den USA.“ Ebd., S. 223.

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In erster Linie sollten die renommierten Gäste die internationale Anerkennung des Consejo – und damit des franquistischen Spaniens – unter Beweis stellen. Die Relevanz des Ereignisses wurde durch ihre Präsenz sogar sanktioniert, wie die Zeitschrift Arriba im Vorfeld des Jubiläums festhielt: „Die außergewöhnliche Bedeutung dieses kulturellen Ereignisses zeigt sich in der hohen Anzahl und Qualität der Persönlichkeiten aus dem Ausland, die soeben in Spanien eingetroffen sind.“¹⁰⁴ Die Anwesenheit prestigeträchtiger Institutionen und Forscher aus dem Ausland beglaubigte demnach den Erfolg der Veranstaltung und damit – der Natur eines solchen Jubiläums entsprechend – des wissenschaftspolitischen Hauptwerks des Franco-Regimes. Dementsprechend führte ein Artikel in El Alcázar vom 15. April den Titel „Einstimmiges und freudiges Lob angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts unseres Vaterlandes.“¹⁰⁵ Zwei Tage später erhob Informaciones den letzten Tag der Feierlichkeiten zum „Tag des Triumphes für die spanische Wissenschaft“, womit zugleich die staatliche Wissenschaftspolitik und die Staatsspitze selbst gefeiert wurden.¹⁰⁶ Von einer besonderen symbolischen Bedeutung war ferner die Institution des Ehrenbeirats. Anhand dieses Beirats konnte der Consejo sein internationales Profil auf repräsentativer Ebene stärken und sich in den Windschatten des symbolischen Kapitals prestigeträchtiger Forscher stellen. Deshalb war die Vergabe dieser Würde in die Jubiläumsfeiern integriert: Zwölf Wissenschaftler aus Portugal, Frankreich, England, Italien und der Schweiz erhielten im Jahr 1950 von unterschiedlichen Ministern die Ehrenauszeichnung in Anwesenheit der Presse und vor versammelter Wissenschaftsgemeinschaft.¹⁰⁷ Sie fügten sich damit in ein  Die Presse hielt ihre Teilnahme an wissenschaftlichen Gesprächen, an den Festakten und auch am kulturellen Begleitprogramm in zahlreichen Interviews, Abbildungen und Reportagen fest. Siehe dazu beispielsweise Arriba vom 11.4., Madrid und Informaciones vom 12.4., Pueblo vom 13.4., ABC vom 14.4., Arriba, El Alcázar, ABC vom 15.4.1950.  Arriba,11.4.1950, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9907.  El Alcázar, 15.4.1950, ebd.  Informaciones, 17.4.1950, ebd.  Siehe dazu die Bilder im ABC vom 16.4.1950, ebd. Von den zwölf neuen Ehrenbeiräten war der Anglist Henry Thomas der einzige Geisteswissenschaftler. Ferner waren sieben von ihnen im Bereich der Bodenkunde tätig, was auf die Bedeutung der fachlichen Netzwerke des Bodenchemikers Albareda verweist. Geehrt wurden der Bodenkundler Hans Pallmann (1903 – 1965), ETH Zürich; Augusto Pires Celestino da Costa (1884– 1956), Histologe, ehemaliger Direktor des portugiesischen Instituto para a Alta Cultura; Paul Fallot (1889 – 1960), Geologe am College de France; G. W. Robinson, Physiker an der Rothamsted Experimental Station in England; Walter Kubiena (1897– 1970), ehemaliger Professor für Bodenkunde in Wien und ab dem Jahr 1950 im CSIC selbst tätig; Josias Braun-Blanquet (1984– 1980) und Mirko Roš (1879 – 1962), beides Schweizer Botaniker; der Anglist Henry Thomas; Harry Julius Emeléus (1903 – 1993) aus Cambridge, Anorganische Chemie; Jean Cabannes (1885 – 1959), Physikprofessor an der Sorbonne; der römische Ma-

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Gremium ein, das laut dem Jahresbericht von 1949 bereits 51 Mitglieder zählte, darunter 26 nicht-spanischer Herkunft. Die Zusammensetzung des Ehrenbeirates spiegelte in ihrer chronologischen Entwicklung genau die Internationalisierungsoffensive wider, die sich bereits ab dem Jahr 1945 abzeichnete. Setzte sich der Consejo de Honor noch für die Jahre 1944 und 1945 aus einem kleinen Kreis erlauchter Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft des Franquismus zusammen, so ging der rasante Anstieg der Mitgliederzahlen in den Folgejahren mit einer überproportionalen Zunahme nicht-spanischer Repräsentanten einher.

Abb. 3: Zusammensetzung des Ehrenbeirats (Consejo de Honor) des CSIC, 1940 – 1960.

Wie die Grafik zeigt, hielt sich die zu Beginn der 1950er Jahre etablierte Überproportionalität auch über das folgende Jahrzehnt. Auf quantitativer Ebene verdoppelte sich die Anzahl der ausländischen Mitglieder zwischen den Jahren 1949 und 1950, um auch danach sowohl absolut als auch relativ stetig anzusteigen. Vor allem aber war die Qualität dieser Räte nach dem Aniversario von 1950 eine andere: In seiner Folge waren drei der eingeladenen Nobelpreisträger, George P. Thomson, Peter Debye und Otto Hahn, dem Consejo de Honor beigetreten. Sie erschienen nun zusammen mit dem Präsidenten der französischen Académie des thematiker Francesco Severi (1879 – 1961) und der Präsident der französischen Académie des Sciences, der ebenfalls Mathematiker Gaston Maurice Juliá (1893 – 1978). Die Liste der Ehrenbeiräte für das Jahr 1950 wird in der Memoria des Jahres 1949 aufgeführt. Vgl. CSIC: Memoria, 1949, S. 537 f.

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Sciences, Gaston Maurice Juliá, und Selman A. Waksman (1888 – 1973), ChemieNobelpreisträger im Jahr 1952, in der Liste symbolischer Prestigeträger. Damit war der Consejo de Honor bereits Mitte der 1950er Jahre zu einem symbolischen Gremium geworden, das fast ausschließlich das internationale Profil der Institution schärfen sollte.¹⁰⁸ Die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen des Consejo standen aber mehr als nur unter dem Vorzeichen internationaler Anerkennung und Profilierung. Sie sollten ferner die konkrete Rolle inszenieren, die Spanien in der ‚Ökumene der Wissenschaft‘ zu erfüllen habe. Anlässlich eines Galaabends, auf dem die internationale Wissenschaft ihren Toast auf die Gastgeber aussprach, kündigte Ibáñez diesen Anspruch wie folgt an: „Wenn die Seele und der Lebenshauch der Welt erneut den universellen Bahnen folgen möchten, werden sie, wenn sie sich auf keinen Irrweg begeben wollen, erneut Spanien zuwenden müssen, das sich immer für die anderen aufgeopfert hat.“¹⁰⁹ Die Mission Spaniens, so wie sie der Erziehungsminister verkündete, lag auch im Rahmen dieser Wissenschaftsveranstaltung nicht in der technischen, sondern in der geistigen bzw. seelischen Rettung der „Welt“. Die Geschichte beweise die eigentliche Bestimmung Spaniens als Exporteur der wahrhaften und ureigenen europäischen Werte, für „die stete Weitergabe unserer vaterländischen Kultur an das gemeinsame Kulturgut der Menschheit, großzügige Transfusion unseres Volksgeistes, in der Spanien sich wiedererkennt und seinen Genius und sein Schicksal bestätigt“¹¹⁰, wie Franco in derselben Veranstaltung verlauten ließ. Dieser von Katholizismus durchdrungene „Volksgeist“, so das Argument, durchtränke auch die spanische Wissenschaft, die dank ihrer geistigen Grundfesten eine Stütze für die „abendländische Zivilisation“ und Wissenschaft bieten könne – ein Argument, das zeitgenössisch bei den ‚Abendlands‘-Denkern Westeuropas und auch im Allgemeinen in christlich-konservativen Kreisen anschlussfähig war.¹¹¹ Auch die Festrede des Kunsthistorikers Francisco J. Sánchez Cantón (1891– 1971) mit dem Titel „Bücher, Gemälde und Wandteppiche, die die Katholische

 Nahezu alle Ehrenbeiräte, die nach 1947 ernannt wurden, waren nicht-spanischer Herkunft. Wurde einer der ersten Listenplätze aufgrund des Ablebens eines (spanischen) Ehrenbeirats frei, so nahm in der Regel ein ausländischer seinen Rang ein.  CSIC: Memoria, 1949, S. 24.  Ebd., S. 94  Siehe dazu den bereits zitierten Beitrag von Alphons Dalma für die Zeitschrift Neues Abendland. Vgl. ferner Schildt: Zwischen Abendland und Amerika, S. 21– 66; Ders.: Zur Hochkonjunktur des „Christlichen Abendlandes“ in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Pfeil, Ulrich (Hrsg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ö kumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, Mü nchen 2008, S. 49 – 70.

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Königin Isabella sammelte“, fügte sich in den Topos einer vor allem geistigen Prägung und Berufung Spaniens ein. Der Vize-Direktor des Prado-Museums verfocht darin die These, dass die Sammlung der kastilischen Fürstin zugleich „Ursprung und Prophezeiung für die geistige Entwicklung Spaniens“¹¹² dargestellt habe. In ihr seien „Tradition“ und „Religiosität“ nicht zu Lasten der „modernen Vorlieben“ der Königin verlorengegangen. Die königliche Bibliothek „kündigte [vielmehr] das wunderbare Aufblühen an, das sich wenig später ereignen sollte“¹¹³, und zwar im „Goldenen Jahrhundert“ imperialer Expansion nach Europa und in die Neue Welt. Bezeichnend ist dabei, dass Sánchez Cantón zwar ebenso wie Ibáñez Martín und Franco die geistigen spanischen Tugenden hervorhob. Allerdings bemühte er im Gegensatz zu seinen Mitrednern auch explizit den Topos des ‚Rückstands‘. Kunst und Literatur hätten, so der Redner, zwar die königlichen Räume und das spanische Imperium geschmückt. Königin Isabella, die „Schmiedin Spaniens“¹¹⁴, habe der spanischen Nation allerdings auch ein problematisches Erbe hinterlassen, denn „der Mangel an wissenschaftlichen Schriften stellte in gewisser Weise ein schlechtes Ohmen dar, das sich bewahrheiten sollte“¹¹⁵, so sein Fazit. Der geistesgeschichtliche Glanz, wie ihn alle drei Redner präsentierten, besaß eine wissenschaftshistorische Kehrseite, die einen langen Schatten auf die spanische Geschichte warf. Die Behauptung einer nationalen Geistes- und Wissenschaftstradition bei gleichzeitigem Einräumen eines historischen Rückstands resultierte in einer diskursiven Schieflage, die nur durch die Partizipation an jener ‚Moderne‘ ausbalanciert werden konnte, die den impliziten Maßstab für die Bemessung des ‚Fortschritts‘ darstellte. So bewegte sich die monarchistische Zeitung ABC in einem Artikel zum ersten Tag der Jubiläumsfeiern in eben diesen interpretatorischen Kategorien: „Spanien hat immer auf bestimmten Feldern der intellektuellen Betätigung brilliert, in manchen von ihnen mit unvergleichlichem Glanz. Durch den zeitweisen Rückstand in technischen Fächer und physikalischen Wissenschaften war in seinen [Spaniens] Bemühungen dieser Kontakt mit anderen Völkern vonnöten, um die erwünschte Leistung erbringen zu können.“¹¹⁶ Sich den „technischen Fächern und physikalischen Wissenschaften“ anzunehmen, konnte nichts anderes bedeuten, als die „ehemaligen intellektuellen Handelswege“, wie es Ibáñez Martín ausdrückte, wieder aufzunehmen.¹¹⁷ Die Verschränkung der

     

CSIC: Memoria, 1949, S. 67. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 67. ABC, 13.4.1950, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9907. CSIC: Memoria, 1949, S. 24.

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Begriffe Europa,Wissenschaft und Technik bewies auch hier, dass eine Bewegung Spaniens hin zu den Naturwissenschaften und der Technik über eine „Wissenschaft unter der Politik der offenen Tür“¹¹⁸ gehen musste, wie wiederum eine Artikelüberschrift in Informaciones vom 12. April 1950 lautete. Die Inszenierung der Internationalität des Consejo erreichte in diesem Jahr einen ersten Höhepunkt, der erst mit den Feierlichkeiten zu seinem 25-jährigen Bestehen im Jahr 1964, Gegenstand eines späteren Kapitels, übertroffen werden sollte. Zwar standen die Plenarversammlungen der 1950er Jahre nicht in vergleichbarer Weise unter dem Vorzeichen internationaler Partizipation. Dennoch gaben vereinzelte Plenos immer wieder dazu Gelegenheit, die erreichte Flughöhe zu inszenieren und zu sanktionieren. In den Jahren zwischen 1952 und 1958 wuchs ferner die Zahl der Mitglieder des Consejo de Honor von 90 auf 106 an, wobei 15 der 16 neuen Räte die Wissenschaft jenseits der spanischen Grenzen repräsentierten. Unter ihnen befanden sich der US-amerikanische Physiker und Nobelpreisträger George P. Thomson, H. F. Wilhelm Rudorf, (1891– 1968), damaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung in Köln, sowie der erste Professor für Verwaltungswissenschaften an der University of London, William Alexander Robson (1895 – 1980).¹¹⁹ Vom Jahr 1950 an und bis zum Ende des Jahrzehnts – in einer dritten Phase – war jedoch eine andere Entwicklung entscheidend. In Zusammenhang mit der im letzten Kapitel analysierten Privilegierung der Technik und vor dem Hintergrund einer sich immer stärker zuspitzenden Wirtschafts- und Finanzkrise im Inland sowie des ökonomischen Aufschwungs in Westeuropa nahm der Diskurs des wissenschaftlichen ‚Rückstands‘ in einer Weise überhand, in der die Semantik des Begriffs ‚Wissenschaft‘ zunehmend durch die Begriffe ‚Naturwissenschaften‘ und ‚Technik‘ besetzt wurde. Während den folgenden Jahren gewann die Bemühung, die spanische Wissenschaftspolitik in eine internationale ‚Normalität‘ einzuschreiben, immer stärker an diskursivem Gewicht. Dies zeigt bereits die Rede von Ibáñez Martín vor den versammelten CSIC-Forschern aus dem Jahr 1955: „Im selben Jahr, in dem in Spanien die Waffen schwiegen, schuf der Caudillo diesen Consejo, dem Dutzende vergleichbare Institutionen in den unterschiedlichsten

 Informaciones, 12.04.1950, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9907.  Die Ernennung Rudorfs, der trotz seines Beitritts zur NSDAP im Jahr 1937 bereits 1948 die Leitung des genannten Max-Planck-Zentrums übernahm, verweist ebenfalls auf die Netzwerke Albaredas auf dem Feld der organischen Chemie und Bodenkunde. Die Präsenz Robsons ist hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit auf den zunehmenden Einfluss von Laureano López Rodó, aufstrebende Figur der franquistischen Verwaltungselite und späterer Chef des Planungskommissariats, zurückzuführen. Für diesen letzten Hinweis danke ich Anna Catharina Hofmann.

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Ländern gefolgt sind […], und zwar mit weitgehend vergleichbaren Problemen und sogar Organisationsstrukturen […].“ Die wissenschaftspolitische Entwicklung auf globaler Ebene bescheinigte, so der Präsident des CSIC, „das Aufkommen einer neuen Form der Wissenschaft.“¹²⁰ Welche „neue Form“ nun damit gemeint war, stellte wiederum Ruiz-Giménez gleich im Anschluss in den Vordergrund. Der Erziehungsminister plädierte für eine „Konzentration der Energien auf die wesentlichen Aufgaben“. Er erinnerte an die erfolgreiche Auslagerung des Auftrags „kultureller Verbreitung“ aus dem Consejo. ¹²¹ Damit habe er nämlich „einige komplementäre Ressourcen [gerettet], um sie für jene Aktivitäten zu verwenden, die ihm in erster Linie eigen sind: Die Forschung, insbesondere in den Naturwissenschaften und in den Transformationstechniken.“¹²² Die knappen finanziellen Ressourcen, die dem Consejo ab Mitte der 1950er Jahre aufgrund der erwähnten Haushaltskrise zur Verfügung standen, führten hier zu einem Rationalisierungsargument, das die Naturwissenschaften und die Technik privilegierte und zugleich die Angleichung an eine neue internationale Entwicklung suchte. Sicherlich waren die Standpunkte von Ruiz-Giménez und Ibáñez Martín nicht absolut deckungsgleich. Der Erziehungsminister wahrte auf institutioneller und auch personeller Ebene stets Distanz zum Consejo und seinem Präsidenten.Wie in den letzten Abschnitten erwähnt, war mit Ruiz-Giménez eine politische Fraktion an die Spitze des Erziehungsministeriums gelangt, die sich aus ehemaligen Falangisten rekrutierte und dem zentralen Organ der spanischen Wissenschaft weitgehend fern stand. Schon im ersten Jahr seiner Amtszeit hatte jener „mancherlei Zurückschneiden“¹²³ des institutionalisierten Wissenschaftsbaums angekündigt. Das Ergebnis dieser Ankündigung war jedoch weniger eine Politik der Demontage des Consejo, als vielmehr eine Einschränkung seiner Aufgabenbereiche auf die Wissenschaft „im engeren Sinne“ – was schon im Jahr 1951, insbesondere aber im Jahr 1955 eine Konzentration auf Naturwissenschaften und Technik beinhaltete. Diese Entwicklung war also nicht nur der politischen Linie von Ruiz-Giménez geschuldet. Sie erfasste ebenso die politischen Träger des Consejo wie auch den Nachfolger von Ruiz-Giménez, den Falangisten Jesús Rubio (1908 – 1976, seit 1956 Erziehungsminister), wie seine Rede aus dem Jahr 1958 beweist:

 CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 61.  Damit war insbesondere die Sommeruniversität Menéndez Pelayo gemeint, die seit dem Jahr 1954 nicht mehr dem CSIC, sondern direkt dem Erziehungsministerium unterstand. Siehe dazu weiter unten.  CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 69.  CSIC: Memoria, 1951, S. 89.

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„In Wahrheit sieht es so aus, dass es keinerlei Beispiele für solche Länder gibt, die einen hohen Lebensstandard erreicht haben, ohne gleichzeitig an wissenschaftlichen und technischen Schöpfungen teilgehabt zu haben […]. Diejenigen Völker, die ihr Schicksal nicht in die Bahnen der technischen Tätigkeiten lenken, die uns die Geschichte heute zeigt, werden sich schon bald an der zivilisatorischen Peripherie befinden. Diejenigen Völker jedoch, die nicht abseits des Fortschritts verbleiben möchten, müssen weit mehr tun, als nur mit Verzögerung nachzumachen oder dasjenige zu importieren, was andere erfunden haben: Sie müssen selbst erfinden.“¹²⁴

Der Aufruf, ‚selbst zu erfinden‘, war nicht neu für den nationalen Wissenschaftsdiskurs im Umfeld des Consejo. ¹²⁵ Eine neue Qualität lag jedoch darin begründet, dass nun der Grad an ökonomischem und damit „wissenschaftlichem und technischem Fortschritt“ über die Zugehörigkeit zum „Zentrum“ oder aber zur „Peripherie der Zivilisation“ entschied. Dabei setzte hier der Terminus „wissenschaftlicher Fortschritt“ einen Wissenschaftsbegriff voraus, der den noch im Jahr 1950 hochgehaltenen ‚spanischen Geist‘ und die ebenso hochgehaltenen ‚spanischen Geisteswissenschaften‘ nicht mehr mit einbeziehen konnte. Vor allem an den USA und an ‚Europa‘ gemessener Wohlstand und technischer Fortschritt stellten hier den neuen argumentativen Raum dar, durch den die Bedeutung des Consejo legitimiert und Spaniens Rang in der „Zivilisation“ bestimmt werden musste. Dieser entscheidende Wandel in den Wissenschaftsdiskursen und -inszenierungen der 1950er Jahre spiegelte sich auch auf der Ebene der institutionellen Ordnung des Consejo wider, wie diejenigen Einrichtungen zeigen, die für einen Austausch im weitesten Sinne zuständig waren. Auch hier lässt sich von Beginn an eine internationale Ausrichtung feststellen, deren konkrete Ausformung sich jedoch in der hier analysierten Zeitspanne entscheidend wandeln sollte. Die erste dieser Einrichtungen, die Sektion für Internationalen Austausch (Sección de Cambio Internacional, im Folgenden SCI), zunächst Ausschuss für Bibliografie und wissenschaftlichen Austausch genannt, wurde im Jahr 1940 zusammen mit dem CSIC gegründet. Wie diese erste Benennung bereits vermuten lässt, legte der Ausschuss einen ersten Arbeitsschwerpunkt auf die bibliografische Erfassung forschungsrelevanter Literatur. Im Kontext der spanischen Nachkriegszeit und

 Ebd., S. 169.  Zur berühmten Formel ‚¡Que inventen ellos!‘ des Essayisten Miguel de Unamuno siehe die Einleitung. Dieses Diktum, das auch nach 1939 immer wieder zitiert wurde, setzte dabei ein Wissen um die implizite Bedeutung des Wortes ‚sie‘ aus. Mit ‚ellos‘ hatte sich Unamuno auf die ‚Europäer‘ oder, genauer, auf jene imaginierte Moderne bezogen, die fremd (ellos versus nosotros), wissenschaftlich und in einem nicht weniger imaginierten ‚Europa‘ lag.Vgl. Juliá: Historias de las dos Españas.

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angesichts der Kriegssituation in Europa konzentrierte man sich dabei vornehmlich auf die Inventarisierung der spanischen Publikationen, die den Bürgerkrieg überstanden hatten. Mit dem Inventario Bibliográfico Nacional und der Revista de Bibliografía Nacional lancierte der Ausschuss zwei Publikationsorgane, die eindeutig national ausgerichtet waren. Von „transzendentaler Wichtigkeit“¹²⁶ waren ferner die bibliografische Rettung historischer Bestände und die Neuedition spanischer Klassiker vor allem aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Der zweite Arbeitsschwerpunkt des Ausschusses bestand in den „Missionen im Ausland“, die spanische Forscher schon im ersten Jahr nach Gründung des CSIC nach Portugal, Italien und Deutschland führten. Sie sollten die Wege, die die politischen Bündnisse und Affinitäten eröffnet hatten, für den Wissenstransfer nutzen, wie vor allem der Besuch nationalsozialistischer Wissenschaftseinrichtungen durch den Physiker José M. Otero Navascués (1907– 1983) im Jahr 1940 beweist. Vom Erziehungsminister beauftragt, knüpfte Otero Navascués in Berlin Kontakte zur Physikalisch-Technischen Reichsanstalt sowie zur Technischen Hochschule in Charlottenburg und stellte die Weichen für fortlaufende Gastdozenturen in Spanien.¹²⁷ Dank der Arbeiten von Albert Presas sind die Netzwerke und institutionellen Verflechtungen zwischen dem frühen Franco-Regime und dem nationalsozialistischen Deutschland weitgehend bekannt.¹²⁸ Vor dem Hintergrund der oben untersuchen Rückständigkeitsdiskurse ist die Zweiteiligkeit des Aufgabenbereichs des Ausschusses, wie sie zu Beginn angelegt war, signifikant. Während ihr Aufgabenbereich im Inneren auf die Rettung des historischen Erbes ausgerichtet war, zielte sie im Äußeren auf den Transfer technischen Wissens ab. Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Ausbau des Consejo ging die SCI, wie sie schließlich seit 1943 hieß, auch zur Erfassung und zum Erwerb von „modernen Publikationen aus dem Ausland“¹²⁹ über. Der institutionalisierte Bücheraustausch mit Deutschland, Italien, Frankreich, England, Portugal und anderen Ländern spiegelte auch hier die Transfermöglichkeiten wider, die die po-

 CSIC: Memoria, 1940 – 1941, S. 271– 274.  Vgl. ebd.  Wie Presas zeigt, liefen systematische und koordinierte Austauschprogramme über das Instituto Nacional de Industria, was bereits eine Konzentration auf den Technologietransfer beweist. Vgl. Albert Presas: La inmediata posguerra y la relación científica y técnica con Alemania, in: Ana Romero/María J. Santesmases (Hrsg.): Cien años de política científica en España, Bilbao 2008, S. 173 – 209.  CSIC: Memoria, 1943, S. 313. Die für die franquistische Rhetorik typische Voranstellung des Adjektivs in „modernas publicaciones“ ist nur schwer ins Deutsche übersetzbar. Sie emphatisiert einerseits das Adjektiv „modern“, zugleich hebt sie eine dem Substantiv „Auslandspublikationen“ quasi inhärente Eigenschaft hervor.

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litischen Beziehungen ermöglichten.¹³⁰ Bemerkenswert sind dabei die Kontinuitäten, die sich auch nach 1945 und trotz der internationalen Ächtung des FrancoRegimes in den UN-Resolutionen aus dem Jahr 1946 ergaben.¹³¹ Vor allem die Aufenthalte spanischer Forscher im Ausland waren hier von Bedeutung. Wie die Jahresberichte zeigen, standen die Grenzen der Wissenschaft auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit weit offener als diejenigen der Politik. Für die Jahre 1940 – 1945 listete die SCI insgesamt 47 Aufenthalte auf, für die folgenden zwei Jahre weitere 40, mit Portugal sowie der Schweiz als mit Abstand wichtigste Zielländer. Die Verschiebung der Reiseziele nach Ende des Zweiten Weltkriegs von Deutschland in die USA spiegelten hingegen die alten und die neuen, sich anbahnenden Bündnisse wider.¹³² Während Deutschland nur vier spanische Forscher zu Gast hatte, reisten von 127 spanischen Wissenschaftlern allein 21 in die USA, 26 nach Frankreich und 32 nach England. Diese waren auf Geistes- und Naturwissenschaften paritätisch verteilt (63 zu 62).¹³³ Bezeichnenderweise und im Einklang mit der ‚Zweispurigkeit‘ der Transferpraxis stammten wiederum von insgesamt 58 ausländischen Gäste 49 aus naturwissenschaftlichen (27) und technischen (22) Disziplinen.¹³⁴

 Weitere an diesem Austausch beteiligte Länder waren Ungarn, Belgien, Schweden, Rumänien, die Schweiz, Dänemark, die Slowakei, Argentinien, Kolumbien, Guatemala, Mexiko und die USA – Letztere über die Vermittlung der britischen Delegation in Madrid.  Dies ist der Tenor in den internen Berichten zur Entwicklung der Außenbeziehungen des Consejo, die mit großer Wahrscheinlichkeit der SCI verfasste. Diese Berichte wurden nach 1966 erstellt, da sie den Tod José M. Albaredas ansprechen. Nach Ländern geordnet, beginnen sie fast alle mit dem Verweis auf die Kontinuität personeller Beziehungen nach dem Jahr 1945. Diese Berichte befinden sich in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/12677.  Für den Zeitraum von 1940 – 1947 führten allein 28 von insgesamt 87 Reisen nach Portugal. Die Kontakte aus den Jahren 1942 und 1943 in die Schweiz konnten schon im Jahr 1946 wieder aufgenommen werden (acht Aufenthalte vor, fünf nach 1945). Während Deutschland als Reiseziel spanischer Forscher in den ersten zwei Jahren nach Kriegsende vollkommen verschwand, trat die USA mit zwölf Gastbesuchen in den Vordergrund. Diese Daten sind den Memorias aus den Jahren 1940/1941, 1942, 1943, 1944, 1945 und 1946/1947 entnommen. Eine erneute Kontakaufnahme zwischen dem Consejo und den deutschen Wissenschaftsinstitutionen datiert Albert Presas auf der Grundlage von Quellen aus dem Archiv der Max-Plack-Gesellschaft auf das Jahr 1948. Vgl. Presas: La inmediata posguerra y la relación científica y técnica con Alemania, S. 191– 197. Die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Kontakte setzt damit früher ein als diejenigen auf kulturdiplomatischer Ebene, die Birgit Aschmann auf das Jahr 1952 datiert. Vgl. Aschmann: „Treue Freunde…?“, S. 392 ff.  Mit zwei Auslandsaufenthalten war die Ethnologie die einzige Sozialwissenschaft, die an jenem Austausch teilnahm.  Die Forschungsreisen gingen meist auf privat organisierte Initiativen zurück. Sie fielen nur zu Beginn, später nur nominell und schließlich gar nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des SCI. Aufgrund dieser Tatsache und infolge der Archivpolitik des damaligen Consejo lassen sich

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Dass der Consejo keineswegs einen Isolationskurs fuhr, zeigte sich auch in der Gründung der Internationalen Abteilung für Moderne Kulturen (Departamento Internacional de Culturas Modernas, im Folgenden DCM) im Jahr 1948. Sie entstand, so die Jahresberichte, aus dem Bedürfnis nach einem „Organ, das die modernen Kulturen eingehend studierte, und zwar als individuelle Entitäten; als Systeme lebendiger Überzeugungen; als organische Zusammenhänge […].“¹³⁵ Die DCM nahm in der institutionellen Ordnung des CSIC die Funktion eines Observatoriums der Moderne ein, das sich „die systematische Untersuchung der wichtigsten kulturellen Brennpunkte unserer Zeit“ zum Ziel setzte: „Die angelsächsische Welt, die germanische, französische und italienische Kultur sowie die slawische Welt […].“¹³⁶ Die Tätigkeit der Abteilung, die unter der Leitung von Juan Roger und Calvo Serer stand, materialisierte sich in einer Reihe von Publikationen, in denen die Irrwege jener „modernen Kulturen“ aufgezeigt und Affinitäten insbesondere zu katholischen Intellektuellenkreisen hergestellt wurden. Ohne an dieser Stelle eine genaue Analyse dieser Publikationen unternehmen zu können, lässt sich die Aufgabe des DCM in erster Linie als Versuch beschreiben, die Gefahren der ‚Moderne‘ für eine christliche Geisteswelt zu identifizieren und die Möglichkeiten für eine intellektuelle Behauptung des Katholizismus in diesen Kulturen auszuloten. Roger selbst publizierte eine Monografie mit einer Skizze des französischen Denkens in der Nachkriegszeit, in dem er unter anderem das „religiöse Problem“ analysierte und die „Auflösung der humanistischen Werte zugunsten rationaler und afektiver“ diagnostizierte.¹³⁷ Der eingebürgerte kroatische Philologe Pavao Tijan (auch Pablo Tiján, 1908 – 1997) nahm sich wiederum der „slawischen Welt“ an, um aus der Position eines katholisch motivierten Antikommunismus den Mangel an „geistiger Freiheit“ und die intellektuelle Unterwerfung unter die Maximen des historischen Materialismus anzuklagen.¹³⁸ Die DCM genoss in den Jahresberichten des CSIC nur zwei Jahre lang explizite Präsenz. Die Haushaltsausgaben der Institution beweisen allerdings, dass diese

über die zuletzt genannten Zahlen hinaus nur bedingt quellengestützte Aussagen zur allgemeinen Politik des Wissenschaftleraustausches treffen.Vgl. die Statistiken in AGA, Fondo Educación, (05) 004 Caja 31/8665.  CSIC: Memoria, 1948, S. 317.  Ebd.  Juan Roger: Esquema del pensamiento francés en la postguerra, Madrid 1950, S. 105 – 138 und S. 76.  Vgl. Pablo Tiján: La historiografía rusa dirigida por los soviets, in: Arbor 14 (1949), S. 436 – 446. Tijan flüchtete im Jahr 1945 von Kroatien über Rom nach Spanien, wo er als Experte für die „slawische“ Welt zunächst für das Departamento de Culturas Modernas und dann für das staatliche Fernsehen arbeitete. Vgl. Francisco J. Juez Gálvez: In memorian Don Pablo Tijan Roncevic (1908 – 1997), in: Studia Croatica 135 (1997), S. 281.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Abteilung auch in den folgenden Jahren finanzielle Zuwendungen erhielt. Zudem lassen die Archivbestände des Consejo dank mancher Polemik im DCM erkennen, dass jene Abteilung zumindest im Jahr 1954 noch Bestand hatte, obwohl sie in den ansonsten sehr akribisch geführten Jahresberichten überhaupt nicht mehr auftauchte.¹³⁹ Die Gründe für dieses Verschwinden sind nur schwer zu ermitteln, da dieses ‚Observatorium der Moderne‘ niemals formal aufgelöst wurde. Tatsache ist jedoch, dass Juan Roger im Jahr 1951 die Leitung über ein neues Observatorium einer bedeutend anderen Moderne übernahm.¹⁴⁰ Der Wissenschaftsdokumentationsdienst (Servicio de Documentación Científica, im Folgenden SCD) hielt von diesem Jahr an nach den Leitlinien internationaler Wissenschaftspolitik Ausschau. Während der DCM die kulturellen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse noch aus der sicheren Entfernung eines rein katholischen Spaniens beobachtet hatte, richtete der SDC sein Augenmerk auf die Entwicklung weltweiter Wissenschaftsorganisationen und auf die Wahrnehmung des Consejo im Ausland. So konzentrierte sich Roger von Beginn an auf die Veröffentlichung von Statistiken und Informationsbroschüren, die den Consejo in einen internationalen Kontext einbetteten und die erreichte Teilhabe an einer internationalen Wissenschaftsökumene numerisch festhielten. Schon für den Jahresbericht von 1951 sammelte Roger die entsprechenden Ziffern, welche die weltweite Vernetzung des CSIC objektivieren sollten. Roger führte in diesen Statistiken die nach Ländern geordnete Anzahl institutioneller Kontakte auf, darunter selbst bloße Anfragen an nicht weiter spezifizierte Einrichtungen.¹⁴¹ Entsprechend inflationär wirken die

 Dies geht aus einem vertraulichen Bericht von Juan Roger an Laureano López Rodó vom 10. 3. 1954 hervor. In ihm schildert Roger eine turbulente Sitzung der DCM, auf der der deutschstämmige H. Brakelmans auf heftigste Weise „die mangelnde Seriosität des Consejo“ beklagt hatte. AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173.  Juan Roger war der Name, unter dem der französische Schriftsteller und Drehbuchautor Jean-Marquès Rivière seine Publikationen seit seiner Ankunft in Spanien im Jahr 1944 signierte. Aufgrund seiner Kollaboration mit dem Vichy-Regime und der nationalsozialistischen Besatzung bei der anti-freimaurerischen und antisemitischen Verfolgung und Propaganda wurde er nach der Befreiung zum Tode verurteilt. Rivère gelang es, über die spanische Botschaft in Rom nach Spanien einzureisen. Rivères ausgeprägtes Interesse nicht nur für Geheimgesellschaften, sondern auch für den Buddhismus ermöglichte es ihm, sich als Orientalist auszugeben und über das Institut für Orientalistik des Consejo bis zur SCI zu gelangen. Rivère schrieb das Drehbuch für den anti-freimaurerischen Film Forces occultes (1943) des Regisseurs Jean Mamy. Zu seiner Rekrutierung als Orientalist siehe Díaz: Calvo Serer y el grupo Arbor, S. 308 (FN), der aber nur wenige Hinweise auf seine ursprüngliche Identität gibt. Quellengestützte Informationen zur ersten Phase dieser sonderbaren Biografie können aus Victoria Trimundi/Victor Trimundi: Hitler-BuddhaKrishna. Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute, Wien 2002, S. 277– 288, entnommen werden.  Vgl. CSIC: Memoria, 1951, S. 429 – 432.

2.5 Der Weg zur ‚Normalität‘

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zur Verfügung gestellten Zahlen: Mit mehr als 2000 Institutionen stand man im Jahr 1951 im „Austausch“ von Dokumentationsbroschüren; 777 Zentren in 60 verschiedenen Ländern waren mit dem SDC in „Kontakt“; engere „Beziehungen“ pflegte er im Jahr 1958 zu 737 Hochschulen und Forschungseinrichtungen.¹⁴² Die Akribie, mit der im SDC nicht nur diese Zahlen, sondern auch die Entwicklung insbesondere der großen Wissenschaftsinstitutionen Westeuropas und der USA festgehalten wurden, verweist einerseits auf die Bedeutung, die der Consejo der internationalen Bühne als neuem Aktionsfeld beimaß. Die Archivbestände des SDC geben ferner darüber Aufschluss, bis zu welchem Grad und mit welcher Sorge Roger und Albareda auch die Wahrnehmung des Consejo im Ausland verfolgten.¹⁴³ Andererseits war die Darstellungsform wissenschaftspolitischen Austauschs selbst Ausdruck eines Versuchs, im Kontext politischer Isolation und außenpolitischer Bündnisbemühungen zumindest auf wissenschaftlicher Ebene die Grenzen zur ‚modernen‘ Wissenschaft aufzuheben. Im Zuge der einsetzenden Technikprivilegierung und im Sinne der diskursiven Verschränkung der Begriffe ‚Moderne‘ und ‚positive Wissenschaften‘ bzw. ‚Technik‘ war es kaum verwunderlich, dass die meisten Institutionen, auf die der SDC sein Fernrohr richtete, naturwissenschaftlicher und technischer Art waren. Beispielsweise beschrieb Roger in La investigación científica en el mundo sämtliche international bedeutenden Einrichtungen nur im Hinblick auf die zuletzt genannten Bereiche. Im Jahr 1959 veranlasste er die Publikation einer Broschürereihe zur wissenschaftlichen Ausbildung und Forschung mit demselben Schwerpunkt.¹⁴⁴ Die Worte investigación científica (wissenschaftliche Forschung), die auch im Namen Consejo Superior de Investigaciones Científicas enthalten waren, bezogen sich nur noch auf die Naturwissenschaften und die Technikforschung. Der Wissenschaftsbegriff im Sinne der „glorreichen spanischen Tradition“ war im SDC also schon früh vom ‚modernen‘ überlagert worden. Neben dem SCI, dem DCM und dem SDC muss an dieser Stelle eine dritte Einrichtung des Consejo genannt werden, da sie den kurzlebigen Versuch darstellte, auch die Geisteswissenschaften auf das internationale Feld zu bringen. Der zeitgleich mit der Abteilung für Moderne Kulturen gegründete Patronato Diego Saavedra Fajardo stellte zunächst eine administrative Einheit dar, die ein Dutzend bereits bestehende Einrichtungen in die Struktur des Consejo unter dem

 Vgl. CSIC: Memoria, 1958, S. 397– 404.  Siehe dazu beispielsweise die Pressesammlungen und den regen Informationsaustausch zwischen Roger und Albareda in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9907, 31/9909, 31/10180 sowie 31/9812.  Die Broschüren widmeten sich der Sowjetunion, Frankreich, der USA, der BRD, Großbritannien, Italien, den Staaten des ‚Benelux‘ und Skandinaviens.

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2 Die Balance der Wissenschaften in den 1950er Jahren

Schwerpunkt „Internationale Studien“ einbettete. Dazu gehörten das Instituto de Estudios Africanos ¹⁴⁵, das Instituto de Estudios Pirenáicos und zeitweise selbst das Departamento de Culturas Modernas. Auch die Sommeruniversität Universidad Internacional Menéndez Pelayo als zahlenmäßig stärkste unter den „Kursen für Ausländer“ war diesem Patronato untergeordnet.¹⁴⁶ Unter der Leitung führender spanischer Historiker, Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker erhielten die Teilnehmer landeskundliche Intensivkurse zur Phonetik und Grammatik, Literatur und Kunst des „Goldenen Jahrhunderts“¹⁴⁷ sowie zur spanischen Geschichte in ihrer national-katholischen Auslegung. Zwar ging aus diesem Patronato keine Gründung neuer Forschungsgruppen hervor. Dennoch versuchte Calvo Serer ihn als Vehikel für den Export der spanischen Geisteswissenschaft und damit des spanischen ‚Geistes‘ zu nutzen. In einem Brief an Albaredas ehemaligen Mitarbeiter und nun Direktor des Instituto de Cultura Hispánica, Sánchez Bella, setzte sich der damalige Sekretär des Patronato im April 1950 für eine gezielte Förderung der Geisteswissenschaften in der Außen (wissenschafts)politik ein. Nach Absprache mit Albareda legte Calvo Serer ein Projekt vor, in dem er forderte, die „von den Geisteswissenschaften untrennbare Aufgabe der Projektion der Kultur“ mit dem Außenministerium zu koordinieren: „Wir müssen einen Weg finden, das Patronato ‚Saavedra Fajardo‘ mit der Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen [des Außenministeriums] zu koordinieren. Glaubst Du nicht etwa auch, es würde ausreichen, wenn wir die Ausrichtung des Patronato ‚Saavedra Fajardo‘ auf

 Das Instituto de Estudios Africanos stand unter der Leitung von José M. Díaz de Villegas, der als africanista am kolonialen Militärapparat neben Franco gedient hatte und nun die rassistischethnologische Forschung anführte. Zur Geschichte dieses Instituto sind in jüngster Zeit Studien in postkolonialer Perspektive erschienen. Vgl. Cécile S. Stehrenberger: Wissenschaftliche Formierungen von Körpergrenzen im colonial contact. Die Äquatorialguinea-Studien des Instituto de Estudios Africanos, 1945 – 1966, in: Figurationen 2 (2011), S. 30 – 42.  Die Leitung dieser Sommerakademien oblag dem Madrider Historiker Ciriaco Pérez Bustamente (1896 – 1975), der in den Quellen nicht nur durch ein Höchstmaß an akademischer Macht bei den Lehrstuhlbesetzungen, sondern auch aufgrund seiner persönlichen Beziehungen zu unterschiedlichen Ministern hervortritt. Vgl. Jesús Ferrer: La instrumentalización política de la cultura durante el primer franquismo. La Universidad Internacional Menéndez Pelayo (UIMP) y el Festival Internacional de Santander (FIS), 1945 – 1957, Cantabria 2012. Die hier aufgeführten Zahlen in ebd., S. 237.  Das „goldene Jahrhundert“ (Siglo de Oro) bezieht sich im spanischen Sprachgebrauch auf das 17. Jahrhundert von Cervantes, Tirso de Molina, Velázquez und anderen kulturellen Größen. Dies erklärt im Übrigen, weshalb die nationalhistorisch ebenfalls positiv konnotierten 1920er Jahre lediglich die Bezeichnung „silberne Epoche“ (Edad de Plata) erhalten haben. Vgl. Ismael Saz: Entre el fascismo y la tradición. La percepción franquista del ‘Siglo de Oro’, in: María Victoria Grillo (Hrsg.): Tradicionalismo y fascismo europeo, Buenos Aires 1999, S. 35 – 60.

2.5 Der Weg zur ‚Normalität‘

117

die gleiche Weise entwickeln, wie man es mit dem Patronato ‚Juan de la Cierva‘ hinsichtlich des Industrieministeriums und des Instituto Nacional de Industria gemacht hat?“¹⁴⁸

Im Einklang mit dem von ihm gepflegten Modernediskurs bezweckte Calvo Serer die Einbindung der spanischen Geisteswissenschaften in den außenpolitisch gesteuerten Export spanischer Kultur. Die Bindung des Saavedra Fajardo an das Außenministerium war für den Autor daher ebenso zweckmäßig, wie es diejenige des Juan de la Cierva an die zentralen industriepolitischen Stellen war. Dass der Moment dafür günstig war, zeigte vor allem der Rückhalt, den der Consejo als Ganzes in den Feierlichkeiten von 1950 erhielt. Die Internationalität der spanischen Geisteswissenschaften bedeutete um das Jahr 1950 demnach vor allem ihre Außenprojektion. Das Ausscheiden von Calvo Serer als Sekretär im Jahr 1951 und die Umbenennung von Patronato de Estudios Internacionales zu Patronato de Estudios Geográficos y Bibliográficos im selben Jahr wiesen allerdings darauf hin, dass die geisteswissenschaftliche Offensive Calvo Serers im Consejo offenbar nicht auf positive Resonanz gestoßen war.¹⁴⁹ Auch die Auslagerung der Sommeruniversität Menéndez Pelayo in den Zuständigkeitsbereich des Erziehungsministeriums im Jahr 1954 machte deutlich, dass der spanische Geistesexport schon Mitte der 1950er Jahre nicht zu den Aufgaben des Consejo gezählt werden konnte. Die Geisteswissenschaften gerieten vielmehr in den Schatten eines neuen wissenschaftspolitischen Kurses, der sich der technisch-industriellen Moderne verschrieb. Als „geistige Strebbögen“ wurde ihnen zwar die Funktion von Garanten geistiger Kontinuität und Traditionspflege zugesprochen. Wie im nächsten Kapitel am Beispiel der historischen Institute des CSIC gezeigt wird, beförderte die neue Ökonomie wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit die Geistes- bzw. Geschichtswissenschaft aber auch in eine äußerst prekäre Lage.

 Brief von Rafael Calvo Serer an Alfredo Sánchez Bella vom 4.4.1950, AGUN, Fondo Calvo Serer, 001/033/468 – 1.  Calvo Serer verlor ferner im Jahr 1953 allen seine Ämter, nachdem er in der Zeitschrift Ècrits de Paris die innenpolitischen Machtverhältnisse des Franco-Regimes offengelegte. Vgl. Rafael Calvo Serer: La politique intérieure dans L’Espagne de Franco, in: Ècrits de Paris 107 (1953), S. 9 – 18. Eine detaillierte Studie zu Calvo Serers politisch-intellektueller Laufbahn bietet Díaz: Rafael Calvo Serer y el grupo Arbor. Für seine Tätigkeit am Saavadra Fajardo siehe ebd., S. 195 – 199.

3 Aufbruch in die Moderne? Geschichte und Geschichtswissenschaft im Umfeld des CSIC Die Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime hat sich in den letzten Jahren zu einem breit untersuchten Forschungsfeld entwickelt. Ausgehend von ersten institutions- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen in den 1990er Jahren haben jüngere Studien insbesondere die Entwicklung historischer Disziplinen, nationalhistorische Narrative und akademische Biografien in den Mittelpunkt ihrer Analysen gestellt.¹ Dabei beschrieb Gonzalo Pasamar das spanische Historikerfeld zwischen den Jahren 1939 und 1948 als „oligarchisches System“, in dem die Vertreter einer „ideologisierten Historiografie“ Lehrstühle und Institutsdirektionen unter sich aufgeteilt und einen „Bruch mit der liberalen Tradition“ vollzogen hätten.² Noch während des Bürgerkriegs hatten die Säuberungsprozesse an den spanischen Universitäten für einen deutlichen Einschnitt in der Personalbesetzung gesorgt. Wie insbesondere die Arbeiten von Jaume Claret zeigen, implizierte die Beseitigung politisch und ideologisch nicht erwünschter Personen für die Betroffenen je nach Schwere der Vorwürfe, entweder ins Exil zu gehen oder aber auf marginale Posten versetzt zu werden. Als wichtigste Folge dieser depuración, die eine Großzahl universitärer Stellen vakant werden ließ, kann ohne Zweifel die Tatsache gelten, dass sie für diejenigen Historiker, die das Vertrauen der politischen Elite genossen, eine einzigartige Gelegenheit zur Entfaltung ihrer akademischen Macht darstellte.³ Der  Vgl. Miquel Marín: La historia de la historiografía en España. Recepción y crisis de una disciplina, 1976 – 2007, in: Teresa M. Ortega (Hrsg.): Por una historia global. El debate historiográfico en los últimos tiempos, Saragossa 2007, S. 391– 437; Gustavo Alares/María J. Solanas: La historiografía española entre 1939 y 1975. Dictadura y exilio, pluralidad, indefinición y estrategias divergentes. Acotaciones sobre una disciplina difusa, in: Juan C. Colomer/Javier Esteve/Mélanie Ibáñez (Hrsg.): Ayer y hoy. Debates, historiografía y didáctica de la Historia,Valencia 2015, S. 7– 12; Ignacio Peiró: En el taller del historiador. La(s) biografía(s) como práctica histórica e historiográfica, in: Gerónimo Uztariz 28 – 29 (2012– 2013), S. 8 – 27; zwei jüngste Biographien jenseits persönlicher Huldigungen in Ders.: Las metamorfosis de un historiador. El tránsito hacia el contemporaneismo de José María Jover Zamora, in: Revista de historia Jerónimo Zurita 82 (2007), S. 175 – 234; Xosé M. Núñez Seixas: La sombra del César. Santiago Montero Díaz, una biografía entre la nación y la revolución, Granada 2012;  Vgl. Gonzalo Pasamar: Oligarquías y clientelas en el mundo de la investigación científica. El Consejo Superior en la Universidad de posguerra, in: Juan J. Carreras/Miguel A. Ruiz Carnicer (Hrsg.): La Universidad española bajo el régimen de Franco (Actas del congreso celebrado en Zaragoza entre el 8 y el 11 de noviembre de 1989), Saragossa 1991, S. 305 – 340.  Trotz der hohen Bedeutung, welche die depuraciones für die Zäsur innerhalb des akademischen Felds hatten, liegen bisher diesbezüglich keine ausgearbeiteten Statistiken vor. Allein für diejehttps://doi.org/10.1515/9783110532227-007

3 Aufbruch in die Moderne?

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bis heute polemisch als „Überfall auf die Lehrstühle“⁴ bekannte Prozess verhalf in der Regel jenen Historikern zu besonderer Präsenz, deren Geschichtsdeutung dem Regime als Legitimationsgrundlage dienen konnte. Diese personellen Säuberungen, Umbildungen der institutionellen Rahmenbedingungen und Prozesse der Formation neuer Deutungseliten bildeten dabei auch die Grundlage für den Aufbau der Forschung innerhalb des Consejo. Im Anschluss an diese Vorarbeiten haben vor allem Miquel A. Marin und Ignacio Peiró in den letzten Jahren die Kenntnis über das spanische Historikerfeld nicht nur für die 1940er vertieft, sondern auch auf die 1950er und 1960er ausgeweitet. Marín und Peiró charakterisieren dabei die Zäsur, die die Beseitigung der republikanischen Forschungslandschaft nach 1939 für das Historikerfeld bedeutete, in Anlehnung an Pasamar als „erste Stunde Null“ der spanischen Historiografie. Ausgehend von einer „durch die politisch-ideologische Kontrolle der Diktatur, die intellektuelle Autarkie und die Zensur gebrochenen“ Geschichtswissenschaft sehen beide Autoren die Entwicklung des Faches in den folgenden Jahrzehnten in einem Prozess der „Normalisierung“ und „Neugründung“ begriffen. Erst der Übergang zur Parteiendemokratie Mitte der 1970er Jahre habe die „zweite Stunde Null“ der spanischen Geschichtswissenschaft eingeläutet und den zuvor abgebremsten „Normalisierungswellen“ zum Durchbruch verholfen.⁵ Die vorliegende Arbeit knüpft zwar an diese Forschungen an. Sie setzt jedoch auch entschieden andere Akzente. Anders als in den bisherigen Untersuchungen

nigen spanischen Akademiker, die sich zur Emigration gezwungen sahen, gibt Alicia Alted für die Philosophischen Fakultäten 38 Betroffene an, von denen 18 Lehrstuhlinhaber waren. Die Anzahl der depurados lag jedoch deutlich höher, da viele ihnen zwar von der Universität entfernt wurden, jedoch im Inland blieben.Vgl. Alicia Alted: Bases político-ideológicas y jurídicas de la universidad franquista, in: Juan J. Carreras/Miguel A. Ruiz Carnicer (Hrsg.): La universidad española bajo el régimen de Franco (Actas del congreso celebrado en Zaragoza entre el 8 y el 11 de noviembre de 1989) Saragossa 1991, S. 95 – 124, hier S. 114. Die umfangreichste qualitative Studie zu den depuraciones hat Jaume Claret vorgelegt. Vgl. ders.: El atroz desmoche. La destrucción de la Universidad española por el franquismo, 1936 – 1945, Barcelona 2006, insbesondere S. 61– 84; siehe ferner auch Otero (Hrsg.): La destruccio´n de la ciencia en Espan˜a.  Pasamar: Historiografía e ideología, S. 128.  Peiró: Historiadores en España, S. 13. Siehe auch Miquel A. Marín: El fracaso de la normalización interior de la historiografía española en los años cincuenta, in: Carlos Forcadell/Ignacio Peiró (Hrsg.): Usos de la historia y políticas de la memoria, Saragossa 2004, S. 247– 272; ders.: Los historiadores españoles en el franquismo, 1948 – 1975. La historia local al servicio de la patria, Saragossa 2005. Vor allem Miquel Marín stützt sich in seinen Studien auf das von Jörn Rüsen entwickelte Modell der „disziplinären Matrix“, vgl. Jörn Rüsen: Die Entwicklung der disziplinären Matrix und des theoretisch-methodologischen Instrumentariums der Geschichtswissenschaft – ein strukturgenetischer Ansatz, in: Herbert Hörz (Hrsg.): Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Zum 80. Geburtstag von Ernst Engelberg, Berlin 1991, S. 53 – 67.

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3 Aufbruch in die Moderne?

wird nämlich das Verhältnis von (Geschichts)Wissenschaft und (Wissenschafts) Politik nicht als eines der ‚Einmischung‘, sondern vielmehr der Interaktion verstanden. Die Dynamik von Konvergenz und Divergenz zwischen diesen beiden Sphären ist, so eine zentrale Annahme dieser Arbeit, für den konkreten Wandel der spanischen Geschichtswissenschaft konstitutiv. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft geht nicht in einer reinen Fachgeschichte auf, in der die Diktatur bestenfalls als Störfaktor in einem wie auch immer gearteten Prozess der ‚Normalisierung‘ vorkommt. Aus demselben Grund erfolgt auch der Verzicht auf eine Periodisierung in eine ‚ideologisierte‘ und eine eher ‚normalisierte‘ Phase, in der sich die Geschichtswissenschaft von den Fängen der Diktatur befreit und zugleich ihre Rückkehr zu einem europäischen Normalweg angetreten habe.⁶ Diese Rückkehr der spanischen Geschichtswissenschaft in die ‚Ökumene der Historiker‘ stellt in dieser Arbeit keinen Prozess, sondern vielmehr eine Imagination dar, die spätestens ab den 1950er Jahren eine große Wirkungsmächtigkeit entfaltete. Um die normativen Vorannahmen zu vermeiden, die mit Begriffen wie ‚Normalisierung‘ oder ‚Einmischung‘ einhergehen, wird es in diesem Unterkapitel darum gehen, die Entwicklung der spanischen Geschichtswissenschaft in den bereits analysierten Wandlungsprozessen der franquistischen Wissenschaftspolitik zu verorten. Gleichzeitig tritt die Analyse der Europa- und Modernediskurse sowie der nationalen Narrative in den Vordergrund. Dabei wird auf eine umfassende Beschreibung des Historikerfeldes und der geschichtswissenschaftlichen Produktion in den ersten Jahrzehnten des Franco-Regimes verzichtet. Der Fokus soll vielmehr auf jene Aspekte gelegt werden, die bisher unterbelichtet geblieben sind: Die Interaktion zwischen Geschichtswissenschaft und (Wissenschafts)Politik sowie die diskursiven und narratologischen Konvergenzen zwischen diesen beiden Sphären.⁷ Damit soll gezeigt werden, bis zu welchem Grad die Entwicklung von Forschungszweigen und -schwerpunkten durch die bisher analysierten Diskurse, symbolischen Ordnungen und Narrative bedingt waren und inwiefern die

 Vgl. Peiró: Historiadores en España, S. 11 ff; anders als Peiró vergleicht Marín das spanische Historikerfeld auf systematische Weise mit dem französischen, westdeutschen, italienischen und englischen. Die Messlatte für den Normalisierungsgrad legt er in die französische Historiografie „als Modell eines vollständig normalisierten Historikerfeldes“. Vgl. dazu vor allem Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 62, weiter auch S. 243 – 280.  Dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Vergangenheitspolitik widmet sich wiederum – unter einer anderen Perspektive – die jüngst erschienene Studie von Gustavo Alares: Políticas del pasado en la España franquista (1939 – 1964). Historia, nacionalismo y dictadura, Madrid 2016. Der Autor konzentriert sich darin auf die staatliche Austragung historischer Jubiläen und die Mitwirkung spanischer Historiker.

3.1 Mobilisierung, erste Institutionalisierung und historiografische Produktion

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Wissenschaftspolitik des Consejo jene Prozesse – auch in finanzieller Hinsicht – vorantrieb bzw. hemmte.

3.1 Mobilisierung, erste Institutionalisierung und historiografische Produktion Die Interaktionen und Konvergenzen lassen sich beispielhaft an der geschichtswissenschaftlichen Forschung und historischen Publizistik innerhalb und im näheren Umfeld des Consejo zeigen. So war die Privilegierung der Geisteswissenschaften, wie sie sich in der institutionellen Ordnung, den Wissenschaftsdiskursen und -inszenierungen insbesondere in den Gründungsjahren des Consejo widerspiegelte, nicht lediglich „symbolische[s] Geschwätz“ oder „bloße Redekunst“.⁸ Reden, Plenarversammlungen, Institutionalisierungsmomente und Projektförderungen übten eine Signalwirkung aus, die Theologen, Philologen, Archäologen, Kunsthistoriker und nicht zuletzt Historiker für Legitimationszwecke herbeirief. Dabei prädestinierte die Errichtung des Consejo und weiter Politikbereiche auf der Grundlage eines national-katholischen Sonderwegnarrativs vor allem die Geschichtswissenschaft dazu, die Rolle einer Legitimationswissenschaft einzunehmen.⁹ Nicht nur die Wissenschaftspolitik, sondern auch die Bildungs- und Kulturpolitik sowie die Gesellschafts- und Nationsvorstellungen hingen von einer Deutung der spanischen Geschichte ab, die sich innerhalb unitaristischer, organologischer und katholischer Denkmuster abspielte. In einem Rückblick auf die Entwicklung der historischen Forschung in Spanien, der 1950 in der deutschsprachigen Zeitschrift Saeculum erschien, hatte der katalanische Historiker Jaume Vicens den nach 1939 einsetzenden Auf-Bruch des Historikerfeldes in den folgenden Worten zusammengefasst: „Der Sieg der von General Francisco Franco geführten Streitkräfte brachte mit der Wiederaufrichtung der vom spanischen Traditionalismus verteidigten Werte eine großartige Entfaltung des historiografischen Apparates mit dem Blick auf jene Ideale, die sich soeben auf dem Schlachtfeld durchgesetzt hatten.“¹⁰ Der „historiografische Apparat“, wie ihn der Autor euphemistisch nannte, wurde im Wesentlichen von zwei Seiten aus entfaltet: Einerseits enthielten die politischen Signale des Franco-

 Carlos Sánchez del Río: La investigación científica en España y el CSIC, S. 64. Der Physiker Carlos Sánchez (1924– 2013) war von 1978 bis 1980 Präsident des CSIC.  Zur Bezeichnung „Legitimationswissenschaft“ siehe Schöttler: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, S. 7– 30.  Jaume Vicens: Entwicklung der spanischen Geschichtsschreibung 1939 – 1949, in: Saeculum 3 (1952), S. 477– 508, hier S. 479.

122

3 Aufbruch in die Moderne?

Regimes, wie sie bisher am Beispiel der Wissenschaftspolitik gezeigt worden sind, einen impliziten Aufruf zur Mobilisierung der geistigen Kräfte, um die historische Legitimationsgrundlage des Neuen Staates zu festigen. Andererseits konnten die politischen Eliten auf die national gesinnte spanische Historikerschaft vertrauen. Ihre große Bereitschaft zur Selbstmobilisierung stellte sie durch die aktive Partizipation an den Säuberungsprozessen und am Aufbau neuer Institutionen sowie durch die Ausrichtung historischer Forschungen auf die genannten Legitimationsbedürfnisse unter Beweis.¹¹ Vicens expliziter Bezug auf den „spanischen Traditionalismus“ sollte dabei deutlich machen, dass die Geschichtswissenschaft im ersten Jahrzehnt des franquismo weniger auf einem wie auch immer gearteten „‚katholischen Faschismus‘“¹² aufbaute, als vielmehr den tradierten nationalkatholischen Deutungskategorien folgte. So gab der Neuzeithistoriker Cayetano Alcázar (1897– 1948) bei einer Vorstellung der CSIC-eigenen historischen Institute in der Zeitung Arriba im Oktober 1943 gleich zu Beginn die neuen Forschungsschwerpunkte bekannt, indem er sie explizit aus den Erwartungen der politischen Elite herleitete: „Der Umgang des Consejo Superior de Investigaciones Científicas in Bezug auf historische Problemstellungen muss besonders hervorgehoben werden. Für die Frage nach der Herausbildung jener Ideen, die die Führungsriege eines Landes leiten, ist nichts von größerem Interesse als die Beobachtung ihrer Sorge um die Wissenschaft und insbesondere der Bedeutung, die sie dem Wissen um ihre eigene Vergangenheit beimessen. Indem er den von Franco, Generalissimus und Caudillo Spaniens, aufgezeigten Richtlinien gefolgt ist, hat es seine Exzellenz, der Minister für Nationale Erziehung, verstanden, den glorreichen Wert der Geschichte Spaniens treffend zu interpretieren und zwei historische Forschungsinstitute ins

 Erst in jüngster Zeit haben die offensichtlichen Kontinuitäten nach 1939 auf personeller Ebene und auch hinsichtlich national-katholischer Deutungskategorien an Beachtung gewonnen. Vgl. Carolina Rodríguez: La historiografía española sobre universidades en el siglo XX. Líneas de trabajo y tendencias historiográficas, in: Revista de historiografía 3 (2005), S. 28 – 41; Miquel Marín: Revisionismo de Estado y primera hora cero en España, 1936 – 1943, in: Carlos Forcadell/ Mercedes Yusta/Ignacio Peiró (Hrsg.): El pasado en construcción. Revisionismos históricos en la historia contemporánea, Saragossa 2015, S. 363 – 406; Ignacio Peiró: La caída de los dioses. Una mutación ideológica de los historiadores españoles, 1936 – 1940, in: Mirella Romero Recio/Guadalupe Soria Tomás (Hrsg.): El almacén de la Historia. Reflexiones Historiográficas, Madrid 2016, S. 162– 202.  Walther L. Bernecker: Die spanische ‚Dekadenz‘ im Urteil der Historiker der Franco-Ära, in: Heinz Duchhardt/Christoph Strosetzki (Hrsg.): Siglo de Oro – Decadencia. Spaniens Kultur und Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert/La cultura y la política de España en la primera mitad del siglo XVII, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 151– 166, hier S. 153.

3.1 Mobilisierung, erste Institutionalisierung und historiografische Produktion

123

Leben zu rufen: Das [Institut] ‚Jerónimo Zurita‘ und das [Institut] ‚Gonzalo Fernández de Oviedo‘.“¹³

Angesichts der Geschichtsfälschungen der „leyenda negra“, die die „Feinde aller durch Spanien repräsentierten Werte“ in In- und Ausland verbreitet hätten, könne die Aufgabe dieser Institute laut Alcázar nur, „in der permanenten Erforschung und der wissenschaftlichen Beweisführung unserer Wahrheit liegen: jener Wahrheit Spaniens, die sich entlang der Jahrhunderte stets wiederholt […].“ Insofern seien jene neu gegründeten Institute „der eindrückliche Beweis für die Sensibilität des neuen spanischen Staates, der aufmerksam über das nationale Bewusstsein wacht und in seinen tiefen Wurzeln den wahrhaften Sinn von all jenem sucht, was genuin spanisch ist.“ Man müsse „den Einsatz koordinieren“, um dort zu suchen, wo sich dieser „wahrhafte Sinn“ befände und zwar in der Politik-, Kultur- und Geistesgeschichte Spaniens bis zu „unseren beiden großartigen goldenen Jahrhunderten: Das 16. und das 17.“¹⁴ Der Autor war zusammen mit dem Rektor der Universidad Central in Madrid, Pío Zabala (1879 – 1968), dem Mediävisten Antonio de la Torre (1878 – 1966) und anderen nationalkonservativen Historikern der Vorkriegszeit maßgeblich daran beteiligt gewesen, die Geschichtswissenschaft innerhalb des Consejo zu institutionalisieren und Schwerpunkte für die zukünftige Forschung zu legen.¹⁵ Während das Institut Gonzalo Fernández de Oviedo einen expliziten Fokus auf die Geschichte des überseeischen Imperiums legte, war das Jerónimo Zurita vor allem für die Geschichte Spaniens im engeren Sinne zuständig. Trotz der wechselhaften administrativen Umbildungen des Jerónimo Zurita während der 1940er Jahre waren die epochalen und interpretativen Schwerpunkte schon früh gelegt worden. So informierte Albareda auf der Grundlage einer Projektskizze von de la Torre aus dem Jahr 1940 den Präsidenten einer Gelehrtenakademie in Pamplona über die bevorstehende Gründung einer dem Zurita unterstellten Escuela de Estudios Medievales Españoles. Sie solle die Geschichte des spanischen Mittelalters erforschen, und zwar „stets inner-

 Cayetano Alcázar: La Historia en el Consejo Superior de Investigaciones, in: Arriba vom 1.10. 1943, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9909.  Ebd.  Vgl. Francisco Villacorta: Historia e historiadores en el CSIC, 1939 – 1945, in: Miguel A. PuigSamper (Hrsg.): Tiempos de investigación. JAE-CSIC, cien años de ciencia en España, Madrid 2007, S. 321– 327; Pasamar: Historiografía e ideología, S. 148 ff; Zur Figur von Pío Zabala, u. a. Rektor der Madrider Universität, siehe Carolina Rodríguez: La Universidad de Madrid en el primer franquismo. Ruptura y continuidad (1939 – 1951), Madrid 2002, S. 307– 351.

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3 Aufbruch in die Moderne?

halb einer gesunden Tendenz hin zur spirituellen Einheit Spaniens“¹⁶. De la Torre selbst hatte in den folgenden Jahren die Direktion dieser Escuela de Estudios Medievales inne. Pío Zabala übernahm wiederum die Leitung der parallel dazu gegründeten Escuela de Historia Moderna, wobei historia moderna hier eine Epoche bezeichnete, die mit Karl V. begann und sich weitgehend auf das 16. und 17. Jahrhundert beschränkte. Das Jerónimo Zurita richtete seine Forschungsinteressen auf die spirituelle und politische Einheit des Landes aus. Dementsprechend legte de la Torre im Jahr 1944 den Gesamtfokus des Zurita programmatisch auf jene Periode fest, in der die politische Einigung und die christliche Erschließung Spaniens zusammengefallen seien: „Die Geschichte der Katholischen Könige neu zu schreiben“, schien für diesen Historiker „die zweckmäßigste Aufgabe zu sein, um sie als Kollektivprojekt des Instituts ‚Jerónimo Zurita‘ zu betrachten.“¹⁷ Die Regierungszeit von Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragonien stellte die historische Gravitationsmasse dar, um die das Forschungs- und Publikationsverhalten jener Institution kreiste – bis zur Einrichtung des größten Forschungs- und Editionsprojekt Biblioteca Reyes Católicos im Jahr 1949 mit insgesamt 30 zwischen 1949 und 1963 erschienenen Bänden mit Quelleneditionen und Studien zur Regierungszeit der Katholischen Könige. Wie die bibliometrische Studie von Fernando Sánchez und Miguel Latre zeigt, bewies auch die Zeitschrift Hispania, die im Jahr 1940 als zentrale geschichtswissenschaftliche Zeitschrift des Consejo in Anbindung an das Patronat Jerónimo Zurita gegründet worden war, eine Schwerpunktsetzung entlang der vom national-katholischen Narrativ privilegierten Epochen: Das Mittelalter der Reconquista und politischen Einigung sowie die Frühe Neuzeit als Zeitalter spanischer Hegemonialstellung in Europa.¹⁸ Die Aufteilung des Zurita in jeweils eine Escuela de Estudios Medievales und eine Escuela de Historia Moderna schlug sich ebenfalls in den Monografien nieder. Die Publikationslisten des Zurita weisen für den Zeitraum zwischen 1940 und 1960 insgesamt 178 Titel auf, von denen sich 76 dem spanischen Mittelalter (bis zum 15. Jahrhundert) und 58 den Katholischen Königen sowie der Habsburgermonarchie (bis 1701/1714) widmeten. Für diesen Zeitraum von 20 Jahren lassen sich hingegen nur 25 Publikationen den ersten zwei

 Brief von José M. Albareda an den Präsidenten der Institución Príncipe de Viana, o.D. [1940], Beilage: „Constitución de la Escuela de Estudios Medievales Españoles“, AGUN, Fondo Albareda, 006/001/004– 3.  Zitiert aus dem Forschungsprogramm von Antonio de la Torre an José M. Albareda aus dem Jahr 1944, AGUN, Fondo Albareda, 006/062/030 – 3.  Vgl. Fernando Sánchez/Miguel Pérez: La historiografía de la época moderna (1474– 1808) en la revista Hispania 1940 – 1988, in: Hispania 50 (1990), S. 1031– 1045.

3.1 Mobilisierung, erste Institutionalisierung und historiografische Produktion

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Jahrhunderten der Bourbonenherrschaft seit 1714 zuordnen.¹⁹ Ferner gab der Zurita keine Monografien heraus, die geschichtswissenschaftliche Theorien und Methoden behandelten oder debattierten. Dies spricht für einen Konsens in den Herangehensweisen und Gegenständen einer im Umfeld des Zurita gepflegten Forschung, die rechts-, ideen-, politik- und biografiegeschichtliche Zugänge auf Herrschaftshäuser und -gebiete, kirchliche und kulturelle Institutionen sowie Heilige und Aristokraten meist deskriptiv und ohne expliziten Theoriebezug anwandte.²⁰ Dabei ist es bezeichnend, dass auch jenseits des Zurita die geschichtswissenschaftliche Produktion in Spanien bis weit in die 1950er Jahre kaum fachliche Kontroversen verzeichnete. Zwar übten Historiker in Rezensionen und Forschungsüberblicken durchaus fachliche Kritik an ihren Kollegen. Das Institutionengefüge der spanischen Geschichtswissenschaft in den ersten Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg kann dennoch nur bedingt als „organisierter Skeptizismus“ bezeichnet werden. Anders als Klaus Große Kracht für die deutsche Historikerzunft nach 1945 festgehalten hat, gehörte der Disput im spanischen Fall kaum zu den „alltägliche[n] Form[en] der wissenschaftlichen Kommunikation“.²¹ In Übereinstimmung mit den (wissenschafts)politischen Vorstellungen, die auch auf den Consejo projiziert wurden, äußerten sich in den verwendeten Kommunikations-Codes eher ein spezifisches Autoritätsdenken und ein organologisches Verständnis des fachlichen Zusammenhalts. Wie Pío Zabala in seiner Vorstellung des ersten Bands von Hispania bekanntgab, sollte diese Zeitschrift als neues Sprachrohr einer Historikerzunft dienen, die ihr Wissen in Gehorsam und mit Dienstbeflissenheit produzierte: „Da nun die erste Ausgabe unserer Zeitschrift Hispania erscheint und sie hiermit die ehrenhafte Pflicht erfüllt, ihren ehrfurchtsvollen Gruß an den Staatschef und an den Herrn Minister für Nationale Erziehung zu richten, möchte sie es nicht dabei belassen, ihre höchste Gehorsamkeit ihnen gegenüber auszusprechen, sondern auch ihr Streben danach kundtun, dass bald andere [Äußerungen] zum Vorschein kommen, die jene Hoffnungen des Instituts

 Die restlichen 22 Titel beinhalteten meist Bibliografien und epochenübergreifende Darstellungen zur Städte-, Klöster- oder Universitätsgeschichte. Eigene Berechnung unter Berücksichtigung doppelt aufgeführter Titel nach Consejo Superior de Investigaciones Científicas (Hrsg.): Publicaciones, 1940 – 1964, Madrid 1964, S. 121– 149.  Zum Theoriedefizit in der spanischen Geschichtswissenschaft insbesondere der 1940er Jahre siehe Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 201 f.  Klaus Große Kracht: Kritik, Kontroverse, Debatte. Historiografiegeschichte als Streitgeschichte, in: Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 255 – 283, hier S. 255.

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3 Aufbruch in die Moderne?

auf eine herzliche Unterstützung seines Eifers erfüllen, das auf die ehrenhafteste Darstellung unserer vaterländischen Geschichte ausgerichtet ist.“²²

Zabalas barockes Bekenntnis zum „Gehorsam“ in Erwartung „herzlicher Unterstützung“ durch den Staat und weiteren Historikern folgte kein Manifest, das sich zu einem bestimmten historiografischen Zugang bekannte oder von anderen abgrenzte. Der Historiker, so Zabala, erringe seine Forschungsleistungen nicht etwa im Widerstreit mit anderen Historikern, sondern durch das kumulative Belegen einer a priori vorhandenen Nationalgeschichte: „Durch ihre stille und beharrliche Arbeit haben ihre Autoren die für unsere Geschichte wertvollsten Materialien gesammelt […].“²³ Mit diesem einzigen Hinweis stellte der Vizedirektor des Zurita in derselben Einleitung das Tätigkeitsprofil der Autoren vor. Wie in Abschnitt III dieser Arbeit symptomatisch gezeigt wird, führte die Durchbrechung dieser Codes nicht selten dazu, dass die Empfänger fachlicher Kritik sie als Infragestellung ganzer Institutionen und Autoritäten deuteten, als persönliche Kränkung empfanden oder auch über politische Kontakte zu unterbinden suchten.²⁴ Die geringe Theoriebezogenheit zusammen mit dem autoritativen Stil, der den Raum für Kritik in engen Grenzen hielt, ließ kaum Kontroversen zu Geschichtsdeutungen oder historiografischen Zugängen entstehen. Ein explizites Manifest oder eine bestimmte Doktrin formulierten die Herausgeber nicht.²⁵

 Pío Zabala: [Vorwort], in: Hispania 1 (1940), S. 3 – 5, hier S. 4 f.  Ebd., S. 3.  Siehe dazu beispielsweise die emotional aufgeladene Antwort von Pedro Aguado Bleye auf eine kritische Besprechung seines Handbuchs zur spanischen Geschichte ders., in: Contestación del señor Aguado Bleye, in: Arbor 10 (1948), S. 138 – 144 und die darauffolgende Stellungnahme seines Kritikers, Respuesta del Sr. García Gallo, in: Ebd., S. 144– 150. Der Rechtshistoriker und Mitarbeiter des Consejo, Alfonso García Gallo, hatte dieses Handbuch deswegen kritisiert, da er die spanische Forschung der letzten zehn Jahre und insbesondere diejenige des CSIC nicht hinreichend berücksichtigt hatte.Vor allem Aguado verwendete dabei eine Rhetorik der emotionalen Betroffenheit („Trauer“, „Schmerz meiner spanischen Seele“) und brachte die Kritik auf die persönliche Ebene („alter Polemiker vergangener Zeiten“). Gallo wiederum versuchte Sachlichkeit zu demonstrieren, wobei er zu hoffen vorgab, dass Aguado durch sein Versäumnis „nicht die geschichtswissenschaftliche Produktion der letzten Jahre zu verschweigen“ versuche.  Gonzalo Pasamar: Los historiadores españoles y la reflexión historiográfica 1880 – 1980, in: Hispania 58 (1998), S. 13 – 48.

3.2 Debatten, Nationalnarrative und der Export des spanischen Geistes

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3.2 Debatten, Nationalnarrative und der Export des spanischen Geistes Dennoch kamen in diesem Zeitraum zwei größere Debatten auf, die in Form geschichtswissenschaftlicher Kontroversen ausgetragen wurden oder sich zumindest auf die wissenschaftliche Produktion niederschlugen.²⁶ Die erste dieser Debatten betraf die Frage nach Einheit und Vielfalt des spanischen Mittelalters und wurde bezeichnenderweise von zwei Exilakademikern angestoßen, dem Philologen Américo Castro (1886 – 1972) und dem Rechtshistoriker Claudio SánchezAlbornoz (1893 – 1984).²⁷ In seiner Monografie España en su historia. Cristianos, moros y judíos aus dem Jahr 1948 untersuchte Castro den Einfluss der jüdischen und arabischen Kultur auf die spanische Nationalgeschichte auf der Basis literarischer Quellen.²⁸ Er vertrat darin die These, dass nicht allein das Christentum die historischen Geschicke der Nation geprägt habe. Ein spezifisch jüdisches Verständnis des Verhältnisses von Religion und Staatlichkeit und ein muslimisches „vivir desviviéndose“²⁹ – ein tragisches Lebensgefühl, hin- und hergerissen zwischen Weltlichem und Ewigem – waren für Castro konstitutive Bestandteile der „historischen Realität“ der Nation.³⁰ Die endgültige Vertreibung von Juden und Muslimen ab dem Ende des 15. Jahrhunderts habe wiederum, so Castro, ein Desinteresse für Wissenschaft und Technik, schließlich auch die ökonomische und politische Dekadenz zur Folge gehabt. Sánchez-Albornoz, der trotz seines Exils in Spanien weiterhin eine Autorität darstellte, ließ angesichts der Aufmerksamkeit, die Castros Werk erreicht hatte, mit seiner Kritik nicht auf sich warten. Sein 1957 erschienenes Buch España, un enigma histórico gilt als Hauptund Abschlusswerk einer Debatte, die sich in einer Vielzahl von Artikeln über fast ein Jahrzehnt erstreckte und von spanischen Historikern aufmerksam verfolgt wurde.³¹ Sánchez-Albornoz begegnete Castros These mit einer Deutung, die die konstitutiven Merkmale der spanischen Kultur in die Zeit vor der islamischen Eroberung der iberischen Halbinsel und dem Miteinander der ‚drei Kulturen‘  Die Unterscheidung zwischen fachlicher Kontroverse und öffentlicher Debatte trifft Klaus Große Kracht. Allerdings wird in dieser Arbeit eher zwischen fachlichen und intellektuellen, über die Fachorgane hinaus ausgetragene Auseinandersetzungen unterschieden, da der Begriff der „Öffentlichkeit“ für die franquistische Presse irreführend sein kann. Vgl. Große Kracht: Kritik, Kontroverse, Debatte, S. 258 – 268.  Eine knappe Übersicht über diese Kontroverse bietet Bernecker: Die spanische Dekadenz, S. 161– 164.  Vgl. Américo Castro: España en su historia. Cristianos, moros y judíos, Buenos Aires 1948.  Américo Castro: La realidad histórica de España, México 1954, S. 86.  Vgl. ebd.  Vgl. Claudio Sánchez-Albornoz: España, un enigma histórico, 2 Bde., Buenos Aires 1956.

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3 Aufbruch in die Moderne?

vorverlegte. Spanien sei, so Sánchez-Albornoz, im Ursprung christlich und das ‚Miteinander’ der drei Kulturen ein Gegen- oder bestenfalls ein Nebeneinander gewesen. Die islamische Eroberung der Halbinsel stellte für den Autor die Katastrophe dar, von der aus Spanien durch die Reconquista nicht nur seine christliche Identität behauptet, sondern auch einen Sonderweg eingeschlagen hatte. Die Fixierung auf den Glaubenskrieg habe schließlich die spanische von der übrigen geistigen und institutionellen Entwicklung Europas abgesondert. Damit bot der konservative Rechtshistoriker den spanischen Mediävisten einen doppelten Anknüpfungspunkt. Zum einen ließ sich jene These von SánchezAlbornoz in eine national-katholische Auslegung einfügen, in der die Geschichte der Nation und derjenigen des katholischen Glaubens untrennbar miteinander verbunden waren.³² Zum anderen argumentierte der Widersacher des Philologen Castro aus der Position eines professionellen Historikers heraus, der auf Grundlage einer eingehenden Analyse rechts- und institutionsgeschichtlicher Quellen die Geschichte so offengelegt habe, ‚wie sie eigentlich gewesen‘. Sánchez-Albornoz wurde allerdings nicht nur für die Ablehnung von Castros Interpretationen angeführt. Auch die Thesen zur ethnischen Vielfalt in der Frühgeschichte Spaniens des ebenso im Exil lebenden katalanischen Althistorikers, Pere Bosch Gimpera (1891– 1974), konnten mit dem Rekurs auf den Rechtshistoriker ad acta gelegt werden. Eine innerspanische Kontroverse kam aufgrund der weitgehend konsensuierten Deutungen hinsichtlich der Einheit und der Katholizität Spaniens hingegen nicht auf. ³³

 Ramón Menéndez Pidal vertrat in der spanischen Geschichtswissenschaft die ‚philologische Schule‘. Vgl. Pasamar/Peiró: Diccionario de historiadores españoles, S. 406 – 408.  In einem Beitrag in Arbor vom Jahr 1950 mit Titel „Neue Fragen der Forschung zur Einheit Spaniens“ erhob der Archäologe Martín Almagro erstmals die Figur des emigrierten SánchezAlbornoz zu einer wissenschaftlichen Autorität, „die heute das Prestige Spaniens von seinem Lehrstuhl in Buenos Aires aus verteidigt […]“. Er habe gezeigt, „wie sich auf spanischem Boden die Vielfalt stets miteinander verschmolzen und ineinandergewoben hat.“ Damit richtete sich Almagro insbesondere gegen die Thesen Bosch Gimperas, der vor dem Bürgerkrieg den politischen Einigungsprozess bis ins späte Mittelalter als Herausbildung einer von den „Völkern“ losgelöste „Superstruktur“ analysiert hatte. Damit habe der katalanische Alt- und Prähistoriker, so Almagro, die Vielfalt der „spanischen Völker“ gegenüber der Einheit des „spanischen Volkes“ privilegiert, was sich angesichts der Arbeiten von Sánchez Albornoz als irrtümlich erwiesen habe. Martín Algmagro Bosch: Nuevas cuestiones científicas sobre la unidad de España, in: Arbor 16 (1950), S. 39 – 45, hier S. 39, 41 und 44. Eine knappe Übersicht über diese Debatte bietet Emilio Pérez Mitre: La historiografía sobre la edad media, in: José Andrés Gallego (Hrsg.): Historia de la historiografía española, Madrid 2003, S. 71– 122. Zur Ur- und Frühgeschichte unter dem FrancoRegime siehe ferner Fernando Wulff: Las esencias patrias. Historiografía e Historia Antigua en la construcción de la identidad española (siglos XVI–XX), Barcelona 2003, S. 225 – 253.

3.2 Debatten, Nationalnarrative und der Export des spanischen Geistes

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Eine zweite Debatte, die ebenfalls ab Ende der 1940er Jahre ausgetragen wurde und bis in die geschichtswissenschaftlichen Kreise hineinwirkte, war die andernorts bereits eingeführte Auseinandersetzung um das ‚Problem Spaniens‘ zwischen national-katholischen und falangistischen Intellektuellen.³⁴ Diese Auseinandersetzung unterschied sich von jener, die Castro und Sánchez-Albornoz anregten, in dreifacher Weise. Erstens problematisierte sie explizit die Neuzeit und damit Spaniens ‚Sonderweg‘ bis ins 19. Jahrhundert. Zweitens wurde sie auf rein ideengeschichtlicher Ebene ausgetragen, so dass rechts-, institutionen-, wirtschafts- oder sozialgeschichtliche Argumente darin nicht vorkamen. Drittens diente sie dazu, die Neuzeithistoriker im Umfeld des Consejo um ein Nationalnarrativ zu gruppieren, das die bisher analysierten Modernediskurse samt ihrer Ambivalenzen reproduzierte. Die Gruppe um die ehemaligen Falangisten Pedro Laín Entralgo, Antonio Tovar (1911– 1984) und Dionisio Ridruejo (1912 – 1975) bemühte unter der Devise ‚Spanien als Problem‘ das säkulare Topos der ‚Zwei Spanien‘, um die Lasten des katholischen Traditionalismus für den historischen ‚Fortschritt‘ der Nation anzuklagen.³⁵ Unter den Verfechtern der national-katholischen und traditionalistischen Gegenposition befanden sich wiederum neben Rafael Calvo Serer, Lehrstuhlinhaber für Philosophie, auch solche Vertreter der Historikerzunft, die wie Vicente Palacio Atard und Florentino Pérez Embid entscheidende Positionen in den geschichtswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen des Consejo einnahmen. Überhaupt war diese Debatte um das ‚Problem Spaniens‘ so gelagert, dass die national-katholische Position mit jener der Historiker im Umfeld des CSIC identifiziert wurde. In einem Beitrag zur Spanischen Kulturchronik in Arbor warf der junge Philosoph Raimundo Paniker (1918 – 2010) einen fachfremden Blick auf eben diesen Historikerkreis. Unter der Überschrift „Ein Vorbehalt gegenüber den Historikern“ resümierte er die um das Jahr 1951 dominante Geschichtsdeutung wie folgt: „Im 16. Jahrhundert, oder wann auch immer, anlässlich der Schlacht von San Quintín, von Rocroy, infolge des Westfälischen Friedens, entschied sich das Dilemma Europas, entweder als christliches Reich fortzubestehen oder in eine Vielfalt unabhängiger Nationen zu zerfallen, zugunsten jener Option, gegen die Spanien gekämpft hatte. Europa schritt voran und Spanien zog sich in sich selbst zurück. Und da es nicht die Wahrheit besaß, verirrte sich Europa zusehends. Gleichzeitig wurde Spanien immer schwächer, da es keiner Gemeinschaft angehörte, da es geächtet war und weil die europäische Technik und der europäische Fortschritt lediglich mit Verspätung und aus zweiter Hand Einzug hielten. Doch gerade deshalb ist Spanien heute weder so verkommen, noch so in Auflösung begriffen wie Europa. Heutzutage schließt sich dieser Prozess. Europa kann nicht voranschreiten, da es am Ende

 Siehe dazu I.2.  Vgl. Juliá: Historias de las dos Españas, S. 355 – 376; Saz: España contra España, S. 379 – 396.

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3 Aufbruch in die Moderne?

seines historischen Verfalls angelangt ist, und nun erscheint Spanien mit dem Heilmittel, das, wie Spanien betont, in der zweiten Komponente jenes Dilemmas liegt, in der Komponente, die es [Spanien] repräsentiert hatte. Wenn Europa weiterleben möchte, müsse es sich auf die spanische Lösung zurückbesinnen³⁶

Dieses Narrativ, das Paniker durchaus mit einer gewissen Ironie nachzeichnete und auf die „spanischen Historiker“ bezog, war deckungsgleich mit jenem Geschichtsbild, das nicht nur die ideelle Grundlage für den symbolischen und institutionellen Aufbau des Consejo dargestellt hatte. Es enthielt auch die Topoi des wissenschaftlichen und technischen Rückstands sowie der geistigen Sendung Spaniens. Es waren insbesondere die Historiker im Umfeld des Zurita, die genau dieses Narrativ in ihren wissenschaftlichen Publikationen (re)produzierten. Beispielsweise entwarf Vicente Palacio Atard ein Jahr vor seiner Ernennung zum Sekretär der Escuela de Historia Moderna im März 1950 ein Deutungsangebot, das den Titel Niederlage, Erschöpfung und Dekadenz im Spanien des 17. Jahrhunderts trug.³⁷ Der Schüler Cayetano Alcázars verfocht darin eine These, wonach Spaniens Dekadenz auf seine Niederlage im Kampf um ein katholisches Europa zurückzuführen sei. Im selben Jahr verlegte das Zurita die Dissertationsschrift von José M. Jover Zamora, die ebenfalls von Cayetano Alcázar betreut worden war und unter dem Titel 1635. Geschichte einer Polemik und Kurzbiografie einer Generation erschien. Der gerade zum Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Valencia berufene Jover hatte im Jahr 1947 den Premio Menéndez Pelayo des CSIC für diese Arbeit erhalten, in der er eine Auswahl spanischer Denker auf ihre Positionierung am Vorabend des französisch-spanischen Kriegs (1635 – 1653) hin befragte. Jovers Ergebnisse, die in den in Arbor und Hispania erschienenen Rezensionen großes Lob geerntet hatte, bestätigten die national-katholische Perspektive. Der Kriegseintritt der spanischen Habsburger gegen die Bourbonen wurde hier als bewusster, von der Bevölkerung mitgetragener Einsatz für die „spirituelle Einheit Europas“ gedeutet.³⁸ In jenem Konflikt habe sich laut Jover der historische Scheideweg zwischen „zwei Modernitäten“ abgezeichnet: „die fernandinische, die nostalgisch auf einen katholischen und modernen spanischen Staat blickte, und eine deutliche Ahnung einer Modernität sehr im Stile des

 Raimundo Paniker: Crónica Cultural Española, in: Arbor 20 (1951), S. 112– 113, hier S. 112.  Vgl. Vicente Palacio Atard: Derrota, agotamiento, decadencia en la España del siglo XVII. Un punto de enfoque para su interpretación, Madrid 1949.  Vgl. Rafael Gilbert: Rez. zu José M. Jover: 1635. Historia de una polémica y semblanza de una generación, Madrid 1949, in: Hispania 38 (1950), S. 189 – 195; Juan Sánchez Montes: La generación española que vivió la derrota, in: Arbor 13 (1949), S. 358– 365.

3.2 Debatten, Nationalnarrative und der Export des spanischen Geistes

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18. Jahrhunderts.“³⁹ Mit dieser These schrieb sich Jover in den Kreis spanischer Historiker ein, die das von Paniker umrissene Narrativ pflegten. Panikers Titel kündigte jedoch auch einen „Vorbehalt“ gegenüber der Arbeit spanischer Historiker an. Er mahnte in seinem Beitrag dabei nicht etwa zu einer Revision der von ihm nachgezeichneten, vorherrschenden Geschichtsdeutung, sondern vielmehr dazu, aus ihr die richtigen Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen. Daher bat der Autor die spanische Historikerzunft um „Großmut“, damit sie ihre „Wut nicht an dem bereits zerstörten Europa“ ausließen.Vielmehr „sollten sie darauf achten, die spanische Lösung nicht als vaterlandseigene, sondern als europäische und christliche zu präsentieren […]. In einem Wort: sie sollten nicht nationalistisch sein, sondern Universalgeschichte schreiben.“⁴⁰ Diese „Mahnung“ zu einer Abkehr von der historischen Isolation hin zu einem nach außen getragenen spanischen und gerade deswegen universellen Geist war mit den oben analysierten Europadiskursen der Nachkriegszeit kongruent. Denn auch sie beinhaltete die Aufforderung, die geistigen Tugenden des katholischen Spaniens zu exportieren. Zu jenem Zeitpunkt schien eine solche Mahnung jedoch unnötig zu sein. Bereits zwei Jahre zuvor hatte wiederum Rafael Calvo Serer die Initiative ergriffen, um den Historikerkreis aus den Institutionen des Consejo und seinem näherem Umfeld auf ein neues geschichtswissenschaftliches Projekt im Geist der ‚wissenschaftlichen Ökumene‘ zu verpflichten. In einem Brief von Dezember 1949 informierten Calvo Serer und sechs weitere Historiker – darunter Jover, Palacio Atard und Pérez Embid – den Erziehungsminister Ibáñez Martín über ein groß angelegtes Publikationsvorhaben für eine Historia Moderna de España e Hispanoamérica in Erwartung „entschiedener Unterstützung“.⁴¹ Das Werk sollte sich, so der Plan, in 20 Bänden der spanischen Nationalgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert widmen. Dabei war jenes Gemeinschaftsprojekt in dem Sinne als „Universalgeschichte“ gedacht, als dass es seinen Interessensschwerpunkt auf die Frage nach der spanischen Expansion und des Exports universeller Werte nach Europa und Lateinamerika legte. In der siebenseitigen Projektskizze, die dem Brief beigelegt worden war, hatte man acht „Hauptpostulate“ formuliert, die das Werk, so das erste Postulat, zum „Symbol einer neuen Art und Weise, die nationale Essenz zu verstehen“, machen sollten. Insbesondere gab der zweite

 So die Zusammenfassung von Sánchez Montes in ebd., S. 360. Siehe auch José M. Jover: 1635. Historia de una polémica y semblanza de una generación.  Paniker: Crónica Cultural Española, S. 112 f.  Brief an José Ibáñez Martín vom 15.12.1949, unterzeichnet von Rafael Calvo Serer, Florentino Pérez Embid, Vicente Rodríguez Casado, Joaquín Pérez de Villanueva, Octavio Gil Munilla, José Antonio Calderón und Antonio Muro Orejón, AGUN, Fondo Albareda, 006/019/583 – 1.

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Punkt Aufschluss über den geschichtspolitischen Impetus dieser Geschichte Spaniens in der Neuzeit: „Von allen Epochen unserer Vergangenheit war es die Frühe Neuzeit [Edad Moderna], in der Spanien am kraftvollsten in der Welt wirkte und darüber hinaus an ideologischen Ansichten von universeller Gültigkeit festhielt.“⁴² Der bekundete Anspruch beschränkte sich nicht darauf, den Positionen der national-katholischen Historiker ein geschichtswissenschaftliches Fundament in den Debatten zu verleihen, die um das ‚Problem Spaniens‘ kreisten. Die Gruppe um Calvo Serer versuchte darüber hinaus, dem Gemeinschaftswerk ein internationales Profil zu verleihen, indem sie es mit dem universal- und kulturhistorischen Unternehmen ‚Historia Mundi‘ des Mainzer Historikers Fritz Kern (1884 – 1950) verknüpfte: „Daher beziehen die Versuche, die sich derzeit – anhand der von Prof. Kern geleiteten ‚Historia Mundi‘ – um eine Erneuerung der Ideen zur Weltgeschichte in der Neuzeit bemühen, unsere Thesen und grundlegenden Standpunkte mit ein. Für die spanischen Historiker eröffnet sich damit die großartige und seit Jahren erste Gelegenheit, auf die Ausformulierung historischer Interpretamente einzuwirken, auf denen die Gegenwart beruht und die dazu beitragen werden, die Zukunft zu erhellen.“⁴³

Calvo Serer selbst hatte zuvor Kontakt mit Kern aufgenommen und für einen Beitrag spanischer Historiker für das vom ihm initiierte weltgeschichtliche Handbuch in zehn Bänden geworben. Der national-katholische Intellektuelle suchte damit weltanschauliche Affinitäten in transnationale Netzwerke zu übersetzen, was ihm im Fall des Anhängers der Kulturkreislehre Kern auch gelang.⁴⁴  Beilage zum Brief an Ibáñez Martín vom 15.12.1949, AGUN, Fondo Albareda, 006/019/583, S. 1. Die Liste der geplanten Autoren in ebd., S. 6.  Ebd., S. 1 f.  Calvo Serer ließ Fritz Kern bei dieser Gelegenheit sein Buch Spanien ohne Problem zukommen, das vom Empfänger mit freundlichen Worten kommentiert wurde. Allerdings waren Kern die darin enthaltenen Bezüge zu Carl Schmitt nicht genehm, wie er in einem Brief an Calvo Serer deutlich machte: „Über Einzelheiten sollte man sich einmal aussprechen können. So zum Beispiel möchte ich Ihnen etwa ERNST JÜNGER nahelegen, der immer ehrlich war und jetzt auf dem Weg zum Christentum ist. Ich möchte Ihnen aber nicht raten, KARL SCHMITT (sic!), diesen schillernden Sophisten und wissenschaftlichen Gaukler mit unsrer deutschen Zukunft irgendwie zu verknüpfen. Wer ihn und seine Wandlungen durch drei Jahrzehnte hindurch erlebt hat, möchte diesen Namen lieber vergessen.“ Brief von Fritz Kern an Rafael Calvo Serer [1949], AGUN, Fondo Calvo Serer 001/033/427– 1. Fritz Kern war ein Jahr vor seinem Tod zum Katholizismus konvertiert, was einen zentralen intellektuellen Anknüpfungspunkt für Calvo Serer eröffnete. Im ersten Band der ‚Historia Mundi‘ erschienen unter anderem Beiträge des im Jahr 1940 der NSDAP beigetretenen und 1945 nach Buenos Aires emigrierten Historikers für Ur- und Frühgeschichte Oswald Menghin. Zum Projekt der ‚Historia Mundi‘ und seinen Kontinuitäten hinsichtlich einer christlichkulturkritischen und rassistischen Kulturkreiselehre siehe Otto H. Urban: Die Urgeschichte an der

3.3 Die Suche nach internationaler Anerkennung

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Interne Zerwürfnisse, finanzielle Engpässe und schließlich die Enthebung Calvo Serers von allen Ämtern im Consejo aufgrund seiner Offenlegung der innenpolitischen Verhältnisse des Franco-Regimes in der ausländischen Presse im Jahr 1953 führten jedoch dazu, dass die Historia Moderna de España e Hispanoamérica nie in der geplanten Form verwirklicht wurde. Erst in den 1960er Jahren sollte Vicente Palacio Atard einen ähnlichen Versuch starten, von der Escuela de Historia Moderna aus ein Gemeinschaftswerk zur neuzeitlichen Geschichte Spaniens zu konzipieren. Trotz aller Realisierungsschwierigkeiten hatte das Projekt der Historia Moderna de España e Hispanoamérica jedoch das Profil verdeutlicht, das sich „die Alte Garde der neuzeitlichen Geschichtsschreibung“⁴⁵ in Spanien um das Jahr 1950 verliehen hatte: National-katholische Perspektiven unter Berücksichtigung eines ökumenischen Prinzips. Diese Leitlinie äußerte sich sowohl in den Deutungen einer nach außen gekehrten Nationalgeschichte als auch in dem Versuch, mit Gleichgesinnten auf internationaler Ebene wissenschaftlich zu kooperieren.

3.3 Die Suche nach internationaler Anerkennung und die unmögliche ‚Ökumene der Historiker‘ Wie schon der Consejo bei seiner Jubiläumsfeier, konnte auch die spanische Geschichtswissenschaft im Jahr 1950 erste Erfolge bei ihren Versuchen verbuchen, in der internationalen ‚Ökumene der Wissenschaft‘ Fuß zu fassen. Der 9. Internationale Historikerkongress, der vom 28. August bis zum 3. September jenes Jahres in Paris stattfand, stellte die erste Gelegenheit dar, die Partizipation der spanischen Geschichtswissenschaft in einer imaginierten Historikerökumene zu feiern. Wie Miquel Marín treffend festgestellt hat, ist dieser Historikerkongress zu einem der wichtigsten Mythen der facheigenen Erinnerungskultur in Spanien geworden. Darin erscheint die Teilnahme der elfköpfigen Delegation am ersten internationalen Historikerkongress der Nachkriegszeit als Ursprungsmoment einer Internationalisierung, die unaufhaltsam und aus eigener Kraft stetig an Reichweite und Bedeutung gewann. Marín stellt diesem Mythos eine Realität entgegen, die sich weit ab von einem Aufbruch in die Internationalität bewegte. Bis auf wenige

Universität Wien vor, während und nach der NS-Zeit, in: Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hrsg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, S. 371– 395; vgl. auch Sánchez: Calvo Serer y el grupo Arbor, S. 187 ff.  So die Bezeichnung von Juan Sánchez Montes, selbst Mitarbeiter am Jerónimo Zurita, in einem Brief an Albareda. Brief von Sánchez Montes an Albareda vom 31.8.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/021/612.

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Ausnahmen wurden die nationalen Grenzen des Faches in den 1950er Jahren kaum durchbrochen. Auslandsaufenthalte spanischer Historiker waren selten und ihre publizistische Tätigkeit in internationalen Zeitschriften nahezu bedeutungslos.⁴⁶ Der von Marín nachgezeichnete Kontrast zwischen mythisierter Selbstwahrnehmung und historischer Realität darf jedoch nicht dazu führen, diesen Ursprungsmythos lediglich als solchen zu entlarven. Denn als historisches Phänomen selbst war er höchst wirksam. Dies gilt gerade für die Konstruktion akademischer Auto- und Fachbiografien, wie weiter unten am Beispiel des katalanischen Historikers Jaume Vicens gezeigt werden wird, der ebenfalls am jenem Internationalen Historikertag 1950 teilnahm. Die Beteiligung spanischer Historiker vollzog sich nämlich vor einem Hintergrund, in dem sowohl die Außen(wissenschafts)politik als auch die spanische Historiografie nach internationaler Anerkennung und Partizipation trachteten und diese auch unabhängig von ihrer realen Tragweite feierten. Der Mythos der Rückkehr in die ‚Historikerökumene‘ hatte demnach seinen Ursprung in zeitgenössischen Selbstdeutungen, die gerade diese Rückkehr herbeisehnten, und zwar weitgehend unabhängig davon, wie erfolgreich sie war oder ob es eine solche ‚Ökumene‘ im eigentlichen Sinne überhaupt gab. Dies zeigt sich vor allem in den Berichten, die die Teilnehmer am Pariser Kongress für die im Außenministerium angesiedelte Dirección General de Relaciones Culturales verfassten. Neben Vicens waren die Mediävistin Mercedes Gaibrois (1891– 1960) für die Königliche Akademie der Geschichte, Antonio de la Torre, Cayetano Alcázar und der Lateinamerikahistoriker Antonio Rumeu (1912– 2006) in Vertretung des Consejo sowie sechs weitere, in ihrer Mehrzahl an den Consejo angebundene Historiker nach Paris gereist. Gaibrois hatte in einem sechsseitigen Vorbericht der DGRC die „politische Opportunität“ einer spanischen Teilnahme dargelegt: „Es empfiehlt sich nicht, einem Kongress fernzubleiben, der den Berichten über die Fortschritte der Geschichtswissenschaft in den einzelnen Ländern einen so großen Stellenwert einräumt.“⁴⁷ Den 9. Internationalen Historikerkongress verstand die Verfasserin als eine Bühne für die Historikernationen, auf der die „Kontaktaufnahme mit allen Spezialisten, Forschern und Historikern der Welt“ im Mittelpunkt stünde, „wobei ein besonderes Augenmerk auf die Auskunft über den Stand der Wissenschaft in jedem Land“ gelegt werden würde.  Vgl. Miquel A. Marín: El aleteo del lepidóptero. La reincorporación de la historiografía española al entorno de la profesión en Europa en los años cincuenta, in: Gerónimo de Uztariz 19 (2003), S. 119 – 160, insbesondere S. 132 f.  Der von Mercedes Gaibrois am 30. 3.1950 in der DGRC eingereichte Bericht in AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 2945, Exp. 30.

3.3 Die Suche nach internationaler Anerkennung

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Daher sei es von besonderer Wichtigkeit, die internationale Historikergemeinschaft über die „Entwicklung und den derzeitigen Stand auf dem Feld der historischen Forschung in Spanien“⁴⁸ aufzuklären. Es ist bezeichnend, dass Gaibrois in diesem Vorbericht einräumen musste, dass das Comité International des Sciences Historiques keine der offiziell anerkannten geschichtswissenschaftlichen Institutionen Spaniens, sondern lediglich einzelne Historiker eingeladen hatte. Dies habe sie dazu bewegt, ein nationales Historikerkomitee zu formieren und die entsprechende spanische Delegation durch das Außenministerium offiziell sanktionieren zu lassen. Auf ähnliche Weise reagierte wenig später auch Antonio de la Torre, indem er Pío Zabala darum bat, trotz fehlender Einladung eine offizielle Vertretung des Consejo auszuwählen.⁴⁹ Während die Kongressorganisation also private Einladungen versandt hatte, schlossen sich die teilnehmenden Historikerinnen und Historiker selbstständig zu einer Delegation auf der Suche nach staatlicher Sanktionierung (und Finanzierung) zusammen.⁵⁰ Gaibrois und die spanische Delegation legitimierten ferner die Initiative auf eine Weise, die konkrete politische Zielsetzungen ansprechen sollte. An erster Stelle boten sie dem Außenministerium die staatlich sanktionierte Teilnahme als Mittel an, um den Gefahren zu begegnen, die aus einer spanischen Abwesenheit erwachsen könnten: „Sollte keine spanische, von der Generaldirektion anerkannte und abgeordnete Delegation teilnehmen, dann setzt man sich der Gefahr aus, dass heimtückische exilierte Elemente negative Darstellungen verbreiten.“ Eine spanische Delegation sei, so die Verfasserin, schon deswegen unabdingbar, „weil im Falle einer Abwesenheit Spaniens zweifelsohne spanische Elemente aus dem Ausland teilnehmen würden und darüber hinaus der Eindruck vermittelt würde, dass in Spanien keine wahrhaft wissenschaftliche Arbeit auf dem Feld der Geschichte betrieben wird.“⁵¹ Mit den „heimtückischen Elementen“ bezog sich Gaibrois jedoch nicht etwa auf Claudio Sánchez Albornoz oder Américo Castro. Wie der zehnseitige Bericht zeigt, den die Delegation nach dem Pariser Kongress bei der DGRC vorlegte, wurden diese Gefahren vielmehr mit katalanischen Institutionen in Verbindung gebracht, denen man separatistische Ambitionen unterstellte. So hatte das Institut d’Estudis Catalans einen Antrag auf Aufnahme in das Comité International des Sciences Historiques gestellt. Erst die Anwesenheit der spanischen Delegation habe jenen katalanischen Vorstoß abwehren können: „Wir

 Ebd.  Brief von Antonio de la Torre an Pío Zabala vom 2.4.1950, ACCHS, Caja 14, Carpeta bolsas de viaje.  Vgl. Eloy Benito Ruano: España y la colaboración histórica internacional. Ante el X Congreso Internacional de Ciencias Históricas, in: Hispania 13 (1953), S. 676 – 688.  Ebd.

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heben diese Tatsache deshalb hervor, da der [Antrag des] Instituto d’Estudis Catalans bewilligt worden wäre, wenn nicht eine offizielle spanische Delegation teilgenommen hätte.“ In diesem Sinne präsentierten die Autoren die spanische Teilnahme als großen Erfolg, der an der „lobenden und vorbehaltlosen Art und Weise, in der Spanien im Vergleich zu anderen Ländern aufgenommen wurde“, abzulesen sei. Die von der Organisation des Internationalen Historikertags verhängte Sperre gegen Delegationen aus dem „Osten Europas“ und die konfliktreiche Eingliederung deutscher und israelischer Repräsentanten hätten „die für Spanien und die spanischen Standpunkte besonders wohlwollende Färbung“ unterstrichen. Um dies zu belegen, ließen die Verfasser des Berichts die Akten selbst sprechen: „La delegation [sic!] espagnole“, wie im Bericht aus diesen Akten zitiert wurde, „entre dans la salle de reunion saluée par les applaudissements des membres.“⁵² Die Autoren legten somit einen besonderen Wert darauf, die gelungene Aufnahme Spaniens in den Schoß der geschichtswissenschaftlichen Nachkriegsordnung als außenpolitischen Erfolg zu präsentieren. Auch die Presse deutete das Ereignis in diesem Sinne, wie etwa ein im September 1950 erschienener Artikel in der Tageszeitung Arriba verdeutlicht: „Man könnte sagen, dass diese Teilnahme Spaniens am ersten Internationalen Historikerkongress der Nachkriegszeit definitiv die Wiedereingliederung unseres Vaterlandes in einen derart wichtigen und heiklen internationalen Aufgabenbereich markiert.“⁵³ Wie und warum diese Disziplinen „heikel“ waren, zeigte sich vor allem im Anschluss an den 10. Internationalen Historikerkongress, der im Jahr 1955 in Rom stattfand. Auf Initiative des Komitees, das anlässlich des Pariser Kongresses begründet worden war, hatte sich im Jahr 1952 der Geschichtswissenschaftliche Verband Spaniens (Asociación Española de Ciencias Históricas) etabliert. Dieser war dafür zuständig, die künftigen Teilnahmen spanischer Delegationen an den internationalen Historikertagungen unter Einbeziehung der Königlichen Akademie der Geschichte, der Universitäten, des Consejo und des Außenministeriums zu koordinieren. Von Beginn an war es das Hauptanliegen dieses Verbands, die spanische Präsenz in den internationalen Historikerforen und in dessen Organisation abzusichern.⁵⁴ Dementsprechend nutze der Verband den Kongress in Rom und die guten Beziehungen mancher seiner Mitglieder zu Federico Chabod (1901– 1960), damaliger Vorsitzender des Organisationskomitees, für einen kühnen  Der zehnseitige von José M. Lacarra, Manuel Ballesteros und Jaime Vicens verfasste Bericht befindet sich in AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 2945, Exp. 30.  España, en el IX Congreso Internacional de Historia, Arriba vom 12.9.1950, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 2945, Exp. 30.  Vgl. Benito Ruano: España y la colaboración histórica internacional, S. 676 – 688.

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Vorstoß.Vom Veranstaltungsort aus sandte Mercedes Gaibrois eine Anfrage an das Außenministerium, um zum einen eine spanische Kandidatur auf Aufnahme in den engen Kreis der Organisatoren, dem Bureau du Comité International des Sciences Historiques, staatlich genehmigen zu lassen. Zum anderen bat Gaibrois um eine offizielle Genehmigung, Madrid als Tagungsort für den nächsten Internationalen Historikerkongress im Jahr 1960 vorschlagen zu dürfen. Angesichts der hohen Beteiligung am Römischen Kongress – mit mehr als 1 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – würde eine solche Veranstaltung auf spanischem Boden einen beispiellosen Erfolg bedeuten.⁵⁵ Das Außenministerium reagierte jedoch verhalten auf diesen Vorstoß. Im Einvernehmen mit dem Erziehungsministerium gab die Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen zur Antwort, dass sie zwar „nichts dagegen einzuwenden [habe], dass er in Madrid stattfindet, doch sie macht sich diesen Vorschlag nicht zu eigen.“⁵⁶ Wie der spanische Botschafter in Rom wenige Monate später berichtete, waren die Initiativen des spanischen Komitees „unglücklicherweise unter den Umständen abgelehnt [worden], über die das Erziehungsministerium [hätte] bestens Bescheid wissen müss[en]. Demzufolge wird der nächste Kongress nicht in Spanien abgehalten werden und darüber hinaus wird Spanien nicht im gegenwärtig leitenden Komitee repräsentiert sein.“⁵⁷ Die konsultierten Aktenbestände geben zwar keinen Aufschluss über jene „Umstände“, die der Botschafter erwähnte. Doch lehnte die Generaldirektion eine direkte Verantwortung für das Scheitern von Gaibrois’ Petition gegenüber dem Außenminister, Martín Artajo, unter Verweis auf die mögliche Ursache ab. So habe man sein Plazet gegeben, obwohl „eine Vielzahl von Delegierten aus den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs [nach Spanien] gereist wäre und dass am letzten dieser Kongresse 24 russische und 77 jugoslawische Delegierte teilgenommen haben.“⁵⁸ Mit anderen Worten: Die Generaldirektion und das Erziehungsministerium hatten die Initiative genehmigt, sahen jedoch von jeglicher Unterstützung für eine Veranstaltung ab, die Dutzende Historikerinnen und Historiker aus den Staaten des Ostblocks in die spanische Hauptstadt gebracht hätte. Die politische

 Telegramm des spanischen Botschafters in Rom an die Generaldirektion für kulturelle Beziehungen vom 31.8.1955, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 4776, Exp. 1.  Nachricht der Generaldirektion an den Generalsekretär des Erziehungsministeriums vom 1.9. 1955. Der Botschafter in Rom erhielt erst am 26.9.1955 und demnach dreieinhalb (sic!) Wochen später die Antwort Erziehungs- und Außenministeriums, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 4776, Exp. 1.  Brief des spanischen Botschafters in Rom, der Marquis de Desto, an den Außenminister, Alberto Martín Artajo vom 9.11.1955, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 4776, Exp. 1.  An den Außenminister adressierter Bericht der Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen vom 30.11.1955, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7704, Exp. 73.

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Ordnung des Kalten Kriegs bewies, dass die angestrebte (Wieder)Eingliederung der spanischen Geschichtswissenschaft konkrete Hürden zu nehmen hatte und dass eine internationale, sich über die Grenzen des Eisernen Vorhangs erstreckende Historikergemeinschaft, zumindest für das Franco-Regime der 1950er Jahre, eine unmögliche Ökumene darstellte. Schon die Einreise einer einzigen sowjetischen Repräsentantin war höchst problematisch. Als Ausgleich für das Scheitern ihres Vorstoßes hatte Gaibrois von Chabod die Zusage erhalten, zumindest das nächste Treffen des Bureaus im Frühling 1956 in Madrid stattfinden zu lassen. Die Bedingung dafür war jedoch, wie der Vorsitzende des Bureaus schrieb, dass allen Mitgliedern des Organisatorengremiums und somit auch der Vorsitzenden des Sowjetischen Komitees, Anna Mikhailovna Pankratova (1897– 1959), die Einreise bewilligt würde. Die Vielzahl der am anschließenden Briefverkehr teilnehmenden Ämtern und Personen bewies dabei, mit welchem Maß an politischer Vorsicht die Einladung einer offiziellen Historikervertretung aus der UdSSR angegangen wurde. Erst durch die Fürsprache von Chabod, Gaibrois, dem international anerkannten Philologen Ramón Menéndez Pidal und anderen sowie der Vermittlung verschiedener Stellen des Außen- und Erziehungsministeriums konnte das spanische Komitee eine unmittelbare Bewilligung durch den Außenminister erreichen – allerdings auch erst, nachdem der spanische Botschafter in Rom erneut an die Dringlichkeit des Gesuchs erinnerte und auf Chabods Befürwortung der Kandidatur Menéndez Pidals im Rennen um den Literaturnobelpreis verwies.⁵⁹ Die Vorstöße zu einer Überschreitung der nationalen Fachgrenzen gingen demnach von spanischen Historikerinnen und Historikern aus, die sich der Außenpolitik anboten, um institutionelle und finanzielle Unterstützung für ihre Unternehmungen zu erhalten.⁶⁰ Die kaum zu überwindenden Hürden, die eine

 Das Außenministerium startete im Jahr 1955 eine kulturdiplomatische Kampagne, um den Literaturhistoriker, Vorsitzenden des Königlichen Akademie der Sprache und ersten Ehrenbeirat des Consejo unter die Finalisten für den Literaturnobelpreis des Jahres 1956 zu bringen. Dies gelang dem Außenministerium zwar. Den Preis erhielt jedoch die Person, dessen Kandidatur jene Kampagne motiviert hatte: der exilierte Schriftsteller Juan Ramón Jiménez (1881– 1958). Vgl. die Korrespondenz um den Fall Anna M. Pankratova in AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7704, Exp. 73. Siehe dazu vor allem den Brief Federico Chabods an Mercedes Gaibrois vom 10.11.1955 und den anschließenden Brief von Gabrois an den Außenminister, Alberto Martín Artajo, vom 15.11.1955 sowie die Korrespondenz der Generaldirektion für Kulturelle Beziehung und das Schreiben des spanischen Botschafters an Martín Artajo vom 26.1.1956.  Auch Miquel Marín hat die Bedeutung des Pariser Kongresses (1950) für die Etablierung eines spanischen Historikerverbandes hervorgehoben, der eine Funktion „zwischen diplomatischer Vertretung und fachlicher Strukturierung“ erfüllte. Marín sieht darin jedoch eine erneute „Vereinnahmung“ (mediatización) durch eine Diktatur, die „dennoch“ (no obstante) professionelle

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internationale Geschichtswissenschaft zwischen Ost und West aufwies, waren jedoch nicht nur im engeren Sinne ein politisches Problem. Auch ging man gegenüber der geschichtswissenschaftlichen Forschung der Ostblockstaaten auf deutliche Distanz. Ihre Wahrnehmung als eine vom historischen Materialismus vollends eingenommene Wissenschaft führte nicht nur zu Kritik an den Perspektiven, sondern auch an den thematischen und epochalen Schwerpunkten. In seinem Bericht zum 10. Internationalen Historikerkongress in Rom legte der spanische Botschafter sein Augenmerk fast ausschließlich auf die Tätigkeit der sowjetischen Delegation. José A. de Sangróniz (1895 – 1980) kommentierte die Begegnung wie folgt: „Das Hauptproblem, das die Teilnahme Russlands und seiner Satellitenstaaten aufwarf, lag darin zu wissen, inwiefern sich die Freiheit der historischen Forschung mit den Dogmen des Marxismus versöhnen ließ. Alles in allem kann festgehalten werden, dass es kaum ein historisches Ereignis gibt […], auf das nicht die Kriterien des historischen Materialismus angewendet werden. […] Dies erklärt, weshalb sie [die sowjetischen Historiker] sich vordergründig Epochen revolutionärer Bewegungen ab dem industriellen Zeitalter zuwenden.“⁶¹

Die historisch-materialistischen Zugänge privilegierten in der Wahrnehmung des Botschafters gerade jene Phänomene, bei denen Industrialisierungsprozesse mit Revolutionsphänomenen zusammenfielen, bei denen also das technisch-industrielle Zeitalter die Arbeiterklasse als Protagonisten der Geschichte hervorbrachte. In gewisser Weise privilegierten die „Dogmen des Marxismus“ also jene Epoche, aus der für die national-katholische Geschichtsauslegung wiederum, wenn auch aus anderen Gründen, besondere Gefahren hervorgingen. Dieser „historische Materialismus“ bildete, wie nun gezeigt werden soll, auch für die national-katholischen Historiker eine erste Negativfolie. Die zweite wiederum ging aus einem vage definierten „Positivismus“ hervor.

Historiker den Verband leiten ließ. Dieser Lesart kann entschieden widersprochen werden: Einerseits beweisen die Aktenbestände des Außen- und Erziehungsministeriums, bis zu welchem Punkt die „Vereinnahmung“ nicht von den politischen Sphären, sondern von den Historikerinnern und Historikern selbst ausging. Andererseits liegt dieser Lesart, wie oben erläutert, die Annahme zugrunde, in der das Verhältnis von Politik und Geschichtswissenschaft als „Einmischung“ und nicht, wie hier gezeigt, als Interaktion verstanden wird.Vgl. Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 250 f.  Informe del Embajador de Roma, Marqués de Desio, de 9 de noviembre de 1955, a la Dirección General de Relaciones Culturales (copia del original enviado al Ministro), informando sobre el X Congreso de Ciencias Históricas en Roma, 4 Seiten, AGA, Fondo Educación, (5) 1.016 Leg 20.034 TOP 32, Congresos Internacionales 1952– 1960, S. 3.

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3.4 Negativfolien und Abgrenzungen: Historischer Materialismus und „Positivismus“ Eine differenziertere Interpretation des 10. Internationalen Historikerkongresses legte der Mittelalterhistoriker und Vorstandsmitglied des spanischen Historikerverbands Eloy Benito Ruano (1921– 2014) in den Seiten von Arbor und Hispania vor. In seiner Analyse präsentierte er die „Historiografie des europäischen Ostens“ gleichsam als Negativfolie zur spanischen, die er selbstverständlich der westlichen Geschichtswissenschaft zuordnete. Die „westlichen Historiker [hätten in Rom] die Gelegenheit gehabt, in Kontakt mit der russischen Historiografie und derjenigen der osteuropäischen Länder zu treten.“ Nach Lektüre der Kongressakten stellte der Autor in Bezug auf die sowjetisch beeinflusste Historiografie zunächst eine „Einheitlichkeit […] der Themen, Methoden, Epochen, Doktrinen und in der Ausdrucksweise“ fest, die von einem „marxistisch-leninistischem Glauben“ zeugten. Dieser basiere auf der Annahme, dass es „objektive Gesetzmäßigkeiten [gäbe], welche die Entwicklung der Gesellschaft unabhängig vom Willen und von den Wünschen der Menschen bestimmen.“⁶². Die Geschichte und den Menschen erkläre sie allein aus ihren materiellen Bedürfnissen. Im Hinblick auf die marxistische Geschichtswissenschaft arbeitete Eloy Ruano die sie bestimmenden Merkmale heraus. So sei sie erstens gekennzeichnet durch die „totale Abwesenheit von Monografien zu konkreten Persönlichkeiten, und zwar unabhängig von ihrer historischen Bedeutsamkeit“; zweitens durch das „absolute Übergewicht der Forschungen zu sozialen Revolten“; drittens durch die „bedeutende Anzahl wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Studien“; und viertens durch die „unbestreitbare Vorherrschaft der Studien zur Neuesten Geschichte [historia contemporánea]“.⁶³ Gerade diese vier Charakteristika lassen sich als ein spiegelverkehrtes Bild der spanischen Historiografie zum Zeitpunkt des Kongresses im Jahr 1955 lesen: Die Privilegierung prominenter Figuren als historische Akteure, die Harmonisierung der Nationalgeschichte durch die Fokussierung auf politischreligiöse Einheit und Größe, weitgehende Abwesenheit von sozial- und wirtschaftshistorischen Ansätzen sowie eine eindeutige Vernachlässigung der Neuesten Geschichte Spaniens. Bis auf die Untersuchungen des Rechtshistorikers Ramón Carande (1887– 1986) aus den 1940er Jahren zur Finanzpolitik Karls V. konnte die Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime und vor allem diejenige, die an den Instituten des Consejo betrieben wurde, kaum wirtschafts-

 Eloy Benito Ruano: La historiografía actual en los países del Oriente europeo, in: Arbor 33 (1956), S. 75 – 81, S. 75 und 76.  Ebd., S. 77.

3.4 Negativfolien und Abgrenzungen

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und sozialgeschichtliche Arbeiten vorweisen, die von quantitativen Methoden Gebrauch machten oder das Zeitalter der Industrialisierung und seine sozioökonomischen Begleiterscheinungen problematisierten.⁶⁴ Das 18. und insbesondere das 19. Jahrhundert stellten weiterhin eine dunkle Epoche der außenpolitischen Dekadenz, der Einflussnahme liberalen Gedankenguts, der Bürgerkriege und der national-identitären Zersplitterung dar.⁶⁵ Die klare Abgrenzung gegenüber einer marxistisch inspirierten Historiografie beinhaltete ferner eine weitreichende, aber doch vage artikulierte Skepsis gegenüber materialistischen und strukturalistischen Deutungen. Diese Skepsis erstreckte sich aber auch auf vermeintlich „positivistische“ Herangehensweisen, wie sie von Ibáñez Martín bis zu Vicente Palacio Atard genannt wurden. In seiner Rede bei der Abschlussveranstaltung eines rechtshistorischen Sommerkurses in Burgos im September 1956 referierte der Präsident des Consejo über die „Verantwortung des Wissenschaftlers“. Ibáñez Martíns Sorge galt vor allem jenen Forschern, die sich von der „fast wundertätigen Kraft der Technik“ verblenden ließen und sich „nicht über die mögliche ‚Positivierung‘ ihres Denkens beunruhigt“ zeigten. Dabei erkannte der Redner im „Triumph der positivistischen Methode“ die Gefahren einer „Hypertechnisierung des menschlichen Daseins“, denen er eine „moralische Verantwortung des christlichen Wissenschaftlers“ entgegensetzte.⁶⁶ Gemäß dem herrschenden wissenschaftspolitischen Diskurs waren die „positivistischen Methode“ und die „Hypertechnisierung“ gerade für die Geisteswissenschaften besonders gefährlich, da ihnen in der Hierarchie der Wissenschaften, wie bereits aufgezeigt worden ist, zunehmend die Funktion „geistiger Strebbögen“ zugesprochen wurde. Dementsprechend lässt sich auch ein programmatischer Aufsatz von Palacio Atard im Sommer desselben Jahres als Versuch deuten, eben jener ‚Positivierung‘ auch auf der Ebene der Geschichtswissenschaften zu begegnen. Der Anlass für diesen Aufsatz waren die Feiern zum Andenken an den 100-jährigen Geburtstag von Marcelino Menéndez Pelayo. Palacio Atard, Sekretär der Escuela de Historia Moderna des Consejo, baute darin auf das vermeintliche Vermächtnis dieser zentralen Figur des National-Katholizismus auf, um vor den Gefahren eines vage definierten „Positivismus“ zu warnen: „Derart lautet seine Warnung, damit wir

 Vgl. Ramón Carande: Carlos V y sus banqueros, 3 Bde., Madrid 1943 – 1966 [Bd. 1: 1943, Bd. 2: 1949, Bd. 3: 1966]. Aus einer jüngeren Generation gelten, neben Vicens, vor allem Antonio Domínguez und Felipe Ruiz als Vorreiter wirtschafts- und sozialhistorischer Studien.  Siehe dazu Peiró: Historiadores en España, S. 197 ff.  Rede von José Ibáñez Martín bei der Abschlussveranstaltung am Instituto Histrórico-Jurídico Internacional in Burgos am 2. Sept. 1956, 14. Seiten, hier S. 4, 6 und 12., AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/11589, Documentación de J. Ibanez Martín, Discursos, Informes, fotos.

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Historiker […] den unschätzbaren Wert des Individuum-Mensch [individuo-hombre] gegen die Vereinnahmung durch den Mensch-Zahl [hombre-número] hüten, die der Positivismus anstrebt.“⁶⁷ Palacio Atard ging es darum, auf historiografischer Ebene diesem „positivistischen“ Blick eine „religiöse Anschauung des Lebens“ entgegenzusetzen, aus der ein christlich-konservativer „Individuums“-Begriff hervorging.⁶⁸ Dies würde den Historiker überhaupt erst dazu befähigen, die Geschichte Spaniens verständlich zu machen: „[…] unsere Religiosität – und die von dieser katholischen Religiosität durchtränkte Kultur – kann nur aus einer katholischen Anschauung des Lebens heraus verstanden werden.“⁶⁹ Die Geschichte und die Einheit Spaniens spiegelten sich für den Autor in einer Geschichte der katholischen Spiritualität wider. Daher würden jene Historiker ihr Ziel verfehlen, die den Glauben als Einheitsmoment der Nation ignorierten oder einen historischen Blick entwickelten, der den „individuo-hombre“ als moralisch motivierten Akteur der Geschichte verkannte. Abschließend vermengte der Autor die historischen Deutungslinien des National-Katholizismus mit der Ablehnung jenes „positivismo“ zu einer Art Manifest, den „drei Lektionen für den katholischen Historiker“. Die ersten beiden Weisungen seien die Verteidigung des „universellen Werts der spanischen Kultur“ und die Aufgabe, „die Einheit [der Nation] wiederherzustellen“⁷⁰. Mit diesen beiden Devisen wurde er demnach der Aufgabe gerecht, die den Geisteswissenschaften in der Hierarchie des Consejo zukam.

3.5 Aufbruch in die Moderne? Neue Themen, neue Techniken Die dritte Lektion war ein Kapitel für sich. In ihr setzte Palacio nämlich das Programm fort, das er zusammen mit anderen national-katholischen Intellektuellen Ende der 1940er Jahre initiiert hatte. Man solle sich, so Palacio Atard, das „positive, am Rande der spanischen Kultur angehäufte Erbe des modernen Europas“ aneignen, um nicht einem fehlgeleitetem Traditionalismus zu verfallen.⁷¹ Wie schon Calvo Serer artikulierte hier auch Palacio Atard den Versuch, die national-katholischen Grundsätze mit jenen Errungenschaften zu vereinen, die der

 Vicente Palacio Atard: Menéndez y Pelayo, historiador actual, in: Arbor 34 (1956), S. 427– 445, hier S. 441.  Zu den Parallelitäten zum Individuum- bzw. Persönlichkeitsbegriff im deutschen Konservativismus siehe Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservativismus, S. 131– 137.  Palacio Atard: Menéndez y Pelayo, S. 442.  Ebd., S. 443.  Ebd.

3.5 Aufbruch in die Moderne? Neue Themen, neue Techniken

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Begriff Europa moderna enthielt. Um auch die spanische Geschichtswissenschaft mit der „aktuellen Stunde der spanischen Geschichte“ vereinbaren zu können, müsse man „die Tradition aktuell und ansprechend machen, in einer stets jungen Sprache sprechen […].“⁷² Wie eine solche ‚aktualisierte‘ spanische Geschichtswissenschaft aussah, lässt sich an zwei zentralen Entwicklungen ablesen: Zum einen die zaghafte Annäherung an diejenigen Epochen, die von der Forschung bis Mitte der 1950er Jahren kaum beachtet worden waren – das 18. und das 19 Jahrhundert; zum anderen die Aneignung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektiven, die erstmals vor allem im Hinblick auf die Frage nach dem ‚ökonomischen Niedergang‘ Spaniens angewandt wurden. Anlässlich der Plenarversammlung des Consejo im Jahr 1955, bei der sowohl in den Reden als auch in den Inszenierungen die Frage der Technik und des materiellen Fortschritts in den Vordergrund getreten waren, tagte eine gesonderte „geschichtswissenschaftliche Sektion“, in der unter anderem Cayetano Alcázar, Vicente Palacio Atard und José Ibáñez Martín selbst die Frage nach der Neuesten Geschichte Spaniens auf die Tagesordnung setzten.⁷³ Alcázar eröffnete die Sektion mit einem Vortrag zu den Orígenes de la España Contemporánea, gefolgt von einem Vortrag von Palacio Atard zu „Reform und Revolution“ im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Beide Historiker hoben auf eine Interpretation des 18. Jahrhunderts als Ära der „monarchischen Reformen“ ab und stellten jener Epoche das 19. Jahrhundert als dasjenige der „liberalen Revolutionen“ gegenüber. Bereits in einem frühen Aufsatz zum Despotismo ilustrado español aus dem Jahr 1947 hatte Palacio Atard den Grundstein für jene Interpretation gelegt, die nun an Aktualität gewann. Darin hatte er die These vertreten, dass sich das spanische 18. Jahrhundert vom französischen und preußischen darin unterschied, dass es eine Reformmonarchie hatte hervorbringen können, die sich nicht von den Lehren einer rationalistisch inspirierten Aufklärung vereinnahmen habe lassen. Reformer wie der Marquis von Ensenada (1707– 1781) seien „keineswegs Rationalisten [gewesen], und dennoch erstrebte er [Ensenada] eine Rationalisierung der spanischen Staatsfinanzen.“ Handelswege seien geschaffen, Industriezweige gefördert und eine Rationalisierung der Verwaltung vollzogen worden. Den eigentlichen Nährboden für den Liberalismus stellte für Palacio Atard eine rationalistische, das traditionelle Weltbild radikal umkehrende Aufklärung bereit. Daher habe der „aufgeklärte, von den Aufklärern gesteuerte Absolutismus gezwungenermaßen in der liberalen Revolution münden müssen.“⁷⁴ In der Monarchie Karls III. erkannte

 Ebd., S. 440.  Siehe dazu CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 12 f.  Vicente Palacio Atard: El despotismo ilustrado español, in: Arbor, 8 (1947), S. 27– 52, hier S. 39.

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Palacio Atard hingegen eine vorliberale und dennoch zu Effizienz fähige Ordnung. In dieser Logik stellten erst die Revolutionskriege und die napoleonische Besatzung die von außen kommenden Stimuli dar, die die tradierte Ordnung umstürzten und das Land „verfremdeten“.⁷⁵ Lag der Ursprung der España Moderna in der politischen und territorialen Einigung unter den Katholischen Königen, so musste derjenige der España Contemporánea nicht in den „liberalen Revolutionen“ des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, sondern in der vorrevolutionären Reformmonarchie liegen. Damit kamen Palacio, Alcázar und Suárez Verdaguer mit ihrer Deutung genau der Nachfrage entgegen, die der ebenfalls in diesem Forum anwesende Ibáñez Martín an die Historiker herantrug. Der Präsident des Consejo und Vorsitzende des Patronats Menéndez Pelayo regte nämlich eine von allen Historikern des CSIC erarbeitete Geschichte Spaniens an, deren Ziel „eine objektive und vollständige Revision des 18. Jahrhunderts als Ursprung und Ursache der neuesten Geschichte Spaniens“ sein sollte.⁷⁶ Die Geschichte Spaniens in die Geschichte der Moderne einzuschreiben bedeutete hier, die Fähigkeit zum technisch-industriellen Fortschritt sowie zur rationalen Verwaltung innerhalb einer vorliberalen und katholischen Ordnung zu beweisen. Die zweite zentrale Entwicklung, das Aufkommen wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Ansätze und Fragestellungen im Laufe der 1950er Jahre, war mit eben diesem Versuch, die Geschichte Spaniens in eine technisch-industrielle Moderne einzuschreiben, eng verzahnt. Dabei hatten die wenigsten Historiker bis Mitte der 1950er Jahre ihren Interessensschwerpunkt auf die Wirtschafts- oder Sozialgeschichte Spaniens gelegt.⁷⁷ Im institutionellen Rahmen des Consejo versuchte insbesondere der Sekretär des Instituto Balmes de Sociología, Carmelo Viñas Mey

 Die politische Einflussnahme spanischer Liberaler im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde dabei buchstäblich als Verschwörung gedeutet. So behandelte der Leiter der Escuela de Historia Moderna in Santiago de Compostela, Federico Suárez Verdaguer (1917– 2005), in seinem Vortrag für das Kolloquium des Jahres 1955 die Annäherungen der liberales moderados an Ferdinand VII. unter dem Titel Conspiración de 1826.Vgl. auch Peiró: Historiadores en España, S. 223 f.  CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 12 f. José Ibáñez Martín hatte selbst u. a. Geschichte studiert und noch vor dem Bürgerkrieg einige historische Handbücher verfasst. Zu seiner Biografie siehe die – allerdings hagiografisch motivierte – Monographie von Formentín Iba´n˜ez, Justo/Carrascosa, Alfonso V./Esther Rodri´guez Fraile: Jose´ Iba´n˜ez Martín y la ciencia espan˜ola. El Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid 2015.  Eine Ausnahme stellten die bereits erwähnten Forschungen zur Finanzpolitik der Katholischen Könige und Karls V. von Ramón Carande dar. Da dieser jedoch in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften sozialisiert worden war, verlief seine akademische Karriere abseits der Geschichtslehrstühle. Zu Ramón Carande siehe den entsprechenden Eintrag in Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 160 ff.

3.5 Aufbruch in die Moderne? Neue Themen, neue Techniken

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(1998 – 1990), eine Sozialgeschichte auf der Grundlage sozialkatholischer Lehren zu etablieren. Seine Untersuchungen wurden jedoch von den spanischen Historikern kaum rezipiert.⁷⁸ In einer quantitativen Auswertung der Zeitschrifteninhalte von Hispania für die Jahre 1940 bis 1960 ist in nur 13 von insgesamt mehr als 240 Aufsätzen eine Beschäftigung spanischer Historiker mit sozialgeschichtlichen Themen der Neuzeit nachgewiesen worden.⁷⁹ Auch die Publikation eines programmatischen Aufsatzes des belgischen Mediävisten Charles Verlinden mit dem Titel ¿Qué es la historia social? in der Zeitschrift Arbor im Jahr 1953 erfüllte eher die Funktion einer Fremdstimme, mithilfe derer die Zugänge der „kommunistischen Orthodoxie“ abgelehnt werden konnten.⁸⁰ Die strukturalistischen Ansätze, die der Autor dort nicht nur vorstellte, sondern auch verteidigte, wurden hingegen von der spanischen Historikerzunft nicht aufgegriffen. Erst Mitte des Jahrzehnts wurde im Rahmen der Debatte um den ‚spanischen Niedergang‘ ein neuer Protagonist der spanischen Geschichte entdeckt: Das Bürgertum. Hatte Palacio Atard noch im Jahr 1949 in seinem Essay Niederlage, Schwäche, Dekadenz die Talfahrt der spanischen Geschichte im 17. Jahrhundert im Scheitern eines universalistisch-katholischen Europaprojekts gesehen, so trat nun vor dem Hintergrund des offensichtlichen ökonomischen Aufschwungs, der sich jenseits der Pyrenäen ereignete, zunehmend die Frage nach dem ‚ökonomischen Niedergang‘ in der Langzeitperspektive in den Vordergrund. In einer im Februar 1954 im Madrider Gelehrtenclub Ateneo gehaltenen und über den staatlichen Radiosender übertragenen Vortragsreihe zum Thema „Der ökonomische Niedergang Spaniens“ referierte Manuel Fernández Álvarez (1921– 2010) erstmals über jenen „Prozess des ökonomischen Niedergangs in Spanien aus der Sicht eines Historikers“. Der junge Historiker hatte sich kurz zuvor bei der Madrider Sektion der Escuela de Historia Moderna für eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter beworben, die er wenige Wochen später dank der direkten Fürsprache durch Luis Carrero Blanco bei Albareda auch erhalten sollte.⁸¹ Unter Verweis auf die politik-, rechts- und kulturhistorischen Studien von Sánchez Albornoz, Karl

 Vgl. zu Carmelo Viñas ebd., S. 673 f.  Vgl. María A. Fargas: Análisis del tratamiento de a historia social en la edad moderna a través de la revista ‚Hispania‘, in: Hispania 50 (1990), S. 1059 – 1072.  Verlinden begann seinen Aufsatz mit einer Abgrenzung gegenüber dem, was für ihn Sozialgeschichte nicht sein sollte. Besonders hart ins Gericht ging der Autor mit dem Marx-Engels-Institut für Sozialgeschichte in Moskau, deren Mitarbeiter aufgrund ihrer „marxistischen Orthodoxie“ keinerlei „Qualifikation [aufweisen], historisch zu denken“. Charles Verlinden: ¿Qué es la historia social?, in: Arbor 24 (1953), S. 164– 177, hier S. 166.  Siehe dazu den Briefwechsel zwischen Luís Carrero Blanco, rechte Hand des Staatschefs, und José M. Albareda jeweils vom 3.3. und 5. 3.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/033/154 und 158.

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Vossler und Richard Konetzke bestätigte Fernández Álvarez zunächst das Bild eines spanischen Mittelalters, das in Folge der Reconquista nicht dazu fähig gewesen sei, das Bürgertum als Trägerschicht für wirtschaftliche Entwicklung hervorzubringen: „Während in Europa das Bürgertum außerordentlich erstarkte, so dass es den Königen eine Stütze bieten konnte, [war] die Macht des Adels in Spanien groß und […] das Bürgertum praktisch inexistent.“⁸² Allerdings waren es für den Redner weder die „muslimische Bedrohung“, noch der katholische Glaube, die in dieser Hinsicht das zentrale Hindernis darstellten. Vielmehr sei das christliche Spanien darin gescheitert, eine einheitliche „merkantilistische Politik“ zu etablieren, die an den Interessen des Großadels vorbei den Nährboden für industrielles Gewerbe gelegt hätte. Die „politische Vollkommenheit“ Spaniens am Vorabend der Frühen Neuzeit habe nicht, wie „in Europa“, mit dem Aufkommen eines neuen historischen Protagonisten, dem Bürgertum, koinzidiert.⁸³ Dies habe laut Fernández Álvarez weitreichende Folgen für den „Volkscharakter“ gehabt: „Wir sprechen hier ein schweres Übel an, das letzten Endes den Ursprung allen Fortschritts betrifft […]. Es handelt sich hier um den Charakter eines Volkes, das offensichtlich ebenso ungeeignet ist, den homo industrialis hervorzubringen wie den homo oeconomicus.“⁸⁴ Der Redner griff die Topoi der kulturellen Glanzzeit, des politischen und nun auch ökonomischen Verfalls auf. Nach den Reformversuchen der Bourbonenmonarchie während des 18. Jahrhunderts trat bei Fernández Álvarez, ebenso wie bei Palacio und Suárez Verdaguer, das 19. Jahrhundert als problematische Epoche hervor. Hier sei die Einheit der Nation zerfallen und Spanien daher in den „Rückstand“ versetzt worden: „Es ist der Verlust der Einheit [im 19. Jahrhundert], was unser Vaterland in eine Situation der zunehmenden technischen Unterlegenheit im Vergleich zum Rest des westlichen Europas bringt.“⁸⁵ Der Redner griff damit die Rückstandsdiskurse auf, die Mitte der 1950er Jahre im Umfeld des Consejo dominierten. Aus der „Sicht eines Historikers“ erschien die spanische Wirtschaftsgeschichte als die Geschichte eines Mangels, der sich aus dem Vergleich mit einem idealtypisch imaginierten ‚Europa‘ ergab. Die Industrialisierung wurde auch hier, wie Fernández Álvarez’ Schlusssatz zeigt, zum neuen Indikator nationaler Bedeutsamkeit: „[…] nur die Völker, die sich den Gefahren des technischen Zeitalters stellen, werden dazu fähig sein, ihre Räson bei der Gestaltung der Zukunft durchzusetzen. Die Inangriffnahme der

 Manuel Fernández Álvarez: El proceso de la decadencia económica de España, visto por un historiador, in: De Economía 7 (1954), S. 112– 145, hier S. 117.  Ebd., S. 115, 117 und 119.  Ebd., S. 132.  Ebd., S. 143.

3.5 Aufbruch in die Moderne? Neue Themen, neue Techniken

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industriellen Revolution mit einem geeigneten sozialen System stellt weiterhin das Signum unserer Epoche dar. Das ist es, wonach Spanien strebt; nach dem Urteil dieses Historikers, der zu Euch spricht, ist das das einzige, was weit mehr als nur unsere Wirtschaft wird retten können: Unsere Präsenz in der Geschichte.“⁸⁶

Die Annäherung an die neueste Geschichte Spaniens und die zunehmende Fokussierung der Forschung auf die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Frage der Dekadenz stellten zwei eng miteinander verflochtene Entwicklungen dar, die ihren Ausgang in der Problematisierung der spanischen ‚Rückständigkeit‘ innerhalb einer technisch-industriellen Moderne nahmen. Wie die Forschungsvorhaben zeigen, die innerhalb des Zurita und an den angegliederten Lehrstühlen angegangen wurden, wurden ab Mitte der 1950er Jahre solche Studien häufiger, die die ‚goldenen Jahrhunderte‘ hinter sich ließen und das 18. und 19. Jahrhundert hinsichtlich der Frage nach der administrativen und wirtschaftspolitischen Reformfähigkeit unter dem Blickwinkel der nationalen Einheit untersuchten.⁸⁷ Beispielsweise begann Juan Mercader, der wie Fernández Álvarez als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Madrider Sektion der Escuela de Historia Moderna tätig war, das Katasterwesen und die Verwaltung im 18. Jahrhundert zu untersuchen. José M. Jover, seit 1957 Leiter der Sektion des Jerónimo Zurita in Valencia, verlagerte seine Forschungsinteressen ebenfalls in diese Epoche. Jover verblieb zwar weitgehend in der Kultur- und Politikgeschichte verhaftet. Doch auch er verlieh der Sorge um die Einpassung Spaniens in die „europäische Moderne“ durch Publikationen zur internationalen Politik spanischer Aufklärer Ausdruck. Ferner lenkte er die Forschungsvorhaben seines Mitarbeiters, Álvaro del Castillo, auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Spaniens. Auch der Soziologe Viñas Mey trat spätestens im Jahr 1960 dieser Linie durch ein Projekt bei, das sich mit der „Wirtschaftsgeschichte des spanischen 18. Jahrhunderts und [den] Gründe[n] für den spanischen Niedergang“⁸⁸ beschäftigte. Suárez Verdaguer und Cayetano Alcázar wiederum untersuchten den spanischen Konstitutionalismus und die liberalen „Verschwörungen“ im 19. Jahrhundert, um in ihnen die radikalen Umwälzungsversuche zu erkennen, die Spanien von seiner tradierten sozialen Ordnung und politischen Einheit entfremdet hätten. Nicht zuletzt war es auch hier Vicente Palacio Atard, der im Jahr 1958 von der Sektion in Valladolid aus ein Forschungsprogramm „hauptsächlich zum spanischen 18. Jahrhundert […] und

 Ebd., S. 145.  Vgl. dazu die internen Tätigkeitsberichte des Jerónimo Zurita in ACCHS, Caja 873, Carpeta 34/2.  So der Titel des Projektantrags für die Fundación Juan March. Siehe dazu den Eintrag zu Carmelo Viñas Mey in Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 673 f.

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insbesondere zur politischen und auch kulturellen Ordnungspolitik in Spanien“⁸⁹ entwickelte. Die Forschungsvorhaben und Publikationen, die dieser Bewegung hin zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 18. und der Politikgeschichte des 19. Jahrhunderts entsprangen, waren in ihren methodischen Zugängen keinesfalls identisch. Während José M. Jover die Arbeit und den akademischen Lebenslauf von Álvaro del Castillo beispielsweise entschieden an der französischen AnnalesSchule und insbesondere auf das Umfeld Fernand Braudels ausrichtete, blieben Fernández Álvarez und Suárez Verdaguer strukturalistisch inspirierten Ansätzen stets fern. Carmelo Viñas Mey und Vicente Palacio näherten sich ebenfalls den Forschungsschwerpunkten und teilweise auch den methodischen Zugängen, die aus der VI. Sektion der Ecole Pratique des Hautes Etudes kamen und in denen sie, trotz aller Vorbehalte, spätestens seit dem Historikerkongress in Rom (1955) eine unausweichliche Neuerscheinung innerhalb der europäischen Forschungslandschaft erkannten. So ließ Viñas im Jahr 1959 in der von seinem Institut herausgegebenen Zeitschrift den berühmten Aufsatz Braudels Histoire et sciences sociales. La longue durée drucken, auch wenn sich der weiterhin auf die Geschichte der katholischen Soziallehre spezialisierte Soziologe die darin formulierten Postulate nicht aneignete.⁹⁰ Ferner trat Palacio Atard mit einer im Jahr 1960 erschienenen Studie zum kastilischen Handel und zum Hafen von Santander im 18. Jahrhundert hervor. In ihr vermengte er in Anlehnung an die Arbeiten von Henry Lapeyre zum spanischen Wollhandel unter Philipp II. quantitative Auswertungen von Handels- und Produktionsvolumina mit einer Sozial- und Rechtsgeschichte der kastilischen Wirtschaftspolitik.⁹¹ Die sich hier abzeichnende Orientierung dieser und weiterer spanischer Historiker an die neue französische Wirtschafts- und Sozialgeschichte der ‚Annales‘ seit den späten 1950ern darf allerdings nicht als bloße ‚Rezeption‘ beschrieben werden. Wie in der Fallstudie zu Jaume Vicens deutlich werden wird, handelte es sich bei jener Neuausrichtung um einen komplexen Prozess, in dem

 Siehe dazu den Tätigkeitsbericht in der Memoria del Patronato Menéndez Pelayo, Mayo 1959, o.S., ACCHS, Caja 984/Documentos varios.  Vgl. Fernand Braudel: Historie et sciences sociales. La longue durée, in: Revista Internacional de Sociología 18, 70 (1960), S. 197– 214, und 18, 71 (1960), S. 357– 371. Das Original war zwei Jahre zuvor erschienen. Vgl. ders.: Historie et sciences sociales. La longue durée, in: Annales ESC 13, 4 (1958), S. 725 – 753.  Vgl. Vicente Palacio Atard: El comercio de castilla y el puerto de Santander en el siglo XVIII. Notas para su estudio, Madrid 1960, und Henry Lapeyre: Une Famille de marchands: Les Ruiz. Contribution a l’étude du commerce entre la France et L’espagne au temps de Philippe II, Paris 1955.

3.6 Narrative Hürden, ambivalente Signale und kein Geld

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es um weit mehr als nur um die Aneignung von Themenschwerpunkten und Methoden ging. Hinsichtlich der zuletzt genannten Untersuchung von Palacio Atard lässt sich an dieser Stelle feststellen, dass der Autor in ihr einen defensiven, doch symptomatischen Versuch startete, die spanische Geschichte auf zweifache Weise in die ‚Moderne‘ einzuschreiben: Auf inhaltlicher Ebene legte er den Schwerpunkt auf ein Jahrhundert und eine Region, in der das „beispielhafte Zeugnis eines wachsenden Bürgertums [zu finden war], das der fiebrigen Geschäftstätigkeit nachging, ohne dabei dem Wert einer adligen Abstammung den Rücken zuzukehren, die die höchste Auszeichnung der damaligen Gesellschaften war.“⁹² Insofern fand Palacio Atard in den frühen Manufakturen Kastiliens ein historisches Vorbild, das die Möglichkeit eines technisch-industriellen Bürgertums in einer vorliberalen Ordnung offenbarte. Auf methodischer Ebene und bei der Wahl seines Gegenstands trat Palacio ferner in den Windschatten der bedeutenden Reihe ports-routes-trafics, in der unter anderem Huguette und Pierre Chaunu fünf Jahre zuvor begonnen hatten, ihr Großprojekt zum Hafen von Sevilla zu publizieren.⁹³ Im Gegensatz zu den strukturalistischen Ansätzen, die diese von Braudel initiierte Reihe inspiriert hatten, betonte Palacio Atard explizit den Vorbildcharakter seiner historischen, frei und moralisch agierenden Akteure. In seinem bereits zitierten programmatischen Aufsatz des Jahres 1956 hatte er sein Unbehagen gegenüber „positivistischen“, aus seinem Verständnis heraus insbesondere quantitativen und materialistischen Ansätzen geäußert. Zugleich aber hatte er die „katholischen Historiker“ dazu aufgefordert, stets „eine junge Sprache zu sprechen.“ Daher kann diese vier Jahre später erschienene Publikation als Versuch gedeutet werden, an die Geschichte Spaniens in der Moderne mit ‚modernen‘ Mittel heranzutreten und dabei die Frage nach dem „ökonomischen Niedergang“ anzugehen, ohne auf den Vorbildcharakter einer vorliberalen Ordnung zu verzichten.

3.6 Narrative Hürden, ambivalente Signale und kein Geld für die (Geschichts)Wissenschaft Diese soeben nachgezeichnete Entwicklung stieß jedoch auf drei wesentliche Hindernisse, die dem historiografischen ‚Aufbruch in die Moderne‘ einen defensiven Charakter verliehen und seinen Impetus schwächten. Ein erstes Problem lag  Palacio Atard: El comercio de castilla y el puerto de Santander en el siglo XVIII, S. 16.  Vgl. Huguette Chaunu/Pierre Chaunu: Séville et l’Atlantique (1504– 1650), 12 Bde., Paris 1955 – 1960 (Ports, routes, trafics 6). In der von Braudel initiierten Reihe erschienen zwischen 1951 und 1969 insgesamt 28 Forschungsarbeiten.

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zunächst darin begründet, dass die noch kurz zuvor vertretene Deutung eines spanischen und katholischen ‚Sonderwegs‘ die technisch-industrielle Moderne noch als Teil eines europäischen ‚Irrwegs‘ betrachtet hatte. Die Frage nach der ökonomischen decadencia wertete hingegen einen Fortschrittsbegriff auf, in dem die so oft gepriesenen ‚goldenen Jahrhunderte‘ der Nationalgeschichte unverhofft zum Problem wurden. Noch Anfang der 1950er Jahre war die Epoche imperialer Glanzzeit und katholischer Spiritualität als historisches Reservoir für die Legitimierung eines katholischen Weges abseits der ‚europäischen Moderne‘ verwendet worden. Nur wenige Jahre später konnte dasselbe Zeitalter kaum noch Vorbilder für einen neuen Modernediskurs liefern, in dem die spanische „Präsenz in der Geschichte“ von der Teilhabe an technischem und industriellem Fortschritt abhängig gemacht wurde. Insbesondere in den 1960er Jahren sollte immer deutlicher zutage treten, dass die national-katholische Geschichtsauslegung, wie sie sowohl in der spanischen Geschichtswissenschaft als auch im symbolischen Aufbau des Consejo zu finden war, für die Legitimierung des neuen Kurses unbrauchbar geworden war. Ferner war aber auch die Aneignung ‚moderner‘ und daher ‚fremder‘ Methoden der Geschichtswissenschaft insofern ein Problem, als die Vorbehalte gegenüber einem vage definierten „Positivismus“ und dem historischen Materialismus zu groß waren, um unmittelbar auf eine quantitative und womöglich auch strukturalistisch beeinflusste Wirtschafts- und Sozialgeschichte umzuschwenken. Ein zweites, externes Hindernis stellten die Signale dar, die die Wissenschaftspolitik aussandte. Die Wissenschaftsdiskurse im Umfeld des Consejo bekräftigten die Rolle der Geisteswissenschaften als „geistige Strebbögen“ im Wettlauf um den technisch-industriellen ‚Fortschritt‘. In seiner Rede vor einer Gesandtschaft der UNESCO, die Spanien im Jahr 1955 besuchte, unterstrich Ibáñez Martín erneut jene Prinzipien des zentralen spanischen Wissenschaftsorgans, die er auch in dessen Plenarversammlungen und während der darauffolgenden Jahre hochhielt: „Unser Consejo war hinsichtlich des immer wieder debattierten Problems des ‚cutural lag‘, und das heißt des Problems, das die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf den Geist der Gemeinschaften zeitigen, darum bemüht, sich nicht ausschließlich auf die Pflege des Wissens über die Natur zu stürzen. Während wir den Naturwissenschaften höchste Bedeutung beigemessen haben, haben wir zugleich die Geisteswissenschaften nicht vernachlässigt, da wir wissen, dass eine Technik ohne Kultur auf lange Sicht nur eine deformierte Gesellschaft hervorbringen kann.“⁹⁴

 Rede von Ibáñez Martín vor der Gesandschaft der UNESCO am 19.10.1955, 16 Seiten, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/11589, S. 5. Zum Besuch der UNESCO-Gesandtschaft siehe Vida Cultual, ABC, 20.10.1955, S. 48.

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Das Problem des „cultural lag“, das der Vorsitzende des Consejo bemerkenswerterweise und vor seinen internationalen Zuhörern auf Englisch ansprach, wurde hier zu einem Argument, um den spanischen Geisteswissenschaften die Rolle des Garanten von „Kultur“ zuzuweisen. Vor dem Hintergrund der analysierten Technikdiskurse beinhaltete der Begriff der „Kultur“ insbesondere die Vorstellungen von katholischer Spiritualität und nationalem organischen Zusammenhalt. Die Geisteswissenschaften wurden zu den Hüterinnen einer spanischen, christlichen und daher universellen Kultur, die ihr Wesen dem nationalkatholischen ‚Sonderweg‘ zu verdanken hatte. In diesem Sinne hob Ibáñez Martín vor den internationalen Gästen insbesondere das Patronato Menéndez Pelayo hervor, das auch die historischen Institute beherbergte und „dessen Rück- oder Stillstand schwere Störungen in der geistigen Gesundheit eines Landes verursachen würde, das derzeit eine Krise technischen Wachstums durchlebt.“⁹⁵ Welchen „Rück- oder Stillstand“ der Vorsitzende des Consejo befürchtete, verdeutlichte er unmittelbar danach durch die Aufzählung der für ihn größten Errungenschaften des geisteswissenschaftlichen Patronatos – darunter und an prominenter Stelle die Gesamtausgabe der Schriften von Menéndez Pelayo und die Biblioteca Reyes Católicos. Die Privilegierung einer zugleich gefahrvollen „Technik“ forderte demnach die Geisteswissenschaften und damit auch die Geschichtswissenschaft dazu auf, dem bedrohlichen „Stillstand“ durch das Beharren auf den nationalkatholischen Perspektiven zu begegnen. Das Signal, das sowohl hier wie auch in den Plenarversammlungen von der Wissenschaftspolitik ausging, stand jedoch in einem Spannungsverhältnis zu der Aufforderung, die Ibáñez Martín im selben Jahr an die Historiker herantrug: sich auf das 18. Jahrhundert als Ursprungsepoche der neuesten Geschichte Spaniens zuzubewegen und damit in gewisser Weise auf historischer Ebene an die Diskurse anzuknüpfen, die das Verhältnis zur technisch-industriellen Moderne problematisierten. Zwar lag in der Überlappung dieser beiden Signale – der Beharrung und des Fortschreitens – kein unmittelbarer Widerspruch. Dennoch mündeten sie in einer Ambivalenz, die sich nicht ohne weiteres aufheben ließ: Dem Hinüberretten einer national-katholischen Auslegung der spanischen Geschichte im Zuge des Aufbruchs in ein Zeitalter, das von eben dieser Auslegung noch kurz zuvor als Irrweg gedeutet worden war. Ein drittes Hindernis ging allerdings über die Diskursebene hinaus, denn es bezog sich auf die materiellen Aspekte der geschichtswissenschaftlichen Produktion und den institutionellen Zusammenhalt des Zurita. Eine Privilegierung der Technik im Zeichen des materiellen Fortschritts erfordere, so die Devise, eine Stärkung des geisteswissenschaftlichen Gegengewichts. Wie sich am Beispiel der

 Ebd, S. 7.

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entsprechenden Institute des Consejo zeigen lässt, trat jedoch genau das Gegenteil ein. Die Haushaltsauflistungen und die Geschäftskorrespondenz des CSIC geben vielmehr darüber Aufschluss, wie stark die finanzielle Gewichtung des Patronato Menéndez Pelayo und des Jerónimo Zurita bis Ende der 1950er Jahre abnehmen sollte. Stellten im Jahr 1943 die Zuwendungen an dieses geisteswissenschaftliche Patronato noch knapp ein Fünftel des gesamten Budgets für den CISC dar, so lagen bereits im Jahr 1950 diese Zahlen in einem Verhältnis von 1:14. Die wachsende Privilegierung der natur- und ingenieurswissenschaftlichen Patronatos, die sich zunehmend auch in den finanziellen Mitteln niederschlug, verschlechterten die Bilanz des Menéndez Pelayo (weniger als 6 % des Gesamtbudgets im Jahr 1955) zusehends und hatten für das Patronat Jerónimo Zurita geradezu verheerende Folgen.Während der Consejo zwischen 1949 und 1955 seinen nominellen Haushalt in absoluten Zahlen fast verdoppeln konnte, nahmen die Mittel, die dem Historischen Institut im selben Zeitraum jährlich für Personal- und Publikationskosten zur Verfügung standen, von 800 000 auf 750 000 Peseten ab.⁹⁶ Neben der prozentuellen Benachteiligung war diese Stagnation vor allem in absoluten Zahlen dramatisch. Bei durchschnittlichen Inflationsraten von jährlich 14 % zwischen 1941 und 1951 und 6,7 % zwischen 1951 und 1958 bedeutete der finanzielle Stillstand eine deutliche Abnahme der Publikations- und insbesondere der Entlohnungsmöglichkeiten.⁹⁷ Die Löhne für Direktoren, Vizedirektoren, Sekretäre, Sektionsleiter, wissenschaftliche Mitarbeiter auf Voll- und Teilzeit sowie studentische Mitarbeiter blieben über diesen Zeitraum praktisch unverändert, was jene Bezüge immer mehr zu einem bloßen Zusatzverdienst degradierte.⁹⁸ So verdiente ein Sektionsleiter im Jahr 1955 7000 und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter auf Teilzeit 5000 Peseten. Dies entsprach in etwa den jährlichen Einkünften eines unter dem Existenzminimum lebenden Industriearbeiters.⁹⁹ Für die studentischen Mitarbeiter, meist Doktoranden, wurden lediglich 3000 Peseten ausbezahlt.

 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Haushaltsangaben der Jahresberichte von 1943, 1949 und 1955.  Vgl. Manuel-Jesús González González: La economía política del franquismo (1940 – 1970). Dirigismo, mercado y planificación, Madrid 1979, S. 36 – 40.  Bis auf die Hilfskräfte und die wissenschaftlichen Mitarbeiter auf Vollzeit bezog das Personal des Consejo sein Gehalt aus den Stellen, die sie in der Regel in den Universitäten innehatten.  Wie die Historikern Margarita Vilar gezeigt hat, lassen die mangelnden und mangelhaften staatlichen Statistiken jener Jahre nur stark eingeschränkte Aussagen zu den Reallöhnen zu. Für einen männlichen, qualifizierten Industriearbeiter berechnet Vilar ein Tageslohn von 25 Peseten für das Jahr 1955. Auf das Jahr hochgerechnet entspricht dies allein bei einer fünf-Tage-Woche in etwa der Entlohnung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters auf Teilzeit. Vgl. Margarita Vilar Rodríguez: La ruptura posbélica a través del comportamiento de los salarios industriales. Nueva evidencia cuantitativa (1908 – 1963), in: Revista de Historia Industrial 25 (2004), S. 81– 121. Zum

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Dieser Notstand betraf nicht allein die Geistes- oder Geschichtswissenschaft, doch er wirkte sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit besonderer Schwere auf sie aus. In einem Bericht aus dem Jahr 1955 drängte der Vizesekretär des Consejo gegenüber dem Erziehungsministerium zu einer Aufstockung des Gesamtbudgets für die folgenden zwei Jahre. Die Inflation habe, so José Royo, die real zur Verfügung stehende Zahlkraft des Consejo allein zwischen den Jahren 1952 und 1955 um 25 % verringert. Die Löhne würden stagnieren. Die Devisenknappheit und die ungünstigen Wechselkurse verhinderten den Import dringend notwendiger Laboranlagen. Sogar die steigenden Druckkosten lähmten die Publikation vieler Arbeiten, darunter auch solcher, die mit dem Francisco FrancoPreis geehrt worden waren.¹⁰⁰ Der Consejo müsste, wie José Royo vorrechnete, wenn er ein „lebendiger und nicht statischer Organismus“¹⁰¹ sein wolle, seinen Haushalt mindestens verdoppeln. Gleichzeitig offenbare der Vergleich mit den Forschungsbudgets in den USA, Westdeutschland, Großbritannien, Frankreich und auch in der Sowjetunion, dass Spanien sich selbst in diesem Fall weiterhin in einem krassen Rückstand befinden würde. Ein besonderes Augenmerk legte der Autor auf die natur- und ingenieurswissenschaftlichen Institute, die nicht weniger als die geisteswissenschaftlichen unter chronischer Unterfinanzierung litten, die nichtsdestotrotz aber für die Wissenschaftspolitik nun an erster Stelle standen. Dem Patronato Menéndez Pelayo schenkte Royo indes nur wenig Aufmerksamkeit. Aus dem Aufgabenbereich des Zurita hob er lediglich die „Herausgabe einer Allgemeinen Geschichte Spaniens“ hervor, die „ein Monumentalwerk [darstelle], dessen Publikation offensichtlich gefördert werden“ müsste.¹⁰² Dennoch drückte Royo in seiner Einleitung durchaus seine Sorge um die „derart traditionellen spanischen Disziplinen“ aus: „Wenn die Forschungseinheiten bereit stehen und die Mittel zur Veröffentlichung ihrer Arbeit fehlen, dann gleicht ein nicht publiziertes Werk einem maximalen Arbeitsstillstand; die alternden Manuskripte halten die Arbeit auf und es ist unwirtschaftlich, eine Forschungseinrichtung zu untererhalten, die nicht die Früchte ihrer Produktion hervorbringen kann. Es

allgemeinen Anstieg der Lebenshaltungskosten bei gleichzeitiger Abnahme der Reallöhne am Beispiel der Industrie siehe Walther L. Bernecker: Gewerkschaftsbewegung und Staatssyndikalismus in Spanien. Quellen und Materialien zu den Arbeitsbeziehungen 1936 – 1980, Frankfurt/ New York 1985, S. 100 f.  Memoria sobre el presupuesto del Consejo Superior de Investigaciones Científicas 1956/1957, mit 16 Seiten Haushaltsauflistung und 17 Seiten Erläuterung, am 28.4.1955 von José Royo an das Erziehungsministerium versendet, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/8811, S. 6 (Erläuterungen).  Ebd., S. 2 (Erläuterungen).  Ebd, S. 4 (Erläuterungen).

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gibt also eine ökonomischen Schwelle, unterhalb derer es besser wäre, jene Einrichtungen zu schließen.“¹⁰³

Um vor allem die Stagnation in der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung zu vermeiden, beantragte die Direktion des Consejo eine Aufstockung des Budgets von 108 auf 182, für das Patronato Menéndez Pelayo sogar eine Verdopplung von 7,65 auf 14 Millionen Peseten. Wie die Haushalte für die Jahre 1956 und 1957 jedoch zeigen, wurden die Erwartungen des zentralen Organs der spanischen Wissenschaft bitter enttäuscht. Das Gesamtbudget stieg lediglich auf etwa 121 Millionen. Inmitten einer gravierenden Finanzkrise des Franco-Regimes, die es Mitte der 1950er Jahre an den Rand eines Staatsbankrotts brachte, mussten alle Patronatos mit deutlich weniger Mitteln auskommen. Das durch andere Stellen zusätzlich finanzierte Juan de la Cierva hatte dabei noch die geringsten Einbußen zu verzeichnen.¹⁰⁴ Das Patronat Menéndez Pelayo hingegen erhielt statt den vorgesehenen 14 lediglich 9,15 Millionen Peseten. Übersetzt auf das Jerónimo Zurita bedeutete dieser Einschnitt einen Aufschlag von 250 000 Peseten auf ein Budget, das obendrein bis ins Jahr 1960 unverändert blieb.¹⁰⁵ Diese finanzielle Notlage führte zu einer Konkurrenzsituation zwischen den Instituten des Menéndez Pelayo, wobei die Leitung des Jerónimo Zurita gerade in der Behandlung ihres Instituts eine besondere Benachteiligung erkannte. Bereits im Februar 1953 richteten Antonio de la Torre und Cayetano Alcázar einen zweiseitigen Brief an Ibáñez Martín, in dem sie die Situation der Escuela de Estudios Medievales und der Escuela de Historia Moderna im Vergleich zu den anderen Instituten offen anklagten. Sie forderten darin eine Angleichung der Budgets, zumal andere Institutos aufgrund ihres zahlenmäßig geringeren Personals über mehr Geld für Löhne und für Publikationen verfügten. Sie beteuerten aber auch, dass „das Institut Jerónimo Zurita seit seinem Bestehen keinerlei Auflösungserscheinungen ausgesetzt gewesen [war]: selbst die Escuelas Medieval und Moderna haben die Einheit des Instituts nicht aufgebrochen.“¹⁰⁶ Das Argument der Einheit war an dieser Stelle deswegen bedeutsam, da es an das Prinzip des institutionellen Zusammenhalts des Consejo erinnerte und zugleich solche Institutos anklagte, die sich administrativ aufgespalten hatten, um mehr finanzielle Mittel zu

 Ebd.  Vgl. zu die Einkommensquellen des technischen Forschungsinstituts López: El Patronato ‚Juan de la Cierva‘, II parte, S. 20 f.  Vgl. die Haushalte in den Memorias 1955 – 1957, 1958, 1959 und 1960.  Brief von Cayetano Alcázar und Antonio de la Torre an José Ibáñez Martín vom 9. 3.1953, ACCHS, Caja 14, Presupuestos Zurita.

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erhalten.¹⁰⁷ Doch nicht nur die Einheit des Zurita, sondern auch seine Größe waren zum Problem geworden: Wie dieselben Autoren auch ein Jahr später vorrechneten, hatte die Umwandlung einstiger Sektionen in offizielle Institute dazu geführt, dass das Pro-Kopf-Budget der philologischen, musikwissenschaftlichen oder archäologischen Institute dasjenige des Zurita um das zwei-, drei- oder sogar vierfache überstieg.¹⁰⁸ Während also manche Forschungseinrichtungen mit deutlich weniger als zwanzig Mitarbeitern den Status und die Finanzierungsmöglichkeiten eines Instituto genossen, verfügte das Zurita im Jahr 1954 über 71 dauerhaft besetzte Stellen, die über die stagnierenden Mittel eines einzigen Instituts bezahlt werden mussten. Wie die fortdauernde Korrespondenz zeigt, sollte auch das Zurita zwei Jahre später den Weg der Trennung gehen. So empfahl seine Direktion dem Vizesekretär des Consejo schließlich im Dezember 1955, für die kommenden Budgetierungen die beiden Escuelas neben dem Jerónimo Zurita als drei unabhängige Institute zu führen, so dass „die widernatürliche Situation ein Ende hat, die darin besteht, dass unser Institut das am schlechtesten behandelte innerhalb des Patronato Menéndez Pelayo ist.“¹⁰⁹ Die administrative Aufsplitterung des historischen Instituts innerhalb des Consejo spiegelte jedoch nicht nur seine finanzielle Notlage wider. Ein interner Geschäftsbericht des Zurita für das Jahr 1960 ließ die Entwicklung der Institution Revue passieren, um festzustellen, dass ihre unterschiedlichen Escuelas und Sektionen in den letzten zehn Jahren zunehmend „wie getrennte Einrichtungen agierten, wobei sie eigentlich Teil ein und desselben Ganzen sind.“¹¹⁰ Diese Desintegration eines ursprünglich als Einheit konzipierten historischen Instituts führte auf Initiative von Ibáñez Martín im Jahr 1959 zu einer Neuorganisation des Zurita, das von nun an die beiden Escuelas und die Biblioteca Reyes Católicos „in einer einzigen Körperschaft [vereinen sollte], die mit Einheitscharakter funktioniert und einem einzigen Leitgremium untersteht.“¹¹¹ Die Zusammenführung des Zurita war jedoch nicht minder problematisch. Die verlorene Einheit wieder herzustellen bedeutete nämlich auch, die sowohl administrativ, als auch in ihren Forschungstätigkeiten unabhängig voneinander operierenden Teile einer einzigen Leitung zu unterstellen. Dies konnte die akademische Position vergleichbar junger Historiker wie Palacio Atard nur verschlechtern, da ein altersbedingtes Abtreten von den Führungspositionen im Consejo weder vorgeschrieben noch

 Beispielsweise ging aus dem Philologischen Institut Antonio de Nebrija das Miguel de Cervantes hervor. Siehe dazu die Ausführungen der Leiter des Zurita in ebd.  Siehe dazu die entsprechenden Berichte in ACCHS, Caja 873, Carpeta 34/2.  Brief von Antonio de la Torre an José Royo vom 17.12.1955, ebd.  Instituto Jerónimo Zurita, Memoria 1960, 10 Seiten, hier S. 1, ACCHS, Caja 834.  Ebd.

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3 Aufbruch in die Moderne?

üblich war. So geriet Antonio de la Torre, im Alter von 81 Jahre dienstältester Direktor, an die Spitze des neuen Zurita, Antonio Rumeu (1912– 2006) aus der Escuela de Historia Moderna übernahm die Vizedirektion und einer der engsten Mitarbeiter von de la Torre, Luis Vázquez de Parga (1908 – 1994) die Stelle als Sekretär. Für Palacio Atard bedeutete dies, in der akademischen Leiter vom Sekretär zum Vizesekretär abzusteigen. Allerdings störte sich der fast 40-jährige Historiker nicht vordergründig an der Herabstufung, sondern vielmehr an der autoritären Art und Weise, wie diese vollzogen worden war. Im November 1959 reichte er daher bei Albareda und Ibáñez Martín sein Rücktrittsgesuch aus dem Jerónimo Zurita ein. Darin erklärte er nicht nur die Gründe, die ihn dazu bewogen hatten, auszuscheiden. Er rechnete vielmehr in deutlichen Worten mit einem historischen Institut ab, das er für tot erklärte: „Lieber Don José: Als ich unversehens erfahren habe, dass ich zum Vizesekretär des Instituto Jerónimo Zurita ernannt worden bin, war ich überrascht und erstaunt, da man mich zuvor weder über etwaige, mich direkt betreffende Personalwechsel informiert, noch um Zustimmung für meine Versetzung auf den neuen Posten gefragt hat. Sie werden verstehen, werter Don José, dass es schmerzlich ist, sich wie ein Untergebener behandelt zu wissen, da über meine Stelle und mein Gehalt im Consejo verfügt wird, ohne mich vorab in Kenntnis zu setzten. Eine derartige Rücksichtslosigkeit verschleiert zweifelsohne nur die Absicht des neuen Direktor des Instituto Jerónimo Zurita, auf meine Mitarbeit zu verzichten; und da ich kein Hindernis für die Wiederbelebungspläne sein will, die Herr Latorre [sic!] für dieses Institut ersonnen haben mag, und aus Hochachtung vor seinen achtzig Jahren, sehe ich mich dazu veranlasst, die mir zugeteilte Ernennung nicht anzunehmen.“¹¹²

In deutlich düstereren Tönen fuhr Palacio Atard mit seiner an Albareda gerichteten Beschwerde fort: „Sie werden sich vorstellen können, dass ich das Zurita nicht ohne Trauer verlasse, nachdem ich ihm 17 Jahre lang angehört habe, obwohl es 17 Jahre voller Hoffnungen waren, die zum großen Teil enttäuscht wurden. Im Übrigen glaube ich, dass es unter der Grabplatte von Herrn Latorre [sic!] unmöglich sein wird, die Leiche des Instituts wiederzubeleben.“¹¹³ Die Schärfe der Worte, mit denen Palacio Atard die Leitung von de la Torre attackierte und den Zustand des Zurita beklagte, unterstrichen seine Enttäuschung über ein geschichtswissenschaftliches Institut, das ihn personalpolitisch zu übergehen schien. Seine Abrechnung zeugte jedoch auch von der Desillusionierung eines spanischen Neuzeithistorikers, der die Entwicklung des Zurita seit Beginn seiner Karriere miterlebt hatte: Von der anfänglichen Privilegierung der  Dieser Auszug aus dem Brief an José Ibáñez Martín ist im Brief an José M. Albareda enthalten, Brief von Vicente Palacio an José M. Albareda vom 10.11.1959, AGUN, Fondo Albareda, 006/044/394.  Ebd.

3.6 Narrative Hürden, ambivalente Signale und kein Geld

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Geisteswissenschaften über die Stunde der national-katholischen Historiker an der Wende von den 1940er zu den 1950er Jahre bis zur symbolischen, diskursiven und finanziellen Entwertung der Geschichtswissenschaft insbesondere seit der Mitte der 1950er Jahre. Zwar brachte Palacio Atard in seinem Brief an Albareda und Ibáñez Martín die finanzielle Schieflage nicht zu Sprache. Die Krankheitssymptome der „Leiche“ des Zurita, wie Palacio Atard sie genannt hatte, lagen jedoch offen: Keines der geplanten Großprojekte für eine Geschichte Spaniens in der Neuzeit – weder das von Calvo Serer Anfang der 1950er Jahre initiierte noch das von Ibáñez Martín im Jahr 1955 angeregte – waren realisiert worden. Die chronische Unterfinanzierung des Zurita setzte sich ferner über die administrative Aufteilung fort, so dass sein Gesamtbudget bis Ende des Jahrzehnts und trotz andauernder Inflation nur um wenige hunderttausende Peseten aufgestockt worden war. Für Publikationen, angemessene Entlohnungen oder Bücherkäufe, zumal wenn sie aus dem Ausland kamen, standen damit im Vergleich zu zehn Jahren zuvor nicht mehr, sondern drastisch weniger Mittel zur Verfügung. Das zentrale historische Institut des CSIC stand zum Zeitpunkt des Rücktritts von Palacio Atard also genau an dem bedrohlichen Punkt, den Royo in seinem Bericht als „ökonomische Schwelle“ bezeichnet hatte.

II Neue Projekte – neue Narrative: Jaume Vicens und die Escola de Barcelona in den 1950er Jahren

1 Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Forschungen und Deutungen zu Jaume Vicens Am Vormittag des 18. November 2010 fand im Plenarsaal des Consejo Superior de Investigaciones Científicas eine bemerkenswerte Gedenkfeier statt. Unter dem Vorsitz von König Juan Carlos I. und der Schirmherrschaft der spanischen Kultusministerin, des Bildungsministers, des Wissenschaftsministers, der katalanischen Regierung, mehrerer Bürgermeister, verschiedener Universitätsrektoren, des Präsidenten des Consejo und weiterer Honoratioren aus Politik und Gesellschaft wurde ein Jubiläumsjahr feierlich abgeschlossen, das einen fünfzig Jahre zuvor verstorbenen katalanischen Historiker ins erinnerungspolitische Rampenlicht stellte: Jaume Vicens Vives. Das „Año Vicens Vives“, wie die Veranstalter das Gedenkjahr getauft hatten, war in seiner Größenordnung und in seinem Ausmaß nur schwer zu übertreffen.¹ Zunächst hatte man eine großangelegte Wanderausstellung organisiert, die mit einer Auswahl seiner Publikationen, Briefe, Fotografien und Zeichnungen die für seine Biografie relevanten Orte bereiste: Von seiner Geburtsstadt Girona und seinem Ferienort Roses über die andalusische Kleinstadt Baeza, wohin er nach dem Bürgerkrieg kurzzeitig als Schullehrer versetzt wurde, weiter zu den Universitätsstädten Zaragoza und insbesondere Barcelona, wo er zunächst studiert und schließlich den Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit innegehabt hatte, bis nach Sevilla, Valencia und Madrid, deren akademische Eliten Zeit seines Lebens wichtige Bezugspunkte gewesen waren.² Sogar an der Pariser Sorbonne und der University of Yale fanden Gedenkveranstaltungen statt, auf denen die internationale Dimension eines Historikers erinnerungspolitisch inszeniert wurde, der die zentralen Jahre seiner wissenschaftlichen und intellektuellen Karriere im Spanien der 1940er und 1950er verbracht hatte.³ Wissenschaftliche Tagungen und die Neuherausgabe seiner Studien zu Ferdinand

 Eine Übersicht über die offiziell zum Año Vicens Vives gehörenden Veranstaltungen kann eingesehen werden in http://www.aehe.net/vicensvives.html [Stand: 30.6. 2017]. Zum Vorsitz des Königs Juan Carlos I siehe das Protokoll des Königshauses in http://www.casareal.es/ES/actividades/Paginas/actividades_actividades_detalle.aspx?data=8582 [Stand: 30.6. 2017].  Die Artikel der Tagespresse zu den einzelnen Ausstellungen lassen sich in folgendem von der Universitat Autònoma de Barcelona erstellten Pressedossier einsehen: http://pagines.uab.cat/ anyvicensvives/es/content/noticias-0 [Stand. 30.6. 2017].  So hielt am 19. 3. 2010 das Centre d’Études Catalanes de l’Université Paris-Sorbonne eine „Tableronde en Hommage à Jaume Vicens i Vives“. Ferner fand am 6.11. desselben Jahren in der Hall of Graduate Studies der Yale University ein round table mit dem Titel „A New History for a new country. A celebration of J. Vicens Vives“ statt. Vgl. http://pagines.uab.cat/anyvicensvives/es/ content/actos-universitarios-y-académicos [Stand: 30.6. 2017]. https://doi.org/10.1515/9783110532227-008

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II. von Aragon, zum katalanischen Bürgertum im 19. Jahrhundert sowie seiner Handbücher zur spanischen Geschichte und zur katalanischen Kultur wurden von öffentlichen Podiumsdiskussionen, Pressedossiers und Dokumentarfilmen begleitet, die die öffentlich-rechtlichen Sender auf katalanischer und gesamtspanischer Ebene ausstrahlten.⁴ Der Aufwand, mit dem die Gedenkfeiern zum 100-jährigen Geburts- und 50jährigen Todesjahr von Jaume Vicens betrieben wurden, und die breite Unterstützung aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft verweisen bereits darauf, dass es sich bei diesem Jubiläum um eine erinnerungspolitische Veranstaltung ging, die weit mehr als nur die Figur des Historikers und Intellektuellen feierte.⁵ In seiner Ansprache zum abschließenden Festakt des Año Vicens würdigte der König im gefüllten Plenarsaal und von just jenem erhöhten Stuhl aus, auf dem auch Francisco Franco seine Reden an die spanischen Wissenschaftler gehalten hatte, die „gedankliche Genauigkeit, die talentgeschuldete Schärfe und die wissenschaftliche Autorität“ sowie die „exzellente und erneuernde“ Arbeit des katalanischen Historikers.⁶ Vom linksliberalen bis zum rechtskonservativen Spektrum feierte auch die Presse den „Erneuerer der spanischen Historiografie“, der als einziger dazu fähig gewesen sei, „sich seinen europäischen Kollegen anzugleichen“ und zugleich „die Physiognomie der Geschichte zu verwandeln“.⁷ Inwiefern

 Weitere, unabhängig von der Organisation des Jubiläums und in verschiedenen Universitäten, Kulturzentren, Museen und Akademien stattgefundene Podiumsdiskussionen, Kolloquien und Tagungen (29 Veranstaltungen) sind aufgelistet in http://pagines.uab.cat/anyvicensvives/es/ content/actos-universitarios-y-académicos [Stand: 30.6. 2017]. Zu den Pressedossiers siehe http:// pagines.uab.cat/anyvicensvives/es/content/noticias-0 [Stand: 30.6. 2017]. Folgende Dokumentarfilme wurden vornehmlich in katalanischen, aber auch in gesamtspanischen Fernsehsendern ausgestrahlt: „Jaume Vicens Vives. Renovar la historia – construir un país“; „Vicens Vives, un dels grans de la història econòmica“; „100 anys del naixement de l’historiador catalá Vicens Vives“ und „Imprescindibles: Jaime Vicens Vives“; online einsehbar unter http://www.tv3.cat/videos/ 2985370/Jaume-Vicens-Vives-Renovar-la-historia-construir-un-pais [Stand: 30.6. 2017]; http:// www.tv3.cat/videos/2705310/Vicens-Vives-un-dels-grans-de-la-historia-economica [Stand: 30.6. 2017]; http://www.tv3.cat/videos/2706150/100-anys-del-naixement-de-lhistoriador-catala-VicensVives [Stand: 30.6. 2017]; http://www.rtve.es/alacarta/videos/imprescindibles/imprescindiblesmanana/933561/ [Stand: 30.6. 2017].  Eine Beschreibung des Jubiläums unternimmt Oscar Adell: El ‚Año Vicens Vives’: Reflexiones en torno a una conmemoración, in: Historiografías 1 (2011), S. 95 – 110. Die erinnerungspolitische Dimension analysiert Adell jedoch nicht.  So das Zitat vom damaligen König Juan Carlos I. in der Tageszeitung ABC, 19.11. 2010, in: http:// www.abc.es/20101119/cultura/elliott-vicens-vives-transformo-20101119.html [Stand: 30.6. 2017].  El País, 11. 2. 2010, http://elpais.com/diario/2010/02/11/cultura/1265842801_850215.html [Stand: 30.6. 2017]; ABC, 19.11. 2014, http://www.abc.es/20101119/cultura/elliott-vicens-vivestransformo-20101119.html [Stand: 30.6. 2017].

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Vicens die „Physiognomie“ der (spanischen und katalanischen) Geschichte verändert haben soll, machte der Historiker Santos Juliá bei seinem Vortrag im Rahmen der Podiumsdiskussion „Vicens Vives – eine Zukunftsvision“⁸ deutlich: Einerseits habe Vicens durch seinen Bruch mit den „essentialistischen und romantischen“ geschichtswissenschaftlichen Strömungen „sein Verständnis der Geschichte als Wissenschaft der gesamten Vergangenheit“ nachhaltig etablieren können. Andererseits habe er mit seinem wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Vorstoß eine „història nova“ begründet, die „ein Äquivalent dessen [war], was in Frankreich das Forschungsprogramm der Annales-Schule darstellte, das heißt, eine Wirtschaft- und Sozialgeschichte, die zugleich wissenschaftlich war; eine Geschichte also, die inmitten der [franquistischen] Autarkie an eine [wissenschaftliche] Strömung anschloss, wie sie in Europa üblich war.“ Dabei habe Vicens durch seinen Anschluss an die ‚europäische‘ Strömung nicht nur die spanische Geschichtsschreibung in die internationale Geschichtswissenschaft zurückgeholt. Die Adaption dieser Strömung habe ferner die spanische Geschichte selbst wieder in den europäischen Geschichtsfluss geleitet, und zwar mit dem Ziel, „sie auf den Kurs zurückzubringen, von dem sie nie hätte abgebracht werden sollen. Vicens drückt dies klar und deutlich aus: Wissen, was wir gewesen und was wir sind, um damit ein geeignetes Gebäude im großen Rahmen der westlichen Gesellschaft errichten zu können. Spanien muss von Europa aus verstanden werden.“⁹ Plakativ fasste wiederum die Tageszeitung ABC die Devise zusammen, unter der das Año Vicens zu stehen schien. Die Nachricht zur Abschlussfeier des 18. November war mit der schlichten Überschrift versehen „Vicens veränderte Spanien“.¹⁰ Spanien, intellektuelle Autarkie und ‚Sonderwege‘ – Europa, (Geschichts) Wissenschaft und ‚Normalwege‘: Die Feierlichkeiten zum fünfzigsten Todesjahr von Jaume Vicens offenbarten, dass in ihnen nicht nur die intellektuellen Leistungen des frühen Wirtschafts- und Sozialhistorikers gewürdigt wurden. Die Organisatoren, die Teilnehmer und das interessierte Umfeld feierten mit Jaume Vicens den Protagonisten einer imaginierten Rückkehr Spaniens, der spanischen Geschichte und der spanischen Geschichtsschreibung zu ‚Europa‘, zur ‚europäischen‘ Geschichtswissenschaft und zu ‚europäischer Modernität‘. Die Veranstaltung stand im Vorzeichen einer historischen ‚Rückkehr‘ und war dennoch – oder

 Der Beitrag des Historikers Santos Juliá zu dieser Podiumsdiskussion ist einsehbar in Santos Juliá: Jaume Vicens Vives en la historiografía española, in: http://www.tendencias21.net/espana/ m/Jaume-Vicens-Vives-en-la-historiografia-espanola_a39.html [Stand: 30.6. 2017].  Ebd.  ABC, 19.11. 2010, in: http://www.abc.es/20101119/cultura/elliott-vicens-vives-transformo20101119.html [Stand: 30.6. 2017].

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gerade deshalb – jenen nationalen Kategorien verhaftet, die zwischen ‚spanischem Sonder-‚ und ‚europäischem Normalweg‘ sowie zwischen ‚franquistischer Ideologie‘ und ‚europäischer Wissenschaft‘ unterschieden. Bezeichnenderweise hielt der britische Neuzeithistoriker John Elliott die Festrede für die Abschlussveranstaltung. In jungen Jahren hatte er Vicens während seiner Archivaufenthalte in Barcelona kennen gelernt und nun besaß er als bestätigende Fremdstimme die Autorität, dem Gefeierten – und wohl auch denjenigen, die ihn feierten – den Erfolg dieser ‚Rückkehr‘ zu bescheinigen. Dabei traf Elliott in seiner Rede den Kern dessen, was Vicens für die spanische Wissenschaft symbolisieren sollte. So habe er nämlich die „Mission [entdeckt], die er als eigene empfand: Katalonien und folglich ganz Spanien in die moderne Welt zu führen.“ Dafür sei es notwendig gewesen, die Altlasten der Geschichte abzuwerfen. So habe Vicens verstanden, dass eine „Gesellschaft, die allzu sehr in der Vergangenheit gefangen ist, nicht gut vorbereitet sein kann, um in die Zukunft schreiten.“ In „einem Spanien, das sich [in den 1950er Jahren] auf den Weg in die Modernisierung begab“, sei Vicens eine Neuformulierung der Geschichte gelungen, die diesem Aufbruch in die Moderne entsprochen habe.¹¹ Dass sich dieser ‚Aufbruch‘ innerhalb des Kontextes abspielte, der Gegenstand des letzten Kapitels gewesen ist, kam im Rahmen dieser Feierlichkeiten genauso wenig zur Sprache wie die Tatsache, dass Jaume Vicens Mitte der 1950er Jahre mit dem Consejo gebrochen hatte. Die Abschlussveranstaltung inszenierte nicht nur eine erfolgreiche ‚Rückkehr nach Europa‘ und zur „modernen Welt“. Darüber hinaus holte sie den katalanischen Historiker symbolisch zu jenem Ort zurück, an dem einst ein ganz anderes Verhältnis zur technisch-industriellen Moderne inszeniert worden war. Die Zentralität, die der Person von Jaume Vicens in einer Erinnerungspraxis zugesprochen wird, die die ‚Modernisierung‘ Spaniens zum Inhalt hat, motiviert auch das folgende Kapitel. Dabei soll es nicht darum gehen, die Kategorien Moderne, Modernisierung oder Europäisierung, wie es die bisherigen Deutungen getan haben, als analytische Instrumente zu übernehmen oder einen ‚Mythos Vicens‘ dadurch zu entlarven, dass seiner Qualität als ‚Modernisierer‘ widersprochen wird. Dieses Kapitel hat auch nicht eine Biografie von Jaume Vicens im klassischen Sinne zum Ziel.¹² Seine intellektuelle Biografie wird hier vielmehr mit

 John Elliott: Jaume Vicens Vives. Ayer y hoy, Barcelona 2010, S. 20 und S. 23.  Bis zu den Jubiläumsfeiern im Jahr 2010 waren drei Biografien zur Person Jaume Vicens’ erschienen: Victoria L. Enders: Jaime Vicens Vives, the Annales and Catalonia, San Diego 1984; José F. Aguirre: Jaime Vicens Vives. Un historiador en la historia de su tiempo, Barcelona 1976; Josep. M. Muñoz: Jaume Vicens i Vives (1910 – 1960). Una biografia intel·lectual, Barcelona 1997. Von den genannten Studien basiert allerdings nur diejenige von Muñoz auf einer hinreichenden Quellengrundlage. Von den unzähligen Reflexionen und Kommentaren, die anlässlich der Jubilä-

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der Geschichte seiner Symbolträchtigkeit verwoben, um der Genese und der entsprechenden Semantik der soeben genannten Zuschreibungen und Begriffe auf die Spur zu kommen. Um Jaume Vicens auch jenseits seiner Jubiläumsfeier einordnen zu können, müssen allerdings zunächst drei Themenkomplexe umrissen werden, in denen er als mehr oder weniger wichtiger, oft umstrittener Protagonist der Geschichte Spaniens seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts auftaucht: Die Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft, die Debatten um das Verhältnis des katalanischen zum spanischen Nationalismus sowie die Ausbildung einer intellektuellen Opposition unter dem Franco-Regime. Im ersten dieser Themenkomplexe nimmt Jaume Vicens einen zentralen und weitgehend konsensual bewerteten Ort ein. Bereits die 1960 anlässlich seines Todes erschienenen Nachrufe legten die Grundlage für die spätere Deutung seiner Rolle als ‚Erneuerer‘. Sie prägten die Perzeption des verstorbenen Historikers einerseits als Impulsgeber für eine neue Wirtschafts- und Sozialgeschichte, andererseits als Begründer einer historischen Schule mit internationaler Ausstrahlung.¹³ Dabei befand sich Vicens zum Zeitpunkt seines Todes keineswegs im Zentrum, sondern vielmehr am Rande eines akademischen und geschichtswissenschaftlichen Betriebs, der die Figur des katalanischen Historikers erst im Laufe der 1960er Jahre rehabilitieren würde. Den Höhepunkt dieser Rehabilitierung lieferte bemerkenswerterweise jener José M. Jover, der seine Karriere Ende der 1940er Jahre innerhalb der national-katholischen Historikerkreise des Consejo begonnen und sich erst im Laufe der 1960er von diesen distanziert hatte.¹⁴ Jover stellte im Jahr 1974 und erneut im Jahr 1976 eine Periodisierung der spanischen Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime vor, die seine eigene Laufbahn in eine ‚Erneuerungsgeschichte‘ einschrieb, die, so der Autor, mit Vicens begon-

umsfeiern über den katalanischen Historiker verfasst wurden, sollen hier lediglich die politische Biografie von Cristina Gatell/Glòria Solar: Amb el corrent de proa. Les vides politiques de Jaume Vicens Vives, Barcelona 2012, der Sammelband von Lola Harana (Hrsg.): Jaume Vicens. Mestre d’historiadors, Barcelona 2010, mit privaten Erinnerungen an Vicens, und die Einleitungen zu den Neueditionen verschiedener Werke von Vicens genannt werden, die Miquel Marín in biografischer Absicht verfasst hat. Vor allem Letztere müssen die Grundlage für zukünftige biografische Auseinandersetzungen zu Vicens bilden. Vgl. dazu vor allem Miquel A. Marín: Esdevenir Vicens. Jaume Vicens fins el 1937, Vorwort zu Jaume Vicens: Ferran II i la ciutat de Barcelona, Barcelona 2010, 2 Bde., Bd. 1, S. I–LXXV; ders.: A través de la muralla. Jaume Vicens Vives y su aproximación a la historia de España, Barcelona 2010; und die Vorworte zu Jaume Vicens: España contemporánea (1814– 1953), Barcelona 2012; ders.: La crisis del siglo XX (1919 – 1945), Barcelona 2012.  Zu den Nachrufen siehe Kapitel III.3.  Zu José M. Jover siehe insbesondere Peiró: Historiadores en España, S. 119 – 192 und S. 238 ff; vgl. auch Elena Hernández-Sandoica: José María Jover Zamora. In memoriam, in: Ayer 68 (2007), S. 9 – 24.

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nen habe.¹⁵ Eine erste, von einer „diffusen Ideologie“ geprägten Phase wird darin von einer zweiten ablöst, die seit Beginn der 1950er Jahre die „nationalistische Geschichtsschreibung“ graduell durch eine „weitaus realistischere, mit den allgemeinen europäischen Entwicklungsmustern übereinstimmende“ Geschichtswissenschaft ersetzte. Im Mittelpunkt dieser Transformation habe eine Rezeption der französischen Annales gestanden, die insbesondere der „klarsichtigen und kämpferischen Einstellung“ von Jaume Vicens zu verdanken gewesen sei. Vicens‘ geschichtswissenschaftliche Impulse stellten, so Jover, den Beginn einer Übergangsphase dar, welche die endgültige Überwindung der „nationalistischen Schule“ im Laufe der 1960er Jahre überhaupt erst ermöglicht habe.¹⁶ Auf das Periodisierungsangebot von José M. Jover folgten verschiedene Umund Neudeutungsversuche. Auch wenn diese die Kontinuitäten und Brüche historiografischer Traditionen nach dem spanischen Bürgerkrieg sowie die Gewichtung verschiedener Historiker bei der Wiederaufnahme wissenschaftlicher ‚Seriosität‘ unterschiedlich beurteilten, bestätigten sie jedoch grundsätzlich jene Einteilung, die Vicens beim Übergang von einer ‚ideologischen‘ zu einer ‚wissenschaftlichen‘ Phase als Schlüsselfigur und „Lehrmeister“ interpretierte.¹⁷ Ferner haben auch die quellenbasierten Forschungen zur Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft seit den 1990er Jahren trotz ihrer elaborierten Analysekategorien gerade die zentralen Begriffe nicht hinterfragt, die sich in Vicens symbolisch verdichten. So räumen auch die bisher am besten dokumen-

 Vgl. José M. Jover: El siglo XIX en la historiografía española contemporánea (1939 – 1972), in: Ders.: El siglo XIX en España. Doce estudios, Bercelona 1974, S. 9 – 151. Diese Deutung setzte er fort in ders.: Corrientes historiográficas en la España contemporánea, in: Juan J. Carreras u. a. (Hrsg.): Once ensayos sobre la Historia, Madrid 1976, S. 217– 247, zu Vicens insbesondere S. 228 ff.  Jover: El siglo XIX en la historiografía española contemporánea (1939 – 1972), S. 10; ders.: Corrientes historiográficas en la España contemporánea, S. 228.  Zur Figur des „Lehrmeisters“ (maestro) siehe Lola Harana (Hrsg.): Jaume Vicens Vives, mestre d’historiadors (col·leció homatges 33), Barcelona 2010. Die Kontinuitätsthese wurde vor allem von Ignacio Olábarri vertreten. Vgl. Ignacio Olábarri: La recepción en España de la revolución historiográfica del siglo XX, in: Ders./Valentín Vázquez de Prada/Alfredo Floristán (Hrsg.): La historiografía en Occidente desde 1945. Actitudes, tendencias y problemas metodológicos. Actas de las III Conversaciones Internacionales de Historia, Pamplona 1984, S. 87– 109. Zu den Kontinuitätsthesen siehe ferner Alvaro Ribagorda Esteban: La fractura de la historiografía española durante la postguerra franquista, in: Cuadernos de Historia Contemporánea 23 (2001), S. 373 – 383. Kritik an der Übergewichtung von Jaume Vicens übt beispielsweise José M. Cuenca: La historiografía española sobre la edad contemporánea, in: José Andrés Gallego (Hrsg.): Historia de la historiografía española, Madrid 2003, S. 189 – 326. Ferner siehe Josep Fontana: La historiografía española del siglo XIX. Un siglo de renovación entre dos rupturas, in: Santiago Castillo (Hrsg.): Historia social en España. Actualidad y perspectivas. Actas del I Congreso de la Asociación de Historia Social, septiembre 1990, Saragossa 1991, S. 325 – 336.

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tierten Studien zur Historiografie der 1950er und 1960er Jahren Jaume Vicens den Rang eines „Modernisierers“ ein.¹⁸ Er wird somit zu einem der zentralen Protagonisten in jenem Prozess, der gerne unter dem Begriff der „Normalisierung“ gefasst wird.¹⁹ Inwiefern diese und andere Kategorien wie Verwissenschaftlichung, Moderne oder auch Europa selbst Quellenbegriffe darstellen, ist in diesem Zusammenhang kaum thematisiert worden. Zwar haben einige Untersuchungen die herausgehobene Stellung von Jaume Vicens bei der ‚Annales‘-Rezeption“ und der geschichtswissenschaftlichen ‚Erneuerung‘ längst hinterfragt.²⁰ Ein Interesse für die diskurs- und wissenschaftshistorische Genese dieser Verschränkung lässt sich bisher jedoch nicht feststellen. Ferner haben nicht nur eine hagiografisch motivierte Publizistik, sondern auch die historiografiegeschichtliche Forschung Vicens und seine Schule bisher auf eine Weise beleuchtet, die das (wissenschafts) politische und geschichtswissenschaftliche Umfeld als reinen, durch die Diktatur vorgegebenen ‚Umstand‘ erscheinen lässt. In diesem Narrativ betrat Vicens als „Modernisierer“ die Bühne einer „mentalen Autarkie“, gegen die er sich behaupten musste.²¹ Sein akademisches, wissenschaftliches und diskursives Umfeld, das konstitutiv für den Aufbau seiner wissenschaftlichen und intellektuellen

 Vgl. Marín: A través de la muralla. Für Peiró ist Vicens wiederum einer der zentralen Protagonisten im Prozess der „Normalisierung“ (normalización), vgl. Peiró: Historiadores en España, S. 40.  Siehe dazu die Einleitung zu Kapitel II.3.  Siehe dazu Benoît Pellistrandi (Hrsg.): La historiografía francesa del siglo XX y su acogida en España. Coloquio internacional (noviembre de 1999), Madrid 2002 und Francisco Garía (Hrsg.): La historia moderna de España y el hispanismo francés, Madrid 2009. Beide Sammelbände beschränken sich allerdings ausschließlich auf den Transfer aus einer klassischen ideengeschichtlichen Perspektive. Trotz der Bedeutung, die dem spanisch-französischen Transfer für die Geschichte der spanischen Geschichtswissenschaft beigemessen wird, hat sich bisher nur María J. Solanas diesem Thema unter dem systematischen Gesichtspunkt des Transfers gewidmet. Vgl. María J. Solanas: Tranferencias culturales. Origen, desarrollo y aplicación al estudio de la historia de la historiografía española, in: Pedro V. Rújula/Ignacio Peiró (Hrsg.): La historia en el presente, Saragossa 2007, S. 379 – 392. Eine Bestandsaufnahme der sogenannten ‚Annales’-Rezeption ferner in Óscar Adell: La recepción en España de la historiografía internacional desde 1950, in: Bulletin d’histoire contemporaine d’Espagne 43 (2007), S. 111– 137; Pasamar: La influencia de Annales en la historiografía española durante el franquismo.  Die jeweiligen Deutungen und Forschungsstandpunkte werden in den nächsten Unterkapiteln aufgegriffen. Zum Kontrastbild ‚Vicens’ und ‚mentale Autarkie’ siehe, neben der oben zitierten Darstellung von Santos Juliá, beispielsweise auch Antonio Morales: Historia de la historiografía española, in: Miguel Artola (Hrsg.): Enciclopedia de Historia de España, Madrid 1988 – 1993, 7 Bde., Band 7: Fuentes. Indice, S. 634– 685, die Biografie von Muñoz: Jaume Vicens, oder auch Peiró: Historiadores en España, S. 40. Die explizite Bezeichnung „Modernisierer“ verwendet Marín: A través de la muralla.

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Projekte war, erscheint so als reine Kulisse und nicht als einschlägiges Interaktionsfeld. Deutlich umstrittener ist hingegen die Verortung von Jaume Vicens innerhalb des zweiten Themenkomplexes: Die Debatten um den Katalanismus im Sinne einer zunächst kulturellen und schließlich politischen Bewegung, die sich für die Bewahrung und Etablierung einer ‚katalanischen‘ Identität nicht zuletzt in Abgrenzung zu einer ‚spanischen‘ ausspricht.²² Die Ausschaltung des politischen Katalanismus der Vorkriegszeit und die Verbannung der katalanischen Sprache aus dem öffentlichen Raum insbesondere in den 1940er Jahren sind dabei die zentralen historischen Phänomene, die eine katalanistisch inspirierte Forschung dazu bewogen hat, Franquismus und Katalanismus als historische Antagonisten zu behandeln.²³ Mit dieser Deutung geht eine Ex-Post-Demokratisierung und Renationalisierung des gesamten historischen Katalanismus einher, die nicht-demokratische und regionalistische Traditionen übergeht. Besonders problematisch für die innere Kohärenz der katalanisch-nationalen Deutung des Franco-Regimes sind daher solche Persönlichkeiten, die von Beginn an der Diktatur eine oftmals bedingungslose Kompromissbereitschaft zeigten und dennoch vor allem seit den 1950er Jahren unzweifelhaft die Fahne des Katalanismus schwenkten.²⁴ Jaume Vicens, der neben anderen konservativen Intellektuellen wie Josep Pla (1897– 1981) eben dieser Kategorie angehörte, ist daher vor allem seit den 1980er Jahren zum Gegenstand heftiger Debatten geworden. Wie später in dieser Untersuchung deutlich werden wird, haben vor allem Historikerinnen und Historiker aus dem

 Auf diesen Sachverhalt soll im Laufe dieser Arbeit näher eingegangen werden. Einen kürzlich erschienenen Überblick bietet Enric Ucelay-Da Cal: History, historiography and the ambiguities of Catalan nationalism, in: Studies on National Movements 1 (2013), S. 105 – 159; darüber hinaus Xosé M. Núnez Seixas: Überlegungen zum Problem der territorialen Identitäten: Provinz, Region und Nation im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Christina Benninghaus u. a. (Hrsg.): Unterwegs in Europa – Beiträge zu einer pluralen europäischen Geschichte. Festschrift für HeinzGerhard Haupt, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 115 – 136; weiterhin als Einstieg ders.: Historiographical Approaches to Nationalism in Spain (Forschungen zu Spanien 13), Saarbrücken 1993, S. 62– 81.  Ein prominentes Beispiel für diese nationalistische katalanische Position bietet Albert Balcells: Catalan Nationalism. Past and Present, London 1996; vgl. darüber hinaus Enric Pujol: Història i reconstrucció nacional. La historiografia catalana a l’època de Ferran Soldevila (1894– 1971), Barcelona 2003 (Recerca i pensament 18). Die Identifikation von Katalanismus und katalanischer Nationalgeschichte führt Josep Benet sogar dazu, das Verhältnis vom „Franquismus“ zu „Katalonien“ als „genozidal“ zu bezeichnen; vgl. Josep Benet: L’intent franquista de genocidi cultural contra Catalunya, Barcelona 1995.  Die inneren Widersprüche des konservativen Katalanismus und seine rückwirkende ‚Demokratisierung’ analysiert Antonio F. Canales Serrano: El robo de la memoria. Sobre el lugar del franquismo en la historiografía católico-catalanista, in: Ayer 59 (2005), S. 259 – 280.

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linkskatalanistischen Spektrum wie Eva Serra, Borja de Riquer und Josep Termes eine kritische Auseinandersetzung angeregt und somit einer Mystifizierung von Vicens aus katalanisch-konservativer Seite entgegengearbeitet.²⁵ Obwohl ihm beide Positionen eine zentrale Stellung innerhalb der katalanischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zuweisen, ist jedoch sein Beitrag zur eigentlichen Bezugsgröße der Debatte, zum ‚Wiederaufbau der katalanischen Kultur‘ bzw. ‚der katalanischen Nation‘, weiterhin umstritten. Während der konservative Katalanismus die intellektuelle Produktion von Jaume Vicens in den Mittelpunkt einer Geschichte katalanischer ‚Identitätsfindung‘ stellt und seine politischen Verstrickungen mit dem Franco-Regime zu einem ‚Kampf gegen die Umstände‘ deklariert, sind auch heute noch kritische Stimmen zu vernehmen, die ihn die Kondition eines ‚wahren‘ Katalanisten absprechen.²⁶ Die Grauzone zwischen Katalanismus und Franquismus, in der sich Jaume Vicens wie viele seiner Zeitgenossen bewegte, stellt weiterhin den blinden Fleck für eine Historiografie dar, die auf dem historischen Antagonismus „demokratisches Katalonien/autoritäres Spanien“ aufbaut. Drittens taucht Jaume Vicens schließlich im Themenkomplex der konservativen intellektuellen Dissidenz unter dem Franco-Regime auf. Zwar nimmt er darin keine zentrale Rolle ein. Dennoch erscheint er als kleine, aber beständige Randbemerkung, wenn es um eine etwaige ‚Entideologisierung‘ der spanischen Intellektualität geht. Ähnlich wie bei der Historiografiegeschichte waren es auch in diesem Fall meist die Akteure selbst, welche die ersten Deutungen zu ihrer jüngsten Vergangenheit entwickelten. Die Memoiren von Pedro Laín Entralgo, Dionisio Ridruejo oder Rafael Calvo Serer – zentrale Protagonisten in den innerfranquistischen Machtkämpfen der frühen 1950er Jahren und spätere Kritiker des Franco-Regimes – stehen beispielhaft für solche Rückblicke, die die eigene Bio-

 Siehe dazu insbesondere Eva Serra: La història moderna. Grandesa i misèria d’una renovació, in: L’Avenç 83 (1985), S. 56 – 63; Borja de Riquer: Apogeo y estancamiento de la historiografia contemporánea catalana, in: Historia Contemporánea 7 (1992), S. 117– 134; Josep Termes: La historiografia de la postguerra i la represa de Jaume Vicens Vives, in: Jordi Nadal u. a. (Hrsg.): La historiografia catalana. Balanç i perspectives, Girona 1990 (Quaders del Cercle d’Estudis Històrics i Socials 6), S. 37– 51. Gerne berief sich beispielsweise der langjährige Ministerpräsident Kataloniens und Vorsitzender der christdemokratischen, nationalkatalanistischen Partei Convergencia i Unió Jordi Pujol auf sein ‚Vorbild’ Jaume Vicens Vives – so beispielsweise in seiner Rede zur Einweihung der Universidad Carlos III, in der er über die „eigenständige Persönlichkeit Kataloniens“ unter explizitem Verweis auf den katalanischen Historiker referierte; vgl. Jordi Pujol: La personalidad diferenciada de Cataluña, Barcelona 1991 (Temes d’actualitat 3); zu Vicens siehe insbesondere S. 11.  Vgl. Pujol: Història i reconstrucció nacional, S. 276 ff.

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grafie als Genese demokratischer Positionen schreiben.²⁷ Symptomatisch für diesen Umdeutungsprozess, der sich insbesondere seit den 1970er Jahren beschleunigte, war die im Jahr 1974 erschienene Monografie Intellektuelle unter Franco des Rechtsphilosophen Elías Díaz. Darin zeichnete er diese Genese eines „kritische[n], oppositionelle[n] Denken[s] zugunsten von Freiheit, Pluralismus und Demokratie“ nach. Die beiden Seiten, die er Jaume Vicens widmete, standen dabei unter dem Titel „Geschichte als Wissenschaft und Kritik am Ideologismus“. Den zentralen Beitrag von Vicens erkannte der Autor bezeichnenderweise in der „Verfeinerung der Methodologie der Zukunft […], über die in den fortschrittlichsten Kreisen des Auslands schon beständig diskutiert“²⁸ worden sei. Die Leistung des katalanischen Historikers in einer Geschichte der intellektuellen Opposition lag demnach in der ‚Verwissenschaftlichung‘ der Geschichte und im Anschluss an den ‚ausländischen Fortschritt‘. Zwar ist die Tendenz zur rückwirkenden Demokratisierung in der neueren Forschung durchaus in die Kritik geraten. Diese hat ihre Aufmerksamkeit jedoch vor allem auf die zentralen Figuren der franquistischen Intellektualität gerichtet.²⁹ Trotz der politischen Kompromissbereitschaft von Vicens, die mittlerweile nur noch wenig in Frage gestellt wird, hat sich die erwähnte Verortung in groben Zügen gehalten.³⁰ Wie bei den Gedenkfeiern, die im Jahr 2010 zu seinen Ehren abgehalten wurden, scheint auch hier die Privilegierung seiner ‚Modernisierer‘-Funktion nicht recht zu einer Auseinandersetzung führen zu wollen, die diese Funktion im Kontext einer franquistischen (Wissenschafts)Politik und Geschichtswissenschaft beleuchtet. Ausgehend von diesen drei Themenkomplexen wird es in diesem Untersuchungsstrang darum gehen, die wissenschaftliche und akademische Laufbahn

 Vgl. Pedro Laín Entralgo: Descargo de conciencia (1930 – 1960), Barcelona 1976; Dionisio Ridruejo: Casi unas memorias, Barcelona 1976; Rafael Calvo Serer: Mis enfrentamientos con el poder, Barcelona 1978.  Elías Díaz: Intellektuelle unter Franco. Eine Geschichte des spanischen Denkens, 1919 – 1975, Frankfurt a. M. 1991, hier S. 7 und 76 f. Das Original wurde im Jahr 1983 unter dem Titel Pensamiento español en la era de Franco, 1939 – 1975 publiziert und war eine erweiterte Fassung der ersten Auflage aus dem Jahr 1974. Zitiert wird aus der deutschen Übersetzung, die im Jahr 1991 im Verlag Vervuert erschien.  Vgl. Javier Muñoz Soro: De los intelectuales y su pasado. Usos públicos de la cultura antifranquista, in: Alcores. Revista de historia contemporánea 11 (2011), S. 41– 64; Ismael Saz: De intelectuales y política en la dialéctica franquismo-antifranquismo, in: Cercles: revista d’història cultural 16 (2013), S. 21– 29.  Vgl. beispielsweise die Einordnung von Vicens bei Morales: Historia de la historiografía española, S. 666 f. Siehe jedoch vor allem die immer wieder auftauchenden Hinweise auf den katalanischen Historiker im einschlägigen Werk zur intellektuellen Dissidenz von Jordi Gracia: Estado y Cultura. El despertar de una conciencia crítica bajo el franquismo, Barcelona 2006.

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von Jaume Vicens sowie seine Versuche, eine ‚katalanische Schule‘ mit wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Prägung zu etablieren, in ihren (wissenschafts) politischen und geschichtswissenschaftlichen Kontext einzubetten. Es soll gezeigt werden, dass Vicens’ ‚Aufbruch in die Moderne‘ in all seinen Facetten – von der Gründung eines Instituts, einer Zeitschrift und einer Bibliografie, von der Orientierung an den französischen ‚Annales‘ bis hin zur Verlagerung seiner Forschungsschwerpunkte vom späten Mittelalter in die Neueste Geschichte – nicht ohne die Interaktion mit einem Umfeld zu verstehen ist, das sich ebenfalls einem ähnlichen Aufbruch verschrieben hatte. Dabei waren die entsprechenden Wege, die der katalanische Historiker und die Wissenschaftspolitik im Umfeld des Consejo beschritten, keineswegs identisch. Denn während die wissenschaftspolitische Aufforderung an die Geschichtswissenschaft, die Rolle „geistiger Strebbögen“ in einer zunehmend „technisierten“ Gesellschaft einzunehmen, auf vielfältige Hürden stieß, fand Vicens in der katalanischen Geschichte das historische Material, mit dem die spanische Geschichte innerhalb einer technisch-industriellen und daher ‚europäischen‘ Moderne imaginiert werden konnte – ohne wohlgemerkt die akademischen Strukturen, die (wissenschafts)politischen Netzwerke und die unter dem Franco-Regime sagbaren gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zu verlassen. Welche Strategien er verwendete, welche Mittel ihm zur Verfügung standen und welche Konflikte er dafür einging, sind die leitenden Fragen dieses Kapitels. Sie sind untrennbar mit seiner späteren Deutung als ‚Modernisierer‘, ‚Verwissenschaftlicher‘ und ‚Internationalisierer‘ der spanischen Geschichtswissenschaft verbunden.

2 Republik, Bürgerkrieg, Diktatur: Der lange Weg zum Lehrstuhl „Jede geschichtliche Betrachtung über das neuzeitliche Spanien muß von jenem Zeitpunkt ausgehen, da das Land infolge von Triebkräften, die in der vorliegenden Arbeit nicht erläutert werden können, sich in einem annähernd dreijährigen Bruderkrieg in zwei Parteien spaltete (1936 – 1939) […].“¹ Mit diesen Worten begann Jaume Vicens einen im Jahr 1952 erschienenen Aufsatz, in dem er die Leserschaft der deutschsprachigen Zeitschrift Saeculum über die Fortschritte der spanischen Geschichtswissenschaft der letzten dreizehn Jahre unterrichtete. Der Autor beschrieb darin den Bürgerkrieg als eine Epochenzäsur, die zwar bestimmte Kontinuitäten in der geschichtswissenschaftlichen Forschung verhindert, aber dennoch eine Neuorganisation ermöglicht habe, die nun die ersten Früchte tragen würde. Vicens ließ seinen Forschungsüberblick dabei mit einer Zäsur beginnen, die er jedoch nicht nur retrospektiv konstruierte. Seine Diagnose gründete nämlich in gleichem Maße auf seinen eigenen unmittelbaren Erfahrungen während der Bürgerkriegs- und Nachkriegszeit. Ähnlich wie für das übrige Historikerfeld erforderte das Jahr 1939 auch für Vicens eine grundlegende Neuorientierung. „Der Sieg der von General Francisco Franco geführten Streitkräfte“² markierte einen klaren Einschnitt in einer Karriere, die bereits vor dieser epochalen Zäsur begonnen hatte.

2.1 Akademische Sozialisation und erste Debatten Jaume Vicens Vives wurde 1910 in der nordkatalanischen Industriestadt Girona als jüngster Sohn einer mittelständischen Familie geboren. Nach seinem Geschichtsstudium in Barcelona und parallel zur Vorbereitung seiner Promotionsarbeit nahm er seine Tätigkeit als Dozent unter Leitung des Mediävisten und späteren Direktors der Escuela de Estudios Medievales des CSIC, Antonio de la Torre, auf.³ Seine Promotion widmete Vicens einem traditionsreichen Thema, das jedoch sowohl von der katalanischen als auch der gesamtspanischen Historiografie kontrovers beurteilt worden war: Der Herrschaft Ferdinands II. von Aragon (1479 – 1516) über Katalonien, und insbesondere über die Stadt Barcelona. Kon-

 Vicens: Entwicklung der spanischen Geschichtsschreibung 1939 – 1949, S. 477.  Ebd., S. 479.  Die Daten zur frühen Biografie von Jaume Vicens stammen aus Muñoz: Jaume Vicens, S. 15 – 49. https://doi.org/10.1515/9783110532227-009

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trovers war die Herrschaft des Katholischen Königs für die katalanistische Historiografie deshalb, da jene innerhalb eines katalanisch-nationalen Narrativs den ersten und wichtigsten Meilenstein zu einer Konfliktgeschichte zwischen Spanien und Katalonien darstellte. Die bis in die 1930er Jahre führenden katalanischen Nationalhistoriker, von Salvador Sanpere (1840 – 1915) bis zu Antoni Rovira (1882– 1949) und Ferran Soldevila (1894 – 1971), hatten in ihren Werken die These verteidigt, dass die Vereinigung der Königreiche Aragon und Kastilien zur Auflösung altkatalanischer Institutionen und letztlich zum politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Niedergang der Stadt Barcelona geführt habe. Die ‚katalanischen Freiheiten‘, unter denen die ständischen und insbesondere städtischen Vorrechte gefasst wurden, waren diesem Narrativ zufolge einer ‚Entnationalisierungskampagne‘ zum Opfer gefallen, die nur den Anfang einer sich bis ins 20. Jahrhundert ziehenden Entrechtung bilden sollte. Was insbesondere die national-katholische, spanische Historiografie als territorialen Einigungsmoment unter katholischem Vorzeichen auslegte, wurde aus der katalanistischen Perspektive als Beginn einer historischen Unterwerfung dargestellt.⁴ In seiner Promotion entwickelte Vicens jedoch eine Deutung, die sich explizit gegen eine Negativbewertung der Herrschaft Ferdinands II. aus katalanisch-nationaler Perspektive wandte. Hatten bei den älteren Kollegen die Begriffsgruppen König-Kastilien-Unterdrückung und Standesprivilegien-Katalonien-Freiheit jeweils einen historischen Zusammenhang gebildet, interpretierte Vicens nun die Monarchie der Katholischen Könige als Etablierung frühstaatlicher Herrschaft und den ständischen Widerstand als Verteidigung überholter spätmittelalterlicher Strukturen, die die Einpassung Kataloniens in die neue spanische Monarchie verhindert hätten.⁵ Mit seiner expliziten Abwehr katalanisch-nationaler Kategorien und insbesondere durch seine direkten Angriffen auf Soldevila und Rovira forderte der junge Historiker das etablierte akademische Umfeld unmittelbar heraus. In einem Artikel, der im Jahr 1935 in der linkskatalanistischen Tageszeitung La Humanitat erschien, warf Antoni Rovira dem „Lobredner des Katholischen Königs“ Jaume Vicens das Fehlen einer „Sensibilität für das Katalanische“

 Die Historikerin Eva Serra ordnet Soldevila und insbesondere Rovira als Vertreter des „Neoromantizismus’“ ein. Denn trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen erklärten sie die Geschichte Kataloniens, so Serra, allein aus der Perspektive des Unterdrückten. Vgl. Eva Serra: Una aproximació a la historiografia catalana. Els antecedents, in: Revista de Catalunya 26 (1989), S. 29 – 46; dies: Una aproximació a la historiografia catalana. El nostre secle, in: Revista de Catalunya 27 (1989), S. 43 – 55.  Eine jüngst erschienene Analyse dieser Deutungsmuster findet sich bei der Frühneuzeithistorikerin Eva Serra: Vicens Vives i els remençes. Tonrar-hi a pensar, in: Pedralbes. Revista d’història moderna 30 (2010), S. 107– 122.

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und eine „ausgeprägte Parteilichkeit“ zulasten des Katalanismus’ vor. Am Ende seines Verrisses riet Rovira dem jungen Forscher, sich in Zukunft „auf die Veröffentlichung neu entdeckter Dokumente zu beschränken“.⁶ Die Antwort des 25jährigen Vicens erschien kurz darauf in der konservativen Tageszeitung La Veu de Catalunya in Form eines offenen Briefes an Rovira, der den Titel Die Geschichte wird rekonstruiert und nicht erschaffen trug. Er formulierte darin einen frontalen Angriff auf eine außeruniversitäre Historiografie, die „eine falsche Geschichte Kataloniens“, voller „bequemer und gefährlicher Klischees“ konstruiert habe.⁷ Jenseits der Forderung nach einer Revision tradierter Geschichtsbilder war es der Anspruch auf die Deutungshoheit des universitären Historikers, womit sich der junge Doktorand auf dem Markt der katalanischen Geschichtsschreibung präsentierte. Wenn auch nicht auf die Einzelheiten dieser Auseinandersetzung eingegangen werden kann, zu der auch weitere katalanische Historiker Stellung bezogen, sollen hier dennoch drei Aspekte herausgestellt werden, die Vicens’ Positionierung innerhalb der Geschichtswissenschaft vor 1939 charakterisierten.⁸ Die Kontroverse weist nämlich zunächst darauf hin, dass der Bezugsrahmen, an dem sich Vicens zur eigenen Etablierung orientierte, die katalanische Geschichte und Geschichtswissenschaft war. Themenauswahl (die Herrschaft Ferdinands I.), Ziele der Kritik (Rovira, Soldevila) und die Wahl der Sprache (Katalanisch) zeigten deutlich, dass er die katalanische Historiografie als Zielpublikum gewählt hatte. In seiner Replik auf den zuletzt zitierten Artikel warf Rovira dem angehenden Historiker nicht nur mangelnde „Sensibilität für das Katalanische“ vor. Vielmehr empörte es den älteren Historiker, dass „Herr Vicens denkt, dass eine wahrheitsgetreue Interpretation der Geschichte Kataloniens erst mit ihm beginnt.“⁹ In seinen späteren Selbstdeutungen griff Vicens diesen Vorwurf auf und machte ihn sich zu eigen. So habe er in jener Debatte in der Tat sein Ziel angekündigt, die katalanische Geschichte überhaupt erst zu schreiben.¹⁰ Angesichts der Vorwürfe

 Antoni Rovira i Virgili: La joventut intel·lectual catalana, La Humanitat, 7. 8.1935, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 557 f.  Jaume Vicens: La història no es crea, es refà, La Veu de Catalunya, 24. 8.1935, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 339 f.  Zu dieser Debatte, allerdings aus einer katalanisch-nationalen Perspektive, siehe Jaume Sobrequés: Un moment crucial de la historiografia catalana. La polèmica entre J. Vicens Vives i A. Rovira Virgili, in: Revista de Catalunya 28 (1998), S. 70 – 82.  Antoni Rovia i Virgili: Ferran II el Catòlic i els remences, La Publicitat, 28.8.1935, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, 569 – 563, hier S. 561.  So beispielsweise in einem für die konservativ-katalanistische Wochenzeitschrift Serra d’Or geplanten Rückblick aus dem Jahr 1960: „Es ging nicht darum, sie zu ‚überarbeiten‘, sondern darum, sie erst zu ‚schreiben‘. Eine Geschichte Kataloniens als solche gab es im Jahr 1936 nicht.“

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von Rovira betonte er seit den 1930er Jahren zugleich den patriotischen Impetus, der seine wissenschaftliche Produktion leite. So bedürfe die „nationale Größe Kataloniens“, wie er im Jahr 1935 in der Tagespresse festhielt, nicht der Arbeiten seiner Vorgänger.¹¹ Seine eigenen Forschungen, die Vicens nach abgeschlossener Promotion unter dem Titel Ferran II i la ciutat de Barcelona veröffentlichte, seien hingegen einem Geist entsprungen, wonach „das Zeichen des kulturellen Vermögens eines Volkes in der stetigen Erneuerung seines historischen Wissens“ liegen würde.¹² Damit präsentierte er seine Studie als „Zeichen [eines] kulturellen Vermögens“, dem er die „Erneuerung“ der katalanischen Geschichte unterordnete. Ein zweites Merkmal betraf Vicens’ Verhältnis zu seinem historiografischen Umfeld. In den Aufsätzen und Artikeln, die er bis zu Beginn des Bürgerkriegs im Sommer des 1936 verfasste, positionierte er sich nämlich explizit als Vertreter einer akademischen Geschichtswissenschaft: „Ich bin stolz darauf, Universitätsangehöriger zu sein und mich auch so zu fühlen. Ich bin stolz darauf, bereits von klein auf die Begeisterung für die Geschichte verspürt zu haben und unseren jüngsten Jahrgängen von einem offiziellen Lehrstuhl aus den Wert beizubringen, den die ‚Reinheit der historischen Empfindsamkeit‘ hat. Ich bin kein Dilettant. Ich arbeite mit den wissenschaftlichen Techniken, die mir beigebracht worden sind und die ich sowohl hier als auch im Ausland erlernt habe.“¹³

Berücksichtigt man, dass Antoni Rovira keine akademische Position an einer Universität bekleidete, so liest sich Vicens’ Stolz auf eine universitäre Position, die damit einhergehenden sozial-erzieherischen Aufgaben und die Verwendung „wissenschaftlicher Techniken“ als klare Einforderung der Deutungshoheit des akademischen Berufshistorikers. Es ist kaum verwunderlich, dass diese Selbstdeutung von Rovira als anmaßend empfunden wurde. Er wehrte sich gegen Vi-

Jaume Vicens: Revisionisme i conformisme històrics, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 501– 504, hier S. 503.  Vicens: La història no es crea, es refà, S. 340.  So sein Vorwort in Jaume Vicens: Ferran II i la ciutat de Barcelona, Barcelona 1936/1937, 3 Bde., Bd. 1, S. 20.  Vicens: La història no es crea, es refà, S. 340. Das Wort catedrático, im Spanischen Lehrstuhlinhaber, bezeichnet – heute allerdings nicht mehr im öffentlichen Gebrauch – eine bestimmte Kategorie Gymnasiallehrer. Vicens, der eine entsprechende Stelle seit 1932 einnahm, verwendete diesen Begriff, ohne weiter zwischen Schul- und Universitätsprofessor zu differenzieren, woraus die damalige hohe soziale Wertschätzung des Akademikers im Allgemeinen und des Schullehrers im Besonderen spricht. An ihr wird möglicherweise auch die „institutionelle und personelle Verzahnung“ zwischen Schule und Universität sichtbar, die Lutz Raphael auch für den französischen Fall festgestellt hat. Vgl. Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 63 f.

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cens’ Profilierungsversuche, indem er dessen Verweis auf „wissenschaftliche Techniken“ ironisierte: „Falls es diese brandneue historische Technik – die er, wie er mir in einem außergewöhnlichen offenen Brief erklärt, hier und im Ausland erlernt hat – dieses Herren sein sollte, die es ihm erlaubt, die Ideen und Thesen der anderen zu verdrehen, dann ist dies weder eine moderne, noch eine wissenschaftliche, universitäre oder seriöse und nicht einmal eine korrekte Technik.“¹⁴

Rovira warf dem jungen Katalanen damit vor, die „historische Technik“ selbst als argumentative Technik zu verwenden, um die Hoheit über eine Deutung zu beanspruchen, die von seinen eigenen Erkenntnissen nicht weit entfernt gewesen sei. Die „katalanische Sensibilität“ zeige sich nicht, so Rovira, in den Arbeitstechniken, sondern in der Auslegung der Ereignisse. Im Gegenzug dazu erkannte Pere Bosch i Gimpera, damaliger Rektor der Universitat de Catalunya, in seinem Vorwort zu Vicens Dissertationsarbeit in dieser Studie ein „Vorbild“, „damit die Universität in Katalonien mit jedem Tag besser auf die wissenschaftlichen, sozialen und menschlichen Bedürfnisse des katalanischen Volkes reagieren kann.“¹⁵ Die wissenschaftliche Produktion des frisch promovierten Historikers stünde somit beispielhaft für die Verlagerung der nationalhistorischen Deutungshoheit von der Publizistik in die Universität und damit in die ‚Wissenschaft‘. Anders als für Rovira lag für Bosch i Gimpera und Vicens der Dienst am „Volk Kataloniens“ auch in einer ‚Verwissenschaftlichung‘ seiner Geschichte durch die Aneignung wissenschaftlicher Techniken aus dem ‚Ausland‘. Ein drittes Merkmal lag schließlich in der Verortung von Vicens’ historischen Deutungen innerhalb des konservativ-katalanistischen Spektrums. Die Debatte, die zwischen Rovira und Vicens entbrannt war, weitete sich zwar mit der Publikation der Promotionsarbeit in den Jahren 1936 und 1937 aufgrund des Bürgerkriegs nicht weiter aus. Ferran II i la ciutat de Barcelona wurde aber vor allem von linkskatalanistischen Historikern weitgehend mit Skepsis aufgenommen. Als Schüler eines kastilischen Historikers, Antonio de la Torre, und im Kontext des Bürgerkrieges schienen seine Thesen zur katalanischen Geschichte den unitaristischen Vorstellungen näher zu stehen als dem republikfreundlichen linkskatalanistischen Nationalismus.¹⁶ Vicens’ These, wonach Ferdinand II. die ‚katalanischen Freiheiten‘ nicht usurpiert, sondern für eine soziale Ordnung gesorgt habe, die erst die Eingliederung des Fürstentums in die neue Monarchie ermög-

 Rovira: Ferran II el Catòlic, S. 560.  Siehe dazu sein Vorwort zu Vicens: Ferran II i la ciutat de Barcelona, Bd. 1, S. 10.  Vgl. Sobrequés: Un moment crucial de la historiografia catalana, S. 70 – 82.

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lichte, stand den Thesen eines Madrider Berufshistorikers wie Antonio Ballesteros näher als denjenigen Soldevilas.¹⁷ Vicens ist jedoch keinesfalls in der spanischnationalen Geschichtsschreibung zu verorten. Mit seinen Deutungen bewegte er sich nämlich innerhalb eines konservativen Katalanismus, der sich zwar in nationalen Kategorien artikulierte. Wie Enric Ucely-Da Cal wiederholt herausgearbeitet hat, blieb jedoch der konservative Katalanismus ihrem regionalistischen Ursprung darin verhaftet, dass die katalanische Nation stets in einem auch historischen Zusammenhang mit der spanischen gedacht wurde.¹⁸ So situiert UcelayDa Cal die historiografischen Impulse von Vicens im Kontext eines hybriden Nationalismus’, der die Größe der katalanischen Nation nach ihrem Beitrag zur Größe der spanischen bemaß.¹⁹ Diese Hybridität soll an dieser Stelle vor allem deswegen unterstrichen werden, da der Militärputsch vom Sommer 1936 und der darauffolgende Bürgerkrieg in solchen Gebieten, in denen sich nationalistische Bewegungen formiert hatten, nicht nur als ideologischer Konflikt, sondern auch als „spanischer Invasionskrieg“ wahrgenommen wurde.²⁰ Die Polarisierung der politischen Landschaft und

 Peiró und Pasamar zählen Antonio Ballesteros Barreta zur „Vätergeneration der professionellen Geschichtsschreibung in Spanien“, Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 101– 103, hier S. 101. Ballesteros war Autor einer monumentalen Geschichte Spaniens in zehn Bänden, die er in einer Synthese der Geschichte Spaniens zusammenfasste, die 1920 in Madrid erschien. Eine deutsche Übersetzung der dritten Auflage (1936) war 1943 vom Oldenbourg Verlag unter dem Titel Geschichte Spaniens herausgegeben worden (Antonio Ballesteros: Geschichte Spaniens, München 1943). Zu seiner Einordnung der Herrschaft der Katholischen Könige und der Aufhebung katalanischer Ständevertretungen siehe ebd., S. 227 f. Zu Vicens’ Parteinahme für die spanisch-nationalen „Schulen“ um Claudio Sánchez Albornoz und Antonio Ballesteros zulasten der katalanistischen siehe Vicens: Entwicklung der spanischen Geschichtsschreibung, S. 478 f.  Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 63 f.  Zum Ursprung des katalanischen Nationalismus als spanisch-patriotische Form des Regionalismus siehe Enric Ucelay-Da Cal: El imperialismo catalán. Prat de la Riba, Cambó, D’Ors y la conquista moral de España, Barcelona 2003. Zur Einordnung von Jaume Vicens siehe ders.: El catalanismo ante Castilla o el antagonista ignorado, in: Antonio Morales Moya/Mariano Esteben de Vega (Hrsg.): Alma de España? Castilla en las interpretaciones del pasado español, Madrid 2005, S. 221– 270, insbesondere ab S. 257. Einen Einstieg in das komplexe Thema der Entwicklung regionaler sowie nationaler Identitäten in Spanien bietet Xosé M. Núñez Seixas: Überlegungen zum Problem der territorialen Identitäten. Provinz, Region und Nation im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Christina Benninghaus u. a. (Hrsg.): Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte (Festschrift für Heinz-Gerhard Haupt), Frankfurt a. M./New York 2008, S. 115 – 136.  Vgl. Xosé M. Núñez Seixas: ¡Fuera el invasor! Nacionalismos y movilización bélica durante la guerra civil española 1936 – 1939, Madrid 2006, S. 393 – 427; ders.: Nations in Arms against the Invader. On nationalist discourses during the Spanish Civil War, in: Chris Ealham/Michael Ri-

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die sozialrevolutionären Maßnahmen, die in Barcelona dem Ausbruch des Bürgerkriegs folgten, bewegten die führenden Persönlichkeiten des rechtskatalanistischen Lagers dazu, sich entweder auf die Seite der aufständischen Streitkräfte zu schlagen oder aber den Schutz der Republik vor der franquistischen „Invasion“ zu verfechten.²¹ Dabei war Barcelona bis Anfang des Jahres 1939 Teil des republikanischen Hoheitsgebiets. An der Universität Barcelona wurden republikanische Säuberungsprozesse (procesos de depuración) gegen politisch unerwünschtes Lehrpersonal durchgeführt. Im Rahmen dieser Säuberungen verlor Vicens’ Mentor Antonio de la Torre 1937 seinen Lehrstuhl.²² Seine Promotionsthesen, die Vicens selbst als unpolitisch – da rein wissenschaftlich – verteidigte, beeinträchtigten dabei sein enges Verhältnis zu wichtigen Persönlichkeiten des republikfreundlichen Katalanismus‘ nicht.²³ Unter dem Rektorat des Archäologen und auch, seit Sommer 1937, katalanischen Justizministers Pere Bosch i Gimpera fand er noch vor seiner Einberufung die Gelegenheit, die Institutionalisierung der katalanischen Geschichte an der Universität voranzutreiben. Knapp zwei Monate vor dem Aufstand der nacionales hatte Vicens in einem Artikel mit dem Titel Die Zukunft der Geschichte Kataloniens die Gründung einer eigenständigen Institution für katalanische Geschichte gefordert. Als Anlass dafür diente ihm das kurz zuvor erschienene Werk Ferran Soldevilas Historia de Catalunya, das für Vicens zwar das „erste Traktat über unsere Geschichte mit universitärem Profil“ darstellte, doch auch die Grenzen einer nicht institutionalisierten Forschung aufzeigte. Das „endgültige Wiederaufleben unserer Geschichte“, wie Vicens fortfuhr, müsse von einem „von der Universität Barcelona gegründeten Seminar für katalanische Geschichte“²⁴ ausgehen. Dieses Seminar, das noch im Jahr 1936 gegründet wurde, musste jedoch bald darauf seinen Betrieb kriegsbedingt einstellen und wurde schlussendlich mit dem Einmarsch der franquistischen Streitkräfte im Januar des Jahres 1939 endgültig stillgelegt. In der Karriere des jungen Vicens hatte sich bis Ende des Bürgerkriegs damit ein Spannungsverhältnis aufgetan, das sowohl seinen Säuberungsprozess unter dem Franco-Regime als auch seine Laufbahn in den frühen 1940er Jahren erklärt.

chards (Hrsg.): The Splintering of Spain. Cultural History and the Spanish Civil War, 1936 – 1939, Cambridge 2005, S. 45 – 67.  Vgl. ebd.  Zum „Säuberungsprozess“ von Antonio de la Torre siehe Sobrequés: Història d’una amistat, S. 62.  Vicens selbst wurde im selben Jahr als Sanitäter in die republikanische Armee eingezogen, diente jedoch nicht an der Front. Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 97 ff.  Jaume Vicens: L’esdevenidor de la Història de Catalunya, La Publicitat, 5. 5.1936, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 350 ff.

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Einerseits boten seine revisionistischen Ansätze zur katalanischen Geschichte konkrete Anknüpfungspunkte für unitaristische Vorstellungen. Andererseits hatte er sich für eine „Erneuerung“ der katalanischen Geschichte eingesetzt, deren Institutionalisierung er nur im Rahmen einer Universität unter republikanischer Hoheit und durch die Unterstützung von Pere Bosch i Gimpera hatte vorantreiben können. Im Mittelpunkt der Anklage zu seinem ersten proceso de depuración, die im August 1939 erhoben wurde, standen daher in erster Linie seine Verbindungen zum universitären Linkskatatalanismus. Beide Anklagepunkte zielten auf seine Nähe zu linkskatalanistischen Universitätskreisen und insbesondere zu Bosch i Gimpera, der nach dem Bürgerkrieg ins mexikanische Exil geflohen war.²⁵ Bezeichnend für die katholische Komponente, die allen im neuen Staat vereinten weltanschaulichen Strömungen zu eigen war, war auch die Tatsache, dass Vicens aufgrund seiner zivilen Hochzeit im Festsaal der Universität Barcelona denunziert wurde. Im Jahr 1937 waren er und seine Verlobte, Roser Rahola, vom Rektor Bosch i Gimpera festlich getraut worden, was sogar die lokale Tageszeitung La Vanguardia festgehalten hatte.²⁶ In einer zivilen und nicht kirchlichen Trauung, die ein republikanischer und linkskatalanistischer Rektor vorgenommen hatte, bündelten sich die Feindbilder des Laizismus und des linken Katalanismus. Ein weiterer Anklagepunkt betraf schließlich seine berufliche Karriere, die er, so die Anklageschrift, ebenfalls der Gunst von Bosch i Gimpera zu verdanken hätte. Die Besetzung universitäts- und schulpolitisch relevanter Posten sowie sogar zeitweise der Verdacht, an den republikanischen depuraciónes im Jahr 1937 mitgewirkt zu haben, brachten den jungen Historiker in eine Lage, die bestenfalls in einen langjährigen Berufsverbot münden konnte.²⁷ Der Sieg der franquistischen Streitkräfte erforderte sowohl für Vicens als auch für andere katalanische und spanische Historiker eine vollkommene Neuorientierung. Die Verbreitung von Texten in katalanischer Sprache und damit auch von Vicens’ Promotionsarbeit wurde verboten.²⁸ Die Einrichtungen, an denen Vicens bisher gearbeitet hatte, wurden entweder aufgelöst oder aber von nun an von eindeutig regimetreuen Personen geleitet. Der institutionelle Aufbau neuer For-

 Der Universitätsrektor Bosch i Gimpera, der 1937 zum Justizminister der katalanischen Landesregierung ernannt worden war, floh über England ins mexikanische Exil. Zu Pere Bosch i Gimpera siehe Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 138 – 140.  Siehe dazu die Rubrik Vida docente, La Vanguardia, 21. 8.1937, S. 3.  Die Akten zum proceso de depuración von Jaume Vicens befinden sich in AGA, Fondo Educación, (05)001 Legajo 18530. Eine Zusammenfassung bietet Sobrequés: Història d’una amistat, S. 58 – 64.  Zum Umgang mit der sprachlichen Vielfalt Spaniens im Bürgerkrieg und unmittelbar danach siehe Núñez Seixas: ¡Fuera el invasor!, S. 306 – 320.

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schungseinrichtungen und der personelle Umbruch, den die franquistischen procesos de depuración für die Universitäten bedeuteten, stellten neue Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere auf. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, baute der neue Staat von Beginn an auf einer historischen Legitimationsstrategie auf, die nicht nur auf eine Geschichte der politischen Einheit, des Imperiums und des Katholizismus blickte. Gerade die neue wissenschaftspolitische Organisation des Consejo Superior de Investigaciones Científicas fußte auf einer institutionellen und symbolischen Ordnung, die entlang der Deutungslinien des National-Katholizismus einen ‚spanischen Sonderweg‘ abseits der technisch-industriellen Moderne versprach. Unter diesen radikal neuen Bedingungen wissenschaftlich Karriere zu machen, erforderte demnach einen nicht weniger radikalen Neuanfang. Im Fall von Jaume Vicens nahm dieser Neuanfang seinen Ausgang in einem Säuberungsprozess, der erst im Oktober 1941 formal abgeschlossen wurde. Seine Verteidigungsstrategie, wie im Folgenden gezeigt wird, leitete eine neue Phase seiner wissenschaftlichen Laufbahn ein, die ihn Jahre später in den Consejo und zurück in die Universität bringen sollte.

2.2 Eine signifikante Quellenlücke: Von Lorenzo Guillén und der Geopolitik zum Lehrstuhl in Barcelona In der Einleitung zur zweibändigen Edition der Korrespondenz von Jaume Vicens ist die Lebensphase, die der katalanische Historiker nach dem Ende des Bürgerkriegs bis zu seinem Lehrstuhlantritt in Barcelona im Jahr 1948 durchlebte, von den Herausgebern als „die dunklen Jahre“ betitelt worden.²⁹ In der Tat bedeuteten die 1940er Jahre für Vicens fast ein Jahrzehnt finanzieller Schwierigkeiten und professioneller Ungewissheit. Doch entspricht die Bezeichnung ‚dunkel‘ nicht nur den Widrigkeiten, denen Vicens ausgesetzt war. Man könnte sie auch deshalb als ‚dunkel‘ bezeichnen, da die bisherige Forschung diese für seine akademische Sozialisation so wichtige Etappe stets als intellektuelle Parenthese behandelt hat.³⁰ Aufgrund seines frühen Todes hinterließ Vicens weder Memoiren, noch sonstige autobiografische Rückblicke, die ihn, hätte er sie geschrieben, zu einer zusammenhängenden Deutung bezüglich dieses Lebensabschnittes gezwungen hätten. Wie später deutlich werden wird, entwarf der Historiker Vicens jedoch ein autobiografisches Bild, demzufolge die Jahre 1948/50 und nicht das Jahr 1939 den Neuanfang seiner Laufbahn bildeten. Diese Konstruktion eines späten Neuan-

 Josep Clara: Introducció, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 1, S. 8.  So beispielsweise in der Biografie von Muñoz. Vgl. Múñoz: Jaume Vicens, S. 101– 161.

2.2 Eine signifikante Quellenlücke

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fangs findet auch in den ihm gewidmeten Quelleneditionen ihren Niederschlag. So stammen in der auf Vicens’ internationale Kontakte konzentrierten Korrespondenzausgabe von insgesamt 648 zusammengetragenen Briefen nur dreizehn aus den „dunklen Jahren“. Auch unterließen es Miquel Batllori und Emili Giralt bei der Herausgabe seiner gesammelten Aufsätze, diejenigen Artikel mit einzubeziehen, die Vicens unter dem Pseudonym Lorenzo Guillén und unter eigenem Namen zwischen 1939 und 1943 schrieb. Gemäß der politischen Ausrichtung des frühen Franco-Regimes aus einer deutlich achsenfreundlichen Position heraus geschrieben, wurden diese Artikel mit der Begründung, „nur eine verstümmelte Sicht auf sein eigenes Denken“³¹ zu geben, aus der Sammlung ausgeschlossen.³² Damit knüpften die Herausgeber an eine ‚Verdunkelung‘ an, die in der biografischen Selbstkonstruktion von Vicens bereits angelegt war.³³ Die starke Fokussierung auf seine Tätigkeit vor dem Jahr 1939 und nach 1948 ist als Erinnerungspraxis selbst ein Phänomen, dem diese Arbeit nachgehen wird. Sie muss an dieser Stelle jedoch bereits erwähnt werden, da Vicens’ langer Weg zum Lehrstuhl beispielhaft für den Versuch eines jungen Forschers steht, über die Zäsur von 1939 hinweg in den Wissenschaftsinstitutionen des neuen Regimes Fuß zu fassen. Jaume Vicens folgte in diesen Jahren der strategischen Devise „Vertrauen erwecken, Positionen besetzen, Überzeugungen formieren“, so wie sie Thomas Etzemüller in seiner akademischen Biografie des deutschen Historikers Werner Conze formuliert hat.³⁴ Im Kontext der unmittelbaren Nachbürgerkriegszeit konnte wissenschaftliches Vertrauen vor allem mit der Signalisierung weltanschaulicher Konformität erweckt werden. Dies galt insbesondere für Akademiker wie Vicens, der sich inmitten eines Gerichtsverfahrens befand, das über seine professionelle Zukunft zu entscheiden hatte. Bereits unmittelbar nach dem Bürgerkrieg und noch während der Verhandlung seiner depuración begann der 29-jährige Histo-

 Miquel Batllori/Emili Giralt: Nota editorial, in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 585 – 587, hier S. 586.  Trotz seiner Ankündigung, eine „kritische Darstellung“ von Vicens liefern zu wollen, hat auch Josep M. Muñoz in seiner intellektuellen Biografie die genannten Artikel weder nach ihrer Funktion in Vicens’ wissenschaftlicher Laufbahn befragt noch sie in ihrem konkreten ideologischen Kontext situiert. Siehe dazu Muñoz: Jaume Vicens, S. 111. Die Artikel von Lorenzo Guillén für Destino wurden allerdings von Pilar Galera in ihrer vollständigen Vicens-Bibliografie mit aufgenommen. Vgl. Pilar Galera: Publicaciones de Jaime Vicens Vives, in: Universidad de Barcelona, Facultad de Filosofía y Letras (Hrsg.): Homenaje a Jaime Vicens Vives, 2. Bde, Barcelona 1965 – 1967, Bd. 1, S. XIX–XXXV.  Ein deutlich vollständigeres Bild bietet die publizierte Korrespondenz zwischen Jaume Vicens und dem mit ihm befreundeten Historiker Jaume Sobrequés. Vgl. Sobrequés: Història d’una amistat.  Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 5.

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riker mit einer publizistischen Tätigkeit und einer strategischen Neuausrichtung seiner Netzwerke, die ihn in den Kreis regimegetreuer Intellektueller und nicht zuletzt ins Umfeld des Consejo bringen sollten. Die Zeitschrift Destino. Política de unidad, die im Jahr 1937 in Burgos von einer Gruppe katalanischer Falangisten gegründet worden war, diente Vicens als erstes Medium zur breitflächigen Bekanntgabe seiner neuen Positionen.³⁵ Anlässlich der ersten Weihnachtsfeier unter dem neuen Caudillo veröffentlichte Vicens unter eigenem Namen einen Artikel, der den Titel Kirche und Imperium am Weihnachtstag des Jahres 800 trug. In ihm hob er die historische Verflechtung von politischem Imperium und Papsttum zum Zwecke der „Verteidigung Europas“ hervor. Die Krönung Karls des Großen, so Vicens, „beleuchtet weiterhin den Pfad des Abendlandes und somit den Weg zur Erlösung angesichts des gewaltigen Abgrunds unserer Tage“.³⁶ Mit der Unterstreichung der christlichen conditio des Abendlandes und der Hervorhebung Karls des Großen – „unangefochtener caudillo des Christentums“³⁷ – konnte der Autor, ohne eine explizite Apologie des neuen Staates zu unternehmen, seine Konformität mit einem national-katholischen Narrativ signalisieren. Die Geschicke der spanischen Nation band er in die Geschichte eines „europäischen Abendlands“ ein, dessen „spirituelle Laufbahn sich klar und straff auf das alleinige Ziel richtet – dem Menschen in Gott […].“³⁸ So wie die Zeitschrift Destino orientierte sich auch Vicens bis 1942/43 stark an den weltanschaulichen Angeboten der Achsenmächte. Bereits zwei Monate nach dem Ende des Bürgerkriegs und noch vor dem deutschen Einmarsch in Polen erschien ein Beitrag des katalanischen Historikers, in dem er der Leserschaft die „Lebensraumtheorien“ vorstellte. Bezeichnend war dabei seine Lektüre von Karl Haushofer und Kurt Vowinckel, deren völkische Geografie er in ihrer organologischen Komponente ausdrücklich bejahte. So stellte „der Volkskörper (oder der Staatskörper) als organische Anwesenheit“, wie er Vowinckel zitierte, die Einheit dar, wonach sich die Neuordnung Europas vollziehen müsse.³⁹ Im weiteren Verlauf seines Artikels übersetzte Vicens die Lebensraumtheorien jedoch auf eine Weise, die sie nicht nur mit den organologischen Konzeptionen, sondern auch mit

 Vgl. Carles Geli/José M. Huertas: Las tres vidas de Destino, Barcelona 1991, S. 11– 14. Diese intellektuelle Wochenzeitschrift definierte sich, so Geli und Huertas, als „katalanisch, aber entschieden antikatalanistisch“. Nach einer anfänglichen Ausrichtung an den Achsenmächten nahm sie spätestens nach 1945 und parallel zum Franco-Regime eine alliiertenfreundliche Haltung ein.  Jaume Vicens: Iglesia e imperio en la Navidad del 800, Destino, 23.12.1939, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 409 – 412, hier S. 411. und 412.  Ebd., S. 411.  Ebd., S. 412.  Jaume Vicens: Teoría del espacio vital, Destino, 15.7.1939, S. 4.

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der Privilegierung des Geistes und der Technikskepsis der franquistischen Eliten vereinbaren ließ. Diese Theorien seien nämlich dazu fähig, „den Fortschritt der technischen, sozialen und ökonomischen Entwicklung in Gang zu halten und zugleich die traditionellen und unveränderlichen Werte zu erhalten, die einem Volke im Laufe seines Lebens und seiner Geschichte Form verliehen haben.“ Die Lebensraumtheorien stünden, so Vicens, einer „materialistischen Geschichtsauffassung“ darin entgegen, dass sie den „Menschen als Helden“ betrachteten und gleichzeitig die Kategorie „Volk“ aufwerteten. Auf theoretischer Ebene würden sie damit auch der Gefahr entgehen, „den Geist in einem kühl rationalistischen, rein ökonomischen Mechanismus zu versklaven.“⁴⁰ Vor allem während der Jahre 1939 und 1940 setzte Vicens seine publizistische Tätigkeit in Destino fort. In zahlreichen Artikeln, die er teilweise unter Pseudonym verfasste, bettete er den Kriegsverlauf in eine Geschichte umstrittener geopolitischer Ordnungen ein, untersuchte die „Ambitionen des roten Russlands gen Westen“ und verteidigte unter Verweis auf die Lebensraumtheorie die Annexion von Danzig vom September 1939 als geostrategisches Schlüsselziel.⁴¹ Sein während des Bürgerkriegs entdecktes Interesse für Geopolitik goss er allerdings auch in die Form wissenschaftlicher Abhandlungen.⁴² In seiner im April 1940 veröffentlichten Monografie Spanien. Geopolitik des Staates und des Imperiums systematisierte Vicens seine geopolitischen Perspektiven, die er explizit den Lebensraumtheorien und den nationalsozialistischen Vorstellungen von „Blut und Boden“ entlehnte.⁴³ In neun Kapiteln entwickelte er eine „Humangeografie“ der iberischen Halbinsel, die die politische Einheit Spaniens als Ausdruck eines organischen, aber auch spirituellen Zusammenhangs analysierte. Die noch wenige

 Ebd.  o.A. [Jaume Vicens]: Geodinámica del corredor polaco de la ciudad de Dantzig, Destino, 15.7. 1939, S. 5; Lorenzo Guillén [Jaume Vicens]: Las ambiciones occidentales de la Rusia roja [I], Destino, 7.10.1939, S. 5; ders.: Las ambiciones occidentales de la Rusia roja [II], Destino, 21.10. 1939, S. 4; ders.: Las ambiciones occidentales de la Rusia roja [III], Destino, 16.12.1939, S. 4.Vicens verfasste unter dem Pseudonym Lorenzo Guillén mindestens 18 Artikel zur internationalen Geopolitik. Sie erschienen zwischen Juli 1939 und Juni 1940 in regelmäßigen Abständen. Im zentralen spanischen Zeitschriftenarchiv (Hemeroteca de la Biblioteca Nacional de España) fehlen allerdings die zwischen Juni 1940 und April 1942 erschienenen Ausgaben.  Sein Biograf, Josep M. Muñoz, verlegt auf der Grundlage der Korrespondenz, die ihm von der Familie zugänglich gemacht wurde, Vicens’ Entdeckung der deutschen Geopolitik in die Bürgerkriegsjahre. Als analytisches und propagandistisches Instrumentarium habe sie Vicens dazu gedient, Informationsbroschüren für die Frontpropaganda anzufertigen, die jedoch als verschollen gelten müssen. Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 97– 100.  Vgl. Jaume Vicens: España. Geopolítica del Estado y del Imperio, Madrid 1940, die explizite Anlehnung an die Vorstellungen von „Blut und Boden“ in S. 6 f.

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Jahre zuvor so polemisch diskutierte Einigung der kastilischen und aragonesischen Monarchie erschien in dieser Studie als zwangsläufiges Ergebnis einer „historischen und geografischen Kontinuität“, die sich schicksalhaft aus der Reconquista ergab – „[e]in Schicksal, das umso glorreicher war, je mehr es sich im 16. Jahrhundert an die lebendige Wirklichkeit der Halbinsel und an die spirituellen Charakteristika ihrer Bewohner anpasste.“⁴⁴ Das wissenschaftliche Profil, das Vicens dieser Publikation gab, bewegte ihn ferner zu einer bedeutenden Grenzüberschreitung. So konnte Vicens schließlich im Jahr 1941 in der von Karl Haushofer geleiteten Zeitschrift für Geopolitik seine Konzeption Spaniens innerhalb der „geopolitischen[n] Neuordnung der Welt“ auch dem deutschen wissenschaftlichen Feld zugänglich machen. Dort stellte er Spaniens „Wiedererlangung des nationalen Einheitsgefühls und die Überwindung eines unfruchtbaren und schwächenden Pessimismus“ dank der „Bejahung der großen Ideale von einst […]: Katholizität und Imperium“⁴⁵ fest. Diese Wende in der Themenauswahl, in den Ansätzen und vor allem in der Rhetorik folgte effektiv der genannten Strategie zur Vertrauensgewinnung und stellte gleichzeitig Vicens’ Versuch dar, neue Netzwerke aufzubauen und auf seinen Säuberungsprozess Einfluss zu nehmen. Die Publikation seiner Geopolítica von 1940 ermöglichte es ihm beispielsweise, sich mit führenden katalanischen Intellektuellen wie Joan R. Masoliver (1910 – 1997), Herausgeber des Werkes und zugleich Beauftragter für Propaganda und Zensur in Katalonien, in Verbindung zu setzen.⁴⁶ Von diesem und anderen führenden Falangisten beschaffte sich Vicens etliche Gutachten, die über seine Treue gegenüber dem neuen Staat Zeugnis ablegten und die er zusammen mit seinen seit dem Sommer des Jahres 1939 erschienenen Publikationen an das Gericht, das für seinen Fall zuständig war,

 Ebd., S. 27 und S. 101.  Jaume Vicens: Spanien und die geopolitische Neuordnung der Welt, in: Zeitschrift für Geopolitik 18 (1941), 256 – 263, hier S. 259. Zwar erschien in weniger bekannten Zeitschriften wie dem Geographischen Anzeiger manch eine Rezension, die seine geopolitische Abhandlung als „wertvolle und wegweisende Leistung“ begrüßte. Eine allzu große Breitenwirkung in Deutschland erreichte Vicens nicht. Otto Schäfer: España. Geopolítica del Estado y del Imperio von Dr. J.Vicens Vives, in: Geographischer Anzeiger 42 (1941), S. 395.  Dies geht aus einem Brief vom 18.8.1939 hervor, den Vicens anlässlich der Publikation seines vorher genannten Buches an Antonio de la Torre schrieb: „Ich werde mit Masoliver so schnell wie möglich die Geopolitik herausgeben […]. Ich weiß nicht, ob mein Fall [gemeint war das Verfahren der depuración] diesbezüglich eine gewisse Verzögerung bedeuten kann und würde Ihnen deshalb sehr dankbar sein, wenn Sie die Meinung des Ministers für mich sondieren könnten. […] Seitens der Propaganda- und Zensurabteilung der Provinzialregierung wird es jedenfalls keine Hindernisse geben“. Der Brieftext befindet sich im Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 475.

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schickte.⁴⁷ Gerade in dieser Situation kam dem Angeklagten ferner die Debatte zugute, die er mit dem Linkskatalanisten Rovira geführt hatte. Auch diese Artikel reichte er für seine Verteidigung ein, und zwar zusammen mit einem weiteren des Falangisten Xavier de Salas Bosch (1907– 1982), der Vicens’ Promotionsarbeit im Juli 1939 lobend als „Berichtigung […] jener Auffassung, die der katalanische Nationalismus hervorgebracht und jahrzehntelang gestützt hat“, rezensiert hatte.⁴⁸ Die Protektion durch wichtige Persönlichkeiten aus der neuen politischen Elite, seine Auseinandersetzungen mit der katalanisch-nationalistischen Historiografie und seine publizistische Tätigkeit gereichten allerdings nicht zu einem Freispruch. Die Schwere der Vorwürfe und weitere Denunziationen, die im Laufe des Prozesses beim Gericht eingingen, führten schließlich zu einem Urteil, das ihn zwar nicht endgültig vom Lehrbetrieb entfernte, ihn aber dennoch für zwei Jahre vollständig aus dem Universitätsbetrieb ausschloss. Im Anschluss daran sah das im Oktober 1941 amtlich bekanntgegebene Urteil vor, dass Vicens in die andalusische Kleinstadt Baeza als Gymnasiallehrer zwangsversetzt werden sollte.⁴⁹ Die zwei Jahre seines Lehrverbots nutzte Vicens vor allem dafür, seine wissenschaftlichen Netzwerke im Inland neu aufzubauen und sich mit publizistischen und editorischen Projekten finanziell über Wasser zu halten, darunter mithilfe der Gründung des auf Hand- und Studienbücher spezialisierten Verlags Teide zusammen mit seinem Schwager Frederic Rahola (1914– 1992). Ferner erschien im Jahr 1942 sein erstes Geschichtshandbuch mit dem Titel Historia General Moderna. Es handelte sich um eine über tausend Seiten starke, aus eurozentrischer Perspektive geschriebene ‚Universalgeschichte‘, in der sich Vicens erneut um ein Profil akademischer Sachlichkeit bemühte und wiederum seine Konformität mit den moderneskeptischen Narrativen des National-Katholizismus signalisierte. Dies wurde vor allem in seiner Darstellung eines vorrevolutionären Europas deutlich, in dem der „[R]ationalismus, Individualismus, Subjektivismus, Kritizismus, Indifferentismus, Relativismus [der] der Philosophie der Aufklärung“ die „revolutionäre Explosion“ vorbereitet habe.⁵⁰ Ähnlich wie auch später Vicente Palacio Atard, erkannte Vicens im „aufgeklärten Absolutismus“ eine geglückte Vermengung der katholischen und monarchischen Gesellschaftsordnung mit denjenigen Errungenschaften, die er der Aufklärung zusprach: „Wie sein Name

 Vgl. die Akten zum Verfahren in AGA, Fondo Educación, (05)001 Legajo 18530.  Xavier de Salas Bosch: Fernando el Católico y Barcelona, Solidaridad Nacional, 26.7.1939. Salas Bosch (1907– 1982) gehörte neben Masoliver zu den führenden katalanischen Falangisten.  Verhängt wurde die Sperre am 18.8.1941, öffentlich bekanntgegeben wurde sie in: Boletín Oficial del Estado, 22.10.1941, S. 8219.  Jaume Vicens: Historia General Moderna. Del Renacimiento a la crisis del siglo XX, Barcelona 1942, S. 320.

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[des aufgeklärten Absolutismus] bereits anzeigt, versammelt er das Alte und das Neue, das Vergangene und das Zukünftige. Alles befindet sich in ihm auf passende Weise synchronisiert und abgemildert.“⁵¹ Im Unterschied zu Palacio Atards Thesen der 1950er Jahre jedoch hatte sich für Vicens dieses Gleichgewicht zwischen ‚Alt und Neu‘ gerade für Spanien nicht einstellen können, da sich Aufklärung und „katholische Einheit“ als Gegensätze erwiesen hätten. Erstere „verstieß vollkommen gegen den nationalen Geist und Stil. Ohne ein geeignetes Immunsystem, dass das rationalistische und hyperkritische Virus hätte bekämpfen können, wurden die romanischen Gesellschaften [gemeint sind hier Spanien und Italien] zu Geiseln des Enzyklopädismus […].“⁵² Die Aufklärung erschien damit als zersetzender, da fremder Organismus, der eine bereits geschwächte spanische Nation infiziert hatte und schließlich in ein Zeitalter politischer Revolutionen und Bürgerkriege führte. Um sich im spanischen Historikerfeld möglichst rasch wieder etablieren zu können, konnte Vicens vor allem auf seinen Doktorvater Antonio de la Torre bauen. Dieser hatte sich nach dem franquistischen Sieg im Bürgerkrieg, wie gezeigt worden ist, am Aufbau des historischen Instituts Jerónimo Zurita beteiligt und leitete mittlerweile die Escuela de Estudios Medievales. De la Torre hatte sich während des proceso de depuración für Vicens eingesetzt. Nach Ablauf seiner zweijährigen Berufssperre gelang es de la Torre,Vicens im Institut Jerónimo Zurita einzubinden.⁵³ So konnte Vicens bereits im Jahr 1945 an seine Promotion schließende Forschungen, diesmal in einer spanischsprachigen Version, in den Publikationsreihen des CSIC veröffentlichen und mit ihnen in der weitgehend gleichgeschalteten Presse ein positives Echo erzeugen.⁵⁴ Die Rezension, die im Frühsommer 1946 in der größten katalanischen Tageszeitung La Vanguardia Española erschien, zeigt dabei, wie sich Vicens‘ Werk auch als Hagiografie des Katholischen Königs mit wissenschaftlichem Anspruch lesen ließ. Der Übergang vom 15. ins 16. Jahrhundert, so die in der La Vanguardia formulierte Lesart, „hob spezielle soziale und wirtschaftliche, archaisch verwurzelte Formen auf, um in eine andere Struktur überzugehen, die eher in Übereinstimmung mit dem Wandel der Zeit war. […] Insbesondere war es die geschickte und realistische Politik des Katholischen Königs, […]

 Ebd.  Ebd., S. 329.  Siehe dazu die Fußnote 2 in Sobrequés: Hisòria d’una amistat, S. 119 f.  Vgl. Jaume Vicens: Historia de los remensas en el siglo XV, Barcelona 1945. Eine verkürzte Fassung seiner Dissertation hatte er im Jahr 1940 unter dem Titel Política del rey católico en Cataluña im Verlag Destino veröffentlicht.Vgl. Jaume Vicens: Política del rey católico en Cataluña, Barcelona 1940.

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die eine Lösung zum alten Problem finden sollte. Professor Vicens verdient die besten Glückwünsche für seine Forschungsarbeit und seine scharfsinnige Darstellung.“⁵⁵

Neben solchen positiven Reaktionen auf seine Publikationen war es jedoch vor allem die Einbindung in die neue akademische und wissenschaftspolitische Elite des Consejo, die Vicens seit Mitte der 1940er Jahre eine neue Tür zu einer akademischen Karriere öffnete. Wie Josep M. Muñoz bemerkt hat, bemühte sich der katalanische Historiker schon im Jahr 1944 um seine Wiederaufnahme in das Verfahren der oposiciones, in dem potentielle Lehrstuhlanwärter vor einer fünfköpfigen Berufungskommission ihre professionelle Eignung unter Beweis stellen mussten.⁵⁶ Angesichts seiner Vorgeschichte war Vicens zunächst auf eine Zulassung angewiesen, die er auf dem direktesten Weg nur vom Minister für Nationale Erziehung und Vorsitzenden des Consejo, José Ibáñez Martín, erhalten konnte. Noch während seines depuración-Prozesses hatte sich Vicens daher schriftlich an Ibáñez Martín gewandt, um ihm sein „unauslöschliches Vertrauen in die Aufrichtigkeit und die Hellsichtigkeit jener Männer [zuzusichern], die heute die Geschicke Spaniens bestimmen“, woraufhin er seine Zuversicht äußerte, „dass ich bald die Gelegenheit dazu haben werde, mich erneut vollständig im Lehrberuf einzufinden.“⁵⁷ Nach Ablauf seiner Sperrfrist konnte Vicens seinen ehemaligen Doktorvater dazu bewegen, sich entschieden für seine Wiederaufnahme in den Kreis der Kandidaten einzusetzen.⁵⁸ Darüber hinaus stellte de la Torre für Vicens Kontakt mit Pío Zabala, Direktor des Jerónimo Zurita, und Cayetano Alcázar, Leiter der Escuela de Historia Moderna und Generaldirektor für Universitätslehre im Erziehungsministerium, her. Beide sollten entscheidend dazu beitragen, dass Vicens sich für die Lehrstühle für Allgemeine Neuere und Neueste Geschichte (Historia General Moderna y Contemporánea) in Zaragoza (1947) und ein Jahr später in Barcelona bewerben konnte. Für ein erfolgreiches Vorsingen benötigte Vicens mindestens drei der fünf Stimmen, die die Berufungskommission zu vergeben hatte.⁵⁹ Sowohl für Zara-

 Notas bibliográficas, La Vanguardia Española, 13.6.1946, S. 3. Nach dem Bürgerkrieg war die barcelonesische Zeitung von La Vanguardia in La Vanguardia Española umbenannt worden.  Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 151– 163.  Brief von Jaume Vicens an José Ibáñez Martín vom 14.10.1940. Dieser Brief wird zitiert in Sobrequés: Història d’una amistat, S. 45. Er befindet sich ebenfalls im Nachlass von José Ibáñez Martín im AGUN. Er konnte jedoch aufgrund der späten Freigabe dieses Nachlasses vom Autor nicht konsultiert werden.  Vgl. Muñoz: Jaume Vicens., S. 151 f.  Vgl. Ignacio Peiró/Miquel A. Marín: Catedráticos franquistas, franquistas catedráticos. Los „pequeños dictadores“ de la Historia, in: Ignacio Peiró/Francisco Javier Caspístegui (Hrsg.): Jesús

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goza, als auch für Barcelona – die oposiciones fanden jeweils im Frühjahr der Jahre 1947 und 1948 statt – hatten mit Zabala in Zaragoza und de la Torre in Barcelona vertraute Personen den Vorsitz inne. Aufgrund seiner erfolgreichen Einbindung in die Netzwerke des Consejo rechnete Vicens für den Lehrstuhl in Zaragoza im Vorfeld mit vier positiven Voten.⁶⁰ Vicens’ Interesse galt jedoch nicht so sehr diesem Lehrstuhl, den er nach erfolgreichen oposiciones wenig später antrat, sondern vielmehr demjenigen in Barcelona, für den er kurz darauf kandidierte. Auch hier stand die Zusammensetzung der Kommission, wie Vicens selbst einräumte, zu seinen Gunsten.⁶¹ Im Vorfeld der Prüfung hatte er dabei nochmals seine Affinitäten zu einem der Kommissionsmitglieder öffentlich gemacht. Es handelte sich um Vicente Rodríguez Casado, der als Gründungsvater der Sommerakademie des Consejo in der andalusischen Stadt Santa María de la Rábida die Bildung jenes Intellektuellenkreises gefördert hatte, der sich um Rafael Calvo Serer, Florentino Pérez Embid und Vicente Palacio Atard bilden würde.⁶² Vicens bekundete diese Affinität in einem Artikel, den er in Destino unter dem Titel Die Historische Schule von Sevilla keine zwei Monate vor seinem Vorsingen publizierte.⁶³ In diesem ersten Artikel nach einer vierjährigen Publikationspause unterstrich er die herausragende Arbeit einer Schule, die, „mit strenger und sicherer Hand von Rodríguez Casado geführt“, auf personeller Ebene die „Zukunft der historischen Forschung“ hervorbringen würde. Schließlich lud er, „das bescheidenste Mitglied der glorreichen Historischen Schule von Barcelona [diejenige von de la Torre, als dessen Schüler Vicens galt], diese wunderbare Gruppe aus Sevilla“ dazu ein, mit der Geschichtswissenschaft jener Stadt eng zusammenzuarbeiten, „die so großzügig zur Kolonisierung Amerikas beigetragen“⁶⁴ Alonso. El maestro que sabía escuchar, Pamplona 2016, S. 251– 291; Pasamar: Oligarquías y clientelas, S. 305 – 339.  Das waren die Stimmen von Pío Zabala, Luis Pericot (1899 – 1978), Vicente Rodríguez Casado und Joaquín Pérez Villanueva. Dies teilte Vicens in einem Brief an Santiago Sobrequés mit, nachdem die Mitglieder des Prüfungsausschusses bekannt gegeben worden waren. Vgl. Brief von Jaume Vicens an Santiago Sobrequés vom 7. 5.1946, in: Sobrequés: Història d’una amistat, S. 301 f.  Kurz vor der Prüfung schrieb er an Sobrequés: „Glücklicherweise ist für mich das Ambiente in Madrid gesichert.“ Er stufte sich ferner als „Madrider Kandidat“ ein. Brief von Jaume Vicens an Santiago Sobrequés vom 23.1.1948, in: Sobrequés: Història d’una amistat, S. 407– 410, hier S. 410.  Vgl. Fernando Fernández: El espíritu de la Rábida. El legado cultural de Vicente Rodríguez Casado, Madrid 1995.  Für die Jahre nach 1943/45 betrachten Geli und Huertas im Profil dieser Zeitschrift einen „Barcelonismus als Ersatz für den Katalanismus“. Ihre Leser, hauptsächlich das katalanische Bürgertum, belief sich in der Zahl auf 15 000 im Jahr 1942 und 22 000 im Jahr 1954. Vgl. Geli/ Huertas: Las tres vidas de Destino, S. 33 und S. 110.  Jaume Vicens: La Escuela Histórica de Sevilla, Destino, 27.12.1947, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 281– 283, hier S. 382– 383.

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habe. Dieses überschwängliche Lob erfüllte eine strategische Funktion. Der Professor aus Zaragoza bekundete dadurch nicht nur sein gutes Verhältnis und seine wissenschaftliche Affinität zur „Schule von Sevilla“, sondern signalisierte auch mittels seiner erklärten Zuversicht in eine zukünftige Kooperation zwischen Barcelona und Sevilla seinen Anspruch auf den Lehrstuhl, auf den er kandidierte. Wie die Akten zum Verfahren zeigen, das wenige Monate später begann, zogen die meisten Anwärter ihre Kandidatur nach der ersten Runde zurück, so dass er kurz darauf als einziger ernstzunehmender Kandidat für die vakante Professur vorsingen konnte.⁶⁵ Diese Strategien werden an dieser Stelle nicht mit der Absicht kenntlich gemacht, Vicens’ fachliche Eignung oder intellektuelle Verdienste um die Professur in Frage zu stellen. Das akademische Klientelsystem, wie er sich in den oposiciones offenbarte, schloss meritokratische Beurteilungskriterien keineswegs aus. (Wissenschafts)Politische und wissenschaftliche Netzwerke sowie fachliche Kompetenz verhielten sich vielmehr wie notwendige und hinreichende Bedingungen zueinander. Ohne die Eingliederung in diese Netzwerke und das Signalisieren der entsprechenden Affinitäten war eine Kandidatur erst gar nicht möglich. Um das Ziel der Professur zu erreichen, kam als weitere Bedingung aber das Vorweisen fachlicher Eignung hinzu.⁶⁶ Jenseits der normativen Frage, inwiefern sich Vicens um die Professur verdient gemacht hatte oder nicht, werfen die von ihm für die Prüfung verfassten Texte ein interessantes Licht auf die Versuche des Historikers, sich in die historischen Diskurse seines Umfelds einzuschreiben und dennoch sein eigenes Profil zu schärfen.

 Die gesamten Unterlagen samt Übungen und Gutachten befinden sich in AGA, Fondo Educación, (5)001 Caja 31/4043. Rafael Olivar Betrand, einziger Kontrahent von Vicens in der letzten Runde, beschwerte sich in den folgenden Jahren wiederholt über den Druck, den man auf ihn ausgeübt habe, damit er ebenfalls zurücktrete. Das professionelle Umfeld habe ihm, „auf diese Weise die ‚Strategie‘ vorgeführt, die in Spanien für ein erfolgreiches Vorsingen benötigt“ würde. Brief von Rafael Olivar an Pere Bosch i Gimpera vom 12. 5.1972, in: Pere Bosch i Gimpera/Rafael Olivar Bertrand: Correspondència, 1969 – 1974, Barcelona 1978, S. 74– 78, hier S. 77.  Die Annahme, wie sie die Historikerinnen Blasco und Macebo formulieren, wonach sich das Kooptationssystem der spanischen Geschichtswissenschaft der 1940er Jahre gerade im Falle von Vicens von seiner meritokratischsten Seite gezeigt haben müsse, erweist sich jedoch eindeutig als irreführend, zumal diese Annahme das strategische Verhalten des katalanischen Historikers im Vorfeld der oposiciones übergeht. Yolanda Blasco und María F. Mancebo bewerten Vicens’ Berufungsverfahren wie folgt: „Es war eine Zeit geringerer Anspannung [als zu Beginn der 1940er Jahre], politische, ‚patriotische‘ Verdienste wurden nicht mehr so stark gewichtet. Der in seinen [ideologischen] Tendenzen unterschiedliche Ausschuss erkannte seine großen Verdienste an.“ Yolanda Blasco/María F. Mancebo: Oposiciones y concursos a cátedras de historia en la Universidad de Franco (1939 – 1950), Valencia 2010, S. 178.

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Von den sechs schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen, die Vicens während den oposiciones erbringen musste, soll an dieser Stelle insbesondere seine im Vorfeld eingereichte, 47-seitige Abhandlung zum Thema Die historische Tatsache und der Sinn der Geschichte hervorgehoben werden. Dieser Text ist insofern für sein Selbstverständnis als Historiker wichtig, da Vicens in ihm auf Anfrage des Ausschusses seine eigene historische Herangehensweise erläuterte und argumentativ entwickelte.⁶⁷ Dabei goss er diese nichtpublizierte Abhandlung in die Form einer ideengeschichtlichen Verortung seiner wissenschaftlichen Gegenwart, die er in dieser Länge und Systematik auch nach seinem Lehrstuhlantritt nicht hervorbringen würde. Im Frühjahr des Jahres 1948 vorgelegt, spiegelte sie den Versuch wider, an die Vorstellungen der „christlichen Einheit der Wissenschaften“ anzuknüpfen und darin seine neu getaufte Geohistoria als Mittelweg zwischen zwei säkularen Impulsgebern zu postulieren: Den Natur- und den Geisteswissenschaften. Die zentrale Frage, unter die er seine Abhandlung stellte, war die danach, „ob die Geschichte eine Wissenschaft ist oder nicht“ bzw. wie eine Geschichte als Wissenschaft bestehen könnte, ohne auf die Begriffe der ‚Freiheit‘ und des ‚Geistes‘ zu verzichten.⁶⁸ Sechs Merkmale sollen hinsichtlich seines Versuchs, auf diese Frage eine Antwort zu geben, herausgearbeitet werden. Erstens entwickelte Vicens seine Thesen fast ausschließlich im argumentativen Disput mit französischen und deutschen Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts.⁶⁹ Damit verortete der Autor seine eigene Position in einem internationalen Wissenschaftsfeld, auf dessen Autorität er rekurrierte. Gleichzeitig grenzte er sich von jenen Tendenzen ab, die sich für ihn durch allzu deterministische oder materialistische Inhalte auszeichneten. Vicens verlieh sich damit ein internationales Profil, das zugleich für ein esoterisches Verständnis der scientific community stand. Besaß die Geschichte als „Wissenschaft“, wie er in Anlehnung an Ernst Bernheim und Wilhelm Bauer zeigte, „eine Arbeitsmethode, die in ihrer Präzision mit jeder naturwissenschaftlichen Disziplin mithalten kann“, so seien erst die in diese Methoden „Eingeweihten“ dazu fähig, den „Rang eines Historikers [zu erlangen] – und willkommen seien sie, wenn sie die Initiation und den Ritus akzeptieren […].“⁷⁰ Die Initiation bestand im Erlernen einer Methode, die erst den Zugang zu einer internationalen Deutungselite gewährte, auf die Vicens selbst ritualhaft verwies. In seinen Ausführungen zu den „Arbeitsmethoden“ tauchte

 Die maschinengeschriebene Abhandlung El hecho histórico y el sentido de la Historia in AGA, Fondo Educación, (05)001 Caja 31/4043.  Vicens: El hecho histórico, S. 3.  Vicens führte insgesamt 56 Namen wissenschaftlicher Autoritäten aus den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften an, von denen lediglich fünf aus Spanien kamen.  Vicens: El hecho histórico, S. 4.

2.2 Eine signifikante Quellenlücke

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dabei kein einziger spanischer Autor auf. Damit siedelte er nicht nur die Geschichte als ‚Wissenschaft‘ jenseits der Pyrenäen an. Gleichzeitig machte er auf diese Weise den Zutritt zum esoterischen Kreis der Historiker vom intellektuellen Austausch jenseits der nationalen Grenzen abhängig. Zweitens baute er seine Argumentation auf zwei ideengeschichtlichen Achsen auf, in denen er zugleich zwei säkulare Anschauungsmodi über den Menschen und die Geschichte erkannte: Eine Geschichtswissenschaft, die sich affirmativ an den epistemologischen Prämissen der Naturwissenschaften orientierte, und wiederum eine andere, die sich von ihnen abzugrenzen suchte. Damit interpretierte Vicens die Geschichte seines Fachs zunächst als Antwort auf die Herausforderungen der „Naturwissenschaften und vor allem der Physik“, da „sie eine unbestreitbare Vorrangstellung im Gesamtzusammenhang der intellektuellen Tätigkeiten erlangt hatten.“⁷¹ Die Festlegung dieses Ursprungsmoments war deswegen zentral, da er von dort an seine eigenen Ansichten in Abgrenzung von den Exzessen formulierte, die eine Orientierung an den Naturwissenschaften hervorgebracht habe: Vom „biologistischen Positivismus“, der „eine für die Integrität aller Werte der abendländischen Kultur eine der zerstörerischsten Mischungen“ beinhaltet habe, über das „klangvolle Scheitern“ einer von der Epistemologie Kants inspirierten Arbeit Karl Lamprechts bis hin zum „Krebs der Gesellschaft“, dem Marxismus. Als historischen Materialismus würde letzterer „das historische Geschehen als reine Widerspiegelung eines ökonomischen Mechanismus“ interpretieren. Der „starre Rationalismus“ und der „Positivismus“, unter denen er all die genannten Ansätze subsumierte, hätten bald einen Fortschrittsglauben hervorgebracht, der sich „zu einem definitorischen Dogma [entwickelte], das uns in die Verirrung des Materialismus, Szientismus und Technizismus stürzte.“ Vicens konstruierte damit eine Bedrohungsgeschichte, die sich in den Begriffen des „Positivismus“, „Determinismus“, „Materialismus“ oder „Technizismus“ äußerte und ihn in die Nähe der technikskeptischen Diskurse seines professionellen und wissenschaftspolitischen Umfelds brachte.⁷² Für wen oder was diese Ismen eine Gefahr darstellten, verdeutlichte Vicens durch eine weitere Abgrenzung. Er wandte sich nämlich drittens auch gegen den deutschen Historismus, zumindest in der Form, wie er für Vicens im Denken Wilhelm Diltheys angelegt war. In dessen Philosophie der „historischen Vernunft“ war für den katalanischen Historiker der klare Verzicht auf eine historische Transzendenz angelegt, die schließlich zu „einer derartigen Relativierung kultureller Werte führte, wie sie nicht einmal der Materialismus und der Evolutionis-

 Ebd., S. 3.  Ebd. S. 5, 18, 19und S. 37.

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2 Republik, Bürgerkrieg, Diktatur: Der lange Weg zum Lehrstuhl

mus verursacht hatten.“ Unter stetigem Verweis auf Ernst Troeltschs Werk Der Historismus und seine Probleme reproduzierte er den Relativismus-Vorwurf und spitzte ihn zu. So, wie die „positivistischen“ Tendenzen dazu geführt hätten, die Geschichte in rational gefassten Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, so habe der Historismus jegliches transzendentale Wirken aus der Geschichte verbannt.⁷³ Um dieser doppelten Bedrohungslage zu entgehen, entwickelte Vicens viertens eine „Theologie der Geschichte“, die auch den Zwiespalt zwischen Naturund Geisteswissenschaften aufzuheben versprach. In einer deutlichen Parallele zu den Wissenschaftskonzeptionen, die sich im symbolischen Aufbau des Consejo und den ihn umgebenden Wissenschaftsdiskursen ausdrückten, hielt Vicens die „Einheit der wissenschaftlichen Erkenntnis“ einer Forschung fest, die „über die letzten Werte hat nachsinnen und erneut an Gott hat glauben müssen.“ Die „Vorsehung […], die erhabene Ordnungsstifterin der physischen Gesetzmäßigkeiten, […] hat auch der Geschichte eine Ordnung, einen Sinn verliehen.“ Sie habe „den [historischen] Verlauf der Menschheit auf Erden vorgezeichnet und der letzte Sinn der Geschichte [sei] die Verwirklichung ihres göttlichen Reiches.“ Wenn es demnach eine Gesetzmäßigkeit in der Geschichte gäbe, dann sei diese, so der Verfasser, in einer Heilsgeschichte zu sehen, die sich in ihrem Kern in der „Äußerung des Geistes“ zeige. Somit sei eine „spirituelle Konstante“ vorhanden, „die den Fluss [der Geschichte] formt.“⁷⁴ Diese Geschichte als Heilsgeschichte, die sowohl die Äußerungen des Geistes als auch die Naturgesetze als Ausdruck der göttlichen Vorsehung miteinander verband, wirkt in seiner Abhandlung zunächst deplatziert und muss daher vor allem situativ erklärt werden. Im wissenschaftlichen Kontext des frühen FrancoRegimes konnte der Kandidat mit diesen Ausführungen eine religiöse Fundamentierung der von ihm vertretenen Ansätze signalisieren. Für diese situative Erklärung spricht auch die Tatsache, dass sich Vicens in diesen Passagen ausschließlich am deutschen katholischen Theologen Joseph Bernhart (1881– 1969) orientierte. Dessen Monografie El sentido de la Historia war im Jahr 1946 vom Departamento de Culturas Modernas des Consejo publiziert worden. Wie eng sich Vicens an diese Vorlage hielt, zeigt auch die Tatsache, dass er den falsch geschriebenen Autorennamen übernahm, unter dem der Verlag den Text publiziert hatte (Joseph Bernhard).⁷⁵ Jedenfalls sollte Vicens weder vor noch nach dieser

 Ebd. S. 22, 20 und S. 23.  Ebd. S. 6, 10, 13, 33 und S. 42.  Vgl. Joseph Bernhard: El sentido de la Historia, Madrid 1946. Das deutschsprachige Original erschien im Jahr 1931 als erster Band zur Reihe „Geschichte der frühen Völker“ und enthielt eine weitere Abhandlung des Archäologen Hugo Obermaier.Vgl. Joseph Bernhart/Hugo Obermaier: Der

2.2 Eine signifikante Quellenlücke

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Abhandlung eine vergleichbare Anlehnung an geschichtstheologische Schriften vornehmen. Gleichwohl er in vielerlei Hinsicht eigene Überzeugungen formulierte, besaß sie im Kontext des Berufungsverfahrens einen unverkennbar strategischen Wert. Dieser von Vicens unternommene theologische Exkurs erscheint schließlich auch deswegen deplatziert, da er darauf aufbauend dazu überging, zyklische Modelle und geohistorische Ansätze zu verfechten, die ihn sogar befürchten ließen, „als Materialisten“ abgetan zu werden. Das fünfte Merkmal lag nämlich in seinem Versuch begründet, einen Mittelweg zwischen den zwei von ihm zu Beginn aufgespannten säkularen Tendenzen zu gehen und einen Ansatz zu formulieren, in dem sowohl die „geistige Konstante“ als auch die „sozioökonomischen Umstände“ Eingang finden würden.⁷⁶ Anders als in den Wissenschaftsdiskursen im Umfeld des Consejo, an die er sich zu Beginn seines Textes noch einzuschreiben suchte, zeichnete Vicens das Verhältnis von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften nun nicht mehr als Dichotomie. Seine zentralen Postulate formulierte er vielmehr in einer Sprache, die er durchaus den Naturwissenschaften entlehnte und die dennoch den ‚Geist‘ in den Mittelpunkt zu rücken versuchte. So sei das vorher zitierte Verhältnis von „geistiger Konstante“ und „sozioökonomischen Umständen“ so zu verstehen, dass die „Äußerung den Geistes […] den Nukleus des historischen Atoms bildet, wie die sozioökonomischen Umstände der in Frage stehenden Epoche die Elektronenschale bestimmen.“⁷⁷ Auch in geologischen Modellen suchte Vicens nach sprachlichen Analogien. Nachdem er den Begriff der „Isostasie“ als Beschreibung eines Prozesses eingeführt hatte, der in immer wiederkehrenden Zyklen zu einem geologischen Gleichgewicht streben würde, übertrug er ihn auf eine „historische Isostasie“, die er wie folgt erläuterte: „Auf diesem zähflüssigen Strom der Geschichte […] schwimmen die großen Blöcke dieser historischen Erdmasse, die die Nationen und die Kulturen ausmachen. Die historische Erosion, das heißt die Verwirklichung der Geschichte, zwingt jene dazu, drei Phasen zu durchleben, die jedem Organismus eigen sind: Jugend, Reife und Verfall.“⁷⁸ Atome, Zyklen, Isostasien – Geist, göttliches Reich und menschliche Freiheit:

Sinn der Geschichte. Eine Geschichtstheologie. Urgeschichte der Menschheit, Freiburg i.Br. 1931 (Geschichte der frühen Völker).  Das Wort „espiritual“ lässt sich ins Deutsche mit „geistig“, „geistlich“ und „spirituell“ übersetzen. Diese Polysemie ist an dieser Stelle deswegen bedeutsam, da sie Vicens nicht dazu zwang, zwischen einer religiösen und einer nicht unmittelbar religiösen Bedeutung bzw. zwischen „spiritueller“ und „geistiger“ Konstante zu unterscheiden.  Vicens: El hecho histórico, S. 34 und S. 41.  Ebd., S. 42.

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2 Republik, Bürgerkrieg, Diktatur: Der lange Weg zum Lehrstuhl

Die letzten Abschnitte in Vicens Abhandlung führten nicht so sehr zu einer Geschichtstheorie. Sie stellten vielmehr den Versuch dar, die Geschichte der „Nationen und Kulturen“ als organische Einheiten funktionalistisch zu fassen und dabei die „menschliche Freiheit“ als höchstes Gut zu erhalten. Die Definition „menschlicher Freiheit“ stellt schließlich das sechse Merkmal der fast 50-seitigen Abhandlung dar. Ohne auf dessen politischen Gehalt einzugehen, bettete Vicens den Freiheitsbegriff in eine christlich-religiöse „Freiheit des erschaffenen und endlichen Geistes“ ein. Die Geschichte als „Geschichtsfluss“ manifestiere sich, so der Text, nicht etwa in der Zunahme politischer oder individueller Freiheiten, sondern in der „höchste[n] Vollkommenheit menschlicher Freiheit.“ Was genau nun diese „Vollkommenheit“ gefährdet haben könnte, gibt weiteren Aufschluss darüber, in welcher Weise Vicens den Freiheitsbegriff hier verwendete. Die „Freiheit“ würde nämlich von der „Verirrung des Materialismus, Szientismus und Technizismus“ bedroht, von der Vicens seine eigenen Konzeptionen, wie oben zitiert, explizit abgrenzte. Diese Verirrung und „der historische Fortschrittsglaube führen vom primitiven Chaos über die Barbarei und die Unterjochung bis zu einem weiteren Chaos: die Anarchie der Freiheit.“ Die „menschliche Freiheit“ stand hier materialistischen und technizistischen Weltund Menschanschauungen gegenüber, die den „Geist“ einzwängten und dessen religiöse Transzendenz verneinten. Wer die historischen Träger der „authentischen“ Freiheit waren und wer damit Sinn und Ordnung der Geschichte zu bewahren hatte, verdeutlichte Vicens in seiner konkretesten Bestimmung des Freiheitsbegriffs: „Es wäre das Schlimmste, das fundamentale Prinzip einer ‚menschlichen Freiheit‘ zu leugnen, die wir hier nicht als individuelle Wahlmöglichkeit, sondern als historische Kategorie verstehen. Weit davon entfernt, individuell, jäh und anekdotisch zu sein, charakterisiert sich diese historische Entscheidungsfreiheit dadurch, dass sie an jene Klasse gebunden ist, die Trägerin des wahren Geschichtssinns ist […].“

So wie sich der esoterische Kreis der „methodisch“ Eingeweihten gegenüber den „Pseudophilosophen“ laut Vicens abgrenzen müsse, war es hier eine ebenso geschlossene „regierende Klasse“, die der Gefahr des „Massenmenschen“ bei der Lenkung der historischen Geschicke Einhalt gebieten konnte.⁷⁹ Geschichte forschen und Geschichte gestalten blieb in dieser Denkstruktur jenen Personen

 Vicens bezog sich an dieser Stelle explizit auf den italienischen Politologen Gaetano Mosca, dessen elitäre Theorien er jedoch nicht weiter ausführte. Zu Moscas Theorie der „politischen Klasse“ siehe Klaus von Beyme: Liberalismus. Theorien des Liberalismus und Radikalismus im Zeitalter der Ideologien 1789 – 1945, Wiesbaden 2013, S. 280 ff.

2.2 Eine signifikante Quellenlücke

195

vorbehalten, die den Verlauf der Geschichte dechiffrieren und von der „menschlichen Freiheit“ gebrauch machen konnten.⁸⁰ Vicens schloss seine Abhandlung mit einem Plädoyer für eine Herangehensweise ab, die „wir als ‚Geohistoria‘ getauft haben.“ In dieser Geohistoria, die er nun von der Geopolitik „Hitlerdeutschlands“ scharf abgrenzte, versuchte er den historischen Akteur in das materielle Medium zurückzuholen: „Es wäre ein vergeblicher Versuch, [die Tatsache] zu verneinen, dass diese geografische Situation eine definierte Wirkung auf das historische Leben hat, so wie es trügerisch und stupide wäre, zu beteuern, dass sie die Totalität des historischen Lebens determiniert.“⁸¹ In der Geohistoria erkannte Vicens den Mittelweg zwischen einer „deterministischen“ und einer rein „geistesgeschichtlichen“ Geschichtswissenschaft, von denen er sich zu Beginn gleichermaßen distanziert hatte. Mit seinem Rekurs auf die christliche ‚Einheit der Wissenschaft‘ und die „Theologie der Geschichte“ hatte Vicens jedoch zugleich seine Affinität zu einem Denken signalisiert, das im „Materialismus“ und „Technizismus“ die größte Bedrohung für den „freien Geist“ und für die Geschichtswissenschaft erkannte. Im Jahre 1948 trat Vicens nach einem kurzen Aufenthalt in Zaragoza den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Barcelona an. Im Historikerfeld der 1940er Jahre, das vom Consejo dominiert wurde und klientelistisch strukturiert war, folgte Vicens der von Thomas Etzemüller festgestellten Strategie „Vertrauen erwecken, Positionen besetzen, Überzeugungen formieren“ bzw. formulieren – gleichsam in chronologischer Reihenfolge. Nach seiner depuración aus der Universität hatte der katalanische Historiker dank seiner wissenschafts- und allgemeinpublizistischen Tätigkeit und seinem Verhältnis zu de la Torre sowohl genügend Vertrauen in das politische und historiografische Umfeld erwecken können, als auch wichtige Netzwerke aufzubauen vermocht. Dies ermöglichte ihm schließlich in zweiter Instanz an die Lehrstühle von Zaragoza und Barcelona zu gelangen. Erst die institutionelle Absicherung und der zweckmäßige Ausbau der bestehenden Netzwerke ermöglichten es Vicens, wie nun gezeigt werden soll, nicht nur weitere Überzeugungen zu formieren, sondern sie auch öffentlich zu postulieren.

 Vicens: El hecho histórico, S. 14, 30, 32 und S. 37.  Ebd., S. 45 und S. 46.

3 Jaume Vicens betritt die Bühne: Rückstandsdiskurse, neue Affinitäten und die Suche nach einem akademisch-wissenschaftlichen Profil 3.1 Die Diagnose des ‚Rückstands‘ und die territoriale Ordnung des ‚Fortschritts‘ Sobald Vicens in die spanische Professorenriege aufgenommen worden war, begann er mit einer publizistischen Tätigkeit, in der er nach intellektuellen Affinitäten und institutionellen Anknüpfungspunkten suchte, um seinen eigenen Forschungsschwerpunkt in Barcelona zu etablieren. In dem oben zitierten Artikel zur Historischen Schule von Sevilla vom Dezember 1947 hatte der zu dieser Zeit noch in Zaragoza tätige Vicens nicht nur die Gruppe um Rodriguez Casado, Pérez Embid und Palacio Atard gelobt und seinen Anspruch auf den Lehrstuhl in Barcelona signalisiert. Darüber hinaus hatte er hier auch erste Reformvorschläge für eine erneuerte und zukunftsfähige spanische Geschichtswissenschaft formuliert. Die Schule von Sevilla war dabei für Vicens ein „Beispiel, aus dem man lernen sollte“. Denn sie verkörperte für den katalanischen Historiker die „Suche nach der Wahrheit, die den Tatsachen entspricht“, und dies jenseits „frenetischer Apologien“.Vicens kontrastierte die Fähigkeit der Sevillaner Schule zur „Gemeinschaftsarbeit“ mit den übrigen spanischen Historikern, die „jeder für sich, isoliert“ forschen würden. „[Z]unächst nur auf der Grundlage der eigenen Kräfte“ habe es laut Vicens „ein junger, qualifizierter, enthusiastischer“¹ Rodriguez Casado geschafft, eine eigenständige Schule aufzubauen und anzuführen. Jenseits seiner strategischen Funktion im Vorfeld der oposiciones für den Lehrstuhl in Barcelona spiegelte dieser Artikel eine erste implizite Programmatik wider. Vicens projizierte nämlich seine eigenen Vorstellungen zur Geschichte als Wissenschaft auf die Gruppe um Rodríguez Casado. Er erkannte in ihr die Verwirklichung von „Eigeninitiative“, „Schule“ und „Gruppenarbeit“, die er für die Beschreibung seines eigenen Vorhabens heranzog. Aussagekräftig war die Verwendung dieser Kategorien insbesondere aufgrund der semantischen Kontexte, in denen er sie platzierte und der Argumentationsmuster, auf die er rekurrierte. Bereits in diesem Artikel machte Vicens von einer Rückstandsrhetorik Gebrauch, die sich weder beim vermeintlichen Vorbild aus Sevilla noch in den übrigen

 Vicens: La Escuela Histórica de Sevilla, S. 282 und S. 283. https://doi.org/10.1515/9783110532227-010

3.1 Die Diagnose des ‚Rückstands‘ und die territoriale Ordnung des ‚Fortschritts‘

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spanischen Historikerkreisen finden ließ. Ausgehend von der Feststellung, dass in der spanischen Geschichtswissenschaft die Einzelforschung die Regel sei, formulierte Vicens die Lösung für ein Problem, das er überhaupt erst diagnostizierte: „Wir müssen dieser südländischen Verschwendung [von Talenten] ein Ende setzen, zumal wir hinsichtlich der historischen Forschung beinahe ein halbes Jahrhundert im Rückstand sind. Aus diesem Grund sind wir stets dafür eingetreten, auch in der Geschichtswissenschaft jene Methode anzuwenden, die auf dem Feld der Physik, der Chemie, der Biologie und der [übrigen] Naturwissenschaften verwendet wird, das heißt, die ‚Gruppenarbeit‘, deren außerordentliche Erfolge in diesem grausamen 20. Jahrhundert die katastrophale, da maßlose Vorherrschaft der technischen Wissenschaften über diejenigen des Geistes bestimmt haben.“²

Vicens hielt an dieser Stelle an jenem Bedrohungsszenario fest, das er auch in seiner Abhandlung zum Sinn der Geschichte gezeichnet hatte. Die Aneignung der genannten „Methode“ musste für Vicens insofern selektiv sein, als der „maßlosen Vorherrschaft“ der Naturwissenschaften und der Technik Einhalt geboten werden musste. Die Diagnose einer individualisierten und damit ‚rückständigen‘ Forschung spannte aber auch eine Achse auf, die sich nicht nur vom ‚Rückschritt‘ zum ‚Fortschritt‘, sondern auch vom spanischen Süden nach Norden zog. Die Nord-Süd-Achse, die in Vicens’ Rückstandsmotiv zum Tragen kam, erklärt, weshalb der Autor seinen Artikel mit der Feststellung begann, es sei „überraschend, dass dieses Werk von Andalusiern angegangen und verwirklicht worden“ sei. Um sich in diesen ‚Fortschritt‘ einzuschreiben, entwickelte Vicens die Idee einer Achse, die „den Osten Andalusiens mit Katalonien“ verbinden würde, und erklärte diese zu einer der „bedeutendsten Achsen der iberischen Halbinsel“³. Durch die Herstellung dieser bestimmten Affinität signalisierte Vicens seinen Anspruch, im nördlichen Barcelona das in Angriff zu nehmen, was ‚überraschenderweise‘ im südlichen Sevilla begonnen hatte: Die Überwindung des ‚Rückstands‘. Nur wenige Monate nach seinem Lehrstuhlantritt in Barcelona im Jahr 1948 formulierte Vicens eine explizit ausgearbeitete Programmatik für den Aufbau der historischen Forschung in Barcelona. Auf knapp zwanzig Seiten präsentierte er ein breites Programm, das detaillierte Vorschläge zur Ausbildung zukünftiger Forscher enthielt. Darüber hinaus legte er seine Pläne für eine kritische Bibliografie zur Geschichte des aragonesisch-katalanischen Königreichs dar, formulierte Forschungsprogramme für neu zu besetzende Arbeitsgruppen und stellte seine Idee eines Institut für Studien zur Neuesten Geschichte vor. Dieser pro Ebd., S. 283.  Ebd., S. 282.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

grammatische Aufsatz zeichnete sich durch drei Merkmale aus: Erstens wandte Vicens erneut die Rhetorik des ‚Rückstands‘ an. Im vorliegenden Fall nutzte er sie, um seine neu gewonnene Position als Lehrstuhlinhaber aufzuwerten: „Angesichts des aktuellen Zustands der Geschichtswissenschaft ist keinerlei Fortschritt zu erwarten, wenn dieser nicht grundlegende und dauerhafte Impulse aus der Universität erhält. Nur der Universitätslehrstuhl kann neue Forscher hervorbringen, die über eine umfassende historiografische Ausbildung verfügen, und nur er kann […] die Art von Beziehungen erzeugen, die zur Schaffung von gefestigten, historisch arbeitenden Forschergruppen notwendig sind.“⁴

Nur mit einem „neuen Rhythmus“, so Vicens, könne „der offenkundige Rückstand unserer historischen Forschung“ überwunden werden.⁵ Zweitens grenzte er seine eigenen Vorhaben von jenen der katalanischen Geschichtsschreibung vor 1936 ab, die für Vicens mit wenigen Ausnahmen „auf das Scheitern und die Verworrenheit gerichtet“ gewesen seien. Nicht der Bürgerkrieg hätte den Untergang der katalanistischen Historiografie verursacht, sondern „einerseits ihre Leidenschaftlichkeit und andererseits der Mangel an [Arbeits]Technik“.⁶ Da es für eine katalanistische „Leidenschaftlichkeit“ nach 1939 keinen Raum mehr geben konnte, war es nun an einer Nachkriegshistoriografie, die Geschichte mit zeitgemäßen Arbeitstechniken auf „nüchterne“ Weise neu zu schreiben. Schließlich und drittens formulierte Vicens seine Ideen für den Aufbau einer Forschung in und zu Katalonien, von der, so Vicens, die „Zukunft der Neuzeitgeschichtsschreibung in Barcelona“⁷ abhängen würde. Deutlich signalisierte er in diesem Zusammenhang seine Ansprüche auf die Deutungshoheit über die katalanische Geschichte. Sein Ziel sei „die Rekonstruktion unserer kollektiven Vergangenheit. Nichts Geringeres als das beabsichtige ich von der Universität aus und zusammen mit den Schülern zu tun, die mir auf diesem Weg folgen möchten.“⁸ In diesem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1948 gab Vicens damit in aller Deutlichkeit und ohne allzu große Bescheidenheit sein Ziel bekannt, in Barcelona eine historische Schule zu gründen. Aufgabe dieser Schule würde es sein, sowohl die Geschichte Kataloni-

 Jaume Vicens: Notas sobre el desarrollo de la historiografía de la Edad Moderna en Barcelona, in: Pirineos IV (1948), S. 5 – 25, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 73, 74 und S. 82.  Ebd., S. 82.  Ebd., S. 73.  Ebd., S. 82.  Brief an Ferran Soldevila vom April 1949, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 461. Vicens hatte seine Kritik an Soldevila abgeschwächt, nachdem dieser im Jahr 1943 nach Spanien zurückgekehrt war, nicht zuletzt dank mancher politisch-intellektueller Kompromisse. Siehe dazu Pujol: Historiografia i recconstrucció nacional, S. 227– 230 und S. 283 – 292.

3.1 Die Diagnose des ‚Rückstands‘ und die territoriale Ordnung des ‚Fortschritts‘

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ens neu zu schreiben, als auch den ‚Rückstand‘ zu überwinden, den Vicens selbst diagnostiziert hatte. Eine Reaktion der Fachöffentlichkeit auf diesen Vorstoß blieb erstaunlicher Weise aus, obwohl Vicens nicht nur die bisherige Neuzeitforschung an der Universität Barcelona diffamiert hatte. Gleichzeitig hatte er sein Profil als ‚Erneuerer‘ eindeutig auf Kosten seiner Kollegen geschärft, die er ebenfalls als ‚rückständig‘ markierte.⁹ Von dieser Diagnose schloss er allerdings explizit diejenige Forschung aus, die in den Instituten des Consejo stattfand. So begann ein weiterer publizistischer Beitrag von Vicens aus dem Jahr 1948 mit dem enthusiastischen Titel Unsere Forschung in vollem Lauf mit folgender Feststellung: „Wenn es seit der Nachkriegszeit – unserer Nachkriegszeit – konstruktive, wirksame und in die richtige Richtung gehende Bestrebungen auf dem Gebiet des kulturellen Lebens gegeben hat, so sind es zweifelsohne vor allem diejenigen, die der Oberste Forschungsrat ins Leben gerufen hat.“¹⁰ Darauf folgend unterstrich Vicens die Qualitäts- und Quantitätszunahme der Forschungen, die die katalanische Delegation des CSIC seit ihrer Einrichtung im Jahre 1943 erfahren hatte, um schließlich ihren „beeindruckenden historiografischen Beitrag“ für die spanische Geschichtswissenschaft hervorzuheben. In diesem Zusammenhang versuchte der Historiker aus Barcelona an die Dezentralisierungsdiskurse anzuknüpfen, die den territorialen Vorstellungen im Umfeld des Consejo zugrunde lagen: „Wir können sagen, dass die mediävistische Schule der Universität Barcelona [gemeint waren insbesondere die Forschungen de la Torres] zusammen mit den Gruppen aus Sevilla und Valladolid – für Geschichte der Neuzeit – bisher die drei Säulen der spanischen Geschichtswissenschaft bilden.“¹¹ Nicht die Historiker aus der Universität in Madrid, sondern jene in Valladolid (Palacio Atard) und Sevilla (Rodríguez Casado) würden, so Vicens, zusammen mit der „Schule“ aus Barcelona das Dreigestirn der spanischen Forschung bilden. Hatte José M. Albareda sowohl öffentlich als auch brieflich darauf bestanden, dass der Consejo „nicht ein Punkt, sondern eine Landkarte“ zu sein hatte, so knüpfte auch Vicens, der eine Kopie des Artikels direkt an Albareda schickte, an diese Rhetorik der Dezentralisierung an.¹²

 Zur Geschichtswissenschaft an der Universität in Barcelona in den 1940er Jahren siehe Antoni Furió: La historiografia catalana sota el franquisme, in: Albert Balcells (Hrsg.): Història de la historiografia catalana, Barcelona 2004 (Sèrie jornades cientifiques 18), S. 205 – 228.  Jaume Vicens: Nuestra investigación científica, en marcha, Destino, 2. 2.1948, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 362 f., hier S. 362.  Ebd., S. 662 und S. 663.  Siehe den Brief von Jaume Vicens an José M. Albareda vom 2.4.1948 und die Glückwünsche des Empfängers an Vicens vom 8.4.1948 in AGUN, Fondo Albareda, 006/015/446 und 006/015/476.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

Für Vicens’ Selbstpositionierung im wissenschaftlichen und intellektuellen Umfeld des Consejo sollte darüber hinaus seine periphere und dabei doch zentrale Teilnahme an der Debatte um das ‚Problem Spanien‘ wichtig werden. Peripher war sie in dem Sinne, dass der katalanische Historiker sich nicht zu einer der Hauptstimmen in der Auseinandersetzung zwischen den katholischen und den ehemals falangistischen Intellektuellen emporhob. Auch wenn Vicens zwar seine Affinität zur Gruppe um Calvo Serer, Pérez Embid und Vicente Palacio signalisierte, argumentierte er dennoch aus der akademischen Distanz seines Lehrstuhls in Barcelona. Dennoch nahm seine Parteinahme für die national-katholischen Intellektuellen weit mehr als die Gestalt vereinzelter Wortmeldungen an. So war es Vicens, der den Begriff der „48er-Generation“ nachhaltig prägte, um den Intellektuellen im Umfeld des Consejo stärkere Konturen zu verleihen. In seinem Artikel Das Katalanische in der Zeitschrift ‚Arbor‘ aus dem Frühjahr 1949 unterstrich er zunächst die Bedeutung dieser „regen und dynamischen Zeitschrift“. Unter der intellektuellen Obhut von Calvo Serer und Pérez Embid, die er namentlich nannte, war sie ein „treuer Ausdruck jenes höheren Denkens, das in der Gegenwart die Geschicke der spanischen Kultur lenkt.“¹³ In einer positiven Buchbesprechung zu Palacio Atards Niederlage, Erschöpfung und Dekadenz im Spanien des 17. Jahrhunderts merkte Vicens ferner die historische Relevanz jener intellektuellen Gruppe an, die er nun explizit als „48er-Generation“ bezeichnete, und zwar in Anlehnung an die „Jahresfeiern Westfalens und der demokratischen Revolution von 1848, das heißt den zwei Polen, zwischen denen sich die Ideologie der Neuzeit bewegte.“ Diese Generation vertrat für den katalanischen Historiker eine Position, wonach „der Geist des spanischen 17. Jahrhunderts nicht mit dem Niedergang des Ostrazismus starb, sondern weiterlebt[e], und zwar als rettender Weg für ein zerrüttetes Europa, das, nachdem es uns zwei Jahrhunderte lang ignoriert hat, nun angesichts dieser unheilvollen Zeit in jenen Idealen eine Möglichkeit zu einer Neugestaltung seines Wesens finden kann.“¹⁴ Die 48er-Generation, wie sie von dem Moment an sowohl in ihr affinen, als auch ihr kritisch gegenüberstehenden Kreisen genannt wurde, sollten, so Vicens, zu den Wortführern einer politisch-spirituellen (Rück)Besinnung auf vorliberale, nationalkatholische und nicht zuletzt antizentralistische Werte werden.¹⁵ Ihren Vertretern bot Vicens schließlich „[seine] mit Sympathie ausgestreckte Hand“¹⁶. Vor dem

 Jaume Vicens: Lo catalán en la revista ‘Arbor’, Destino, 12.4.1949, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 389.  Jaume Vicens: La España del siglo XVII, Destino, 28. 5.1949, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 173 – 175, hier S. 174 f.  Zur Bezeichnung „48er-Generation“ siehe Juliá: Historias de las dos Españas, S. 371 ff.  Vicens: Lo catalán en la revista ‘Arbor’, S. 390.

3.1 Die Diagnose des ‚Rückstands‘ und die territoriale Ordnung des ‚Fortschritts‘

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Hintergrund der erwähnten Debatte um das ‚Problem Spanien‘ galt eine derartige Sympathiebekundung im Jahr 1949 als eine klare Stellungnahme für die Gruppe der Intellektuellen aus dem Umfeld des Consejo. ¹⁷ Andererseits wahrte Vicens Distanz: Er nahm an der Debatte teil, vermied es allerdings, sich selbst als unmittelbares Mitglied dieser Generation darzustellen. Vicens’ Affinität war keine Identifikation. Seine Sympathien galten nicht seiner, sondern „jener Gruppe“ und „ihrem Bewusstsein“.¹⁸ Dabei versuchte er, an jene Dezentralisierungsrhetorik anzuknüpfen, die nicht nur diesen Intellektuellenkreis, sondern auch die zentrale Wissenschaftsorganisation des Franco-Regimes auszeichnete. Vicens baute dadurch gedankliche Schnittmengen zu intellektuellen Allianzen aus, die seinem Profil als professionellen katalanischen Historiker nicht zuwiderliefen. Beispielsweise sprach Vicens dem Beitrag von Pérez Embid Über das Kastilische und Spanien, in dem der Autor die kulturelle Zukunftsfähigkeit eines „kastilischen Geistes“¹⁹ zugunsten desjenigen Andalusiens und Kataloniens in Frage stellte, eine „äußerst transzendentale“ Bedeutung zu. Diese Bedeutung lag für Vicens allerdings in einer territorialen Ordnung des Fortschritts, die Katalonien dazu berief, die Rolle des (Fort)Schrittmachers einzunehmen. In einem seiner letzten Artikel zur Debatte um ‚Spanien als Problem‘, der im Februar 1953 erschien, postulierte er eine „Eroberung“ der iberischen Halbinsel von Norden nach Süden, von Katalonien nach Andalusien: „Eine Reconquista, die den Atem der Intelligenz, das Verständnis zwischen Brüdern, die Unterstützung unseres Kapitals, den Eifer unserer Techniker, die Hingabe unserer Pädagogen von Norden nach Süden trägt; eine Wiedereroberung, die artifizielle Bürokratieburgen und die Festungen inhaltsleerer parteiischer Publizistik beseitigt. Es handelt sich um eine große, so ersehnte Bewegung, welche die Peripherie zur wahrhaftigen Achse Spaniens macht, wobei auf der einen Seite unsere Industrie und unsere Intelligenz und auf der anderen Seite die Landwirtschaft, das erhabene, aristokratische Bewusstsein und der stoische Mut Andalusiens stehen.“²⁰

 Siehe ferner Jaume Vicens: La generación del cuarenta y ocho, Destino, 19.11.1949, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 179 f., hier S. 179 und S. 180.  Ebd., S. 180.  Für Pérez Embid waren die zwei „grundlegenden Wesensmerkmale des Kastilischen“ die „transzendente Sichtweise des Lebens“ und der „Idealismus“, die er den zukunftsträchtigeren Merkmalen des Katalanischen („Seriosität und profunder Realismus“) und des Andalusischen („überlegen in der abwägenden Einschätzung der Dinge und herrschaftlich-vornehm“) gegenüberstellte. Florentino Pérez Embid: Sobre lo castellano y España, in: Arbor 11 (1948), S. 263 – 276, hier S. 274 und S. 276.  Jaume Vicens: Andalucía y Cataluña, Destino, 14. 2.1953, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 204– 205, hier S. 205.

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Dieses Zitat entstammte einem Artikel, den Vicens Andalucía y Cataluña genannt und bezeichnenderweise Pérez Embid gewidmet hatte. Dieser prägte wenige Jahre zuvor die Devise „Europäisierung der Mittel, españolización der Ziele“, mit der er unter anderem für die rein instrumentelle Adaption der positiven Wissenschaften und der Technik als Erscheinungen einer ‚europäischen‘, technisch-industriellen Moderne plädiert hatte.Vicens deutete die „Europäisierung der Mittel“ nun in eine „Eroberung“ des Südens um, die von Katalonien ausgehen müsse. Seine Formel stand damit nicht im Widerspruch zu derjenigen von Pérez Embid. Sie wies lediglich Katalonien den Part der „Europäisierung“ zu. Das spezifische Zusammenspiel von Affinitätsbekundung und Distanzwahrung gegenüber den nationalkatholischen Intellektuellen ließ sich somit in der Bejahung der dezentralistischen, „peripheren“ Deutung eines kulturellen, spanischen Zusammenhangs auflösen, in dem Katalonien für Technik, Industrie und Wissenschaft, für den ‚Norden‘ und für ‚Europa‘ stand. Jenseits seiner Teilnahme an der Debatte und der distanzierten Affinität, die Vicens gegenüber Calvo Serer, Pérez Embid und Palacio Atard demonstrierte, wich seine wissenschaftliche Produktion auch zunehmend von jener ab, die die Institute des Consejo hervorbrachten. Während er sowohl an der Universität Zaragoza als auch von seinem Lehrstuhl in Barcelona aus noch zur Politikgeschichte der katalanischen Frühen Neuzeit publiziert hatte, gewann die Suche nach makrohistorischen Deutungsangeboten und einer stärkeren Konturierung seiner Geohistoria seit Anfang der 1950er Jahre immer stärker an Gewicht. Zwar suchte Vicens, gleich seinen Kollegen, nach neuen Netzwerken und nutzte dafür die sich nun öffnenden außenpolitischen Schleusen. Sein Fokus lag jedoch auf möglichen Anknüpfungspunkten für seine Geohistoria und in der Schärfung eines internationalen Profils, das ihm erlauben würde, einen Bruch mit der deutschen Geopolitik und der Geschichtswissenschaft vor 1945 zu vollziehen. Auf dieser Suche entdeckte er die Arbeiten des Historikerkreises im Umfeld der Zeitschrift Annales just zu dem Zeitpunkt, als er in der Debatte um das ‚Problem Spanien‘ entschieden für die national-katholischen Intellektuellen eintrat und sich der makrohistorischen Deutungsangebote des britischen Kulturhistorikers Arnold J. Toynbee (1889 – 1975) bediente.

3.2 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel Die ‚dunklen Jahre‘ der wissenschaftlichen Karriere von Jaume Vicens Vives hatten mit dem Zugang zum Lehrstuhl und somit mit einer ersten institutionellen Absicherung ein Ende genommen. Dezentralisierung, in Gruppen koordinierte

3.2 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel

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und durch die Lehrstühle an den Consejo gebundene Forschung bildeten dabei die Grundpfeiler eines Erneuerungsprogramms, das der katalanische Historiker von seinem Lehrstuhl in Barcelona aus für die spanische Geschichtswissenschaft entwarf. Seine Forderungen beschränkten sich dabei jedoch weitgehend auf die Organisation der Forschung, ohne eine umfassende Revision von Theorien, Methoden oder Gegenständen der Geschichtswissenschaft zu beanspruchen. Allein seine strukturalistisch inspirierte Geohistoria, die er erneut in seiner Allgemeinen Abhandlung zur Geopolitik aus dem Jahr 1950 über die Zäsur von 1945 zu retten versuchte, stellte ein gewisses Alleinstellungsmerkmal gegenüber einem weitgehend ideen- und politikgeschichtlich geprägten Historikerumfeld dar. Dieser Tratado General de Geopolítica, der sechs Jahre später in einer zweiten Auflage erschien, ist sowohl für eine intellektuelle Biografie von Vicens als auch für die Geschichte seiner posthumen Symbolträchtigkeit aus zwei sehr unterschiedlichen Gründen von Bedeutung. In Vicens’ Werdegang bildete der Tratado einen Kristallisationspunkt in seiner Suche nach einem Ansatz, der den Raum als politische und historische Erklärungskategorie verwandte, ohne jedoch das Erbe einer in Verruf geratenen Geopolitik anzutreten.²¹ Wie schon in seiner Abhandlung für die oposición für den Lehrstuhl in Barcelona brachte er im Tratado materielle Strukturen der langen Dauer in eine historische Perspektive ein, in der die „Kulturgesellschaften“ die Rolle historischer Subjekte einnahmen.²² Dabei enthielt Vicens’ geohistorisches Traktat zwei Kernelemente, die seine spätere Wende zu den Annales erst verständlich machen: Erstens die Anlehnung an kulturhistorische Modelle, in denen die „sociedades culturales“ als historische Subjekte auftraten, mit denen makrohistorische Prozesse erklärt werden sollten; zweitens seine Suche nach einer Abgrenzung zur Geopolitik vor 1945 und nach neuen Referenten, die seiner Geohistoria internationale Konturen zu verleihen vermochten. Ganz im Sinne einer Abhandlung zielte der Tratado auf die Formulierung eines theoretischen Gerüsts, das in analytische Begriffe gefasst werden musste.  Zur Humangeografie und Geopolitik siehe Frank-Rutger Hausmann: Die Geisteswissenschaften im ‚Dritten Reich’, Frankfurt a. M. 2011, S. 656 – 687; Dirk van Laak: Raum-Revolutionen. Geopolitisches Denken in Deutschland um 1930 und nach 1945, in: Axel Schildt/Alexander Gallus (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 92– 108.  Trotz dieser signifikanten Stellung innerhalb seines intellektuellen Werdegangs ist der Tratado in den biografischen Schriften zu Vicens immer als Überrest der „dunklen Jahre“ eingeordnet worden, was für eine normative Perspektive spricht, die tendenziell für jene Jahre eher die Orientierungslosigkeit als die Suche nach intellektuellen Anknüpfungspunkten in den Blick nimmt. Vgl. beispielsweise Muñoz: Jaume Vicens, S. 197, der behauptet, dass der Tratado „bereits leblos geboren wurde.“

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Dies tat Vicens in drei Schritten: Ausgehend von einer Ideengeschichte des geohumanen Denkens von der Antike bis in die Gegenwart setzte er am Ende des ersten Teils „Politische Geografie, Geopolitik und Geohistoria“ die konzeptuellen und definitorischen Grundlagen für die „geohistorische Methode“ fest. Im zweiten Teil entfaltete der Autor seinen Ansatz hinsichtlich des Zusammenhangs von „Boden, Kultur und Staat“. Diese standen für Vicens zwar in keinem kausal-deterministischen Verhältnis zueinander, jedoch beeinflussten sie die geohistorische Entwicklung der „Völker“ und ihre vom geografischen Medium bedingten „Tendenzen“ zum Handel, zur Produktion und auch zur politischen Expansion. Der dritte Teil war den „internationalen Spannungen“ gewidmet, denen Vicens zuallererst in seinen geopolitischen Analysen für Destino große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dabei verdichtete sich für den Autor die Problematik des geohistorischen Ansatzes an den kulturellen, ökonomischen und politischen „Grenzen“. Denn während Vicens einräumen musste, dass insbesondere die deutsche Geopolitik eine radikale Essentialisierung der Grenzen vorgenommen und diese als Konfliktzonen behandelt hatte, so müsse diese Disziplin nach 1945 die „Ökumene der Staaten“ in den Blick nehmen. Aufgabe der Geohistoria sei es daher, die Grenze als „Peripherie kultureller Spannung – eine Spannung, die meist schöpferisch ist und nicht notwendigerweise aggressiv sein muss –“²³ in ihrer historischen Dimension zu verstehen. Die „Kulturgesellschaft“ wurde im Tratado zum Subjekt historischer Prozesse, auf die die geografischen und geopolitischen Faktoren entscheidenden Einfluss nahmen. In welchem Sinne wiederum diese Faktoren das Aufkommen, die Entwicklung und den Verfall solcher Gesellschaften bedingten, konkretisierte Vicens in einem „goldenen Gesetz“, das in unverkennbarer gedanklicher Kontinuität zu seiner unpublizierten Abhandlung zum Sinn der Geschichte stand, hier jedoch in den Worten Arnold Toynbees gefasst wurde. Ein solches Gesetz müsse berücksichtigen, „dass der Anreiz umso effizienter ist, je weiter er vom Mangel oder aber vom Übermaß an Widrigkeiten aus der Umwelt entfernt ist.“ Was der katalanische Historiker im Sinn der Geschichte noch in geologischen und organologischen Metaphern gefasst hatte, formulierte er nun als geohistorische Theorie des „kulturellen Gleichgewichts“. Die Glanzzeiten einer „Kulturgesellschaft“ seien bestimmt von „einer empirischen Erfahrung, bei der auch der Einfluss des Bodens als die Wirkung des Bluts erkannt werden muss. Es sind diese beiden Anreize – gemäß den zunehmenden Widerständen entsprechend dosiert –, die die kulturschöpferischen Energien des sozialen Körpers freisetzen.“²⁴ Erst

 Jaime Vicens: Tratado general de geopolítica, Barcelona 1950, S. 153.  Ebd., S. 75 und S. 75 f.

3.2 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel

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das Gleichgewicht zwischen „Mangel“ und „Übermaß“ der Herausforderungen würde es, so Vicens, einer kulturell definierten Gesellschaft ermöglichen, ihre sowohl biologischen als auch geografischen Potentiale zu nutzen. Dieses historische Denken, wonach erst das Momentum des Gleichgewichts die „schöpferischen Energien“ freisetze, grenzte Vicens jedoch explizit von einer Konzeption materiell, biologisch oder geografisch überdeterminierter Geschichte ab: „Weder der Boden noch das Blut und auch nicht die leblose Materie können für sich genommen die kulturellen Äußerungen hervorbringen.“ In strikter Ablehnung der „Täuschungen einer antichristlichen Rassenkonzeption“, die sich in der Geopolitik Karl Haushofers geäußert habe, rekurrierte Vicens auf die „Kultur“ als tragende Kategorie. Zwar hatte er bereits in seinen ersten Schriften eine klare Distanz zu biologistischen Theorien markiert, die die „Freiheit des Geistes“ in ihrem katholischen und antimaterialistischen Sinne bedrohten. Allerdings griff er die völkischen Ansätze in seinem Tratado in einer Schärfe an, die nicht nur fachlich motiviert war, sondern nebenbei seine eindeutige Abkehr von den „Verirrungen auf dem Feld der Wissenschaft“ signalisieren sollte. Gehörten für Vicens die Arbeiten Karl Haushofers, Erich Obsts oder Otto Mauls zu Beginn der 1940er Jahre in den Kreis disputabler, aber dennoch gültiger Humanwissenschaften²⁵, so wurden sie nun aus dem esoterischen Kreis untereinander differierender und dennoch legitimer Ansätze ausgeschlossen: „von den nationalsozialistischen Vorstellungen vergiftet“; „beträchtliche Dosis Rassismus“; „ideologische Abwegigkeit“ – durch diese Wortwahl zog der Autor eine klare Trennlinie zwischen der für sich beanspruchten „Wissenschaftlichkeit“ und einer nationalsozialistisch kontaminierten „Pseudowissenschaft“.²⁶ Damit schloss sich Vicens nicht nur einer internationalen und vor allem deutschen Tendenz an, in der die Behauptung der eigenen wissenschaftlichen Seriosität nach 1945 mit einer expliziten Abgrenzung gegenüber ideologisch kompromittierten, völkisch-antisemitischen „Pseudowissenschaften“ einherging.²⁷ Auch im innerspanischen intellektuellen, wissenschaftspolitischen und politischen Kontext war eine derar Haushofer, Obst und Maull waren Herausgeber der 1924 gegründeten Zeitschrift für Geopolitik.Vgl. Michael Fahlbusch: Grundlegung, Kontext und Erfolg der Geo- und Ethnopolitik vor 1933, in: Irene Dieckmann/Julius H. Schoeps/Peter Krüger (Hrsg.): Geopolitik – Grenzgänge im Zeitgeist, 2 Bde., Potsdam 2000, Bd. 1: 1890 – 1945, S. 103 – 146.  Vicens: Tratado, jeweils S. 65, 72, 74und 75 f.  Vgl. Dirk Rupnow: ‚Pseudowissenschaft’ als Argument und Ausrede. Antijüdische Wissenschaft im ‚Dritten Reich’ und ihre Nachgeschichte, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Pseudowissenschaft, S. 279 – 307; zum „Umgang mit den nationalsozialistischen Fachvergangenheiten“ siehe Jan Eckel: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, S. 93 – 98; Mitchell G. Ash: Verordnete Umbrüche – konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: ZfG 43 (1995), S. 903 – 924.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

tige Exoterisierung sinnvoll.²⁸ Auch der Großteil der franquistischen Elite setzte zur selben Zeit und auf allen Ebenen auf eine Distanzierung gegenüber den Altlasten ehemaliger Achsenbündnisse. War die ‚Wissenschaft‘ besonders im zehnjährigen Jubiläum des Consejo zur Trägerin von Diskursen und Inszenierungen einer kulturell-wissenschaftlichen Ökumene geworden, so legte Vicens zeitgleich – in einer Selbstrezension in Destino – seine Geohistoria im Zeichen des ‚Friedens‘, der ‚Wahrheit‘ und der ‚Kooperation‘ aus: „Mein einziges Ziel war es, […] der bedeutenden Aufgabe der internationaler Kooperation zu dienen, und zwar als geeignetes Klima, um letztendlich in der Sicherheit und im Fortschritt jenen Frieden zu erreichen, den die Welt seit einem halben Jahrhundert herbeisehnt.“²⁹ Angesichts dieser Kooperationsdiskurse und der Grenzverschiebung zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Pseudowissenschaft‘ nach 1945 stellte sich die implizite Frage nach neuen Referenten, auf die Vicens sowohl sein Programm zu einer Geohistoria als auch seine makrohistorischen Deutungslinien stützen könnte. Gerade das Jahr 1950, in dem Vicens sein Tratado publizierte, gilt dabei in den gängigen Rückblicken auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Spanien als Wendejahr; dies allerdings nicht aufgrund dieser Publikation, sondern wegen Vicens’ vermeintlicher Kehrtwende hin zu einer meist nicht näher bestimmten „Annales-Schule“³⁰ – eine Wende, die der katalanische Historiker allerdings nachträglich konstruiert und als Ursprungsmoment der ‚Erneuerung‘ auf die gesamte Fachdisziplin übertrug. In der Tat enthielt der Tratado explizite Bezüge insbesondere zu Fernand Braudels Méditerranée. ³¹ Sein Programm war allerdings noch weit davon entfernt, jenen esprit des Annales, von dem Lucien Febvre und auch Braudel sprachen, zu adaptieren, und zwar nicht zuletzt des-

 Zu den wissenschaftssoziologischen Kategorien des „Esoterischen“ und „Exoterischen“ siehe Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 138 ff.  Jaume Vicens: Geopolítica o geohistoria, Destino, 30.4.1950, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 464– 466, hier S. 465.  Die bisher zu Vicens’ wissenschaftlicher Produktion erschienenen Arbeiten reflektieren kaum bis gar nicht die theoretische Vielfalt, die sich hinter der Gruppenbezeichnung Annales barg. Eine Ausnahme bildet Julio Aróstegui: La teoría de la historia en Francia y su influencia en la historiografía española, in: Benoit Pellistrandi: La historiografía francesa del siglo XX y su acogida en España. Coloquio internacional (noviembre de 1999), Madrid 2002, S. 384– 401.  Vgl. Fernand Braudel: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 2 Bde., Paris 1949. Das Werk wurde im Jahr 1954 vom renommierten mexikanischen Verlag Fondo de Cultura Eonómica ins Spanische übersetzt und war seitdem auch in Spanien erhältlich.

3.2 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel

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halb, weil Vicens nicht anders als seine spanischen Kollegen diese „Schule“ bis dahin kaum wahrgenommen hatte.³² Nach 1950 würde Vicens des Öfteren eine Affinität zwischen ihm und insbesondere Lucien Febvre bereits auf seine Studienzeit zurückdatieren. Doch unabhängig davon, inwiefern der junge Student aus Barcelona die eine oder andere Studie zur Kenntnis genommen hatte, zeigen die Schriften, die er bis zum Sommer 1950 verfasste, seine eindeutige Unkenntnis einer Strömung, die sich zu dieser Zeit um die Chiffre Annales neu formierte.³³ Vicens erste Begegnung mit Braudels Méditerranée, die er nur einen Monat nach seinem bereits zitierten Artikel über die 48er-Generation sogleich für Destino besprach, war in dieser Hinsicht bezeichnend. Ungeachtet der Tatsache, dass Vicens in Braudels Opus magnum ein „hervorragendes Buch“ erkannte, das viele „suggestive Ansichten“ enthielt, weist bereits der Titel seiner Rezension, Felipe II y el Mediterráneo, eine Umkehrung der von Braudel im Originaltitel gewählten Rangfolge auf. Für Vicens handelte es sich um „eines der grundlegenden Werke über die Mittelmeerpolitik Phillip II.“. Nicht die dreischichtige Einteilung Braudels, die die Linearität des ereignisgeschichtlichen Zeitbegriffs in Frage stellte, machte aus der „Neuigkeit der Pariser Buchhandlungen“ einen „Meilenstein“ für die Geschichtsschreibung über Spanien.³⁴ Vielmehr hob der katalanische Historiker auf die in ihr enthaltene „kritische Exegese der Herrschaft eines der größten und umstrittensten spanischen Monarchen“ ab, dem auch er selbst seine politikgeschichtlichen Anfänge gewidmet hatte. Ob er mit dieser Umkehrung – vom Mittelmeer und Phillip II. zu Phillip II. und dem Mittelmeer – lediglich versuchte, ein konzeptionell revolutionäres Werk seinen womöglich eher politikgeschichtlich interessierten Lesern näher zu bringen, kann hier nicht beantwortet werden. Wichtiger scheint in diesem Zusammenhang, dass Vicens in der Méditerranée ein wichtiges, anregendes, gar rich-

 Zur Rezeption der Werke Marc Blochs und Lucien Febvres vor 1950 siehe Pedro Ruiz Torres: De la síntesis histórica a la historia de Annales, in: Benoît Pellistrandi (Hrsg.): La historiografía francesa del siglo XX y su acogida en España, Madrid 2002, S. 83 – 108, hier S. 87 ff.  In seinem ersten Beitrag zur französischen Historiografie, der im August 1948 erschienen war, übte er anhand einer Rezension zu Gustav Cohen: La grande clarté du Moyen Âge, Paris13 1945, eine allgemeine Kritik an der französischen Mediävistik. Ohne beispielsweise Marc Bloch zu erwähnen, stellte er ihre generelle „Flucht in eine paradiesische Vergangenheit“ fest. Jaume Vicens: Medievalismo francés, Destino, 28. 8.1948, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 429 f., hier S. 430.  Zur bekannten Einteilung in Struktur-, Konjuktur- und Ereignisgeschichte siehe Raphael: Das Erbe von Bloch und Febvre, S. 109 – 131; Peter Burke: Die Geschichte der ‚Annales’. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung, Berlin² 2004, S. 43 – 50.

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tungweisendes Werk erkannte, jedoch nicht die ‚Annales‘ als distinktive Gruppe.³⁵ Bedeutender als die etwaige ‚Entdeckung‘ einer neuen Schule schienen für Vicens vor allem die Anknüpfungspunkte zu sein, die Braudels Werk bot. So erläuterte er in der Rezension die „eigenartige Konzeption“ der Arbeit und versuchte zugleich, seine Geopolítica in Braudels geohistoire zu übersetzen: „[…] Geohistoria – in diesem Begriff stimmen Braudel und ich, ohne uns zu kennen, überein, um den übermäßig aggressiven Ausdruck der Geopolitik zu ersetzen, und zwar nicht aus Zweckmäßigkeit, sondern aus Überzeugung.“³⁶ Die in Selbst- und Fremddeutungen so wichtige ‚Entdeckung‘ der ‚Annales‘ begann – wenn überhaupt – in der Gestalt eines Transfers mit einem besonderen instrumentellen Wert. Die Rezeption der Méditerranée fungierte nämlich in erster Linie als willkommene Verweisinstanz, um Vicens’ Geohistoria aus dem Schatten einer bellizistisch konnotierten Geopolitik zu holen. Auch wenn die Méditerranée für Vicens 1950 einen Meilenstein darstellte, war sie für ihn keinesfalls eine „historiografische Revolution“.³⁷ Laut Vicens waren nicht die Annales, sondern einer ihrer „Propheten“³⁸ zu diesem Zeitpunkt der „Leuchtturm“ der Geschichtswissenschaft: Arnold J. Toynbee. Anlässlich des Fortschreitens des monumentalen Werkes A Study of History ³⁹ unterstrich Vicens den „revolutionären“ Charakter der historiografischen Konzeption des britischen Historikers: „Ohne Zweifel wird ‚A Study of History‘ mit den Jahrhunderten als leuchtender Bezugspunkt oder besser als der Ursprung einer sicheren Methode zum wahren Verständnis der Vergangenheit gelten.“ Dabei schenkte der katalanische Historiker zwei Aspekten aus Toynbees historischem Denken besondere Aufmerksamkeit: Erstens der Absage an eine kausal-überdeterminierte und kulturpessimistische Perspektive, die – wie bei Oswald Spengler – unweigerlich den Verfall der „abendländischen Kultur“ prophezeien würde; zweitens, und daraus hervorgehend, der Offenheit einer Historie, deren Subjekte nur dann dem Untergang geweiht wären, wenn ihre Eliten versagen würden. In A Study in History

 Weder Braudels Mentor, Lucien Febvre, noch die neugegründete Annales ESC wurden in diesem Kontext erwähnt. Vielmehr betonte Vicens, dass Braudel der „Schule für Humangeografie der Sorbonne“ entstamme, mit deren Ausbildung sich die exzellente Ausarbeitung des ersten Teiles, La part du milieu, erklären ließe.  Jaume Vicens: Felipe II y el Mediterráneo, Destino, 17.12.1949, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 180 – 182, hier S. 180 ff.  So Peter Burke: The French Historical Revolution. The Annales School, 1929 – 1989, Cambridge 1990.  So nannte Febvre in kritischer Absicht den britischen Geschichtsphilosophen in seinem Aufsatz Lucien Febvre: Deux philosophes opportunistes de l’histoire: De Spengler à Toynbee, in: Ders.: Combats pour l’histoire, Paris 1953, S. 126.  Vgl. Arnold J. Toynbee: A Study of History, 12 Bde., London 1934– 1961.

3.2 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel

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proklamiere Toynbee „den Glauben an eine Zukunft, die insofern nicht determiniert ist, als sie die eigene Schöpfung ist: diejenige [die Schöpfung] der Elite, der der das Denken, das Handeln und das Herrschen obliegt, und diejenige des Volkes, das das in Übereinstimmung mit deren Idealen lebt.“⁴⁰ Toynbees empirisch untermauerte Geschichtsphilosophie bot Vicens die Gelegenheit, sein Gleichgewichtsdenken gleich in doppelter Hinsicht zu artikulieren: Einerseits als ein äußeres Gleichgewicht zwischen materiellen Herausforderungen und geistigkultureller Handlungsfreiheit, andererseits als inneres Gleichgewicht einer Kulturgesellschaft, in der – wie schon im Sinn der Geschichte – die epistokratischen Eliten die historischen Geschicke in einem harmonischen Verhältnis zum ‚Volk‘ regierten. Eine genaue Präzisierung dessen, was den Kern der „Kulturgesellschaften“ ausmachte, unternahm Vicens nicht. Sowohl im Tratado als auch in seinen bis 1950 erschienenen Buchbesprechungen, Artikeln und Aufsätzen findet sich keine explizite begriffliche Definition, Ein- oder Abgrenzung. „Abendländische Kultur“, „abendländische Gesellschaft“, „abendländische Zivilisation“ wurden synonym und auch innerhalb desselben Textes ohne erkennbar semantische Abgrenzung verwendet.⁴¹ Dennoch umfassten alle die zwei semantischen Komponenten, die für Vicens’ historisches Denken und für sein späteres Verhältnis sowohl zur spanischen als auch zur europäischen Geschichtswissenschaft bedeutsam sind. Erstens handelte es sich bei all diesen Begriffen, mit denen Vicens seine historischen Subjekte analytisch fasste, um „Bewegungsbegriffe“.⁴² Sie beinhalteten eine historische Prozesshaftigkeit, die sich an den Kategorien von Aufstieg und Niedergang, aber auch an derjenigen des „Fortschritts“ festmachen ließ. Der historische Vektor war einer der „Anreicherung“, der „Vervollkommnung“ und der „Eroberung“. Während die „spirituelle Bereicherung der Menschheit“⁴³ und somit die Religiosität für Vicens eine der notwendigen Bedingungen kultureller Kohäsion und historischen Voranschreitens war, äußerte sich in seinem Kulturbzw. Zivilisationsbegriff jedoch ein deutlicher Unterschied zu den semantischen Verschränkungen der national-katholischen Historiker. Denn auch die Technik und die positiven Wissenschaften gehörten für ihn zu den historischen „Erobe-

 Jaume Vicens: Toynbee interpreta la historia del Mundo, Destino, 26. 2.1949, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 440 – 442, hier S. 442.  So im Tratado oder auch in allen in diesem Abschnitt analysierten Texte, insbesondere in Jaume Vicens: El romanticismo en la Historia, in: Hispania 10 (1950), S. 745 – 765.  Siehe dazu Jörg Fisch: Kultur, Zivilisation, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972– 1997, Bd. 7 [1992]: Verw–Z, S. 679 – 774, insbesondere S. 680 f.  Vicens: El romanticismo en la historia, S. 334.

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rungen“, und zwar als Manifestationen derselben „Kultur“ und nicht als von außen herangetragene Bedrohung durch eine ‚fremde‘ Moderne.⁴⁴ Auch das bürgerlich-liberale Zeitalter war laut Vicens kein reiner ‚Irrweg‘, sondern der historischen Prozesshaftigkeit ebenso zu eigen wie die Ausweitung von Handel und Industrie. In seinem bemerkenswerterweise im Jahr 1950 in Hispania erschienenen Essay mit dem Titel Die Romantik in der Geschichte setzte sich der katalanische Historiker mit der „romantischen Epoche“ auseinander, die er im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert ansiedelte und die in den national-katholischen Kreisen negativ konnotiert worden war. Die aus national-katholischer Sicht „romantische“ und „leidenschaftliche“ Epoche, die die christlich-organische Ordnung des Ancien Régime zerrüttet habe, deutete Vicens gerade nicht als Beginn bzw. Fortsetzung einer modernen Entfremdung. Seinem Gleichgewichtsdenken entsprechend ging das „geistige Ungleichgewicht“, das auch er dieser Epoche attestierte, vielmehr von einem „biologischen Brodeln“⁴⁵ aus. Das demografische Wachstum seit dem 18. Jahrhundert habe so sehr die Form eines Exzesses angenommen, dass es zu einer ungleichgewichtigen „Expansion“ und zu weiteren Ausschweifungen auf allen Ebenen geführt habe: Der politische Exzess der „Revolution“ und des „Anarchismus“, der geistig-kulturelle Exzess des „Positivismus, Szientismus und Materialismus“.⁴⁶ Anders als die National-Katholiken setzte Vicens diesen Exzessen jedoch nicht eine vormoderne Ordnung als statisches Vorbild, sondern eine gleichgewichtige historische Bewegung entgegen: Gleichgewicht zwischen demografischem sowie sozialem Wandel und politischer „Reform“, zwischen geistiger „Vervollkommnung“ und technisch-industrieller „Eroberung“. Hatte der „biologische, soziale und ökonomische Schwung“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts einen „Dampfstrahl in die Mechanik des Ancien Régime“ injiziert und dessen „abgenutztes Getriebe“ zum Knarren gebracht, so war es an einem bürgerlichen „Reformgeist“, diesem „Elan“ eine

 Eine Opposition zwischen den Begriffen der Kultur und der Zivilisation war nicht nur bei Vicens, sondern auch im allgemeinen Sprachgebrauch unter dem Franco-Regime nicht gegeben. Trotz ihrer Technikskepsis dichotomisierten auch die national-katholischen Intellektuellen diese Begriffe nicht auf eine solche Weise, wie sie Jörg Fisch für die deutsche Begriffsgeschichte vor und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg aufgezeigt hat. Wenn, so Fisch, eine „Opposition konstruiert wurde, dann wurde der Zivilisation am häufigsten die materielle Seite, das Äußerliche und das Nützliche, der Kultur die geistige Seite, das Innere und das Moralische zugesprochen.“ Die Dichotomie materiell/äußerlich/nützlich und geistig/innerlich/moralisch zeigte sich zwar auch in den franquistischen Diskursen. Eine entsprechende Zuschreibung auf die Begriffe „Zivilisation“ und „Kultur“ wurde allerdings nicht vollzogen. Zitiert aus Fisch: Kultur, Zivilisation, S. 749.  Vicens: El romanticismo en la historia, S. 327 und S. 325.  Ebd., S. 331 und S. 334.

3.2 Gleichgewicht und Ökumene: Die Geohistoria zwischen Toynbee und Braudel

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politische Entsprechung zu verleihen, ohne sich auf revolutionäre und säkularisierende Exzesse einzulassen. „[D]as Bürgertum dachte die Freiheit“, so Vicens, „nie als sozialen Kampfbegriff. Es verband sie mit einem anderen Wert, den es als viel wesentlicher und dauerhafter betrachtete: demjenigen des Eigentums.“⁴⁷ Die zentrale Tugend des (Besitz)Bürgertums in Zeiten politischer Umbrüche lag für Vicens in der Mäßigung. Das Bürgertum stand weder für Revolution noch für Reaktion, sondern vielmehr für Kontinuität und Ordnung im Sinne eines Gleichgewichts zwischen Tradition und Wandel. Politisch war die burguesía – in dieser idealtypischen Variante – nur insofern sie für die Wahrung ihrer Eigentums- und damit auch Handels- und Produktionsrechte eintrat. Das Bürgertum erschien als anpassungsfähiger Garant der „abendländischen Kultur“ und des „Fortschritts“ in einem andauernden Revolutions- und Krisenzeitalter. Es hatte die wichtigsten technisch-industriellen Errungenschaften hervorgebracht, ohne den bedrohlichen Strömungen „Positivismus, Szientismus und Materialismus“ zu verfallen: „In diesem Sinne wurde das, was wir als ‚riskante Aufgabe der Romantik‘ bezeichnen könnten, zum gemeinsamen Nenner der Menschenmenge, die ihren Erfindungsgeist und ihr Geld in den Dienst der Technik stellten. So kann es nicht verwundern, dass ein Dichter und Priester, Edmund Cartwright, den mechanischen Webstuhl entwickelte und ein Perückenmacher – Richard Arkwriht [sic] – oder ein Geige spielender Bauer – Samuel Crompton – die Spinnmaschine erfanden oder zumindest weiter entwickelten.“⁴⁸

Priester und Entdecker, Perückenmacher und Erfinder, Geigenspieler und Entwickler: geistliche, traditionsreiche, musische Berufe brachten die „Risiken“, die der Fortschritt der industriellen Technik mit sich brachte, erneut ins Gleichgewicht. Um dies zu gewährleisten, müsse die „Erhaltung verehrter Traditionen“, wie Vicens festhielt, „mit der Offenheit gegenüber allen Neuerungen im Bankwesen, in der Industrie und im Handel“ einhergehen – eine Notwendigkeit, die das gemäßigte Bürgertum zum Signum des technisch-industriellen Zeitalters machte: „Aus diesem Blickwinkel heraus war der gefestigte Bürger der Restauration der Poet der Maschinen.“⁴⁹ Die zweite semantische Komponente der Begriffe „abendländische Kultur“ bzw. „Zivilisation“ oder auch „Gesellschaft“ war ihre explizit nationenübergreifende Bestimmung. Wie bereits in seinem Tratado grenzte Vicens diese Begriffe vor dem Hintergrund zweier Weltkriege von einem aggressiven und partikularis-

 Ebd., S. 328 und S. 330.  Ebd., S. 327 f.  Ebd., S. 327.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

tischen, „extremen und verhängnisvollen Nationalismus“⁵⁰ ab. Wie auch in den national-katholischen Deutungslinien stand hier eine ‚Ökumene‘ im Vordergrund, die christlich fundiert war. Im Unterschied zu Calvo Serer und Pérez Embid thematisierte Vicens jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht explizit das Verhältnis von „spanischem Nationalweg“ und „europäischer Moderne“. In seinen geo- und metahistorischen Schriften analysierte er vielmehr die Geschichte Europas, ohne aus ihr eine dezidiert spanische gesondert hervortreten zu lassen. Gerade jene Nicht-Thematisierung ist an dieser Stelle bedeutsam, denn durch die Verwendung der ersten Person Plural bezog Vicens ein historisches Subjekt in die Geschichte des „Abendlandes“ mit ein, für das er stand, das er jedoch nicht genauer bestimmte. So endete sein bereits zitierter Essay zur (west)europäischen „Romantik“ mit Verweisen auf die letzten, kriegsbedingten Krisen der „sociedad occidental“, um sodann wie folgt der Niedergangsthese entgegenzutreten: „[…] etwas flüstert uns ins Ohr, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, dass der letzte Akkord der abendländischen Partitur noch nicht erklungen ist […]. Denn wir werden aufleben. Oder besser gesagt, wir werden uns erneut auf den Weg machen, dank einer neuen Welle jenes romantischen Selbstvertrauens, das auch die feudale Welt am Vorabend des 10. Jahrhunderts, die urbane Kultur im 13. Jahrhundert, die Renaissance im Quattrocento und die heutige Welt im romantischen Geist erschuf.“⁵¹

Die Kontinuität des Abendlandes konnte in dieser Logik nur dann gewährleistet sein, wenn sich seine Wortführer, darunter vor allem die Historiker, auf den gemeinsamen historischen Pfad zurückbesannen. Nicht umsonst endete das Vorwort zu seinem ebenfalls 1950 erschienenen Tratado mit der Feststellung, dass „Braudel, so wie wir, den wesentlichen Unterschied hervorgehoben hat, der unsere geohistorischen Untersuchungen von den geopolitischen sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht trennt als auch mit Blick auf den positiven Nutzen für das große moderne Vorhaben, die Völker der dringenden Aufgabe näher zu bringen, die Werte der abendländischen Zivilisation zu bewahren.“⁵² Sowohl Eva Serra als auch Julio Aróstegui haben darauf hingewiesen, dass Vicens weder vor noch nach 1950 über eine explizite und ausgearbeitete Theorie verfügte, die er konsequent in seinen historischen Arbeiten angewandt hätte.⁵³ Dieser Eklektizismus galt auch für seine Geohistoria, zumal er sie bald zugunsten

 Ebd., S. 329.  Ebd., S. 335.  Vicens: Tratado, S. 9.  Vgl. Eva Serra: La història moderna. Grandesa i misèria d’una renovació, in: L’Avenç 83 (1985), S. 56 – 63; Aróstegui: La teoría de la historia en Francia y su influencia en la historiografía española, S. 384– 401.

3.3 Paris 1950

213

einer weit gefassten Wirtschafts- und Sozialgeschichte fallen lassen sollte. Der Mangel an einem kohärenten Theoriegerüst bedeutete jedoch keinesfalls die Abwesenheit eines Denkstils, der seine Perspektiven bedingte, seine Gegenstände formte und bestimmte Affinitäten hervorrief. Das Denken in Kategorien des a) Gleichgewichts zwischen materiellen Stimuli und geistiger Reaktionsfähigkeit, b) der Harmonie zwischen den politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten und den von ihnen regierten Kollektiven, c) der Historie als gleichgewichtige (Fort) Bewegung und d) einer ökumenisch verstandenen „abendländischen Kulturgesellschaft“ bedingten seine Geohistoria, seine Perspektiven auf den Beginn der technisch-industriellen Moderne als Epoche und seine Affinitäten zu drei untereinander sehr unterschiedlichen, wenn nicht gar konträren „Leuchttürmen“ der Historiografie: Die national-katholischen Intellektuellen der 1948er-Generation, der britische Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee und der Strukturhistoriker Fernand Braudel. Diese Streuung intellektueller und geschichtswissenschaftlicher Referenzpunkte zeugte von einer Orientierungsphase, in der sich der katalanische Historiker im Jahr 1950 befand. Eine eindeutige Bezugsgröße, die seinem Erneuerungsprogramm ein klares Profil verleihen würde, besaß er im Sommer 1950 allerdings noch nicht.

3.3 Paris 1950 In den verschiedenen Deutungen der spanischen Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime nimmt das Jahr 1950 eine zentrale, bisweilen entscheidende Rolle ein. Der 9. Internationale Historikerkongress, der vom 28. August bis zum 3. September 1950 in Paris stattfand, wird in mancher Hinsicht bis heute als Urereignis gedeutet, das den (Wieder)Anschluss der spanischen Historiker an die europäische Ökumene eingeläutet habe.⁵⁴ Dieser Moment wird dabei unweigerlich mit dem Namen Jaume Vicens verbunden, dessen Teilnahme an eben diesem Kongress nicht nur für ihn selbst, sondern für die gesamte spanische Historikerzunft ein Vorher und ein Nachher markiert habe. „Derjenige Vicens“, so José M. Jover, „der aus Paris zurückkehrte, betrat eine neue Etappe seiner Biografie“.⁵⁵ In der Tat bedeutete Vicens’ Teilnahme am ersten internationalen Historikerkongress der Nachkriegszeit eine wichtige Kehrtwende in seiner wissenschaftlichen  So bei Antonio Morales, dessen Schilderung der historiografischen Erneuerung in Spanien nach einem Jahrzehnt der weitgehenden intellektuellen Isolation mit eben jenem Besuch des Jaume Vicens im Pariser Kongress beginnt. Vgl. Morales: Historia de la historiografía española, S. 666 f.  Jover: El siglo XIX en la historiografía española, S. 29.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

Biografie. Allerdings trat diese weniger in Form einer theoretischen und methodischen Bekehrung ein, die ihn zu den ‚Annales‘ und in dieser Logik weg von der regimenahen Geschichtswissenschaft brachte. Sie sollte vielmehr mit Blick auf die Strategien entscheidend sein, die er von nun an anwandte, um sich innerhalb des spanischen Historikerfelds zu verorten und seinen Kollegen gegenüber zu treten. Ebenso wie Vicens’ Rezeption von Braudels Méditerranee in erster Linie dazu diente, seine Geohistoria in die Historiografie nach 1945 hinüberzuretten, verhalf ihm seine Reise nach Paris dazu, seine bereits bestehende Diagnose des ‚Rückstands‘ der spanischen Geschichtswissenschaft neu zu artikulieren. Der Historiker aus Barcelona hatte nämlich sein Programm für eine ‚Erneuerung‘ längst im intellektuellen Gepäck. Was er in Paris vorfand, war ein sich neu formierendes Historikerfeld und neue Orientierungspunkte, die er daraufhin zur Profilierung seiner sich im Aufbau befindenden Schule nutzen konnte. Vicens’ Teilnahme am ersten internationalen Historikerkongress wurde dabei erst durch jene Entwicklungen möglich, die in Kapitel I.3. analysiert worden sind. Eine nicht formalisierte Außen(wissenschafts)politik hatte im Sinne der neuen Kooperationsdiskurse in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre allmählich die Schleusen geöffnet, um sowohl den Transfer natur- sowie technikwissenschaftlichen Wissens nach innen und katholisch-geisteshistorischer Deutungen nach außen zu ermöglichen. Gleichzeitig diente diese Öffnung dazu, internationale Anerkennung zumindest auf der Ebene der Wissenschaft inszenieren zu können. Die Impulse für den geschichtswissenschaftlichen Transfer gingen vor allem von Personen aus, die der Academia de la Historia und insbesondere dem Consejo angehörten und sich in einer offiziellen Delegation zusammenfanden. Als frisch ernannter Leiter der Sektion des Jerónimo Zurita in Barcelona erreichte es Vicens, Teil dieser vom Außenministerium sanktionierten Gesandtschaft zu werden.⁵⁶ Wie seine Rezensionen und seine publizierten sowie unpublizierten Abhandlungen zeigen, hatte Vicens die internationale Forschungslandschaft stets mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.⁵⁷ Entsprechend groß waren die Erwartungen des spanischen Delegierten Vicens an den Pariser Kongress. Er reichte eine communication mit dem Titel La politique européenne de Catalogne – Aragon à la fin du XVe siècle ein, in der er sein Interesse für die Politikgeschichte unter Ferdinand dem Katholischen auf eine europäische Dimension ausweitete. Die Internationalisierung der politikhistorischen Gegenstände war allerdings nur eines von Vicens’ Anliegen. Zu jenem Zeitpunkt waren seine Erwartungen ferner darauf  Vgl. die entsprechende Akte in AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 2945, Exp. 30, 1950, IX Congreso Internacional de Ciencias Históricas.  In etwa die Hälfte der von ihm verfassten Rezensionen waren nicht-spanischen Publikationen gewidmet. Siehe dazu Vicens: Obra dispersa, Bd. 2.

3.3 Paris 1950

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ausgerichtet, jenen Historikern entgegenzutreten, die sich zum historischen Materialismus bekannten und gegen die, so Vicens, „ich meine Geschütze in Stellung gebracht hatte.“⁵⁸ In seinen Forschungen hatte er den Bauernaufständen im katalanischen Herzogtum des 15. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit geschenkt und sie durch eine Perspektive zu erklären versucht, welche die Kategorie des „Klassenkampfs“ explizit ausschloss.⁵⁹ Daher stand zum Zeitpunkt der Abreise seine Zuversicht, in den scéances dem historisch-materialistischen Erklärungsmuster entgegentreten zu können, im Zentrum seiner Erwartungen.⁶⁰ Auf dem Kongress selbst sollte sich diese Zuversicht jedoch als Fehlschlag entpuppen. Vicens’ längste von drei Wortmeldungen galt der Kritik am marxistischen polnischen Historiker Marian Malowist (1909 – 1988) und seiner Analyse der Bauernaufstände im Polen des 15. und 16. Jahrhunderts.⁶¹ Vicens betonte dabei, seine eigenen Untersuchungen zu den katalanischen remensas-Aufständen seien „arrivés à des conclusions tout à fait négatives quant à la méthode préconisée par l‘auteur du rapport; on n’enregistre pas dans toute l’affaire, l’esprit de lutte de classe […].“ Die Agrarkonflikte im 15. Jahrhundert seien nicht durch den Klassenkampf überwunden worden, sondern „par voie de compromis et grâce à la bonne volonté réciproque […].“⁶² Erst die auf Verständigung bedachte politischen Eliten hätten somit „la réussite et l’essor de l’Agriculture catalane“ ermöglicht. Gekontert wurde Vicens’ Kritik vom marxistischen Historiker Pierre Vilar, und zwar – dies dürfte Vicens besonders beeindruckt haben – in Anlehnung an die Erkenntnisse aus dem Werk des Kritikers selbst.⁶³ Vicens’ Analyse würde, so Vilar, einen Aufstand aufzeigen, dass „se développa typiquement comme lutte de

 Jaume Vicens: El Congreso Internacional de Historia de Paris, Destino, 16.9.1950, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 478.  Vgl. Jaume Vicens: Historia de los remensas en el siglo XV, Barcelona 1945.  Vgl. Brief von Jaume Vicens an Felipe Ruiz Martín vom 25.8.1950, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 394.  Malowist war Professor am Historischen Institut in Warschau. Sein Rapport, das mit einem Bekenntnis zu „Marx et son école“ begann, ist enthalten im Rapport de M. M. Malowist, in: IXe Congrès International des Sciences Historiques, hrsg. v. Comité International des Sciences Historiques, Paris 1950 f., 2 Bde., Bd. 1: Rapports, S. 305 – 322, hier S. 305.  Zitiert aus dem Protokoll dieser scéance, enthalten in: IXe Congrès International des Sciences Historiques, hrsg. v. Comité International des Sciences Historiques, Paris 1950 f., 2 Bde., Bd. 2: Actes, S. 144– 151, hier S. 148.  Die polnische Delegation war schlussendlich nicht angereist. Zur Absage der polnischen Delegation und insgesamt zum beginnenden Ost-West-Konflikt in der Historiografie siehe Erdmann: Die Ökumene der Historiker, S. 280 f.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

classe“⁶⁴, allerdings weniger auf intentionaler, denn auf sozial-struktureller Ebene. Zwar würde Vicens dieser Umdeutung seiner eigenen Ergebnisse nie beipflichten. Vilars Kritik führte ihm jedoch vor Augen, dass die marxistische Geschichtsschreibung eine durchaus ernst zu nehmende Herausforderung bedeutete, der man mit neuen Perspektiven und Techniken begegnen musste. Der Auftritt der spanischen Delegation war im Allgemeinen äußerst zurückhaltend. Lediglich vier der elf aus spanischen Institutionen kommenden Historiker beteiligten sich mit insgesamt sechs meist kurzen Wortmeldungen an den unterschiedlichen Diskussionen. War im daraufhin von Vicens verfassten Bericht für das Außenministerium von „Beifall“ und „Applaus“ für die spanische Delegation die Rede und wurde in der Tageszeitung Arriba gar die „definitive Wiedereingliederung“ der spanischen Historikerzunft gefeiert, so ging Vicens im Privaten mit der Darbietung ihrer Repräsentanten deutlich härter ins Gericht.⁶⁵ Seinem Kollegen Felipe Ruíz, dem gegenüber er sich vor dem Kongress noch sehr zuversichtlich geäußert hatte, bot er wenige Wochen nach dem Kongress das folgende Resümee: „Das in Paris war irgendwie komödienhaft. Nur Lacarra und ich haben uns, unterstützt von P. Pérez de Urbel und La Torre, verzweifelt abgemüht und Gesicht gezeigt. Die anderen segelten orientierungslos im Wind, wenn nicht in den Teichen von Versailles. Meine Eindrücke habe ich auf fast ehrliche Weise für den Destino dieser Woche zusammengefasst“⁶⁶. Der „fast ehrliche“ Beitrag mit dem Titel Der Internationale Historikerkongress in Paris fiel erwartungsgemäß nicht derart spöttisch aus. Dennoch erwähnte Vicens die „mehr als diskrete Rolle“, die die spanischen Historiker bei ihrem ersten internationalen Auftritt nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hatten. Nach dieser Feststellung richtete Vicens das Augenmerk seiner Leserschaft auf zwei Tendenzen, die sich im Kongress abgezeichnet hatten. Zum einen hob er die Verschiebungen hervor, die sich auf internationaler Ebene seit dem letzten Kongress in Zürich im Jahr 1938 ergeben hatten, um aus dem Gegensatz von „Historismus“ und „historischem Materialismus“ einen neuen Mittelweg hervortreten zu lassen: „[D]ie methodische Ausrichtung und die theoretische Orientierung der Kongressteilnehmer haben einen bemerkenswerten Kurswechsel erfahren. Die Geschichte der politischen Tat-

 Vgl. IXe Congrès International des Sciences Historiques, Bd. 2: Actes, S. 149. Pierre Vilar (1906 – 2003) war marxistischer Historiker und Spezialist für die Geschichte Kataloniens. Er gehörte zunächst zum erweiterten Kreis der Annales-Historiker.Vicens und er sollten im Laufe der Zeit ein gutes Verhältnis pflegen, wie die Korrespondenz zwischen ihnen beweist.Vgl. Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 531– 541.  Siehe dazu Kapitel I.3.3.  Brief von Jaume Vicens an Felipe Ruiz vom 17.9.1950, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 395.

3.3 Paris 1950

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sachen hat endgültig die Vorrangstellung verloren, die sie noch kurz zuvor in dieser Wissenschaft innehatte. Auf besonderes Interesse stießen nun die Debatten um die Vorträge zur Wirtschafts-, Institutionen- und Sozialgeschichte. So gaben jene Anlass zu neuen und bissigen Polemiken zwischen den Verteidigern des Historismus und den Verfechtern des dialektischen Materialismus. Neben den Differenzen, die sich zwischen beiden Blöcken öffneten, ist eine dritte Partei in Erscheinung getreten, diejenige der ‚Demografen‘. Sie vereint jene Historiker, die einerseits die Analyse wirtschaftlicher Tatsachen für das Verständnis der Vergangenheit als unumgänglich betrachten, andererseits aber den historischen Materialismus ablehnen.“⁶⁷

Die „Demografen“, die Vicens angesichts der faktischen Abwesenheit von Febvre und Braudel am Kongress unmittelbar mit Charles Morazé (1913 – 2003) verband und womöglich auch nach ihm benannte, stellten demnach eine neue Alternative zwischen „Historismus“ und „historischem Materialismus“ dar.⁶⁸ Durch die simplifizierte Zuspitzung dieses Gegensatzes erschien es, als seien „die altbackensten Traditionen der europäischen Historiografie“⁶⁹ in dem Sinne unzeitgemäß, dass sie der Herausforderung des historischen Materialismus auf geschichtswissenschaftlicher Ebene nicht genügen könnten. Die „Demografen“ würden, so Vicens’ implizites Argument, die zeitgemäße Alternative zur marxistisch inspirierten Wirtschafts- und Sozialgeschichte darstellen. Obwohl Jaume Vicens beim 9. Internationalen Historikerkongress in Paris mit der Formierung eines neuen historiografischen Feldes in Berührung gekommen war, lässt sich die oft vertretene These nicht aufrechterhalten, dass er „als ein anderer“ aus der französischen Hauptstadt zurückkam. Denn wie die bisherige Analyse gezeigt hat, hatte Vicens bereits weit vor seiner Teilnahme am Historikerkongress eine Rückstandsrhetorik verwendet, um sein eigenes geschichtswissenschaftliches Programm zu artikulieren. In dieser Hinsicht trafen sich in Paris also Erwartung und Erfahrung. Entscheidend war vielmehr die konkrete Gestalt, die für Vicens die Historikerlandschaft nach 1945 eingenommen hatte, mit einer „traditionellen“ Politik- und Geistesgeschichte auf der einen und einer marxistisch inspirierten Wirtschaftsgeschichte auf der anderen Seite. Sein intellektueller Werdegang war bis zum Jahr 1950 unter anderem durch die Suche nach Ansätzen gekennzeichnet gewesen, die die politischen, sozialen, wirtschaftlichen, geografischen, geistigen und kulturellen Dimensionen in einer Geschichte zu harmonisieren versprachen. Dies unterschied ihn von den Historikern aus dem Umfeld des Consejo, die in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte die Gefahr einer  Jaume Vicens: El Congreso Internacional de Historia de Paris, Destino, 16.9.1950, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 477.  Vgl. Erdmann: Die Ökumene der Historiker, S. 295.  Vicens: El Congreso Internacional de Historia de Paris, S. 478.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

‚Technifizierung‘ des historischen Blicks erkannten. Hinsichtlich der internationalen Historikerlandschaft stand allerdings die Abgrenzung gegenüber dem historischen Materialismus im Vordergrund, so dass sein Plädoyer für die „Einheit der Geschichte“ vor allem einem Aufruf gleichkam, diesen Herausforderungen durch eine alle Dimensionen integrierende Geschichtswissenschaft entgegenzutreten. Nur eine solche „Einheit“ würde es erlauben, jene offene und ‚ökumenische‘ Geschichte für die Gegenwart zu schreiben, die er allerdings auch bei den „Demografen“ noch nicht zu erkennen vermochte: „Ob dies ein tatsächlicher methodischer Fortschritt ist oder nicht und ferner, ob er der zukünftigen politischen Entwicklung der Menschheit dienen wird, kann zu diesem Zeitpunkt nicht erörtert werden.“⁷⁰ Wie im Folgenden gezeigt werden wird, würde Vicens diese Frage durchaus erörtern, und zwar kurz darauf, als er hinter den „Demografen“ die ‚Annales‘ für sich entdeckte.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre: Histoire totale, Abgrenzungsstrategien und Anti-Marxismus Im März 1951 veröffentlichte Vicens den Artikel Lucien Febvre und die ‚Annales‘ in Destino. ⁷¹ Dieser nicht in einer Fachzeitschrift, sondern in einem intellektuellen Wochenmagazin erschienene Text markierte in gewisser Weise den Beginn eines Transfers, in dem es um weit mehr ging als nur um die Adaption geschichtswissenschaftlicher Herangehensweisen. Allein die Tatsache, dass sich diese ‚Entdeckung‘ vor den Augen einer breiten und nicht nur fachlichen Leserschaft vollzog, weist bereits darauf hin, dass die öffentliche Bekanntgabe und das Bekenntnis zu diesen „Annales“ eine mindestens ebenso tragende Rolle in diesem Transfer einnahmen wie die selektive Aneignung von Perspektiven, Methoden und Gegenständen der Forschung. In diesem Artikel berichtete er über die „singuläre Erfahrung“, die er bei seiner jüngsten Lektüre der französischen Zeitschrift Annales ESC gemacht hätte. Nach einer kurzen Einführung zu ihrer Entstehung im Jahre 1929 und einer „eifrigen Huldigung“ des verstorbenen Marc Bloch, dessen Werk, das Vicens zuvor noch nicht gekannt hatte, nun seiner Meinung nach „schwerlich in Vergessenheit geraten“⁷² würde, ging er dazu über, eine Affinität herzustellen, die er in den darauffolgenden Jahren in wiederholter Weise bekräftigen sollte. Welche Funktion dieses Bekenntnis in wissenschaftssoziologi Vicens: El Congreso Internacional de Historia de París, S. 477 f.  Vgl. Jaume Vicens: Lucien Febvre y los ‚Annales’, Destino, 3. 3.1951, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 493 f.  Ebd., S. 493.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre

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scher Hinsicht erfüllte, welche selektive Lektüre Vicens vornahm und was er unter der Chiffre ‚Annales‘ verstand, sind die Fragen, denen im folgenden Abschnitt nachgegangen werden wird. Zunächst fuhr Vicens damit fort, seine wissenschaftliche Biografie auf eine Weise umzuschreiben, die es ihm ermöglichen sollte, die ideologischen Altlasten der Geopolitik abzuwerfen. So habe ihn, wie er im soeben zitierten Artikel feststellte, Febvres La terre et l’évolution humaine ⁷³ bereits zu Studienzeiten „erstaunt“: „Durch den dichten und üppigen Gedankengang des Autors fand ich meinen eigenen Weg. Möglicherweise entspringt meine Vorliebe für die Geopolitik und die Geogeschichte, meine althergebrachte Neigung, Mensch und Raum zu verschwören, […] aus eben dieser fruchtbaren Lektüre.“⁷⁴ Wie schon Braudels Méditerranée diente nun auch Febvres Monografie dazu, diese bedenkliche „Vorliebe“ aus dem Schatten ehemaliger intellektueller Achsenbündnisse zu holen. Zudem trat an dieser Stelle der Versuch hinzu, Febvres Werk rückwirkend in die Genese des eigenen historischen Denkens einzuschreiben. Vicens behauptete nun, seinen „eigenen Weg“ durch La terre et l’évolution humaine gefunden zu haben, das er selbst rückwirkend zum Vademekum des ehemaligen Studenten aus Barcelona machte. Dass der „eigene Weg“ ihn dorthin geführt, wo weder Febvre noch Bloch zum Kanon zitierfähiger Autoren gehört hatten, kam an dieser Stelle nicht zur Sprache. Vicens rekonstruierte seine Biografie mithilfe von Braudel und Febvre nämlich derart, dass eine Kontinuität zwischen seiner Studienzeit und der Nachkriegsgegenwart hergestellt wurde. Die Jahre zwischen dem Ende des Bürgerkriegs und seiner ‚Entdeckung der Annales‘ wurden damit zu einer bloßen umstandsbedingten Unterbrechung in einer ansonsten von Beginn an mit „Lucien Febvre und [den] Annales“ verknüpften Laufbahn. Jenseits dessen standen vor allem zwei weitere Aspekte im Zentrum von Vicens’ Rezeption. Einerseits knüpfte er an die Vorstellungen einer histoire totale an und übernahm dabei die Strategien zur relationalen Verortung, die Febvre und Bloch zur Profilierung ihres esprit des Annales geprägt hatten. Andererseits präsentiere Vicens die „Annales“, wie schon ein Jahr zuvor, doch nun in zugespitzter Form, als wirtschafts- und sozialhistorische Alternative zu einer marxistisch inspirierten Geschichtswissenschaft. Dabei stand die Verbindung von histoire totale und strategischer Selbstverortung, wie sie vor allem in den Beiträgen Febvres zur Sektion Debats et Combats der Zeitschrift Annales zum Ausdruck kam, gleich zu Beginn dieser Rezeption im Vordergrund:

 Vgl. Lucien Febvre: La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire, Paris 1922 (L’évolution de l’humanité 4).  Vicens: Lucien Febvre y los ‚Annales’, S. 493.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

„Aber die eigentliche Brillanz von L. Febvre tritt in seiner eigenen Sektion der Zeitschrift ‚Annales‘ zutage. Trotz der Mitarbeit namhafter Historiker wie F. Braudel und Ch. Morazé ist unschwer zu erkennen, dass er die Flamme darstellt, die dieses eigentümliche Gefühl der Vitalität in die entsprechenden Seiten trägt. Eigentümlich ist es deshalb, weil die Mehrzahl der geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften sich der bleischweren Gelehrsamkeit und brüderlicher Selbstgenügsamkeit bedient. […] Aber die ‚Annales‘ sind etwas anderes. Aus ihnen spricht die Lust zu kämpfen und zu polemisieren; die Lust, die Händler aus dem Tempel zu vertreiben. Und mit welchem Spott Febvre die althergebrachten Laster derjenigen Historiker tadelt, die ihre Ehrlichkeit zugunsten eines unbeichtbaren Egoismus opfern oder sich an die altmodische Geschichte militärischer, ökonomischer und sozialer Ereignisse krallen! Nur die gymnastischen Apparaturen, die die Fundamente dieser veralteten Form von Geschichtsschreibung stützen, halten diese noch am Leben. Lucien Febvre empört sich, macht sich kampfbereit und greift die einen und die anderen an […]. Wir stimmen mit aller Entschlossenheit überein. Möglicherweise deshalb, da die Lektüre [seines Werks] vor zwanzig Jahren bei mir einen derartigen Eindruck hinterließ, dass dieser in mir genau im Sinne dessen keimte, was heute der Leiter der ‚Annales‘ mit so viel Inbrunst darlegt. Jawohl, M. Febvre. Die Geschichte ist an erster Stelle das Leben. Als solche muss sie in den Mentalitäten unserer Vorfahren, die die Geschichte im Rahmen geografischer Gegebenheiten und innerhalb einer bestimmten Verteilung von Werten und Reichtum lebten, aufgespürt werden. Und wer die Lektion nicht hören will, der soll sie auch nicht verstehen. Wir sind uns sicher, dass ihre unermüdliche Arbeit bald mit einem erhellenden Triumph in Frankreich und in Belgien belohnt werden wird.“⁷⁵

Was Vicens hier ansprach, war nichts anderes als seine eigene Lesart eines esprit des Annales. ⁷⁶ Die Annales war „etwas anderes“, grenzte sich von der „unehrlichen“ und „altmodischen“ Historiografie zugunsten einer „ehrlichen“ und „neuartigen“ Geschichtswissenschaft ab, die sich des „Lebens“ in allen seinen Facetten annahm. In der „Vitalität“, die laut Vicens aus den Seiten der Zeitschrift sprach, erkannte er eine Reaktion insbesondere gegen einen Denkstil, der, wie es

 Vicens: Lucien Febvre y los ‚Annales’, S. 493 f.  „Donc ‚école’, non. Mais nous parlons volontiers de ‚l’esprit des Annales’ ou, plus rarement, du ‚groupe des Annales’“. So fasste Lucien Febvre 1953 in der von ihm jüngst neugegründeten Zeitschrift Annales ESC eine seiner vielen Reflexionen über die Gemeinsamkeiten und den Zusammenhalt jener Historiker zusammen, die damals dem erweiterten Kreis der Annales zugesprochen wurden. Der französische Historiker wehrte sich, zunächst mit Marc Bloch, dann mit Fernand Braudel mit dem Rekurs auf Begriffe wie ‚esprit’ oder ‚groupe’ gegen eine Verfestigung der theoretischen und methodologischen Merkmale der zunehmend als Annales-Historiografie bekannten geschichtswissenschaftlichen Strömung. Die relative Offenheit dieser Begriffe gegenüber denjenigen der ‚école’ sollte dabei auch die Einschränkung der Annales-Historiker auf einen engen Kreis von Mitarbeitern verhindern. Lucien Febvre: Pro parva nostra domo, in: Annales ESC 8 (1953), S. 513.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre

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Lucien Febvre selbst ausdrücken sollte, „n’est pas l[e] nôtre“.⁷⁷ Mentalitäten, geografische und sozioökonomische Gegebenheiten: Darin erkannte Vicens nun den wichtigen „Beitrag des französischen Volkes an der gemeinsamen abendländischen Kultur“.⁷⁸ Aus wissenschaftssoziologischer und transferanalytischer Sicht war die Verquickung der Einforderung einer histoire totale mit dieser polemischen Sprache signifikant. Vicens eignete sich nämlich hier einen esprit nicht lediglich im Sinne eines bestimmten Paradigmas an. Dieser espíritu, wie Vicens ihn nennen sollte, transportierte vielmehr einen Denkstil, der sich durch bestimmte Strategien zur Selbstpositionierung innerhalb des professionellen Umfelds auszeichnete. Die Annales, insbesondere ihre Sektion Débats et Combats, bot sich dabei für die Profilierung von Vicens’ Erneuerungsprogramm in besonderer Weise an. In seiner Untersuchung zum historiografischen Umfeld dieser Zeitschrift hat Lutz Raphael zu Recht darauf verwiesen, dass eine der zentralen intellektuellen Erbschaften der ersten ‚Annales‘-Generation gerade in jener Verquickung bestand. Die „Bündelung aller Elemente zum typischen ‚Denkstil‘“ machte aus dem „esprit des Annales [ein] Kürzel, um gegenüber den Fachkollegen ihre Ambition zu verdeutlichen, die Gewohnheiten der Historikerschaft zu verändern“.⁷⁹ Auch bei Vicens erfüllte die Adaption dieses Denkstils eine ähnliche, allerdings nicht identische Funktion. Durch die Übernahme einer polemischen, auf Abgrenzung bedachten Sprache signalisierte er durchaus seinen Ehrgeiz, „die Gewohnheiten der Historikerlandschaft zu verändern.“ Die nicht nur fachöffentlichen Affinitätsbekundungen dienten jedoch außerdem dazu, in der von ihm entworfenen Rückstands-Fortschritts-Achse eine klare Linie zu ziehen, die von der spanischen Geschichtswissenschaft über sein Erneuerungsprogramm nun nicht mehr bis zu Toynbee, sondern bis nach Paris und nicht zuletzt bis zur „abendländischen Kultur“ führte. Noch im selben Jahr erschien der erste Band der Estudios de Historia Moderna (EHM), einer jahrweise erscheinenden Zeitschrift, die Vicens als Sprachrohr einer neuen Historischen Schule von Barcelona entwarf und im nächsten Abschnitt analysiert werden soll. Im Vorwort stellte Vicens für diese Zeitschrift, nicht ohne rhetorisches Pathos, einen Katalog mit zehn Programmpunkten auf. Jeder Punkt wurde von Vicens mit „Wir glauben“ eingeführt, dem die programmatischen Leitlinien folgten. „Leben“, „geografischer Rahmen“, „soziales Umfeld“, „soziale Artikulation“, „Kampf um die Verteilung des moralischen und materiellen Reichtums“, „Mentalitäten“, „Generationen“, „Totalität“,  Vgl. Lucien Febvre: Sur une forme d’histoire qui n’est pas la nôtre. L’histoire historisante, in: Ders.: Combats pour l’histoire, Paris 1953, S. 114– 118.  Vicens: Lucien Febvre y los ‚Annales’, S. 493.  Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 89, kursiv im Original.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

„statistische Methode“ und auch hier die „abendländische Zivilisation“⁸⁰ – dies waren die Stichworte, unter die Vicens seine neue Geschichtsschreibung stellte und mit denen er versuchte, neue und alte Kategorien miteinander zu verknüpfen und an den ‚Annales‘ auszurichten.⁸¹ Eine explizite Erwähnung der ‚Annales‘ befand sich im Vorwort zum ersten Band der Estudios de Historia Moderna nicht, doch hatte Vicens nun begonnen, ihre Sprache und nicht zuletzt auch ihre Feindbilder zu übernehmen. Als „spanische ‚Hazardisten‘“ bezeichnete Vicens all jene Historiker, die sich vor und nach dem Bürgerkrieg aufgrund ihrer „eingeschränkten methodischen Versiertheit“ dem „philosophierenden Essayismus“ und dem „historisierenden Ideologismus“ zugewandt hatten. Sie waren „keine Archivmänner“ und stellten daher für Vicens „eine der größten Gefahren für den Fortschritt unserer Wissenschaft dar.“⁸² Noch im selben Jahr 1951 veranlasste der katalanische Historiker die Übersetzung der Introduction à l’Histoire économique von Charles Morazé, dessen Vorwort er selbst verfasste und die er als Manifestation (s)eines neuen ésprit einführte.⁸³ Der neue „Geist“ (espíritu) dieser „neuen französischen Historikergeneration“ habe, so Vicens, eine „allzu bekannte“ Historiografie abgelöst, deren Tage von nun an auch in Spanien gezählt seien: „Wir sind davon überzeugt, dass die Veröffentlichung dieses Buches – dessen Übersetzung ich empfahl und besorgte – einen neuen Weg in die aktuelle historiografische Denkweise […] eröffnen, [und] den stickigen Dunstkreis, in dem wir uns bewegen, durchlüften wird […].“ Der Wind wehte nun aus Paris und er besaß offenbar genug Stärke, um die spanische Geschichtswissenschaft von einem Rückstand zu befreien, den Vicens, folgt man

 Jaume Vicens: Presentación y propósito, in: EHM 1 (1951), S. XIf..  Ferner ließe Vicens’ Anlehnung an die Begrifflichkeit der Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys vor dem Hintergrund der spanischen intellektuellen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit auch auf eine Rezeption des einflussreichen spanischen Denkers José Ortega y Gasset schließen, dessen Lebens-, Generationen-, und Elitenbegriffe deutliche Schnittstellen mit denjenigen von Vicens aufweisen. Im Rahmen dieser Untersuchung ist es jedoch wichtig zu unterstreichen, dass Vicens einerseits Ortegas spekulative Geschichtsphilosophie zusammen mit derjenigen der 98er Generation vehement ablehnte und andererseits, wie bereits gezeigt wurde, eine Anlehnung an den liberalen Denker besonders während der Debatte um das ‚Problem Spanien’ schon allein ihrer politischen Konnotation wegen von sich wies. Die lebensphilosophische Begrifflichkeit scheint Vicens daher eher den Texten Lucien Febvres und nicht denjenigen Ortegas entnommen zu haben. Anders Pasamar: La influencia de Annales, S. 155.  Ebd. S. X.  Vgl. Charles Morazé: Introduction à l’Histoire économique, Paris² 1948.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre

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seiner Darstellung, dank seiner „persönliche[n] Neigung, die Geschichte auf identische Weise zu betrachten“⁸⁴ bereits im Zuge war, zu überwinden. Die dichotome Einteilung der Geschichtswissenschaft in ‚alt‘ und ‚neu‘ sowie die vorbehaltlose Verknüpfung des ‚Neuen‘ mit einer Strömung, die sich ausdrücklich nicht auf eine spanisch-nationale Wissenschaftstradition stützen ließ, stellte ein Novum innerhalb der spanischen Geschichtswissenschaft dar.⁸⁵ Nichtsdestotrotz verfolgte Vicens diese Strategie über die 1950er Jahre hinweg, und zwar sowohl in seinen esoterischen, an das Fachpublikum gerichteten Texten, als auch in seinen exoterischen, für Fachfremde verfassten Schriften. Besonders bezeichnend ist dabei die Publikation seiner bekannten Annäherung an die Geschichte Spaniens (Aproximación a la Historia de España), die 1952 erschien. Dieses für eine geschichtsinteressierte Leserschaft verfasste Handbuch schilderte auf knapp 170 Seiten die spanische Geschichte von den „Urbewohnern“ bis zur „Krise des 20. Jahrhunderts“ und präsentierte, so Vicens im Vorwort, deren „Problematik“ in Form „einfache[r] Hypothesen“. Auch hier unterschied der Autor einführend zwischen „der alten Politikgeschichte“, dem „alten narrativen System“ auf der einen und einer Untersuchung „der absoluten Geschichte, des Lebens“ auf der anderen Seite. Obwohl oder etwa gerade weil es sich bei der Aproximación um ein Handbuch für ein breites Publikum handelte, scheute Vicens nicht die offene Polemik und das Aufspannen von Gegensätzen bis hin zur Eigenwerbung. Das „eindeutige Scheitern der ‚ideengeschichtlichen‘ Technik“⁸⁶ führte er dabei auf die „Erfolge“ zurück, die seine Mitarbeiter dank „statistische[r] Studien“ im bezeichnenderweise noch nicht erschienenen dritten Band der EHM

 Jaume Vicens: Prólogo, in: Charles Morazé: Principios Generales de Historia, Economía y Sociología, Barcelona 1952, S. 7 f.  Gerade Charles Morazé war zuvor in der Zeitschrift Arbor Zielschreibe der national-katholischen Kritik geworden. Anlässlich des Congrès historique du Centenaire de la Révolution de 1848 hatte José M. Jover, Autor der preisgekrönten Untersuchung zu den geistesgeschichtlichen Ursprüngen der decadencia, bereits früh die Ansichten Morazés und auch Ernest Labrousses bekämpft. Er betrachtete sie als eine Herausforderung, der die „Zaghaftigkeit der katholischen Historiografie“ noch nichts hatte entgegensetzen können. José M. Jover: Rez. zu Actes du Congrés historique du Centenaire de la Révolution de 1848, hrsg. v. Comité Français des Sciences Historiques, París 1948, in: Arbor 16 (1950), S. 321 f.  Unter „ideologismo“ verstand Vicens nicht etwa eine „ideologisierte“ Geschichtswissenschaft, sondern die reine und spekulative Ideengeschichte. Ihre explizite Ablehnung zieht sich wie ein roter Faden durch Vicens’ Texte. Siehe dazu beispielsweise seine Kritik an José M. Jover Zamora. Vgl. beispielsweise Jaume Vicens: Ideario político del Barroco, Destino, 17. 5.1950, erschienen in: Obra Dispera, Bd. 2, S. 468 – 470.

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errungen hätten. Erst die Aneignung dieser neuartigen Methoden würden „die aktuelle spanische Geschichtsforschung voranschreiten lassen“.⁸⁷ In Anbetracht des ‚Rückstands‘ der spanischen Geschichtswissenschaft müsse, so der Autor auch Jahre später, folgende grundlegende Frage gestellt werden: „[W]as kann die spanische Geschichtswissenschaft tun, um ihren Arbeitsrhythmus zu beschleunigen und ihre Tätigkeit mit den gemeinsamen Tendenzen der abendländischen Geschichtswissenschaft in Einklang zu bringen?“⁸⁸ Die Antwort lag für Vicens weiterhin in seinem eigenen Erneuerungsprogramm, das er 1948 aufgestellt hatte und das er nun mit einer Revision der bisherigen Ansätze in der spanischen Historiografie verband: Innerspanische Koordination, lehrstuhlgebundene Forschung, Dezentralisierung der Forschung, Archivarbeit, Abgrenzung zur Geschichtsschreibung nicht-professioneller Provenienz. Unter Bezugnahme auf die Debatte zwischen Américo Castro und Claudio SánchezAlbornoz riet Vicens seinen Lesern, diese Gesamtdeutungen der spanischen Geschichte zumindest so lange „mit Vorsicht heranzuziehen, bis unsere Wissenschaft nicht den festen Boden der konkreten Wirklichkeiten betritt (das heißt, datiert und durch statistische Zahlen verbürgt).“ Nicht jene essentialistische Kontroverse würde die Nationalgeschichte verändern können, sondern vielmehr, so Vicens, „meine Annäherung an die Geschichte Spaniens, deren ausschließlich wissenschaftlicher Inhalt eine Grundlage für die Revision der Ergebnisse aus der veralteten Historiografie“⁸⁹ bieten könnte. Dass er sich selbst noch wenige Jahre zuvor eifrig in die essentialistische Debatte um das ‚Problem Spanien‘ eingeschaltet hatte, verschwieg er an dieser Stelle. In diesem Zusammenhang wurde Braudel, dessen Studien anders als diejenigen Febvres auf direkte Weise die spanische Geschichte betrafen, für Vicens zunehmend zum zentralen Bezugspunkt. Die kontinuierlichen Verweise auf den französischen Historiker dienten unter anderem dazu, die Rückstand-FortschrittAchse aufzuspannen und ein Narrativ der ‚Verwissenschaftlichung‘ zu etablieren, mit dem der katalanische Historiker die eigenen autobiografischen (Re)Konstruktionsleistungen auf das gesamte Feld der Neuzeitgeschichtsschreibung übertragen konnte. Im Jahr 1955 periodisierte er die Entwicklung der spanischen Geschichtswissenschaft nach 1939 wie folgt: „Die spanische Geschichtswissenschaft zur Neuzeit befindet sich zurzeit in einer Phase der methodischen und thematischen Wiederanpassung. Nach einer langen Phase journalisti-

 Jaume Vicens: Aproximación a la Historia de España, Barcelona 1952, S. 7, 8 f., 14, 19, 20 f.  Jaume Vicens: Los estudios históricos españoles en 1952– 1954, in: IHE 1 (1953 – 1954) [erschienen 1955], S. IX, kursiv im Original.  Ebd., S. XI, kursiv im Original.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre

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scher Abschweifungen und einer Etappe, die von reichlicher Verwirrung gekennzeichnet war (1939 – 1948), beginnen sich allmählich klare Positionen zu formieren und Arbeitsgruppen abzuzeichnen. Da es sich bei deren Leitern um junge Menschen handelt, kann von ihnen eine vollkommene Erneuerung der Historiografie der spanischen Neuzeit erwartet werden. Mehr noch, uns steht nicht nur eine Erneuerung bevor, sondern es wird sich um die Etablierung wissenschaftlicher Grundlagen für die Erforschung der letzten fünf Jahrhunderte iberischer Geschichte handeln. Das Werk Braudels […] hat als Stimmungskatalysator gedient und eine Etappe reifer historiografischer Betätigung vorbereitet […].“⁹⁰

Vicens benannte im Folgenden ganz explizit diejenigen Historiker, die er zu dieser jungen Generation zählte. Neben seinen Schülern Emili Giralt (1927– 2008), Joan Reglà (1917– 1973) und Jordi Nadal (geb. 1929) verwies er auf seine Mitstreiter in Sachen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Felipe Ruiz Martín (1915 – 2004) und Antonio Domínguez Ortiz (1909 – 2003), und nicht zuletzt ganz deutlich auf sich selbst.⁹¹ Für Vicens repräsentierten die genannten Personen den Übergang in eine neue Geschichtswissenschaft, die nach 1948 – dem Jahr seines Lehrstuhlantritts an der Universität Barcelona – die „Wiedereinpassung“ vorbereitete. Dass der katalanische Historiker gerade den Kreis der ‚Annales‘-Historiker als Bezugspunkt seines Erneuerungsprogramms für die spanische Historiografie heranzog, begründete er nicht zuletzt auch damit, dass diese neue französische Strömung im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft vor 1945/1948 als einzige ein wissenschaftliches und auch weltanschauliches Gegengewicht zum Marxismus habe bieten können. Ähnlich wie manche ‚Annales‘-Historiker sah auch Vicens im historischen Materialismus eine Herausforderung, der man nur mit einer neuartigen Wirtschafts- und Sozialgeschichte entgegengetreten könne.⁹² In einem Artikel aus dem Jahr 1952, der den Titel Neue Wege für die Geschichte trug, übte Vicens heftige Kritik am „marxistischen Dogmatismus“. Dessen grundlegende Fehlannahme sei es, „die grundlegenden Bedürfnisse des menschlichen Lebens“ auf „rein materielle Koeffizienten zu reduzieren.“ Dabei läge es keinesfalls in seinem Interesse, das Ökonomische als Bedingungsfaktor aus der Geschichte

 Ebd., S. XIXf.  Der andalusische Historiker Antonio Domínguez Ortiz gehörte zwar, anders als Felipe Ruiz, nicht zu den „spanischen Braudeliens“, doch zählte er neben Ramón Carande (1887– 1986) zu den ersten Wirtschafts- und Sozialhistorikern Spaniens. Aus dem wissenschaftlichen und freundschaftlichen Verhältnis zu Vicens entsprang nicht zuletzt seine Mitarbeit an der Historia social y económica de España y América, Barcelona 1957– 1959.  Gleichwohl viele Annales-Historiker wie Ernest Labrousse oder Fernand Braudel dem Marxismus deutlich näher standen als ihre Vorgänger Lucien Febvre und Marc Bloch, war das Verhältnis von Annales-Historiografie und marxistischen Perspektiven dennoch spannungsreich.Vgl. Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 272 ff.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

auszuschließen. Vielmehr sei der historische Materialismus die zentrale Herausforderung für die Geschichtswissenschaft des „Abendlandes“, denn „die Wirtschaft ist ein harter Knochen. Aus historischer Sicht hat sich allein die französische Schule [gemeint waren die Annales] dieses Problems ernsthaft angenommen, deren Methoden zur Konjunktur, zur Geschichte der Preise, der Werte und der Zinsen das anfängliche Stottern einer formalen Wirtschaftsgeschichte hinter sich gelassen haben [….].“⁹³ Im Kontext der Geschichtswissenschaft der 1950er Jahre diente die Charakterisierung der „französischen Schule“ als wissenschaftliches Gegengewicht zur marxistischen Geschichtsschreibung auch dazu, den Vorbehalten der spanischen Historikerschaft entgegenzuarbeiten, die einer strukturalistisch inspirierten Wirtschafts- und Sozialgeschichte in weiten Teilen äußerst skeptisch gegenüberstand.⁹⁴ Vicens versuchte auf diese Weise wiederholt, Begriffe wie Struktur und Konjunktur zu verwenden und sie explizit gegen marxistische Analysekategorien zu positionieren.⁹⁵ Die „recht rote Fahne“, die die ‚Annales‘, so Karl Erdmann, auf dem Pariser Kongress geschwenkt hatte, lehnte Vicens selbstverständlich ab.⁹⁶ Wie er im Jahr 1954 in einem seiner wenigen Artikel für Hispania bekannt gab, ging es ihm in seinem Entwurf Zu einer Wirtschaftsgeschichte Spaniens, so der Titel des Beitrags, nicht um materialistisch determinierte Betrachtungsweisen, sondern um „den Menschen und sein Leben, seine primären, sowohl geistigen als auch materiellen Interessen und daher [um] den ökonomischen Faktor als Ausdruck des geschichtlichen Daseins des Menschen“. Vicens postulierte damit eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in der „zwei grundlegende Prinzipien [galten]: Wirtschaftsgeschichte auf der einen Seite, Geschichte der gesellschaftlichen Mentalitäten auf der anderen“.⁹⁷

 Jaume Vicens: Nuevos rumbos para la Historia, La Vanguardia Española, 30.4.1952, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 496 f., hier S. 497.  Obwohl die Historiker im Umfeld der Annales innerhalb Spaniens zunächst eher ignoriert als kritisiert wurden, scheint ihre Offenheit und Dialogbereitschaft gegenüber marxistischen Historikern wie Witold Kula oder Pierre Vilar wohl einigen Verdacht erweckt zu haben, ohne dass dieser jedoch in eine offene Kritik mündete. Vgl. Pasamar: La influencia de Annales.  Vicens’ erste Anwendung dieser Begrifflichkeit auf einen konkreten Gegenstand in Jaume Vicens: Coyuntura económica y reformismo burgués, in: EHM 4 (1954), S. 351– 391. Diese und andere Studien zum katalanischen Bürgertum werden in einem späteren Kapitel gesondert behandelt. Zur Abgrenzung dieser Terminologie zum Marxismus siehe beispielsweise Jaume Vicens: Sobre les estructures, Àncora, 18.9.1959, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 493 – 495.  Vgl. Erdmann: Die Ökumene der Historiker, S. 281.  Jaume Vicens: Hacia una historia económica de España. Nota metodológica, in: Hispania 14 (1954), S. 499 – 510, hier S. 501 und S. 502.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre

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Die Herausforderung des „marxistischen Dogmatismus“ beschränkte sich für Jaume Vicens keinesfalls allein auf das analytische Instrumentarium. Sie beinhaltete darüber hinaus eine kulturhistorische Dimension, in deren Rahmen er die Entwicklung einer ‚abendländischen‘ und damit auch einer spanischen Geschichtswissenschaft zu situieren pflegte. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht die Kontinuitätslinie, die sich in den Jahren 1951 und 1952 aus seiner gegenwartshistorischen Verortung der Werke von Toynbee und Morazé ergab. Anlässlich eines Besuches des Londoner Professors in Barcelona im Oktober 1951 unterstrich Vicens in einem Artikel, der in der Tageszeitung La Vanguardia Española erschien, Toynbees wissenschaftliche Verdienste. „[Ent]gegen den katastrophalen Thesen von Historisten und Marxisten“ habe Toynbee in seinen Studien zum Aufstieg und Niedergang der Kulturen die bevorstehende „geistige Expansion“ der abendländischen Zivilisation feststellen können, die unmittelbar an „ihre große universelle Religion: das Christentum“ gebunden sei. Toynbees geschichtswissenschaftliches Werk selbst sei ein deutliches Zeichen dafür, „dass das Abendland noch nicht sein letztes Wort gesprochen“⁹⁸ habe. Zwar hatte Vicens zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Fokus von London nach Paris verlegt. Dennoch rahmte er auch hier Toynbees Werk in eine kulturhistorische Gesamtentwicklung ein, deren Schicksal er in Abgrenzung zum Marxismus mit der abendländischen Kultur verband. Nur wenig später ordnete Vicens Charles Morazés soeben übersetztes Werk in einen ähnlichen Kontext ein: „Zum ersten Mal hat er den mythischen Spiegel zerbrochen, in dem sich der ökonomistische Fanatismus von Marx und seinen Parteigängern und Widersachern spiegeln. Damit hat er die Geschichte von falschen Vorurteilen befreit und uns die einzigartige Möglichkeit eröffnet, den historischen Geschehnissen jenen Ort zu geben, der diesen gemäß unserer humanistischen und christlichen Betrachtungsweise der Welt zusteht.“⁹⁹

Zunächst Toynbee und dann Morazé als „Vertreter der französischen Schule“ symbolisierten für Vicens eine Geschichtswissenschaft, die sich im Zeichen eines seinem Wesen nach christlich geprägten Abendlandes gegen den Marxismus positionierte. Inwiefern Vicens’ vehemente Ablehnung der marxistischen Ansätze seinem ‚eigentlichen‘ Denken entsprach oder aber rein strategisch motiviert war, ist eine Frage, die auf Grundlage der vorhandenen Quellen nicht beantwortet werden kann. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass der katalanische Historiker in seiner Korrespondenz einen offenen Dialog mit marxistischen Historikern nicht scheute, wenn sich, wie im Falle Pierre Vilars oder seines Schülers

 Jaume Vicens: Toynbee en Barcelona, La Vanguardia Española, 20.10.1951, S. 5.  Vicens: Nuevos rumbos para la Historia, S. 497.

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3 Jaume Vicens betritt die Bühne

Josep Fontana, thematische Schnittstellen mit intellektueller Wertschätzung paarten.¹⁰⁰ Vicens nahm die Herausforderung des Marxismus an, indem er sich mit ihm auseinandersetzte. Auch seine öffentlich demonstrierte Abgrenzung gegenüber der historia del sucedido – als solche übersetzte der den Ausdruck histoire événementielle – entsprach nicht einer kompletten Aberkennung ihrer Nützlichkeit.¹⁰¹ Stets bemühte sich Vicens, eine deskriptive Politik-, Institutionen-, oder Ideengeschichte als notwendige Voraussetzung für eine neue Historiografie darzustellen. Die spanische Geschichtswissenschaft, so stellte er im Vorwort zu Aproximación fest, „kann auf diese Methode [sic] keinesfalls verzichten. Man braucht nur die großen Lücken in unserer Geschichte zu betrachten, um sich darüber bewusst zu werden, dass weiterhin das Opfer erbracht werden muss, sich einer Arbeitsweise anzunehmen, die zwar ausgedient hat, aber dennoch ein unverzichtbares Element ist.“¹⁰² Für Vicens’ Profilierung war diese Einteilung in eine „ausgediente“, aber dennoch „unverzichtbare“ und eine „neue“, „zukunftsweisende“ Geschichtswissenschaft deswegen geeignet, da sie eine Bewegung intellektuellen Fortschritts beinhaltete, an dessen Spitze er sich selbst und seine Schule positionieren konnte. Anknüpfend an seine Abgrenzungsstrategien gegenüber der deutschen Geopolitik kritisierte er nun auch in diesem Zusammenhang die „Invasion germanischer Vorgehensweisen“, die zu einer „kalten und fleischlosen Geschichte“¹⁰³ geführt habe. Die Bezeichnung „germanische Vorgehensweise“ reduzierte die Komplexität von politik-, ideen- und institutionenhistorischen Perspektiven und wies sie einer – anders als bei der Geopolitik – „unverzichtbaren“ Vergangenheit zu. Demgegenüber standen die Gegenwart und insbesondere die Zukunft der historischen Forschung für Vicens nun unter ‚französischem‘ Vorzeichen. In einem Brief vom April 1952 gab er seinem Doktoranden Román Gubern (geb. 1934), der sich für einen Forschungsaufenthalt an der Universität in Toulouse befand, den folgenden Rat: „Der zweite Sprung ist nach Deutschland, vergiss es nicht. Frankreich ist ‚éblouissante‘. Einverstanden. Aber die deutsche Methode ist die

 Besonders interessant ist seine Korrespondenz mit Josep Fontana, der später zu einem der wichtigsten marxistischen Historiker Spaniens aufsteigen sollte. Vicens ließ sich mit dem jungen Fontana auf intensive Debatten ein, in denen er zwar antimarxistische Positionen einnahm, allerdings den historischen Materialismus durchweg ernst nahm. Vicens’ Briefe an Josep Fontana und Pierre Vilar sind jeweils enthalten in Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 1, S. 97– 116 und Bd. 2, S. 521– 531.  Der Ausdruck „historia del sucedido“ in Vicens: Los estudios históricos españoles en 1952– 1954, S. VIII.  Vicens: Aproximación a la Historia de España, S. 9.  Ebd., S. 9 f.

3.4 Die ‚Annales‘ als Chiffre

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beste. Braudel, Morazé, Febvre und die anderen sind der Champagner, den man jedoch erst nach einer guten Portion deutscher Kartoffeln genießen darf.“¹⁰⁴ Die „deutsche Methode“, mit der die Vorkriegshistoriografie meist verbunden wurde, war für Vicens folglich weiterhin die intellektuelle Grundnahrung des Historikers.¹⁰⁵ Doch die Speerspitze einer international agierenden spanischen Forschung konnten die „deutschen Kartoffeln“ nicht darstellen. Dazu bedurfte es eines französischen „Champagner[s]“, zu dessen Genuss sich Vicens an der spanischen Historikertafel anschickte. Jaume Vicens entdeckte die ‚Annales‘ für sich als Chiffre, mit der er sein Erneuerungsprogramm sowohl hinsichtlich der Forschungsorganisation als auch seiner eklektischen Perspektiven bündeln konnte. Damit einher ging eine (Re-) Konstruktion seiner intellektuellen Biografie, aus der er die Jahre zwischen 1939 und 1948 gleichsam ausschrieb und die er in ihrer Periodisierung auf das gesamte spanische Historikerfeld übertrug. Insbesondere von Febvre übernahm der Historiker aus Barcelona ferner einen Denkstil, der die Gestalt einer Sprache expliziter und polemischer Abgrenzungen annahm, mit der er nicht nur die ‚veraltete‘ Politik-, Institutionen-, und Ideengeschichte, sondern auch die historisch-materialistischen Erklärungsansätze befehdete – all dies unter Verweis auf eine „abendländische Kultur“, in der er die spanische Geschichte und Geschichtswissenschaft einschrieb. Auf welche Weise Vicens sein Programm und seine Schule innerhalb des spanischen Wissenschaftsgefüges auf- und auszubauen vermochte, welche Allianzen und welche Konflikte er dafür mit seinem professionellen Umfeld und nicht zuletzt mit dem Consejo einging, wird Gegenstand des nächsten Unterkapitels sein.

 Brief von Jaume Vicens an Ramon Gubern vom 15.4.1952, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 138. Die kursiv gesetzten Wörter befinden sich im Original jeweils in französischer und deutscher Sprache.  Zum sogenannten „método alemán“ siehe Pasamar: La reflexión historiográfica, S. 13 – 48.

4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe Im Jahr 1958 veranlasste Vicens die Übersetzung der vom französischen Historiker Maurice Crouzet herausgegebenen Histoire générale des civilisations. ¹ Obwohl der Autor, Professor an der Sorbonne, selbst nicht zum Kreis der Annales-Historiker gehörte – dies räumte Vicens im Vorwort ein –, würde dieses Werk dennoch „dasjenige [darstellen], das sich zur Zeit am meisten dem neugierigen und eindringenden Stil jener Arbeitsgruppe nähert[e]“. Vicens hob rückblickend die „bereits legendären Schlachten der ‚Annales‘“ um die Durchsetzung des Letzteren hervor. Dem spanischen Leser würde dieser „Stil“ aber vertraut erscheinen, so Vicens, wenn er „die ununterbrochene und anregende Schlacht verfolgt hat, die […] die Arbeitsgruppe um das Zentrum für internationale Geschichtsforschung der Universität in Barcelona für die Verteidigung der neuen historischen Formeln sich geliefert hat. Dies taten wir von den Seiten der 1951 gegründeten Studien zur Neuzeit und von den Rezensionen im Spanischen Historischen Index aus, der zwei Jahre später erschien. Das sind die Meilensteine, die erst die spanische Realität mit derjenigen des Abendlandes in augenscheinliche und harmonische Übereinstimmung haben bringen können.“ ²

Auf diese Weise fasste Vicens zwei Jahre vor seinem frühen Tod die Errungenschaften einer „Arbeitsgruppe“ zusammen, die er knapp zehn Jahre zuvor begonnen hatte zu institutionalisieren. Seit seinem Lehrstuhlantritt in Zaragoza und insbesondere in Barcelona hatte der katalanische Historiker sein Vorhaben publik gemacht, die Forschung in Barcelona als eine der „tragenden Säulen“ der spanischen Geschichtswissenschaft zu etablieren. Dieses Vorhaben, eine Historische Schule von Barcelona zu gründen, hatte er in eine kulturhistorische Deutung der Gegenwart eingebettet, in der die Teilhabe Spaniens an der Kultur des ‚Abendlandes‘ auch wesentlich von seiner historischen und historiografischen (Wieder) Eingliederung abhängen würde. Der „maître incontest铳 der Schule aus Barcelona, wie ihn Pierre Vilar in den Seiten der Annales bezeichnen sollte, institutionalisierte seine Schule über drei Organe: Das im Jahr 1949 gegründete Centro de Estudios Históricos Internacionales (CEHI), die zwei Jahre später lancierte Zeitschrift Estudios de Historia Moderna (EHM) und schließlich der seit 1953 regel-

 Vgl. Maurice Crouzet (Hrsg.): Histoire générale des civilisations, 7 Bde., Paris 1953.  Jaume Vicens: Prólogo, in: Maurice Crouzet (Hrsg.): Historia General de las Civilizaciones, Barcelona 1958, 7 Bde., Bd. 1, S. 7– 15, hier S. 7, 8 und S. 12.  Pierre Vilar: Recherches d’histoire moderne à l’université de Barcelone, in: Annales ESC 9 (1954), S. 261– 264, hier S. 261. https://doi.org/10.1515/9783110532227-011

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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mäßig erscheinende Índice Histórico Español (IHE) – eine kommentierte Bibliografie mit Vollständigkeitsanspruch und insgesamt fast 200 Mitarbeitern. In Vicens‘ Parallelisierung seiner eigenen „Schlachten“ mit denjenigen, die für ihn Marc Bloch, Lucien Febvre oder Fernand Braudel in Frankreich geführt hatten, waren nicht nur Ausdruck eines auf Abgrenzung bedachten Denkstils. Tatsächlich sahen sich Vicens und seine Schüler bei der Gründung und der Etablierung dieser „Historischen Schule“ auch realen Hindernissen ausgesetzt, die sie in eine Konfliktsituation mit ihrem fachlichen und wissenschaftspolitischen Umfeld brachten. Wie in den folgenden Abschnitten gezeigt werden soll, führten die Fragen nach der Finanzierung, der Karriereplanung, der institutionellen Einbettung und nicht zuletzt nach der spezifischen Art und Weise, wie diese Schule ihre Ambitionen gegenüber der spanischen Fachdisziplin signalisierte, zu deutlichen fachinternen Spannungen und zum Bruch mit dem Consejo Superior de Investigaciones Científicas – Konflikte, die Vicens durch eine Rückstands- und Kampfrhetorik zunehmend publizistisch ausschlachten würde. Die Frage, ob diese wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Vorhaben tatsächlich „die spanische Realität mit derjenigen des Abendlandes in augenscheinliche und harmonische Übereinstimmung“ brachten, wird diese Untersuchung nicht beantworten. Entscheidend wird vielmehr sein, inwiefern Vicens’ Imagination der ‚Harmoniserung‘ mit dem ‚Abendland‘ in die Strukturen der franquistischen Wissenschaft integriert werden konnten.

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales: Barcelona als „Getriebe der spanischen Geschichtsforschung“ Vicens legte den Grundstein für den Aufbau seiner Schule im Jahr 1949 und somit unmittelbar nach seinem Lehrstuhlantritt in Barcelona. Wie in den vorigen Abschnitten gezeigt, arbeitete der katalanische Historiker noch vor seinem Besuch des 9. Internationalen Historikerkongresses und vor seiner Entdeckung der ‚Annales‘ an einem akademischen Profil, das Wissenschaftlichkeit und Internationalität eng miteinander verschränkte, und zwar unabhängig vom jeweiligen politisch-ideologischen Kontext. Diesem Profil entsprechend signierte Vicens im November 1949 das Gründungsstatut des neuen Centro de Estudios Históricos Internacionales, das als einziges historisches Institut in Spanien seine internationale Ausrichtung programmatisch im Namen trug. Das Statut legte in sechs Artikeln unter anderem die institutionelle Einbettung, die geplanten Tätigkeiten, die Finanzierungswege, die außeruniversitären Bindungen und die Leitung fest. Wie aus Artikel 1 hervorgeht, war es für den Gründer besonders wichtig zu be-

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4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe

tonen, dass das CEHI „im Schoß“ seines Lehrstuhls entstand. Durch Artikel 5 wurde die Leitung des neuen Instituts unmittelbar an den Lehrstuhlinhaber gebunden, was für die Absicherung von Vicens’ Verfügungs- und Entscheidungsmacht sorgen sollte. Dabei band das Statut durchaus auch weitere universitätsinterne und -externe Amtsträger wie den Rektor, den Fakultätsdekan und die Kulturreferenten der Regionalregierung sowie des Rathauses der Stadt Barcelona mit ein. Allerdings repräsentierten sie als Mitglieder eines „Ehrenbeirats“ lediglich die symbolische Einbettung des CEHI in die wichtigsten kultur- und bildungspolitischen Institutionen Kataloniens. Der Consejo als wichtigste Anlaufstelle für die Einwerbung finanzieller Ressourcen wurde zwar nicht namentlich genannt. Vicens würde aber durchaus danach streben, den CEHI in die institutionelle Ordnung des Consejo einzubetten, und zwar vor allem nach seiner Übernahme der Direktion des Jerónimo Zurita in Barcelona im Frühjahr 1950.⁴ Das Gründungsstatut nahm auch Bezug zur inhaltlichen Ausrichtung und zu den geplanten Tätigkeitsbereichen des CEHI. Der erste Programmpunkt sah die Aktualisierung des Wissenstands um die internationale Forschungsliteratur und um relevante Quellenbestände vor. Ferner war das Institut als Plattform gedacht, um die dort angesiedelten Forschungsarbeiten zu publizieren und „dieselben durch Kurse und Tagungen in Umlauf zu bringen.“⁵ Zudem wurde das Ziel festgehalten, den „Austausch mit vergleichbaren Zentren [zu fördern], die in anderen Ländern angesiedelt sind.“⁶ Auf thematischer Ebene legte das Statut drei Gegenstände grob fest – „Wirtschaft, Kultur und Diplomatie“ –, die zwar nicht weiter programmatisch ausgeführt wurden, sich aber dafür eigneten, Phänomene grenzübergreifender Verflechtungen zu erforschen. Die Geohistoria, der Vicens zu diesem Zeitpunkt besondere Aufmerksamkeit schenkte, floss nicht in das offizielle Profil des CEHI ein. Allerdings stellte dennoch Vicens’ Tratado general de Geopolítica die erste Publikation dar, die unter dem Namen des ‚internationalen Forschungszentrums‘ herausgegeben wurde. Die „Neuzeit“ wurde als Epochenschwerpunkt festgelegt, wobei sich diese historia moderna bis ins erste Drittel des 20. Jahrhundert erstreckte. Der Gründer schloss damit, zumindest auf programmatischer Ebene, das 19. und auch das 20. Jahrhundert in den Gegenstand historischer Forschung mit ein, was zu diesem Zeitpunkt und in diesem Ausmaß keine weitere geschichtswissenschaftliche Einrichtung tat. Vicens vermied es allerdings, die (Vor)Geschichte des Bürgerkriegs zum potentiellen Gegenstand historischer Forschung am CEHI zu machen. Das Statut vermittelte unweigerlich  Estatuto provisional del Centro de Estudios Históricos Internacionales, 20.10.1949, ACEHI, Fondo CEHI, 1(4),1, Universitat de Barcelona. Centre d’Estudis Històrics Internacionals.  Ebd.  Ebd.

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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die Absicht, den Forschungsbereich bis hin zur Gegenwartsgeschichte auszuweiten. Durch die Ausklammerung der konfliktträchtigsten Jahre der jüngsten Geschichte umging man jedoch, sich zu den brisantesten Ereignissen institutionell positionieren zu müssen. Vicens’ anfängliche Versuche, die Wichtigkeit eines solchen Instituts für die spanische Geschichtswissenschaft zu begründen, geben Aufschluss über den Ort, den er der Forschung in Barcelona im Kontext des spanischen Historikerfeldes geben wollte. Ende November 1949 und damit zeitgleich mit der formellen Gründung des CEHI wandte sich Vicens an Rafael Calvo Serer, damals unter anderem Sekretär des Patronato Saavedra Fajardo für internationale Studien des CSIC, mit der Bitte um finanzielle Unterstützung. Der Professor aus Barcelona gab darin seine Absicht bekannt, „unsere Stadt mit einem Forschungszentrum zu versehen, dank dessen die gegenwärtigen Mechanismen für das Wiederaufkommen der spanischen Neuzeitgeschichtsschreibung vervollständigt werden“⁷ sollten. Daraufhin präsentierte er seinen Entwurf einer territorialen Aufteilung der Forschung: „Madrid, Theorie und Synthesen, geistige Nachtarbeit, 18. und 19. Jahrhundert.Valladolid-Simancas: Spanisches Imperium (16.–17. Jahrhundert). Sevilla-Indias, Projektion nach Spanisch-Amerika. Barcelona, pyrenäische und mediterrane Beziehungen.“⁸ Vicens versuchte auch hier, wie schon zuvor, die spanische Forschung in mehrere Grundpfeiler aufzuteilen. Der katalanische „Grundpfeiler“ sollte sich gemäß seiner geografischen Lage auf die ‚europäische‘ Dimension der spanischen Geschichte konzentrieren. Madrid, im Artikel zur Schule von Sevilla gar nicht erwähnt, wies er hingegen eine vorwiegend spekulative und damit nicht empirische Funktion zu. Ähnlich wie bei seinen restlichen wissenschaftlichen Vorhaben verwendete Vicens die Wochenzeitschrift Destino, um für das neue Institut öffentlich zu werben. Barcelona müsse, so ein Artikel zum CEHI vom Januar 1950, „die Untersuchung der mediterranen Beziehungen und, aufgrund des wesentlichen Charakters dieser Stadt als offenes Fenster zu den geistigen Interessen Europas, auch konkret die Erforschung der diplomatischen Beziehungen zwischen Spanien und Europa vom 15. bis zum 20. Jahrhundert zustehen.“⁹ Das internationale Profil des CEHI, hier noch auf eine klassische Diplomatiegeschichte ausgerichtet, wurde durch seine kulturgeografische Zugehörigkeit zu Barcelona und damit durch seine Nähe zu ‚Europa‘ begründet.

 Brief von Jaume Vicens an Rafael Calvo Serer vom 27.11.1949, AGUN, Fondo Calvo Serer, 001/ 033/044, ebenfalls erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 129 f. hier S. 129.  Ebd, unterstreichungen im Original.  Jaume Vicens: El Centro de Estudios Históricos Internacionales, Destino, 14.1.1950, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, S. 452– 454, hier S. 453.

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Das CEHI entfaltete in den Folgejahren allerdings nur bedingt die Bandbreite an Tätigkeiten, für die Vicens es programmiert hatte, gleichwohl das Institut seine internationale Ausrichtung eindeutig beibehielt. Faktisch sollte es zu einem institutionellen Überbau werden, der mit der Person Jaume Vicens stets verbunden blieb und eher auf repräsentativer denn auf funktioneller Ebene den Lehrstuhl und die Sektion des Zurita in Barcelona miteinander verband. Aufgrund der knappen Ressourcen, die dem CEHI zur Verfügung standen, besaß er zu keinem Zeitpunkt eigens eingestellte Mitarbeiter. Die ‚Schüler‘, die Vicens in den folgenden Jahren um sich scharte, bezogen ihr Einkommen von der Universität oder dem Consejo und konnten daher nur symbolisch an das Institut gebunden werden.¹⁰ Nichtsdestotrotz steckte die erste Vortragsreihe, die gleichsam als Auftakt im Frühjahr 1950 stattfand, die hohen Ziele des CEHI ab. Unter dem Titel La formación de la Europa actual lud Vicens Historiker, Ökonomen und Kulturphilosophen ein, die zu Themen der Neuesten Geschichte Frankreichs, Englands und Russlands sowie zum Völkerbund und zur Theorie ökonomischer Zyklen sprachen. Zwar konnte er für diese Reihe nur spanische Referenten gewinnen, doch fügte er dem Programm weitere „außerordentliche Vorträge“ bei, die der französische Historiker Philippe Wolff und der Rumäne Constantin Marinescu (1891– 1982) halten würden. Der prominenteste spanische Gast war Rafael Calvo Serer als Vertreter jener 48er-Generation, der Vicens parallel zum Aufbau des CEHI auf publizistischer Ebene das Rückgrat stärkte.¹¹ Einen international renommierten Forscher konnte der Organisator jedoch nicht anwerben. Gleichwohl er auf Eigeninitiative den Kontakt mit Braudel aufnahm, um ihn unbekannterweise zu seinem „großartigen Beitrag zur Erforschung der Herrschaft Philipps II.“¹² zu beglückwünschen, schlug dieser die Einladung, an der Vortragsreihe des CEHI teilzunehmen, mit Verweis auf zeitliche Engpässe aus.¹³ Ein Auftakt für den CEHI, der den national-katholischen Intellektuellen Calvo Serer und dem wenige Jahre zuvor noch unter deutscher Gefangenschaft stehenden Fernand Braudel in ein

 Siehe dazu beispielsweise die Gehaltsabrechnungen für die Jahre 1953 und 1955 in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/8739 und Caja 31/8845.  Die Broschüre mit der Vortragsreihe in ACEHI, Fondo CEHI, 1(3), 3, 1 Etapa Jaume Vicens.  Brief von Jaume Vicens an Fernand Braudel vom 13.11.1949, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 92.  Wie Vicens Briefwechsel mit Braudel zeigt, sollte der spätere Leiter der VI. Sektion der EPHE keine der sich wiederholenden Einladungen annehmen. In einem Brief vom August 1952 an Felipe Ruiz deutete Vicens Braudels distanzierte Haltung wie folgt: „In seiner Nähe genieße ich ein großes Vertrauen; ich habe es auf direktem und, was noch besser ist, auf indirektem Wege erfahren. Doch er scheint der Korrespondenz abgeneigt zu sein. Er schreibt wenig und stets mit einer gewissen Abneigung gegenüber allem Spanischen.“ Brief von Jaume Vicens an Felipe Ruiz Martín vom 24. 8.1952, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 405.

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und derselben Vortragsreihe zu vereinen vermochte, gelang dem Institutsleiter somit nicht, gleichwohl er Braudel versichert hatte, dass ein etwaiger Besuch einen „streng wissenschaftlichen Charakter haben würde […].“¹⁴ Weitaus erfolgreicher war er bis Mitte der 1950er Jahre aber bei der Einladung anderer namhafter Historiker wie Arnold J. Toynbee, Jacques Godechot (1907– 1989), dem Risorgimento-Historiker Alberto Maria Ghisalberti (1894– 1986) oder auch Charles Morazé (1913 – 2003), dessen Perspektiven Vicens nicht nur dem Fachpublikum zugänglich gemacht hatte.¹⁵ An erster Stelle diente der CEHI aber als Plattform für Publikationen und für die Orientierung wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktoranden auf internationaler Ebene. Zwar beschränkte sich die Liste der Monografien und Gemeinschaftswerke, die unter dem Institutsnamen erschienen, weitgehend auf die Veröffentlichungen seines Direktors. Neben dem Tratado General de Geopolítica gab das Institut Vicens’ Aproximación a la Historia de España (1952 und 1960) sowie die fünfbändige, von ihm edierte Historia Social y Económica de España y América (1957 ff.) heraus.¹⁶ Die zwei wichtigsten Publikationen jedoch, die der CEHI beherbergte und die bald die gesamten humanen und finanziellen Ressourcen in Anspruch nehmen sollten, waren EHM und allem voran der IHE. Wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird, fungierten sie nicht nur als Sprachrohr der Forschergruppe um Vicens. Sie prägten vielmehr am stärksten das Profil des CEHI und trugen zur inneren Kohäsion und zur Etablierung nationaler und internationaler Netzwerke bei. Das Institut bot darüber hinaus eine Plattform für einen weiteren und durchaus erfolgreichen Beitrag zur Grenzüberschreitung. Vicens kündigte in einem Brief an Braudel an, durch das Institut den „Anschluss der spanischen Geschichtswissenschaft an diejenige der anderen Länder und insbesondere Frankreichs“ erreichen zu wollen.¹⁷ Nach 1950/51 geschah dies insbesondere durch die entschlossene Ausrichtung der Forschungsvorhaben auf die Gegenstände und Perspektiven der ‚Annales‘. Eine erste Gelegenheit dazu bot der Austausch, der bereits im Jahr 1949 zwischen den Universitäten Toulouse und Barcelona eingerichtet worden war. Wie der spanische Konsul in Toulouse im Jahr 1951 dem Au-

 Brief von Jaume Vicens an Fernand Braudel vom 13.11.1949, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 92, kursiv im Original.  Siehe dazu den Tätigkeitsbericht für die Jahre 1949 – 1954 im Informe sobre el Centro de Estudios Históricos Internacionales de Barcelona, 1955, ACEHI, Fondo CEHI, 1(4), 1, 5.  Einen besonderen Hinweis verdient allerdings die Monografie des katalanischen Jesuiten Casimiro Martí: Orígenes del anarquismo en Barcelona, Barcelona 1959.  Brief von Jaume Vicens an Fernand Braudel vom 13. 3.1950, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 93.

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ßenministerium mitteilte, hatte die französische Universität „beschlossen und fast erreicht, die politischen Fragen aus ihrem Schoß zu beseitigen“, und einen Austausch mit der Universität Barcelona angeregt.¹⁸ Für Vicens als Lehrstuhlinhaber, Leiter des Zurita in Barcelona und Direktor des CEHI bedeutete dies, seine Kontakte zum französischen Mediävisten Philippe Wolff (1913 – 2001) durch ein staatlich sanktioniertes und vom Consejo getragenes Programm institutionalisieren zu können.¹⁹ Der katalanische Historiker nutzte daraufhin diesen Austausch, um die Untersuchungen der französischen Gäste, meist Doktoranden, auf die Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Kataloniens zu lenken und einigen seiner Mitarbeiter einen ersten Auslandsaufenthalt zu ermöglichen.²⁰ Dieser Netzwerkaufbau ging auch mit der Ausrichtung der Forschungsvorhaben einher, die unter dem Deckmantel des CEHI liefen. Der Versuch, die dortigen Schwerpunkte mit denjenigen der VI. Sektion der EPHE zu verbinden, zeigte sich vor allem in den Untersuchungsgegenständen, die Vicens seinen Schülern im Rahmen ihrer Abschluss- oder Doktorarbeiten vorgab. Braudel hatte in den Jahren 1951/52 die Reihen Ports, Routes, Trafics und Monnaie, Prix, Conjoncture ins Leben gerufen.²¹ Gerade an ihnen orientierten sich die von Vicens vorgesehenen Arbeitsbereiche: „Wir verlieren nicht die Zuversicht, die nötigen Quellen für die Erforschung der Konjunktur in Barcelona entlang des 16. Jahrhunderts zu finden – sei es bezüglich des Hafentransits oder seien es Listen zu den Preisentwicklungen. Zwei meiner Schüler [gemeint waren die Doktoranden Emili Giralt und Jordi Nadal], die im Übrigen gerade an einem neuen und sehr interessanten Thema forschen – die französische Emigration nach Katalonien zwischen 1550 und 1630 –, widmen sich soeben der systematischen Sondierung der Archivbestände.“²²

 Brief des Konsuls in Toulouse an den Außenminister vom 11.4.1951, AMAE, Fondo Culturales, R 3540, Exp. 71.  Zur Finanzierung des Austauschprogramms durch den Consejo ab dem Jahr 1951 siehe das Sitzungsprotokoll des obersten Entscheidungsgremiums, des Consejo Ejecutivo, vom 6.6.1951. Diese Protokolle werden in den Gängen des Hauptgebäudes des CSIC gelagert.  Dies zeigt sich beispielsweise bei M. Merle, Student der Universität Toulouse, dem Vicens nach Absprache mit Wolff drei mögliche Themenkomplexe für seinen Forschungsaufenthalt vorlegte: Barcelona und die sardischen Häfen, der Abbau von Edelmetallen und die Probleme der Weizenversorgung im katalanischen 15. Jahrhundert. Dies gilt auch für Claude Carrère, dessen Forschungen zum Hafentransit in Barcelona im 15. Jahrhundert sogar im 3. Band der EHM erschienen. Siehe dazu Vicens’ Briefe an Philippe Wolff vom 15.1. und 15. 2.1953, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 547– 549.  Vgl. Burke: Geschichte der Annales, S. 56.  Brief von Jaume Vicens an Fernand Braudel vom 10.11.1952, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 99.

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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Diese Mitteilung an Braudel im November 1952 war in gewisser Weise der Beginn einer längeren Vermittlung dieser zwei Schüler an die Historiker aus Paris. Ausgehend von einer Forschungsreise nach Toulouse konnte Vicens sie erst mit Braudel – beide hatten sich kurz zuvor im Rahmen eines Paris-Aufenthalts des spanischen Historikers persönlich kennen gelernt –, dann auch mit Pierre Vilar in Verbindung setzen.²³ Román Gubern (geb. 1926) und Josep Fontana (geb. 1931), ebenfalls Doktoranden von Vicens, erhielten von ihrem Mentor eine ähnliche Unterstützung. Auch hier bestand diese sowohl in der Vorgabe, bzw. Nahelegung ‚annalistischer‘ Forschungsgegenstände und Herangehensweisen als auch im Versuch, sie in die Netzwerke der ‚Annales‘-Historiker zu bringen. Für sein „Pariser Projekt“ – gemeint war ein gewünschter Studienaufenthalt in der französischen Hauptstadt im Jahr 1952 – erhielt Gubern von Vicens den Ratschlag, sich zunächst an Philippe Wolff zu wenden, da sich der junge Student zum Austausch gerade in Toulouse befand, um von dort aus die Nähe zu Braudel und Morazé zu suchen.²⁴ Dem 25jährigen Josep Fontana riet Vicens vier Jahre später, sich in einem geplanten Aufsatz an bestimmte Vorgaben zu halten: „Die Reihenfolge der Angaben im zweiten Kapitel ist nicht orthodox: Wirtschaft, Währung, Geografie, Technik, Mensch. Sie sollte Geografie, Wirtschaft und Währung, dann Technik und Mensch oder aber Mensch und Technik, je nach Material, lauten.“ Die „Orthodoxie“, die Vicens als Doktorvater gegenüber Fontana einforderte, entsprach dem Aufbau von Braudels Méditerranée: Geografisches Medium, Prozesse langer Dauer und schließlich die ‚Oberfläche‘ menschlicher, auch technischer Errungenschaften. Der Direktor des CEHI legte Fontana sogar nahe, „eine Einführung im Stil des Mittelmeers“²⁵ zu verfassen, und vermittelte ihn wenig später direkt an Fernand Braudel und Pierre Vilar, um die Möglichkeiten eines Aufenthalts in Paris auszuloten.²⁶ Die Ausrichtung der im CEHI angesiedelten Forschungsvorhaben auf die Schwerpunkte, die insbesondere Braudel für die VI. Sektion der EPHE festlegte, trug durchaus Früchte. Jordi Nadal und Emili Giralt erreichten beispielsweise, dass ihre Forschungen zur katalanischen Migrationsgeschichte schließlich in der

 Siehe dazu Vicens’ Briefe sowohl an Nadal und Giralt als auch an Braudel und Vilar in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 1, S. 104, S. 282 f. und S. 522.  Brief von Jaume Vicens an Ramon Gubern vom 2. 3.1952, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 136.  Brief von Jaume Vicens an Josep Fontana vom 6.6.1956, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 1, S. 100, kursiv im Original.  Der Aufsatz erschien schließlich unter dem Titel Josep Fontana: Sobre el comercio exterior de Barcelona en la segunda mitad del siglo XVII, in: EHM 5 (1955) [1957], S. 199 – 219.

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4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe

Reihe Démographie et sociétés publiziert wurden.²⁷ Braudel selbst verfasste das Vorwort, in dem er kurz nach Vicens Tod die Leistungen der „École de Barcelone“ hervorhob und „notre gratitude […] à leur maître“²⁸ aussprach. Vicens’ Vorhaben, das CEHI zu einer Art privilegierter Anlaufstelle für die Kontakte zu Spanien zu machen, sollte Braudel jedoch nicht unterstützen. Zwar hatte der katalanische Historiker im Jahr 1950 in einem an Braudel gerichteten Brief seine Absicht bekundet, „den Anschluss der spanischen Geschichtswissenschaft an diejenige der anderen Länder und insbesondere Frankreichs zu erreichen.“²⁹ Braudel und auch die Zeitschrift Annales ESC schenkten der Escola de Barcelona ebenso wie der restlichen spanischen Geschichtswissenschaft aber nur wenig Aufmerksamkeit.³⁰ Jaume Vicens erhielt auch im folgenden Jahrzehnt nicht den ersehnten Rückenwind, gleichwohl er den esprit des Annales dazu nutzen sollte, um im Windschatten seines symbolischen Kapitals zu segeln.³¹ Die wohl wichtigste Funktion, die das CEHI erfüllte, lag darin, dass es als Institution Vicens’ Schule sowohl nach außen als auch nach innen symbolisierte. Unabhängig davon, inwiefern das „internationale Forschungszentrum“ seine konkreten Ziele erreichen konnte, versuchte Vicens, daran einen bestimmten

 Vgl. Jordi Nadal/Emili Giralt: La population catalane de 1533 à 1717, Paris 1960 (Démographie et sociétés 4).  Fernand Braudel: Avant-propos, in: Ebd., S. VII.  Brief von Jaume Vicens an Fernand Braudel vom 13. 3.1950, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 93.  Diese richtete sich meist auf vereinzelte Historiker, die bemerkenswert wenig Gewicht innerhalb des spanischen akademischen Machtfelds besaßen. So beispielsweise Felipe Ruíz Martín oder Álvaro del Castillo, die beide längere Zeit an der VI. Sektion verbrachten. Ferner verfolgten die ‚Annales’ die Arbeiten des spanischen Ethnologen und Anthropologen Julio Caro Baroja, der zwar keinen geringen Bekanntheitsgrad genoss, aber dennoch eine Randfigur im spanischen Historikerfeld darstellte. Vicens selbst wurde nicht Teil des „Monde Braudelien“, vgl. Hexter, Jack. H.: Fernand Braudel and the Monde Braudelien, in: JmodH 44 (1972), S. 480 – 539.  Vicens’ Anlehnung an die ‚Annales’-Historiografie für die ‚Erneuerung’ der katalanischen, dann der spanischen Geschichte steht in einem starken Kontrast zur geringen Rezeption, die Vicens und seine Schule in den Annales ESC erfuhr. Im Rahmen eines Berichts zur wirtschaftsgeschichtlichen Quellengrundlage für seine Untersuchungen über die Geschichte Kataloniens bemerkte Pierre Vilar im Jahre 1950 Vicens’ Studien. Für Vilar waren diese brauchbar, „malgré leur orientation vers l’histoire politique“. (Pierre Vilar: Les archives économiques de Barcelone, in: Annales ESC 5 (1950), S. 213 – 222, hier S. 213.) Sieht man von Vilars bereits zitiertem Bericht von 1954 ab, so fehlt auch für die Zeit nach Vicens’ Umorientierung jegliche Rezension zu einem Werk oder Artikel des katalanischen Historikers oder eines seiner Schüler. Erst Vicens’ Tod gab der Redaktion der französischen Zeitschrift einen Anlass, Philippe Wolff mit der Aufgabe zu betrauen, den soeben verstorbenen „ami“ – allerdings als einzigen spanischen Historiker – in ihren Totenkult aufzunehmen. Vgl. Philippe Wolff: James Vicens y Vives (1910 – 1960), in: Annales ESC 16 (1961). S. 835 f. hier S. 836.

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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Denkstil festzumachen. Der CEHI sollte als institutioneller Überbau für eine „Gruppe“ dienen, deren Identität, wie in diesem Abschnitt gezeigt wird, in erster Linie die wissenschaftliche „Erneuerung“ und Internationalisierung mit der Zugehörigkeit zu Katalonien verband. Die regionale Verankerung der angehenden Historiker, die sich um Vicens in Barcelona versammelten, war zunächst durch ihre Herkunft gegeben und zeigte sich ferner an ihren Forschungsgegenständen. Sämtliche Mitglieder wurden aus der Universität Barcelona rekrutiert und waren in einem katalanischsprachigen Umfeld sozialisiert worden. Beispielsweise stammten die ersten und damit älteren Mitarbeiter Joan Reglà (1917– 1973) und Joan Mercader (1917– 1989) aus konservativ-katalanistischen Familien.³² Beide richteten ihre Recherchen in den 1940er Jahren auf die katalanische Diplomatiegeschichte, bevor sich insbesondre Reglà ab den 1950er Jahren und unter dem Einfluss von Vicens der Sozialgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts widmete. Auch die jüngeren Jordi Nadal, Emili Giralt und Josep Fontana stammten aus Familien des katalanischen Bürgertums. Sie hatten im Barcelona der 1940er und 1950er Jahren studiert und schließlich unter Vicens mit ihren Promotionen zur katalanischen Migrationsgeschichte (Nadal, Giralt) und Wirtschaftsgeschichte (Fontana) begonnen. Vicens richtete insbesondere den Bildungsweg dieser zweiten Riege auf die internationale Ebene. So nutzten Giralt und Nadal das genannte Austauschprogramm im Jahr 1953. Letzterer würde sogar bald einen kurzen Aufenthalt an der VI. Sektion der EPHE im Curriculum vorweisen können. Beide verbrachten ferner ein Jahr als Lektoren an den Universitäten in Durham (Giralt, 1954– 1955) und Liverpool (Nadal, 1958 – 1959). An dieser letzten Universität war schließlich auch Josep Fontana für das akademische Jahr 1956 – 57 beschäftigt, wo er in Kontakt mit den Arbeiten von Eric Hobsbawm und mit der Zeitschrift Past & Present kam.³³ In Bezug auf die gruppeninterne Kommunikation und Kohäsion muss an dieser Stelle die Bedeutung der katalanischen Sprache hervorgehoben werden. War Katalanisch seit dem Ende des Bürgerkriegs weitgehend aus dem öffentlichen Raum und vor allem aus der Amtskorrespondenz verbannt worden, so markierte ihre Verwendung im privaten Briefverkehr eine grundlegende Differenz zwischen

 Vgl. die Einträge zu Mercader und Reglà in Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 408 – 409 und S. 518 f..  Biografische Skizzen zu Fontana, Giralt und Nadal bieten Borja de Riquer: Jordi Nadal i Josep Fontana, dos grans historiadors catalans. Via, valors, idees, actituds, in: Revista del Centre d’Estudis Jordi Pujol 20 (2012), S. 147– 151; Rafael Aracil/Antoni Segura: Emili Giralt i Raventós, in: Afers. Fulls de recerca i pensament 23 (2008) S. 525 – 531; Josep M. Muñoz: Jordi Nadal, a l’entorn d’un mestratge, in: L’ Avenç. Revista de història i cultura 241 (1999), S. 20 f.

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4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe

einem katalanisch- und einem spanischsprachigen Kommunikationsraum.³⁴ Während Vicens und sein Mitarbeiterkreis in den Briefen, aus denen hier zitiert wird, sich untereinander stets auf Katalanisch schrieben, führten sie die Geschäftskorrespondenz mit staatlichen oder staatsnahen Institutionen auf Spanisch. Dies muss hier gesondert angemerkt werden, da dieser Unterschied in den Kommunikationssprachen durch die hiesigen Übersetzungen ins Deutsche gezwungenermaßen unkenntlich gemacht werden muss. Für die innere Kohäsion der „grup“ um Vicens war sie deswegen wichtig, da die katalanisch-regionale bzw. auch -nationale Identität zu einem wesentlichen Teil auf der gemeinsamen Sprache aufbaute.³⁵ Ein Gefühl kultureller Zugehörigkeit durch die Verwendung des català als Kommunikationssprache war etwas, das alle Mitglieder dieser Escola de Barcelona auf die eine oder auf die andere Weise teilten. Vicens selbst setzte sich im Laufe der 1950er Jahre wiederholt für die Zulassung periodischer Publikationen in katalanischer Sprache ein, allerdings mit mäßigem Erfolg.³⁶ Die Tatsache, dass das Katalanische erst im Laufe der 1950er Jahre allmählich und stets innerhalb bestimmter Grenzen von der privaten in die öffentliche Sphäre gelangte, war auch für die innere Kohäsion der Gruppe um Vicens von Bedeutung: Das Katalanische verblieb als Medium gruppeninterner Kommunikation und unterstrich die Differenz zwischen der Escola und ihrem spanischsprachigen Umfeld. Jenseits der gemeinsamen Sprache war es signifikant, dass Vicens und seine Mitarbeiter im Umfeld des CEHI sich selbst als „Schule“ oder „Gruppe“ bezeichneten. Diese Selbstzuschreibung war in der Korrespondenz zwischen ihren Mitgliedern durchgehend präsent. Am sichtbarsten wurde sie, als Joan Mercader

 Zur Zensur katalanischsprachiger Publikationen siehe Antonio C. Moreno: La censura franquista y el libro catalán y vasco‚ 1936 – 1975. La nueva España (imperio del libro españolísimo), in: Eduardo Ruiz (Hrsg.): Tiempo de censura. La represión editorial durante el franquismo, Gijón 2008, S. 143 – 172.  Die Literatur zum katalanischen Nationalismus bzw. Regionalismus ist bis heute weitgehend von mehr oder weniger expliziten Parteinahmen geprägt. Vgl. dazu u. a. die kritischen Analysen von Enric Ucelay da Cal: History, Historiography, and the Ambiguities of Catalan Nationalism, in: Studies on National Movements 1 (2013), S. 105 – 159; Xosé M. Núñez Seixas: Überlegungen zum Problem der territorialen Identitäten. Provinz, Region und Nation im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 115 – 136; ders.: Los nacionalismos en la España contemporánea (siglos XIX y XX), Barcelona 1999.  Brief von Jaume Vicens an Florentino Pérez Embid vom 5. 8.1952, AGUN, Fondo Pérez Embid, 003/004/356. Die Sprachpolitik des Franco-Regimes reagierte auf solche Vorstöße nicht oder erst spät. So erschien die erste katalanische Monatszeitschrift, die Vicens bereits im Jahr 1952 eingefordert hatte, erst im Jahr 1959. Dabei handelte es sich um die christlich-konservative Zeitschrift Serra d’Or. Vicens sollte im Übrigen zu den prominenten Autoren der ersten Stunde zählen.

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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im Jahr 1954 aus gesundheitlichen Gründen nach Madrid zog und dafür eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Madrider Sektion des Jerónimo Zurita antrat. So antwortete Mercader auf die Glückwünsche des jungen Emili Giralt für die neue Stelle mit Verweis auf die Funktion, die er zu erfüllen gedachte. Er sei dort „weniger zum Forschen als vielmehr um dazu beizutragen, die administrativen und staatlichen Grundlagen zu etablieren, die es uns erlauben werden, alle von uns geplanten Vorhaben zu verwirklichen.“³⁷ Mercader fungierte von dem Zeitpunkt seiner Versetzung an als „ein Beobachter, ein Berater“, wie er Monate später erneut an Giralt schrieb: „Ich möchte, dass Sie sich bewusst werden, dass ich nach Madrid gekommen bin, um für das Wohl der Gruppe zu arbeiten, und zwar in dem Sinne, wie ich sie verstehe; als eine Willensgemeinschaft für die Erreichung eines historiografischen Unternehmens, dem wir alle unser Leben widmen können.“³⁸ Mercaders räumliche Nähe zu Cayetano Alcázar sowie Antonio de la Torre und damit zur Direktion des Zurita wurde, auch von Vicens, als Möglichkeit gedeutet, einen Repräsentanten aus Barcelona im akademischen Machtzentrum zu platzieren. Bezeichnend war dabei, dass die Präsenz von Mercader in Madrid als katalanische Niederlassung interpretiert wurde, und zwar in einem Umfeld das allem Katalanischen mit Skepsis zu begegnen schien.Wenige Monate nach seiner Ankunft in der Hauptstadt habe Mercader sich bei Antonio Rumeu, Vizedirektor im Zurita, über die dortige Wertschätzung der Gruppe erkundigt: „[D]as Panorama, das er hinsichtlich der Art und Weise zeichnete, wie die Leute aus Madrid sind und denken (in der Universität oder im Consejo, oder in der Zentralverwaltung), […] setzt uns ins Bild über die Rolle, die wir eigentlich spielen, über die Faktoren, die unser Gemeinschaftswerk bisher verhindert haben und die es insbesondere den Katalanen schwer machen, an Professuren oder andere gesicherte Stellen zu gelangen; über das Missverhältnis zwischen dem, was wir sind und was wir wert sind, und dem, was wir ernten.“³⁹

Der Anspruch der Gruppe, eine bedeutendere Rolle innerhalb des spanischen Historikerfelds einnehmen zu dürfen, wurde entlang einer Achse KatalonienMadrid formuliert. Das Sprechen in Kategorien von sie/Madrid und wir/Katalonien gehörte zu den Grundmerkmalen der gruppeninternen Kommunikation. Die Frage, ob sich diese Differenz in ein Spannungsverhältnis verwandeln würde, sollte im Wesentlichen von der Art und Weise abhängen, wie Vicens seinem professionellen Umfeld gegenübertrat und wie dieses Umfeld darauf rea-

 Brief von Joan Mercader an Emili Giralt vom 29.4.1954, PNEG, Korrespondenz Mercader.  Brief von Joan Mercader an Emili Giralt vom 22.12.1954, PNEG, Korrespondenz Mercader.  Brief von Joan Mercader an Emili Giralt vom 9.11.1954, PNEG, Korrespondenz Mercader.

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4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe

gierte. Die vorherigen Abschnitte haben gezeigt, dass Vicens von Beginn an ein Profil pflegte, mit dem er seine Ambitionen gegenüber seinen Kollegen signalisierte. Die Adaption des esprit des Annales, so wie Vicens ihn verstand, diente sowohl zur Einforderung neuer Herangehensweisen an die Geschichte als auch dazu, zwischen alter und neuer, rückständiger und fortschrittlicher und nicht zuletzt zwischen ‚südländischer‘ und ‚europäischer‘ Geschichtswissenschaft zu unterscheiden. Hinsichtlich des CEHI und der Forschergruppe um Vicens mündete dies in einem Sprachhabitus, der die spanische (Geschichts)Wissenschaft nicht als einen organischen, sondern vielmehr als einen kompetitiven Zusammenhang konzipierte und der die Kohäsion zunächst auf der Gruppenebene betonte. Dies erklärt, weshalb Vicens mit Vorliebe von „Schlachten“, „Triumphen“ oder „Kampf“ sprach, um seinen Einsatz für die katalanische und spanische Geschichtswissenschaft zu beschreiben. Seinen Briefkopf versah er mit einem Abbild des Phönix, das vom lateinischen Spruch Super Adversa Augeri umrandet war. Der katalanische Historiker verwendete insbesondere für seine Schule eine Rhetorik, in der er das „Schiff“ des CEHI im „Gegenwind“ durch die Fluten der spanischen (Geschichts)Wissenschaft steuerte. Gegenüber der Öffentlichkeit tat er dies beispielsweise im Artikel Sobre Barcelona y su cultura vom September 1952, in dem er das CEHI als Äußerung einer katalanischen Kultur präsentierte, die noch nicht die ihr gebührende Anerkennung erfahren hatte: „Doch wir segeln […]. Obwohl kein Zweifel darin besteht, dass jemand die Fahne des universellen Ruhms auf dem höchsten Mast unseres Schiffs hissen wird.“⁴⁰ Dieses „Schiff“ konnte zwei Jahre später − „[w]ährend wir das Kap umfahren“, so der Titel des entsprechenden Vorworts − die Publikation des vierten Hefts der Zeitschrift Estudios de Historia Moderna feiern.⁴¹ Aus der Perspektive des Gründers des CEHI benötigte es dafür offensichtlich eines entschlossenen Kapitäns, wie er im selben Jahr 1954 an seinen Kollegen Philippe Wolff schrieb: „Das wissenschaftliche Gefecht, das ich gerade in Spanien austrage, ist so mühselig, dass ich zu keiner Zeit das Schiffssteuer loslassen kann.“⁴² Auch wenige Tage vor seinem Tod griff Vicens gegenüber Emili Giralt auf diese Metaphorik zurück, um auf seine Laufbahn zurückzublicken, in der er „stets gegen den Strom“ habe fahren müssen.⁴³ Diese

 Jaume Vicens: Sobre Barcelona y su cultura, Destino, 27. 3.1952, erschienen in: Vicens: Obra dispersa Bd. 1, S. 452– 454, hier S. 453.  Jaume Vicens: Al doblar el cabo, in: EHM 4 (1954), S. V–VIII.  Brief von Jaume Vicens an Philippe Wolff vom 21.10.1954, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 561 f., hier S. 562.  Brief von Jaume Vicens an Emili Giralt vom 13.6.1960, PNEG, Korrespondenz Vicens. Diese Rhetorik hat sich auch in der neueren Literatur zu Vicens niedergeschlagen. So ist der Ausdruck „amb el corrent de proa“ – wörtlich „mit dem Strom gegen den Bug“ – für die Monografie von

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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Rhetorik besaß sogar eine eigene bildliche Entsprechung, und zwar in Form einer Galeere, die von Beginn an das Symbol des CEHI darstellte.

Abb. 4: Symbol des Centro de Estudios Históricos Internacionales

Vicens’ Ambitionen und seine Form der relationalen Verortung innerhalb des spanischen Historikerfelds bargen ein Konfliktpotential in sich, das sich dann entfalten sollte, als das CEHI und die an ihn gekoppelten Vorhaben durch drei entscheidende Hindernisse abgebremst wurden: Erstens die institutionelle Anerkennung und Einpassung des CEHI in die Strukturen der spanischen Wissenschaft, zweitens, die Karrierechancen seiner Schüler, die sich während der 1950er Jahren für unterschiedliche Stellen bewarben, und schließlich, drittens, die Finanzierung des CEHI und seiner zwei wichtigsten Publikationen, die EHM und der IHE. Das erste Konfliktfeld ergab sich aus Vicens’ Versuch, den CEHI nicht in das geisteswissenschaftliche Patronato Menéndez Pelayo, sondern in das von Calvo Serer geleitete Saavedra Fajardo für internationale Studien unterzubringen.Wie in Kapitel I.3.3. gezeigt worden ist, hatte der national-katholische Intellektuelle und Sekretär des Saavedra Fajardo eine Offensive gestartet, um den spanischen Geisteswissenschaften zu einer größeren internationalen Ausstrahlung zu verhelfen. Im Einklang mit dem grenzübergreifenden Profil des CEHI versuchte Vicens, diesen Vorstoß zu nutzen. Im Spätherbst und erneut im Frühjahr 1950 schlug er seinem Kollegen vor, das neue Institut in den Saavedra Fajardo mit aufzunehmen. Dafür setzte er sich auch direkt mit José M. Otero, Direktor des

Glòria Soler/Cristina Gatell: Amb el corrent de proa. Les vides polítiques de Jaume Vicens Vives, Barcelona 2012, übernommen worden.

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4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe

Saavadra Fajardo, in Verbindung.⁴⁴ Calvo Serer ging auf Vicens’ Gesuch nicht ein, da er sich nach eigenen Aussagen selbst in „administrativen Kämpfen“⁴⁵ mit der Direktion des Consejo befand. Eine Antwort erhielt Vicens’ hingegen von José M. Albareda, der „die Aufnahme dieses Zentrums in den Consejo mit dem größten Wohlgefallen“ begrüßte. Allerdings informierte er den Gründer des CEHI darüber, dass er das provisorische Statut nicht an das Patronato Saavedra Fajardo, sondern an das Menéndez Pelayo weiterleiten würde.⁴⁶ Wenige Monate später präzisierte Albareda diese Zuweisung, indem er Vicens erklärte, er würde „die Aufteilung der Geschichte in eine, die innerhalb und eine andere, die außerhalb des Menéndez Pelayo sein muss, nicht verstehen“⁴⁷ – eine Antwort, die mit der institutionellen Ordnung des Consejo kongruent war. Vicens wehrte sich vehement gegen die formelle Eingliederung in das Patronato Menéndez Pelayo, da damit die Zukunftsfähigkeit des Instituts von der Förderung durch seine Fachkollegen abhängen und das internationale Profil des CEHI, anders als unter dem Saavedra Fajardo, nicht gestärkt werden würde. Signifikant ist dabei, dass Vicens gegenüber Albareda seine Ansprüche durch den Rekurs auf die Wissenschaftsdiskurse des Consejo legitimierte. So forderte Vicens Albareda auf, sein Institut zu unterstützen, indem er explizit an die Sprache der „Eigeninitiative“ erinnerte: „[…] es ist an der Zeit sich zu fragen, ob der Oberste Forschungsrat im Einklang mit seinem Gründungsgesetz, welches ihm vorschreibt, allen universitären Initiativen rein wissenschaftlichen Charakters die Hand auszustrecken, tatsächlich ihm [dem CEHI] die moralische und ökonomische Unterstützung geben wird.“⁴⁸ In seinem oben zitierten Artikel zur spanischen Geschichtswissenschaft in der Zeitschrift Saeculum (1952) hatte Vicens die Forderung nach Dezentralisierung als Zuversicht in die „koordinierende“ Funktion des CSIC ausgedrückt. Vicens zitierte dort das Gründungsgesetz von 1939, wonach die „Aufgabe des Consejo ausschließlich koordinierend und anregend“ zu sein hatte.⁴⁹ Auch in der Korrespondenz mit Albareda griff der katalanische Historiker auf die Dezentralisierungsdiskurse zurück, die jener auf die Devise, der CSIC sei  Vgl. die Briefe von Jaume Vicens an Rafael Calvo Serer vom 27.11.1949 und vom 13. 2.1950, erster erschienen in Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 129, letzterer in AGUN, Fondo Calvo Serer, 001/033/316. Brief von Jaume Vicens an José M. Otero vom 12. 2.1950, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 298.  Brief von Calvo Serer an Jaume Vicens vom 15. 2.1950, AGUN, Fondo Calvo Serer, 001/033/ 324– 1.  Vgl. Brief von José M. Albareda an Jaume Vicens vom 1.3.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/020/ 287.  Brief von José M. Albareda an Jaume Vicens vom 24.5.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/020/287.  Brief von Jaume Vicens an José M. Albareda vom 4.5.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/021/040.  Vicens: Entwicklung der spanischen Geschichtsschreibung, S. 483.

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„kein Punkt, sondern eine Landkarte“, gebracht hatte.⁵⁰ Vicens interpretierte diese Devise für die geschichtswissenschaftliche Forschung in der Weise, dass die finanziellen und humanen Ressourcen, die sich beispielsweise in Sevilla für die Erforschung des transatlantischen Imperiums gehäuft hatten, ein entsprechendes Gegengewicht im Mittelmeerraum haben müssten. Daher forderte Vicens eine stärkere Gewichtung der in Barcelona angesiedelten Forschung unter Verweis auf diese Sprache des Imperiums: „Wenn Sevilla Amerika hat, besitzen wir nicht etwa das Mittelmeer?“⁵¹ – so Vicens emphatisches Schlusswort zu seinem Brief vom Mai 1950. Albareda ging weder auf diese Forderungen noch auf Vicens’ imperiale Verweise ein, gleichwohl er und, so Albareda mokant, „niemand daran zweifelt, dass Barcelona das Mittelmeer besitzt.“⁵² Vicens’ Anfrage an José M. Otero war an Albareda und auch an Pío Zabala, Leiter des Menéndez Pelayo, weitergeleitet und als Infragestellung der allgemeinen Struktur des CSIC interpretiert worden. Nur so lässt sich Vicens’ vehemente Ablehnung dieser „Unterstellung“ verstehen: „Der Oberste Forschungsrat […] besitzt eine Struktur, die ich niemals gedacht habe zu hinterfragen oder gar zu interpretieren“. Er habe auch nicht, so Vicens an Albareda, die Entscheidungskompetenzen von Zabala anzweifeln wollen. Es ginge ihm vielmehr darum – dies müsse Vicens erneut unterstreichen – aus dem CEHI „kein weiteres Zellchen in der Organisation der spanischen Geschichtswissenschaft“ zu machen, sondern zu „ein[em] Getriebe der spanischen Geschichtsforschung, vergleichbar mit den Zentren in Madrid, Valladolid und Sevilla.“⁵³ Doch trotz dieser Versicherungen und der Beziehungspflege zu Calvo Serer erreichte Vicens die gewünschte Einordnung im Patronato für internationale Beziehungen nicht. Ein zweites Konfliktfeld entstand allerdings aufgrund der mangelnden Berufsaussichten für die Mitglieder der Escola de Barcelona und der allgemeinen Sabotage, die Vicens’ hinter der geringen Unterstützung durch den Consejo vermutete. Im Jahr 1957 war der Lehrstuhl für spanische Geschichte an der Universität Barcelona vakant geworden und Vicens trat beim Berufungsverfahren entschieden für eine Privilegierung Joan Reglàs ein. Dabei war auch Reglàs Laufbahn bis Mitte der 1950er Jahre eng mit dem Consejo verbunden gewesen. Von 1947 bis 1952 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sektion des Jerónimo Zurita in Barcelona und im Jahr 1948 hatte er – ähnlich wie Vicens ein Jahr später – den  Siehe dazu Kapitel I.1.3.  Brief von Jaume Vicens an José M. Albareda vom 4.5.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/021/040.  Brief von José M. Alabareda an Jaume Vicens vom 24.5.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/021/ 162.  Brief von Jaume Vicens an José M. Albareda vom 8.6.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/021/306.

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Menéndez Pelayo-Preis für seine Dissertation zur aragonesisch-französischen Grenze zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert erhalten.⁵⁴ Wie angespannt das Verhältnis zwischen Vicens und dem akademischen Machtzentrum war, zeigten die Minimalforderungen, die der katalanische Historiker gegenüber seinem „Repräsentanten“ in Madrid, Joan Mercader, im Frühjahr 1955 formulierte: „Wir sind es also, die das Recht darauf haben, dass man uns besänftigt. Unsere Bedingungen sind recht klar: Vonseiten des Ministeriums [für Nationale Erziehung], die Anerkennung des Zentrums (wie es aussieht, ist dies auf gutem Wege); vonseiten des Consejo, die Anerkennung des Índice [Histórico Español]; vonseiten von Dr. Torre, Dr. Alcázar und Dr. Rumeu, die Zulassung Reglàs als vorrangiger Kandidat für den Lehrstuhl in Barcelona […]. Solange sie nicht diese Bedingungen erfüllen, werden wir nicht zu einer wirklichen ‚Befriedung‘ der Situation beitragen können.“⁵⁵

Während das CEHI im August 1955 nun offiziell anerkannt wurde, sollten der Consejo und seine Direktoren der zweiten und dritten Forderung nicht entsprechen. Der IHE erhielt weder regelmäßige Subventionen durch den Consejo noch konnte Reglà an den genannten Lehrstuhl gelangen. Die oposiciones, die letztendlich erst im Sommer 1957 stattfanden, gewann vielmehr Carlos Seco Serrano (geb. 1923), Protegé des Madrider Geschichtsprofessors und Falangisten Ciriaco Pérez Bustamante (1896 – 1975).⁵⁶ Dieses Ergebnis führte zu einer deutlichen Verschärfung der bereits bestehenden Spannung zwischen Vicens‘ Gruppe und den Entscheidungsträgern in Madrid. Die offensichtliche Benachteiligung Reglàs hatte sogar eines der Mitglieder des Prüfungsausschusses dazu bewogen, sich bei Reglà schriftlich zu entschuldigen, indem er auf den Druck verwies, dem er ausgesetzt worden war.⁵⁷ Vicens deutete dieses Scheitern als direkten Boykott seiner Person und seiner Schule. Angesichts zweier weiterer Professuren, die im Jahr 1958 an den Universitäten in Barcelona und Santiago ausgeschrieben werden sollten, beklagte sich Vicens bei Juan Gich (1925 – 1982), Mitarbeiter der Generaldirektion für Universitätslehre, über „die Verfolgungsstimmung, die sich gegen die Historische Schule von Barcelona breit gemacht hat.“⁵⁸ Wie auch bei den anderen Konfliktlinien, spielten sich der Kampf um Positionen vor dem Hinter-

 Herausgegeben wurde sie vom CSIC unter dem Titel Joan Reglà: Francia, la Corona de Aragón y la frontera pirenaica. La lucha por el Valle de Arán (siglos XII y XIV), 2 Bde., Madrid 1951.  Brief von Jaume Vicens an Joan Mercader vom 2. 2.1955, PNEG, Carpeta Mercader.  Zu Carlos Seco siehe Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 584 f.  Siehe dazu Vicens’ Brief an Joaquín Pérez Villanueva vom 2.7.1958 in ACEHI, Fondo IHE, IHE 1 (12)1, und an Joan Reglà vom 2. 2.1960, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 358 f.  Brief von Jaume Vicens an Juan Gich (Kopie), Colegio Mayor Antonio Nebrija, Ciudad Universitaria, Madrid, 20.12.1957, PNEG, Carpeta Institut Laboral Eugeni d’Ors.

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grund einer Spannung zwischen Machzentrum und katalanischer Peripherie. So informierte der Direktor des CEHI kurz vor den genannten oposiciones seinen Kollegen Felipe Ruíz über Reglàs Situation unter Verweis auf dieses Spannungsverhältnis: „Wir befinden uns weiterhin in der Bresche, bis der Tag kommt, an dem wir mit den Machträgern der Historiografie jenseits des Henares [Fluss nördlich von Madrid] brechen. Die Sache steht auf der Kippe und es ist gut möglich, dass wir uns in den nächsten Tagen auf klare Weise entscheiden müssen.“⁵⁹ Schließlich sollte Joan Reglà erst ein Jahr später den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Spaniens an der Universität in Valencia antreten dürfen, was angesichts der Minimalforderungen von Vicens ein später und minderer Erfolg war. Die offensichtliche Weigerung des Consejo, das CEHI zu einem „Getriebe der spanischen Geschichtsforschung“ zu machen, bewog Vicens zu einer Art Gegenboykott auf der Ebene wissenschaftlicher Mikropolitik. Im Februar 1955 schrieb Vicens in einem Brief an Joan Mercader, den er auch an Emili Giralt und Ramon Gubern weiterleitete: „Daher kommt mir das Angebot des Dr. Rumeu [damaliger Direktor der Escuela de Historia Moderna des Zurita], irgendein Mitglied aus unserer Gruppe zur Mitarbeit in einem seiner Unternehmen oder des Consejo zu bewegen, wenig opportun vor. Uns, wie bei Reglà, wie Sklaven zu halten, um uns danach mit einem Tritt und mit einem lauten ‚Kommt nicht in Frage!‘ fortzuschicken‚ stellt eine Politik dar, auf die man nur mit höflicher Kälte antworten kann. Wenn sie wollen, dass wir mitarbeiten, dann müssen sie uns eindeutig beweisen, dass sie uns schätzen und helfen werden.“⁶⁰

Vicens drängte daraufhin seine Doktoranden Emili Giralt und Román Gubern, nicht für die Zeitschrift Hispania zu schreiben. Dies konnte angesichts der Übermacht des Consejo sogar das Ende einer innerspanischen Karriere bedeuten. Von Liverpool aus schrieb Giralt an Mercader: „Was sollen wir also tun: Mitarbeiten, nicht mitarbeiten…? […] Sie wissen, dass ich bereit war, mitzuarbeiten (und ich bin es weiterhin), doch ich würde ungern meine Freundschaft mit Dr. Vicens, auf die ich auf wissenschaftlicher und persönlicher Ebene angewiesen bin, zugunsten einer trügerischen [Freundschaft] mit diesen Herren aus Madrid verlieren.“⁶¹ Gubern zeigte sich wiederum von dieser Entscheidung „überrascht“, gleichwohl

 Brief von Jaume Vicens an Felipe Ruíz vom 18. 3.1958, ACEHI, Fondo IHE, Carpeta 4, Correspondencia colaboradores, Años 1953 – 1966, O–R.  Brief von Jaume Vicens an Joan Mercader vom 2. 2.1955, PNEG, Correspondencia Mercader.  Brief von Emili Giralt an Joan Mercader vom 23. 2.1955, PNEG, Correspondencia Mercader.

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er sich mit Vicens’ Vorgehen solidarisierte und „die beschämende sowie ungehörige Dummheit der offiziellen Kreise“ beklagte.⁶² Die mangelnde Förderung der wissenschaftlichen Vorhaben und Karrieren, die Vicens’ Escola de Barcelona entsprangen, führte zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen ihren Mitgliedern und dem Consejo. Diese Verschärfung trug aber auch zu einer stärkeren inneren Kohäsionierung der Gruppe bei, die sich selbst zunehmend über die Abgrenzung zu den „offiziellen Kreisen“ definierte. Der Consejo stand vor allem für die jüngeren Historiker für eine staatsnahe Historiografie, die weder ihren Karrieren noch den katalanischen ‚Erneuerungsversuchen‘ einen Platz bot. Tatsächlich lässt sich aus dem Publikationsverhalten der Gruppe die Entwicklung hin zu einer Entflechtung vom Consejo beobachten. Hatten vor allem Vicens und Reglà, aber auch Giralt und Nadal 1955 insgesamt 26 Beiträge für die Zeitschrift Hispania verfasst, so waren es seit dem ‚Gegenboykott‘ und bis 1960 nur noch drei. Lediglich Mercader als Mitarbeiter der Madrider Sektion des Zurita blieb in den Seiten der zentralen geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift vertreten. Die jüngeren Josep Fontana und Román Gubern würden hingegen weder vor noch nach 1960 ihre Forschungsergebnisse über dieses Sprachrohr des Consejo kommunizieren. Mitte der 1950er Jahre war die Frage nach der institutionellen Einordnung des CEHI und damit auch nach der Finanzierung – drittes Konfliktfeld – weiterhin ungeklärt. Vicens hatte als Leiter der katalanischen Sektion des Zurita versucht, sein Institut zumindest teilweise über die Mittel des zentralen spanischen Wissenschaftsorgans zu finanzieren. Dies wurde jedoch angesichts der gravierenden Haushaltskrise des Consejo zunehmend schwieriger, zumal die Geisteswissenschaften von der chronischen Unterfinanzierung am meisten betroffen waren. Die Forschergruppe aus Barcelona, die auf diese Mittel für Personal und Publikationen angewiesen war, deutete die Ad-hoc-Vergabe der ohnehin spärlichen Mittel als Zeichen der „geringen Zuneigung“ ihnen gegenüber, wie Vicens bereits im Jahr 1954 an Cayetano Alcázar schrieb: „Als ich im Jahr 1950 die Direktion dieser Sektion in Barcelona antrat, übernahm ich diese Verantwortung mit dem vollen Vertrauen darauf, dass meine Geschäftsführung von der Zentraldirektion die festeste materielle und moralische Unterstützung erhalten würde. Dies ist in letzter Zeit nicht so gewesen, da man mir gegenüber mit den finanziellen Mitteln, die für eine normale Entfaltung dieser Sektion nötig sind, geizig umgegangen ist und man mit wenig

 Brief von Ramon Gubern an Jaume Vicens, o.A. [Mitte Januar 1955], PNEG, Correspondencia Gubern.

4.1 Das Centro de Estudios Históricos Internacionales

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Zuneigung auf die Initiativen geblickt hat, die ich der Direktion des Jerónimo Zurita vorgelegt habe.“⁶³

Der Leiter des CEHI forderte von seinem Vorgesetzten daraufhin eine eindeutige Stellungnahme zur Frage, inwiefern seine Sektion an die Escuela de Historia Moderna des Zurita angebunden sei und welcher jährliche Etat ihr in einem solchen Fall zur Verfügung stünde. Abgesehen von einer geringfügigen und einmaligen Subvention, erhielt der Direktor des CEHI für das Jahr 1955 jedoch keine weiteren Mittel aus dem Budget des Consejo. ⁶⁴ Der Leiter des CEHI konnte immerhin das Erziehungsministerium noch im selben Jahr zu einer staatlichen Anerkennung seines Instituts bewegen. Seit dem Amtsantritt von Joaquín Ruíz-Giménez (1951) war das Verhältnis zwischen diesem Ministerium und dem zentralen Organ der spanischen Wissenschaft allerdings deutlich unharmonischer, als es noch während der Amtszeit von José Ibáñez Martín gewesen war.⁶⁵ Die Anerkennung des CEHI ging daher ohne seine formelle Eingliederung in den Consejo einher. Der Ministerialerlass vom 9. August 1955 bettete das Institut ausschließlich in die Strukturen der Universität Barcelona ein.⁶⁶ Vicens zeigte sich, so Giralt an Mercader im Oktober, „optimistisch hinsichtlich der jüngsten offiziellen Weihe des ‚Internationalen Zentrums für Historische Forschung‘: ich glaube, dass […] wir uns nicht mehr auf so prekärem Boden wie bisher bewegen werden müssen.“⁶⁷ Tatsächlich rechnete das CEHI vom die-

 Brief Jaume Vicens an Cayetano Alcázar vom 12. 2.1954, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 44– 46, hier S. 44.  Vgl. Brief von Cayetano Alcázar an den Generalsekretär des CSIC, Rafael Balbín Lucas, vom 21.6.1955, mit der Bitte um einmalige Subvention an Vicnes in Höhe von 20 000 Peseten, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/8807, Carpeta Jerónimo Zurita, 1955.  Die zunehmende Distanz zwischen dem Erziehungsministerium und dem Consejo lässt sich nicht nur daran erkennen, dass Ruíz Giménez, anders als Ibáñez Martín, kaum an den Sitzungen des obersten Entscheidungsgremiums (Consejo Ejecutivo) des CSIC teilnahm. Wie in Kapitel I.2. bereits zitiert worden ist, sah sich die Führungsriege des Obersten Forschungsrats neuen „Intrigen“ aus dem Erziehungsministerium ausgesetzt.  Dabei behielt sich das Erziehungsministerium sich das Recht vor, den Leiter einzuberufen. Das Ministerium sollte jedoch von diesem Vorrecht nie Gebrauch machen. Vgl. Orden de 9 de agosto de 1955 por la que se crea en la Universidad de Barcelona el Centro de Estudios Históricos Internacionales, in: Boletín Oficial del Estado, 17.9.1955, S. 5670 f. Im Archiv des CEHI befinden sich die Unterlagen zur Vorbereitung der staatlichen Verordnung. Der Gegenentwurf, den Vicens vom Ministerium erhielt, schien auf eine stärkere Bindung des CEHI an das Erziehungsministerium zu zielen. Der entsprechende Paragraf ist in der eingesehenen Fassung jedoch auch handschriftlich durchgestrichen, Vgl. ACEHI, Fondo CEHI, 1(4)1,2 bis 6.  Korrespondenz zwischen Giralt und Mercader vom 6.10.1955, PNEG, Correspondencia Mercader.

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sem Moment an mit einer zwar geringen, aber dennoch regelmäßigen Zuwendung, die es vor allem für die Publikation der EHM und des IHE verwenden konnte. Die neue Anerkennung und die mangelnde „moralische und ökonomische Unterstützung“, die die institutionelle Plattform der Escola de Barcelona vom Consejo erhalten hatte, führte schließlich aber auch zu Vicens’ Rücktritt von der Leitung des Zurita in Barcelona und somit zu seinem „unwiderrufliche[n]“ Ausscheiden aus dem zentralen Organ der spanischen Wissenschaft. Der katalanische Historiker teilte im April 1956 dem Vorsitzenden des Patronato Menéndez Pelayo, Präsidenten des Consejo und ehemaligen Erziehungsminister, José Ibáñez Martín, seine Entscheidung wie folgt mit: „Ich wurde am 12. Januar 1950 vom Patronat Deines ehrwürdigen Vorsitzes zum Leiter der Sektion des Instituts ‚Jerónimo Zurita‘ in Barcelona ernannt. Seitdem habe ich ohne Unterlass dafür gearbeitet, zwei Ziele zu erreichen: Die Berufungen [junger Historiker] zur Geschichtswissenschaft zu verwirklichen, indem ich ihnen den Weg zu den modernsten Forschungstechniken aufgezeigt habe, und die Geschichtsschreibung in Barcelona mit dem weitläufigen Mechanismus der spanischen Geschichtswissenschaft zu verzahnen. Ich werde mich nicht auf die Ergebnisse meiner Mühen beziehen; sie sind sowohl von der nationalen als auch von der internationalen Kritik hervorgehoben worden. Bestimmte Umstände jedoch, die ich nicht erahnen konnte, als ich im Jahr 1950 jene Verantwortung übernahm, zwingen mich nun dazu, meine unwiderrufliche Kündigung einzureichen.“⁶⁸

Dieser Rücktritt bedeutete aus der Sicht des katalanischen Historikers das Ende seiner Versuche, im Consejo den nötigen Rückenwind für das CEHI zu suchen. Vicens vollzog mit seiner Kündigung keineswegs einen Bruch mit sämtlichen staatlichen, für Wissenschaft und Karriere relevanten Ämtern und Stellen. Wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird, gewannen vielmehr das Erziehungs- und vor allem das Außenministerium an neuem Gewicht. Dennoch war der Consejo in diesem Fall darin gescheitert, „nicht ein[en] Punkt, sondern eine Landkarte“ darzustellen und ein Institut in sich aufzunehmen, das sich als „internationaler Pfeiler“ der spanischen Forschung profilierte. Vicens’ Auseinandersetzungen mit dem Consejo lassen die Geschichte des CEHI als Konfliktgeschichte erscheinen – allerdings nur im Rückblick.⁶⁹ Erst das

 Brief von Jaume Vicens an José Ibáñez Martín, 25.4.1956, ACCHS, Caja 236, Correspondencia Antonio de la Torre.  Miquel A. Marín sieht in der staatlichen Anerkennung des CEHI die Neutralisierung einer Institution, die als universitäre Initiative den Versuch dargestellt hatte, sich der „gelenkten Förderung“ des CSIC zu entziehen. Er bezeichnet sie daher für den Zeitraum von 1949 bis 1956 als contrainstitución. Vgl. Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 73.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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Scheitern, Barcelona mithilfe des Consejo zu gesamtspanischer und internationaler Geltung zu bringen, führte dazu, dass sich das bereits in der gruppeninternen Sprache angelegte Spannungsverhältnis zwischen katalanischer und gesamtspanischer Geschichtswissenschaft zunehmend polarisierte. Für diese Untersuchung ist dies deswegen bedeutsam, da Vicens durch den Índice Histórico Español und die Estudios de Historia Moderna, durch den CEHI und die internationale Kontaktpflege ein symbolisches Kapital anhäufte, das von seinem Rücktritt an genauso wenig wie seine Neudeutungen zur technisch-industriellen Moderne mit dem Consejo in Verbindung gebracht werden konnte. In diesem Sinne stellte der CEHI nicht von Beginn an eine Alternative zur „offiziellen“ Geschichtsschreibung dar. Die Vorstellung einer „offiziellen“ Geschichtsschreibung, die der „katalanischen“ keinen Raum bot, erwuchs erst aus dieser Auseinandersetzung.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule Im oben zitierten Brief an Fernand Braudel, in dem Vicens seine Absicht bekundet hatte, die spanische Geschichtswissenschaft insbesondere an diejenige Frankreichs anzuschließen, informierte der katalanische Historiker seinen Kollegen zugleich über das Vorhaben, „zu diesem Zwecke ein Jahrbuch für internationale Geschichte“⁷⁰ herausgeben und namhafte ausländische Forscher, unter ihnen den Adressaten selbst, daran beteiligen zu wollen. Vicens hatte, wie seine Briefe an inländische und ausländische Historiker zeigen, bereits mit der Gründung des CEHI die Publikation einer jährlichen Zeitschrift vorgesehen, die als Sprachrohr des neuen Instituts fungieren sollte, und zwar in zweifacher Weise.⁷¹ Erstens sollte sie die Studien zu den internationalen, vor allem europäischen Beziehungen Spaniens während der Neuzeit beherbergen und zweitens als Plattform für Publikationen ausländischer Historiker dienen. Aus diesem Vorhaben gingen schließlich die Estudios de Historia Moderna hervor, deren erster Band im Jahr 1951 erschien. Das Vorwort wich allerdings von der ursprünglich diplomatiehistorischen Schwerpunktsetzung ab, um in einem ambitionierten Manifest in zehn Punkten die Erneuerung der Geschichtsschreibung über die spanische Neuzeit in  Brief von Jaume Vicens an Fernand Braudel vom 13. 3.1950, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 93.  Siehe dazu beispielsweise Vicens’ Briefe an José M. Otero vom 13. 2.1950, Vicente Rodriguez Casado vom 4. 3.1950 und den bereits zitierten Brief an Fernand Braudel in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 298 und S. 371 f.

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4 Die Escola de Barcelona: Drei Organe

partieller Anlehnung an die Herangehensweisen zu fordern, die Vicens in Paris und in den jüngsten Publikationen aus dem Umkreis der ‚Annales‘ kennen gelernt hatte. Die neue Zeitschrift sollte nun diejenige Geschichte repräsentieren, die den „gemeinen Menschen“⁷² in ihren Mittelpunkt rückte. Von Vicens maßgeblich geprägt und als Sprachrohr einer neuen Schule entworfen, lassen sich an den EHM sowohl das Profil, das der katalanische Historiker seiner Schule verlieh, als auch die Entwicklung der Forschungsschwerpunkte hin zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie zur Neuesten Geschichte Spaniens erkennen. Die EHM besaßen von Beginn an eine Struktur, die sich bis zuletzt nur geringfügig änderte. Sie bestand aus einer Einleitung, die Vicens selbst schrieb und gleichsam als Lagebericht verstand, und Aufsätzen von unterschiedlicher Länge ohne qualitative Trennung.⁷³ Die Bände zwei und fünf enthielten im Anschluss einen „Arbeitsbericht“, in dem die wichtigsten Tätigkeiten des CEHI beschrieben wurden und vereinzelte Rezensionen erschienen. Eine explizite Ausrichtung auf die Struktur der Zeitschrift Annales ESC gab es dabei nicht.⁷⁴ Für eine Analyse der inhaltlichen Entwicklung müssen bestimmte Merkmale der EHM herausgearbeitet werden. Das Vorwort zum ersten Band versprach dem Leser nämlich eine fast revolutionäre Neuartigkeit, doch musste Vicens in Bezug auf ihre Verwirklichung auf spätere Bände vertrösten. Sprach aus dem Vorwort eine neue Historiografie, so entsprach der Inhalt eher der ursprünglichen Ausrichtung des CEHI. Unter der Überschrift Spaniens internationale Beziehungen zu Frankreich und Italien, 15. bis 18. Jahrhundert enthielt die neue Zeitschrift ausschließlich diplomatiehistorische Beiträge, die die Ebene der reinen Politikgeschichte nicht verließen. Bemerkenswert an diesem Band hingegen war die Tatsache, dass gleich zwei von den vier enthaltenen Beiträgen die Mitarbeit ausländischer Historiker an der neuen Zeitschrift unter Beweis stellten.⁷⁵ Hiermit sollte, wie der oben zitierte Brief an Braudel zeigt, ihr internationales Profil von Beginn an unterstrichen werden.

 Vicens: Presentación y propósito, S. XI.  Nur Band 5 wurde in die Sektionen ‚Studien’ und ‚Beiträge’ aufgeteilt.  Im Jahre 1953 wurde aus der Rezensionssektion die selbstständige Publikation IHE. Siehe dazu das nächste Unterkapitel.  Es handelte sich hierbei um Niccolo Rodolicò: Alcuni documenti sulla Regina di Spagna, Maria Luisa Gabriella di Savoia sowie um Didier Ozanam: Un projet de mariage entre l’Infante Maria-Antonia, soer de Ferdinand VI, et le Dauphin fils de Louis XV (1746), in: EHM 1 (1951), S. 33 – 49 und S. 129 – 151. Didier Ozanam sollte von 1957 bis 1961 Sekretär des Centre des recherches historiques werden. In diesem Beitrag von 1951 ist jedoch noch kein Einfluss der Annales auszumachen. Vgl. Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 181– 183.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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Nach einem zweiten Band, in dem der Inhalt mit der Ausnahme des Beitrags von Emili Giralt weiterhin von einer internationalen Schwerpunktsetzung, aber politikgeschichtlichen Herangehensweise geprägt war, stellten die EHM von 1953 in gewisser Weise den Durchbruch zu einer quantitativen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dar.⁷⁶ Hier gelangten jene „statistischen Studien“, die Vicens auch im Vorwort zu seiner Aproximación a la Historia de España (1952) angekündigt hatte, an die Fachöffentlichkeit. Acht Beiträge untersuchten hier beispielweise den Hafentransit in Barcelona⁷⁷, die „Frage der Morisken und der internationalen Konjunktur“⁷⁸ oder die demografische Entwicklung Kataloniens im 16. Jahrhundert.⁷⁹ Die übrigen Bände bestätigten dabei das neue Profil. Von den insgesamt vierunddreißig Aufsätzen, die in den Nummern drei bis sechs erschienen, beschäftigten sich zweiundzwanzig mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Themenkomplexen. Die EHM beschränkten sich ferner durchgehend auf solche Themen, die die spanisch-katalanische Geschichte betrafen, ohne ihren Fokus auf Gegenstände unterschiedlicher politischer oder geografischer Räume außerhalb Spaniens zu richten.⁸⁰ Genaugenommen besaßen die EHM insofern eine eindeutig katalanische Ausrichtung, als auch die allgemeinspanischen Themen aus der katalanischen Perspektive behandelt wurden. Barcelona, Katalonien, das Königreich Aragon samt seiner mediterranen Herrschaftsgebiete und schließlich der katalanische Sprachraum – Katalonien, Valencia, die Balearen und die Provinz Roussillon – bildeten die Bezugsgrößen, von denen aus die spanische und internationale Geschichte angegangen wurde. Herangehensweisen, die sich beispielsweise an geografischen statt politischen Räumen orientierten, gab es in diesem Sinne nicht.⁸¹ So widmeten sich ca. 60 % der Artikel ausschließlich ka-

 Vgl. Emili Giralt: La viticultura y el comercio catalán del siglo XVIII, in: EHM 2 (1952), S. 157– 177.  Vgl. Claude Carrère: Le droit d’ancrage et le mouvement du port de Barcelone au milieu du XVe siècle, in: EHM 3 (1953), S. 65 – 156.  Joan Reglà: La cuestión morisca y la coyuntura internacional en tiempos de Felipe II, in: EHM 3 (1953), S. 217– 237.  Jordi Nadal/Emili Giralt: Ensayo metodológico para el estudio de la población catalana de 1553 a 1717, in: EHM 3 (1953), S. 237– 285.  Die einzige Ausnahme bildet der Beitrag des aus Uruguay stammenden Carlos M. Rama: Los movimientos sociales de América Latina en el siglo XIX, in: EHM 5 (1955), S. 385 – 398.  Eine interessante Ausnahme bildet die Studie von Felipe Ruiz Martín: La etapa marítima de las guerras de religión. Bloqueos y contrabloqueos, in: EHM 3 (1953), S. 181– 217. Ruiz Martíns Studie zu den Handelsblockaden während der Religionskriege geht in Anlehnung an Braudel und möglicherweise mit Kenntnis der Forschungen von Pierre Chaunu vom Atlantik als neues „Gravitationszentrum“ gegen Ende des 16. Jahrhunderts aus. Ruiz Martín arbeitete als einziger Spanier

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talanischen Themenkomplexen, davon fast die Hälfte der Stadt Barcelona.Weitere 15 % gingen explizit auf die Geschichte Kataloniens im Verhältnis zum restlichen Spanien und zu den Ländern Westeuropas ein. Die übrigen 25 % beschäftigten sich vorwiegend mit gesamtspanischen Themen. Diese thematische Schwerpunktsetzung der EHM auf die Geschichte Kataloniens zeigt eine eindeutige Parallelität zu Vicens’ selbstständigem historiografischem Schaffen. Eine gewisse Regionalisierung der Untersuchungsgegenstände, wie sie der Historiker Pedro Ruiz bei Vicens feststellt, ist dabei unverkennbar. Ob darin allerdings, wie Ruiz behauptet, eine Regionalisierung im Stile der ‚Annales‘, beispielweise als Anlehnung an Febvres Franche-Comté stattfand, ist jedoch zweifelhaft.⁸² Denn die EHM dienten Vicens auch als Weg, sein althergebrachtes Projekt zu verfolgen, die Geschichte Kataloniens nun mit „modernen Techniken“ neu zu schreiben. Vicens’ Ablehnung der katalanisch-nationalen Geschichtsschreibung der Vorkriegszeit führte nicht etwa dazu, auf Katalonien als Bezugsgröße zu verzichten, sondern vielmehr zur Revision der Topoi aus den überlieferten Geschichtsdeutungen. So untersuchten beispielsweise Joan Reglà und Enric Serraíma (1927– 2012) das Phänomen der bandoleros im 16. Jahrhundert, um nach dessen sozio-ökonomischen Ursachen jenseits katalanisch-nationaler Deutungsmuster zu fragen.⁸³ Die Herrschaft Ferdinands II. (1479 – 1516), die ökonomische Dekadenz Kataloniens im 15. und 16. Jahrhundert und die gegen die Habsburger Monarchen gerichteten Bauernaufstände in der Mitte des 17. Jahrhunderts waren weitere Themen der katalanischen Historiografie, die schwerpunktmäßig behandelt wurden.⁸⁴ In diesem Sinne war das, was vor dem Hintergrund der spanischen Geschichtswissenschaft als Regionalisierung erscheint, in den 1950ern eng mit Braudel an der VI. Sektion zusammen, was seine Verwendung geografischer Räume als Bezugsrahmen erklären dürfte. Vgl. Pasamar/Peiró: Diccionario de historiadores españoles, S. 547– 549.  Vgl. Ruiz Torres: De la síntesis histórica a la historia de Annales, S. 102.  Vgl. Joan Reglà: Los envíos de metales preciosos de España a Italia a través de la Corona de Aragón durante los Austrias y sus relaciones con el bandolerismo pirenaico ; Enrique Serraima: Hugonotes y bandidos en el Pirineo catalán. La actuación de San José de Calasanz en Urgel (1587– 1589), in: EHM 4 (1954), S. 189 – 205 und S. 205 – 225.  Dieser als Aufstand ‚der Mäher’ (els Segadors) bekannte Aufruhr gegen die monarchische Gewalt von Philipp IV. im Jahr 1640 war in historiografischer Hinsicht besonders brisant, da er seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der zentralen Mythen des katalanischen Nationalismus gewachsen war. Seine Historisierung, wie sie der junge John Elliott in den Seiten der EHM vornahm, griff einerseits diesen Mythos an. Andererseits nahm der Autor aber auch keine spanisch-etatistische Perspektive ein, so dass sein Aufsatz weder katalanische noch spanische Nationalisten zufrieden stellen konnte. Diese doppelte Brisanz mag erklären, weshalb der Aufsatz der einzige war, der in englischer Sprache erschien. Vgl. John Elliott: The catalan revolution of 1640. Some suggestions for a historical revision, in: EHM 4 (1954), S. 273 – 300.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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eher der Versuch einer Revision katalanischer Geschichtsbilder, ohne jedoch dabei, aus der Perspektive von Vicens und der EHM, auf den tradierten Bezugsrahmen „Katalonien“ zu verzichten. Nichtsdestotrotz bemühte sich Vicens um ein internationales Profil für die Zeitschrift. Betrachtet man die gesamten sechs Bände, so stammen von den vierundvierzig Aufsätzen sechzehn aus der Hand nicht-spanischer, vorwiegend französisch-, italienisch-, und englischsprachiger Historiker.⁸⁵ Joan Reglà, Emili Giralt, Joan Mercader, Jordi Nadal und später auch Josep Fontana bildeten den engen Mitarbeiterkreis sowohl der Zeitschrift als auch des CEHI. Vicens’ Mitarbeiter verfassten ein Viertel aller Beiträge, wobei sich die Arbeiten dieser jungen Historiker am deutlichsten an den Gegenständen und Herangehensweisen der VI. Sektion der EPHE orientierten.⁸⁶ In Bezug auf den akademischen Grad der Autorinnen und Autoren fällt schließlich auf, dass wichtige Arbeiten, mit denen Vicens der EHM ein neuartiges Profil gab, Teilergebnisse aus noch nicht abgeschlossenen Promotionen vorstellten. Dies entspricht der Tatsache, dass Jaume Vicens angesichts des fehlenden sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Erbes der spanischen bzw. katalanischen Geschichtswissenschaft auf sehr junge Mitarbeiter rekurrieren musste, um die EHM auf solide, aber neuartige Studien zu stützen.⁸⁷ Vicens selbst publizierte nur eine einzige Studie in den EHM. Sein Aufsatz Wirtschaftliche Konjunktur und bürgerlicher Reformismus widmete sich dem Zusammenhang von „wirtschaftliche[r] Konjunktur, industrielle[r] Entwicklung und Herausbildung der modernen bürgerlichen Mentalität“⁸⁸ in Katalonien im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert. Bezogen auf die EHM und im Kontext der spanischen Geschichtswissenschaft ist er vor allem deswegen von Bedeutung, da sich in diesem Aufsatz zwei allgemeine Tendenzen der Zeitschrift verdichteten: Auf der einen Seite die Verwendung neuer Methoden und Entwicklung neuer Thesen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; auf der anderen das Vordringen in das weitgehend unerforschte 19. Jahrhundert. So widmeten sich ab dem dritten Band insgesamt zehn Studien diesem Jahrhundert, was vor allem im Vergleich zur

 Vier französische, drei italienische, ebenso viele britische und nordamerikanische als auch ein rumänischer Historiker trugen zum Inhalt der EHM bei. Bis auf Olga Turner und Yves Roustit waren es stets verschiedene Autoren.  Vgl. Raphael: Das Erbe von Bloch und Febvre, S. 106 – 147.  So z. B. die Beiträge von Jordi Nadal (geb. 1929) und Emili Giralt (geb. 1927), deren Artikel auf Teilergebnissen ihrer Promotionsforschungen basierten. Josep Fontana (geb. 1931) und Claude Carrère, Austauschstudentin aus Toulouse, publizierten ihre Abschlussarbeiten ebenfalls in Auszügen.  Jaume Vicens: Coyuntura económica y reformismo burgués. Dos factores en la evolución de la España del Antiguo Régimen, in: EHM 4 (1954), S. 349 – 392, hier S. 350.

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Zeitschrift Hispania eine Neuerung darstellte. Die Beiträge zeichneten sich, so auch Vicens‘ eigener Aufsatz, meist durch eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber wirtschaftshistorischen Themen aus, allerdings nur im weitestem Sinne. Wirtschaftspolitische Reformer und Akteure aus dem Industriebürgertum wurden ebenso zum Gegenstand historischer Analysen wie quantitativ erfasste Phänomene demografischer und wirtschaftlicher Langzeitkonjunkturen. Die Beiträge zu den EHM zeugten keinesfalls von einer „methodologischen Gemeinschaft“⁸⁹, wie sie Vicens in den Vorworten zum ersten und dritten Band vorgestellt hatte. Ideenund politikgeschichtliche sowie biografische Perspektiven standen neben quantitativen Auswertungen von Populationen, Preisentwicklungen und Produktionserträgen. Dennoch konnte Vicens die EHM zumindest tendenziell zum Sprachrohr einer bestimmten Gruppe machen, die sich unter anderem durch ein internationales Profil, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Problemstellungen, die Schwerpunktlegung auf Themen der katalanischen sowie der Neuesten Geschichte auszeichnete. Vicens teilweise längere, teilweise kürzere Vorworte zu den einzelnen Bänden ließen unmissverständlich erkennen, dass er, wie Pierre Vilar es ausgedrückt hatte, der „maître incontesté“ seiner „école“ war.⁹⁰ In gewisser Weise stellten diese Einleitungen das Logbuch, in dem Vicens das publizistische Unternehmen als Ausdruck eines bestimmten Denkstils gegenüber der spanischen Fachdisziplin hervortreten ließ. Konstruktion und Proklamation einer neuen Gruppenidentität, zum Teil durch die Abgrenzung gegenüber einer ‚obsoleten‘ Historiografie, waren wesentliche Funktionen dieser einleitenden Worte. In Abwesenheit einer Sektion, die mit derjenigen der Debats et Combats der Annales ESC vergleichbar gewesen wäre, verwendete Vicens seine stark rhetorisch aufgeladenen Vorworte, um seine Ansprüche und Ambitionen zu verkünden. Ferner gilt das Vorwort zum ersten Band der EHM gemeinhin als ein Schlüsselmoment, in dem Vicens durch die neue Zeitschrift die Historische Schule von Barcelona und nicht zuletzt sich selbst als spanischen Exponenten des neuen französischen Denkstils präsentierte.⁹¹ Bezogen auf die Konstruktion einer Gruppenidentität fällt an erster Stelle Vicens’ stetige Verwendung des Begriffs „Authentizität“ auf, mit dem er seine historische Schule mit der katalanischen Kultur und den ‚Annales‘ verband. In den EHM wurden beispielweise in Band 2 die „spezifischen Charakteristika der katalanischen historischen Schule“, vor allem ihre „unzerbrechliche Authentizität“ festgestellt. Ihr waren entgegen „phantasmagorischer Projekte“ auch die  Vicens: Al cabo de tres años, S. V.  Vilar: Recherches d’histoire moderne a l’université de Barcelone, S. 261.  Vgl. Aróstegui: La teoría de la historia en Francia, S. 384– 401; Pasamar: La influencia de Annales, S. 155 f.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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„authentischen Versuche, die Zukunft unserer Wissenschaft zu eröffnen“⁹², zu verdanken. Mit dieser Umbenennung der Historischen Schule von Barcelona in eine katalanische bettete er sie in den breiteren Rahmen der katalanischen Kultur ein. Letzterer hatte Vicens noch im selben Jahr in einem Artikel für Destino eine ähnliche „absolute Authentizität“⁹³ zugesprochen. Sie verband ferner Lucien Febvre und die ‚Estudios de Historia Moderna‘, wie der Titel des Nachrufs lautete, den Vicens anlässlich von Lucien Febvres Tod im Jahr 1956 veröffentlichte: „Im historischen Seminar debattierten wir oft über Febvre. Es war schwer, sein Denken zu einem System zu reduzieren. Doch aus jeder einzelnen seiner Zeilen entnahm man eine großartige Lektion in Sachen Authentizität, hoher Geistigkeit, freier Zusammenarbeit und Universalismus. […] All dies erklärt die Affinität, die zwischen Febvre und den Vertretern der Katalanischen Historischen Schule besteht.Wir stimmen mit ihm absolut darin überein, dass die Authentizität das Erste ist, was von allen Historikern als elementare Bedingung gefordert werden muss.“⁹⁴

Der Authentizitätsbegriff ließ sich dehnen und umdeuten. Er besaß jedoch eine Bedeutungsstruktur, die erst seine wiederholte Verwendung erklärt. Wie Achim Saupe festhält, wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg zum „Ausdruck und zugleich Symptom“ einer Krisenwahrnehmung, die aus der „Authentizität“ einen „Gegenbegriff zur Entfremdung“ machte.⁹⁵ Er verhalf dazu, kritische Zeitdiagnosen zu artikulieren, indem er auf die Wahrhaftigkeit des mit dem Adjektiv ‚authentisch‘ beschriebenen Subjekts verwies. Im national-katholischen Diskurs kam der Begriff des ‚Authentischen‘ vor allem dann zur Sprache, wenn es darum ging, dasjenige der spanischen Kultur hervorzuheben, das nicht durch die ‚fremde Moderne‘ entstellt worden war. Im Gegensatz dazu verwendete Vicens den Begriff des ‚Authentischen‘ in einem Sinne, in dem die ‚Wissenschaftlichkeit‘ keineswegs fremden Ursprungs, sondern eine intrinsische Eigenschaft seiner Escola de Barcelona war. Ihre ‚Authentizität‘ lag in einer ‚Wissenschaftlichkeit‘ begründet, die

 Ebd., S. V und S. VI.  Jaume Vicens: Sobre Barcelona y su cultura, Destino, 27.9.1952, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 453.  Jaume Vicens: Lucien Febvre y los ‚Estudios de Historia Moderna’, in: EHM 5 (1955), S. 421. Der fünfte Band erschien aus verschiedenen, nicht zuletzt finanziellen Gründen erst im Jahre 1957, so dass Vicens den Nachruf noch einfügen konnte. Durch die Aufnahme von Febvre in den „Totenkult“ der EHM wurde die geistige Verwandtschaft zwischen seiner Schule und Febvre auf besondere Weise unterstrichen, zumal es keine andere derartige, personenbezogene Würdigung in den gesamten sechs Bänden geben sollte. Für die Annales ESC hat Lutz Raphael diesen „Totenkult“ analysiert. Vgl. Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 209 f.  Achim Saupe: Authentizität, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hrsg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 144– 165.

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sie in ihrer konkreten Gestalt mit Febvre und den ‚Annales‘ verband. Die „absolut authentische Art und Weise, uns selbst kennen zu lernen“⁹⁶, wie Vicens in den Seiten von Destino seine wissenschaftlichen Vorhaben als Ausdruck der katalanischen Kultur verteidigte, verwies auf einen Begriff des ‚Authentischen‘, der (Geschichts)Wissenschaft mit kollektiver ‚Selbsterkenntnis‘ und − der Bestimmung Barcelonas „als offenes Fenster zu den geistigen Interessen Europas“ folgend − mit den ‚Annales‘ unmittelbar verflocht. Charakteristisch für die Vorworte war ferner auch Vicens übliche Konfliktrhetorik. „Mit diesem dritten Band der Estudios de Historia Moderna“, so seine Vorstellung des 1953 erschienenen Bands, „legen wir getreues Zeugnis ab, dass wir weiterhin in der Bresche ausharren, die wir erwartungsvoll in die massive Mauer der längst überholten historischen Formeln geschlagen haben.“⁹⁷ Ein Jahr später war der „Kampf um die historische Methode, auf der wir alle hartnäckig bestehen“, dasjenige, was die EHM auszeichnete. In dieser Zeitschrift begann „eine Reihe junger Historiker, geschult in den Prinzipien der Historischen Schule von Barcelona, ihre Waffen zu schärfen“.⁹⁸ Vicens stellte die EHM als Speerspitze im Kampf um eine neue Geschichtswissenschaft dar. Begriffe wie „Schlacht“ und „Waffe“ gepaart mit solchen wie „Gelobtes Land“ und „Triumph“ gaben den EHM dabei ein quasi-heroisches Antlitz, das Vicens gelegentlich sogar auf seine Person fixierte: „[M]an wird mir sicher verzeihen, dass ich mein Gefühl der Zufriedenheit und des Triumphes nicht verberge. Ich betrat fast allein diesen Pfad und von diesem Pfad aus habe ich gekämpft und diesen Kampf bestanden. Ich danke Gott dafür, dass die ungeheure Energie, welche die junge Historische Schule von Barcelona in sich birgt, bald in einem lebhaften Aufblitzen in Erscheinung treten wird.“⁹⁹

In dieser Sprache spiegelte sich allerdings nicht nur ein bestimmter Denkstil wider. Den Vorworten des EHM sowie anderen Artikeln und Briefen ist nämlich auch eine Abwehrhaltung zu entnehmen, die in dem Maße zunahm, wie Vicens‘ wissenschaftsstrategische Ambitionen ausgebremst wurden. Er hatte sich im ersten Band der EHM noch optimistisch hinsichtlich der positiven Aufnahme der neuen Zeitschrift im spanischen Umfeld gezeigt. So forderte er, dass „die Entwicklung peripherer Forschungszentren stimuliert“ würde und reihte auch hier Barcelona zusammen mit Madrid, Valladolid und Sevilla in die „soliden Funda Jaume Vicens: Expectativa castellana ante Cataluña, Destino, 1.9.1952, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 454– 456, hier S. 456.  Vicens: Al cabo de tres años, in: EHM 3 (1953), S. VIII.  Vicens: El doblar el cabo, S. V.  Ebd., S. VIII.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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mente des zukünftigen und hohen Gipfels unserer Geschichtswissenschaft“¹⁰⁰ ein. Die Neuerscheinung wurde von der Direktion des Consejo zunächst sogar begrüßt. Vicens sandte den ersten Band der EHM an José M. Albareda mit der Bitte, die Zeitschrift im Namen sowohl des CEHI als auch des Instituto Jerónimo Zurita herausgeben zu dürfen. Der Sekretär des Consejo stimmte daraufhin dieser Anfrage nicht nur zu. Er bekräftigte die Initiative ausdrücklich unter Verweis auf den nicht-zentralistischen Charakter des spanischen Forschungsrats.¹⁰¹ Albaredas placet sicherte den EHM zumindest bis zum vierten Band (1955) eine finanzielle und institutionelle Stütze. Allerdings würde Vicens‘ Zuversicht, sich mit den EHM in der Fachdisziplin Gehör verschaffen zu können, bald einer Enttäuschung weichen, die er ausdrücklich publik machte. Es ist bezeichnend, dass Vicens‘ ambitionierter Dekalog, sein 10-Punkte-Gelübde auf die Erneuerung der spanischen Geschichtswissenschaft keine, weder eine positive noch eine negative Reaktion in der Fachöffentlichkeit hervorrief. Weder in den Seiten von Hispania noch in denjenigen Arbors wurde zur neuen Zeitschrift und ihrer Programmatik Stellung genommen. Dieses Schweigen war selbst eine Form der Kritik. Es zeugte aber außerdem von einem Historikerfeld, in dem Kritik schnell als Anfeindung und Kontroversen als ein unwillkommenes Herausfordern gelehrter Kollegialität verstanden werden konnten. Vicens prangerte bereits im zweiten, im Jahr 1952 erschienenen Band der EHM die „Abwesenheit von Debatten“ an und beklagte, wie ihm „im Rahmen von mehr oder weniger privaten Gesprächen fast unmerklich, [aber] bissig und finster das Bein gestellt“ würde.¹⁰² Wie stark die für Vicens spezifische Konfliktrhetorik von der Offensive hin zur Defensive geriet, zeigte sich bereits in Band 3, der ein Jahr darauf erschien: „Es ist nicht bequem, gegen den Strom zu schwimmen und auch nicht, die eisigen Winde des umliegenden Ödlandes zu ertragen“¹⁰³. Die Darstellung seines Umfelds als „Ödland“ konnte seine spanischen Kollegen wohl kaum zu einer Umstimmung bewegen. Signalisierte Vicens durch seine Konfliktrhetorik und seine internationalen Verweise zunächst seine Ambitionen, die Escola de Barcelona zu einer der „tragenden Säulen“ der spanischen Geschichtswissenschaft zu machen, so erhielten nun beide Stilmerkmale eine defensive Funktion. Im selben Vorwort beklagte Vicens die Isolation der neuen Gruppe wie folgt: „Sie zu ignorieren ist unmöglich, da sie of-

   

Vicens: Presentación y propósito, S. VII. Brief von José M. Albareda an Jaume Vicens, 4.8.1951, AGUN, Fondo Albareda, 006/024/605. Vicens: Progresos en el empeño, S. VI. Vicens: Al cabo de tres años, S. VIII.

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fensichtlich existiert. Sie mit Mauern der Stille zu umgeben [zu] versuchen ist vergeblich, denn ihr Werk ist im Ausland nicht unbekannt.“¹⁰⁴ Dass der katalanische Historiker überhaupt mit dieser Vehemenz auf die internationale Karte setzte, lässt sich dabei nur in jenem Kontext verstehen, in dem die internationale Anerkennung zu einem wichtigen Mittel geworden war, symbolisches Kapital anzuhäufen. Wie gezeigt worden ist, war die spanische Geschichtswissenschaft zu Beginn der 1950er Jahre keinesfalls ein „Ödland“, gleichwohl niemand Vicens‘ Einladung zur Debatte annahm. Ein gutes Beispiel hierfür bietet eine neue Zeitschrift, die wenige Monate vor den EHM von Vicente Palacio Atard in Simancas bei Valladolid gegründet worden war und mit der Vicens sich „wünschte, eine engere Kooperation einzugehen.“¹⁰⁵ In einem Akt akademischer Diplomatie streckte der Herausgeber der Estudios de Historia Moderna die Hand dieser anderen Zeitschrift entgegen. Doch allein ihr Titel verriet, dass Vicens es nicht etwa mit einem „Ödland“, sondern vielmehr mit einem Konkurrenzfeld zu tun hatte. Das neue Periodikum hieß nämlich ebenfalls Estudios de Historia Moderna. Auch in dieser Zeitschrift bildete der Begriff der „Schule“ − mit dem „Körper und Geist einer Schule“ − die zentrale Kategorie, durch die der soziale Zusammenhang der intellektuellen Träger der Zeitschrift beschrieben wurde.¹⁰⁶ An vorderster Stelle präsentierte der Herausgeber ferner eine Liste der „Freunde von Simancas“, die insgesamt 49 Namen auflistete, darunter Palacio Atard selbst, Cayetano Alcázar und Manuel Fernández Álvarez, aber auch Richard Konetzke, Earl Hamilton, Henri Lepeyre und Fernand Braudel sowie sechzehn weitere nicht-spanische Historiker. Zwar besaß diese neue Zeitschrift anders als diejenige aus Barcelona keine explizite Programmatik. Sie versprach auch keine historiografische Revolution, sondern kündigte sich explizit „ohne große Allüren“¹⁰⁷ an. Dennoch versuchte auch sie mit einem internationalen Profil auf die geschichtswissenschaftliche Bühne zu treten, unter Verweis auf grenzübergreifende „Freundeskreise“, die Vicens‘ Escola jedoch nicht mit einschlossen. Die Estudios de Historia Moderna aus Valladolid erschienen allerdings nur ein einziges Mal, obwohl sie im ersten Heft bereits die Beiträge späterer Ausgaben ankündigten und mit José M. Jover sowie anderen Historikern aus dem Umkreis des Consejo akademisch etablierte Autoren verzeichnen konnten. Die Zeitschrift

 Ebd., S. VIII.  Vicens: Progresos en el empeño, S. VII. Unweit von Valladolid liegt das Archivo General de Simancas, das seit dem 16. Jahrhundert die Archivalien der kastilischen Krone aufbewahrt. Es ist bis heute eines der wichtigsten Archive zur spanischen Monarchie im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.  o.A.: Palabras previas, in: Simancas. Estudios de Historia Moderna 1 (1950), S. IX.  Ebd.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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gehörte somit ebenfalls zu den gescheiterten Unternehmungen, die Vicente Palacio Jahre später in seinem Rücktrittsbrief an José M. Albareda bitter beklagen würde.¹⁰⁸ Die in finanzieller Hinsicht prekäre Lage, in der sich neue Zeitschriften in den 1950er Jahren befanden, erforderte neue Strategien, was insbesondere bei den EHM aus Barcelona aufgezeigt werden kann. Denn jenseits der „Mauern des Schweigens“, die Vicens in seinen Vorworten ansprach, stellte die Knappheit an Finanzierungsmitteln stets das größte Hindernis dar. Die EHM hatten zwar das placet der Direktion des Consejo, der als Mitherausgeber der Zeitschrift erschien. Dennoch mussten die Zuschüsse stets neu verhandelt werden, und zwar unter der Bedingung eines allgemein stagnierenden und sogar sinkenden Budgets. Wie aus den Briefen von Vicens an de la Torre hervorgeht, unterlagen die EHM nicht zuletzt einer strengen Aufsicht. Eine Durchsicht des Inhalts wurde gelegentlich zur Voraussetzung dafür gemacht, dass die Zuschüsse überhaupt − und damit stets nachträglich − ausgezahlt wurden.¹⁰⁹ Allein die Tatsache, dass sich Vicens weiterhin um ein gutes Verhältnis zu de la Torre und Cayetano Alcázar bemühte, erklärt eine gewisse Regularität in der Finanzierung der EHM durch den Consejo bis ins Jahr 1955.¹¹⁰ Die Prekarität machte es demnach erforderlich, nach alternativen Geldquellen zu suchen. Schon im Jahr 1950 konnte der katalanische Historiker eine, wie er an Albareda formulierte, „sehr bescheidene Subvention der Stadt Barcelona“¹¹¹ erlangen. Vicens’ Suche nach Finanzierungsmitteln außerhalb der Strukturen des CSIC brachte ihn ferner zu solchen öffentlichen Einrichtungen, die man hinter dem deklarierten Exponenten des esprit des Annales in Spanien kaum vermuten würde: Die Generaldirektion für Propaganda und Zensur des Innenministeriums, die von 1951 bis 1957 unter der Leitung von Florentino Pérez Embid stand. Des Öfteren hatte sich Vicens gegenüber Pérez Embid brieflich und auch öffentlich für

 Siehe dazu Kapitel I.3 (Ende).  Vgl. Brief von Jaume Vicens an Antonio de la Torre vom 11.6.1952, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 478 f.  Die Briefe an de la Torre und Alcázar zeugen von einem distanzierten, aber nicht angespannten Verhältnis. Die Korrespondenz beschränkte sich weitgehend auf ökonomische Aspekte, die sowohl die EHM als auch die IHE, das Studentenaustauschprogramm, Vicens’ Forschungsaufenthalte und Ähnliches betrafen. Wie aus den Briefen vom 17. 3.1953 und 11.6.1952 jeweils an Alcázar und de la Torre hervorgeht, erhielten die EHM außerordentliche Subventionen in Höhe von 17 500 Pst., die die Hälfte der Kosten der EHM für ein Jahr deckten. Ausreichend waren diese Mittel allerdings nicht. Die EHM wurden ferner bis 1955 und über die Lehrstuhlmittel und das CEHI finanziert. Siehe dazu die entsprechenden Briefe in: Episatolari, Bd. 2, S. 42 f. und S. 479.  Brief von Jaume Vicens an José M. Albareda vom 4. 5.1950, AGUN, Fondo Albareda, 006/021/ 040, ebenfalls erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2., S. 36.

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„das dauerhafte administrative Sorgetragen um die kulturelle Entfaltung“ Barcelonas bedankt.¹¹² Vicens meinte damit vor allem Pérez Embids Einsatz für die Beschleunigung und sogar für die Überbrückung mancher Zensurverfahren, für die der katholische Intellektuelle zuständig war und die sowohl Texte von Vicens als auch anderer katalanischer Autoren betrafen. Fast jeder Brief an den Generaldirektor und andalusischen Historiker enthielt die Bitte um den Eingriff in ein solches Verfahren.¹¹³ Im Oktober 1952 nahm Vicens einen dieser Briefe zum Anlass, um die Möglichkeit einer Subvention zu sondieren. Nachdem er die „katalanische Beteiligung an der Festigung der spanischen Werte“ zugesichert hatte, fragte Vicens, ob „die Generaldirektion, die Du leitest, mir nicht etwa bei der Finanzierung des zweiten Bandes der Estudios de Historia Moderna helfen könnte.“¹¹⁴ Obwohl es zum entsprechenden Zuschuss nicht kommen sollte – Pérez Embid kaufte lediglich eine größere Anzahl an Exemplaren¹¹⁵ –, muss dennoch die Tatsache erwähnt werden, dass sich Vicens bei der Suche nach alternativen Geldgebern an das franquistische Propaganda- und Zensurorgan wandte. Dies muss deswegen hervorgehoben werden, da es einerseits, wie schon zuvor, die Bedeutung informeller, über die Amtshierarchien hinausreichender Netzwerke für den Aufbau und die Etablierung wissenschaftlicher Vorhaben verdeutlicht. Andererseits zeigt dieses Beispiel aus der Finanzierungsgeschichte der EHM erneut, dass die Konflikte mit dem Consejo keinesfalls die Kooperation mit anderen, in strategischer Hinsicht nützlichen Einrichtungen des Franco-Regimes ausschlossen. Eine wie auch immer geartete allgemeine politisch-ideologische Diskonformität lässt sich aus Vicens’ Konflikte mit dem Consejo demnach nicht herleiten.¹¹⁶

 Vicens: Expectativa castellana ante Cataluña, S. 455.  Vicens bemühte sich in seinen Briefen an Pérez Embid stets um eine in politischer Hinsicht unverdächtige Deutung der Texte, für die er seinen Freund um Unterstützung beim Zensurverfahren bat. Viele der Werke und Artikel waren in der Tat politisch unverdächtig, sodass Vicens’ Bitte meistens, nicht zuletzt aus verlegerischen Gründen, auf die Beschleunigung eines administrativen Verfahrens hinzielte. Vgl. Jaume Vicens’ Briefe an Florentino Pérez Embid im AGUN, Fondo Florentino Pérez Embid, eine Auswahl davon auch in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 313 – 328.  Brief von Jaume Vicens an Florentino Pérez Embid vom 19.10.1952. AGUN, Fondo Pérez Embid, 003/004/144.  Vgl. Brief von Jaume Vicens an Florentino Pérez Embid vom 8.9.1952, AGUN, Fondo Pérez Embid, 003/004/156.  Am deutlichsten tritt diese Deutung zu Tage bei Borja de Riquer: Apogeo y estancamiento de la historiografía contemporánea catalana, in: Historia Contemporánea 7 (1992) S. 117– 134, hier vor allem S. 118 – 121.

4.2 Die Estudios de Historia Moderna als Sprachrohr der katalanischen Schule

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Vicens‘ Rücktritt im Jahr 1956 von der Leitung des Zurita in Barcelona sollte die Estudios de Historia Moderna und den CEHI als Ganzes vor noch gravierendere finanzielle Probleme stellen, da die Mittel aus dem Consejo nun vollends wegfielen. Zwischen 1956 und 1960 erschienen nur noch zwei Bände. Dank seiner Kontakte zum katalanischen Industriebürgertum konnte Vicens das Chemieunternehmen S.A. Cros dazu bewegen, Band 5 der EHM (erschienen 1957) mitzufinanzieren. Im Vorwort zu diesem vorletzten Band, in dem sich die Hälfte der Beiträge auf die eine oder andere Weise mit dem katalanischen Industriebürgertum beschäftigte, legte Vicens die Abkehr vom Consejo als Zeichen einer allgemeinen Wende hin zur Wissenschaftsförderung durch (Industrie)Unternehmen aus, die dadurch eine „im Ausland“ vorherrschende Tendenz aufgreifen würden: „Der vorliegende Band dieser Zeitschrift erscheint mit einiger Verspätung. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon [stellt] das Ende der Kooperation zwischen der Escuela de Historia Moderna des C.S.I.C. und dem Centro de Estudios Históricos Internacionales dar. Glücklicherweise wurden wir von einem Unternehmen gesponsert, das mit seinem Namen unsere heutige spanische Chemieindustrie ehrt: S.A. Cros, einer der tragenden Säulen bei der agrarwirtschaftlichen Erneuerung der iberischen Halbinsel im 20. Jahrhundert. Indem es dem Vorbild anderer Körperschaften des Auslands folgt, die im Handel, in der Industrie und im Finanzbereich tätig sind, pflegt auch S.A. Cros ein großzügiges Mäzenatentum, das darauf zielt, die Forschung in Wissenschaft und Technik auf höchstem Niveau zu fördern.“¹¹⁷

Die Industrie − und vor allem ihre sozialen Träger − wurde in diesem Band zu einem privilegierten Gegenstand der Forschung. Sie erschien gleichsam als Förderer und Träger jener Wissenschaft, die in den EHM, so ihr Herausgeber, „auf höchstem Niveau“ stattfand. Zwar besaß Vicens durchaus die Zuversicht, im katalanischen Industriebürgertum nicht nur den eigentlichen Protagonisten der Neuesten Geschichte Spaniens, sondern auch die Stütze für die neueste Geschichtsschreibung zu finden.¹¹⁸ Was die EHM anging, sollte sich jedoch die Gefahr bewahrheiten, die Emili Giralt in einem Brief vom Februar 1955 an Joan Mercader erkannte: „Ich sehe schon, dass Dr. Vicens optimistisch ist. So sehr, dass er von Lorbeerkronen spricht… Ich glaube nicht an den Triumph des C. d’E.H.I., und noch viel weniger, wenn dieser von der Großzügigkeit und dem Enthusiasmus unseres Bürgertums abhängen soll. Etwas

 Jaume Vicens: Punto y aparte, in: EHM 5 (1955) [1957], S. V–VII, hier S. VII.  So gab er im Jahr 1956 in Destino bekannt, dass die Industriekammer von Barcelona ein jährliches Stipendium für die Erforschung der Geschichte der Industrie in Barcelona bewilligt hatte. Vgl. Jaume Vicens: La Cámara de Industria de Barcelona y la investigación histórica, Destino, 18. 2.1956, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 473 – 475.

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anderes wäre es, wenn er es, wie er vorhat, an die Universität und den Consejo binden könnte.“¹¹⁹

Doch mit dem Ende der Kooperation zwischen dem CEHI und dem Consejo im Jahr 1956 stand der „Triumph“ des CEHI mehr denn je in Frage. Die EHM würden im oben zitierten Band noch auf die „Großzügigkeit“ des „Bürgertums“ zählen können. Das sechste und letzte Heft der EHM erschien jedoch im Jahr 1960, nach Vicens Tod, ohne Vorwort und ohne ‚Sponsor‘.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie: Der Índice Histórico Español und die „Eroberung der spanischen Hochebene“ Sowohl der CEHI als auch die EHM bildeten zwei zentrale und für das Profil und die innere Kohäsion der Gruppe um Vicens wichtige Organe der Escola de Barcelona. Die „Mauern der Stille“, die finanziellen Notlagen und nicht zuletzt Vicens’ polemische Sprache verhinderten jedoch weitgehend, dass sie als effektive Plattformen für den Versuch fungieren konnten, die Gewohnheiten des spanischen Historikerfelds zu verändern. Ein drittes Organ war jedoch in dieser Hinsicht weitaus erfolgreicher. Im dritten Band der EHM informierte Vicens seine Leser nämlich über eine neue, aber dennoch bereits überaus „erfolgreiche Vierteljahrespublikation“. Im März 1953 war der Indice Histórico Español aus dem „mütterlichen Schoß“, das heißt aus dem Arbeitskreis der EHM hervorgegangen, und hatte die ‚Estudios de Historia Moderna‘ durch [seine] die ausufernde Popularität in die Ecke gedrängt.“¹²⁰ Der IHE würde, wie Vicens im Zitat richtig prognostizierte, das wirkungsmächtigste und zugleich arbeitsintensivste Projekt des CEHI werden. Von Vicens koordiniert, sammelte diese kommentierte Bibliografie zur spanischen Geschichte im ersten Jahr siebenundvierzig, später fast zweihundert Mitarbeiter um sich und erreichte nach wenigen Jahren weitgehend ihr Ziel, „einen Katalog der historiografischen Neuigkeiten“ darzustellen, der „nicht nur Titel und Charakteristika der veröffentlichten Werke und Aufsätze“ enthielt, sondern auch über „Inhalt und wissenschaftlichen Wert“ informierte.¹²¹ In den kommenden Jahren wurden sowohl Quelleneditionen, Monografien und Zeitschriftenaufsätze, als auch Rezensionen aus dem In- und Ausland aufgeführt.

 Brief von Emili Giralt an Joan Mercaer vom 23. 2.1955, PNEG, Correspondencia Mercader.  Vicens: Al cabo de tres años, S. VII.  Jaume Vicens: Presentación, in: IHE 1 (1953 – 1954), S. 1– 4, hier S. 1.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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Etwa im Sinne einer histoire totale erstreckte sich die Aufgabe des IHE, so der Herausgeber, auf den gesamten „Komplex der menschlichen Tätigkeiten in der Vergangenheit“.¹²² Publikationen zur Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wurden ebenso besprochen wie solche, die sich der Geschichte der spanischen Literatur, Kunst oder Philosophie widmeten. „Der Índice als ein Werk von allen und für alle“¹²³ – so bezeichnete Vicens im zweiten Heft das Profil einer Publikation, die sich im Gegensatz zu den EHM eher „kooperativ“ als „kämpferisch“ gab und keinen spezifisch katalanischen, sondern einen explizit gesamtspanischen Schwerpunkt legte. Zwar gab es zu Beginn der 1950er Jahre bereits einige Bibliografien, die mit einem gewissen Vollständigkeitsanspruch die historiografische Produktion in Spanien erfassten.¹²⁴ Der IHE stellte dennoch die erste laufende Bibliografie dar, die sich ausdrücklich der historischen Forschung widmete und nicht nur ihre Titel aufführte, sondern darüber hinaus Auskunft über die entsprechenden Inhalte gab.Von 1953 bis 1960 verzeichnete sie insgesamt über 34 000 Einträge, womit sie angesichts fehlender Alternativen und allein aufgrund ihres Gebrauchswerts das Potential dazu besaß, zu einem unverzichtbaren Werkzeug für den Spanienhistoriker zu werden. Der IHE gelangte in die meisten spanischen und in eine Vielzahl ausländischer Bibliotheken und wurde sowohl von Privatpersonen als auch von öffentlichen Einrichtungen abonniert.¹²⁵ Wie der Generaldirektor für Archive und Bibliotheken, Javier Lasso de la Vega (1892 – 1990), im Jahr 1960 an Jaume Vicens schrieb, schnitt die Madrider und damit die größte Universitätsbibliothek Spaniens sogar die Einträge aus, um sie in die Karteikarten ihres eigenen Katalogs einzukleben.¹²⁶ Es wäre jedoch irreführend, den Erfolg des IHE nur unter dem Gesichtspunkt seines Gebrauchswerts zu untersuchen. Die Gründe für die Ausbreitung von Vicens’ editorischem Großprojekt lagen nämlich auch in einer gewissen Ökonomie der Kritik, in bestimmten Vermarktungsstrategien, in der Ausweitung von akademischen und nicht-akademischen sowie nationalen und internationalen  Ebd., S. 3.  Jaume Vicens: Precisiones en torno a nuestra obra, in: IHE 1 (1953 – 1954), S. 101.  Dazu gehörten vor allem die jährlich erscheinende Bibliotheca Hispana und die Bibliografie von M. Dolores Gómez: Bibliografía histórica española, 1950 – 1954, Madrid 1955. Beide wurden vom Institut Nicolás Antonio für die Bibliografie des CSIC herausgegeben. Siehe dazu Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 214– 226.  Das Archiv des CEHI bewahrt die Verwaltungskorrespondenz des IHE mit den vielen Abonnenten. Teilweise liefen diese Abonnements aber auch über den Verlag Teide, der sich an dem Unternehmen in großem Maße beteiligte. Vgl. ACEHI, Fondo IHE, insbesondere IHE 1 bis 5.  Siehe dazu den Brief von Javier Lasso de la Vega an Jaume Vicens vom 28.5.1960, ACEHI, Fondo IHE 5, Carpeta 1, Años 1959 – 1961, H–L.

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Netzwerken und schließlich in seiner symbolischen Koppelung an Vicens und seine Escola. Letzteres unterstrich Vicens von Beginn an, und zwar ungeachtet des ‚ökumenischen‘ Profils der neuen Publikation. Nachdem er im Vorwort zum ersten Heft bei den übrigen Zeitschriften das Fehlen „jeglicher bibliografischer Ambitionen“ festgestellt hatte, bekräftigte er auch hier den „Glauben“ an die Kohäsion und „Vitalität“ seiner „Schule“: „Es war nötig, dass sich im Historischen Seminar und um das Centro de Estudios Históricos Internacionales der Universität Barcelona eine enthusiastische Gruppe […] bildete, damit überhaupt die Idee aufkommen konnte, die erläuterte Aufgabe in Angriff zu nehmen […]. Solch ein Ursprung macht aus unserem Vorhaben einen Glaubensakt, aus dem dieselbe Zuversicht spricht, die wir bei der Vermarktung unserer Zeitschrift ‚Estudios de Historia Moderna‘ besaßen. Dieser Glaubensakt stellt dabei erneut die Vitalität der Historischen Schule von Barcelona unter Beweis […].“¹²⁷

Vicens beschwor erneut das Prinzip der „Authentizität […], die in den Seiten unserer Zeitschrift“¹²⁸ vorherrschen würde. Das Segelschiff, das schon beim CEHI dem Kampf gegen die „eisigen Winde“ symbolischen Ausdruck verlieh, schmückte nun die Titelseite der neuen Bibliografie. Der IHE entsprang der „katalanischen Schule“, doch beinhaltete sein Entwurf, anders als derjenige der EHM, keinen Umsturz der bekannten historiografischen Herangehensweisen. Die chronologische Gliederung begann mit der Alten Geschichte und endete mit den Publikationen zum 20. Jahrhundert, ohne eine weitere Einteilung etwa in Sozial-, Wirtschafts-, oder Politikgeschichte vorzunehmen. Eine Sektion zur histoire historisante, wie sie bei den Annales ESC zu finden war, wurde für den IHE nicht übernommen.¹²⁹ Ferner gaben die Herrschaft der Katholischen Könige und das Zeitalter der Habsburger Monarchie weiterhin die Periodisierung vor. Das spanische Kolonialreich stellte einen Sondergliederungspunkt dar. Die neue Bibliografie schloss somit ihrer Struktur nach an die Kriterien der bestehenden spanischen Geschichtswissenschaft an, ohne einen kategorialen Neuentwurf der spanischen Geschichte programmatisch einzufordern. Trotz der strukturellen Anpassung an die Erwartungen des professionellen Umfelds und nicht zuletzt auch an die Ordnung, die aus der historiografischen Produktion selbst hervorging, besaß der IHE dennoch auf eine andere Weise ein durchaus polemisches Potential. Die Absicht, über den „intrinsischen Wert“ und

 Vicens: Presentación, S. 1.  Ebd., S. 2.  Diese Kategorie wird als Klassifikationskriterium in der Sektion Livres signales verwendet.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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über den „Stand“ der rezensierten Studien zu informieren, wurde nämlich anhand einer Werteskala umgesetzt, die zunächst in fünfzehn Stufen aufgeteilt war und dem Benutzer eine schnelle Orientierung über die Brauchbarkeit des aufgeführten Titels ermöglichen sollte. Die Arbeiten konnten unter anderem als „grundlegend“, „wichtig“ und „bedeutend“, aber auch als „oberflächlich“, „tendenziös“ oder „unnötig“ bewertet werden. Den einzelnen Einträgen war meist ein Symbol beigestellt, das beispielsweise mit drei Punkten den „grundlegenden“ oder aber mit einem Kreuz den „unnötigen“ Charakter des Beitrags visuell hervorheben sollte. Vicens und die Mitarbeiter des IHE konnten so das Feld historiografischer Produktionen entlang ihrer eigenen Kriterien ordnen. Punkte, Kreuze, Kästchen und Rauten markierten, was in der Geschichtswissenschaft als bedeutend oder unbedeutend einzustufen war. Das polemische Potential dieser Bibliografie war also nicht nur in den teilweise kritischen Einträgen begründet: Die Werteskala eröffnete die Möglichkeit, die spanische historische Forschung gemäß des neuen espíritu zu hierarchisieren.¹³⁰ Eine genauere Betrachtung des ersten Hefts zeigt allerdings, dass dieses Potential nur bedingt ausgeschöpft wurde.¹³¹ Von den tausend aufgeführten Titeln erhielten nur neununddreißig das Prädikat „oberflächlich“ und nur zwei wurden als „unnötig“ eingestuft. Keiner dieser Titel stammte aus der Feder einer in wissenschaftlicher oder wissenschaftspolitischer Hinsicht relevanten Person oder war beispielsweise in den Zeitschriften Arbor oder Hispania publiziert worden. „Tendenziöse“ Artikel schienen die Redakteure trotz der Berücksichtigung teils franquistisch-apologetischer Schriften nicht vorgefunden zu haben.¹³² Der IHE folgte auch keinem klaren Kriterium, wonach etwa rein politik- oder ideengeschichtliche Werke hätten schlechter abschneiden müssen als diejenigen, die dem deklarierten espíritu der Schule von Barcelona näher standen. So handelte es sich bei den sieben Titeln, an die drei Punkte vergeben wurden, meist um quellenbi-

 Weitere mögliche Prädikate waren „interessanter Beitrag“, „nützliche Daten“, „Daten“, „brauchbar“, dann „Forschungsstand“, „neue Betrachtungsweise“, „informativ“, „Handbuch“, und „populärwissenschaftlich“. Vgl. Vicens: Presentación, S. 3.  Der Aussage Miguel A. Maríns, wonach der IHE eine für spanische Verhältnisse neuartige Klassifikation der historischen Gegenstände verbreitete, kann auf der Basis der Auswertungen, die für diese Untersuchung unternommen wurden, nicht zugestimmt werden. Vgl. Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 219.  So beispielsweise Vicens’ Rezension zu B. Félix Maiz: Alzamiento de España. De un diario de la conspiración, Pamplona 1952. Dieses autobiografische Werk zum ‚nationalem Aufstand’, wie der Autor im Einklang mit der franquistischen Propaganda die ersten Monate des Bürgerkrieges bezeichnete, wurde als „interessanter Beitrag“ eingestuft und seine Nützlichkeit als Quelle für die Erforschung des spanischen Konfliktes hervorgehoben. Vgl. IHE 1 (1953 – 1954), S. 90.

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bliografische Werke oder bereits anerkannte Monografien.¹³³ Vicens’ Aproximación a la Historia de España wurde von seinem Schüler Román Gubern sogar mit einem dem bekundeten Anspruch nach sehr bescheidenen „interessanter Beitrag“ versehen. Im Allgemeinen und somit auch in den Bänden nach 1953 hing das Ausmaß der Kritik am rezensierten Werk eher vom Rezensenten als von einem für den ganzen IHE festgelegten Profil ab.¹³⁴ Ein bestimmtes Denkkollektiv kam im IHE nicht zum Ausdruck. Dennoch enthielt vor allem das erste, prototypische Heft gewisse Ansätze einer Hierarchisierung der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Einerseits erhielten bestimmte Studien – allerdings nur von Vicens – im Anschluss an die Rezension den Zusatz „aktuelle Methode“¹³⁵, womit zugleich die Existenz einer ‚überkommenen Methode‘ vorweggenommen wurde. Andererseits spiegelten sich in den von Vicens verfassten Beiträgen auch eindeutig seine Präferenzen wider. Beispielsweise sprach er in seinem Kommentar zu Ferran Soldevilas jüngst erschienener Historia de España von der „darstellenden Erzähltechnik romantisierender Herkunft“¹³⁶, oder er fügte anderen Besprechungen den Zusatz „rein ideengeschichtlich“¹³⁷ bei. Zuweilen musste die Redaktion noch Ende der 1950er Jahre auf einlaufende Beschwerden von Autoren antworten, die mit der Einstufung ihrer Arbeiten nicht einverstanden waren. Dies tat die Redaktion des IHE allerdings mit Verweis auf eine vermeintliche Ranghierarchie historischer Forschungen: Dalmiro de la Valgoma (1904– 1990) etwa, Mitglied der Real Academia de la Historia mit einer besonderen Vorliebe für Genealogie und Heraldik, erhielt

 Für die Geschichte der spanischen Neuzeit erhielten zwei Publikationen dieses Prädikat: Benito Sánchez Alonso: Fuentes de la Historia española e hispanoamericana. Ensayo de bibliografía sistemática de impresos y manuscritos que ilustran la historia política de España y sus antiguas provincias de Ultramar, 3 Bde., Madrid 31953, Gregorio Marañón: El Conde-Duque de Olivares (La pasión de mandar), Madrid 31952. Vgl. IHE 1 (1953 – 1954), S. 12 f. und S. 74.  Ein eindeutiges Beispiel dafür bieten die unterschiedlichen Bewertungen von Jorge Pérez Ballestar und Vicens jeweils zu Henri Berr: La synthèse en Histoire. Son rapport avec la synthèse générale, Paris 1953 und Lucien Febvre: Combats pour l’Histoire, Paris 1952. Während Pérez den „absoluten, übernächtigt-comptianischen Evolutionismus“ von Berr und sein „dogmatisches“ Eintreten für Bloch, Febvre und Braudel gegen Huizinga und Toynbee kritisierte, forderte Vicens seine Kollegen auf, Febvres „kämpferisches Werk“ unbedingt zu lesen. IHE 1 (1953 – 1954), S. 187 und IHE 2 (1955 – 1956), S. 2.  Dies galt für zwei Artikel seiner Schüler, Emili Giralt und Joan Mercader, und für zwei Untersuchungen des andalusischen Wirtschaftshistorikers Ramón Carande. Siehe dazu die Einträge 766, 833, 660 und 936, in: IHE (1953 – 1954).  Jaume Vicens: Rez. zu Ferran Soldevila: Historia de España, 8 Bde., Barcelona 1952– 1968, Bd. 1 [1952], in: IHE 1 (1953 – 1954), S. 9.  So beispielsweise den verschiedenen Arbeiten zum 19. Jahrhundert des katholisch-traditionalistischen Historikers Federico Suárez Verdaguer. Siehe dazu IHE 1 (1953 – 1954), S. 82.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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im Juli 1959 auf eine entsprechende Beschwerde hin die folgenden Antwort: „[E]s ist wohl offensichtlich, dass genealogische Forschungen für die heutige Geschichtswissenschaft im Allgemeinen zwar notwendig, aber keinesfalls erstrangig sind […].“ De la Valgoma war besonders darüber verärgert, dass seine Monografie zu Los Saavedra Fajardo en Murcia in einem, wie der Autor erinnerte, „internationalen Preisausschreiben“ den ersten Preis gewonnen hatte und dennoch nur mit einem „Kreis“ für „neue Daten komplementären Charakters“ versehen worden war. Seine Publikation müsse – nicht nur er würde dies so sehen – einen höheren Rang in der historiografischen Hierarchie einnehmen.¹³⁸ De la Valgomas Beschwerde war nur eine unter vielen. Die Reaktionen auf den IHE ließen nämlich nicht auf sich warten, gleichwohl diese auch hier nicht in Form öffentlicher Debatten, sondern vielmehr privater Anschreiben an die Redaktion und vor allem an den Herausgeber artikuliert wurden. Das Redaktionsteam des IHE schrieb im Jahr 1953 hunderte Forscher sowie Leiter öffentlicher und privater Einrichtungen an – von Universitätsbibliotheken über Museen bis hin zu Kulturinstituten und Gymnasien–, um die neue Bibliografie zu vermarkten. Dies galt auch für die Lehrstühle und kulturellen Einrichtungen mit Spanienbezug sowie für die Spanischlektoren, die sich im Ausland befanden.¹³⁹ Dabei bot sich dieses bibliografische Unternehmen nicht nur an. Es drängte sich durch eine aggressive Vermarktungsstrategie förmlich auf. Zusammen mit einem Auszug aus dem ersten Heft wurde ein Formular mitgeschickt, das den potentiellen Abonnenten darüber Auskunft gab, dass, sollte keine schriftliche Absage erfolgen, ein Kaufvertrag für die folgenden Ausgaben zustande kommen würde.¹⁴⁰ Jenseits der Reaktionen auf die Inhalte führte diese erste Offensive, die IHE an den Markt zu bringen, zu mehr oder weniger empörten Absagen.¹⁴¹ Viele Verlage verweigerten die Zusammenarbeit mit dem IHE, sei es wegen der Kosten oder wegen einer unterschiedlich motivierten Distanz zum Herausgeber. Beispielsweise sandte der Verlag Ediciones Atlas, der die Arbeiten vieler Mitglieder der Real Academia de la Historia und anderer namhafter Historiker publizierte, dem IHE bis in die 1960er Jahre kein einziges Rezensionsexemplar.¹⁴² Die Mitarbeiter des IHE waren daher

 Die Beschwerde von Dalmiro de la Valgoma vom 11.7.1959 und die Antwort der Redaktion des IHE [Jordi Rubió], o.A., in ACEHI, Fondo IHE, IHE 5, Carpeta 1, Años 1959 – 1961, H–L.  Vicens hatte im Jahr 1953 eine entsprechende Liste bei der Generaldirektion für kulturelle Beziehungen des Außenministeriums angefordert. Siehe dazu den Brief von Jaume Vicens an Ramón Borrás vom 26. 3.1953, in ebd.  Siehe dazu das Formular in ACEHI, Fondo IHE, IHE 2, Carpeta 2, Año 1953, A–C.  Die zahlreichen Absagen sind über die Korrespondenzmappen des IHE im ACEHI verteilt.  Vgl. den Brief von Jordi Rubió, Redaktionsleiter des IHE, an Ediciones Atlas vom 26. 2.1960. In diesem Verlag publizierte unter anderem Ciriaco Pérez Bustamante, Professor an der Univer-

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nach eigenen Angaben sogar dazu gezwungen, sich fast alle Texte über Bekannte oder über öffentliche Bibliotheken zu besorgen.¹⁴³ Doch es war vor allem das polemische Potential der Bibliografie – die in ihr gefällten Urteile und die Werteskala –, das eine deutliche Abwehrhaltung, einige Solidaritätsbekundungen und manch eine Warnung hervorrief. So richtete der stellvertretende Direktor des Archivo de Indias in Sevilla, José M. de la Peña (1897– 1994), Vicens seine „Glückwünsche“ für das neue Unternehmen aus, für das ein „dringender Bedarf“ bestehen würde: „[A]ber wenn Sie damit fortfahren, kreuz und quer Peitschenhiebe zu verteilen, und zwar unabhängig davon, wer dabei draufgeht, […] wird es einige geben, die sehr darauf achten werden, dass sie nicht auf dem ‚Index‘ landen!“¹⁴⁴ De la Peña machte durch dieses Wortspiel, das eine Parallele zwischen dem Indice Histórico Español und dem Index Librorum Prohibitorum zog, auf ein zentrales Problem aufmerksam. Vicens und seine Mitarbeiter würden sich eine Autorität anmaßen, die viele Kollegen ihnen nicht bereit waren zuzusprechen. In einem Feld, das Debatten weitgehend vermied, einen Stil kollegialer Gelehrsamkeit pflegte und sich durch ein klares Autoritätsdenken auszeichnete, war diese Form der Anmaßung gravierend. Dies ging auch aus dem Brief hervor, den noch im selben Jahr ein junger Vertreter der Berufsständischen Kammer für Doktoren und Akademiker der Geistes- und Naturwissenschaften in Valencia an den „maître“ aus Barcelona schrieb. Der IHE sei zwar unter den Dekanen der Universität Valencia gut aufgenommen worden, aber „sicherlich bestehen Grüppchen, deren Mitglieder der Meinung sind, dass ihre Produktion mit einer allzu kritischen Strenge bewertet wird; Sie können sich vorstellen, wie der Hase läuft. Sie sind dabei, die ‚Etablierten‘ ‚anzugreifen‘ und eine wahre historiografische Revolution [anzustoßen], die wir bitter nötig hatten. Die Jugend steht auf Ihrer Seite. Adelante…“¹⁴⁵

Es ist nicht möglich abzuschätzen, inwiefern die jüngeren Historikergenerationen tatsächlich dem IHE zur Seite standen. Viele derjenigen, die für den IHE Beiträge verfassten, gehörten durchaus einer jüngeren Generation an. Andere waren jedoch, wie weiter unten gezeigt wird, im spanischen Historikerfeld längst arriviert.

sidad Central und ständiges Mitglied der Berufungsausschüsse bei den oposiciones zu Lehrstühlen in ganz Spanien. ACHEI, Fondo IHE, IHE 4, Carpeta 4, Años 1959 – 1961, A–C.  Siehe dazu die Unterlagen in ACEHI, Fondo IHE, IHE 5, Carpeta 2, Años 1959 – 1961, M–P.  Brief von José de la Peña an Jaume Vicens vom 3. 8.1953, ACHEI, Fondo IHE, IHE 2, Carpeta 2, Año 1953, A–C, unterstrichen im Original.  Handgeschriebener Brief des Schatzmeisters (Name unlesbar) des Colegio Oficial de Doctores y Licenciados en Filosofía y Letras y en Ciencias de Valencia, ACEHI, Fondo IHE, IHE 2, Carpeta 3, 1953, D–G.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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Einer jener „Etablierten“, die sich durch den IHE „angegriffen“ fühlten, war der Soziologe und Leiter des CSIC-eigenen Instituto Balmes de Sociología, Carmelo Viñas Mey. Die von ihm in vier Bänden herausgegebenen Estudios de Historia Social de España (1949 – 1960) gehörten zu den ersten Versuchen, Aspekte der spanischen Geschichte aus soziologischer Perspektive zu beleuchten.¹⁴⁶ Viñas Mey hatte von der Redaktion als Werbeaktion einen Auszug aus einem der Hefte des IHE erhalten. Dort war einer der Beiträge aus dem zweiten, im Jahr 1952 erschienen Band der Estudios de Historia Social kritisch gewürdigt worden. Dies bewegte den Madrider Soziologen zu einer klaren Stellungnahme: „[e]s ist unabdingbar, der wissenschaftlichen Redlichkeit Tribut zu zollen und auf Ressentiments sowie persönliche oder ideologische Feindschaften zu verzichten. So haben Sie beispielsweise aus dem zweiten Band denjenigen Beitrag rausgesucht, der den geringsten Wert besitzt, den eines Anfängers, und dabei von denjenigen abgesehen, aus denen eine größere Autorität spricht, und zwar mit dem absichtlichen Ziel, einen falschen Eindruck zu vermitteln. Darin äußert sich eine Geschicklichkeit, die sich im lokalen Rahmen eines kleinen Dorfes […] erklären ließe, jedoch für das Universitätsvolk unschicklich ist. Betrachten Sie mich daher nicht als Abonnenten des Índice, und ich bedauere es, da es sich um eine Publikation handelt, der Spanien wirklich bedarf. Sollten Sie in Zukunft, was zu wünschen wäre, auf solche Vorgehensweisen verzichten, würde die Publikation einen beträchtlichen Erfolg haben.“¹⁴⁷

Vicens und die Redaktion des IHE sahen sich gerade zu Beginn immer wieder dazu gezwungen, kritische Besprechungen, Auslassungen oder für das Prestige des Autors abträgliche Symbole zu erläutern oder zu rechtfertigen. Vicens musste daher schon im zweiten Heft eine Kurskorrektur ankündigen: „[…] von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben unsere Leser sich darin geirrt, dass sie in unseren Einschätzungen einen Preis für Intelligenz oder Kompetenz erkannt haben […]. Nein, kategorisch nein. Wir haben uns nicht zum Gericht erhoben, das über Erfolg oder Misserfolg urteilt […].“¹⁴⁸ Doch genau das taten sie, zumindest aus der Sicht vieler Historiker und vor allem der „Etablierten“. Vicens verteidigte das neue Projekt und unterstrich „das Ziel, das wir anstreben: Den Índice als ein Werk von allen und für alle.“ Man werde, so Vicens, auf die Werteskala nicht verzichten, aber doch „die Veränderungen, die uns vorgeschlagen wurden“¹⁴⁹, berücksichtigen.

 Vgl. Carmelo Viñas Mey (Hrsg.): Estudios de Historia Social de España, 4 Bde., Madrid 1949 – 1960.  Brief von Carmelo Viñas Mey an die Redaktion des IHE vom 27. 5.1953, ACEHI, Fondo IHE, IHE 2, Carpeta 5, 1953, N–Z.  Vicens: Precisiones en torno a nuestra obra, S. 102.  Ebd., S. 101– 102.

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Das Ergebnis dieser Veränderungen war eine stufenweise Entschärfung des polemischen Potentials.Wie im Jahr 1961 der Redaktionsleiter des IHE, Jordi Rubió (1926 – 1988), rückblickend an Mercader schrieb, war „[d]ie Angelegenheit mit den Zeichen […] wirklich heikel“ gewesen. Schon zu Vicens’ Lebzeiten hätte man sich dafür entschieden, die Werteskala „konservativer“ zu gestalten.¹⁵⁰ Der Zusatz „aktuelle Methode“ wurde beispielsweise schon im zweiten Heft nicht mehr verwendet und in den Jahren 1955/1956 modifizierte man die Skala so, dass jede Wertung, bis auf eine, den verzeichneten Titel entweder positiv oder gar nicht bewerten konnte.¹⁵¹ Das Spektrum wurde von den anfänglichen fünfzehn auf zehn und schließlich auf vier Zeichen reduziert, gleichwohl sich die Herausgeber auch bei dieser reduzierten Anzahl ihres hierarchisierenden Potentials bewusst waren.¹⁵² Zwar sprach aus den Einträgen, die Vicens und seine engsten Mitarbeiter verfassten, weiterhin die Präferenz für wirtschafts- und sozialgeschichtliche Herangehensweisen neuen Stils sowie die Kritik an rein ideen- oder politikhistorischen Ansätzen.¹⁵³ Doch vermied man auf bestimmten Feldern bewusst, den IHE als Plattform für polemische Positionsnahmen zu nutzen. Dies galt vor allem für die zwei großen intellektuellen und historiografischen Debatten der 1940er und 1950er. Sämtliche Beiträge von Rafael Calvo Serer, Florentino Pérez Embid oder Laín Entralgo zur Kontroverse um das ‚Problem Spaniens‘ wurden sachlich zusammengefasst und mit dem Zeichen für „neue Betrachtungsweise“ versehen, gleichwohl sich Vicens auf die Seite der katholischen Traditionalisten geschlagen hatte. Ähnliches traf auch für die Debatte zu, die zwischen Americo Castro und Claudio Sánchez Albornoz ausgetragen wurde und welche die Frage nach dem Einfluss der ‚drei Kulturen‘ (christliche, jüdische und muslimische) auf die ‚Genese der spanischen Nation‘ problematisierte. Wie Rubió an Mercader im No-

 Brief von Jordi Rubió an Joan Mercader vom 31.5.1961, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Correspondencia Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Die Skala konnte nur noch gravierende „Verzerrung[en] des Themas“ vermerken. Im ersten Heft von 1955 wurde das entsprechende Zeichen allerdings bei über tausend Titeln nur zwei Mal verwendet. Bezeichnend ist jedoch, dass den meisten Einträgen nun keinerlei Zeichen beigefügt wurde. Die neue Skala ist in IHE 2 (1955 – 1956), S. II abgebildet.  Nach einer Redaktionssitzung vom Mai 1961 fasste Jordi Rubió die übrig gebliebenen Zeichen für einen Mitarbeiter wie folgt zusammen: „‚großes Feuerwerk’ (Kreis, aber allein), ‚einzelne Angaben + Geistesblitz’ (Raute), ‚einzelne Angaben’ (Zeichen, schwärzer als bisher), ‚Geistesblitz’ (alle drei Zeichen zusammen).“ Brief von Jordi Rubió an Guillermo Céspedes del Castillo vom 9.5. 1961, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.  Interessanterweise finden sich immer wieder Besprechungen zu signifikanten Werken ausländischer Historiker – viele von ihnen aus dem Kreis der Annales –, deren Inhalt sich nicht auf Spanien bezog, sondern Debatten oder neue Positionen wiedergaben. So beispielsweise zu Febvre, Vilar, Meuvret und Le Goff.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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vember 1959 schrieb, entsprang auch hier die Zurückhaltung des IHE einer klaren Strategie: „Unser Kriterium bestand in dieser Angelegenheit darin, die Debatte mit viel Vorsicht zu behandeln, ohne Zeichen und ohne in irgendeiner Weise Partei zu ergreifen: Die Debatte ist an einem Punkt angekommen, an dem sie überhaupt kein historisches Interesse mehr besitzt, und es ist wirklich zu bedauern, dass zwei Personen mit einem solchen Ansehen, wie Castro und Sánchez Albornoz es sind, an diesem Punkt angelangt sind. Außerdem geben die Verlage die Repliken immer wieder aufs Neue heraus, um Geld zu machen. Blähten wir sie auch noch zusätzlich auf, würde dies alles nur noch schlimmer machen.“¹⁵⁴

Dieser strategische Umgang mit Kritik bedeutete also keineswegs, dass der IHE eine neutrale Position einnahm. Zwar verhielt sich der IHE äquidistant. Doch war dies Ausdruck einer allgemeinen Zurückhaltung gegenüber einer Debatte, die sich in den Augen der Redaktion und vor allem für Vicens, der die Einträge in den meisten Fällen verfasste, von der Geschichte als Wissenschaft fortbewegt hatte. Oder besser gesagt: Erkennt man den IHE als ein effektives Instrument zur Festlegung dessen, was zur Geschichte als Wissenschaft gehören sollte, so war es nicht die Debatte, die sich von der historischen Forschung fortbewegt hatte. Das Feld historischer Forschung selbst wurde vielmehr von der Redaktion des IHE auf eine Weise neu abgesteckt, die die Auseinandersetzung zwischen Sánchez Albornoz und Américo Castro aus dem Kreis des wissenschaftlich Relevanten ausschloss. Zusammen mit dem polemischen Potential des IHE ließ auch Vicens’ aktive Teilnahme an der Rezensionsarbeit mit den Jahren allmählich nach. Seine Rolle im IHE konzentrierte sich zunehmend – sieht man von den Vorworten ab – auf Koordinationsaufgaben wie die Gewinnung neuer Mitarbeiter und die Suche nach strategischen Stützpunkten. Damit verfolgte er die Expansion einer Bibliografie, mit der er laut eines Briefes an den katalanischen Intellektuellen Josep Ferrater Mora (1912– 1991) „einen Großteil der iberischen Hochebene erobert“¹⁵⁵ hatte. War die internationale Mitarbeit am CEHI und an den EHM dem Ausmaß ihrer Tätigkeit nach entsprechend gering, so wurde der IHE zu einer wichtigen Plattform im Hinblick auf die Ausweitung internationaler Netzwerke. Vicens warb unter anderem Historiker aus Frankreich, England, Deutschland und den Vereinigten Staaten für die Mitarbeit an, wie die private und institutionelle Korrespondenz

 Brief von Jordi Rubió an Joan Mercader vom 12.11.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Brief von Jaume an Josep Ferrater Mora vom 23.4.1954, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2., S. 75, kursiv im Original.

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zeigt.¹⁵⁶ Aufgrund der Unmöglichkeit, die Gesamtheit internationaler Publikationen zur spanischen Geschichte in Barcelona zu erfassen, war das Aufbauen solcher Netzwerke zwingend notwendig. Bald konnte Vicens sogar ein Abkommen mit dem Gründer des Verlags ABC-CLIO, Eric H. Boehm (1918 – 2017), abschließen.¹⁵⁷ Dieses Abkommen bot der spanischen Bibliografie ab dem Jahr 1957 die Möglichkeit, Einträge aus der weit besser ausgestatteten, US-amerikanischen Bibliografie Historical Abstracts zu übernehmen. Die internationalen Netzwerke weiteten sich durch diese neue Kooperation erheblich aus: Der IHE zählte im Jahr 1959 insgesamt 187 Rezensenten, davon 81 internationale. Darunter stammten 70 aus dem Mitarbeiterkreis der Historical Abstracts. Die Übrigen spiegelten die Netzwerke wider, die Vicens und seine Schüler vor allem aufgrund der Austauschprogramme und Auslandsaufenthalte hatten aufbauen können.¹⁵⁸ Vicens und die Redaktion des IHE legten von Beginn an Wert darauf, den Kreis internationaler Mitarbeiter auszuweiten. Innerhalb des spanischen Historikerfelds reichten die Netzwerke jedoch kaum aus, um dem Anspruch zu genügen, eine Bibliografie „von allen für alle“ zu sein. Besonders auffällig war zunächst die überproportionale Präsenz von in Barcelona sozialisierten Rezensenten. Sie stellten für die Jahre 1953/54, 1955/56 und 1957/58 jeweils etwa 70 % der spanischen Mitarbeiter dar.¹⁵⁹ Abgesehen von den Beiträgen zur Geschichte Spanisch Amerikas, die vom Historikerkreis um Guillermo Céspedes del Castillo (1920 – 2006) in Sevilla verfasst und koordiniert wurden, bewegte sich die Anzahl sonstiger spanischer Rezensenten stets unter der 10 %-Marke. Allerdings konnte der IHE durchaus auch mit der regelmäßigen Mitarbeit mancher etablierter Historiker rechnen, wie José Camón Aznar (1898 – 1979), Antonio Domínguez Ortiz  Die Bekanntesten mögen der Kölner Historiker Richard Konetzke, der Hispanist John Lynch und Eric H. Boehm gewesen sein.  Eric E. Boehm war Gründer und Herausgeber der im Jahr 1955 gegründeten internationalen Bibliografie. Sein Angebot an Vicens, Beiratsmitglied von Historical Abstracts zu werden, lehnte dieser jedoch unter Angabe der zu großen momentanen Belastung ab.Vgl. Brief an Eric H. Boehm vom 4.4.1957, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 67 f. Siehe ferner den Brief von Jaume Vicens an Guillermo Céspedes del Castillo vom 3.7.1957, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.  Unter den von Vicens angeworbenen Mitarbeitern befanden sich beispielsweise der Toulouser Historiker Philippe Wolff und seine „Schülerin“ Claude Carrère, die einige Jahre zuvor am Austauschprogramm zwischen den Universitäten Toulouse und Barcelona teilgenommen hatte. Ferner übernahmen meist Historiker aus Liverpool, wo Jordi Nadal und Josep Fontana kurzzeitig als lecturer gearbeitet hatten, die englischsprachigen Publikationen. Für den deutschen Fall waren es der Kölner Historiker Richard Konetzke, der die Zeit von seiner „Entnazifizierung“ bis zu seiner Rückkehr in die Kölner Universität in Spanien verbrachte, und Hermann Hüffer von der Deutsch-Spanischen Gesellschaft in München.  Die Mitarbeiterlisten sind den jeweiligen Bänden als Anhang beigefügt.

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(1909 – 2003) oder José M. Lacarra (1907– 1987). Die Beiträge dieser wenigen, aber dennoch angesehenen Autoritäten machten die spanischen Historiker möglicherweise empfänglicher für einen IHE, der ansonsten innerhalb Spaniens als ein rein katalanisches Unternehmen gegolten hätte. Für das Verhältnis Vicens‘ und seiner Escola zu den Historikern aus dem Consejo war es ferner bezeichnend, dass sich die meisten von ihnen nicht am IHE beteiligten oder aber es erst dann taten, als sie sich, wie José M. Jover, selbst vom akademischen Machtzentrum wegbewegt hatten.¹⁶⁰ Eine weitere, unverzichtbare Stütze war von Beginn an die soeben erwähnte Gruppe um den jungen Historiker Guillermo Céspedes del Castillo, seit 1949 ordentlicher Professor an der Universität Sevilla. Diese Gruppe übernahm die Sektion zur Geschichte des spanischen Kolonialreichs, auf die die spanische Historiografie stets einen besonderen Schwerpunkt gelegt hatte.¹⁶¹ Diese Sektion genoss zwar eine relative Selbstständigkeit gegenüber den restlichen, vornehmlich von Vicens und seinen engsten Mitarbeitern geleiteten Teilen. Die intensive Korrespondenz zwischen der katalanischen und andalusischen Sektion während der 1950er Jahre war jedoch nicht nur rein administrativer Natur. Denn Vicens band Céspedes mit Durchhalteparolen rhetorisch in den „Kampf“ gegen das „umliegende Ödland“ und für die spanische Wissenschaft ein. Diese Rhetorik konnte bei Céspedes vor allem deshalb greifen, da sich dieser – zumal seit er für den IHE arbeitete – mit der vom Consejo getragenen und in Sevilla vorherrschenden Escuela de Estudios Hispanoamericanos in einer Konkurrenzsituation befand.¹⁶² Vicens, der selbst wenige Jahre zuvor von der Leitung des Jerónimo Zurita zurückgetreten war, bat im Dezember 1959 Céspedes darum, sich „nicht entmutigen zu lassen und daran zu denken, dass [ihnen] eines Tages urbi et orbi das Opfer anerkannt werden wird, das [sie] zum Wohl der spanischen Wissenschaft erbracht haben.“¹⁶³ Wie schon im engeren Kreis der EHM, bildete auch hier

 So hatte Vicens noch im Jahr 1953 Vicente Palacio Atard ausdrücklich dazu eingeladen, „einen Platz unter den Mitarbeitern des ‚Indice‘“ einzunehmen. Palacio Atard nahm diese Einladung nicht an. Brief von Jaume Vicens an Vicente Palacio Atard vom 3.12.1953, ACEHI, Fondo IHE, IHE 2, Carpeta 5, 1953, N–Z. Zu José M. Jover und seiner „Metamorphose“ siehe Peiró: Las metamorfosis de un historiador, S. 175 – 234.  Vgl. David Marcilhacy: La hispanidad bajo el franquismo. El americanismo al servicio de un proyecto nacionalista, in: Xosé M. Núñez Seixas/Stéphane Michonneau (Hrsg.): El imaginario nacionalista español en el franquismo, Madrid 2014, S. 73 – 102.  Siehe dazu beispielsweise den Brief von Guillermo Céspedes an Jaume Vicens vom 15.12. 1956, in dem er sich über die Spannungen äußert, die zwischen ihm und der Gruppe um Vicente Rodríguez Casado bestanden. ACEHI, Fondo IHE, IHE 4, Carpeta 1, Año 1957, A–F.  Brief von Jaume Vicens an Guillermo Céspedes vom 22.12.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.

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die ‚offizielle‘ Geschichtswissenschaft den Gegenbegriff zu einer ‚authentischen‘, die der IHE verkörpere. Noch im selben Monat Dezember antwortete Vicens auf Céspedes‘ Zweifel hinsichtlich der Überlebensfähigkeit des IHE mit einer entsprechenden Durchhalteparole: „[I]ch bitte Dich darum, dass Du auf diesem Vorhaben beharrst, das als intellektuelle Schlacht von beachtlicher Bedeutung ist. Zumindest angesichts des Stillstands und des offiziellen Konformismus, wenn nicht sogar der üblichen politischen Klüngelei.“¹⁶⁴ Akademische Konflikte und Grabenkämpfe wurden auf eine Weise gedeutet, in der solche Begriffe wie „offiziell“ und „politische Klüngelei“ als Gegenstück zur Escola de Barcelona erschienen. Hier wurden nicht nur die Konfliktlinien reproduziert, die sich bereits beim CEHI und bei den EHM gezeigt hatten. War der IHE aus dem „mütterlichen Schoß“ der Estudios de Historia Moderna erwachsen, so erbte die neue Bibliografie darüber hinaus auch die Kategorien zur Konfliktdeutung. Vicens’ Korrespondenz mit Céspedes zeigt aber auch, dass der Gründer des IHE in dieser Bibliografie weit mehr als nur ein Werkzeug zur reinen Informationsbeschaffung erkannte. Einige der Hefte begannen mit einem bibliografischen Essay zum Stand der Forschung in einzelnen Feldern. Jaume Vicens selbst stellte dem IHE im Jahr 1954 einen Aufsatz zur „Historischen Forschung in Spanien in 1952– 1954“¹⁶⁵ voran. Der Mediävist José M. Lacarra wägte ein Jahr später die Leistungen der „Studien zum spanischen Mittelalter von 1952 bis 1955“¹⁶⁶ ab. Als Leiter der lateinamerikanischen Sektion sollte auch Guillermo Céspedes die Produktion zur Geschichte Spanisch Amerikas kritisch würdigen, wobei ihn Vicens im Juli 1957 auf eine Weise dazu ermutigte, die die Funktion dieser einleitenden Forschungsüberblicke deutlich macht: „Mir ist bewusst, dass es sich dabei um einen großen Happen handelt, aber gerade darum bin ich der Ansicht, dass Du die richtige Person bist, um diese schwierige Aufgabe zu lösen, die Dich meines Erachtens zum Orchesterdirigenten der Lateinamerikaforschung machen wird.“¹⁶⁷ Die Forschungsüberblicke waren ebenso wie die Zeichen dazu gedacht, dem Leser eine geordnete Übersicht über die historiografische Produktion zu ermöglichen. Gerade darin aber erkannte Vicens das Potential, das Feld zu ordnen und sich in eine Position zu bringen, von der aus die Wissensproduktion nach

 Brief von Jaume Vicens an Guillermo Céspedes vom 14.12.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.  Vgl. Jaume Vicens: Los estudios históricos españoles en 1952– 1954, in: IHE 1 (1953 – 1954), S. III–XXIII.  Vgl. José M. Lacarra: Los estudios de Edad Media española de 1952– 1955, in: IHE 2 (1955 – 1956), S. IX–XXXI.  Brief von Jaume Vicens an Guillermo Céspedes vom 3.7.1957, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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eigenen Kriterien hierarchisiert werden konnte. Nicht nur die Werteskala und der strategische Umgang mit fachlicher Kritik, sondern selbst die einleitenden Forschungsübersichten standen unter dem expliziten Vorzeichen der Ausweitung wissenschaftlicher Deutungsmacht. Die „grässliche und schwerfällige“ Arbeit an der Bibliografie würde, so Vicens in einem weiteren Brief an Céspedes, bald ihre „Früchte tragen. „Danach erst werden wir ‚Zivilgouverneure‘ sein können […].“¹⁶⁸ Die innerspanischen und internationalen Netzwerke waren dabei nicht nur akademischer Art. Neben dem Consejo standen dem katalanischen Historiker drei weitere Anlaufstellen bei der Suche nach institutionellem Rückhalt und nach Finanzierung zur Verfügung: Das Instituto de Cultura Hispánica, das Erziehungsund das Außenministerium. Was den Consejo anging, befand sich der IHE, anders als das CEHI und die EHM, von Beginn an außerhalb seiner Strukturen. Dies lag teilweise daran, dass Vicens‘ Verhältnis zur zentralen Wissenschaftsorganisation bereits im Jahr 1953 angespannt war. Die knappen finanziellen Ressourcen, über die der Consejo verfügte, gaben aber zudem kaum Anlass zur Hoffnung, den IHE über die Mittel des Jerónimo Zurita mitzufinanzieren. Als erfolgreichstes Projekt musste der IHE daher, im Gegensatz zu den EHM, in den ersten Jahren weitgehend auf öffentliche Träger verzichten. Vom Verlag Teide herausgegeben, finanzierte sich die einzige kommentierte Gesamtbibliografie der spanischen Geschichte bis mindestens 1956 über private Gelder.¹⁶⁹ Doch der wachsende Erfolg und die zunehmenden Ausmaße des trotz allem defizitären Projektes erforderten bald die Unterstützung öffentlicher Einrichtungen. Nachdem der Consejo als institutioneller Partner nicht mehr in Frage kam, wandte sich Vicens an das Instituto de Cultura Hispánica – allerdings ohne große Aussicht auf Erfolg. Dieses vor allem dem Export spanischen Kulturguts nach Lateinamerika gewidmete Institut stand unter der Leitung des ehemals engsten Mitarbeiters José M. Albaredas im Consejo, Alfredo Sánchez Bella. Gleichwohl der Herausgeber des IHE versicherte, dass die Mitarbeiter der Bibliografie „kein anderes Ziel vor Augen [hätten], als die spanische Wissenschaft weltweit bekannt zu geben“, ließ sich das ICH nicht mit ins Boot holen.Vielmehr verwies Sánchez Bella auf jene anderen Anlaufstellen, die es nunmehr möglich machen sollten, den IHE

 Brief von Jaume Vicens an Guillermo Céspedes vom 14. 3.1960, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961. Der Aufsatz von Guillermo Céspedes erschien schließlich im Jahr 1961 und ordnete die spanische Produktion in einen internationalen Kontext ein.Vgl. hier Guillermo Céspedes: Estudios sobre Hispanoamérica en Europa y en Estados Unidos, in: IHE IV (1958) [1961], S. XI–XXXII.  Der Verlag Teide wurde formell von Vicens’ Schwager, Frederic Rahola, geleitet, stand aber in einem sehr engen Verhältnis zu den Projekten des katalanischen Historikers. Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 132– 138.

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zu stabilisieren und sogar zur Expansion zu verhelfen: das Erziehungsministerium und vor allem das Außenministerium. Die erste Stütze bot sich dem IHE nach einem „Austausch von Eindrücken zwischen der Generaldirektion der Universitätslehre“ und Vicens. Eine „ministeriale Entscheidung“¹⁷⁰ aus dem Erziehungsministerium, wie Vicens seine Leser informierte, hatte kurz nach der amtlichen Anerkennung des CEHI nun auch verfügt, dass der IHE enger an das Professorenkollegium der Universität gebunden werden sollte. Diese Anerkennung eröffnete Vicens einen gewissen Verhandlungsspielraum: Das Erziehungsministerium subventionierte daraufhin den IHE mit jährlich 75 000 Peseten bei einem deckungsnotwendigen Defizit von 150 000 Peseten.¹⁷¹ Dies bedeutete für den IHE zunächst die Aussicht, sich trotz roter Zahlen zumindest über Wasser halten zu können. Die Befürchtungen des Redaktionsteams, damit auch einer strengeren Aufsicht durch das Ministerium und das Professorenkollegium zu unterliegen, sollten sich hingegen nicht bewahrheiten.¹⁷² Der IHE behielt bis zum Tode Vicens‘ und auch darüber hinaus seine Personalstruktur bei. Auch die Änderungen im Zeichensystem und die Abschwächung des kritischen Tons geschahen nicht in Folge dieser Subvention. Wie Vicens im Jahr 1958 an einen mexikanischen Kollegen schrieb, den er für den IHE zu gewinnen suchte, „greift es [das Erziehungsministerium] überhaupt nicht in die Vorbereitung und die wissenschaftliche Redaktion des Werks ein.“¹⁷³ Eine wichtigere und strategisch aussichtsreichere Finanzierungsmöglichkeit ergab sich allerdings aus dem Zusammenspiel wissenschafts- und außenpolitischer Faktoren. Vicens hatte sich bereits im Jahr 1954 an die Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen (DGRC) des Außenministeriums gewandt, um nach einer „angemessenen Subvention“ zu fragen, und zwar mit dem Ziel „die Mission zu erfüllen, die spanische Geschichtswissenschaft der Welt bekanntzugeben.“¹⁷⁴ Doch erst die Kontakte, die Vicens zu US-amerikanischen Historikern aufbaute,

 Vicens: Desarrollo de ‚Indice Histórico Español’ en el bienio 1955 – 1956, S. IV.  Diese Summen gab Vicens in einem Brief vom 14. 5.1959 an den spanischen Außenminister, Fernando M. Castiella, an. AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp. 41.  Das Professorenkollegium, das stark an das Ministerium gebunden war, behielt das Vorrecht, den Leiter der Zeitschrift zu ernennen bzw. zu entlassen und sich an Fragen der Redaktion mit zu beteiligen.Von diesem Recht wurde zwar nie Gebrauch gemacht, doch erkannte man darin, wie der Nachfolger von Vicens in der Leitung des IHE, Juan Vernet, Jahre später erklärte, durchaus die Gefahr, dass eine „gewisse verwaltungsbürokratische Mentalität“ die redaktionelle Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte. Juan Vernet: Y el ‘Indice’ marcha, in: IHE 7 (1961), S. XII.  Brief von Jaume Vicens an Silvio Zabala, Leiter des Instituto Panamericano de Historia in Mexiko, 14.1.1958, ACEHI, Fondo IHE, IHE 1, Carpeta V–Z, (16).  Brief von Jaume Vicens an den Generaldirektor für kulturelle Beziehungen vom 16.1.1954, ACEHI, Fondo IHE, IHE 1, Carpeta M (10).

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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würden ihm die Tore des Außenministeriums öffnen. Das Abkommen mit Historical Abstracts hatte zunächst die Expansion des IHE und die Ausweitung der fachlichen Netzwerke ermöglicht. Ferner hatte Vicens die Bekanntschaft mit dem langjährigen Direktor der Hispanic Foundation of the Library of Congress, Lewis Hanke gemacht, dessen Arbeiten zur Geschichte des spanischen Kolonialreichs von der spanischen Forschung mit Wohlwollen rezipiert worden waren.¹⁷⁵ Aufgrund des Erfolgs des IHE erklärte sich Hanke zu Vicens’ „special agent“ und brachte ihn wiederum mit seinem Amtsnachfolger, Howard F. Cline (1915 – 1971), in Verbindung.¹⁷⁶ Wie Vicens im Mai 1959 dem spanischen Außenminister Fernando M. Castiella (1907– 1976) bekannt gab, hatte Cline den katalanischen Historiker über die Gründung eines „Komitee[s] für Historische Bibliografie“ informiert, das „unter der offiziellen Schirmherrschaft der Regierung der Vereinigten Staaten“ stehen würde. Vicens war dazu eingeladen worden, Mitglied dieses Komitees zu werden, und er schätzte, dass es „sich die Herausgabe einer neuen bibliografischen Zeitschrift im Stile des ‚Índice Histórico Español‘ vorgenommen hat, und zwar mit dem Ziel, in irgendeiner Weise das historische Denken der lateinamerikanischen Länder zu beeinflussen.“ Diese Chance, so Vicens, dürfte man nicht versäumen: „[…] wir dürfen nicht den bisher eingeprägten Rhythmus verlieren.Wir müssen ihn vielmehr verbessern und vor allem eine intensive Arbeit zur Verbreitung [des IHE] an den Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen Lateinamerikas leisten.“ Angesichts der finanziellen Situation des IHE sei es nun die Aufgabe der Regierung, so Vicens, dem Índice eine „vergleichbare Protektion“ zu bieten: „Zieht man die offizielle Unterstützung in Betracht, die die Regierung der Vereinigten Staaten dem jüngst gegründeten Komitee gewährt, so glauben wir bescheidenerweise, dass auch wir eine vergleichbare Protektion vonseiten unserer Regierung verdient haben. Auf

 Siehe dazu die Monografie von Lewis Hanke: The Spanish Struggle for Justice in the Conquest of America, Philadelphia 1949. Benjamin Keen fasst Hankes Perspektive in seinem Nachruf auf den US-amerikanischen Historiker in den folgenden Worten zusammen: „[…] the Spanish conquest of America was far more than a remarkable military and political exploit; that it was also one of the greatest attempts the world has seen to make Christian precepts prevail in the relations between peoples.“ Benjamin Keen: Lewis Hanke (1905 – 1993) in: The HAHR 73,4 (1993), S. 663 – 665. Zur Rezeption der spanischsprachigen Übersetzung unter den spanischen Lateinamerikahistorikern siehe José Pérez: Rez. zu Lewis Hanke: La lucha por la justicia en la conquista de América, Buenos Aires 1949, in: Revista de Indias 10 (1950), S. 886 – 888. Hanke hatte zudem in der unmittelbaren Nachkriegszeit an den vom CSIC organisierten Sommerakademien in La Rábida aktiv teilgenommen und war deshalb mit dem Feld spanischer Lateinamerikaforschung gut vernetzt.  Zum Wortlaut „special agent“ siehe den Brief von Lewis Hanke an Jaume Vicens vom 25.5. 1956, ACEHI, Fondo IHE, IHE 3, Carpeta 5, Año 1956, F–L.

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diese Weise würden wir den Preis für sechs Jahre ununterbrochenen Dienstes an der spanischen und lateinamerikanischen Wissenschaft erhalten.“¹⁷⁷

Vicens stellte den IHE in den Dienst der Außenpolitik im Austausch für Finanzierung und Karrierechancen. Der Gründer der Escola de Barcelona legte sowohl dem Außenminister Castiella wie auch der DGRC nahe, dass sich mit seiner Einladung zur Teilnahme am neuen Komitee eine außenpolitisch einmalige Gelegenheit eröffnen würde.¹⁷⁸ Die spanische Geschichtswissenschaft könne auf diese Weise, so das Argument, Einfluss auf die US-amerikanische Außen(wissenschafts)politik gegenüber Lateinamerika nehmen. Vicens’ Vorstoß stand unter einem guten Stern. Das Franco-Regime befand sich zu eben dieser Zeit in Verhandlungen mit der US-amerikanischen Regierung um die Erneuerung der 1953 unterschriebenen spanisch-amerikanischen Madrider Verträge. ¹⁷⁹ Noch im selben Jahr 1959 besuchte Eisenhower als erster USamerikanischer Präsident den spanischen Staatschef. Die Umarmung zwischen Franco und Eisenhower, die die Zeitung ABC am 23. Dezember auf dem Titelblatt ablichtete, sanktionierte Spaniens Rolle als Alliierter im Kampf gegen den sowjetischen Block.¹⁸⁰ Für weite Teile der franquistischen Eliten eröffnete diese Annäherung aber auch die Möglichkeit, die außenpolitischen Tore über die militärisch-geopolitisch Ebene hinaus zu weit aufzureißen und eine wirtschaftliche, finanzielle und wissenschaftliche Kooperation anzustreben.¹⁸¹ Darüber hinaus knüpfte Vicens’ Vorstoß an ein althergebrachtes außenpolitisches Kredo an, wonach Spanien eine privilegierte Rolle in einer imaginierten spanisch-lateinamerikanischen Kulturgemeinschaft, der Hispanidad, zu erfüllen habe.¹⁸² Die  Brief von Jaume Vicens an Fernando M. Castiella vom 14. 5.1959, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp. 41; Kopie auch im ACEHI, Fondo IHE, IHE 1, Carpeta M (10).  Brief von Jaume Vicens an Guillermo Nadal vom 26. 5.1959, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp 41, 1959 Comité Bibliografía Histórica en Washington.  Die neuen Verträge wurden 1963 unterschrieben. Vgl. Enrique Moradiellos: La España de Franco. Política y sociedad, Madrid 2003, S. 170.  Siehe dazu das Titelblatt, ABC, 23.12.1959.  Zu den kulturpolitischen Beziehungen zwischen dem Franco-Regime und den Vereinigten Staaten siehe Lorenzo Delgado Gómez-Escalonilla: Modernizadores y tecnócratas. Estados Unidos ante la política educativa y científica de la España del desarrollo, in: Historia y política 34 (2015), S. 113 – 146. In wissenschaftspolitischer Hinsicht war vor allem die im Jahr 1957 eingerichtete Teilnahme spanischer Akademiker am Fulbright-Programm von Bedeutung; vgl ders.: Westerly Wind. The Fulbright Program in Spain, Madrid 2009.  Vgl. Lorenzo Delgado Gómez-Escalonilla: La política latinoamericana de España en el siglo XX, in: Ayer 49 (2003), S. 121– 160, sowie Celestino del Arenal: Política exterior de España y relaciones con América Latina. Iberoamericanidad, europeización y atlantismo en la política exterior española, Madrid 2011, insbesondere S. 17– 74. Zum Begriff der „hispanidad“ siehe bei-

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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Expansion spanischen Kulturguts über den Atlantik und die Anerkennung der spanischen (Geschichts)Wissenschaft im Ausland könne nun, so Vicens, mithilfe des IHE und des Washingtoner Komitees entschieden vorangebracht werden. Gerade in diesem Sinne schrieb Vicens an den Vizedirektor der DGRC, nachdem er Ende Juni 1959 von einer zweitägigen Reise aus Washington zurückgekehrt und als ständiges Mitglied des Komitees aufgenommen worden war. Man müsse „die Gelegenheit [nutzen], die sich heute insbesondere der spanischen Geschichtswissenschaft und Spanien im allgemeinen auf diesem spezifischen Feld lateinamerikanischer Aktivitäten bietet.“ Es gäbe dort, so Vicens, „ein unbebautes Land, das die spanische Regierung mit angemessenen Vertrauensvorschüssen fruchtbar machen kann und das zweifelsfrei reiche Ernten einbringen wird.“¹⁸³ Die ehemaligen Kolonien könnten damit gleichsam − auf historiografischer Ebene − neu ‚kolonisiert‘ werden. Vicens verfasste neben dem offiziellen Bericht für das Außenministerium einen „Bericht B“ (Informe B), in dem er seine Eindrücke über politische Motivlagen und außenpolitische Opportunitäten zusammenfasste. Die Arbeit des Komitees hätte „den Druck unter Beweis gestellt, den die nordamerikanische Regierung mittels ihrer kulturellen Einrichtungen macht, um zunehmend Einfluss auf die Schulung der lateinamerikanischen Gelehrten zu nehmen.“¹⁸⁴ Alles würde darauf hindeuten, dass dieses neue Komitee unter anderem deshalb gegründet worden sei, „um den Eingang spanischer Wissenschaftler in das historiografische und gelehrte Feld der Lateinamerikaforschung zu ermöglichen.“¹⁸⁵ Dieser letzte Hinweis war bedeutsam: Das Komitee sollte sich nämlich „am Rande“ des Instituto Panamericano de Geografía e Historia bewegen, das sich in Mexiko Stadt und somit in der Hauptstadt des spanischen akademischen Exils befand.¹⁸⁶ Dieses panamerikanische Institut hatte seit 20 Jahren jegliche Form institutionalisierter Kooperation mit der innerspanischen Geschichtswissenschaft verweigert. Die Aussicht, mithilfe des neuen Komitees auch dort an Einfluss zu gewinnen, wertete Vicens letztlich als „Triumph […] für die spanische Wissenschaft“¹⁸⁷ – Triumph, spielsweise Mabel Moraña: Introduction. Mapping Hispanism, in: Dies. (Hrsg.): Ideologies of Hispanism, Nashville 2005 (Hispanic Issues 30), S. IX–XXI.  Brief von Jaume Vicens an Guillermo Nadal vom 27.6.1959, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp 41, 1959 Comité Bibliografía Histórica en Washington.  „Informe B“, verfasst von Jaume Vicens, 27.6.1959. AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp 41, 1959 Comité Bibliografía Histórica en Washington.  Ebd.  Vgl. Antolín Sánchez Cuervo/Guillermo Zermeño Padilla (Hrsg.): El exilio español del 39 en México. Mediaciones entre mundos, disciplinas y saberes, Mexiko-Stadt 22014.  Brief von Jaume Vicens an Guillermo Nadal vom 27.6.1959, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp 41, 1959 Comité Bibliografía Histórica en Washington.

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für den der Herausgeber des IHE eine entsprechende Belohnung erwartete: „Jedenfalls ist die Arbeitsgemeinschaft des Indice Histórico Español bereit, seine Kooperation anzubieten, solange sie von der Entscheidungsgewalt dieses Ministeriums den moralischen und ökonomischen Anreiz erhält, der einem derart hohen Zweck entspricht.“¹⁸⁸ Die Strategie war erfolgreich. Die Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen bestätigte Vicens‘ Einschätzung über die Bedeutung des IHE und des Washingtoner Komitees gegenüber dem Außenminister. Der IHE sei, so ein interner Bericht, die „wichtigste bibliografische Publikation Spaniens auf dem historischbibliografischen Feld und eine der wichtigsten weltweit.“¹⁸⁹ Der spanische Botschafter in Washington, José M. Areilza (1909 – 1998), gab den Forderungen des katalanischen Historikers nochmals Nachdruck und informierte Castiella darüber, dass das in der Library of Congress ansässige Komitee 4 Millionen US-Dollar von der Regierung Eisenhower zugesprochen bekommen hatte.¹⁹⁰ Dieses Budget war zwar für US-amerikanische Verhältnisse nicht exorbitant. Dennoch übertraf es bei weitem sämtliche der Generaldirektion zur Verfügung stehenden Mittel.¹⁹¹ Das Außenministerium übernahm in Zeiten finanzieller Knappheit die Reise des katalanischen Historikers nach Washington und sicherte dem IHE eine jährliche Subvention in Höhe von 100 000 Peseten zu.¹⁹² Im Jahr 1960 war die umfassendste Bibliografie zur spanischen Geschichte dank der Subventionen von Außen- und Erziehungsministerium finanziell stabilisiert und wissenschaftspolitisch abgesichert. Die relative Bedeutung des IHE für die gesamte Außen(wissenschafts)politik des Franco-Regimes darf gewiss nicht überbewertet werden. Der geisteswissenschaftliche Austausch stand nicht erst Ende der 1950er Jahre im Schatten technischer und naturwissenschaftlicher Kooperation. Dennoch zeigt die Geschichte des IHE beispielhaft, inwiefern außenpolitische Zielsetzungen mit wissenschaftlichen Expansionsambitionen konvergieren konnten und wie auch bei Vicens jener Ressourcenaustausch zwischen Wissenschaft und Politik stattfand, wie ihn Mitchell Ash programmatisch be-

 Ebd.  Bericht der DGRC an den Außenminister vom 3.6.1959, ebd.  Vgl. Brief von José M. Areilza an Fernando M. Castiella vom 18.6.1959, ebd.  Das Budget der Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen für das Jahr 1959 belief sich auf 60 Millionen Peseten (Der Wechselkurs Pesete/Dollar lag in diesem Jahr zwischen 42 und 60 zu 1). Vgl. Pablo de Jevenois/Juan M. Romero (Hrsg.): La Dirección General de Relaciones Culturales y Científicas, 1946 – 1996, Madrid 1996, S. 112.  Offiziell wurde dies Jaume Vicens am 14.1.1960 mitgeteilt. Siehe dazu AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 7711, Exp 41, 1959 Comité Bibliografía Histórica en Washington.

4.3 Das polemische Potential einer Bibliografie

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schrieben hat.¹⁹³ Dieser Abschnitt hat ebenfalls gezeigt, dass die neue Bibliografie weit mehr war als nur ein bloßes Werkzeug zur Informationsbeschaffung war. Der IHE barg darüber hinaus das Potential, eine neue Wissenshierarchie zu verkünden, gleichwohl die Redaktion dieses Potential nicht immer ausschöpfte und stufenweise sogar abschwächte. Gerade der strategische Umgang mit bestimmten, für das geschichtswissenschaftliche Feld wichtigen Debatten verweist auf eine Ökonomie der Kritik, die für die Etablierung des IHE unabdingbar war. Der IHE war nur bedingt ein „Werk von allen für alle“. Seine Expansion sollte vielmehr – vornehmlich für den Gründer – die Gestalt einer „Eroberung“ des spanischen und internationalen Felds annehmen, die vom „mütterlichen Schoß“ der Escola de Barcelona ausging. Sowohl die Bibliografie, als auch die EHM und das CEHI müssen vor dem Hintergrund eines Denkstils betrachtet werden, der diese Organe der Escola de Barcelona als katalanischen Beitrag zur Überwindung des spanischen ‚Rückstands‘ verstand. In diesem Sinne vertraute sich Vicens dem Mitarbeiter des IHE und Jesuitenpater Miquel Batllori an, als er aus seiner Washingtoner Reise folgendes Fazit zog: „Die katalanische Wissenschaft kann sich weder der Verantwortung noch dem Stolz entziehen, den Kampf der spanischen Wissenschaft um eine bessere und praktischere Zukunft anzuführen.“¹⁹⁴ Dass sich dieser „Kampf“ ab Mitte der 1950er Jahr gänzlich außerhalb des Consejo Superior de Investigaciones Científicas vollzog, war bedeutsam, war doch der Consejo wie der IHE mit dem Anspruch angetreten, die spanische (Geschichts)wissenschaft in ein gemeinsames Unternehmen zu integrieren. Mehr noch: Der Consejo war zu einem ‚offiziellen‘ Gegenüber geworden, der aus der Sicht der Escola die Versuche verhinderte, den ‚Rückstand‘ zu überwinden. Der Ressourcenaustausch funktionierte zwar zuletzt zwischen Jaume Vicens und dem Außenministerium, nicht jedoch zwischen der Escola de Barcelona und dem Consejo als derjenigen Institution des Franco-Regimes, die die ‚spanische Wissenschaft‘ symbolisch verkörperte.

 Vgl. Ash: Wissenschaft und Politik, S. 11– 46.  Brief von Jaume Vicens an Miquel Batllori vom 25.6.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 9, Carpeta 3, Corr. Colaborades, Años 1953 – 1966, A–C.

5 Die nova història: Industriebürgertum, gescheiterte Industrialisierung und die Stunde Kataloniens Jaume Vicens distanzierte sich vom Consejo Superior de Investigaciones Científicas in dem Maße, wie seine Ansprüche, Barcelona zu einem „Getriebe der spanischen Geschichtsforschung“ zu machen, enttäuscht wurden. Dabei ging er von Beginn an von einer territorialen Ordnung der (Geschichts)Wissenschaft aus, in der Katalonien als „offenem Fenster nach Europa“ eine Vorreiterrolle zustehen musste. Nicht umsonst sollte Vicens Ende der 1950er Jahre das CEHI, die EHM und den IHE als diejenigen „Meilensteine“ anpreisen, „die erst die spanische Realität mit derjenigen des Abendlandes in augenscheinliche und harmonische Übereinstimmung [hatten] bringen können.“¹ Wie er wiederum im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Aproximación a la Historia de España aus dem Jahr 1960 einem breiten Publikum darlegte, war dieser Weg hin zur „Übereinstimmung“ mit „Demografie, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Statistik“ gepflastert. Erst die neuen Perspektiven hätten dazu beigetragen, Klarheit in „den Dschungel der spanischen Geschichte“ zu bringen, was in erster Linie der Escola de Barcelona anzurechnen sei: „Bei der Entwicklung dieser Dynamik in der Geschichtsschreibung hat die Schule von Barcelona […] die Stellung der Avantgarde innegehabt“² – einer „Avantgarde“, die sich zunehmend von einer ‚offiziellen‘ Geschichtsschreibung abgrenzte. Allerdings beschränkte sich für den katalanischen Historiker der Pfad zu dieser „augenscheinlichen und harmonischen Übereinstimmung“ nicht auf die Adaption bestimmter Methoden.Wie bereits gezeigt, hatte Vicens schon früh erste Versuche unternommen, die Geschichte Spaniens und insbesondere Kataloniens in diejenige des ‚Abendlandes‘ und vor allem seines technisch-industriellen Zeitalters einzuschreiben. Vicens hatte in seinem im Jahr 1950 in Hispania veröffentlichten Essay El romanticismo en la Historia das gemäßigte Industriebürgertum zum Signum einer Epoche gemacht, der er im folgenden Jahrzehnt seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Der „Poet der Maschinen“, wie er dieses Bürgertum dort bezeichnet hatte, wurde in den Folgejahren nicht nur zum historischen Bezugspunkt seiner wissenschaftlichen sowie publizistischen Werke, sondern zum Vehikel eines Narrativs, das das historische Verhältnis Spaniens und Kataloniens zur technisch-industriellen Moderne neu zu kalibrieren versuchte.  Zu diesem Zitat siehe die Einleitung zu Kapitel II.4.  Vicens: Aproximación a la historia de España [1952], S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110532227-012

5 Die nova història

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Dabei griff Vicens explizit die Signale auf, die ein neuer, dem technisch-industriellen Fortschritt zusteuernden Kurs sandte. In einem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1954 begründete er beispielsweise die Notwendigkeit, den Weg zu einer Wirtschaftsgeschichte Spaniens zu eröffnen, mit folgenden Worten: „Wenn einst die allgemeine Sorge um politische Prozesse kreiste und es daher [für den Historiker] notwendig war, diesem Signalruf dadurch zu entsprechen, dass man Materialien politischer oder parlamentarischer Art ans Tageslicht beförderte, verlangt die derzeitige Konjunktur grundlegende Lösungen, bezüglich derer wir uns weiterhin in der Finsternis bewegen werden, wenn wir Berufshistoriker nicht unsere Aufmerksamkeit auf das beinahe unerforschte Feld unserer Wirtschaftsgeschichte richten.“³

Das Primat der Wirtschaft und des technisch-industriellen ‚Fortschritts‘, das die (wissenschafts)politischen Diskurse zu eben dieser Zeit prägte, veranlasste hier Vicens’ Aufruf an die Historiker, die neue Gegenwart aus einer neuen Geschichte hervortreten zu lassen. Die (wissenschafts)politischen Signale kamen nicht nur bei Vicens, sondern spätestens ab Mitte der 1950er Jahre durchaus auch bei anderen Forschern an. Unter dem Begriff der „Dekadenz“ debattierten Ökonomen und Historiker das offenbar schwierige Verhältnis zwischen spanischer Nationalgeschichte und technisch-industrieller Entwicklung. Auch junge Historiker aus dem Consejo, wie Manuel Fernández Álvarez, nahmen an diesen Debatten teil.⁴ Doch die Logik des national-katholischen Narrativs und die Skepsis gegenüber einer „Technifizierung des historischen Blicks“ stellte die meisten Berufsgenossen vor unüberwindbare Hürden, wenn es darum ging, Spaniens historisches Verhältnis zu Technik und Industrie systematisch neu zu denken. Dagegen beschrieb Vicens im Jahr 1959 einem Berufskollegen seinen Erkenntnishorizont auf unmissverständliche Weise: „Die inneren Spannungen der sozialen und geistigen Struktur Spaniens in ihrer historischen Dynamik sowie die sich ausdehnende Problematik des Landes aufzeigen, die sich aus dem Übergang von einem unterentwickelten, agrarisch geprägten hin zu einem europäisch modernen Land ergab. Alles andere ist pure Belletristik.“⁵ Was Vicens unter „europäisch modern“ verstand, trat in seinem zusammen mit Jordi Nadal verfassten Handbuch zur Wirtschaftsgeschichte Spaniens hervor, das im selben Jahr erschien. Die Autoren grenzten sich darin von einer rein politikgeschichtlichen Betrachtung des 19. Jahrhunderts ab, dessen Konflikte „lediglich den Schaum der

 Vicens: Hacia una historia económica de España, S. 500.  Siehe dazu Kapitel I.4.5.  Brief von Jaume Vicens an Mario Hernández Sánchez-Barba vom 31.12.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 1, Carpeta H–K.

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5 Die nova història

Geschichte [darstellten]. In Wirklichkeit wurde das spanische 19. Jahrhundert durch den erbitterten Kampf einiger Weniger strukturiert, die sich der Technik zu bemächtigen suchten, und zwar einer Technik, die in Europa geschmiedet worden war und die sich uns beständig entzog.“⁶ Vicens’ Antworten auf die Fragen, wie es erst zu diesem „Rückstand“ gekommen war, welche Gestalt dieser „Entzug“ angenommen hatte, wer diese „einigen Wenigen“ waren, die um den Import der „europäischen“ Technik gekämpft hatten, und welches Kollektiv sich hinter dem Personalpronomen „wir“ verbarg, lieferten das Narrativ, das im Folgenden analysiert werden soll.

5.1. Das katalanische Industriebürgertum und die mentale Geografie Spaniens Bevor genauer auf diese Fragen eingegangen werden kann, müssen zwei Aspekte von Vicens’ wissenschaftlicher und publizistischer Laufbahn angesprochen werden, die für die Ausformulierung und Verbreitung des Narrativs relevant waren. Erstens war das Interesse des katalanischen Historikers für die Neueste Geschichte sowie für die Zeitgeschichte zwar bereits zu Beginn der 1940er Jahre vorhanden. Dennoch kreiste seine Forschungsaktivität bis in die ersten Jahre des folgenden Jahrzehnts vorwiegend um das 15. Jahrhundert. In seiner Dissertation und den darauffolgenden Fachpublikationen konzentrierte sich der katalanische Historiker auf althergebrachte Themen der katalanischen Historiografie und insbesondere auf das Verhältnis der spanischen Monarchie zu den spätmittelalterlichen katalanischen Institutionen und sozialen Gruppen.⁷ Erst in seinem Essay El romanticismo en la historia legte Vicens auf mehr oder weniger systematische Weise die Grundlagen für eine Deutung, die er nach seiner ‚Entdeckung‘ der ‚Annales‘ und insbesondere nach 1953 in die Form von Fachpublikationen goss. Als Meilensteine von Vicens’ Weg ins 19. Jahrhundert müssen dabei seine Aufsätze Coyuntura económica y reformismo burgués (1953) und Hacia una historia económica de España (1954), sein soeben zitiertes Handbuch Historia económica de España (1959), der in großen Teilen von ihm verfasste 4. Band der Historia social y económica de España y América (1959) und vor allem seine wohl wichtigste Studie mit dem Titel Industrials i polìtics (1958) hervorgehoben werden. Mitte der 1950er

 Jaume Vicens/Jordi Nadal: Manual de historia económica de España, Barcelona 1959, S. 36.  Siehe dazu seine Hauptwerke Política del Rey Católico en Cataluña (1940), Historia de los remensas en el siglo XV (1945), Juan II de Aragón (1398 – 1479). Monarquía y revolución en la España del siglo XV (1953) oder El gran sindicato remensa (1954).

5.1. Das katalanische Industriebürgertum und die mentale Geografie Spaniens

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Jahre hatte Vicens, wie er in einem Brief gegenüber Kollegen zugab, das „15. Jahrhundert endgültig verlassen.“⁸ Der zweite Aspekt betrifft die Publikationsformen. Die zuletzt genannten Texte richteten sich vornehmlich an ein Fachpublikum. Vicens trat aber auch durch eine publizistische Tätigkeit hervor, die es ihm ermöglichte, seine Thesen in Form von allgemeinen Geschichtsdarstellungen, Buchbesprechungen und Zeitungsartikeln an geschichtsinteressierte Laien zu adressieren. Hierbei müssen insbesondere seine Aproximación a la Historia de España (1952 und 1960), der Essay Noticia de Catalunya (1954) sowie seine Artikel für die Wochenzeitschriften Destino und Serra d’Or hervorgehoben werden. Erst durch diese Publikationsformen wurde er der Rolle gerecht, die er dem Historiker als Deutungsakteur auf dem intellektuellen und politischen Feld zusprach. Das katalanische Industriebürgertum nahm in Vicens’ Deutungen vom Jahr 1950 hinweg die Rolle einer historischen Lichtgestalt in einer Geschichte ein, die sich innerhalb dreier konzentrisch konzipierter, kultureller Räume abspielte: Katalonien, Spanien und dem ‚Abendland‘. Konzentrisch waren diese Räume deshalb, da jeder von ihnen innerhalb des anderen gedacht wurde. So vollzog sich für Vicens die katalanische Geschichte stets innerhalb der spanischen, wobei er aus ihrem Verhältnis, anders als die katalanisch-nationale Historiografie der Vorkriegszeit, keine reine Konfliktgeschichte hervortreten ließ.⁹ Die spanische Geschichte war für den katalanischen Historiker wiederum unweigerlich an die Geschicke eines ‚Abendlandes‘ gebunden, das zwar im Christentum wurzelte, doch in seiner jüngsten Geschichte im Wesentlichen vom Bürgertum geprägt worden war: „Die bürgerliche Tradition besitzt in Europa ein derartiges Gewicht, dass das Abendland ohne sie kein Abendland wäre“¹⁰ – so Vicens in einem Artikel für Destino aus dem Jahr 1954. Eine Teilhabe am „Abendland“ war in dieser Logik nur über die Partizipation an seinen „bürgerlichen Traditionen“ denkbar. Doch worin bestand diese „bürgerliche Tradition“, die er im katalanischen Bürgertum gleichsam idealtypisch wiederzufinden glaubte? Wie war diese „soziale Klasse“ entstanden und welche Charakteristika hatte sie im Laufe des 19. Jahrhunderts für Vicens entwickelt? Die Entstehung einer neuen, aus Händlern und Produzenten bestehenden Gruppe situierte Vicens in seinem Aufsatz Ökonomische Konjunktur und bürgerlicher Reformismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Entstanden war sie allerdings keineswegs, so versicherte der  Brief von Jaume Vicens an Luis Suárez Fernández vom 18.10.1956, ACEHI, Fondo IHE, IHE 4, Carpeta 3, Años 1957, M–Z.  Vgl. Enric Pujol: La historiografia del noucentisme i del període republicá, in: Albert Balcells (Hrsg.): Història de la historiografia catalana, Barcelona 2004, S. 187– 204.  Vicens: Hacia una nueva burguesía, S. 505.

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5 Die nova història

Autor, dank der Reformen des aufgeklärten spanischen Absolutismus unter Karl III. (1759 – 1788). Ihr Aufkommen sei vielmehr vom demografischen Wachstum und einer positiven Preiskonjunktur begünstigt worden, die von Händlern und kleinen Textilproduzenten für erste Kapitalbildungen genutzt worden seien. Zunächst auf den Binnenmarkt beschränkt, sei das Industriebürgertum durch die Lizenzen, die katalanischen Kaufmännern ab dem Jahr 1778 die Handelswege mit Spanisch Amerika eröffneten, wirtschaftlich erstarkt und bereits am Vorabend der französischen Revolution als „soziale Klasse“ etabliert gewesen.¹¹ In diesem Aufsatz, der nicht umsonst den bürgerlichen Reformismus im Titel trug, schrieb Vicens dem Bürgertum den Begriff der ‚Revolution‘ ausschließlich in seiner technisch-industriellen Bedeutung zu. Das Industriebürgertum habe den Wandel stabilisiert und keineswegs einen Umbruch politischer Strukturen begünstigt. Der Autor zeichnete in dieser Studie, die den Beitrag dieser neuen „sozialen Klasse“ für das Aufkommen des „liberalen Systems“ in Spanien zu bestimmen suchte, das Bild eines im Großen und Ganzen den wirtschaftspolitischen Reformen zugewandten Kollektivs. Vicens zählte das katalanische Bürgertum und insbesondere seine bedeutendsten Exponenten, die großen Textilproduzenten, nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den sogenannten moderados. ¹² Als Vertreter eines konservativ-liberalen, auf Zensuswahlrecht aufbauenden Systems grenzten sie sich, so Vicens, sowohl von links-liberalen und sich auf die Cortes de Cádiz berufenden Parteien als auch und insbesondere von den Verfechtern einer Rückkehr in die feudale Rechtsordnung, den carlistas, ab: „Liberale? Jedenfalls keine Karlisten, die sie bald als ‚ruchlose Feinde‘ bezeichnen würden. Aber auch nicht liberal bis ins Äußerste, sondern Verfechter einer ‚gerechten und gemäßigten‘ Freiheit. Absolut davon überzeugt, dass ‚die Arbeit weder unter einem Despoten noch unter den Bedingungen anarchischer Unordnung verrichtet werden kann‘.“¹³ Der gemäßigte Reformgeist des katalanischen Industriebürgertums habe darauf gezielt, eine Wirtschaftsordnung nach den Prinzipien der „Handels- und Produktionsfreiheit“ zu etablieren. Die Suche nach Formen politischer Einflussnahme, durch die dieses Bürgertum die Einrichtung einer solchen Ordnung fördern und ihre Stabilität gewährleisten konnte, würde erklären, weshalb der Konstitutionalismus zur „Flagge des katalanischen Bürgertums zwischen 1820 und 1930“ wurde. ¹⁴ Eine Kultur politischer Kompro-

 Vicens: Coyuntura económica y reformismo burgués, S. 40.  Eine knappe Übersicht über das politische Spektrum am Vorabend des „Ersten Karlistenkriegs“ (1833 – 1840) bieten Walther L. Bernecker/Horst Pietschmann: Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 42005, S. 257– 263.  Vicens: Coyuntura económica y reformismo burgués, S. 55.  Ebd. S. 47.

5.1. Das katalanische Industriebürgertum und die mentale Geografie Spaniens

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missbereitschaft – genannt pactismo –, das Streben nach einer stabilen politischen Ordnung und der Einsatz für Reformen zur Protektion der heimischen Industrie bildeten für Vicens die zentralen Merkmale des katalanischen Industriebürgertums auf dem politischen Feld des 19. Jahrhunderts. Vicens entwarf kaum das Bild einer in allen Belangen homogenen „Klasse“.¹⁵ Dennoch sprach er dem katalanischen Bürgertum eine bestimmte ‚Mentalität‘ zu, die sich als besonders tugendhaft herausstellte und die er darüber hinaus mithilfe volkspsychologischer Kategorien auf alle Katalanen ausweitete. Abgesehen von einem vage definierten „kulturellen Progressismus“ und einem deutlich erkennbaren „Unternehmergeist“ war es für Vicens vor allem die „protektionistische Mentalität“, die das Bürgertum vereinte und aus der schließlich auch ihr politisches Selbstbewusstsein erwuchs. Die Suche nach Protektion einer sich im Aufbau befindenden Industrie war für Vicens dabei keinesfalls Ausdruck eines vonseiten mancher seiner Kollegen beklagten regionalen Partikularismus‘ oder gar Sezessionismus‘.¹⁶ Wie er in seiner für den 10. Internationalen Historikerkongress in Rom (1955) verfassten communication zur Mentalität des katalanischen Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festhielt, seien die Industriellen stets von einer „strikt unitaristischen“¹⁷ Vorstellung Spaniens ausgegangen. Der Protektionismus erwuchs für Vicens vielmehr aus dem „legitimen“ Wunsch einer auf industriellem Fortschritt und sozialem Frieden bedachten Schicht, das Prinzip der „Arbeit“ als wohlstandsstiftendes Element zu propagieren: „Wenn man über die Protektionismusbewegung als Weg spricht, der das Bürgertum unweigerlich zum politischen Katalanismus brachte, wird dabei die Tatsache ignoriert, dass der Protektionismus auch eine ethische Haltung beinhaltete, die auf der Vorstellung gründete, dass die Arbeit die Quelle allen Reichtums ist, und als ethische Haltung war er [der Protektionismus] nichts anderes als der Ausdruck eines geistigen Auflebens Kataloniens […].“¹⁸

 Zur Entwicklung eines Großbürgertums aus einer anfänglich „unbestimmten bürgerlichen Schicht“ im Laufe des 19. Jahrhunderts siehe Jaume Vicens: Industrials i Polítics. Segle XIX, mit einem von Montserrat Llorens verfassten biografischen Anhang, Barcelona 1958 (Història de Catalunya. Biografies catalanes 11), S. 125 ff.  So beispielsweise die These von Jaume Carrera: Historia política de Cataluña en el siglo XIX, Barcelona 1957.  Jaume Vicens: La mentalidad de la burguesía catalana en la primera mitad del siglo XIX, in: Relazioni del X Congresso Internazionale di Scienze Storiche, Roma 4– 11 settembre 1955, hrsg. v. Giunta Centrale per gli Studi Storici, 7 Bde., Bd. 7: Riassunti delle comunicazioni, S. 323 – 327, hier S. 327.  Vicens: Industrials i Polítics, S. 207.

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5 Die nova història

Die Suche nach Protektion der einheimischen Industrie wurde damit in Vicens’ Deutung zum tugendhaften Ausdruck einer bestimmten Arbeitsethik, die nicht nur eine Besonderheit des Industriebürgertums dargestellt habe, sondern in gewisser Weise dem „geistigen Aufleben“ Kataloniens entsprang. Hierbei verband Vicens die Forschung zum katalanischen Industriebürgertum mit einer kulturellen Essentialisierung alles ‚Katalanischen‘. So ist es bezeichnend, dass sich hinter der Monografie Industrials i Polítics nicht etwa eine detaillierte Studie dieser „sozialen Klasse“, sondern eine Sozialgeschichte Kataloniens im 19. Jahrhundert verbirgt – eine Geschichte, in der zwar auch andere Akteure auftraten, in der jedoch das Bürgertum die zentralen Eigenschaften des poble català verkörperte. Der vorhin erwähnte Einfluss volkspsychologischer Ansätze kam vor allem dort zum Tragen, wo Vicens die wirtschafts- und sozialhistorische Entwicklung Kataloniens aus einer mentalen Geografie Spaniens hervortreten ließ. Dies tat er vor allem in seinem zusammen mit Jordi Nadal verfassten Manual de historia económica de España, wo er in Anlehnung an Arbeiten des spanischen Sozialpsychologen Juan J. López Ibor (1908 – 1991) die geistigen Charakteristika der „nördlichen“, „kastilischen“, „andalusischen“ und vor allem „katalanischen“ Regionen bestimmte.¹⁹ Während sich die zentralspanische Hochebene zwar durch „hohe spirituelle Werte“²⁰ auszeichnet hätte, wäre dort aber aufgrund bestimmter Formen der traditionellen Viehhaltung eine „Abscheu gegenüber allen Formen des rationalisierten Wirtschaftens“²¹ vorherrschend gewesen. Für den Süden sei die „Abwesenheit der Neugierde, der Mangel an technischem Geist, die verminderte Entfaltung allen unternehmerischen Impetus‘“²² charakteristisch. Im Einklang mit der Nord-Süd-Achse, die er bereits in früheren Texten gezeichnet hatte, stellte sich die „nordländische“ Eigenart als Gegenstück zur „andalusischen“ dar. Jene tendiere, so die Autoren, zur „lebendigen Neugierde, [zum] technischen Fortschrittsgeist europäischen Stils und [zum] unternehmensbasierten Kapitalismus.“²³ Innerhalb dieser mentalen Geografie und insbesondere der „nordländischen“ Achse trat vor allem „der Katalane“ hervor, dem Vicens „Willensstärke, besondere Arbeitstauglichkeit, Neugierde, technischen Geist und auf familiäre Strukturen begründeten Kapitalismus“²⁴ attestierte. Die empirische Grundlage für

 López Ibor war ein renommierter Psychiatrieforscher, der psychologische Kategorien allerdings auch für nationalgesellschaftliche Analysen gebrauchte.Vgl. Juan J. López Ibor: El español y su complejo de inferioridad [Der Spanier und sein Minderwertigkeitskomplex], Madrid 1951.  Vicens/Nadal: Manual de historia económica de España, S. 34.  Ebd., S. 33.  Ebd. S. 39.  Ebd., S. 38 f.  Ebd.

5.2 Die Geschichte im Konjunktiv

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die These, wonach in Katalonien die Bindung der Industrieunternehmen an bestimmte bürgerliche Familien besonders stark gewesen sei, lieferte Vicens vor allem in Industrials i Politics. ²⁵ Diese ‚wissenschaftliche Tatsache‘ fügte sich allerdings in ein Gesamtbild, von dem Vicens auch a priori auszugehen schien. Die für die katalanische Gesellschaft charakteristischen Familienunternehmen verwiesen für den Autor auf die starke soziale und auch kulturelle Verwurzelung einer Industrie, die gleichsam organisch aus den mentalen und sozialen Strukturen „der Katalanen“ erwuchs. In diesem Sinne schrieben Vicens und Nadal auch die für die Industrie nötigen „technischen“ Kompetenzen in die „kollektive Psychologie“ des „Katalanen“ ein: „Was den technischen Geist angeht, so müssen wir hervorheben, dass der Katalane die Technik wahrlich verehrt und dass er bei der Lösung mechanischer Probleme ein besonderes Geschick zeigt. Seine Maschinenverehrung ist ein kollektiv-psychologisches Phänomen.“²⁶ Die industrielle Technik schien in dieser Bestandsaufnahme den mentalen und sozialen Tugenden der „Katalanen“, anders als im national-katholischen Narrativ, nicht fremd, sondern eigen zu sein.

5.2 Die Geschichte im Konjunktiv: Desynchronisierung und gescheiterte Industrialisierung Vicens’ mentale Geografie prädestinierte demnach „die Katalanen“ gleichsam dazu, Spaniens Übergang in ein technisch-industrielles Zeitalter einzuleiten, wenn nicht sogar anzuführen. Innerhalb dieser Logik bewahrte zudem die Mäßigung eines vor allem auf wirtschaftspolitische Stabilität bedachten Bürgertums vor radikal-demokratischen Exzessen. Nun entwarf Vicens jedoch, wie anfangs erwähnt, die Neueste Geschichte Kataloniens stets innerhalb eines gesamtspanischen Rahmens. Erst darin entstand aus dem Geschichtsbild eines industriellen und bürgerlichen Kataloniens ein neues Narrativ, das die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der ‚gescheiterten Industrialisierung‘ lenkte. Der Ausgangspunkt für dieses Scheitern war, wie es Vicens in Industrials i Polítics formulierte, die „Desynchronisierung“ zwischen Katalonien und „dem Rest Spaniens“.²⁷ Während das aufkommende katalanische Industriebürgertum, so die These, in den entscheidenden politischen Krisen der 1830er und 1860er Jahren als sozialer Träger von wirtschaftspolitischen Reformprojekten fungiert hatte, verhinderten die be-

 Vgl Vicens: Industrials i Polítics, S. 67– 71.  Ebd., S. 38.  Vicens: Industrials i Polítics, S. 217.

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5 Die nova història

stehenden politischen Kräfteverhältnisse und die wiederkehrenden gewaltsamen Auseinandersetzungen im Rest Spaniens jegliche konsequente Neuordnung. Aus diesen Gründen scheiterte für den Autor der „Übergang von einem unterentwickelten, agrarisch geprägten hin zu einem europäisch, modernen Land“. Zurück blieben die schwerwiegenden Konflikte des 19. Jahrhunderts und eine Ungleichzeitigkeit, die er in seiner Einleitung zum Manual de historia económica de España wie folgt programmatisch festhielt: „Während die technischen Neuerungen in Europa den Beginn des industriellen Zeitalters einläuteten, während man [dort] das Kapital bereits nach quantitativen und das Unternehmen nach rationalen Kriterien bemaß, verharrte der Großteil Spaniens in alten und gewohnten Systemen des Anbaus und der Viehzucht. Als beide Strömungen aufeinandertrafen, erfuhr Spanien einen raschen Wirtschaftsaufschwung, der auf der Tätigkeit staatlicher Einrichtungen, dem Handel mit Übersee und der Tüchtigkeit Kataloniens und des Baskenlandes gründete. Dieses Aufblühen brachte jedoch auch die archaische soziale Struktur aus dem Gleichgewicht und warf das für das 19. Jahrhundert charakteristische Problem der politischen Verfassung und mit ihm dasjenige der sozialen und politischen Revolution auf.“²⁸

Das Hereinbrechen des „industriellen Zeitalters“ über die „archaischen Strukturen“ der spanischen Gesellschaft schuf dieser Argumentation zufolge ein Ungleichgewicht, aus dem sich die unterschiedlichsten Konfliktpotentiale entwickelten.²⁹ Wie schon in frühen Jahren lieferte auch hier die Kategorie des Gleichgewichts das grundlegende explanans, wobei das Ungleichgewicht in seiner temporalen Dimension die Gestalt einer Ungleichzeitigkeit annahm. Die einem neuen Zeitalter und „Europa“ entspringenden Techniken und Produktionsweisen sprengten die „archaischen“ Gesellschaftsstrukturen in Spanien und sorgten für soziale Spannungen, die wiederum zu einer Polarisierung zwischen Verfechtern vorliberaler und radikalliberaler Ordnungen geführt hätten. Anders als die national-katholischen Historiker jedoch, die diesen Einbruch einer ‚fremden‘, technisch-industriellen Moderne negativ bewerteten, richtete Vicens die Aufmerksamkeit auf die Geschichte Kataloniens als Beispiel eines Übergangs,

 Vicens/Nadal: Manual de historia económica de España, S. 12.  Dieselbe These vertrat auch Charles Morazé in seiner ein Jahr zuvor erschienenen Monografie Les Bourgeois conquérants. Le XIXe siècle, Paris 1957. Die knappen zwei Seiten, die Morazé der Industrialisierung und dem Bürgertum in Spanien widmete, trugen den bezeichnenden Titel „En Espagne le capitalisme encourage le désordre“. Ebd., S. 395 f. Dieses Buch kam Vicens, der die Arbeiten von Charles Morazé seit den frühen 1950er Jahren verfolgt hatte, allerdings erst nach der Publikation von Industrials i Polítics zu Händen.Vgl. Brief von Jaume Vicens an Philippe Wolff vom 11.12.1958, ACEHI, Fondo IHE, IHE 1,16.

5.2 Die Geschichte im Konjunktiv

293

der deswegen geglückt sei, da die nötigen sozialen und mentalen Bedingungen bereits gegeben gewesen seien. Vicens konstruierte die Geschichte Spaniens im 19. Jahrhundert entlang bestimmter Dichotomien, die sich regional verorten ließen, wie die von ihm entworfene mentale Geografie bereits gezeigt hat. So standen sich Katalonien und der Rest Spaniens nicht nur in ihrem Verhältnis zur Technik, zum Kapitalismus und zur Arbeit gegenüber. Wie Vicens wiederum im vierten Band der von ihm herausgegebenen Historia social y económica de España y América aus dem Jahr 1959 schrieb, sei eine bürgerliche Schicht im engeren Sinne nur in Katalonien entstanden. Er differenzierte dort den Begriff des „Bürgertums“ für seine Leser auf folgende Weise: „Es handelt sich dabei nicht um das Bürgertum des Mittelalters, das seine Glanzzeit zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert erlebte, sondern um das Industriebürgertum, das sich dem Fortschritt der Maschinen und der Entwicklung der Fabriken verpflichtet fühlte. […] Nur wenige Regionen Spaniens haben diesen Typus hervorgebracht, allen voran Katalonien. Im Rest des Landes herrschte das, was wir hohe Mittelschicht nennen könnten. Ihre materiellen und mentalen Interessen unterschieden sich nicht wenig von denjenigen des eigentlichen Bürgertums.“³⁰

Die Tatsache, dass sich in Katalonien ein Industriebürgertum gebildet hätte, in der Langzeitperspektive aber jener „hohe Mittelstand“ die politischen Geschicke Spaniens gelenkt habe, würde das Scheitern der Versuche erklären, eine zeitgemäße politische und ökonomische Ordnung zu etablieren. „Die relative Schwäche dieser sozialen Klasse [des katalanischen Bürgertums] erklärt die Unreife und die Instabilität der meisten politischen und wirtschaftlichen Problemlösungen, die zwischen 1812 und 1936 ergriffen wurden.“³¹ Oder kontrafaktisch ausgedrückt: Hätte das katalanische Bürgertum im gesamtspanischen Kräfteverhältnis ein hinreichend politisches Gewicht besessen, so wäre es imstande gewesen, für ‚reife‘ und ‚stabile‘ Lösungen zu sorgen und Spanien, so der Autor im selben Band, von ‚Afrika‘ nach ‚Europa‘ zu führen: „Es besteht kein Zweifel darin, worauf die Vorkämpfer des Bürgertums zielten: Spanien zu entafrikanisieren [desafricanizar] und es in die Effizienz der Wirtschaft und Kultur Europas zu führen; […] überall den Sinn für das Technische und Statistische, Praktische und Realistische durchzusetzen.“³²  Jaume Vicens/Jordi Nadal/Rosa Ortega: Los siglos XIX–XX, in: Jaume Vicens (Hrsg.): Historia social y económica de España y América, Barcelona 1957 ff., 4 Bde., Bd. 4, 2: Burguesía, industrialización, obrerismo, S. 8 – 511, hier S. 151.  Ebd.  Ebd., S. 163 f.

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Das historische Verhältnis zwischen Spanien und Katalonien stand für Vicens im Konjunktiv.³³ Die Geschichte Spaniens stellte sich als die Geschichte gescheiterter Versuche dar, die vom katalanischen Bürgertum ausgehenden Impulse auf spanischem Boden zu verwirklichen. Diese Deutung fasste Vicens in Industrials i Politics in der folgenden These zusammen: „Das Scheitern des katalanischen Bürgertums war umso empfindlicher, da es sich die Aufgaben der Neuordnung und Reform mit bestem Willen zu eigen gemacht hatte. Wenn es dabei nicht erfolgreich war, so war dies aufgrund der fehlenden Einstimmigkeit zwischen den Bewegungen, die in Katalonien und im Rest Spaniens vorhanden waren. Die Desynchronisierung zwischen Barcelona und Madrid […] war derart persistent, dass sie sämtliche Versuche unbrauchbar machte, von Katalonien aus ein neues Spaniens zu schaffen.“³⁴

Dass Vicens das Potential für die entsprechenden Reformen beim katalanischen Bürgertum statt bei den wirtschaftlichen und politischen Eliten Madrids erkannte, war nicht überraschend, hatte er doch Letztere als Träger eines „hohen Mittelstands“ aus dem eigentlichen Bürgertum ausgeschlossen. In seiner mentalen Geografie standen sie für eine bürokratische Mentalität, die der Industrialisierung eher hinderlich als förderlich war. Schwieriger gestaltete sich hingegen sein Umgang mit den bürgerlichen Schichten, die spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Cádiz und im Baskenland vorzufinden waren.Vicens löste dieses Problem meist dadurch, dass er ihnen kaum Aufmerksamkeit schenkte. Wie er bereits in seinem Aufsatz Wirtschaftliche Konjunktur und bürgerlicher Reformismus (1953) deutlich gemacht hatte, müsste sich eine Studie zum frühen spanischen Bürgertum „aus Gründen historischer Aufrichtigkeit“³⁵ auf das katalanische Beispiel beschränken. Vicens war auf der Suche nach einem in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht vorbildhaften Industrialisierungsprozess und konnte dadurch das Bürgertum aus Cádiz, dessen Stärke für den Autor nicht in der Produktion sondern im Handel lag, weitestgehend vernachlässigen. Vicens’ Begründung dafür, weshalb das katalanische Bürgertum auch gegenüber dem baskischen zu privilegieren sei, war ebenfalls aussagekräftig. Wie oben zitiert, attestierte er Letzterem durchaus die gleiche Tüchtigkeit, die er auch bei den katalanischen Industriellen vorfand. Die in der zweiten Hälfte des

 Vgl. Enric Ucelay-Da Cal: Descriure el que hauria d’haver existit, o com historiografiar el fracàs particularista català al llarg del segle XX, in: Ders./Josep M. Fradera (Hg.): Notícia nova de Catalunya. Consideracions crítiques sobre la historiografia catalana als cinquanta anys de „Notícia de Catalunya“ de Jaume Vicens i Vives, Barcelona 2005, S. 197– 256, zu Vicens insbesondere S. 231– 233.  Vicens: Industrials y Polítics, S. 213.  Vicens: Coyuntura económica y reformismo burgués, S. 39.

5.3 Der europäische ‚Normalweg‘ und die spanische ‚Anomalie‘

295

19. Jahrhunderts in Biskaya entstandene Schwerindustrie habe allerdings von einem geologischen Glücksfall profitiert: Den dort vorhandenen Eisenvorkommen, die die Entstehung der Hüttenwerke und eine rapide Kapitalakkumulation ermöglicht hätten. Was daraus für den Vergleich zwischen der Industrialisierung in Katalonien und im Baskenland folgte, formulierte Vicens wohl am treffendsten in einem Vortrag, den er im Oktober 1958 in einem bekannten bürgerlichen Clubhaus in Barcelona hielt: „Wäre in Katalonien allein die Hälfte der dortigen Eisenvorkommen vorhanden gewesen, hätten wir, die Katalanen, in derselben Zeitspanne das Doppelte erreicht, da wir gegenüber dem baskischen Volk wirtschaftlich weit entwickelter waren und unser Handelsgeist weit fortgeschrittener war.“³⁶ Die Tatsache, dass die Industrie in Katalonien trotz mangelnder natürlicher Ressourcen Wurzeln geschlagen hatte, stellte umso mehr, so das Argument, die „industrielle Tüchtigkeit“ (industriosidad) der Katalanen unter Beweis.

5.3 Der europäische ‚Normalweg‘ und die spanische ‚Anomalie‘ Vicens entwarf demnach die Geschichte Spaniens im 19. Jahrhundert entlang einer Achse, die sich zwischen dem industrialisierten Katalonien und dem aus dem sozialen und politischen Gleichgewicht geratenen Restspanien aufspannte. Dabei operierte er, ähnlich wie die meisten seiner Berufskollegen, mit den Begriffen ‚Europa‘ und ‚occidente‘, indem er sie als Projektionsflächen nutze, um ein gesondertes spanisches Narrativ aufzustellen. Während die national-katholischen Historiker und Intellektuellen ‚Europa‘ meist als Begriff für eine technisch fortgeschrittene, doch für das politische und spirituelle Wesen der Nation bedrohliche Moderne verwendeten, projizierte Vicens in sein Verständnis von ‚Europa‘ einen Normalweg, den er als Maßstab für den Grad der Industrialisierung und der Entwicklung einer bürgerlichen Mentalität heranzog. Die damit einhergehende Reduktion der Geschichte Europas im ‚langen 19. Jahrhundert‘ auf ein Langzeitnarrativ der Industrialisierung und des Aufblühens einer bürgerlichen Gesellschaft war bezeichnend. Vicens überbrückte im Europa-Begriff sämtliche innereuropäischen Differenzen und synthetisierte in ihm die seines Erachtens positiven Phänomene zu einem distinktiven historischen Pfad.

 Die Transkription dieses Vortrags wurde erst zwanzig Jahre später veröffentlicht. Vgl. Jaume Vicens: El capità d’indústria espanyol dins els darrers cent anys, in: Recerques. Història, economia i cultura 10 (1980), S. 159 – 173, hier S. 166.

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5 Die nova història

Vicens verwandte in diesem Kontext nicht nur den Europa-Begriff, sondern auch denjenigen des ‚occidente‘. Deren Semantik war zwar keineswegs deckungsgleich.³⁷ Die Begriffe bildeten dennoch einen Zusammenhang, aus dem sich die Frage nach der spanischen ‚Normalität‘ bzw. ‚Anomalie‘ herleiten ließ. So beantwortete Vicens in der Historia Económica de España die Frage danach, ob das spanische „Volk“ ein „orientalisches“ sei, auf unmissverständliche Weise: „Nein. Diese Haltung könnte man durchaus als unwissenschaftlich bezeichnen. Die Geografie, die Lebensweisen, die historisch gewachsene Mentalität, die Verflechtung mit den übrigen Ländern machen aus dem Spanier ein rigoroses Mitglied der abendländischen Kultur. Allerdings nimmt er darin und gerade aufgrund seiner psychologischen Charakteristika eine gesonderte Stellung ein. Er ist eine Störung, eine Anomalie; aber eine notwendige, lebenswichtige. […] Dennoch ist die grundlegende Tendenz alles Spanischen hin zum Europäischen gerichtet, und zwar nicht deshalb, weil die Europäer anders sind, sondern weil der Spanier selbst Europäer ist und er sich deshalb nicht vom Pfad lösen kann, den Rom eröffnete und in dem er sich manchmal wohl, manchmal unwohl, aber schlussendlich immer zu Hause gefühlt hat.“³⁸

Als Mitglied einer „abendländischen Kultur“, die ihre Wurzeln dem Christentum zu verdanken hatte, war Spanien für den Autor selbst dann an den europäischen „Pfad“ gebunden, wenn es in den letzten Jahrhunderten eine „Anomalie“ dargestellt hatte. Anders als im national-katholischen Narrativ, zog sich dieser Pfad für Vicens jedoch unweigerlich von „Rom“ bis in die technisch-industrielle Moderne. Vicens legte sich in seinen wissenschaftlichen und publizistischen Texten kaum darauf fest, worin dieser Pfad genau bestand oder wohin dieser im engeren Sinne führen sollte. ‚Europa‘ fungierte stets, wie die bisherigen Zitate auch zeigen, als implizite Vergleichsfolie. Insofern besaß dieses ‚Europa‘ das Potential, auf semantischer Ebene immer wieder neu verschoben zu werden. Allerdings galt Vicens‘ Interesse in erster Linie dem Phänomen der Industrialisierung und des Aufkommens einer bürgerlichen Gesellschaft. In seiner positiven Auslegung stand dieses idealtypisierte ‚Europa‘ zunächst für technisch-industriellen Fortschritt unter den Bedingungen politischer Mäßigung, während die Revolutionen und die sozialen Konflikte Manifestationen eines Ungleichgewichts darstellten, das es zu überwinden galt. Innergesellschaftliche Konflikte stellten in dieser Logik negative Begleiterscheinungen einer historischen Dynamik dar, die er bereits Ende der 1940er Jahre in seiner Abhandlung El hecho histórico y el sentido de

 Der Begriff „occidente“ verwies stärker, ähnlich wie im Deutschen das „Abendland“, auf einen Kulturraum, der dem Christentum entsprungen war.  Vicens/Nadal: Manual de historia económica de España, S. 37.

5.3 Der europäische ‚Normalweg‘ und die spanische ‚Anomalie‘

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la Historia versucht hatte zu beschreiben. Unter dem Begriff der isostasia histórica hatte er dort ein Modell aufgestellt, das die „Kulturgesellschaften“ in die Kategorien von Aufstieg, Glanzzeit und Verfall fasste. Wie er auch im 10-Punkte-Manifest erklärte, das er für den ersten Band der EHM verfasst hatte, zeichnete sich für Vicens diese Dynamik durch „das freie Spiel kreativer Persönlichkeiten, auserlesener Minderheiten und treuer Mehrheiten in den Momenten kultureller Glanzzeiten und verbrauchter Persönlichkeiten, erstarrter Minderheiten und rebellischer Mehrheiten in Momenten der Zersetzung“³⁹ aus. Vicens wandte sich auch in den darauffolgenden Jahren nicht von diesem Modell ab, das die „Glanzzeiten“ nach dem Grad der Konvergenz gesellschaftlicher Kräfte unter der Führung „auserlesener Minderheiten“ bestimmte. Dieses Denken strukturierte insbesondere seine Deutungen zur Neuesten Geschichte Kataloniens, die sich für Vicens genau in diesen Phasen abgespielt hatte: Vom Aufstieg des Industriebürgertums über eine Epoche der Glanzzeit, die ihren Höhepunkt um die Jahrhundertwende erfahren habe, bis hin zu den Krisenerscheinungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich der Zwist zwischen den „auserlesenen Minderheiten“ und den „Mehrheiten“ am eindrücklichsten gezeigt habe. Den Inbegriff der „Glanzzeit“ erkannte Vicens in der sogenannten Generation von 1901, der er im Laufe der 1950er Jahre zunehmend Aufmerksamkeit schenkte – eine Generation, die für Vicens zwar in den Vertretern des konservativen Katalanismus‘, wie dem Politiker Prat de la Riba (1870 – 1917), dem Dichter Joan Maragall (1860 – 1911) sowie den Großindustriellen ihre Vorzeigefiguren besaß, die er jedoch als gesamtgesellschaftliches Phänomen auffasste. So bestand das „Wunder von 1901“⁴⁰, wie er in Industrials i Polítics schrieb, darin, dass das poble català eine eigene, distinktive Antwort auf das Krisenjahr 1898 fand, in dem Spanien seine letzten überseeischen Kolonien verloren hatte. Während die politischen und intellektuellen Eliten Spaniens in eine nationale Sinnkrise gestürzt seien, hätten sich in Katalonien sämtliche politische Strömungen und soziale Schichten hinter dem Banner des „Wiederaufbaus“ der katalanischen Kultur im weitesten Sinne vereinigt: „Selbst ohne den kolonialen Zerfall hätte die Generation von 1901 notwendigerweise das Vakuum gefüllt, das die bürokratische Routine und der Mangel an Perspektiven der staatlichen Politik hinterlassen hatten. Früher oder später wäre die Sehnsucht des katalanischen Volkes nach dem Wiederaufbau erblüht.“⁴¹ Wohin diese Aufstiegsgeschichte Kataloniens führte, lieferte im Übrigen auch die Antwort darauf, was Vicens unter einer „Glanzzeit“ und unter

 Vicens: Presentación y propósito, S. XI.  Vicens: Industrials i Polítics, S. 206.  Ebd., S. 207.

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5 Die nova història

„Europa“ verstand. So ließ er diese Monografie zur katalanischen Geschichte im 19. Jahrhundert mit den folgenden Worten enden: „Der Katalanismus gliederte Katalonien auf vollkommene und unwiderrufliche Weise in Europa ein. […] Durch sie [die Katalanisten] gelangten nach Katalonien der Impressionismus, die Musik Wagners, Ibsens Dramen, die Philosophie Nietzsches, die Ästhetik der Moderne, der Wunsch danach, Telefone und gute Straßen zu besitzen, das Verlangen nach Museen und Universitäten, das Pariser, Londoner und Berliner Ambiente, eine Wissenschaft, die man Ökonomie nannte und die statistische Methoden verwendete, der Wunsch danach, ehrlich und wahrhaftig zu sein sowie sich in der toleranten Polemik wiederzufinden, die erst die Wege zum Fortschritt eröffnet. All dies ermöglichte schließlich, dass Aristokraten und Katalanisten, Bürgertum und Anarchisten gemeinsamen Schrittes marschierten, und zwar in einem der sensationellsten und bewundernswertesten Aufbrüche der Geschichte Kataloniens. Die zentrale Bedeutung der katalanistischen Bewegung lag in der Wiederentdeckung Europas nach vier Jahrhunderten der Abwesenheit […].“⁴²

Gesellschaftlicher Gleichschritt unter der Devise der (Re)Konstruktion eines Kataloniens, das sich in der bürgerlichen Kultur Europas wiederfand: Vicens projizierte auf die sogenannte Generation von 1901 die Vorstellung einer Gesellschaft, die selbst die Unterschiede zwischen „Aristokraten“ und „Anarchisten“ zugunsten des „Wiederaufbaus“ aufzuheben vermocht hatte. Das „Wunder von 1901“ bestand somit in der Konvergenz aller gesellschaftlichen Teilbereiche hin zu einem harmonisch gedachten poble català unter bürgerlicher Führung. In einem der letzten Artikel, die Vicens vor seinem Tod für die katalanische Wochenzeitschrift Serra d’Or schrieb, fasste er die Leistungen der Generation von 1901 zudem wie folgt zusammen: „Dies war einer der bemerkenswertesten Erfolge der Generation von 1901. […] Ihnen ist es zu verdanken, dass unsere Kultur den Glanz erreichte, durch den sie sich bis ins Jahr 1936 charakterisierte: ein einziger Akkord in allen Noten […].“⁴³

5.4 Katalonien in gesamtspanischer Mission Diese retrospektive Harmonisierung der jüngsten katalanischen Geschichte bis ins Jahr 1936 war bezeichnend. Kurz vor Vicens’ Tod entsprach sie der Wendung hin zu einem konservativen Katalanismus, dem der Historiker zwar schon immer nahe stand, der sich jedoch im Übergang zu den 1960er Jahren zunehmend in

 Ebd., S. 298.  Jaume Vicens: Pairalisme i universalisme, Serra d’Or, Mai 1960, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 515 – 517, hier S. 516.

5.4 Katalonien in gesamtspanischer Mission

299

Opposition zum Franco-Regime neu formierte.⁴⁴ Wie Ismael Saz gezeigt hat, geriet eine „katalanische Utopie unter dem Franquismus“⁴⁵ im Laufe der 1950er zusehends aus dem Erwartungshorizont ansonsten kompromissbereiter Wirtschaftsund Bildungseliten, die auf eine Aufwertung des kulturellen, wirtschaftlichen und – insbesondere im Falle Vicens’ – auch wissenschaftlich-akademischen Gewichts im gesamtspanischen Kontext gesetzt hatten. Erst das offensichtliche Scheitern dieser Versuche führte schließlich zu einer Umdeutung, in der Vicens’ nun mit dem Beginn des Bürgerkriegs auch das Ende einer ‚harmonischen‘ Epoche der katalanischen Geschichte identifizierte. Dadurch suggerierte der Autor, dass die Politik des Franco-Regimes und das primäre Anliegen des konservativen Katalanismus, der kulturelle und wirtschaftliche „Wiederaufbau“, unvereinbar waren. Vor dem Hintergrund der Konflikte, die Vicens entlang der 1950er Jahre mit seinem beruflichen und wissenschaftspolitischen Umfeld einging, war diese Umdeutung symptomatisch. So hatte für Vicens das Scheitern, Barcelona zu einem „Getriebe der spanischen Geschichtsforschung zu machen“, gezeigt, dass auch der katalanischen Geschichtswissenschaft kaum die Rolle zugesprochen werden würde, die Vicens für sie einforderte. Es wäre sicherlich falsch, Vicens’ Konflikte mit seinem beruflichen und wissenschaftspolitischen Umfeld und seine Umdeutungsleistungen in eine strikt monokausale Beziehung zu setzten. Doch Vicens’ intellektueller und politischer Werdegang ist für wichtige Teile des konservativen Katalanismus in dem Sinne beispielhaft, als sich in ihm eine Dynamik enttäuschter Erwartungen zeigte. Diese Dynamik muss vor allem aus zwei Gründen besonders hervorgehoben werden. Einerseits dominiert in der Forschung zur Geschichte des katalanischen Regionalismus bzw. Nationalismus in Teilen eine Deutung vor, die jeglichen Einsatz für den oben genannten „Wiederaufbau“ rückwirkend demokratisiert. Beispielsweise erklärt der Historiker Enric Pujol, dass „die Verteidigung der katalanischen Kultur und der katalanischen Nation gleichbedeutend mit dem Versuch war, das FrancoRegime umzustürzen und die demokratischen Freiheiten zurückzuerlangen. Es kann somit nicht ein spezifisch politischer von einem kulturellen Widerstand getrennt werden“⁴⁶. In diesem Sinne wird jeder wie auch immer geartete Einsatz

 Vicens trat im Jahr 1958 zudem dem Institut d’Estudis Catalans bei. Vgl. Gatell/Soler: Amb el corrent de proa, Kap. 8, 9 und 10. Für eine Einbettung dieser Wende in eine allgemeine Geschichte des katalanischen Nationalismus’ siehe Enric Ucelay-Da Cal: Catalan Nationalism, 1886 – 2012. An historical overview, in: Pole Sud 40 (2014), S. 13 – 28; zu Vicens siehe Borja de Riquer: Entre la historia y la política. Jaume Vicens Vives y el complejo compromiso de un intelectual durante el franquismo, in: Gerónimo de Uztariz 26/27 (2010/11), S. 105 – 120, insbesondere S. 114 ff.  Vgl. Saz: España contra España, S. 401.  Pujol: Història i recconstrució nacional, S. 234.

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5 Die nova història

für das, was sich als Teil der „katalanischen Kultur“ verstehen lässt, zum „Widerstand“, d. h. zu einem Akt demokratisch motivierter Opposition. Ebenfalls problematisch ist andererseits eine grundlegende Unterscheidung, die dieser Perspektive innewohnt. Die „Verteidigung der katalanischen Kultur“ beschränkt sich in dieser Logik auf den ‚Wiederaufbau‘ der „katalanischen Nation“. Sie schließt somit aus, dass Teile des historischen Katalanismus diese „Verteidigung“ als positiven Beitrag innerhalb eines gesamtspanischen und auch franquistischen Rahmens verstanden.⁴⁷ Das Beispiel Jaume Vicens’ zeigt, inwiefern jene Perspektive in die Irre führt. Wie in früheren Kapiteln gezeigt worden ist, forderte Vicens zwar eine stärkere Gewichtung der Forschung in und zu Katalonien ein. Er richtete sich damit aber vor allem in den ersten Jahren seiner Professorenkarriere stets an die vorhandenen wissenschafts- und bildungspolitischen Einrichtungen, von denen er sich erst dann distanzierte, als sie – wie der Consejo – den Ansprüchen des Historikers keine Rechnung mehr trugen. Die Probleme der oben genannten Perspektive ergeben sich jedoch auch bei einer genaueren Betrachtung des neuen Narrativs, mit dem Vicens die katalanische Geschichte im 19. Jahrhundert mit dem Ziel aufwertete, das heimische Industriebürgertum zu einem neuen historischen Bezugspunkt zu machen. Dies lässt sich vor allem in seiner Noticia de Catalunya aus dem Jahr 1954 zeigen – eine 200-seitige Abhandlung, mithilfe derer er sich erfolgreich als einer der wichtigsten Intellektuellen des konservativen Katalanismus‘ postulieren sollte.⁴⁸ Vicens stellte dieses publizistische Werk in der Einleitung zwar als Schlussstein seiner Teilnahme an der Debatte um das ‚Problem Spaniens‘ vor.Vor allem versprach er aber einem breit angelegten Publikum, „eine historisch-psychologische Gesamtübersicht über das Wesen und die Mentalität der Katalanen als Volk zu geben.“⁴⁹ Für die oben geäußerte Kritik an den katalanisch-nationalen Forschungsperspektiven ist die Noticia deswegen von Bedeutung, weil das katalanische 19. Jahrhundert und die „Generation von 1901“ zum normativen Bezugspunkt innerhalb eines gesamtspanischen Narrativs wurden. So gehörte für Vicens zu den Grundzügen der katalanischen „Volkspsychologie“ auch das Bewusstsein eines innerspanischen Missionsbedarfs, den er wie

 Eine ähnliche Kritik auch in Antonio F. Canales: El robo de la memoria. Sobre el lugar del franquismo en la historiografía católico-catalanista, in: Ayer 59 (2005), S. 259 – 280.  Dies offenbarte er dem katalanischen Intellektuellen Josep Ferrater Mora, als er ihm sein jüngst erschienenes Buch Noticia de Catalunya (1954) mit den folgenden Worten vorstellte: „Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben, der ich mich zur Zeit widme: Das Bürgertum zurück zu seiner traditionellen Haltung des 19. Jahrhunderts zu bringen.“ Brief an Josep Ferrater Mora vom 19. 3. 1954, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 73.  Jaume Vicens: Noticia de Cataluña, Barcelona 1954, S. 11.

5.4 Katalonien in gesamtspanischer Mission

301

folgt bewertete: „Ich denke, dass die Aufgabe, der sich die Katalanen im 19. Jahrhundert gegenüber Spanien angenommen haben, einen der ernsthaftesten Versuche darstellt, Spanien nach dem Vorbild Kataloniens neu zu formen; einem Vorbild, dass selbst eine Version des europäischen Vorbilds ist.“⁵⁰ Katalonien im 19. Jahrhundert war in dieser Logik eine innerspanische „Version des europäischen Vorbilds“. Als solches hatte es sich dazu berufen gefühlt, Spanien aus dem ‚Rückstand‘ zu holen, was ihm jedoch bislang nicht gelungen war, wie Vicens einige Zeilen später betonte: „Wir haben es nicht erreicht, den wissenschaftlichen, technischen und intellektuellen Rückstand aufzuholen, den wir seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit uns tragen; wir haben uns noch nicht endgültig modernisieren können.“⁵¹ Die politische Hauptstadt hätte verkannt, dass die bürgerlichen und katalanistischen Eliten der Jahrhundertwende nicht nur Katalonien, sondern ganz Spanien im Blick hatten. Die Katalanisten der ‚Generation von 1901‘ hätten mitnichten eine Haltung antispanischen „Dissens‘“ eingenommen. Sie wichen vielmehr, so Vicens, „vom spanischen Staat als Ausdruck säkularer Ineffizienz ab […]. Sie wichen vom Ort ab, in den sie die staatsnahe Mentalität entlang der Geschichte Spaniens gedrängt hatte; und wie viele haben ihnen später recht geben müssen! Heute, also fünfzig Jahre später, begreifen wir die Möglichkeiten, die diese disziplinierte, organische Armee mit führenden Individuen, starken Minderheiten und breitflächig enthusiastischen Massen gehabt hätte, wenn der Staat, befreit von unnötigen Vorbehalten, diese gewaltige Kraft, ihre entzündete Vitalität aufgenommen hätte.“⁵²

Allein in diesem Zitat ist unschwer zu erkennen, dass Vicens den „Wiederaufbau“ Mitte der 1950er Jahre weder in demokratischen noch in rein katalanisch-nationalen Kategorien fasste. Folgt man diesem Zitat, hatte sich jene „gewaltige Kraft“ nur unter den Bedingungen einer Gesellschaft mit „starken Minderheiten und breitflächig enthusiastischen Massen“ entfalten können. Sicherlich schlossen Vicens’ elitäre Vorstellungen nicht das Prinzip der Volkssouveränität und der politischen Partizipation per se aus. Doch der Autor beschreibt hier einen Gesellschaftszustand, der organisch und hierarchisch organisiert war. Jedenfalls bewegten sich die Ordnungsvorstellungen, die darin zum Ausdruck kamen, jenseits von Idealen parteiendemokratischer Verfassungen, wie sie in den meisten Staaten Westeuropas vorhanden waren und auf die sich die Forschung implizit bezieht, wenn sie rückblickend das Wort „demokratisch“ verwendet.

 Ebd., S. 166.  Ebd., S. 167.  Ebd., S. 92.

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5 Die nova història

Die katalanisch-nationale Perspektive verdeckt jedoch auch die Tatsache, dass der konservative Katalanismus, wie er sich bei Vicens ausdrückte, das poble català stets in einem gesamtspanischen Zusammenhang dachte. Nicht erst im vorangehenden Zitat ist deutlich geworden, dass der Autor der Noticia von einer historischen Mission Kataloniens gegenüber dem restlichen Spanien ausging. Die normative Bezugnahme auf die ‚Generation von 1901‘ war in dieser Hinsicht kein Zufall. Wie der Historiker Enric Ucelay da Cal immer wieder betont hat, äußerte sich im katalanischen Nationalismus der Jahrhundertwende ein „doppelter Patriotismus“.⁵³ Die patria catalana und die patria española standen sich im frühen katalanischen Nationalismus nicht als Gegensätze gegenüber. Vielmehr müsse man sich fragen, so die Arbeitshypothese Ucelay-Da Cals, ob der katalanische Nationalismus „nicht in Wirklichkeit einen neuen spanischen Nationalismus anbot.“⁵⁴ Erst mit dem Scheitern dieses „Angebots“ habe sich eine antagonistische Konzeption des Verhältnisses zwischen Spanien und Katalonien etabliert. In dem Sinne enthielten Vicens’ Aussagen zur ‚Generation von 1901‘ einen normativen Verweis auf eine Form des Katalanismus, der seine patria española noch nicht aufgegeben hatte. Am deutlichsten drückte sich dieser Verweis in dem Interview aus, das Vicens Jahre später anlässlich der Publikation von Industrials i Polítics für La Vanguardia Española gab. Auf die Frage, was das katalanische Bürgertum in politischer Hinsicht vereint habe, antwortete jener wie folgt: „Es vereinte sie ein großes Ideal: Aus Katalonien den Hauptpfeiler eines spanischen Staates zu machen, der zu den großen europäischen Nationen hinzugezählt werden könne.“⁵⁵

5.5 Jaume Vicens als Intellektueller des katalanischen Bürgertums Folgt man Vicens’ Selbsteinschätzung und der einschlägigen Studie, die Borja de Riquer jüngst zur Editionsgeschichte der Noticia vorgelegt hat, so war dieses

 Enric Ucelay-Da Cal: El imperialismo catalán. Prat de la Riba, Cambó, D’Ors y la conquista moral de España, Barcelona 2003, S. 15. Ein Vorwort zu einer Gedichtsammlung Joan Maragalls, eines der intellektuellen Wortführer der Generation von 1901, drückt dieses Prinzip in verdichteter Form aus: „In dieser Weise werden wir die katalanische Heimat wiederaufbauen, indem wir stets die Avantgarde des Fortschrittes darstellen und die spanische Heimat in Schutz nehmen.“ Zitiert aus ebd., S. 251.  Ebd., S. 223.  Interview mit Jaume Vicens, geführt von Manuel del Arco, La Vanguardia Española, 9.4.1959, S. 21.

5.5 Jaume Vicens als Intellektueller des katalanischen Bürgertums

303

Sachbuch äußerst erfolgreich.⁵⁶ Es erschien sowohl in katalanischer als auch in spanischer Sprache, wobei beide Ausgaben innerhalb kurzer Zeit vergriffen waren. Dabei betont de Riquer, dass die Noticia erst nach einem langwierigen Zensurverfahren in die Buchhandlungen gelangte. Auch sei der von Vicens ursprünglich angedachte Titel Nosaltres, les catalans (Wir, die Katalanen) deshalb abgelehnt worden, da er allzu sehr auf eine distinkte katalanische Identität verwies und vor allem in Madrider Ministerialkreisen Erinnerungen an den katalanischen Nationalismus der Vorkriegszeit wachrief.⁵⁷ In identitätspolitischer Hinsicht war ein publizistisches Werk wie die Noticia sicherlich nicht unproblematisch. Für weite Teile der politischen Elite des Franquismus stand der kulturelle Katalanismus im Verruf, lediglich eine Vorstufe zum katalanischen Nationalismus und schlussendlich zum Separatismus darzustellen.⁵⁸ Nichtsdestotrotz darf dieses Zensurverfahren nicht dazu führen, die Noticia, wie es Vicens gegenüber einem exilierten Kollegen tat, als „semi-klandestines“ Werk zu verklären.⁵⁹ Dagegen sprechen vor allem drei Gründe: Erstens forderte die Zensurbehörde, abgesehen vom Titel, keinerlei inhaltliche Änderungen. Vicens’ Vorhaben, die „Mentalität der Katalanen als Volk“ untersuchen zu wollen, blieb entlang des Verfahrens unangetastet.⁶⁰ Zweitens waren diese Verfahren der Form nach zwar reglementiert, doch ihr konkreter Ausgang war in höchstem Maße von den informellen Beziehungen bestimmt, die die Autoren zu der Zensurbehörde pflegten.⁶¹ So konnte Vicens bei dieser wie auch bei anderen Publikationen erheblich davon profitieren, dass mit Florentino Pérez Embid ein Freund und Mitstreiter in der Debatte um das ‚Problem Spaniens‘ an der Spitze der für Zensurfragen zuständigen Generaldirektion für Information stand. Somit konnte Vicens’ Publikation zwar die Skepsis anti-katalanistischer Einflusspersonen wecken, die sich vor allem aus dem Umkreis der Falange rekrutierten. Der katalanische Historiker wurde jedoch zugleich von nicht weniger einflussreichen und staatstreuen

 Vgl. Borja de Riquer: Avantprolèg, in: Jaume Vicens: Noticia de Catalunya, Neuaufl., Barcelona 2010, S. 2– 29.  Vgl. ebd., S. 15 ff.  Vgl. Montserrat Guibernau: Catalan Nationalism. Francoism, Transition and Democracy, London/New York 2004, S. 50 – 69.  Brief von Jaume Vicens an Josep Ferrater Mora vom 21.10.1954, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 78.  Vgl. Zensurakte für Jaume Vicens: Noticia de Catalunya, Barcelona 1954, AGA, Fondo Información y Turismo, (03)013 Caja 21/10415, Exp. 4756 – 53.  Vgl. Jesús A. Martínez Martín: Editar en tiempos de dictadura. La política del libro y las condiciones del campo editorial, in: Ders. (Hrsg.): Historia de la edición en España, Madrid 2015, S. 27– 42.

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5 Die nova història

Eliten protegiert.⁶² Drittens spricht der Erfolg der Noticia in gewisser Hinsicht für sich. Die Zensurakte gibt zwar für die katalanische Fassung eine Auflagestärke von lediglich 1 500 Exemplaren an. Für ein Sachbuch jedoch, das im Wesentlichen an die gebildeten und katalanischsprachigen Schichten Barcelonas gerichtet war, bedeutete dies keine geringe Menge, zumal der Leserschaft auch eine spanische Fassung zur Verfügung stand. So katapultierte die Noticia de Catalunya Vicens endgültig in die katalanische Öffentlichkeit. Der katalanische Schriftsteller Josep Plà und Zeitgenosse Vicens’ beschrieb diese Entwicklung wie folgt: „Vicens kannte in Barcelona im Jahre 1950 eine geringe Anzahl an Menschen. 1955 kannte er bereits viele – und vor allem gab es viele Menschen, die ihn kannten.“⁶³ In eine politische Schieflage begab sich der katalanische Historiker aufgrund seines öffentlichkeitswirksamen Auftritts jedenfalls nicht. Vielmehr ist es so, dass Vicens in den Folgejahren und bis zu seinem Tod seine Position als öffentlichkeitswirksamer Deutungsakteur ausbaute. Vor allem in den letzten zwei Jahren seines Lebens intensivierte Vicens seine außerfachliche Tätigkeit. Wie die bestehenden Biografien anmerken, traf sich Vicens ab dem Jahr 1958 regelmäßig mit Vertretern der katalanischen Wirtschaftselite im Cercle d’Economia, einem zentralen Ort großbürgerlicher Sozialisation in Barcelona.⁶⁴ Besonders bezeichnend für Vicens’ Rolle als Intellektueller des Industriebürgertums war ein Vortrag mit dem Titel Der spanische Großindustrielle in den letzten hundert Jahren, den er im Jahr Oktober 1958 vor diesem Forum hielt, und der treffend als „das politische Drehbuch“⁶⁵ zu Industrials i Polítics beschrieben worden ist.⁶⁶ Der Vortrag zielte in erster Linie darauf ab, die Aufstiegsgeschichte  Vicens fürchtete um den Ausgang des Zensurverfahrens, da Calvo Serer im Jahr 1953 von allen seinen Ämtern enthoben worden war, nachdem er in der Zeitschrift Ècrits de Paris die innenpolitischen Machtverhältnisse des Franco-Regimes offengelegt hatte. Vgl. Rafael Calvo Serer: La politique intérieure dans L’Espagne de Franco, in: Ècrits de Paris 107 (1953), S. 9 – 18. Zu Vicens’ Sorge um das Zensurverfahren siehe Gatell/Soler: Amb el corrent de proa, S. 329 f.  Josep Pla: Jaume Vicens i Vives (1910 – 1960), in: Ders.: Obra Completa, Barcelona 1966 ff., 44 Bde., Bd. 16, S. 123. Dieser Bekanntheitsgrad hält sich bis heute. So zählt der konservative Ökonom und Publizist Fabian Estapé (1923 – 2012) Jaume Vicens zu den „zehn größten Katalanen“. Vgl. Fabian Estapé: Deu grans catalans. Un homenatge personal a deu figures històriques, Barcelona 2006, der Eintrag zu Vicens in S. 121– 131.  Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 255 ff; Gatell/Soler: Amb corrent de proa, S. 487 ff. Siehe dazu auch die institutionseigene Geschichte in Cercle d’Economia (Hrsg): Cercle d’Economia, 1958 – 1983. Una trajectòria de modernització i convivencia, Barcelona 1983.  Josep Termes: La historiografia de la postguerra i la represa de Jaume Vicens Vives, in: Jordi Nadal u. a. (Hrsg.): La historiografia catalana. Balanç i perspectives, Girona 1990, S. 37– 51, hier S. 44.  Vgl. Jaume Vicens: El capità d’indústria espanyol dins els darrers cent anys, in: Recerques. Historia, economía y cultura 10 (1980), S. 162– 173.

5.5 Jaume Vicens als Intellektueller des katalanischen Bürgertums

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des katalanischen Industriebürgertums nachzuzeichnen, um sie als normative Bezugsgröße emporzuhalten. Der Redner begann mit einem Abriss wirtschaftshistorischer Revolutionen, die sich vom Neolithikum bis hin zu „unserer Revolution“, derjenigen des „Großindustriellen“, zog. Sie hätten, wie Vicens versicherte, den „Kampf um die Industrialisierung und um die Freiheit für die technische Forschung“⁶⁷ angeführt – jedoch nur mit partiellem Erfolg. Die „industrielle Revolution“ in Spanien stand für Vicens nämlich noch aus, was auch Ende der 1950er Jahre, wie schon hundert Jahre zuvor, das Engagement der katalanischen Industriellen erfordern würde: „Ich bin absolut davon überzeugt, dass Ihr es seid, Eure Generation, die Ihr die industrielle Revolution sehen werdet […].“ Dafür müsste man jedoch die mentalen Hürden überwinden, die ein technikund industrieskeptischer Konservativismus Spanien in den Weg lege: „[…] man muss bestimmte soziale Gruppen davon überzeugen, dass der Fortschritt mit der Beibehaltung der rigiden Orthodoxie vereinbar ist; man muss diesem versteinerten spanischen Konservativismus, der seit acht Jahrhundert regiert, einflössen, dass es auch unter den Bedingungen wirtschaftlicher Expansion möglich ist, Glückseligkeit und Wohlstand zu erreichen.“⁶⁸ Technik, Industrie und Wirtschaftsexpansion seien, so das implizite Argument, nicht jene bedrohlichen Äußerungen einer technisch-industriellen Moderne, wie sie vom „versteinerten spanischen Konservativismus“ wahrgenommen worden waren. Für die nationalkatholischen Eliten, die Vicens hier unter dem Begriff des „Konservativismus“ ansprach, waren Technik und Industrie allerdings deswegen bedrohlich, da sie als trojanische Pferde einer fremden Moderne das spirituelle Rückenmark des Landes gefährdeten. In diesem Narrativ standen industrielle Revolution und nationale, soziale und spirituelle Zersetzung in einem historischen, wenn nicht gar kausalen Zusammenhang. Dementgegen verteidigte Vicens die Möglichkeit, die Sphären des Politischen und des Technisch-Ökonomischen zumindest insoweit trennen zu können, dass die gefürchteten revolutionären Exzesse und sozialen Unruhen vermieden werden konnten. „[R]igide Orthodoxie“ und „Fortschritt“ – wohlgemerkt industrieller – müssten sich nicht per se als Gegensätze gegenüberstehen. Das katalanische Beispiel würde vielmehr zeigen, dass, gleichwohl die industrielle Revolution mit einem Wandel in der politischen Ordnung einhergegangen war, dieser Wandel nicht zwingend die Gestalt eines revolutionären Umbruchs annehmen musste. Aus Vicens’ wissenschaftlichen Arbeiten und seinen publizistischen Werken erwuchs somit eine Devise, mit der er sich unmittelbar an die bürgerlichen

 Ebd., S. 164.  Ebd., S. 167.

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5 Die nova història

Schichten Kataloniens wandte: Die ‚Glanzzeit‘ Kataloniens musste zurückerobert werden, um von dort aus die ‚Mission‘ wieder in Angriff nehmen, Spanien zum industriellen Zeitalter, zu internationaler Größe und zur ‚europäischen‘ Kultur zu führen.⁶⁹ Ob sich darin ein historisch artikulierter und hinter dem Begriff ‚Europa‘ verborgener Aufruf zu mehr Demokratie im westeuropäischen Sinne äußerte, ist allerdings fraglich. ‚Europa‘ fungierte in erster Linie als Metapher für einen idealtypisch gedachten historischen Kulturraum, in dem der technisch-industrielle Fortschritt der letzten zwei Jahrhunderte von einem in politischer Hinsicht gemäßigten Bürgertum angeführt worden war. Zwar verwies das Adjektiv ‚europäisch‘ auch auf eine bestimmte bürgerliche Kultur und Mentalität. Das kritische Potential seines Narrativs war dennoch nicht in einem etwaigen demokratischoppositionellen Grundgehalt, sondern in der Frage begründet, inwiefern der spanische Staat dieselben Fehler begehen würde, die er in seiner Geschichte gegenüber Vicens’ ‚Katalonien‘ begangen hatte.

5.6 Geschichtswissenschaft und Geltungsanspruch: Die ‚Annales‘ und Katalonien Erst kurz vor seinem Tod schien Vicens die Möglichkeit des „Wiederaufbaus“ mit einer wohlgemerkt unbestimmten Demokratisierung zu verquicken. Den Rahmen dazu bot eine neue Monatszeitschrift, die im Jahr 1959 von katalanischen Intellektuellen ins Leben gerufen wurde und als erstes Periodikum ausschließlich auf Katalanisch erschien. Ermöglicht wurde dies aufgrund der institutionellen und auch finanziellen Unterstützung, die die Herausgeber von einer symbolträchtigen Institution erhielten. Die unweit von Barcelona gelegene Benediktinerabtei in Montserrat war immer schon dem kulturellen Katalanismus verbunden und genoss als Teil der katholischen Kirche einen größeren Handlungsspielraum als die Institutionen mit einer kulturpolitischer Ausrichtung im engeren Sinne.⁷⁰ So wurde die Monatszeitschrift Serra d’Or von Beginn an zum Sprachrohr für diejenigen Eliten Kataloniens, die zunehmend die Frage nach der regionalen Identität und katalanischen Kultur priorisierten.⁷¹ Der Stellung entsprechend, die Vicens

  Vgl. Albert Balcells: L’Institut d’Estudis Catalans i la Diputació de Barcelona sota el règim franquista, in: Afers. Fulls de recerca y pensament 16 (2001), S. 413 – 436.  Vgl. Agustí G. Larios/Xavier Pujadas/Carles Santacana: Els intel·lectuals catalans durant la dictadura franquista, in: Jordi Casassas (Hrsg.): Els intel·lectuals i el poder a Catalunya. Materials per un assaig d’història del món català contemporani (1808 – 1975), Barcelona 1999, S. 325 – 392, insbesondere S. 362 f.

5.6 Geschichtswissenschaft und Geltungsanspruch: Die ‚Annales‘ und Katalonien

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dank seiner publizistischen Tätigkeit innerhalb dieser Eliten erreicht hatte, erhielt er ab Januar 1960 eine eigene Sektion in der neuen Zeitschrift. In L’espill dels dies (Spiegel unserer Tage) schrieb Vicens bis zu seinem Tod insgesamt sechs Beiträge, die sich mit verschiedenen kulturpolitischen Angelegenheiten befassten. Seine Mitarbeit begann er dabei mit einem Artikel, in dem er unter dem Titel La nova història dafür eintrat, die katalanische Geschichte einer Perspektivenverschiebung zu unterziehen. Dieser Text soll hier abschließend behandelt werden, da sich in ihm Denkmuster verdichteten, die Vicens’ intellektuelle und wissenschaftliche Laufbahn ausgezeichnet hatten. Der katalanische Historiker zielte in diesem Artikel vor allem darauf, den Kreis zwischen seiner Rezeption internationaler „Innovationen“ und seiner Geschichtsrevision zu schließen. Wie der katalanische Historiker versicherte, war der „historische Revisionismus der neuen Schule nämlich die Folge des internationalen wissenschaftlichen Ambientes“⁷² gewesen: „Damit möchte ich sagen, dass ich mit meiner Zeit und im selben Rhythmus wie die Wissenschaftler in aller Welt marschiere.“⁷³ Vicens knüpfte damit direkt an seine Rezeption der Annales an, die er als Prestige- und Profilspender sowie als Chiffre verwendet hatte, um eine neue Geschichtswissenschaft zu fordern. Bereits im Jahr 1957 hatte er in der von ihm herausgegebenen Historia social y económica de España y América einleitend das Jahr 1950 zum „absolut signifikanten Datum“⁷⁴ erhoben, da dem Historiker seit dem Historikerkongress in Paris die Mittel in die Hand gegeben worden seien, die Gegenwart historisch zu verstehen. Nur wenig später führte Vicens den Leser in die spanische Übersetzung von Maurice Crouzets Histoire Générale des Civilizations mit einer noch deutlicheren Ansage ein: „Manche Historiker hatten den neuen Weg geahnt und die frohe Botschaft seit 1929 [Gründungsjahr der Zeitschrift Annales d’ histoire économique et sociale] verkündet.“ Für den katalanischen Historiker stand Ende der 1950er Jahre fest, dass „die neue Historiografie ihre Schlacht gewonnen hat. […] In Wirklichkeit gibt es nur zwei Historiografien: Diejenige, die vor und diejenige, die nach 1950 gemacht wurde […].“ Jenes Jahr präsentiere sich als Scheideweg für die historiografische Welt, denn man habe seitdem, so Vicens, „nur für oder gegen die ‚Annales‘“ sein können.⁷⁵

 Jaume Vicens: La nova història, Serra d’Or, Januar 1960, erschienen in: Vicens: Obra dispersa, Bd. 1, S. 507– 510, hier S. 509.  Ebd., S. 508  Jaume Vicens: Introducción, in: Ders. (Hrsg.): Historia social y económica de España y América, 4 Bde., Barcelona 1957 ff, Bd. 1: Colonizaciones, feudalismo, América primitiva, S. 7– 27, hier S. 11.  Vicens: Prólogo, in: Crouzet (Hrsg): Historia general de la civilizaciones, S. 7 und S. 9.

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5 Die nova història

Nun hatte sich die historische Schule von Barcelona „für […] die ‚Annales‘“ entschieden und eine nova història hervorgebracht, die für Vicens erst die katalanische und durch sie die spanische Geschichtswissenschaft auf den Weg der ‚Wissenschaft‘ und der ‚kollektiven Selbsterkenntnis‘ zu bringen vermochte.Wenn aber, so Vicens in seinem Artikel für Serra d’Or, die nova història die Mythen der bestehenden Geschichtsschreibung zerstörte, so müsse man auch danach fragen, welche Geschichte aus einer Perspektive hervorging, die sich „die Lehren und die Methoden aus der Humangeografie, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften und der Statistik“ aneignete. Es mag kaum überraschen, dass die Antwort auf diese Frage für Vicens genau das unter Beweis zu stellen schien, was er schon längst im Blick gehabt hatte: „Katalonien und die Katalanen treten ruhmreich aus der Feuerprobe heraus, die darin besteht, auf sie die wissenschaftliche Optik der neuen Schule anzuwenden; es sind Menschen, die viel gearbeitet und sich abgemüht haben, deren einziger, verzeihlicher Fehler es war, die politischen und gesellschaftlichen Innovationen zu empfangen, zu verkünden und sich an ihre Spitze zu stellen […]. Ein Land, das das Prinzip des politischen Kompromisses und des gemeinschaftlich beherrschten Imperiums gelehrt und praktiziert hat, das die Tradition der Eltern geehrt, aber nie die Fortschrittsliebe ihrer Nachkommen beschränkt hat und das in bestimmten Momenten seiner Geschichte […] teilweise seinen Traum hat erfüllen können, ein Regime der Toleranz und wahren Demokratie zu leben.“⁷⁶

Erst die „wissenschaftliche Optik“ hatte für Vicens die historischen Tugenden Kataloniens zu Tage befördert: Den Fleiß, einen Geist politischer und sozialer Kompromiss- und Innovationsbereitschaft, die Fähigkeit, den Fortschritt anzunehmen ohne einen Bruch mit den Traditionen zu vollziehen, und schließlich die Bereitschaft, sich am Aufbau eines spanischen Imperiums zu beteiligen, das hier stellvertretend für gesamtspanische Größe stand.Welche konkrete Gestalt die vom Autor angesprochene „Demokratie“ annehmen musste, um „wahrhaftig“ zu sein, blieb allerdings offen. Sicherlich enthielt der implizite Verweis auf Formen der ‚unwahren‘ Demokratie das Potential dazu, als Kritik an einem politischen System ausgelegt zu werden, das sich seit 1942/43 unter anderem über den Begriff der „organischen Demokratie“ legitimierte.⁷⁷ Der Demokratiebegriff wurde affirmativ verwendet, seine konkrete Auslegung blieb aber unbestimmt.⁷⁸

 Vicens: La nova història, S. 509 f.  Vgl. Miguel A. Giménez: Las primeras Cortes del Franquismo, 1942– 1967. Una dócil cámara para la dictadura, in: Vínculos de Historia 1 (2012), S. 247– 270.  Dementgegen vertritt der Historiker Miquel A. Marín die These, dass Vicens bereits zu Beginn der 1950er Jahre den „Liberalismus und eine Vorstellung des 19. Jahrhundert als Grundlage für die Demokratie verteidigte, und zwar in einer Weise, die zwangsläufig mit der offiziellen Ge-

5.6 Geschichtswissenschaft und Geltungsanspruch: Die ‚Annales‘ und Katalonien

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Demgegenüber ist die Tatsache eindeutig, dass sich für Vicens mit der nova història der Kreis zwischen dem „wissenschaftlichen Fortschritt“ seiner Escola und dem „historischen Fortschritt“ Kataloniens schloss. Auch der Historiker Vicens hatte die „Innovationen“ empfangen und sich an die ‚Spitze des Fortschritts‘ gestellt, wodurch die Adaption der „wissenschaftlichen Optik“ selbst zum Ausdruck katalanischer Tugenden wurde. Vicens hatte seine Rezeption der ‚Annales‘ in einen Diskurs eingebettet, in dem er die katalanische Kultur, in die er sich selbst und seine Escola stets einschloss, als Spaniens „offenes Fenster nach Europa“ und, in dieser Logik, hin zum ‚Fortschritt‘ darstellte. ‚Wissenschaftliche‘, von ‚Europa‘ kommende Arbeitstechniken würden zeigen, dass die Geschichte Kataloniens insbesondere im technisch-industriellen Zeitalter eine ‚europäische‘ war. In eben diesem Sinne fasste Vicens gegenüber dem Direktor des staatlich betriebenen Instituto de España in London, Xavier de Salas, die wissenschaftliche Leistung von Industrials i Polítics zusammen. Als Autor stehe er, so Vicens, „an der Spitze derjenigen, die die Größe unseres [katalanischen] 19. Jahrhunderts einfordern […].“ Dafür müsse man jedoch „wissenschaftlich arbeiten und die Gewissheit der Hypothese mit Fakten untermauern. Ich hoffe, dass die Forschung auch in Zukunft nichts anderes als die folgende wunderbare Tatsache unter Beweis stellen wird: Dass die Legitimität Kataloniens – diejenige, die uns unzerstörbar macht und uns sowohl für das Aufleben im 19. Jahrhundert als auch für den heutigen Wiederaufbau vorbereitete – in seiner vollständig europäischen Beschaffenheit liegt.“⁷⁹

Das Erkenntnisinteresse war damit klar ausgerichtet: Die Zukunft der Forschung lag für Vicens darin, die „europäische Beschaffenheit“ der katalanischen Geschichte aufzeigen und sie somit (zurück) auf den „europäischen“ Pfad zu holen, den sie nie hätte verlassen sollen – einen Pfad der Wissenschaft, der Technik, der Industrie, der bürgerlichen Gesellschaft und nur zuletzt auch einer „wahren Demokratie“, deren Semantik allerdings bis zu seinem Tod im Jahr 1960 unbestimmt blieb. schichtsdeutung kollidieren musste.“ Diese These entwickelt er aus zwei von ihm edierten und bis dahin unveröffentlichten Texte des katalanischen Historikers, die jeweils für eine geplante Neuauflage der Historia General Moderna (1942) und für das vom italienischen Verlag Marzorati herausgegebene Kollektivwerk Europe du dix-neuvième et du vingtième siècle. Problèmes et interprétations historiques, 7 Bde., 1959 – 1967, verfasst wurden. Es stellt sich allerdings die Frage, weshalb gerade diese unpublizierten bzw. außerhalb Spaniens erschienenen Texte die beste Grundlage dafür bieten sollten, auf die „eigentlichen“ historischen Ansichten Vicens’ vorzudringen. Jaume Vicens: España contemporánea (1814– 1953), Barcelona 2012; ders.: La crisis del siglo XX (1919 – 1945), Barcelona 2012, beide mit einem Vorwort von Miquel A. Marín.  Brief von Jaume Vicens an Xavier de Salas vom 6.1.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 1, Carpeta S (14), unterstrichen im Original.

6 „Das exzessive Herrschaftsbestreben des Herrn Vicens“: Reaktionen auf die nova història Vicens setzte mit dem Artikel La nova història in gewisser Weise den publizistischen Schlussstein auf eine wissenschaftliche Laufbahn, die hauptsächlich dem Auf- und Ausbau sowie der Profilierung der Escola de Barcelona und dem katalanischen „Wiederaufbau“ im gesamtspanischen Kontext gewidmet war. Dabei hatte der Historiker, wie bereits zitiert, im Einklang mit den Kategorien, mit denen er auch sonst operierte, das CEHI, die EHM und den IHE als „diejenigen Meilensteine [bezeichnet], die erst die spanische Realität mit derjenigen des Abendlandes in augenscheinliche und harmonische Übereinstimmung“ hatten bringen können. Von der Universität Barcelona aus „die spanische Hochebene erobern“ – mit dieser Devise hatte er gegenüber Josep Ferrater Mora insbesondere sein bibliografisches Großprojekt beschrieben.¹ In diesem Kontext übernahm Vicens die für Lucien Febvre, Marc Bloch und auch Fernand Braudel charakteristische und fast dichotomische Unterscheidung zwischen überkommener Geschichtswissenschaft und neuem esprit. Diese spezifische Form der relationalen Verortung innerhalb seines professionellen Umfelds erfüllte eine doppelte Funktion. Vicens konnte, ähnlich wie die Historiker aus dem Umkreis der ‚Annales‘, seine „Ambitionen bekunden, die Gewohnheiten der Historikerschaft zu verändern.“² Zudem schrieb sich der katalanische Historiker selbst in diesem esprit ein, womit er die Escola demonstrativ auf die Geschichtswissenschaft jenes ‚Europas‘ ausrichtete, dem Katalonien seither seine „Legitimität“ verdankt habe. Während jedoch der Großteil der Historiker, die dem engeren Kreis der ‚Annales‘ angehörten, den epochalen Schwerpunkt auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit legten, richtete Vicens sein Interesse auf das katalanische 19. Jahrhundert.³ Statistische, wirtschaftswissenschaftliche, soziologische Methoden wurden bei ihm zu Indikatoren einer „wissenschaftlichen Optik“, die auf wundersame Weise das Bild eines technisch-industriellen und bürgerlich geprägten Kataloniens zu bekräftigen schien. Dieselbe Optik bestätigte für Vicens aber auch die Tatsache, dass eben dieses Katalonien’ daran gescheitert war, auch den Rest Spaniens mit ‚Europa‘ zu synchronisieren, d. h. in die technisch-industrielle Moderne zu führen. Vicens machte mit dem Narrativ der gescheiterten Industrialisierung das katalanische Industriebürgertum des 19. Jahrhunderts zu einem normativen Be-

 Siehe dazu Kapitel II.4.3.  Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 89.  Vgl. ebd., S. 132– 137. https://doi.org/10.1515/9783110532227-013

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zugspunkt, den es angesichts der Herausforderungen der 1950er Jahre zu aktualisieren galt. Nun ist bereits in den vorangehenden Kapiteln deutlich geworden, dass Vicens’ revisionistischer Impetus kaum Widerhall bei seinen Berufskollegen fand. Weder seine programmatischen Aufsätze noch seine rhetorisch stark aufgeladenen Vorworte vermochten es, das spanische Historikerfeld zu einschlägigen Debatten zu bewegen. Die „Mauern der Stille“, die der katalanische Historiker sogar fachöffentlich beklagte, schienen auch seine wichtigsten Monografien zu umhüllen. Sowohl die Aproximación a la historia de España als auch das Manual de Historia Económica de España und Industrials i Polítics blieben in den wichtigsten Rezensionsorganen unkommentiert. Eine den Ansprüchen des katalanischen Historikers genügende Auseinandersetzung mit den Thesen oder Perspektiven fand nicht statt.⁴ Vicens’ Konflikte mit dem Consejo und seine Isolation von den in akademischer Hinsicht entscheidenden Kreisen dürfen jedoch nicht auf sein Verhältnis gegenüber anderen (wissenschafts)politisch relevanten Behörden und Personen extrapoliert werden. Der Direktor des CEHI konnte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre durchaus auf die Unterstützung durch das Erziehungs- sowie Außenministerium zählen. Darüber hinaus schlug Vicens aus seinen Kontakten zur Zensurbehörde insofern Kapital, als dass sich Florentino Pérez Embid und auch sein Nachfolger ab dem Jahr 1957, Vicente Rodríguez Casado, stets für einen möglichst schnellen Ablauf und positiven Ausgang der einschlägigen Zensurverfahren einsetzten. Sieht man von bereits besprochenen Hindernissen ab, die der Publikation der Noticia de Catalunya im Weg standen, verfassten die Zensoren in anderen Fällen sogar durchaus wohlwollende Gutachten. Dies gilt sowohl für den Inhalt der Noticia selbst, die für den zuständigen Zensor „interessante Fakten“⁵ enthielt, als auch und vor allem für sein Industrials i Polítics, das wiederum für einen

 Noch in der Mitte der 1980er Jahre vermisste Alejandro Sánchez eine intensive Auseinandersetzung mit Vicens’ Thesen. Die jüngere Forschung habe diese übernommen, ohne sie jedoch zu problematisieren. Kritische Stellungsnahmen kamen in den 1960er und 1970er Jahren eher vonseiten der linksnationalistischen, katalanischen Historiografie, die auf Vicens’ ‚doppelten Patriotismus‘ und seine Destruktion nationaler Mythen reagierte. Eine grundlegende Revision wurde erst im Jahr 1985 von Borja de Riquer angeregt. Vgl. Alejandro Sánchez: La burguesía catalana del siglo XIX en la obra de Jaume Vicens Vives, in: Manuscrits. Revista d’Història Moderna 3 (1986), S. 41– 75; Antoni Furió: La historiografia catalana sota el franquisme, in: Albert Balcells (Hrsg.): Història de la historiografia catalana, Barcelona 2004, S. 205 – 228; Borja de Riquer: Revisar Vicens. Una necessitat i un repte, in: L’Avenç 83 (1985), S. 64– 71.  Zensurakte für Jaume Vicens: Noticia de Catalunya, Barcelona 1954, AGA, Fondo Información y Turismo, (03)013 Caja 21/10415, Exp. 4756.

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weiteren Mitarbeiter derselben Behörde in dessen Analyse der „spanischen Dekadenz“ ein „sehr lehrreiches und instruktives Traktat“⁶ darstellte. Erst die Publikation der vierbändigen Historia social y económica de España y América (1957– 1959) brach die von dessen Herausgeber beklagten „Mauern der Stille“ auf. Allerdings brachten diese Reaktionen auch die verborgenen Konfliktlinien abrupt zum Vorschein und warfen zudem ein bezeichnendes Licht auf die Frage, wogegen sich die Kritik eigentlich richtete, wie diese artikuliert und wie mit ihr umgegangen wurde. Vicens hatte dieses Gemeinschaftswerk wenige Jahre zuvor angeregt und dafür neben seinem unmittelbaren Umfeld auch andere Historiker aus dem spanischsprachigen Raum gewinnen können. Joan Relgà, Jordi Nadal, Joan Mercader, Guillermo Céspedes und schließlich Vicens selbst übernahmen die ihren Forschungsinteressen entsprechenden Abschnitte. Hinzu kamen weitere Historiker, die wie Mario Hernández Sánchez-Barba (geb. 1925), Antonio Domínguez Ortiz (1909 – 2003) und José M. Font (geb. 1915) zwar der Escola de Barcelona fern standen, doch für bestimmte Teile der spanischen und lateinamerikanischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte engagiert werden konnten. Außer dem katalanischen Althistoriker Luis Pericot (1899 – 1978), der das Institut für Frühgeschichte des CSIC in Barcelona leitete und zu dem Vicens eine gute Beziehung pflegte, waren jedoch kaum Kollegen aus den zentralen spanischen Forschungseinrichtungen beteiligt, insbesondere nicht aus den Instituten des Consejo. ⁷ Diese erste Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens und Amerikas umfasste alle Epochen, von der Frühgeschichte bis ins frühe 20. Jahrhundert. Sieht man von Vicens’ unmittelbarem Mitarbeiterkreis ab, so zeichneten sich die Autoren kaum durch gemeinsame Perspektiven oder Arbeitsmethoden aus. Die Historia social y económica de España y América war daher ebenso heterogen wie die Autorenschaft selbst. Einem gemeinsamen Denkstil entsprang dieses Werk nicht. Die einzige unmittelbare, allerdings auch bemerkenswerte fachöffentliche Antwort auf diesen Vorstoß erfolgte im Januar 1959 auf den Seiten von Arbor, nachdem die ersten drei Bände erschienen waren. Hatten bis dahin Vicens’ Pu-

 Zensurakte für Jaume Vicens: Industrials i Polítics. Segle XIX, Barcelona 1958, AGA, Fondo Información y Turismo, (03)013 Caja 21/122219, Exp. 5468.  Ausgenommen sind Joan Mercader, der seit dem Jahr 1954 als ‚Botschafter‘ der Escola im Instituto Jerónimo Zurita des CSIC in Madrid arbeitete, und Mario Hernández, der die Sektion für Lateinamerikanische Geschichte des CSIC in Oviedo leitete und bereits für die EHM und den IHE Beiträge verfasst hatte. Abgesehen vom Mitarbeiterkreis, der aus Vicens’ unmittelbarem Umfeld rekrutiert wurde, war die Auswahl der Mitarbeiter größtenteils umstandsbedingt, wie Vicens in einem an Claudio Sánchez Albornoz gerichteten Brief vom 12.11.1957 erklärte. ACEHI, Fondo IHE, IHE 1, Carpeta S(14).

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blikationen und sonstige wissenschaftliche Projekte darin keine Erwähnung gefunden, so druckte die Redaktion der zentralen Zeitschrift des Consejo nun einen nahezu 100-seitigen, vom Leiter des Instituto Balmes de Sociología, Carmelo Viñas Mey, verfassten Verriss der ersten zwei, der Antike und dem Mittelalter gewidmeten Bänden. Wie der Autor dieser Buchbesprechung einleitend bemerkte, war seine Kritik vor allem durch manche schwere Defizite motiviert, die dem Gemeinschaftswerk anhafteten und denen er in den folgenden Seiten einzeln nachging. Zunächst würden die ersten, von Luis Pericot und weiteren Autoren verfassten Bände jeglicher Forschungsgrundlage entbehren.⁸ Es lägen kaum Monografien vor, die eine hinreichende empirische Basis für diese sozial- und wirtschaftshistorische Darstellung der spanischen Geschichte für die entsprechenden Epochen liefern könnten. Insofern war für Viñas eine solche Synthese verfrüht, zumal die Autoren weitgehend darauf verzichtet hätten, die wenigen vorhandenen Studien sowie die einschlägigen Quellenbestände in ihren Ausführungen mit einzubeziehen. Daraus erwuchs für den Kritiker der Eindruck, das Werk sei in „Eile“ geschrieben worden, was auch in stilistischer Hinsicht „auf jeder einzelnen Seite zu spüren“ sei. Nicht umsonst zeichnete sich dieses Werk für Viñas durch eine gewisse „List“ aus, die darin bestand, Folgerungen aus „mathematischen Berechnungen“ zu ziehen, „ohne dabei die entsprechenden Belege“ zu liefern.⁹ In der Tat entsprachen die Texte in dem Sinne nicht den geltenden wissenschaftlichen Standards, da auf Fußnoten und sonstige Verweise verzichtet worden war. Dies war der editorischen Ausrichtung des Werks selbst geschuldet, das sich nicht nur an das Fachpublikum, sondern ebenfalls und vor allem an den historisch interessierten Leser richtete. Der von Vicens mitgegründete und von seinem Schwager Frederic Rahola geleitete Verlag Teide weitete dadurch zwar den Kreis potentieller Käufer aus, machte das Werk jedoch aus fachlicher Sicht angreifbar, zumal es mit dem erklärten Anspruch veröffentlicht worden war, die erste „wissenschaftliche“ Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens zu sein.¹⁰ Den Kern von Viñas’ Kritik bildeten allerdings zwei weitere Punkte: Der Soziologe warf den Autoren nämlich „Positivismus“ und „Selbstüberschätzung“ vor. Viñas griff Vicens’ Profilierungsstrategie an und warf gleichzeitig dem Inhalt der Historia social y económica genau das vor, was sie zu überwinden vorgab. „Po-

 Darunter befanden sich mehr oder wenig akademisch etablierte Historiker wie Guillermo Céspedes und Luis Pericot selbst, doch auch historisch geschulte Gymnasiallehrer wie Enric Bagué (1900 – 1987).  Carmelo Viñas Mey: Apuntes sobre Historia social y económica de España y América, in: Arbor 43 (1959), S. 33 – 57 und S. 202– 276, hier Teil I, S. 34 f. und S. 36.  Vgl. Vicens: Introducción, in: Ders. (Hrsg.): Historia social y económica de España y América, S. 7– 27.

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sitivistisch“ sei das Werk nämlich zunächst darin gewesen, dass es „um die althergebrachten und längst überholten Methoden historischer Darstellung kreist: Vorherrschaft der Fakten, statischer Beschreibungsstil, massive Anhäufung von Ereignissen und Tatsachen, die nicht immer analysiert werden […].“ Der Text sei „vom reinsten historischen Positivismus beherrscht: Geschichte = Fakten, geistlose Geschichte.“¹¹ Dies war für den Kritiker besonders problematisch, da Vicens in seiner Einleitung große Erwartungen geweckt habe – Erwartungen, die einer entsprechenden Enttäuschung gewichen seien: „Nachdem ein innovativer, ambitionierter und zugegebenermaßen suggestiver ‚Plan‘, wie Professor Vicens es ausdrückt, entworfen wird, […] zeichnet sich der Inhalt durch das aus, was wir seit jeher kennen: Durch den konventionellen, wiederholten, stereotypen Charakter unserer Gesamtübersichten und Handbücher.“ Umso stärker störte sich Viñas demnach an der „Selbstzufriedenheit“, mit der Vicens die gesamte Ausgabe präsentierte.¹² Der Autor verband ferner den Vorwurf mangelnder Analyse und konventioneller Darstellungsformen mit der Warnung vor einer „Verdinglichung der Geschichte“. An dieser Stelle verwendete Viñas den Begriff des „Postitivismus“ in der Weise, wie ihn Palacio Atard oder Ibañez Martín gebraucht hatten.¹³ Das ‚Geistlose‘ an der Historia social y económica lag für Viñas nicht nur in der Anreihung historischer Fakten, sondern auch darin, dass sie die Geschichte „ohne Geist“ erkläre. Die Ereignisse seien nur „die Oberfläche“: „Sie werden von den Ideen, den großen spirituellen Bewegungen, vom Selbstbild, das jede Epoche vom Leben entwirft, von den Anreizen, den Impulsen und den Motivlagen der Menschen inspiriert, bewegt, determiniert oder bedingt […].“¹⁴ Interessanterweise griff der Soziologe Viñas dabei, anders als Palacio Atard, explizit auf eine Autorität zurück, die direkt auf Vicens’ eigenen symbolischen Haushalt verwies. Eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte müsse, so Viñas, auf Typologien geistiger Haltungen aufbauen: „Strömungen, Anschauungen, Vorstellungen – dasjenige, was Braudel Modelle bezeichnet –, Prinzipien, Werte, Haltungen, kollektive Geisteszustände […].“¹⁵ Carmelo Viñas würde nur wenige Monate später Fernand Braudels Aufsatz Histoire et sciences socials: La longue durée in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Revista Internacional de Sociología abdrucken.¹⁶ Al-

 Viñas Mey: Apuntes sobre Historia social y económica de España y América (I), S. 33.  Ebd. S. 34 und S. 36.  Siehe dazu Kapitel I.3.4.  Viñas Mey: Apuntes sobre Historia social y económica de España y América (I), S. 34.  Ebd. S. 38.  Vgl. Fernand Braudel: Historie et sciences sociales. La longue durée, in: Revista Internacional de Sociología 18 (1960), S. 197– 214 und S. 357– 371.

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lerdings bedeutete der affirmative Verweis auf Braudel keinesfalls, dass sich Viñas dessen Perspektiven angeeignet hatte. Viñas’ Geschichte geistiger „Strömungen“ deckte sich trotz des Verweises auf die Ereignisgeschichte als bloße „Oberfläche“ wohl kaum mit dem, was Braudel in der Méditerranée oder im Ansatz zur longue durée vorgelegt hatte.¹⁷ Der Rekurs auf den sichtbaren Kopf der Annales erfüllte hier vielmehr die Funktion, den katalanischen Historiker mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und ihm damit das symbolische Kapital streitig zu machen, das er sich seit Beginn der 1950er Jahre versucht hatte anzueignen. Diese Dimension von Viñas’ Kritik muss deswegen hervorgehoben werden, da sie deutlich macht, dass es nicht um die Ablehnung einer etwaigen Revision historischer Perspektiven im Geiste der Annales ging. Die Vehemenz, mit der Viñas Vicens’ Historia social y económica de España y América angriff, entsprang vielmehr einer Konkurrenzsituation, in der es um die Deutungshoheit auf dem Feld der Sozialgeschichte ging und in der vor allem Vicens’ Ambitionen und die entsprechenden Profilierungsstrategien abgewehrt werden sollten. So hatte auch Rafael Olivar (1911– 1998), Historiker und Leiter des Referats für Bibliografie des Consejo, ein Jahr vor Viñas und ebenfalls auf den Seiten von Arbor „manche Nachahmer der französischen Schule“ in Spanien dazu ermahnt, es nicht ihren Vorbildern darin gleichzutun, sich die „Bezeichnung des ‚Neuen‘“ schlechthin aneignen zu wollen.¹⁸ Diese Strategien würden mit Vorliebe, so Olivar, von „Gründern von Religionen, Sekten, Schulen und Grüppchen“ angewendet, wobei mit ihnen stets die „unwürdige Missbilligung alles Vorherigen“ einhergehe. Gleichwohl dem Autor die „große Beliebtheit“ verdächtig vorkam, den die sozialund wirtschaftshistorischen Perspektiven von Fernand Braudel und Charles Morazé „unter den russischen Historikern“ zu geniessen schienen, konnte Olivar der „von Febvre und Marc Bloch gegründeten Schule“ das „Talent und den Fleiß kaum absprechen“. Daher hieß der Autor sie „[w]illkommen, solange sie keinen dogmatischen und vereinnahmenden Geltungsanspruch kundtun und nicht alle anderen mit geringschätzendem Mitleid begegnen.“¹⁹ Nicht die Perspektiven selbst waren für Olivar das Problem. Er störte sich vordergründig an dem, was er als Exklusionsstrategie wahrnahm, wobei sich seine Kritik auch an Vicens als den profiliertesten „Nachahmer“ jener „neuen Schule“ richtete. Die Reaktionen auf die Historia económica y social de España y América verbanden demnach die Kritik an der „Verdinglichung der Geschichte“ mit der  Zu Braudels struktur- und konjunkturhistorischen Ansätzen siehe Raphael: Das Erbe von Bloch und Febvre, S. 122 – 131.  Zum „Triumphalismus“ der Annales siehe ebd., S. 199 – 205.  Rafael Olivar: Otra ‚nueva‘ escuela histórica, in: Arbor 39 (1958), S. 407– 411, hier S. 407, S. 408 und S. 410.

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Abwehr einer Profilierungsstrategie, die Vicens als Frontkämpfer einer neuen Historiografie darstellte. Dieser Deutungskampf erklärt allerdings nur teilweise die Form und den Ton der Kritik, denn es war kein Zufall, dass gerade Rafael Olivar und Carmelo Viñas ihre Stimmen gegen Vicens erhoben. Während Ersterer im Jahr 1948 auf Druck der Berufungskommission bei den oposiciones für den Lehrstuhl in Barcelona den Platz zugunsten Vicens’ hatte räumen müssen, begegnete Viñas nicht erst seit der Publikation des IHE und der damit einhergehenden „Benotung“ seiner Arbeiten Vicens und dessen Escola mit Distanz.²⁰ Der Madrider Soziologieprofessor stand seit dem Bürgerkrieg der Falange und damit jenen politischen und intellektuellen Eliten des Regimes nahe, die im Katalanismus einen Vorboten für den Zerfall der nationalen Einheit sahen. In diesem Sinne versuchte der Redaktionsleiter des IHE, Jordi Rubió, seinen Kollegen aus Sevilla und Mitautor der Historia social y económica, Guillermo Céspedes, angesichts des weitschweifigen Verrisses zu beruhigen: „Das mit Carmelo Viñas hat keinerlei Bedeutung. […] Viele Leute haben sich gegen die unberechtigte Wucht eines Angriffs gestellt, dessen Ursprünge in der ausgeprägten antikatalanistischen Phobie des Herrn Viñas gesucht werden müssen, wobei er eine solche schon im Jahr 1940 bewies, als er Personen wie Pericot und Vicens bei der Polizei denunzierte. Dieser Umstand wird Dir sicherlich helfen, einiges zu verstehen.“²¹

Einen fachöffentlichen Einspruch auf Viñas’ Verriss gab es nicht. Vicens vermied es, sich mit dem Madrider Konkurrenten auf eine Debatte einzulassen, die damit drohte, über das historiografische Feld hinaus Wellen zu schlagen. Verfolgt man die Einträge zu den Publikationen Viñas’ im IHE, so wird deutlich, dass der Historiker aus Barcelona seinen Kritiker weder vor noch nach der zitierten Rezension herausforderte. Auch in Vicens’ Forschungsüberblicken wurde stets und damit auch nach 1959 die Qualität von Viñas’ Arbeiten nicht verschwiegen.²² Über die Hintergründe dieser fehlenden Reaktion gibt allerdings ein Brief Aufschluss, den Vicens an den französischen Historiker und Katalonienspezialist Pierre Vilar kurz nach Veröffentlichung in Arbor schrieb: „Die Sache mit Viñas Mey stört mich ungeheuerlich. Ich kann ihm nicht antworten, da mein Band [der vierte] noch

 Siehe zu Olivar und Viñas Mey jeweils Kapitel II.2.2. (FN) und II.4.3.  Brief von Jordi Rubió an Guillermo Céspedes vom 9.4.1959, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.  Exemplarisch war dabei die Reaktion des IHE auf Viñas’ Kritik. Carmen Batlle merkte lediglich die „kritische Analyse“ des Madrider Historikers an. Sowohl in Vicens’ Artikel für Hispania aus dem Jahre 1954 als auch in seinem Beitrag für die Revue Historique von 1958 unterstrich Vicens den wissenschaftlichen Wert der Untersuchungen Vinas’. Vgl. IHE 5 (1959), S. 421, Vicens: Hacia una historia económica de España, S. 500 und Vicens.: L’Espagne aux XVIe et XVIIe siècles, S. 7.

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nicht durch das Zensurverfahren ist. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie sich diese Geschichte zu Herzen nähmen und diesen lächerlichen wissenschaftlichen Inquisitor zerreißen würden.“²³ Folgt man den Deutungen, die in Vicens einen historiografischen ‚Dissidenten‘ sehen, so ließe sich dieses Zitat so interpretieren, dass über der letzten Publikation des katalanischen Historikers gleichsam das Damoklesschwert der franquistischen Zensur hing. Die Quellen, die dem Autor vorliegen, geben allerdings keinen Aufschluss darüber, inwiefern nicht nur Vicens, sondern auch Viñas Kontakte zu Personen pflegte, die Einfluss auf den Ausgang der Zensurverfahren nehmen konnten.²⁴ Fernab der vereinfachten Gegenüberstellung Vicens/franquistische Zensur bedarf der Umstand, dass sich der katalanische Historiker um den Ausgang des Zensurverfahrens sorgte, einer differenzierteren Erklärung. Jaume Vicens hatte zu Beginn seiner Karriere und auch danach den Aufbau innerspanischer Netzwerke vorwiegend auf Intellektuelle und politische Entscheidungsträger aus dem katholischen Lager gerichtet. Mit dem Außenministerium kam diesen Stützen in den letzten Jahren eine weitere hinzu, die jenseits der politischen Eliten des Falange-Lagers lag.²⁵ Die Spannungen, die nicht erst Ende der 1950er Jahre innerhalb der franquistischen Eliten bestanden, waren mit der Regierungsumbildung des Jahres 1957 weiter verschärft worden. Die Falange verlor mit dem Aufkommen einer neuen Riege katholischer Minister, den sogenannten ‚Technokraten‘, zunehmend an politischem Gewicht, was die inneren Machtkämpfe verschärfte.²⁶ Diese Konstellation betraf zwar nicht unmittelbar ein Zensurverfahren, in dem es um ein in politischer Hinsicht wenig brisantes Buch ging. Dennoch schien es wenig ratsam zu sein, sich auf ein Kräftemessen mit Carmelo Viñas einzulassen und damit die Solidität der Bündnisse auf die Probe zu stellen, die der katalanische Historiker für den Erfolg seiner Projekte benötigte. Jedenfalls reizte Vicens nicht das polemische Potential

 Brief von Jaume Vicens an Pierre Vilar vom 4. 2.1960, erschienen in: Epistolari de Jaume Vicens, Bd. 2, S. 530. Dieser letzte Band, der vom Verlag bereits für das Jahr 1959 herausgegeben worden war, wurde wenig später freigegeben. Die entsprechende Zensurakte ist nicht erhalten.  Auf Anfrage Vicens’ brachte Rodríguez Casado Industrials i Polítics erfolgreich durch das Zensurverfahren. Vgl. Brief von Jaume Vicens an Vicente Rodríguez Casado vom 25.11.1958. ACEHI, Fondo IHE, IHE 1(13)1.  Vgl. Javier Tusell: La España de Franco. El poder, la oposición y la política exterior durante el franquismo, Madrid 2005.  Die Literatur weist die Bezeichnung „Technokraten“ meist dem Handelsminister Alberto Ullastres (1914– 2001), dem Finanzminister Mariano Navarro Rubio (1913 – 2001) und dem Planungskommissar Laureano López Rodó (1920 – 2000) zu, allesamt Mitglieder der Laienorganisation Opus Dei. Ihr Amtsantritt soll die wichtigste politische Wende eingeläutet haben, da sie Reformen durchführten, die eine entschiedene wirtschafts- und finanzpolitische Öffnung bezweckten und auch erreichten. Vgl. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, S. 230 ff.

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6 „Das exzessive Herrschaftsbestreben des Herrn Vicens“

einer Auseinandersetzung aus, die ihn als katalanischer und dem kulturellen Katalanismus nahe stehender Historiker zur politischen Zielscheibe hätte machen können. Innerhalb eines Historikerfeldes, in dem fachöffentliche Debatten schnell damit drohten, die kollegiale Gelehrtenkultur herauszufordern und als persönliche Angriffe wahrgenommen zu werden, war eine Besprechung wie diejenige von Viñas ein Eklat. Die Form und das Ausmaß der Kritik waren bis zu dem Maße ungewohnt, dass sie sogar die Direktion des Consejo erreichten, zumal neben Vicens auch ein Institutsleiter des Consejo, Luis Pericot, betroffen war. So setzte José M. Albareda gleich nach der Publikation des ersten Teils den amtierenden Präsidenten des CSIC, José Ibáñez Martín, über die „Verwunderung“ in Kenntnis, die Viñas’ Verriss hervorgerufen hatte: „Die Tatsache, dass die Rezension eines Buches fünfundzwanzig Seiten einnimmt und mit einem ‚Fortsetzung folgt‘ endet, hat viel Verwunderung hervorgerufen. […] Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, dass ein weiterer Aufsatz zum selben Thema erscheint, da man dem Autor [Pericot] – angesichts des Umfangs [der Rezension] – dann gleich sagen müsste, dass es besser wäre, wenn er diese Wirtschafts- und Sozialgeschichte neu und mit etwas mehr Anstrengung schreiben würde.“²⁷

Albareda erkannte also, dass eine Fortsetzung der Buchbesprechung nur dazu dienen konnte, den Autor und den Herausgeber öffentlich vorzuführen, was trotz der fachlich zutreffenden Kritik weder verhältnis- noch zweckmäßig zu sein schien. Einen Hinweis darauf, weshalb dem ersten Teil kurz darauf schließlich doch weitere 75 Seiten folgten, liefert die Antwort, die Ibáñez Martín auf Albaredas Lagebericht gab: „Viñas’ Aufsatz in ‚Arbor‘ zum Werk von Vicent [sic!] ging tatsächlich etwas zu weit, aber anscheinend handelt es sich um eine ernsthafte und gut dokumentierte Sache; daher halte ich ihn für angemessen, um das exzessive Herrschaftsbestreben des Herrn Vicent [sic!] auf dem historiografischen Feld zu mäßigen.“²⁸ Der Präsident des Consejo teilte damit Albaredas primäre Einschätzung, doch räumte er jenem Eklat einen gewissen strategischen Wert ein. Zum Inhalt der Besprechung oder zu Vicens’ Vorhaben, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens unter einer neuen Perspektive zu beleuchten, äußerte sich der ehemalige Minister für Nationale Erziehung nicht. Im Vordergrund stand vielmehr das „exzessive Herrschaftsbestreben“, das aus der Sicht des Consejo Vicens und seine Escola auszeichnete.  Brief von José M. Albareda a José Ibañez Martín vom 10. 2.1959, AGUN, Fondo Albareda, 006/ 044/057– 3.  Brief von José Ibañez Martín an José M. Albareda vom 9. 3.1959, AGUN, Fondo Albareda, 006/ 044/093 – 2.

III Wissenschaftspolitik und Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren: Das Ende des national-katholischen Narrativs und die Diagnose des ‚Rückstands‘

1 Eine neue Wissenschaft: Technisch-industrielle ‚Entwicklung‘, ‚Frieden‘ und die Desintegration des CSIC Jaume Vicens starb am 28. Juni 1960 an Krebs, nachdem er in einem Krankenhaus in Lyon erfolglos operiert worden war.¹ Sein Tod bedeutete das abrupte Ende einer Karriere, die ein Forschungsinstitut, eine Fachzeitschrift, eine laufende Bibliografie sowie zahlreiche Schüler, Publikationen und Netzwerke hervorgebracht hatte. Allerdings war Vicens’ Biografie auch durch Konflikte gekennzeichnet, die ihn in den letzten Jahren mit der zentralen Schaltstelle der spanischen Wissenschaftspolitik brechen ließen. Die ehemaligen Kollegen und Vorgesetzten des Consejo Superior de Investigaciones Científicas, dem der katalanische Historiker bis 1956 angehört hatte, standen demjenigen Vicens, der im Sommer 1960 im Sterbebett lag, distanziert gegenüber. Dass die Zeitschrift Hispania dem katalanischen Historiker dennoch die Ehre erwies, ihn in ihren ‚Totenkult‘ aufzunehmen, lag daran, dass Joan Mercader weiterhin für die Redaktion arbeitete. In seinem sechsseitigen Nachruf ging Mercader die Etappen einer Laufbahn durch, in der er gezwungenermaßen die Konflikte mit dem Consejo verschwieg.² Die Zeitschrift Arbor hingegen erwähnte Vicens’ Ableben nicht. Für das institutseigene Gedächtnis des CSIC spielte der kurz zuvor verstorbene Historiker ebenfalls eine untergeordnete Rolle, wie es in den Jahresberichten zum Ausdruck kam. Sämtliche Memorias enthielten einen Abschnitt mit Nachrufen zu all jenen, die formell oder aber repräsentativ an die Institution gebunden waren. Zwar erschien Vicens als einer von sieben Verstorbenen, die der Consejo für das Jahr 1960 zu beklagen hatte. Die ihm gewidmete Todesanzeige geriet jedoch nicht nur äußerst kurz, sondern fasste zudem die Karriere des katalanischen Historikers in einem Schlusssatz zusammen, der in seiner Nüchternheit selbst bezeichnend war: „Er veröffentlichte zahlreiche Werke zu seinem Spezialgebiet.“³ Der katalanische Historiker erhielt einen kaum sichtbaren Ort in der Ahnengalerie des Consejo. Dabei muss hervorgehoben werden, dass diese Ahnengalerie selbst entlang der 1950er Jahre deutlich an Sichtbarkeit verlor. Dieselben Memorias, die seit den frühen 1940er Jahren den institutionellen Aufbau und die diversen Umgestaltungen des Consejo, dessen Budget, die Tätigkeiten der einzelnen Institutos und nicht zuletzt die Plenarversammlungen akribisch proto-

 Vgl. Muñoz: Jaume Vicens, S. 378 – 381.  Vgl. Joan Mercader: Jaime Vicens Vives (1910 – 1960), in: Hispania 20 (1960), S. 593 – 598.  CSIC: Memoria, 1960, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110532227-014

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kolliert hatten, erschienen vom Jahr 1952 an in nur unregelmäßigen Abständen und zunehmend verspätet, bis ihre Veröffentlichung schließlich zehn Jahre später ganz eingestellt wurde. So kamen die Jahresberichte von 1958 und 1959 jeweils 1960 und 1961 in Druck, derjenige von 1960 drei Jahre später und ein Sammelbericht für die letzten zwei Jahre (1961/62) sogar erst im Jahr 1966. Der Wissenschaftshistoriker Antoni Malet sieht den Grund für diese Verzögerung vor allem im hohen Alter José M. Albaredas (1902– 1966), der nicht nur maßgeblich am intentionellen Design des CSIC beteiligt war, sondern auch die Herausgabe der Memorias persönlich betreut hatte.⁴ Gleichwohl diese personengebundenen Umstände solche Verschleppungen mitverursachten, kamen in ihnen nichtsdestotrotz auch allgemeinere Problemlagen zum Ausdruck. Wie in Kapitel I.3.6. gezeigt, hatte der Vizesekretär des Consejo, José Royo, bereits Mitte der 1950er Jahre sowohl die allgemeine Finanznot der Institution beklagt, als auch deren konkrete Folgen beschrieben. So habe unter anderem der hauseigene Publikationsdienst große Schwierigkeiten damit gehabt, selbst die mit dem Francisco Franco-Preis ausgezeichneten Werke zeitnah zu veröffentlichen.⁵ Auch andere Archivbestände des Consejo geben Einblick in die Dysfunktionalität eines Dienstes, den der Leiter der Abteilung für wissenschaftliche Dokumentation, Juan Roger, im Frühjahr 1961 rückblickend als „desaströs“ bezeichnete.⁶ Roger hatte sich schon vier Jahre zuvor bei Ibáñez Martín vergeblich für eine Personalaufstockung im hauseigenen Verlag eingesetzt und sah nun, wie er an Royo schrieb, „mit Verzweiflung“ der Tatsache entgegen, dass auch die Publikation der Memorias in Verzug geriet.⁷ Schwerer als diese Versäumnisse des Publikationsdienstes wog jedoch ein weiterer Umstand, der den Zustand des Consejo im Übergang in die 1960er Jahre widerspiegelte. Wie Roger gegenüber Ibáñez Martín im März 1959 einräumen musste, gestaltete sich die Redaktion der Memorias vor allem deshalb immer schwieriger, da viele Institutos des Consejo ihre entsprechenden Berichte verspätet oder in manchen Fällen sogar überhaupt nicht mehr an die Zentrale schickten.⁸

 Vgl. Malet: Las primeras décadas del CSIC, S. 248, FN.  Der in Kapitel I.3. zitierte Bericht von José Royo in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/8811.  Brief von Juan Roger an Rafel Balbín vom 2. 2.1961, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/ 10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con López Rodó y Albareda, varios años.  Brief von Juan Roger an José Royo vom 23. 5.1961, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/ 10172, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia Sr. Castillo (Ediciones del CSIC). Zur Forderung nach einer Personalaufstockung siehe Brief von Juan Roger an José Ibáñez Martín vom 14.7.1957, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con López Rodó y Albareda, varios años.  Vgl. Brief von Juan Roger an José Ibáñez Martín vom 15. 3.1959, in dem der Verfasser die mangelhafte Datenübermittlung beschrieb. Als Beispiel führte Roger das Institut Sancho de

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Der Leiter des Dokumentationsdienstes schlug angesichts dieser Probleme im folgenden Jahr vor, eine interne „Sektion für Statistik“ einzurichten, um so die Informationen zu den Tätigkeiten der Patronatos, Institutos und lokalen Secciones effizient bündeln zu können.⁹ Dieser Vorschlag, der schließlich nicht umgesetzt wurde, verriet, dass die Zentrale des CSIC zunehmend die Übersicht über die ‚Verästelungen‘ einer Institution verloren hatte, die sich demonstrativ über das Postulat der „organischen Einheit“ legitimiert hatte. Die mangelnden Memorias bedeuteten zwar keineswegs, dass die Forschung in den einzelnen Instituten zum Stillstand gekommen war.¹⁰ In den (fehlenden) Jahresberichten manifestierte sich jedoch eine für die Einheit des Consejo bedrohliche Desintegration und ein sinkender gesamtinstitutioneller Elan. Bezeichnend in dieser Hinsicht war die knappe Antwort José M. Albaredas auf eine Anfrage Juan Rogers. Dieser bereitete im November 1960 die Memorias für das vorangegangene Jahr vor und erkundigte sich beim Generalsekretär des Consejo nach einer Einleitung, wie sie üblicherweise für die Jahresberichte verfasst wurde. Albareda reagierte darauf lediglich mit der Notiz: „Vielleicht besser nichts.“¹¹ Die Probleme mit den Jahresberichten stellten eines der vielen Symptome einer Schieflage dar, in der sich der CSIC im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren befand. In Kapitel I.2. ist deutlich zutage getreten, dass eine wissenschaftspolitische Aufmerksamkeitsverschiebung hin zur Naturwissenschaft und vor allem zur Technik seit Mitte der 1950er Jahre die Grundlagen der symbolischen Ordnung des Consejo zu erschüttern begann. Diese Verschiebung, die erheblichen finanziellen Engpässe und nicht zuletzt die innerfranquistischen Machtkämpfe hatten das zentrale Organ der spanischen Wissenschaft aus jenem Gleichgewicht gebracht, zu dessen Inszenierung es berufen worden war. In wissenschaftspolitischer und institutioneller Hinsicht waren allerdings zwei konkrete Umgestaltungen von Bedeutung, die im Jahr 1958 vorgenommen wurden und entscheidende Auswirkungen auf die Position des Consejo und seine insti-

Moncada für Wirtschaftswissenschaften an, das seit eineinhalb Jahren nicht auf die Anfragen der Zentrale antwortete. Siehe ferner seinen Bericht vom 2. 2.1961, in dem er dieselbe Problematik nochmals hervorhob. AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con López Rodó y Albareda, varios años.  Vgl. Memorandum von Juan Roger vom 2.10.1960, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/ 10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con Lopez Rodó y Albareda, varios años.  Vgl. zu den unterschiedlichen Forschungsbereiche die Beiträge in Puig-Samper (Hrsg.): Tiempos de investigación.  Randnotiz von José M. Albareda in einem an ihn gerichteten Brief Juan Rogers vom 3.11.1960, AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con López Rodó y Albareda, varios años.

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tutionelle sowie symbolische Integrität haben sollten: Erstens die Einrichtung einer Comisión Asesora de Investigaciones Científica y Técnica und die Bündelung der naturwissenschaftlichen Patronatos in eine División de Ciencias. Die Beratende Kommission für wissenschaftliche und technische Forschung (CAICT) wurde im Februar des Jahres 1958 infolge der Regierungsumbildung gegründet, die ein Jahr zuvor die wirtschaftsliberalen Alberto Ullastres (1914– 2001) und Mariano Navarro (1913 – 2001) an die Spitze der Finanz- und Handelsministerien befördert und den Weg zur Errichtung des Planungskommissariats unter der Leitung des Juristen und Verwaltungswissenschaftlers Laureano López Rodó (1920 – 2000) geebnet hatte. Die bisherige Forschung ist sich darin einig, dass das Franco-Regime mit dieser Regierungsumbildung in eine neue Phase eintrat, die unter dem Leitmotiv der ‚Entwicklung‘ (desarrollo) stehen sollte.¹² Den wirtschafts- und finanzpolitischen Reformen des Jahres 1959, in denen die Peseta abgewertet und der spanische Finanzmarkt für ausländische Investitionen geöffnet wurde, folgte eine positive Wirtschaftskonjunktur, die vor allem die neuen politischen Eliten als eigenen Erfolg verbuchten. Spanien schien nach einer Epoche gescheiterter Autarkiepolitik nun am europäischen Wirtschaftswunder teilzunehmen, was das im Jahr 1962 gegründete Planungskommissariat über die sogenannten ‚Entwicklungspläne‘ für die Regimelegitimation zu kapitalisieren suchte. Wohlstand, Entwicklung, Effizienz, Technik, rationalisierte Verwaltung sowie andere verwandte Begriffe wurden zu zentralen Schlagwörtern einer veränderten politischen Sprache, die die Sphäre des Ökonomischen von der des Politischen strikt trennte.¹³ Die entschiedene Privilegierung der industriellen Entwicklung in der politischen Agenda motivierte auch die Einrichtung der CAICT, die nicht nur in ihrem Namen, sondern auch in ihrer Zusammensetzung die wissenschaftspolitischen Prioritäten klar zu erkennen gab. Anders als der Consejo, der formell vom Erziehungsministerium abhing, war die Kommission unmittelbar dem Ministerpräsidenten Luis Carrero Blanco (Ministerio de la Presidencia) unterstellt und setzte sich aus zwanzig Vertretern wirtschaftspolitisch maßgeblicher Institutionen zusammen. Unter ihnen befanden sich sowohl Repräsentanten aus den Ministerien für Finanzen, Infrastruktur, Industrie, Wohnungsbau, Handel und Landwirtschaft

 Vgl. Carme Molinero/Pere Ysàs: Modernización económica e inmovilismo político, in: Jesús A. Martínez (Hrsg.): Historia de España. Siglo XX, Madrid 32007, S. 131– 242, insbesondere S. 172 ff.  Es liegt bisher keine publizierte Studie vor, die den Begriff der ‚Entwicklung‘ und das daran geknüpfte politische Legitimierungsprogramm überzeugend untersucht. Die diesbezüglich einschlägige Arbeit hat Anna Catharina Hofmann als Dissertation an der Universität Freiburg verfasst. Die hier ausgedrückten Einsichten zur Thematik des desarrollo verdankt der Autor dieser noch unveröffentlichten Forschung.

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als auch aus der Kommission für Nuklearenergie, dem Instituto Nacional de Industria, des Obersten Wirtschaftsrats (Consejo Superior de Economía) oder des Büros für wirtschaftliche Koordination und Planung (Oficina de Coordinación y Programación Económica), aus dem wenige Jahre später das Planungskommissariat hervorging.¹⁴ Dabei erhielt die CAICT den konkreten Auftrag, der Regierung und den Ministerien Forschungsrichtlinien vorzuschlagen und sich sowohl bei ihrer Umsetzung als auch bei ihrer Finanzierung beratend zu beteiligen. Als primäres Ziel der Kommission nannte das Gründungsdekret die „möglichst umfassende und effiziente Nutzbarmachung der vorhandenen Ressourcen sowie das Erreichen weitreichender Ergebnisse auf der Ebene des wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritts.“¹⁵ Die CAICT erhielt die Aufgabe, Wege zum „wissenschaftlichen Fortschritt“ aufzuzeigen und seine ökonomische Nutzbarmachung zu gewährleisten. In diesem Sinne stellte die Kommission keineswegs ein Substitut des CSIC dar, der ja selbst wichtige Forschungsinstitute beherbergte und sogar von den neuen Richtlinien profitieren konnte. So war es gesetzlich geregelt, dass der Präsident der CAICT aus dem Consejo rekrutiert werden musste. Darüber hinaus erhielten Vertreter aus den technischen und naturwissenschaftlichen Patronatos innerhalb der Kommission ein gleichberechtigtes Stimmrecht.¹⁶ Entscheidend war allerdings, dass der Consejo seine Stellung als oberster Forschungsrat insofern verlor, als er einerseits einen Teil seiner Entscheidungshoheit einbüßte, andererseits aber auch nicht mehr als alleiniger institutioneller und symbolischer Ausdruck ‚spanischer Wissenschaft‘ gelten konnte. Die CAICT verdrängte den Consejo also in dem Sinne, dass sie vom Moment ihrer Gründung an die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes verkörperte.¹⁷ Die Krönung einer rein technisch und ökonomisch ausgerichteten Kommission zur „leitenden Einrichtung des spanischen Wissenschafts- und Technologiesystems“¹⁸ stellte in gewisser Weise die institutionelle Vollendung einer Entwicklung dar, die sich Jahre zuvor bereits im CSIC abgezeichnet hatte. Vor diesem Hintergrund war auch die Ernennung von Manuel Lora Tamayo, Sekretär des Patronato Juan de la Cierva für technische Forschung, zum Präsidenten der neuen

 Vgl. Decreto de 7 de febrero de 1958 por el que se crea la Comisión Asesora de Investigaciones Científica y Técnica, in: Boletín Oficial del Estado, 15. 2.1958, S. 243 – 244.  Ebd., S. 244.  Vgl. ebd.  Vgl. Carlos Sánchez del Río: La investigación científica en España y el CSIC, in: Arbor 135 (1990), S. 61– 73; Manuel Lora Tamayo: Recuerdos del Consejo Superior de Investigaciones Científicas en su 50 Aniversario, in: Arbor 135 (1990), S. 99 – 115.  López: El Patronato Juan de la Cierva (1939 – 1960). II Parte, S. 29 .

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Kommission kaum überraschend. Die institutionelle, finanzielle und auch symbolische Privilegierung der Technik kulminierte hier in der Beförderung Lora Tamayos zum Vorsitzenden des neuen wissenschaftspolitischen Entscheidungsgremiums. Für die Untersuchung der symbolischen Ordnungen und der Wissenschaftsdiskurse ist daher von Bedeutung, dass die CAICT den Consejo nicht von außen her ersetzte, sondern im eigentlichen Sinne aus ihm erwuchs. Nicht umsonst verwies das oben zitierte Dekret explizit darauf, dass es als „Entwicklung des ersten Artikels“¹⁹ des Gesetzes zu verstehen sei, mit dem der CSIC im Jahr 1939 gegründet worden war.²⁰ Laut Präambel stellte die neue Kommission lediglich die Fortführung und Aktualisierung eines wissenschaftlichen Vorhabens dar, das knapp zwanzig Jahre zuvor in Angriff genommen worden sei: „Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas hat die Aufgabe, die Forschung zu fördern und zu orientieren, auf dem Feld der technischen Forschung mit Effizienz erfüllt, und zwar mit einem bemerkenswerten Anstieg der Produktion, der sich vor allem in der positiven internationalen Bewertung der spanischen Publikationen und in der wachsenden Anzahl an registrierten Industriepatenten widerspiegelt.“²¹

Um in den neuen Zeiten „das Potential an Wissen, Material und menschlichen Werten dem nationalen Fortschritt nutzbar“²² machen zu können, würde nichtsdestotrotz „die Errichtung einer Beratenden Kommission für wissenschaftliche und technische Forschung“ vonnöten sein. Die CAICT wurde als neue Vorzeigeeinrichtung spanischer Wissenschaftspolitik vorgestellt und der Fokus des CSIC rückwirkend auf diejenigen Forschungsbereiche gelegt, die einen mittelbaren oder unmittelbaren ökonomischen Nutzen besaßen.²³ Die Rhetorik der ‚Effizienz‘,

 Decreto de 7 de febrero de 1958 por el que se crea la Comisión Asesora de Investigaciones Científica y Técnica, S. 243.  Der erste Artikel lautete wie folgt: „[Hiermit] wird der Oberste Forschungsrat gegründet, dessen Ziel es sein wird, die nationale Forschung zu fördern, orientieren und koordinieren.“ Ley de 24 de noviembre creando el Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Boletín Oficial del Estado, 28.11.1939, S. 6669.  Decreto de 7 de febrero de 1958 por el que se crea la Comisión Asesora de Investigaciones Científica y Técnica, S. 243.  Ebd.  So wurde beispielsweise in einem Bericht aus dem Jahr 1959, der als Informationsgrundlage für die spanischen Botschaften im Ausland dienen sollte, explizit festgehalten, dass das „staatliche Organ, das die [Richtlinien der] Wissenschaftspolitik der Regierung entwickelt und festlegt, die Beratende Kommission für wissenschaftliche und technische Forschung“ sei: „[S]eine Mission liegt vor allem in der Prüfung von Forschungsprogrammen, die den Interessen des Landes am meisten entsprechen.“ AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con López Rodó y Albareda, varios años.

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der ‚Nutzbarmachung‘, der ‚Wissenschaft‘ als technische Forschung hatte vollends die diskursiven Formationen überwölbt, die als Grundlage für die symbolische Ordnung des Consejo gedient hatten. Diese Kategorien spielten auch bei der zweiten wissenschaftspolitischen Umgestaltung eine erhebliche Rolle. Die Errichtung einer „naturwissenschaftlichen Abteilung“ des Consejo im Juni 1958 besaß zwar nicht die wissenschaftspolitische Tragweite, die die Gründung der CAICT haben sollte. Für die symbolische Ordnung des CSIC war sie dennoch von Bedeutung, da damit die „Einheit der Wissenschaft“ durchbrochen wurde, die die Struktur der Patronatos bis dahin repräsentiert hatte. Das entsprechende Dekret verfügte die Bündelung der medizinischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Forschungsinstitute in eine einzige División, womit zwar nicht die Patronatos aufgelöst, dafür aber deren institutionelle Funktionalität in Frage gestellt wurde. Diese Abteilung sollte die „Steuerungsorgane vereinfachen“²⁴, die Verwendung von Ressourcen optimieren sowie den Austausch zwischen den einzelnen Instituten in einem Maße fördern, wie ihn die Struktur der Patronatos nicht hatte gewährleisten können. Die División de Ciencias entstand demnach im Zeichen einer Rationalisierung, die zur Erfüllung der „doppelten Mission“ des Consejo beitragen sollte: Der „wissenschaftlichen Weiterentwicklung und des Dienstes an den nationalen Interessen […].“²⁵ Bemerkenswert bei dieser Neuorganisation ist, dass die Direktion des Consejo zwar eine División de Ciencias, aber keine entsprechende División de Letras einrichtete. Die geisteswissenschaftlichen Patronatos behielten vorerst ihren administrativen Aufbau, ohne dass die Kriterien der Rationalisierung und Koordinierung dort für anwendungsbedürftig befunden wurden.²⁶ Die neue Abteilung teilte sprichwörtlich die ‚Einheit‘ des CSIC auf. In ihr drückte sich zum ersten Mal ein Ungleichgewicht zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auf der Ebene der institutionellen Ordnung aus. Diese Umstrukturierung war keinesfalls ein reiner Verwaltungsakt, denn sie wirkte sich unmittelbar auf die Inszenierungspraxis des Consejo aus. Die vierzehn Plenarversammlungen, die der CSIC zwischen 1940 und 1958 abgehalten hatte, waren stets als Anlass genommen worden, um die ‚Einheit der Wissenschaft‘ zu

 Decreto de 6 de junio de 1958 por el que se aprueban los Reglamentos de la División de Ciencias Matemáticas, Médicas y de la Naturaleza (Patronatos ‚Alfonso el Sabio‘, ‚Santiago Ramón y Cajal‘ y ‘Alonso de Herrera’) y de los Patronatos ‘José María Quadrado’ y ‘Diego de Saavedra Fajardo’, del Consejo mencionado, in: Boletín Oficial del Estado, 8.7.1958, S. 1232– 1236, hier S. 1232.  Ebd., S. 1233.  Eine entsprechende División de Humanidades taucht in den Memorias des CSIC erst in den Jahren 1961/62.

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inszenieren. Die Präsenz staatlicher Würdenträger und nicht zuletzt Francisco Francos als ‚Mäzenen‘ der Institution diente nicht nur dazu, den staatlichen Rückhalt zu bekräftigen, den der Oberste Forschungsrat genoss. Sie sollte auch die Konvergenz zwischen Politik und Forschung öffentlichkeitswirksam demonstrieren. Dies galt zunächst auch für das Jahr 1958, als im Zuge der Einrichtung der División de Ciencias ein weiteres Dekret erlassen wurde, das unter anderem die Beibehaltung der „jährlichen Versammlungen“²⁷ verordnete. In diesem Sinne müssen die Worte verstanden werden, die der Erziehungsminister Jesús Rubio im Februar 1958 bei der Abschlussveranstaltung zum vierzehnten Plenum sprach. Nachdem Rubio den anwesenden Forschern das „moralische Problem“ erklärt hatte, das aus der neuen „wissenschaftlichen Hierarchie“ und der unterschiedlichen finanziellen Dotierung der einzelnen Forschungsbereiche erwuchs, beendete er seine Rede mit einem direkten Verweis auf den dort anwesenden Staatschef: „Unser Staat ist sich im Übrigen dieses Problems bewusst – die solide Realität des Consejo beweist es –, und unser Staatschef wird mit Sicherheit weiterhin der große Gönner dieser Institution sein, wie seine Teilnahme an diesem Festakt und seine langjährige Fürsorge für unsere Arbeit belegt.“²⁸ Anders als vom Erziehungsminister beabsichtigt und sogar anders als gesetzlich vorgesehen, sollte die Plenarversammlung vom Februar 1958 jedoch die letzte Gelegenheit darstellen, die ‚Einheit der Wissenschaft‘ in dieser Form zu inszenieren. Die konsultierten Archivbestände geben zwar keinen konkreten Aufschluss darüber, weshalb der Festsaal des CSIC ab diesem Jahr keine weiteren Plenos beherbergte. Die Gründung der División de Ciencias führte jedoch dazu, dass sich die natur- und geisteswissenschaftlichen Patronatos nach zwei Jahrzehnten gemeinsamer Vollversammlungen im März des Jahres 1959 zu getrennten Veranstaltungen zusammenfanden. Dabei waren die Plenos der División de Ciencias und der Patronatos de Letras nicht nur örtlich getrennt. Darüber hinaus war der Aufwand, mit dem sie jeweils symbolisch ummantelt wurden, höchst unterschiedlich: Die Vertreter der naturwissenschaftlichen Patronatos tagten über drei Tage hinweg im Festsaal des CSIC und unter dem Vorsitz des Erziehungsministers. In den dort gehaltenen Reden wurde nochmals auf die Zweckmäßigkeit einer División verwiesen, mit deren Gründung der Consejo den international maßgeblichen Standards gefolgt wäre.²⁹ Demgegenüber nahm die Plenarver-

 Decreto de 6 junio de 1958 por el que se modifica el Reglamento del Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Boletín Oficial del Estado, 10.7.1958, S. 1242– 1244, hier S. 1243.  CSIC: Memoria, 1955 – 57, S. 179.  Vgl. die Reden von José Royo, Jesús Rubio und Joaquín Benjumea (1878 – 1963), der sowohl der División de Ciencias vorsaß als auch Präsiden der spanischen Zentralbank war, in CSIC: Memoria, 1958, jeweils S. 9 – 17, S 32– 37 und S. 37– 40.

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sammlung der übrigen Patronatos lediglich zwei Nachmittage in Anspruch und wurde im Besprechungsraum des Menéndez Pelayo veranstaltet. Nicht etwa der Erziehungsminister, sondern der Bischof von Madrid-Alcalá, Eijo Garay, übernahm den Vorsitz eines Plenums, dem erstmals hohe staatliche Amtsträger fern blieben.³⁰ Gleichwohl vorgesehen war, dass vom Jahr 1959 an die Geistes- und Naturwissenschaften getrennt tagen würden, sollte sich auch diese Form der Veranstaltung nicht wiederholen. Die ersten Plenos der División de Ciencias und der Patronatos de Letras waren zugleich die letzten. Die Zusammenkunft aller Forschungszweige in einer oder wie zuletzt in zwei Plenarversammlungen stand damit nicht mehr als Plattform zur Verfügung, um anhand des Consejo die ‚spanische Wissenschaft‘ zu inszenieren. Der Oberste Forschungsrat büßte somit eine seiner wesentlichen Funktionen ein. Mit der Teilung und schließlich dem Verschwinden der regelmäßigen Treffen schloss sich der Vorhang einer Bühne, auf der die „christliche Einheit der Wissenschaft“ unter dem Vorsitz des „großen Gönners“, Francisco Franco, repräsentiert worden war. Die neue Hierarchie der Wissenschaften, in der die Technik den höchsten Rang einnahm, gefolgt von den Natur- und zuletzt den Geisteswissenschaften löste die symbolische Ordnung des Consejo auf – und mit ihr auch die institutionelle Integrität. So ist es bezeichnend, dass das Patronato Juan de la Cierva an keinem der zuletzt genannten Plenos teilnahm. Die Abteilung für technische Forschung hatte spätestens seit der Gründung der CAICT und der Ernennung Manuel Lora Tamayos zu ihrem Vorsitzenden eine große institutionelle Autonomie gewonnen. Der technische Zweig wuchs gleichsam aus dem ‚Wissenschaftsbaum‘ des CSIC heraus und stellte die restlichen Disziplinen in seinen Schatten, was auch im Hinblick auf die finanziellen Ressourcen galt. Im selben Jahr, in dem die letzten Plenarversammlungen stattfanden, erschienen der Juan de la Cierva und der CSIC als getrennte Haushaltsposten, wobei der Etat des Ersteren deutlich höher war als das gesamte Budget der Mutterinstitution.³¹ Trotz der institutionellen Auflösungserscheinungen und der finanziellen und wissenschaftspolitischen Schieflagen blieb der Consejo Superior de Investigacio-

 Vgl. CSIC: Memoria, 1958, S. 43 f.  Das Budget des Juan de la Cierva erschien ab dem Jahr 1959 nicht mehr in den Memorias des CSIC. Die oben zitierte, für die Botschaften verfasste Informationsbroschüre gab jedoch einen Haushalt von jeweils 108 Millionen für den „CSIC“ und 140 Millionen für den „Juan de la Cierva“ an. Vgl. AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10173, Documentación de Organizaciones Científicas, Correspondencia con López Rodó y Albareda, varios años.

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nes Científicas auch nach 1960 als Forschungseinrichtung bestehen.³² Auf der symbolpolitischen Ebene würde der Consejo im Jahr 1964 – anlässlich seines 25jährigen Bestehens – sogar noch ein weiteres Mal zur Bühne der spanischen Wissenschaftspolitik werden. Der Grund dafür lag einerseits darin, dass Manuel Lora Tamayo, Vorsitzender der CAICT und ehemaliger Mitarbeiter des Juan de la Cierva, im Jahr 1962 zum Erziehungsminister ernannt worden war. Der neue Minister stärkte während seiner Amtszeit (1962– 1968) sowohl finanziell als auch politisch das Rückgrat des CSIC, dessen Ausstattung insbesondere im Bereich der technischen Forschung deutlich stieg.³³ Entscheidend war aber ein zweites Ereignis, das im Jahr 1964 stattfand: Das 25-jährige Jubiläum des CSIC fiel mit dem Gedenkjahr zusammen, in dem das Franco-Regime die „25 Jahre spanischen Friedens“ feierte.³⁴ Dies bot Lora Tamayo den Anlass, eine Wissenschaft im Zeichen des „Friedens“, der „Entwicklung“ und, wie schon vierzehn Jahre zuvor, der internationalen Anerkennung zu inszenieren. Schon die entsprechende Programmbroschüre unterstrich, dass die zwischen dem 20. und dem 25. Oktober in Madrid stattfindenden Festakte „mit den 25 Jahren spanischen Friedens koinzidier[t]en.“³⁵ Auch die spanische Presse griff diese Devise auf. Die Tageszeitung Arriba kündigte die bevorstehenden Jubiläumsfeiern wie folgt an: „Das 25. Jubiläum des Consejo Superior de Investigaciones Científicas findet zusammen mit demjenigen des Spanischen Friedens statt, da der Consejo im selben Jahr 1939 gegründet wurde, kurz nachdem der Befreiungskrieg beendet war.“³⁶ Während der Feierlichkeiten erfuhren die Leser der katholischen Tageszeitung YA vom „starken Impuls“, den der Staat der technischen Forschung geben würde, und vom politischen Impetus, der diese spezielle Förderung motivierte: „Die Wissenschaftspolitik zielt auf die Bereiche, die in einem engeren Verhältnis zur Entwicklung [Desarrollo] stehen.“³⁷ Die meisten Titelbilder hoben ferner die „sechs Nobelpreisträger“ hervor, die nach Madrid angereist waren, um zusammen

 Wie Antoni Malet zu Recht festgestellt hat, war der CSIC insofern eine erfolgreiche wissenschaftspolitische Unternehmung, als er weiterhin eine wichtige Dachinstitution für verschiedene Forschungsinstitute darstellte. Allerdings hatte er seine Funktion als Symbolinstitution weitgehend eingebüßt. Vgl. Malet: José M. Albareda (1902– 1966), S. 330 ff.  Vgl. López: El Patronato Juan de la Cierva (1939 – 1960). II Parte, S. 21.  Siehe dazu Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936 – 2006, Nettersheim 2006, S. 223 – 228; Michael Richards: After the Civil War. Making Memory and Re-Making Spain since 1936, Cambridge 2013, S. 187– 216.  Ein Exemplar der Programmbroschüre befindet sich in ACCHS, Caja 826.  ABC, 11.10.1964, Ausschnitt in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9812.  So der Titel und der Untertitel des entsprechenden Berichts zum ersten Tag der Jubiläumsfeiern. YA, 21.10.1964, Ausschnitt in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9812.

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mit zahlreichen anderen Wissenschaftspersönlichkeiten die „silberne Hochzeit“ des Consejo zu feiern.³⁸ Wie José M. Albareda dem Bürgermeister von Madrid im Vorfeld erklärt hatte, sollten „ca. 250 Persönlichkeiten aus der internationalen Wissenschaftslandschaft teilnehmen, darunter mehrere Nobelpreisträger, da unser Minister dieser Jubiläumsfeier ein besonderes Ansehen verleihen möchte.“³⁹ Dementsprechend fasste die Arriba den Auftakt der Festakte unter dem Titel „Weltweite Huldigung zu Ehren der spanischen Wissenschaft“⁴⁰ zusammen. Für die Veranstaltung selbst griff die Organisation weitgehend auf das Zeremoniell zurück, dem auch im Jahr 1950 gefolgt worden war. Der erste Tag begann mit einer Messe in der Heilig-Geist-Kirche des Consejo und der anschließenden Eröffnungsfeier im Festsaal, gefolgt von fünf weiteren Tagen, für die vereinzelte wissenschaftliche Sitzungen, offizielle Empfänge, Besuche der Forschungsanlagen und kulturelle Begleitveranstaltungen arrangiert worden waren. Abschluss der Jubiläumsfestivitäten bildete eine feierliche Veranstaltung unter dem Vorsitz Francisco Francos und ein Besuch im sogenannten ‚Tal der Gefallenen‘ (Valle de los Caídos).⁴¹ Wie schon im Jahr 1950 legten die Organisatoren einen besonderen Wert auf die öffentlichkeitswirksame Teilnahme namhafter Forscher und institutioneller Vertreter aus dem Ausland. So fanden sich im Herbst 1960 in Madrid neben den sechs Nobelpreisträgern (aus den Naturwissenschaften) weitere 142 Repräsentanten aus 19 Ländern ein.⁴² Unter ihnen befanden sich Vertreter der

 Die Bezeichnung „Bodas de Plata“ beispielsweise in der Tageszeitung El Correo Catalán, 20.10.1964. Sämtliche Medien, die über die Eröffnungsveranstaltung berichteten, folgten diesem Tenor. Siehe dazu die Presseausschnitte aus La Vanguardia Española, Madrid, Arriba, Informaciones, ABC, YA und anderen Tageszeitungen in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/9812.  Brief von José M. Albareda an José Finat vom 16.9.1964, AGA, Fondo Educación, (05) 004 Caja 31/12320, Cambio internacional, XXV Aniversario del Consejo.  Siehe dazu die Beilage der Tageszeitung Arriba vom 21.10.1964.  Das im Jahr 1959 fertiggestellte Monument zum Gedenken an die ‚Gefallenen‘ auf Seite der nacionales gilt als zentrales Werk franquistischer Symbolarchitektur. Ca. 30 Kilometer nördlich von Madrid gelegen, beherbergt es eine Basilika, in der – bis heute – José Antonio Primo de Rivera und Francisco Franco sowie Tausende Kriegsgefallene begraben sind. In den 1960er Jahren wurde versucht, es von einem Monument des ‚Sieges‘ in ein Denkmal der ‚Versöhnung‘ unter franquistischem Vorzeichen umzufunktionieren. Der Besuch des Valle de los Caídos im Rahmen eines Jubiläums, das wiederum im Rahmen des Festjahres zum „Spanischen Frieden“ stattfand, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Zum ‚Tal der Gefallenen‘ siehe Bernecker/Brinkmann: Kampf der Erinnerungen, S. 204– 211; Georg Pichler: Gegenwart der Zukunft: Die Kontroverse um Diktatur und Bürgerkrieg in Spanien, Zürich 2013, S. 119 – 128; zur neuen Versöhnungsrhetorik siehe Richards: After the Civil War, S. 187– 216  Die meisten Gäste kamen aus Deutschland (29), gefolgt von Frankreich (17) und den USA (16). José M. Albareda hatte unter anderem versucht, die Rockefeller Foundation für das Jubiläum zu gewinnen, was ihm jedoch nicht gelang. Bei den Nobelpreisträgern handelte es sich um Bernardo

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DFG, der Max-Planck-Gesellschaft, der US-amerikanischen National Science Foundation, des CNRS, des British Council sowie weiterer Institutionen und Universitäten, denen allesamt bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier Ehrenplätze zugeteilt wurden. Der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1936, Peter Debye (1844 – 1966), nahm sogar die Einladung an, neben Franco, Lora Tamayo, Ibáñez Martín und Albareda den Vorsitz des Plenums zu übernehmen.⁴³ Die wissenschaftspolitischen Eliten inszenierten durch diese internationale Präsenz die Teilhabe an einer transnationalen Wissenschaftsgemeinschaft, die jenseits der Unterschiede im politischen System die Fähigkeit Spaniens zum wissenschaftlichen und vor allem technisch-industriellen Fortschritt zertifizierte. Neben dem ‚Frieden‘ und der ‚Internationalität‘ stand vor allem der Begriff der ‚Entwicklung‘ im diskursiven Mittelpunkt der Jubiläumsfeier. Nicht umsonst schrieb die oben zitierte Tageszeitung YA das Wort desarrollo in Großbuchstaben, als sie die Privilegierung der technischen Forschungsbereiche ansprach. Der Entwicklungsbegriff befand sich, wie oben erwähnt, nicht erst im Jahr 1964 im Zentrum der politischen Legitimationssprache. Mit dem Aufstieg des Planungskommissars Laureano López Rodó (1920 – 2000) zu einem der eminenten politischen Gestalten des Franco-Regimes zu Beginn der 1960er Jahre hatte der desarrollo als politisches Stabilisierungsprogramm zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Ausrufung des Ersten Entwicklungsplans im selben Jahr, in dem die Feiern zum 25-jährigen Jubiläum des CSIC und der Paz Española stattfanden, verhalf dem Begriff des desarrollo schließlich zu noch stärkerer öffentlicher Präsenz.⁴⁴ Dieses Versprechen, Spanien zu ‚entwickeln‘, wirkte sich auch auf die wissenschaftspolitische Sphäre aus. Die starke Gewichtung der Entwicklungsdiskurse war zwar keinesfalls ein rein spanisches Phänomen.⁴⁵ Der Begriff des

Houssay (1887– 1971), Artturi Ilmari Virtanen (1895 – 1974), Feodor F. K. Lynen (1911– 1979), den zwei Ehrenbeiräten des CSIC, Peter Debye (1884– 1966) und Selman A.Waksman (1888 – 1973) und schließlich dem spanischstämmigen US-amerikanischen Mediziner Severo Ochoa (1905 – 1993). Siehe dazu die Unterlagen zur Organisation sowie die entsprechende Korrespondenz in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/12320, Cambio internacional, XXV Aniversario del Consejo.  Das Protokoll zur Eröffnungsfeier in Boletín Informativo del Consejo Superior de Investigaciones Científicas 37 (1964), S. 6 – 8.  Auch diese Einsichten stammen aus der Forschung Anna Catharina Hofmanns zur franquistischen Entwicklungspolitik. Eine Übersicht über die konkreten politischen Maßnahmen, die sich hinter diesem Begriff verbargen, in Molinero/Ysàs: Modernización económica e inmovilismo político, S. 172– 182.  Von der mittlerweile unüberschaubaren Literatur zur Entwicklungspolitik und dem Entwicklungsdenken in den 1950er und 1960er Jahren sei hier lediglich verwiesen auf David E. Engerman u. a. (Hrsg.): Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War,

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desarrollo besaß allerdings eine Semantik, die ihn für eine Analyse der Wissenschafts- und Technikdiskurse besonders interessant macht. In der Logik dieser Diskurse war Spanien nämlich ein ‚Entwicklungsland‘, das mit allen staatlichen Mitteln darum kämpfen musste, den notorischen ‚Rückstand‘ aufzuholen. Die Rückstandsdiskurse, die seit der Gründung des Consejo und vor allem seit Ende der 1940er Jahre präsent waren, wurden nun unter der Devise des desarrollo gebündelt. Zwar hatte der Topos des ‚Rückstands‘ im Zuge der Privilegierung der Technik bereits seit Mitte der 1950er Jahre an Bedeutung gewonnen. Durch die Platzierung der Entwicklungsfrage in den Mittelpunkt der politischen Agenda waren jedoch die wissenschaftlichen Defizite vollends zu Defiziten in der technischen Forschung geworden. In diesem Sinne nahm José M. Otero Navascués (1907– 1983), Nachfolger Lora Tamayos in der CAICT und Direktor der Kommission für Nuklearenergie, das doppelte Jubiläum des Jahres 1964 als Anlass, um von einer Konferenz zu berichten, die von den Vereinten Nationen ein Jahr zuvor zugunsten der „unterentwickelten Regionen“ organisiert worden war: „Wir hatten das Glück, dass gerade zu der Zeit, als wir [in der CAICT] arbeiteten, im Februar 1963 die Vereinten Nationen eine Konferenz zur Wissenschaft und Technik organisierten, die für die unterentwickelten Regionen gedacht war. Wir nahmen an dieser Konferenz teil und fanden dort zahlreiche international renommierte Wissenschaftler, Planer und Ökonomen, die uns mit ihren Vorträgen, Wortmeldungen und persönlichen Netzwerken ein kaum überschätzbares Material zur Verfügung stellten, um unsere Probleme mit denjenigen der restlichen Welt zu kontrastieren.“⁴⁶

Diese Konferenz habe gezeigt, so Otero Navascués, dass „die Entwicklungsländer sich der Tatsache bewusst geworden sind, dass sie gleichsam in einem Zustand harter und anhaltender kolonialer Abhängigkeit geraten werden, wenn sie es nicht schaffen, an der wissenschaftlichen Revolution teilzunehmen.“⁴⁷ Dass auch Spanien Gefahr lief, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten, würden die für „wissenschaftliche und technische Forschung“ investierten Beträge zeigen. So lägen die zur Verfügung stehenden Ressourcen, gemessen am Bruttosozialprodukt, nicht nur weit unter denjenigen der „industrialisierten Länder“ wie der

Amherst/Boston 2003; sowie als Einstieg auf Hubertus Büschel: Geschichte der Entwicklungspolitik, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2. 2010, , [Stand 15. 3. 2017]; Daniel Speich: Fortschritt und Entwicklung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 21.9. 2012, URL: , [Stand: 15. 3. 2017].  José M. Otero Navascués: La investigación científica y técnica en un programa de desarrollo económico y social, in: Arbor 59 (1964), S. 5 – 41, hier S. 6.  Ebd., S. 19.

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Vereinigten Staaten, Deutschlands oder Frankreichs. Auch in Indien und Ägypten würde das entsprechende Budget das spanische übersteigen.⁴⁸ Aus dieser defizitären Situation schloss der Vorsitzende der CAICT die dringende Notwendigkeit, den einschlägigen Forschungsbereichen den finanziellen Vorrang zu geben und einer langfristig konzipierten Planungspolitik zu unterwerfen.⁴⁹ Die Kritik Otero Navascués an den Unzulänglichkeiten der spanischen Wissenschaftspolitik bewies, dass trotz aller Privilegierung der technischen Forschung auch diese unter einer chronischen Unterfinanzierung litt. Umso deutlicher trat daher der propagandistische Charakter der Jubiläumsfeiern des Consejo hervor, in dem genau das inszeniert wurde, was Otero Navascués realita forderte: Aufholung des ‚Rückstands‘ gegenüber den „industrialisierten Länder[n]“, Vorrang der Technik und Aufstockung der finanziellen Ressourcen. Die Festakte begannen mit der feierlichen Eröffnung einer groß angelegten Ausstellung, die den internationalen Gästen die Fortschritte der spanischen Forschung anhand des wissenschaftlichen Instrumentariums des Patronato Juan de la Cierva vorführte. Ferner zitierte Lora Tamayo in seiner Rede zur Eröffnungsfeier die Worte des ehemaligen britischen Erziehungs- und Wissenschaftsminister, Sir Quintin Hogg (1907– 2001), wie folgt: „[…] die Revalorisierung des wissenschaftlichen und technischen Reichtums ist eine Frage, in der es um Leben und Tod geht, und sie ist für die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaften unentbehrlich […].“⁵⁰ In einem weniger dramatischen Ton kündigte Francisco Franco in seiner anschließenden Anrede die Gründung eines „Fonds für wissenschaftliche und technische Forschung“ an, der mit 100 Millionen Peseten dotiert worden sei und der den technischen Forschungsanstalten und Hochschulen zugutekommen sollte. Der Consejo, die CAICT und schließlich der neue Fond seien, so der Staatschef, Ausdruck eines „aufwärtsstrebenden Prozesses, durch den wir die maximale Annäherung der Wissenschaft an die Macht anstreben.“⁵¹ Dafür müsse man lediglich den von den internationalen Organisationen vorgegebenen Trends folgen, die in der „Entwicklung der Wissenschaft und der Forschung nach staatlichen Kriterien“ und in der „ausdrücklichen Definition einer Wissenschaftspolitik als solche“⁵² bestehen würden.

 Ebd. S. 18; José M. Otero gab dabei folgende Zahlen für das Jahr 1963 an: USA 3,31 %, Großbritannien 2,93 %,, UdSSR 2,42 %, Deutschland 1,61 %, Frankreich 1,47 %, Ägypten 0,75 %, Indien 0,32 % und schließlich Spanien 0,26 %. Vgl. ebd.  Vgl. ebd., S. 41.  Die am 20.10.1964 gehaltene Rede von Manuel Lora Tamayo ist wiedergegeben im Boletín Informativo del Consejo Superior de Investigaciones Científicas 37 (1964), S. 6 – 8, hier S. 8.  Die Rede Francisco Francos ist wiedergegeben in ebd., S. 10.  Ebd., S. 9.

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Dass sich die „ausdrückliche Definition einer Wissenschaftspolitik als solche“ in Kommissionen und Förderprogrammen materialisierte, die vordergründig auf die technisch-industrielle Entwicklung zielten, war für die Jubiläumsfeier des CSIC symptomatisch. Anders als noch im Jahr 1950 beinhaltete hier die ‚Wissenschaftspolitik‘ einen Begriff der ‚Wissenschaft‘, der sich ausschließlich auf die naturwissenschaftliche und technische Forschung bezog. Diese Verschiebung ist deswegen bemerkenswert, da damit auf die ursprüngliche symbolische Ordnung des Consejo endgültig verzichtet werden musste. Die Privilegierung der Technik schloss die Verweise auf eine „glorreiche spanische Tradition“ aus, die über das fundamentale Postulat des ‚spanischen Wegs‘ abseits einer fremden, technischindustriellen Moderne konstruiert worden war. Während das zehnjährige Jubiläum des CSIC noch auf die Dichotomie ‚technischer Rückstand/geistige Überlegenheit‘ aufbaute, war Mitte der 1960er Jahre jede Spur national-katholischer Referenzen verschwunden. Mehr noch: Die neue wissenschaftspolitische Legitimationssprache war absolut präsentistisch. Die Reden, das Zeremoniell, die Gesetzespräambeln oder die Komposition neuer Gremien kamen ohne jeglichen Verweis auf die nationale Vergangenheit aus. Ein in diesem Maße affirmatives Verhältnis zur technisch-industriellen Moderne konnte unmöglich aus dem national-katholischen Narrativ hergeleitet werden. Die (wissenschafts)politische Elite gab im Übergang von einer Forschung ‚in schwarzer Soutane‘ hin zu einer ‚im weißen Kittel‘ jeglicher Form historischer Artikulation Preis.

2 Keine neue Geschichtswissenschaft: Historiografie im Schatten des desarrollismo Die Wissenschaft in Spanien stand im Jahr 1964 im Zeichen der technisch industriellen Entwicklung. Mit der Privilegierung der technischen Forschung, wie sie in den Festakten zum 25-jährigen Jubiläum des CSIC zum Ausdruck kam, wurde auch jenes Gleichgewicht zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften aufgehoben, das im Kern der symbolischen Ordnung des Consejo und der Wissenschafts- und Technikdiskurse bis zur zweiten Hälfte der 1950er Jahre gestanden war. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die sechstägige Veranstaltung, die zwischen dem 20. und 25. Oktober stattfand, den geisteswissenschaftlichen Disziplinen keinen Raum bot. Sie waren zwar aus den Reden, dem Zeremoniell und anderen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen verschwunden. Bei den wissenschaftlichen Tagungen, welche die Jubiläumsfeiern begleiteten, waren sie jedoch durchaus präsent. In drei Gruppen tagten spanische und internationale Forscher zur spanischen Kunstgeschichte, zu den „Prinzipien und Problemen des linguistischen Strukturalismus“ und schließlich zum „Übergang vom Mittelalter zur Renaissance in der Geschichte Spaniens“.¹ Die Organisatoren der Jubiläumsfeiern legten einen besonderen Wert darauf, die internationale Präsenz zu stärken, was ihnen vor allem für die natur-, in geringerem Maße aber auch für die geisteswissenschaftlichen Kolloquien gelang. So setzte sich José M. Albareda persönlich für die Teilnahme französischer, deutscher und italienischer Historiker an der geschichtswissenschaftlichen Tagung ein. Michel Mollat (1911– 1996), directeur d’études an der VI. Sektion der EPHEE, sagte zwar mit Verweis auf terminliche Engpässe ab.² Dank Marcelin Défourneaux (1912– 1975), Berthold Beinert (1909 – 1981), Alberto Boscolo (1920 – 1987) sowie dreier weiterer italienischer Gäste erhielt dieses Plenum dennoch ein gewisses internationales Profil.³ Auf spanischer Seite nahmen in erster Linie jene Historiker  Vgl. Boletín Informativo del Consejo Superior de Investigaciones Científicas 37 (1964), S. 12 ff.  Brief von Michel Mollat an José M. Albareda vom 29. 8.1964, AGA, Fondo Educación, (05) 004 Caja 31/12320, Carpeta Coloquio de Historia.  Der Hispanist Marcelin Défourneaux und der Mediävist Alberto Boscolo waren jeweils Professoren an der Universität Toulouse und an der Universität Cagliari. Die Korrespondenz mit den französischen und deutschen Gästen hielt Albareda selbst, was im deutschen Fall vor allem damit zu tun hatte, dass sowohl der Leiter des Instituts für Dolmetschen der Universität Heidelberg, Beinert, als auch Richard Konetzke nach dem Jahr 1945 in Spanien und speziell im Consejo Zuflucht gefunden hatten. Siehe dazu sowohl die Korrespondenz von Albareda in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/12320, XXV Aniversario del Consejo, Carpeta de Coloquio de Historia, als auch – zur „Zuflucht“ – (05)004 Caja 31/8633, Congresos, invitaciones extr., Ministerio Asuntos https://doi.org/10.1515/9783110532227-015

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teil, die den historischen Instituten des Consejo angehörten, wie Vicente Palacio, José M. Jover, Manuel Fernández Álvarez und José M. Lacarra. Mit Joan Reglà und Felipe Ruiz Martín waren schließlich auch Wirtschafts- und Sozialhistoriker vertreten, die dem Instituto Jerónimo Zurita nicht unmittelbar nahe standen. Diese Komposition und die gewählte Thematik spiegelten in gewisser Weise das geschichtswissenschaftliche Feld wider, wie es von Miquel Marín auf quantitativer Ebene für die erste Hälfte der 1960er Jahre beschrieben worden ist: Zaghafte Annäherung an neue, in der Regel wirtschafts- und sozialhistorische Perspektiven, persistente Fokussierung auf die Epoche imperialer Größe – allerdings mit Vorstößen in das 18. Jahrhundert – und zunehmend erfolgreiche Kontaktnahme mit ausländischen Kollegen.⁴ Im Bericht zu dieser Tagung, den Manuel Fernández Álvarez für Hispania verfasste, stellte dieser zwar ein gesteigertes Interesse an „der Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ fest. Die „historische Persönlichkeit Spaniens“, die der Autor als Ziel des Erkenntnisinteresses identifizierte, wurde jedoch, wie das Programm zeigt, überwiegend anhand von Themen aus der Ideen-, Rechts- und Politikgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts untersucht. Lediglich Vicente Palacio problematisierte zuletzt das „Aufkommen einer bürgerlichen Mentalität“ in der Neuzeit, wobei Fernández Álvarez seine Schlüsse wie folgt zusammenfasste: „Das soziale Klima in Spanien neigte nicht dazu, den auf dem wirtschaftlichen Feld aktiven Menschen hervorzubringen. Die Grundlage war ländlich, und über dieses ländliche Spanien übte der Adel sein volles Prestige aus. Diese Umstände sollten sich erst mit dem ökonomischen Reformismus des 18. Jahrhunderts ändern.“⁵

Die Perspektiven, Problemstellungen und Interpretamente hatten sich seit Mitte der 1950er Jahre kaum verändert. Damals hatte derselbe Autor, der nun über die Tagung berichtete, im Rahmen einer Vortragsreihe zur „ökonomischen Dekadenz“ Spaniens die Abwesenheit eines sogenannten homo oeconomicus/industrialis festgestellt.⁶ Das zentrale Problem der spanischen (Wirtschafts‐)Geschichte war damit identifiziert. Ein neues historisches Gravitationszentrum jedoch, wie es die Katholischen Könige für die Politik- und Geistesgeschichte dargestellt hatten, ging aus dieser Diagnose nicht hervor. Vor dem Hintergrund eines national-ka-

Exteriores 1950 sowie vor allem für den Fall Richard Konetzkes seinen Brief an Rafael Calvo Serer vom 9.1.1950 in AGUN, Fondo Calvo Serer, 001/033/114.  Vgl. Marín: Los historiadores españoles en el franquismo, S. 215 ff und S. 243 ff.  Manuel Fernández Álvarez: XXV aniversario de la fundación del Consejo Superior de Investigaciones Científicas, in: Hispania 24, S. 627– 634, hier S. 627, S. 629 und S. 630.  Siehe dazu Kapitel I.3.5.

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tholischen Narrativs, das insbesondere das 19. Jahrhundert zur dunkelsten Epoche der Nationalgeschichte erklärte, konnte ein neuer historischer Bezugspunkt, wenn überhaupt, im Reformabsolutismus Karls III. gesucht werden. Bereits im CSIC-Plenum des Jahres 1955 hatte Ibáñez Martín die Historiker dazu aufgefordert, „eine objektive und vollständige Revision des 18. Jahrhunderts als Ursprung und Ursache der Neuesten Geschichte Spaniens [España Contemporánea]“ vorzunehmen. Diesem Aufruf war an erster Stelle Vicente Palacio gefolgt, wobei er an Forschungsinteressen anknüpfte, die er schon vor 1955 verfolgt hatte.⁷ Zu Beginn der 1960er Jahre war es ferner Vicente Rodríguez Casado (1918 – 1990), der mit seiner Monografie zur Politik Karls III. das 18. Jahrhundert endgültig – wie sein Rezensent in der Zeitschrift Arbor festhielt – zur „Sternstunde unserer Geschichte“ erhob. Rodríguez Casado, der seine Karriere im CSIC zusammen mit Pérez Embid und Rafael Calvo begonnen und von dort aus den Sprung in die politische Sphäre vollzogen hatte, hatte dem Rezensent zufolge das Ziel der Herrschaft des Bourbonen klar erkannt: „[…] das Land gemäß den Anforderungen seiner Zeit zu strukturieren, ohne es jedoch von den Kraftlinien seines historischen Wesens abzusatteln.“⁸ Rodríguez Casado hatte diese Ansichten schon in den 1950er Jahren vertreten.⁹ Seine Thesen gewannen aber vor dem Hintergrund der neuen, auf ‚Entwicklung‘ und ‚Wohlstand‘ gründenden Legitimationssprache des Franco-Regimes zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (1962) eine neue Bedeutung. So hob die Buchbesprechung unter anderem die folgende Erkenntnis aus Rodríguez Casados Studie hervor: „Die Arbeiterklasse [sic!] erreichte einen Lebensstandard, der demjenigen ähnlich oder sogar überlegen war, der in den entwickeltesten Ländern vorherrschte.“ Zwar habe die Vertreibung der Jesuiten im Jahr 1767 einen langen Schatten auf die Herrschaft des Monarchen geworfen. Dennoch schien die Antwort auf die „Entwicklungsproblematik“ in einem Autoritarismus zu liegen, für den die Herrschaft Karls III. ein historisches Beispiel bieten würde: „Nachdem, was geschrieben worden ist, lässt sich unmöglich die folgende Frage abwenden: Ließe sich für unsere Geschichte das Binom AutoritätWohlstand formulieren?“¹⁰ Trotz des Signalrufs Ibáñez Martíns und der Arbeit von Rodríguez Casado waren die Vorträge und die anschließenden Diskussionsrunden im Herbst 1964 weit davon entfernt, sich dieser rhetorischen Frage unterzuordnen. Die ‚Ent-

 CSIC: Memoria, 1955 – 1957, S. 12 f. Siehe ferner Kapitel I.3.6.  José M. Cuenca Toribio: Rez. zu Vicente Rodríguez Casado: La política y los políticos en el reinado de Carlos III, Madrid 1962, in: Arbor 52 (1962), S. 385 – 387, hier S. 387.  Siehe dazu den Eintrag zu Vicente Rodríguez Casado in Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 535 f.  Cuenca Toribio: Rezension zu Rodríguez Casado: La política y los políticos, S. 387.

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wicklungsproblematik‘ stand zwar im Zentrum der Reden zu den Jubiläumsfeiern. Sie sickerte jedoch kaum bis in eine Tagung durch, die größtenteils um Fragen zu monarchischer Politik, spanischer Spiritualität und zur Ideengeschichte im Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit kreiste. Wie die Diskussionsprotokolle zeigen, kamen Phänomene des 19. Jahrhunderts nur in einem Fall zur Sprache: María D. Gómez Molleda (1922– 2017), Mitarbeiterin Palacio Atards, hatte in ihrem Vortrag eine Parallele zwischen den „letzten spanischen Anhängern von Erasmus [von Rotterdam]“ im 16. Jahrhundert und den sogenannten Krausistas gezogen – einer Reformbewegung, die sich drei Jahrhunderte später für die Gründung laizistischer Bildungseinrichtungen einsetzte.¹¹ Beide müssten, so Gómez Molleda, zur spanischen „Heterodoxie“ gezählt werden, da sie von der katholischen „Orthodoxie“ abgewichen seien. Den Ausführungen der Historikerin widersprachen zahlreiche Teilnehmer, wobei sie vor allem auf die Notwendigkeit hinwiesen, zwischen den „im besten Falle deistischen“ Krausistas und den „Erasmisten“ zu differenzieren. Schließlich seien Letztere „noch Christen“ gewesen.¹² Ignacio Peiró sieht in seiner jüngst veröffentlichten Arbeit zur Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime in diesem Verharren auf den stets selben Themen und meist auch auf denselben Perspektiven ein Zeichen facheigener Trägheit, die nicht zuletzt der „Bequemlichkeit“ geschuldet war, zu der die Sicherheit akademischer Positionen einlud.¹³ Gleichwohl dieser These in Teilen zugestimmt werden kann, muss man das Bild einer ‚trägen‘ Geschichtswissenschaft dennoch weiter differenzieren. Nimmt man die Historiker des Consejo als Beispiel, so versuchten sie durchaus neue Projekte in Gang zu setzten, gleichwohl sie diese nicht oder nur teilweise verwirklichen konnten. Nicht umsonst hatte Vicente Palacio im Jahr 1960 seine Kündigung als Mitarbeiter des Jerónimo Zurita bei Ibáñez Martín mit einem Verweis auf die „17 Jahre voller Hoffnungen“ ein-

 Die sogenannten ‚Krausistas‘ wurden nach dem deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781– 1832) benannt, dessen gesellschafts- und bildungspolitische Vorstellungen insbesondere unter liberal-laizistischen spanischen Staatsdenkern breit rezipiert worden waren. Der sogenannte Krausismo gilt gemeinhin als philosophischer Nährboden für die Institución Libre de Enseñanza.  Das Protokoll in AGA, Fondo Educación, (05)004 Caja 31/10413, Labor e Historia del CSIC 1950 – 1965, XXV Aniversario, 1964, José Ibanez Martín, varios años.  Ignacio Peiró beschreibt das Feld im Jahr 1964 wie folgt: „Der Großteil der 93 Lehrstuhlinhaber, die im Jahr 1964 tätig waren, hatten es sich in der Sicherheit einer Position komfortabel eingerichtet, die sie weit über ihren Untergebenen situierte. Sie vertrauten auf die Gewissheiten der Geschichtswissenschaft, innerhalb derer sie ausgebildet worden waren, und blieben jeglicher historiografischen Neuerung fern […].“ Peiró: Historiadores en España, S. 65 f.

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gereicht, „die zum großen Teil enttäuscht“ worden waren.¹⁴ Beispielsweise war die Historia General de España, die Ibáñez Martín im Jahr 1955 angeregt hatte, nicht in Angriff genommen worden. Die dafür zur Verfügung gestellten Mittel wurden anderweitig verwendet, wie ein Brief von Antonio de la Torre, Direktor des Jerónimo Zurita, aus dem Jahr 1962 verriet: „Dieser Haushaltsposten hat keine Verwendung und wurde letztes Jahr dafür eingesetzt, eine Publikation des Herrn Erzbischof von Granada zu zahlen.“¹⁵ Die Geschichte Spaniens, die als Gemeinschaftswerk des CSIC erscheinen sollte, war auch sieben Jahre nach ihrer Ankündigung nicht zustande gekommen. Für die Historiker aus dem Umkreis des Consejo schienen sich zu Beginn der 1960er Jahre dennoch neue Arbeitshorizonte zu öffnen. Beispielsweise verband Florentino Pérez Embid mit der Ernennung Lora Tamayos zum Erziehungsminister die Hoffnung auf eine Revitalisierung des CSIC als Ganzes und damit auch der geisteswissenschaftlichen Institute. So beglückwünschte er den ehemaligen Vorsitzenden der CAICT, indem er nicht nur die bevorstehende „objektive Würdigung unseres wissenschaftlichen und intellektuellen Lebens“ ansprach, sondern auch vor den Gefahren einer sich verbreitenden Enttäuschung warnte. Lora Tamayos Amtsantritt würde die Möglichkeit eröffnen, „der Entmutigung entgegenzuwirken und zu vermeiden, dass sich die Intellektuellen – verbittert – auf politische und subversive Gesinnungen stürzen. […] Dabei denke ich – ich kann es nicht vermeiden – an unseren Consejo Superior de Investigaciones Científicas.“¹⁶ Viele der „Intellektuellen“, die Pérez Embid hier ansprach, hatten für die geisteswissenschaftlichen Institute des CSIC gearbeitet und sich, wie Jaume Vicens und später auch Palacio Atard, vom Obersten Forschungsrat als wissenschaftspolitisches Großprojekt des Franco-Regimes enttäuscht abgewendet.¹⁷

 Zur Kündigung siehe Kapitel I.3. (Ende).  Brief von Antonio de la Torre an Rafael Balbín vom 4.12.1962, ACCHS, Caja 849, Carpeta 39bis/ 22.  Brief von Florentino Pérez Embid an Manuel Lora Tamayo vom 12.7.1962, AGUN, Fondo Pérez Embid, 003/013/Julio.  Der ehemalige Zensurbeauftragte Pérez Embid hatte sich selbst vom Franco-Regime distanziert und monarchistischen Gegenpositionen zugewendet. Nur wenige Tage, bevor er Lora Tamayo beglückwünschte, begründete er seine Haltung gegenüber dem ebenfalls monarchistischen Juristen Jesús Silva (1924– 2009) in einer Weise, in der sich die geschwundene Zuversicht in die Zukunftsfähigkeit des Regimes ausdrückte: „Die Lösung des Problems, das dieses Land heute vor sich hat, liegt nicht darin, die Begeisterung mancher wiederzubeleben, auch wenn dies wichtig wäre […]. Was hier geschieht ist, dass Franco Tag für Tag mehr gagá [sic!] ist, und seine Regierung wird zunehmend von Entmutigung, von Pessimismus und schlechtem Gewissen zerfressen. Die tatsächlichen sozialen und moralischen Kräfte tragen vor unserer Nase eine Zukunft aus, die vor der Tür steht. Die Monarchie könnte uns aus dem Morast führen, in den uns der Franquismus

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Allerdings würde Palacio Atard, anders als der katalanische Historiker, im Jahr 1963 als Direktor der Escuela de Historia Moderna in den Consejo zurückkehren, nachdem Antonio de la Torre, den Palacio bei seinem Rücktritt als „Grabplatte“ des historischen Instituts bezeichnet hatte, verstorben war. In wissenschaftspolitischer Hinsicht schien die Lage für eine Rückkehr zunächst günstig zu sein. Der Consejo Ejecutivo, oberstes Entscheidungsgremium des CSIC, hatte im März 1963 einen Bericht in Auftrag gegeben, in dem man angesichts des Auseinanderdriftens der historischen Forschungen die Möglichkeit einer stärkeren Koordination ausloten sollte.¹⁸ Der Consejo Ejecutivo, dem nach zehn Jahren erstmals wieder der Erziehungsminister vorsaß, beschloss nur wenige Monate später, auf der Grundlage dieses Berichts, einen Nationalen Ausschuss für die Koordination der historischen Studien einzuberufen und seine Mitglieder aus den einzelnen Zentren des Consejo zu rekrutieren.¹⁹ Vicente Palacio nutze diesen Vorstoß und seine neu gewonnene Position, um seinerseits einen Technischen Ausschuss der Escuela de Historia Moderna mit dem Ziel zu gründen, sowohl die Vorgaben zu stärkerer Koordination umzusetzen als auch das Projekt zu einer Historia General de España unter dem Namen „Geschichte Spaniens in der modernen Welt“ neu zu lancieren.²⁰ Die Ambitionen Palacios waren hoch gesteckt. Eine Projektbeschreibung, die jener im Frühjahr 1964 verfasste, stellte die Historia de España en el Mundo Moderno als Gemeinschaftsprojekt zahlreicher namhafte Historiker vor, darunter José M. Jover, Manuel Fernández Álvarez und Federico Suárez, aber auch Vicens’ ehemaliger Mitarbeiter und nun Professor in Valencia, Joan Reglà.²¹ Gegenüber den eventuellen Autoren beschrieb Palacio das Großprojekt wiederum als „[s]o etwas wie die Reihe ‚L’Évolution de l’humanité“, die von Henri Berr (1863 – 1954) betreute Großreihe, zu der seit den frühen 1920er Jahren Lucien Febvre, Marc Bloch und Georges Lefèbvre sowie zahlreiche andere Forscher beigetragen hatten.²² Dem Direktor der Escuela de Historia Moderna ging

gebracht hat.“ Brief von Florentino Pérez Embid an Jesús Silva vom 8.7.1962, AGUN, Fondo Pérez Embid, 003/013/Julio. Zu den Erosionserscheinungen innerhalb der politischen und intellektuellen Elite des Franco-Regimes seit Beginn der 1960er Jahre siehe Pere Ysàs: Disidencia y subversión. La lucha del régimen franquista por su supervivencia, 1960 – 1975, Barcelona 2004, insbesondere S. 47– 74.  Vgl. Akte zur Sitzung des Consejo Ejecutivo vom 9. 3.1963, ACCHS, Caja 831.  Vgl. Brief von José Ibáñez Martín an Antonio Rumueu de Armas vom 16.6.1963, ebd.  Vgl. Brief von Vicente Palacio Atard an die Leitung des Patronato Menéndez Pelayo des CSIC vom 15.4.1964, ACCHS, Caja 925.  Vgl. ebd.  Vgl. Jacqueline Pluet-Despatin: Henri Berr éditeur. Elaboration et production de ‚L’Évolution de l’humanité’, in: Agnès Biard/Dominique Bourel/Eric Brian (Hrsg.): Henri Berr et la culture du

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es bei diesem Verweis allerdings nicht um vitalistische Geschichtskonzepte, die Henri Berr unter dem Begriff der synthèse gefasst hatte.²³ Palacio zielte eher auf „die Dimensionen und das Auftreten“ der französischen Reihe.²⁴ Die Historia de España en el Mundo Moderno sollte, Palacios Vorhaben gemäß, die einschlägigen Werke enthalten, die zu den wichtigsten Themen der Geschichte Spaniens seit der Frühen Neuzeit veröffentlicht werden würden. Der Nationale Ausschuss für die Koordination der historischen Studien und der Technische Ausschuss der Escuela de Historia Moderna sowie die Historia de España en el Mundo Moderno sollten sich jedoch eher als Absichtserklärungen denn als tatsächlich durchführbare Unternehmen erweisen. Noch bevor sich der Nationale Ausschuss zum ersten Mal versammelt hatte, warnte sein Vorsitzender in einem Brief davor, dass man sich aufgrund der räumlichen Distanz und der unklaren Budgetierung nur „ab und zu“ würde treffen können.²⁵ Als sich die Mitglieder des Ausschusses im Februar 1964 schließlich in Madrid zur ersten Sitzung einfanden, stimmten sie zwar der allgemeinen Zielsetzung zu. Sie gaben aber auch einstimmig „das dringende Bedürfnis [zu Protokoll], das die verschiedenen [historischen] Institute des Consejo nach solchen wissenschaftlichen Mitarbeitern und Aushilfen haben, die sich kontinuierlich und permanent der Forschung widmen können, wie sie in den Instituten für [Natur]Wissenschaft und angewandte Technik vorhanden sind. Die historische Forschung und insbesondere diejenigen Unternehmungen, die einer langfristigen und regelmäßigen Tätigkeit bedürfen, sind ohne sie zum Scheitern verurteilt.“²⁶

Dieselben Personal- und Finanznotlagen kamen auch im Oktober 1964 zur Sprache, als der Technische Ausschuss der Escuela de Historia Moderna im Anschluss an das Kolloquium tagte, das im Rahmen des 25-jährigen Jubiläums des CSIC stattfand. Die Mitglieder waren sich darin einig, einen Antrag auf die Erweiterung der finanziellen und personellen Ressourcen zu stellen. Wie die Sitzungsprotokolle zeigen, diskutierten Palacio Atard, José M. Jover und Antonio XXe siècle. Histoire, science et philosophie (actes du colloque international, 24– 26 octobre 1994, Paris), Paris 1997, S. 241– 267.  Zum Begriff der „synthèse“ siehe Bertrand Müller: Lucien Febvre et Henri Berr. De la synthèse à l’histoire problème, in: Agnès Biard/Dominique Bourel/Eric Brian (Hrsg.): Henri Berr et la culture du XXe siècle. Histoire, science et philosophie (actes du colloque international, 24– 26 octobre 1994, Paris), Paris 1997, S. 39 – 59.  Für mehrere Empfänger verfasste Briefvorlage von Vicente Palacio Atard vom 15.10.1963, ACCHS, Caja 925.  Brief von José M. Lacarra an Antonio Rumeu de Armas vom 3.10.1963, ACCHS, Caja 831.  Protokoll zur Gründungssitzung der Junta Nacional Coordinadora de los Estudios Históricos, 13. 2.1964, ACCHS, Caja 831.

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Rumeu zusammen mit weiteren dreizehn Geschichtsprofessoren sogar die Option, sämtliche lokale Sektionen sowie Teilstellen für wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden des CSIC zu streichen und die Kooperation zwischen den Universitätsseminaren und dem Consejo ausschließlich über den Technischen Ausschuss zu organisieren. Dieser Vorschlag, von Palacio selbst unterbreitet, lief zwar auf den ersten Blick dem Ziel zuwider, für das der Ausschuss zusammenberufen worden war. Die Entlohnung für diese Stellen war allerdings seit den 1950er Jahren stagniert. Sie sei, so das Protokoll, zu einer „kärglichen Gratifikation“ verkommen, die ihren eigentlichen Zweck verfehlte. Die angestrebte Koordination könne über andere Wege erreicht und die Mittel anderweitig eingesetzt werden.²⁷ Die ersten Sitzungen beider Ausschüsse zeigen, dass der Vorstoß des Consejo Ejecutivo zwar mit Wohlwollen angenommen wurde, doch fehlte es den Mitgliedern an den nötigen finanziellen und personellen Mitteln, um sie, anders als in den naturwissenschaftlichen und technischen Instituten, in die Tat umzusetzen. So ist es bezeichnend, dass beide Ausschüsse im Jahr 1964 zum ersten und zugleich auch zum letzten Mal tagten. Gleichwohl regelmäßige Treffen vorgesehen waren und sie formal weiterhin bestanden, hinterließen sie in den Archiven keine weitere Spur. Dementsprechend kamen auch die Programme nicht zustande, die zur Koordination der Forschung und zur Festlegung von „Themen mit höchstem historischen Interesse“ ausgearbeitet werden sollten.²⁸ Die historischen Seminare und die Sektionen des CSIC, sofern sie weiter bestanden, arbeiteten voneinander getrennt, ohne dass sie in den Folgejahren durch weitere wissenschaftspolitische Vorstöße zur Zusammenarbeit angeregt oder ihre finanzielle Ausstattung verbessert wurde.²⁹ Das Scheitern dieser Initiativen bedingte nicht zuletzt, dass auch Palacio Atards Historia de España en el Mundo Moderno weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückblieb, die er bei der Gründung des Technischen Ausschusses bekundet hatte. Die Reihe erschien schließlich zwischen den Jahren 1966 und 1977, wobei sie lediglich sechs Bände enthielt und sich die Autorinnen und Autoren vorwiegend aus Palacio Atards unmittelbarem Mitarbeiterkreis rekrutierten.³⁰

 Acta de la sesión celebrada por la Junta Técnica de la Escuela de Historia Moderna, 22.10. 1964, ACCHS, Caja 925.  Protokoll zur Gründungssitzung der Junta Nacional Coordinadora de los Estudios Históricos, 13. 2.1964, ACCHS, Caja 831.  Siehe dazu die internen Jahresberichte in ACCHS, Caja 834, Memorias Zurita.  Die Historia de España en el Mundo Moderno enthielt schlussendlich nur Monografien zur politischen Geschichte des 19. und zuletzt auch des 20. Jahrhunderts, wobei in ihnen eine katholisch-konservative Perspektive zum Tragen kam. Unter den Autorinnen und Autoren befanden

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Eine ähnliche Mischung aus akademischer ‚Trägheit‘, gescheiterten Koordinationsversuchen und Unterlassung wissenschaftspolitischer Hilfeleistung zeigte sich auch bei der Teilnahme spanischer Historiker am 12. Internationalen Historikerkongress, der vom 29. August bis zum 2. September 1965 in Wien stattfand.³¹ Wie in Kapitel I.3.3. gezeigt, hatte sich in Folge des Pariser Kongresses aus dem Jahr 1950 eine Asociación Española de Ciencias Históricas gebildet, die die Partizipation bei zukünftigen Anlässen organisieren und für eine stärkere Präsenz der spanischen Geschichtswissenschaft bei internationalen Tagungen sorgen sollte. Die Mitglieder der Asociación waren allerdings schon beim nächsten Kongress, der fünf Jahre später in Rom stattfand, an die Grenzen des außen (wissenschafts)politisch Machbaren gestoßen. Die von ihnen initiierte Kandidatur für eine zukünftige Austragung von Kongressen auf spanischem Boden hatte aus politischen und finanziellen Gründen keinerlei staatliche Rückendeckung erfahren.³² Wie die einschlägigen Quellen zum Wiener Kongress zeigen, fehlte im Jahr 1965 wiederum mehr als nur außenpolitischer Wille. Der Rechtshistoriker Alfonso García Gallo (1911– 1992) ließ nämlich nach Abschluss der Tagung in einem Bericht für die Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen das Außenministerium wissen, dass das spanische Komitee nur einen einzigen Delegierten nach Wien gesandt hatte. Dem Verfasser des Berichts war darüber hinaus auch „nicht bekannt, dass sich das spanische Komitee an der Vorbereitung des Kongresses beteiligt“ hätte. Überhaupt habe der „Kongress in Spanien ein geringes Echo erfahren oder zumindest wenig Interesse geweckt, an ihm teilzunehmen, und zwar nicht nur aufgrund der Jahreszeit [sic!] sondern auch wegen der Schwierigkeiten, hinreichende finanzielle Unterstützung zu erhalten.“ Zwar seien „fünfzehn bis zwanzig“ spanische Historiker nach Wien gereist, doch war es dem Verfasser „nicht möglich, ihre Anzahl und die Art ihrer Präsenz genau zu bestimmten, da sie sich angesichts eines fehlenden Koordinationsorgans – spanisches Komitee, Botschaft, etc. – nur spontan und auf persönlicher Ebene getroffen“ hätten.³³ „In sich die Mitarbeiter des Consejo María D. Gómez Molleda (1922– 2017), Manuel Espadas Burgos (geb. 1936) und Manuel Fernández Álvarez (1921– 2010) sowie Vicente Palacios ehemaliger Doktorand Manuel Revuelta (geb. 1936) und José L. Comellas (geb. 1928).  Vgl. Karl D. Erdmann: Toward a global community of historians. The international historical congresses and the International Committee of Historical Sciences, 1898 – 2000, Neuaufl. hrsg. v. Jürgen Kocka, New York 2005, S. 244– 277.  Zur politisch motivierten Ablehnung einer Kandidatur, die im unwahrscheinlichen Falle eines Erfolgs damit drohte, zahlreiche Historiker aus dem Ost-Block in die spanische Hauptstadt zu bringen, siehe Kapitel I.3.3.  Die Delegation des CSIC bestand aus den Kirchenhistorikern José Vives Gatell (1888 – 1975) und Tomás Marín Martínez (1919 – 1995), dem Mediävisten und Schüler Antonio de la Torres,

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jedem Falle“, fuhr García Gallo fort, „war die Anzahl […] vollkommen unzureichend, um eine spanische Präsenz in den dreißig Arbeitsgruppen, die während des Kongresses tagten, zu gewährleisten.“³⁴ Diese Abwesenheit hatte auch konkrete Auswirkungen. So habe sich eine Kommission für die Geschichte Lateinamerikas gebildet, in die kein einziger spanischer Historiker berufen worden sei.³⁵ Angesichts des Gewichts, das die Geschichte des Imperio innerhalb der spanischen Geschichtswissenschaft besaß, war ein solches Versäumnis besonders bemerkenswert. Der Generaldirektor für Kulturelle Beziehungen veranlasste daraufhin zwei weitere Historiker zu entsprechenden Stellungnahmen, die ihrerseits ein charakteristisches Licht auf die Kongressteilnahme und auf die Außen(wissenschafts)politik selbst werfen. In der ersten dieser Stellungnahmen lehnte der Lateinamerikahistoriker, Mitglied der Asociación und persönlicher Bekannter des Empfängers, Manuel Ballesteros (1911– 2002), jegliche Verantwortung in dieser Angelegenheit ab, und zwar unter Verweis auf Versäumnisse des Generaldirektors selbst: „Ich habe Dich seinerzeit darauf hingewiesen, dass es angebracht gewesen wäre, einen spanischen Lateinamerikahistoriker zu schicken, und Du hast mir zu Recht gesagt, dass die Regierung derartige Kosten nicht trägt. Das [Instituto de] Cultura Hispánica hat von der Sache nicht einmal Wind bekommen. Ich hätte hinfahren können, wenn ich beim Kommissariat für Schulhilfen [des Erziehungsministeriums] darum gebettelt hätte, mir die Reise zu zahlen, aber man erreicht eben ein Alter, in dem man müde davon wird, Dienste am Vaterland zu verrichten und dabei so zu tun, als ob man nur ein touristisches Interesse verfolge, zumal man die Unterbringung sowie andere Ausgaben aus der eigenen Tasche zahlt.“³⁶

Ballesteros argumentierte hier mit einer mangelhaften staatlichen Unterstützung, die selbst jene Historiker auf sich selbst gestellt ließ, die durchaus bereit waren, „ihren Dienst am Vaterland zu verrichten“. Das Ergebnis dieser Affäre sei dementsprechend ungünstig: Die Kommission enthielte keinen einzigen spanischen Vertreter, stünde dafür aber unter dem Vorsitz des französischen Historikers Pierre

Emilio Sáez Sánchez (1917– 1988), sowie dem Rechtshistoriker Rafael Gibert Sánchez de la Vega (1919 – 2010). Es reisten keine Historiker aus der Escuela de Historia Moderna nach Wien. Vgl. AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 8940, Exp. 229.  Bericht von Alfonso García Gallo für die Dirección General de Relaciones Culturales, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 8940, Exp. 229.  Vgl. ebd.  Brief von Manuel Ballesteros an Alfonso de la Serna vom 26.10.1964, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 8940, Exp. 229.

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Chaunu (1923 – 2009) und sei, wie der Verfasser versicherte, von kubanischen „Castristen“ und anderen „Philo-Kommunisten“ besetzt.³⁷ Nicht weniger enttäuscht zeigte sich Florentino Pérez Embid, der als zweiter Stellung in dieser Angelegenheit bezog. Ganz ähnlich wie García Gallo sah er das Problem in den Versäumnissen der spanischen Organisation begründet: „Diese Ausgrenzung, auf die Du [der Generaldirektor] Dich beziehst, lässt sich wahrscheinlich dadurch erklären, dass es keinerlei offizielle spanische Delegation gab […] und keine einzige spanische Körperschaft eine kohärente Teilnahme organisierte.“ Im Kontrast dazu sei die französische Delegation „mit ausgezeichnet koordinierten Arbeitsgruppen“ angereist. Sie hätten „sogar jedem Einzelnen einen prachtvoll hergestellten, bibliografischen Katalog geschenkt, der die historiografische Produktion Frankreichs (1940 – 1965)“ enthalten würde. Vor diesem Hintergrund sei die mangelhafte spanische Organisation umso schmerzlicher.³⁸ Pérez Embids Verweis auf die französische Delegation mangelte es nicht an einer gewissen Bewunderung. In ihr spiegelte sich eine Tendenz wider, in der zunehmend weite Teile der spanischen Historikergemeinschaft die französische Geschichtswissenschaft und insbesondere die ‚Annales‘-Strömung als neuen historiografischen Horizont und Ausdruck eines einflussreichen sowie leistungsstarken intellektuellen Unternehmens wahrnahmen. Zwar versuchte nach Jaume Vicens kein weiterer Historiker, sich das symbolische Kapital der ‚Annales‘ derart offensiv anzueignen. Dennoch war die VI. Sektion der EPHEE zu einer wichtigen Anlaufstelle bei der Suche nach akademischem Prestige geworden.³⁹ Dies galt auch für Pérez Embid, der bereits vor dem Kongress seinen Antrag auf Reisezuschüsse mit dem Verweis auf seine guten Beziehungen zu Michel Mollat begründet hatte und nun in seiner Replik auf Ballesteros Pierre Chaunu in Schutz nahm.⁴⁰ Jedenfalls waren die Kontakte zu den meisten Historikern aus dem Kreis der ‚Annales‘ für das Außenministerium nicht nur politisch unverdächtig, sondern sogar begrüßenswert. Dies galt für den politisch konservativen Pierre

 Ebd. Ballesteros sprach damit den kubanischen Historiker Sergio Aguirre (1914– 2014) und den Soziologen aus Uruguay Carlos M. Rama (1921– 1983) an. Zur Zusammensetzung der Kommission siehe AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 8940, Exp. 229.  Brief von Florentino Pérez Embid an Gonzalo Fernández de la Mora vom 11.11.1965, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 8940, Exp. 229.  Von Jaume Vicens und seinen Schülern Jordi Nadal und Emili Giralt abgesehen, beschaffte beispielsweise auch José M. Jover seinem Doktoranden Alvaro del Castillo Ende der 1950er Jahre einen längeren Aufenthalt in der VI. Sektion der EPHEE. Für weitere Fälle, wie diejenigen von Felipe Ruiz Martín, Valentín Vázquez de Prada (geb. 125) oder Antonio Eiras Roel (1931– 2017) siehe Pasamar: La influencia de Annales, S. 149 – 172.  Vgl. die Briefe von Florentino Pérez Embid an Gonzalo Fernández de la Mora vom 11.11.1965 und an Alfonso de la Serna vom 24. 2.1965, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 8940, Exp. 229.

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Chaunu ebenso wie für all jene Historiker, die sich nicht offen politisch militant zeigten. Die Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen unterstützte beispielsweise noch im selben Jahr die Initiative der Universität Madrid, Fernand Braudel als dritten nicht-spanischen Historiker seit 1939 die Ehrendoktorwürde zu verleihen.⁴¹ Wie das obige Zitat Florentino Pérez Embids zeigt, spiegelte die französische Teilnahme am Kongress in Wien für den spanischen Historiker sowohl die Stärken der französischen Geschichtswissenschaft, als auch die Schwächen der spanischen wider. Die in diesem Abschnitt behandelten Beispiele machen deutlich, dass die Förderung sowie die innere Koordination der spanischen Historiografie und ihre Eingliederung in internationale Netzwerke zwar wissenschaftspolitisch erwünscht waren. Jedoch standen diese Ziele aber zugleich im Schatten einer Entwicklungspolitik, die ihre Aufmerksamkeit auf jene Bereiche richtete, die Spanien aus dem ‚Rückstand‘ zu holen versprachen. Die Devise der Jubiläumsfeiern des Jahres 1964, wonach der Staat „die maximale Annäherung der Wissenschaft an die Macht“ anstrebe, galt nicht für die historischen Wissenschaften, die im Vergleich zu den 1940er Jahren ihren Status als Legitimationswissenschaft weitgehend eingebüßt hatten. Eine historische Herleitung der neuen Gegenwart aus dem national-katholischen Narrativ war nicht denkbar, da dieser einen historischen Pfad abseits der technisch-industriellen Moderne postuliert hatte, die nun ausdrücklich den Horizont franquistischer Entwicklungsbestrebungen darstellte. Nimmt man den Consejo als Beispiel, so stellten die Historiker ebenso wenig ein neues Narrativ auf, wie die Wissenschaftspolitik sich dafür einsetzte, die dafür notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Sicherlich waren das historische Institut des CSIC und die Asociación Española de Ciencias Históricas nicht in jeglicher Hinsicht für die spanische Geschichtswissenschaft repräsentativ. Die komplexe Entwicklung eines Historikerfelds, das sich bis Mitte der 1960er Jahre auf historiografischer und auch auf politisch-ideologischer Ebene zunehmend ausdifferenzierte, lässt sich nicht allein aus einer Dynamik gescheiterter Projekte erklären. Dennoch waren das

 Zuvor hatten lediglich der deutsche Hispanist Karl Vossler (1944) und der belgische Mediävist Charles Verlinden (1962) diese Auszeichnung erhalten. Siehe dazu die Korrespondenz zwischen der spanischen Botschaft in Paris und der Generaldirektion in AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 10207, Exp. 38, Profesor Fernand Braudel, propuesto para Dr. Honoria Causa. Zu Vossler siehe die entsprechende Meldung in ABC, 24. 3.1944, S. 6. Zu seiner Tätigkeit im Deutschen Wissenschaftlichen Institut in Madrid während des Zweiten Weltkriegs siehe Frank-Rutger Hausmann: Auch im Krieg schweigen die Musen nicht. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001 (Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für Geschichte 169), S. 43 ff und S. 212.

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Jerónimo Zurita und darin die Escuela de Estudios Modernos keine bloßen Einzelfälle, waren sie doch, genauso wie der Consejo als Ganzes, mit dem Anspruch gegründet worden, zentrale und sich auf das gesamte Territorium erstreckende Forschungseinrichtungen darzustellen. Insofern bedeuteten die misslungenen Koordinierungsversuche auch das Scheitern einer ihrer wichtigsten Aufgaben. Die Entwicklung des Jerónimo Zurita war symptomatisch, denn in ihr zeigten sich am eindrücklichsten der Abstieg der Historiografie innerhalb der wissenschaftspolitischen und legitimatorischen Prioritätenordnung sowie der Verlust der Zentralität des Consejo. In welchem Zustand sich das zentrale historische Institut des Consejo nach einem Jahrzehnt der ‚Entwicklung‘ befand, zeigt ein interner Bericht aus dem Jahr 1972, den der wissenschaftliche Mitarbeiter Manuel Espadas Burgos (geb. 1936) auf Anfrage der Leitung des CSIC verfasste. Dieser 11-seitige Bericht soll hier abschließend in Auszügen zitiert werden, da Espadas in ihm eine ungewohnt kritische und sehr anschauliche Beschreibung aller Missstände vornahm, die der jahrzehntelange Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen seiner Ansicht nach verursacht hatte. Seine Kritik erstreckte sich in erster Linie auf die zentralen Tätigkeiten des Instituts. So würde die Zeitschrift Hispania unter der „Inexistenz eines eigentlichen Redaktionsteams“ leiden, was sie dazu zwingen würde, „sich in der absoluten Prekarität“ zu bewegen. Dies und das „lächerliche Entgelt, das die Autoren erhalten“, hindere die Zeitschrift daran, „anerkannte Forscher anzuwerben“. Um ein gewisses „wissenschaftliches Prestige im In- und Ausland zu genießen, müsste man [aber] Arbeiten mit aufnehmen, die wissenschaftlich solide sind […]. Unter den jetzigen Bedingungen ist das nicht möglich.“ Selbst der Rezensionsteil sei aufgrund der „Inexistenz einer hinreichend ausgebildeten Arbeitsgruppe“ gezwungenermaßen „anachronistisch“. Noch schwerwiegender war für Espadas Burgos die Tatsache, dass „das ohnehin knappe wissenschaftliche Personal [elf Mitarbeiter, davon drei auf Vollzeit] keinerlei gemeinsames und koordiniertes Forschungsprogramm“ verfolgte. Der Verfasser sah die Ursachen dafür allerdings nicht im Fehlen von institutseigenen Initiativen, sondern genau in jener wissenschaftspolitischen Passivität begründet, die schon für die erste Hälfte der 1960er Jahre festgestellt worden ist: „Bisher wurden sämtliche vom Institut vorgelegten Projekte zu einer geplanten Forschung […] zwar von den hohen Entscheidungsorganen des Consejo abgesegnet, doch aufgrund des Mangels an der geringsten finanziellen Unterstützung konnte keines von ihnen je in die Tat umgesetzt werden.“⁴²

 Instituto „Jerónimo Zurita“. Informe solicitado por el Comité Ejecutivo de Investigación Científica, 20.7.1972, vorgelegt von Manuel Espadas Burgos, ACCHS, Caja 834.

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Der Verfasser zeichnete ein Bild des Jerónimo Zurita, das im sprichwörtlichen Sinne düster war, da es nicht nur an Personal, Forschungsmitteln und -programmen, sondern sogar an einer „angemessen Beleuchtung“ mangele. Überhaupt zog Espadas Burgos aus seiner Beschreibung der Einrichtung und der Räumlichkeiten ein Fazit, das gleichsam als Sinnbild für das gesamte Institut stand: „Im Allgemeinen bietet unser Gebäude, das schlecht beleuchtet ist und seit über zehn Jahren nicht gestrichen wurde, ein keinesfalls einladendes Ambiente […]. Dies wird durch das klapprige, schmutzige und vollkommen veraltete Mobiliar und der absoluten Nichtexistenz eines technischen Instrumentariums verschärft, was für ein Forschungszentrum unserer Tage vollkommen unschicklich ist.“⁴³

Das Gebäude, von dem Espadas Burgos hier sprach, befand sich in einer zentrumsnahen Straße der spanischen Hauptstadt und beherbergte auch die übrigen Institute des Patronato Menéndez Pelayo. Insofern spiegelte sich in seinem Bericht der Zustand der gesamten Abteilung für Geisteswissenschaften wider. Dessen Vorsitzender, der Altphilologe Manuel Fernández-Galiano (1918 – 1988), warnte in einer zwei Jahre später, im hauseigenen Konferenzraum gehaltenen Rede, die er an den Präsidenten des Consejo adressierte, vor den Gefahren einer solch extremen Vernachlässigung: „Herr Präsident, es genügt einen Blick auf diesen Raum zu werfen; hier sieht es sehr hässlich aus, es ist alles in einem sehr schlechten Zustand, hier kann es, hier könnte es brennen […].“⁴⁴ Etwa vier Jahre später, in der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember 1978, brach tatsächlich ein Brand aus, dem große Teile der Einrichtung und des Bücherbestands zum Opfer fielen.⁴⁵

 Ebd.  Skript zur Rede von Manuel Fernández-Galiano, gehalten in einem Sonderplenum des Patronato Menéndez Pelayo aus dem Jahr 1974 [o.D.] unter dem Vorsitz des Chemikers und neu ernannten Präsidenten des CSIC, Eduardo Primo Yúfera (1918 – 2007), ACCHS, Caja 786.  Siehe dazu die Nachricht in ABC, 3.12.1978, S. 23, und die Schadensschätzung in ACCHS, Caja 834, Memorias, Insituto ‚Jerónimo Zurita‘, Memoria correspondiente a 1978.

3 Jaume Vicens posthum: Traditionspflege, selektive Erinnerung und das Kapital des Erneuerers Im selben Jahr 1974, in dem der Direktor des Patronato Menéndez Pelayo die Vernachlässigung der geisteswissenschaftlichen Institute beklagte, veröffentlichte der ehemalige Mitarbeiter des CSIC José M. Jover Zamora einen Aufsatz, in dem er die Produktion der spanischen Geschichtswissenschaft seit dem Ende des Bürgerkriegs periodisierte.¹ Jover hatte seine Karriere innerhalb des Consejo begonnen und gehörte im Übergang von den 1940er zu den 1950er Jahren zu denjenigen Historikern, die das national-katholische Narrativ affirmativ vertraten. Ähnlich wie Jaume Vicens, begann er sich jedoch im Laufe der 1950er und vor allem in den 1960er Jahren ausdrücklich international auszurichten und seine Forschungsinteressen auf das 19. Jahrhundert zu verlegen.² Zwar verschrieb sich Jover nicht den Perspektiven der ‚Annales‘-Strömung. Doch rekonstruierte er bereits im Jahr 1961 seine intellektuelle Autobiografie in einer Weise, in der „die Zeitschrift Annales“ und vor allem „das Werk Braudels“ als „entscheidendes“ Moment seiner Laufbahn erschienen. In ihnen habe sich nämlich eine „unumkehrbare historiografische Revolution“ angekündigt.³ In seinem Aufsatz aus dem Jahr 1974 formulierte er schließlich eine Periodisierung, in der die Partizipation an dieser „Revolution“ zugleich den Ursprung der eigentlichen ‚Verwissenschaftlichung‘ der spanischen Historiografie dargestellte habe. Eine erste, von einer „diffusen Ideologie“ geprägte Phase sei von einer zweiten abgelöst worden, die seit Beginn der 1950er Jahre die „nationalistische Geschichtsschreibung“ graduell durch eine „weitaus realistischere, mit den allgemeinen europäischen Entwicklungsmustern übereinstimmende“ Geschichtswissenschaft ersetzt habe. Im Mittelpunkt dieser Transformation stand für den Autor im Besonderen Jaume Vicens.

 Vgl. Jover: El siglo XIX en la historiografía española contemporánea (1939 – 1972). Siehe auch Kapitel II.1.  Ignacio Peiró hat in einer jüngst vorgelegten Studie den weiteren Werdegang Jovers unter dem Begriff der „Metamorphose“ gefasst. Jover verbrachte im Jahr 1961 vier Monate an der Universität Freiburg. Dort lernte er die Arbeiten Ludwig Dehios (1888 – 1963) zur Geschichte internationaler Beziehungen kennen. Peiró zufolge hatte diese Begegnung den größten Einfluss auf die Interessensverschiebung Jovers. Vgl. Peiró: Historiadores en España, S. 144– 162; ders.: Las metamorfosis de un historiador. El tránsito hacia el contemporaneismo, in: Revista de historia Jerónimo Zurita 82 (2007), S. 175 – 234.  José M. Jover: Las tendencias actuales de la historiografía alemana en el campo de la Historia Contemporánea, Memoria Beca Fundación Juan March, 1961, zitiert aus ebd., S. 125 f. https://doi.org/10.1515/9783110532227-016

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Die Rezeption der ‚Annales‘ sei nämlich seiner „klarsichtigen und kämpferischen Einstellung“ zu verdanken.⁴ Vicens und mit ihm seine biografischen Selbstdeutungen als ‚Erneuerer‘ und ‚Europäisierer‘ rückten damit ins Zentrum einer Periodisierung, die den ‚Fortschritt‘ der gesamten spanischen Geschichtswissenschaft beschrieb. Seine Präsenz in internationalen Tagungen und die daraus erwachsenden Netzwerke hatten ferner die Übersetzung mancher seiner Werke ins Englische, ins Deutsche und ins Italienische begünstigt, so dass zum Zeitpunkt, als Jover seine Periodisierung aufstellte, der längst verstorbene Vicens als einer der international erfolgreichsten spanischen Historiker gelten konnte.⁵ Auch auf publizistischer Ebene war der Autor der Annäherung an die Geschichte Spaniens äußerst erfolgreich. Beispielsweise rechnete der Verlag Alianza zehn Jahre nach Vicens’ Tod mit einer großen Nachfrage nach diesem für ein breites Publikum verfasstes Handbuch, das im Jahr 1970 zu seinem Gedenken neu verlegt wurde.⁶ Die Grundlagen für Jovers Periodisierung hatte Vicens in seinen Aufsätzen, Vorworten und Artikeln selbst gelegt. Die Verlagerung in die Mitte der facheigenen Erinnerung setzte allerdings erst im Jahr 1960 ein, als mit Vicens’ Tod sein Nachleben begann. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der unerwartete Tod des 50-jährigen Historikers nur wenig Wiederhall in den spanischen Historikerkreisen und insbesondere in den Publikationsorganen des Consejo fand. Die Memoria des CSIC für das Jahr 1960 widmete ihm nur wenige Zeilen, Arbor erwähnte den Todesfall nicht. Im Falle der Tageszeitung YA fiel die Todesanzeige sogar satirisch aus, wie ein aufgebrachter katalanischer Kollege Vicens’ dem Redaktionsleiter des IHE, Jordi Rubió, schrieb.⁷ Nur Joan Mercader

 Jover: El siglo XIX en la historiografía española contemporánea (1939 – 1972), S. 10.  Besonders erwähnenswert sind seine Teilnahmen am Kolloquium zu ‚Charles V et son temps’ im Herbst 1958 in Paris, am Congresso di Storia del Risorgimiento Italiano in Mailand im Frühsommer 1959 und an der Première Conférence Internationale d’Histoire Économique, die im Vorfeld zum 11. Internationalen Historikerkongress in Stockholm veranstaltet wurde. Nur die Aproximación wurde in alle drei Sprachen übersetzt (1966 ins Italienische, 1967 ins Englische, 1969 ins Deutsche). In englischer Sprache erschien auch Jaume Vicens/Jordi Nadal: An Economic Historiy of Spain, Princeton 1969.  Die entsprechende Zensurakte führt eine Auflagenstärke von 400 000 Exemplaren auf. Gleichwohl die Angabe dieser exorbitanten Stückzahl mit hoher Wahrscheinlichkeit fehlerhaft ist, kann dennoch von einem großen Verkaufserfolg ausgegangen werden. Im Übrigen befand der Zensor, dass in der Aproximación ein „verborgener Katalanismus zwar vorhanden, aber zulässig ist.“ Die Zensurakte in AGA, Fondo Información y Turismo, (03)013 Caja 66/05740 Exp. 6076.  Der Autor des Briefes verwandte das Wort „codornicesca“ in Anspielung auf die Satirezeitschrift La Codorniz. Brief von Miquel Batllori an Jordi Rubió vom 28.1.1960, ACEHI, Fondo IHE, IHE 9, Carpeta 3, Corr. Colaborades, Años 1953 – 1966, A–C.

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konnte als Mitarbeiter des Jerónimo Zurita einen Nachruf in der Zeitschrift Hispania platzieren. Dieses geringe Echo stand in einem starken Kontrast zu den Reaktionen, die Vicens’ Tod auf katalanischer und – in einem geringeren, aber dennoch signifikanten Maße – auf internationaler Ebene hervorrief. Die katalanische Presse berichtete weitläufig über sein Begräbnis. Beispielsweise widmete die auflagenstärkste Tageszeitung aus Barcelona, La Vanguardia Española, dem Trauerzug mehrere Seiten. In ihnen hob man gleich zu Beginn einen Ritus hervor, der dazu gedacht war, Vicens’ Vermächtnis als maestro zu unterstreichen: „Der Sarg wurde von den Schülern, Studenten und Mitarbeitern des erlauchten verstorbenen Forschers getragen, wobei sie sich so lange abwechselten, bis sie die Pfarrkirche von Santa María de Rosas erreichten.“⁸ Doch nicht nur Vicens’ Schüler versammelten sich um dessen Leichnam. Ihm folgten auch zahlreiche Persönlichkeiten aus der akademischen, kulturellen, wirtschaftlichen und auch politischen Elite Kataloniens, die aus diesem Begräbnis ein öffentlichkeitswirksames Ereignis machten.⁹ Auf akademischer und intellektueller Ebene boten vor allem die zwei Zeitschriften, für die sich Vicens als Publizist engagiert hatte, Raum für private Erinnerungen, persönliche Huldigungen und wissenschaftliche Bilanzen.¹⁰ Die Wochenzeitschrift Destino sammelte im Juli 1960 elf unterschiedliche Stimmen, unter denen sich die Herausgeber selbst, aber auch Vicens’ Mitarbeiter, intellektuelle Weggefährten und Historikerkollegen befanden. Während Jordi Rubió, Jordi Nadal und Joan Reglà Vicens’ Facette als „Lehrmeister“¹¹ unterstrichen, ermahnte der Journalist Tristán de la Rosa (1916 – 1990) auch die kommenden Historikergenerationen dazu, die Erinnerungen an den maestro zu erhalten.¹² Die Monatszeitschrift Serra d’Or wiederum widmete dem verstorbenen Historiker ihre Ausgabe vom November 1960. Auch hier verfassten Vicens’ Schüler und Mitarbeiter

 La Vanguardia Española, 2.7.1960, S. 26.  La Vanguardia Española führte mehr als einhundert Gäste auf, die sie alle beim Namen nannte. Unter ihnen befanden sich beispielsweise der Vizebürgermeister von Barcelona, der Rektor der dortigen Universität, Direktoren verschiedener Kulturakademien sowie zahlreiche Professoren und Journalisten. Siehe dazu ebd.  Auch die in Barcelona ansässige, christliche Wochenzeitschrift El Ciervo widmete dem katalanischen Historiker einen beträchtlichen Teil ihrer Ausgabe vom August/September 1960. Auf eine Auswertung ihres Inhalts soll an dieser Stelle jedoch verzichtet werden, da er einerseits dem Tenor entsprach, der auch in Destino und Serra d’Or zum Tragen kam. Andererseits hatte Vicens nicht an dieser Zeitschrift mitgewirkt. Zum Profil von El Ciervo siehe Larios/Pujadas/Santacana: Els intel·lectuals catalans durant la dictadura franquista, S. 352 f.  Vgl. Joan Reglà: In memoriam, ebd., S. 36; Jordi Rubió: Maestro también en los pequeño, ebd., S. 38; Jordi Nadal: Juventud de Vicens Vives, ebd., S. 39.  Vgl. Tristán de la Rosa: Recordad al maestro, Destino, 9.7.1960, S. 35.

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etliche Beiträge. Zu diesem intellektuellen Trauerzug gesellten sich ferner solche Persönlichkeiten, die wie der Kunstkritiker Alexandre Cirici (1914– 1983), der Mediävist Enric Bagué (1900 – 1987) und der exilierte und in Oxford lehrende Mediziner Josep Trueta (1897– 1977) aus dem konservativ-katalanistischen Spektrum stammten.¹³ Allesamt riefen eine Erinnerung an Jaume Vicens wach, in der vor allem seine Eigenschaft als akademische Leitfigur, sein „bürgerlicher Optimismus“, sein Einsatz für die katalanische Kultur und sein Beitrag zur ‚Verwissenschaftlichung‘ und Internationalisierung des Fachs hervorstachen. Darüber hinaus wurde Vicens’ Werk als Inbegriff einer neuen Geschichtsschreibung jenseits „staatlicher Unterstützung“¹⁴ gepriesen. Sie habe mithin das genaue Gegenteil der „offiziellen Historiografie“¹⁵ dargestellt. Diese habe nämlich „die Charakteristika Spaniens als Vorkämpfer der katholischen [Kontra]Reform […] und als Verteidiger eines Europas betont, das im Westfälischen Frieden unterging und einem anderen Europa gegenüberstand, das sich dem kritischen Rationalismus, dem Kapitalismus und dem Bürgertum zuwandte.“¹⁶ Durch die Zuwendung zur ‚europäischen‘ Wissenschaft und seine Fokussierung auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts habe Vicens jedoch einen entgegengesetzten Weg betreten und dadurch den „Argwohn“ seiner spanischen Kollegen geweckt: „Der Argwohn besaß“, so Reglà, „eine zweifache Motivation und richtete sich einerseits gegen seine Ausrichtung auf Europa im wissenschaftlichen Sinne und andererseits gegen seine Wertschätzung des katalanischen Beitrags zur spanischen Geschichte“¹⁷ – einen Beitrag, der darin bestanden habe, Spanien in das technisch-industrielle Zeitalter führen zu wollen. In diesem Sinne war Vicens wiederum für Josep Trueta „das lebendige Beispiel seines eigenen Vertrauens in unsere oft bestrittene Fähigkeit zu moderner Wissenschaft und Technik.“¹⁸ Die Beiträge in Destino und Serra d’Or evozierten eine Erinnerung an Vicens, bei der die Begriffe ‚Katalonien‘, ‚Europa‘, ‚moderne Wissenschaft‘ und ‚Erneuerung‘ einen engen Zusammenhang bildeten. Gleichzeitig waren sie auch Gegenbegriffe zur ‚offiziellen Historiografie‘, die es als solche zwar kaum mehr gab, die sich aber dennoch als pejorative Beschreibungskategorie etabliert hatte.

 Siehe dazu Larios/Pujadas/Santacana: Els intel·lectuals catalans durant la dictadura franquista, S. 325 – 392.  Jordi Rubió: El mestre enemic dels sucedanis, Serra d’Or, November 1960, S. 4; Joan Mercader: Jaume Vicens i Vives, historiador, ebd., S. 11 f., hier S. 12.  Alexandre Cirici: El meu Jaume Vicens, ebd., S. 10 f., hier S. 11.  Joan Reglà: Jaume Vicens i Vives. Professor universitari i cap d’escola, ebd., S. 9 f., ebd., hier S. 10.  Ebd., S. 10.  Josep Trueta: Adéu a Jaume Vicens i Vives, ebd., S. 6 f., hier S. 7.

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Die Autoren der Hommage in Serra d’Or legten ferner besonderen Wert darauf, die Internationalität des katalanischen Historikers zu betonen. Für Reglà hatte sein maestro „entscheidend zur Würdigung der spanischen Geschichtswissenschaft innerhalb und außerhalb des Landes“¹⁹ beigetragen. Miquel Batllori verwies ebenfalls auf ein „Prestige außerhalb Kataloniens“²⁰, das sich Vicens aufgrund des IHE, der Teilnahme an internationalen Tagungen und der Anwendung innovativer Perspektiven erworben habe.²¹ Als bestätigende Fremdstimme fungierte vor allem der britische Spanienhistoriker und Lecturer an der Cambridge University, John H. Elliott (geb. 1930). Er hatte Vicens Jahre zuvor während eines Forschungsaufenthalts in Barcelona kennengelernt und einen Aufsatz für die EHM verfasst. Seine Erinnerungen trug er nun in einem Artikel zusammen, der „Vicens’ historiografische Revolution aus der Sicht eines Fremden“ bilanzierte.²² Diese Verweise auf die internationale Reputation des katalanischen Historikers fanden durchaus eine Entsprechung jenseits der Pyrenäen und des Atlantiks. Beispielsweise trauerte der deutsche Wirtschaftshistoriker Hermann Kellenbenz (1913 – 1990) um den „leider viel zu früh verstorbenen“ Vicens, zumal er dazu „berufen [gewesen sei], die spanische Wirtschaftsgeschichte zu schreiben.“²³ So unterschiedliche Zeitschriften wie die marxistisch ausgerichtete Past & Present und die US-amerikanische The Journal of Modern History ehrten sein Werk im englischsprachigen Raum.²⁴ Stanley G. Payne (geb. 1934), der den Nachruf für das JmodH verfasste, erkannte in Vicens nicht nur den Exponenten des „battle for truth and objectivity“ gegen einen „intelectual environment bound by rigid a priori schema“. Der Autor übernahm ferner Vicens’ autobiografische Selbstdeutungen, in denen sich die 1940er und 1950er Jahre in einem Hell-Dunkel-Kontrast gegenüberstanden: „The hard experiences of these years were very important in shaping the mature Vicens of a later date, for they encouraged his sense of in-

 Reglà: Jaume Vicens i Vives, S. 9.  Vgl. Miquel Batllori: El seu prestigi Catalunya enfora, Serra d’Or, November 1960, S. 6.  Siehe ferner den Nachruf, den Miquel Batllori für die Jesuitenzeitschrift Razón y Fe verfasste. Vgl. Miquel Batllori: La doble lección de Jaime Vicens y Vives, in: Razón y Fe 162 (1960), S. 262– 272.  John H. Elliott: La revolució historiográfica de Vicens vista per un estranger, Serra d’Or, November 1960, S. 13 f.  Vgl. Hermann Kellenbenz: Rez. zu Jaume Vicens/Jordi Nadal: Manual de historia económica de españa, Barcelona 1959, in: Hansische Geschichtsblätter 80 (1962), S. 104.  Der oben zitierte John H. Elliott verfasste die obituary notice für die marxistische Zeitschrift Past & Present 18 (1960), S. 6 f.Vicens’ „search for the social and economic forces at work beneath the surface“ habe trotz seiner öffentlichen Ablehnung der marxistischen Ansätze die Sympathien mancher marxistischer Historiker hervorgerufen; ferner Gabriel Jackson: The Historical Writing of Jaime Vicens Vives, in: The American Historical Review 75,3 (1970), S. 808 – 815.

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dependence, his antagonism to official schools and ideologies.“ ²⁵ Allein in Frankreich widmeten sechs wissenschaftliche Zeitschriften Jaume Vicens einen Nachruf. Dabei waren es vor allem Historiker aus dem Umkreis der ‚Annales‘, die den Tod des katalanischen Historikers in der Revue Historique (Pierre Vilar), der Revue du Nord (Pierre Chaunu), den Cahiers d’histoire (Henri Lepeyre) und nicht zuletzt den Annales ESC (Philippe Wolff) beklagten.²⁶ Wolff, der über Jahre hinweg von der Universität Toulouse aus mit Vicens zusammengearbeitet hatte und den Nachruf für die Annales verfasste, wusste von der Schwierigkeit, „de se représenter de quelle puissance de renouvellement témoigne la démarche intellectuelle de Jaime Vicens. Formé […] aux méthodes d’une histoire plus qu’ailleurs traditionelle“, war er bald der „fécondité des conceptions avancées par Marc Bloch et Lucien Febvre“ gefolgt. In den Mittelpunkt seiner biografischen Rückblende stellte er jedoch eine grundlegendere Leistung: „L’un de ses grands mérites restera d’avoir introduit en Espagne l’esprit de nos ‚Annales‘, compris dans le sens plus large.“²⁷ Sowohl Wolff als auch die anderen Autoren hoben insbesondere Vicens’ Verdienste in der spanischen Wirtschaftsgeschichte und seine Herausgeberschaft des IHE, der für Chaunu sogar „le meilleur instrument de bibliografie historique existant dans le monde“ war.²⁸ Für einen Historiker wie Vicens, der sein eigenes Profil explizit an jenen esprit gekoppelt hatte, kann dieser Nachruf als späte, aber dennoch signifikante Anerkennung begriffen werden. Vicens’ Mitarbeiter und Kollegen arbeiteten von Beginn an daran, dieses internationale Profil weiter auszubauen. Nicht umsonst setzten die Vorbereitungen für eine Festschrift zu seinen Ehren im Vorfeld des 11. Internationalen Historikerkongresses ein, der im Herbst 1960 in Stockholm stattfand und zu dem Vicens als einziger spanischer Vortragender eingeladen worden war.²⁹ Die Initiative übernahm der katalanische Jesuit und persönliche Freund des Verstorbenen, Miquel Batllori, der zusammen mit Emili Giralt, Jordi Nadal und Guillermo Cés-

 Stanley G. Payne: Jaime Vicens Vives and the Writing of Spanish History, in: JModH 35 (1962), S. 119 – 134, hier S. 120.  Vgl. Pierre Vilar: Jaime Vicens Vives, in: RH 225, 1 (1961), S. 250 – 253; Henry Lepeyre: Jaime Vicens Vives, in: Cahiers d’Histoire 7 (1962), S. 1951; Pierre Chaunu: In Memoriam, in: Revue du Nord 43 (1961), S. 135 f. Weitere Nachrufe in Revue d’histoire eclésiastique und Bulletin Hispanique.  Philippe Wolff: Jaime Vicens y Vives (1910 – 1960), in: Annales ESC 16 (1961), S. 836.  Chaunu: In Memoriam, S. 136.  Diese Einladung ergab sich vor allem aus seiner Teilnahme an der Tagung ‚Charles V et son temps’, die im Herbst 1958 in Paris stattfand. Vicens sollte am Stockholmer Kongress nicht mehr teilnehmen können. Der von ihm eingereichte Vortrag stand allerdings nach Ansicht Karl D. Erdmanns „im Herzen des Stockholmer Kongresses“, da er den Versuch dargestellt habe, zwischen „alter“ und „neuer“ Geschichtsschreibung zu vermitteln. Vgl. Erdmann: Die Ökumene der Historiker, S. 395.

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pedes am Stockholmer Kongress teilnahm. In Absprache mit der Redaktion des IHE organisierte Batllori in Schweden die Einrichtung eines „Ehrenkomitees“, das der Herausgabe der Festschrift vorsitzen sollte. Wie Jordi Rubió im Mai 1961 Joan Mercader bekanntgab, hatte man unter anderem Alberto M. Ghisalberti (1894 – 1986), Lewis Hanke, Richard Konetzke, Michael M. Postan (1899 – 1981) und Charles Verlinden als Mitglieder und Fernand Braudel für den Vorsitz gewinnen können: „Wie Du siehst, ein gutes Abbild der [historiografischen] Welt, wie sie in Stockholm zum Ausdruck kam […].“³⁰ Die Herausgabe der Festschrift sollte sich zwar aufgrund der zahlreichen Autoren, die für einen Beitrag engagiert wurden, um mehrere Jahre verzögern. Die zwei in den Jahren 1965 und 1967 erschienenen Bände umfassten aber schließlich mehr als 1 500 Seiten und enthielten insgesamt 115 Beiträge. Beinahe die Hälfte der Autoren stammte aus dem katalanischsprachigen Raum. Weitere 35 Aufsätze spiegelten wiederum die „Stockholmer Welt“ wider.³¹ Einen wesentlichen Beitrag zur (Re)Konstruktion von Jaume Vicens’ Erbe leistete ferner eine Werkausgabe, die fast alle von Vicens verfassten Zeitungsartikel, Zeitschriftenaufsätze, Vorworte und Rezensionen in zwei Bänden sammelte und zeitgleich mit der Festschrift erschien.³² In ihren jeweiligen Vorworten zum ersten und zweiten Band gingen Ramon d’Abadal und José M. Lacarra auf die wichtigsten Etappen von Vicens’ intellektueller Biografie ein: Von der Debatte, die er vor dem Bürgerkrieg mit Antoni Rovira gehalten hatte, über seine Teilnahme am 9. Historikerkongress in Paris, in dem er die „neue Geschichtsschreibung der Zeitschrift ‚Annales‘“ kennengelernt und sich anschließend zu ihrem „Paladin in Spanien“ gemacht habe, bis hin zur Gründung seiner Escola, seiner Interessensverlagerung vom 15. ins 19. Jahrhundert und seinem Einsatz für die katalanische Kultur.³³ Interessant an der Obra dispersa ist allerdings, was sie nicht enthielt.Wie Miquel Batllori und Emili Giralt in den Erläuterungen zu dieser von ihnen betreuten Edition zugaben, waren diejenigen Artikel, die Vicens zwischen den Jahren 1939 und 1943 für Destino und für die Zeitschrift für Geopolitik geschrieben

 Brief von Jordi Rubió an Joan Mercader vom 8.5.1961, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Fernand Braudel erschien schlussendlich nicht unter den Autoren, dafür aber andere namhafte Historiker wie Charles Verlinden, Jacques Godechot, Michel Mollat. Ihre Beiträge in Universidad de Barcelona, Facultad de Filosofía y Letras (Hrsg.): Homenaje a Jaime Vicens Vives, 2 Bde., Barcelona 1965 – 1967.  Vgl. Jaume Vicens: Obra Dispersa, hrsg. v. Miquel Batllori/Emili Giralt, 2 Bde., Barcelona 1967; die Bände waren mit „Katalonien gestern und heute“ und „Spanien, Amerika, Europa“ betitelt.  Ramon d’Abadal: Pròleg, in: Vicens: Obra Dispersa, Bd. 1, S. IV–XIV, hier S. X und S. Xf. Der Autor zitierte an dieser Stelle die Worte Joan Mercaders.

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hatte, nicht mit aufgenommen worden. Giralt und Batllori begründeten den Ausschluss zwar damit, dass diese Artikel „nur eine verstümmelte Sicht auf sein eigenes Denken“³⁴ geben würden. Tatsächlich aber sorgten sie damit für die Überlieferung einer autobiografischen Konstruktion, in der die ‚dunklen Jahre‘ aus Vicens’ intellektueller Laufbahn ausgeschlossen wurden. Diese Erinnerungspraxis unter Einbeziehung der sozialen Netzwerke, die Vicens aufgebaut hatte, wirkte sich zunächst auf zwei Schauplätzen aus: Die akademische Beförderung seiner ‚Schüler‘ und die Fortführung des IHE. Die Tatsache, dass Jordi Nadal, Josep Fontana und Emili Giralt die Erinnerung an Jaume Vicens offensiv pflegten, hatte nicht zuletzt mit dem symbolischen und dem sozialen Kapital zu tun, das ihr Mentor angehäuft hatte. Allerdings legten sie besonderen Wert darauf, nicht die Escola, sondern vielmehr den espíritu der Gruppe in den Vordergrund zu stellen. Wie Jordi Nadal bereits im Sommer 1960 in seinem Nachruf für Destino schrieb, würde Vicens für die Einsicht stehen, dass „die [wissenschaftlichen] Positionen nur dann Gültigkeit haben, wenn sie beweglich sind.“ Sein Werk würde in der Hinsicht „für immer ein Jugendwerk bleiben“, als Vicens eher neue Wege aufgezeigt denn feste Interpretationsschemata vorgeschrieben oder endgültige Erkenntnisse produziert habe.³⁵ In einem ähnlichen Sinne äußerte sich Jahre später auch Fontana in derselben Wochenzeitschrift. Er verneinte darin vehement die Existenz einer „Schule“, da es an der „wesentlichen Voraussetzung gemeinsamer methodischer Herangehensweisen“ gefehlt habe. Gemeinsame Merkmale der „Gruppe“ seien vielmehr das Streben nach „Modernisierung und Öffnung unserer Geschichtswissenschaft“ sowie „das Interesse für wirtschaftshistorische Faktoren“ gewesen. Dieser „Wunsch nach Aktualisierung und ‚Europäisierung‘“ habe Fontana zufolge nur deswegen zum Anschein einer „fiktiven Einheit“ geführt, da die übrige spanische Historiografie von den Neuerungen „erschüttert“ worden sei.³⁶ Die Ablehnung eines in gewisser Weise präskriptiven Erbes erlaubte es ihnen, sich von Vicens’ eigenen Perspektiven und seiner erklärten Orientierung an den ‚Annales‘ zu lösen ohne auf das Kapital des ‚Europäisierers‘, ‚Modernisierers‘ und

 Miquel Batllori/Emili Giralt: Nota editorial, in: Vicens: Obra Dispersa, Bd. 2, S. 585 – 587, hier S. 586. Diese Entscheidung war in Absprache mit dem Verlag getroffen worden, der von der Witwe des katalanischen Historikers, Roser Rahola (geb. 1914), unter dem Firmennamen Vicens Vives gegründet worden war und nun die zwei Bände herausgab. Vgl. Brief des Verlags an Emili Giralt vom 24.11.1966, PNEG, Correspondencia restante. Der Verlag, im Jahr 1961 als Schulbuchverlag gegründet, besteht bis heute.  Jordi Nadal: Juventud de Vicens Vives, Destino, 9.7.1960, S. 39.  Josep Fontana: Acerca de Vicens i Vives, su escuela y sus discípulos, Destino, 16. 3.1968, S. 54.

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Gegners der ‚offiziellen Historiografie‘ zu verzichten.³⁷ Dieses Kapital war jedoch mehr als nur symbolischer Natur. Die öffentliche Erinnerung ging nämlich mit der Aufrechterhaltung der Netzwerke einher, die Vicens hinterlassen hatte. Diese Netzwerke waren deshalb unverzichtbar, da der Ausgang der Berufungsverfahren auch in den 1960er Jahren maßgeblich von im Vorfeld abgesprochenen Patronageverhältnissen abhing und Vicens nicht nur Anerkennung geerntet, sondern auch akademische Feindschaften hinterlassen hatte. Der Fall Joan Reglàs, der als einziger von Vicens’ Schülern vor 1960 einen Lehrstuhl hielt, hatte gezeigt, dass die wichtigste akademische Hürde selbst mit der Fürsprache des maestro nur schwer zu nehmen war. Der Tod Jaume Vicens’ traf insbesondere Jordi Nadal und Emili Giralt, die zu eben dieser Zeit damit begonnen hatten, an den oposiciones teilzunehmen. Beide Historiker konnten erst in den Jahren 1965 (Giralt) und 1967 (Nadal) ihre akademische Position endgültig festigen, nachdem sich unter anderem Miquel Batllori, Florentino Pérez Embid, Ramon d’Abadal und Joan Reglà für sie eingesetzt hatten.³⁸ Nadal und Giralt richteten sich sogar an Fernand Braudel mit der Bitte, sich direkt an Carmelo Viñas als Mitglied eines der Berufungsausschüsse zu wenden, „pour lui faire“, so Giralt, „oublier ses demêlés [sic!] avec notre Dr. Vicens […].“³⁹ Nur die Beförderung seiner Schüler könne, wie wiederum Nadal erklärte, die Kontinuität der „école“ garantieren, die er gegründet hatte: „[L]’essor, la continuité, l’existence même de l’école de modernistes fondée par M. Vicens, dépendent en très grand partie de l’immédiat promotion au grade de catedrático de certains de ses membres.“⁴⁰ Zu Nadals und Giralts Bedauern sollte sich Braudel nicht in dem Maße für sie einsetzen, wie sie es sich erhofft hatten.⁴¹ Dennoch waren diese und andere

 Bezeichnenderweise war es gerade Vicens’ Schüler Josep Fontana, der die Annales-Strömung innerhalb Spaniens am heftigsten angreifen sollte, da er in ihr ein gravierendes Theoriedefizit erkannte.Vgl. Josep Fontana: Ascens i decadència de l’escola del ‚Annales‘, in: Recerques 4 (1974), S. 283 – 294.  Siehe dazu die Korrespondenz, die Emili Giralt zwischen 1960 und 1967 sowohl mit den oben erwähnten Historikern als auch mit Jordi Nadal hielt. Giralts Privatnachlass enthält auch Abschriften der entsprechenden Empfehlungsschreiben.  Brief von Emili Giralt an Fernand Braudel vom 12. 3.1961, PNEG, Caja Correspondencia entitats agr., museus.  Brief von Jordi Nadal an Fernand Braudel vom 21.11.1960, PNEG, Caja Correspondencia entitats agr., museus.  Braudel legte zwar in den Jahren 1960/1961 ein gutes Wort für Giralt und Nadal ein und versicherte brieflich „que je n’ai pas oublié votre sort ni celui de Nadal et que je vous considère avec discrétion mais persévérance comme mes propres élèves au delà du regretté Vicens Vives.“ In den folgenden Jahren brach der Kontakt zwischen ihnen jedoch ab. Es ist ferner nur schwer abschätzbar, inwiefern Braudel tatsächlich auf das eine oder andere Ausschussmitglied einwir-

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Fürsprachen, die mit Vicens’ Erbe und dem internationalen Erfolg der spanischen Geschichtswissenschaft argumentieren, in der Summe ausschlaggebend. Die verfolgte Strategie lässt sich beispielhaft am Einsatz des katalanischen Jesuiten Miquel Batllori zeigen. Er fungierte zusammen mit Pérez Embid und d’Abadal als Mittelsmann zwischen den beiden jungen Historikern und wichtigen Ausschussmitgliedern, die in den Jahren 1965 und 1967 über die Berufung von Giralt und Nadal entschieden. So konnte Battlori im Vorfeld zu den oposiciones des Jahres 1965 dem Kandidaten Giralt mitteilen, dass die Stimme des Vorsitzenden, Jesús Pabón, dank seiner und der Vermittlung d’Abadals bereits feststehe.⁴² Giralt selbst bedankte sich nach seinem Erfolg bei seinen Fürsprechern, gleichwohl er zugeben musste, dass seine Leistung „nicht mal medioker“ gewesen war.⁴³ Batllori wandte sich zwei Jahre später auch an Ciriaco Pérez Bustamante, seinerseits Vorsitzender des Ausschusses, von dem Nadals Berufung abhing. Der „Schüler [seines] alten Freundes und Gefährten Jaime Vicens“, so Batllori, sei nicht nur aufgrund seiner fachlichen Kompetenzen für eine Professur geeignet. Man müsse zudem dafür sorgen, dass „sich in Spanien zunehmend eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte entwickelt, die die Politik-, Institutions-, und Kulturgeschichte in einem humanen Sinne ergänzt“, denn nur so könne „sichergestellt [werden], dass die spanische Geschichtswissenschaft in den internationalen Kongressen und Tagungen den Ort einnimmt, der ihr gebührt.“⁴⁴ Die Fortführung von Vicens’ wirtschafts- und sozialhistorischem Erbe und die Beförderung seiner Schüler würden wesentlich zur vollen internationalen Anerkennung der spanischen Geschichtswissenschaft beitragen. Dieses Argument war vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen, die die spanischen Historiker beim Internationalen His-

ken konnte. Ein besonderes Interesse scheint der sichtbare Kopf der Annales allerdings nur für die Beförderung Felipe Ruiz Martíns gehabt zu haben, der als einziger spanischer Historiker tatsächlich eng mit Braudel zusammengearbeitet hatte und sich im Jahr 1961 in den oposiciones zu einem Lehrstuhl in Bilbao gegen Nadal durchsetzte. Das Zitat stammt aus dem Brief von Fernand Braudel an Emili Giralt vom 24.4.1961. Siehe ferner die Briefe von Jordi Nadal und Emili Giralt an Fernand Braudel vom 21.11.1960, 28.1.1961 und 12. 2.1961, ebd.  Vgl. Briefe von Emili Giralt an Miquel Batllori vom 22.5.1965, von Miquel Batllori an Jesús Pabón vom 4.6.1965 sowie auch von Florentino Pérez Embid an Emili Giralt vom 19.5.1965, PNEG, jeweils in Correspondencia Miquel Batllori und Correspondencia Florentino Pérez Embid.  Briefe von Emili Giralt an Miquel Batllori und Florentino Pérez Embid vom 3.7.1965, PNEG, Correspondencia Miquel Batllori und Correspondencia Florentino Pérez Embid.  Battlori war Leiter der Zeitschrift Archivum Historicum Societatis Iesu und Dozent an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Er argumentierte explizit aus der Position eines Katholiken, der „abseits der immer heiklen und haarigen Probleme“ des akademischen Geschehens in Spanien stünde. Brief von Miquel Batllori an Ciriaco Pérez Bustamante vom 20.11.1967, PNEG, Correspondencia Miquel Batllori.

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torikerkongress des Jahres 1965 gemacht hatten, besonders wertvoll. Nadal und Giralt gelangten in den Professorenstand in einem Kontext, in dem viele Historiker die spanische Geschichtswissenschaft als defizitär empfanden. Das symbolische Kapital, das aus der internationalen Anerkennung erwuchs, sollte auch für die Fortführung von Vicens’ wichtigstem materiellen Vermächtnis entscheidend sein: Der Indice Histórico Español. Die von ihm ebenfalls gegründeten Estudios de Historia erschienen im Jahr 1960 zum letzten Mal, nachdem sie bereits seit Mitte der 1950er Jahre vom Erfolg der kommentierten Großbibliografie überrannt wurden. Das Centro de Estudios Históricos Internacionales blieb zwar als institutioneller Überbau erhalten. Der Einschätzung von Joan Mercader zufolge war das CEHI allerdings „von all jenem, was Dr. Vicens gemacht hat[te], das inkonsistenteste.“ Wie er an Jordi Rubió kurz nach Vicens’ Tod schrieb, konnte „ein Luftschloss wie dieses“⁴⁵ nur einen legalen Rahmen bieten, um den IHE weiterzuführen. Tatsächlich konzentrierte sich der Mitarbeiterkreis des verstorbenen Historikers darauf, eine geeignete Nachfolge für die Redaktionsleitung zu finden und die Finanzierungsquellen zu sichern. Die erste Aufgabe erwies sich dabei als besonders problematisch, da die formelle Direktion des CEHI und damit des IHE nur von einem örtlichen Lehrstuhlinhaber ausgeübt werden konnte und keiner von Vicens’ Schülern zu diesem Zeitpunkt eine solche Position innehatte. Wie die umfangreiche Korrespondenz zeigt, die die Mitarbeiter des IHE im Laufe der Verhandlungen miteinander hielten, lag ihr primäres Ziel darin, ihren Einfluss auf die Redaktionsleitung zu sichern und ihn vor der Übernahme durch die „kastilischen Elemente“ zu schützen, die am Historischen Seminar der Universität Barcelona tätig waren.⁴⁶ Dies erklärt schließlich die Wahl des katalanischen Arabisten Joan Vernet (1923 – 2011), der nur gelegentlich zum IHE beigetragen hatte, dafür aber weder akademisch noch politisch relevante Feindschaften auf sich gezogen hatte.⁴⁷ Zwar übernahm im Jahr 1964 letztendlich doch eines dieser „kastilischen Elemente“, Carlos Seco (geb. 1923), die Redaktionsleitung, doch war sich der engere Mitarbeiterkreis darin einig, dass Seco diese Position räumen müsste, sobald der erste von Vicens’ Mitarbeitern einen Lehrstuhl an der Uni-

 Brief von Joan Mercader an Jordi Rubió vom 2.10.1960, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Zur Wahrnehmung der spanischsprachigen Kollegen als „kastilische Elemente“ siehe die Briefe von Jordi Rubió an Joan Mercader vom 22.7.1960 und von Joan Reglà an Jordi Rubió vom 17.7.1960, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N und Carpeta 4, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, O–R.  Zu dieser Einschätzung siehe ebenfalls den Brief von Jordi Rubió an Joan Mercader vom 22.7. 1960, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.

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versität Barcelona erhielte.⁴⁸ Dies schien auch in Carlos Secos Sinne zu sein, der im Jahr 1969 die Leitung an den ehemaligen Sekretär des IHE und neuen Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des Mittelalters, Manuel Riu (1929 – 2011), übergab.⁴⁹ Jaume Vicens’ Name und die internationale Resonanz, die der IHE vor allem unter all jenen Historikern erfahren hatte, die sich mit der Geschichte Spaniens und des Imperio befassten, wurde auch dafür eingesetzt, die finanziellen Ressourcen zu sichern. Der katalanische Historiker hatte bereits zu Lebzeiten erreicht, dass das Erziehungsministerium den CEHI und damit den IHE regelmäßig bezuschusste. Durch seine Mitgliedschaft im Washingtoner Komitee für Historische Bibliografie hatte er zudem das Außenministerium davon überzeugen können, in dieser Bibliografie ein förderungswürdiges Exportgut zu erkennen. In diesem Sinne entsprachen die Worte Pierre Chaunus, der in seinem Nachruf den IHE als ein Unternehmen „sans aucune subvention nationale ou internationale“⁵⁰ beschrieb, eher den heroisierenden Profilierungsstrategien des Redaktionsteams als der eigentlichen Buchhaltung. Nichtsdestotrotz war die kostspielige Bibliografie im Jahr 1960 in ökonomischer Hinsicht ein defizitäres Unternehmen. Die finanzielle Schieflage sollte sich nach Vicens’ Tod noch weiter verschärfen, als sich im Jahr 1961 ein Teil des Verlags Teide abspaltete und der Verleger daraufhin erklärte, die roten Zahlen des IHE nur ein weiteres Jahr tragen zu können.⁵¹ Die Redaktion des IHE setzte daraufhin auf das Außenministerium mit dem konkreten Ziel, die Ad-hoc-Subventionen der Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen zu formalisieren.⁵² So wandte sich Jordi Rubió in den Jahren 1962 und 1963 an diese Generaldirektion, indem er sowohl auf „die relevante Persönlichkeit des Zeitschriftengründers“ als auch auf das „freudigste Lob von Historikern aus aller Welt“ verwies. Spanische, französische, englische, italienische, deutsche und USamerikanische Historiker würden an dieser „Publikation, die der spanischen

 Vgl. Briefe von Manuel Riu a Joan Mercader vom 5. 2.1963 und 20.1.1964, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Zu Secos „Absichten, den ‚Thron‘ dem ersten Schüler von Dr. Vicens abzutreten, der nach Barcelona zurückkehrt“, siehe den Brief von M. Encarna Rodríguez an Asumpta Gou, beide im Sekretariat des IHE tätig, 9.11.1969, ACEHI, Fondo IHE 12, Carpeta 3, Correspondencia con colaboradores, Años 1969 – 1971, R–Z.  Chaunu: In Memoriam, S. 136.  Vgl. Brief von Jordi Rubió an Joan Mercader vom 14.4.1961, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Der Zuschuss des Außenministeriums deckte ca. ein Viertel der jährlichen Kosten (450 000 Peseten). Zu den vom IHE verursachten Kosten siehe Brief von Jordi Rubió an Guillermo Céspedes vom 8.4.1961, ACEHI, Fondo IHE, IHE 14, Carpeta 1, Correspondencia Céspedes del Castillo, 1957– 1961.

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Kultur so viel Prestige verleiht“, mitarbeiten. Der IHE sei „a major and succesful exercise in human and scholarly engineering“, wie Rubió den Präsidenten der USamerikanischen Hispanic Foundation, Howard W. Cline, wörtlich zitierte.⁵³ Rubió schickte ferner die Gratulationsbriefe nach, die Philippe Wolff und Marcel Durliat (1917– 2006) im Jahr 1963 anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Bibliografie an die Redaktion adressiert hatten.⁵⁴ Der italienische Historiker Alberto Boscolo (1920 – 1984) und der Hispanist Norman J. Lamb (1916 – 2014) wandten sich schließlich direkt an das Außenministerium, nachdem der Sekretär des IHE sie darum gebeten hatte.⁵⁵ Dabei ließ vor allem Lamb unmissverständlich erkennen, welche Bedeutung der IHE für das internationale Hispanistenfeld erlangt hatte: „Es erübrigt sich zu sagen, dass das Verschwinden [des IHE] ein bemerkenswertes Vakuum in all jenen Instituten hinterlassen würde, die wie wir diese Zeitschrift als grundlegendes bibliografisches Nachschlagewerk verwenden. Die Forschung zu Spanien und Lateinamerika würde eines ihrer effizientesten Kohäsionselemente verlieren, das je geschaffen wurde.“⁵⁶

Rubiós Strategie vermochte die Generaldirektion vom „außerordentlichen Interesse und wahrhaft bemerkenswerten internationalen Prestige“ des vom „eminenten Professor Jaime Vicens Vives“ gegründeten IHE zu überzeugen.⁵⁷ Das Außenministerium bezuschusste das CEHI als herausgebende Institution für die Jahre 1962 und 1963. Der Leiter der Sektion für die Geschichte Lateinamerikas, Guillermo Céspedes, erreichte darüber hinaus im Frühling 1964, dass der CEHI in die Liste der offiziell von der Generaldirektion unterstützten Kulturzentren auf-

 Brief von Jordi Rubió an den Generaldirektor für Kulturelle Beziehungen vom 27. 3.1962, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 11055, Exp. 9, 1960 – 1967 Centro de Estudios Históricos Internacionales (Barcelona).  Vgl. Kopie der Briefe von Marcel Durliat und Philippe Wolff an Joan Vernet vom 16. 5.1963, archiviert im AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 11055, Exp. 9, 1960 – 1967 Centro de Estudios Históricos Internacionales (Barcelona).  Vgl. Briefe von Manuel Riu an Albert Boscolo vom 3. 5.1963 und von Alberto Boscolo an die Generaldirektion für Kulturelle Beziehungen vom 10. 5.1963, jeweils in ACEHI, Fondo IHE, IHE 11, Carpeta 2, Correspondencia colaboradores, Años 1967– 68, A–F und AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 11055, Exp. 9, 1960 – 1967 Centro de Estudios Históricos Internacionales (Barcelona). Die Redaktion ließ dem Außenministerium auch zahlreiche weitere Briefe zukommen, die in- und ausländische Historiker an den Leiter des IHE geschickt hatten.  Brief von Norman J. Lamb, Mitarbeiter der School of Hispanic Studies der Universität Liverpool an die Dirección General de Relaciones Culturales vom 23. 5.1963, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 11055, Exp. 9, 1960 – 1967 Centro de Estudios Históricos Internacionales (Barcelona).  Bericht der Dirección General de Relaciones Culturales [1962], AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 11055, Exp. 9, 1960 – 1967 Centro de Estudios Históricos Internacionales (Barcelona).

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genommen wurde.⁵⁸ Der Verantwortliche im Außenministerium begründete diese Entscheidung wie folgt: „Wir nehmen Sie in unser Hilfsbudget […] in vollem Bewusstsein auf, dass wir ein Institut von wahrhaftem Interesse unterstützen, dessen Ausstrahlung ins Ausland genau den Zielen und Vorhaben dieser Generaldirektion entspricht.“⁵⁹ Damit erhielt einerseits die von Jaume Vicens gegründete Bibliografie den Anspruch auf eine regelmäßige Zuwendung, die nicht stets neu verhandelt werden musste. Andererseits wurde das CEHI zum einzigen geschichtswissenschaftlichen Institut, das vom Außenministerium offiziell und formal subventioniert wurde.⁶⁰ Insofern erhielt dieses wichtige editorische Gemeinschaftswerk durchaus die staatliche Unterstützung, die in den Nachrufen verneint worden war. Jedenfalls zeigte das Außenministerium Mitte der 1960er Jahre mehr Interesse an den IHE als der Consejo an den Projekten des Jerónimo Zurita. Die Erinnerung an Vicens wurde von seinem unmittelbaren Umfeld angeregt, organisiert und eingesetzt. Die Reaktionen auf die Festschrift zu Ehren Vicens’ und die Publikation der gesammelten Aufsätze lassen aber auch erkennen, inwiefern der katalanische Historiker im Laufe der 1960er Jahre außerhalb des katalanischsprachigen Raums von der Peripherie ins Zentrum der facheigenen Erinnerung gerückt wurde. Joan Mercader hatte bereits zu Beginn des Jahrzehnts die spanische Übersetzung von Industrials i Polítics für die Zeitschrift Arbor rezensiert.⁶¹ In einem deutlichen Gegensatz zum geringen Echo, das der Tod des katalanischen Historikers im Jahr 1960 hervorgerufen hatte, standen aber vor allem die in der Zeitschrift Hispania erschienenen Rezensionen auf beide oben genannten Publikationen aus dem Frühjahr 1968. Für den Sozialhistoriker Antonio Domínguez (1909 – 2003), Mitautor der Historia Social y Económica de España y América, galt die Festschrift „der Erinnerung an den Erneuerer der historischen Studien unseres Vaterlands.“ Bereits ein kurzer Blick auf das Inhaltsverzeichnis würde „das internationale Prestige unter Beweis stellen, das

 Vgl. Brief von Guillermo Céspedes an Manuel Riu vom 15. 3.1964, ACEHI, Fondo IHE, IHE 9, Carpeta 3, Correspondencia Colaborades, Años 1953 – 1966, A–C.  Brief von Alfonso de la Serna an Jordi Rubió vom 14.4.1964, AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 11055, Exp. 9, 1960 – 1967 Centro de Estudios Históricos Internacionales (Barcelona).  Vgl. de Jevenois/Romero (Hrsg.): La Dirección General de Relaciones Culturales y Científicas, S. 137– 158.  Vgl. Joan Mercader: Rez. zu Jaume Vicens: Cataluña en el siglo XIX, Madrid 1961, in: Arbor 52 (1962), S. 387– 390. Die spanische Übersetzung von Industrials i Polítics erschien nach Fürsprache Florentino Pérez Emibs im katholischen und dem Opus Dei nahestehenden Verlag Rialp.

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Jaime Vicens erreicht“ habe.⁶² Bezeichnender als die Besprechung von Domínguez war aber die Rezension, die Manuel Espadas Burgos zum zweiten Band der Obra dispersa verfasste. Derselbe wissenschaftliche Mitarbeiter des Consejo, der einige Jahre später den Zustand des Instituto Jerónimo Zurita in düsteren Worten beschreiben sollte, gesellte sich hier der Deutung zu, die Vicens’ Umkreis und nicht zuletzt der katalanische Historiker selbst aufgestellt hatten: „Mit ihm [Vicens] verschwand einer der eindeutigsten Erneuerer der spanischen Historiografie. […] Sein Historikerprofil wurde in der unmittelbaren Umgebung der französischen Schule geschmiedet, dessen unbestrittene Lehrmeister Lucien Febvre und Marc Bloch er mit Bewunderung las. Er hat selbst darüber berichtet, welch starken Eindruck das Werk La terre et l’évolution humaine von Febvre auf ihn in jungen Jahren gemacht hatte.“⁶³

Espadas übernahm hier Vicens’ autobiografische Konstruktionsleistungen und stilisierte sogar, wie einige Jahre später auch José M. Jover, das Jahr 1950 zum „Wendejahr“ der spanischen Geschichtswissenschaft: „Darin liegt die Symbolträchtigkeit eines Datums, das – sei es als Konvention – von nun an als Meilenstein gelten muss, um zwei Epochen der spanischen Historiografie voneinander zu unterscheiden.“⁶⁴ Der Pariser Kongress und die Rezeption der ‚Annales‘ avancierten zum Gründungsmythos einer neuen spanischen Geschichtswissenschaft, die ihre Ursprünge nicht im Spanien des Jahres 1939 sondern knapp zehn Jahre später in Paris ansetzte. Durch die Figur Jaume Vicens’ ließ sich somit eine Genealogie des Faches konstruieren, die den Großteil der Produktion der 1940er Jahre aus der eigentlichen und vor allem der eigenen Wissenschaftsgeschichte ausschloss. Derweil begann diese Erinnerungspraxis im gesamten Consejo Fuß zu fassen, wie ein Aufsatz beweist, den Joan Mercader Ende der 1960er Jahre gleichsam als nachgeholter Nachruf in Arbor veröffentlichte.⁶⁵ Dieser zwanzigseitige Essay bilanzierte den Beitrag des katalanischen Historikers für diejenigen Forschungsbereiche, zu denen er gearbeitet hatte. Der Autor überging jedoch die Konflikte mit dem Consejo und verzichtete auf die in anderen Kontexten so oft verwendete Bezeichnung ‚offizielle Historiografie‘. Das Bemerkenswerte an diesem Aufsatz war allerdings, dass er auf einem Manuskript basierte, für das Mercader im Jahr 1964 einen Sonderpreis des Consejo erhalten hatte. Die Verleihung fand sogar

 Antonio Domínguez: Rez. zu Homenaje a Jaime Vicens Vives, hrsg.v. Universidad de Barcelona, Facultad de Filosofía y Letras, 2 Bde., Barcelona 1965 – 1967, in: Hispania 28 (1968), S. 681– 685, hier S. 681 und S. 682.  Manuel Espadas Burgos: Rez. zu Vicens: Obra dispersa, Bd. 2, in: Hispania 28 (1968), S. 108.  Ebd.  Vgl. Joan Mercader: Jaime Vicens Vives. Su obra histórica, in: Arbor 66 (1967), S. 265 – 284.

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anlässlich der Feierlichkeiten zum 25-jährigen Bestehen des CSIC statt, was ihr einen besonders repräsentativen Wert verlieh. Mercader durfte sogar einige Fragmente vor den „hohen Persönlichkeiten des Consejo“ vorlesen.⁶⁶ Der Oberste Forschungsrat hatte damit begonnen, Jaume Vicens und sein ‚internationales Prestige‘ symbolisch in die Institution zurückzuholen, mit der jener knapp zehn Jahre zuvor gebrochen hatte. Die posthume Anerkennung von Vicens’ Leistungen und die damit einhergehende symbolische Aneignung seiner Figur spiegelten einen Konsens wider, in dem die ‚Rückkehr‘ der spanischen (Geschichts)Wissenschaft in die internationale Sphäre als Zeichen ihres ‚Fortschritts‘ galt. Insofern entsprach die Rehabilitierung des katalanischen Historikers auch dem allgemeinen Tenor, der in den Jubiläumsfeiern des CSIC aus dem Jahr 1964 zum Ausdruck kam. Ein anderes Vermächtnis, das ebenfalls auf Vicens zurückging, wurde hingegen im Rahmen der Feierlichkeiten nicht aufgegriffen: Die affirmative Problematisierung der Geschichte Spaniens in der technisch-industriellen Moderne. Der Verzicht auf historische Rückblicke auf der Ebene von Reden und Inszenierungen sowie die Ausrichtung der geschichtswissenschaftlichen Tagung auf die Geschichte Spaniens in der Frühen Neuzeit boten für Vicens’ Thesen und Deutungen keinen Raum. Das intellektuelle Erbe der ‚gescheiterten Industrialisierung‘ sollten vielmehr eine Reihe jüngerer Historiker antreten, unter denen sich in erster Linie Vicens’ Schüler befanden. In den 1960er und 1970er Jahren waren es vor allem Jordi Nadal und Josep Fontana, die zusammen mit weiteren Kollegen aus dem spanischsprachigen Raum wie Gabriel Tortella (geb. 1936) und Gonzalo Anes (1931– 2014) daran arbeiteten, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens im 18. und 19. Jahrhundert als neues Forschungsfeld zu erobern.⁶⁷ Dabei teilten Vicens’ Schüler zwar das Interesse für das technisch-industrielle Zeitalter, den spanischen ‚Rückstand‘ und die Geschichte Kataloniens. Sie ent-

 Brief von Joan Mercader an Manuel Riu vom 15.12.1964, ACEHI, Fondo IHE, IHE 10, Carpeta 3, Corresp. Colaboradores, Años 1953 – 1966, M–N.  Nadal, Fontana, Tortella und Anes organisierten im Jahr 1972 den Ersten Kongress zur spanischen Wirtschaftsgeschichte an der Universität Barcelona. Der Kongress stand unter dem doppelten Vorsitz des liberalen Wirtschaftshistorikers Ramón Carande (1887– 1986) und Pierre Vilars. Gabriel Torella erhielt nach seinem Jurastudium in Madrid ein Stipendium für einen Aufenthalt an der Universität Wisconsin, USA, wo er auch im Jahr 1971 promoviert wurde. Zwei Jahre später erschien seine Studie zu den Ursprüngen des Kapitalismus in Spanien. Bankwesen, Industrie und Eisenbahn im 19. Jahrhundert (Los orígenes del capitalismo en España. Banca, Industria y Ferrocarriles en el siglo XIX, Madrid 1973). Gonzalo Anes spezialisierte sich wiederum auf die Geschichte des agrarwirtschaftlichen Wandels. Vgl. bspw. Gonzalo Anes: Las crisis agrarias de la España moderna, Madrid 1970. Siehe ferner die entsprechenden Einträge in Pasamar/Peiró: Diccionario Akal de historiadores españoles, S. 79 f. und S. 630 f.

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wickelten jedoch sehr unterschiedliche Zugänge zu ihren Forschungsgegenständen. Jordi Nadal etwa verschrieb sich nach seiner demografiehistorischen Promotion einer rein wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive, die sich gleichermaßen von den Ansprüchen einer histoire totale wie von marxistischen Erklärungsmustern abgrenzte. Nadal adaptierte im Laufe der 1960er Jahre modernisierungstheoretische Ansätze und wirtschaftswissenschaftliche Modelle, die er unter anderem den Arbeiten von Ökonomen wie Walt W. Rostow (1916 – 2003) und Walther G. Hoffmann (1903 – 1971) entnahm.⁶⁸ Gleichwohl er bereits in den 1960 Jahren erste Aufsätze zu diesem Themenkomplex veröffentlichte, brachte er seine Thesen erst in der ersten Hälfte der 1970er Jahre prägnant zum Ausdruck, und zwar sowohl im internationalen, von Carlo M. Cipolla (1922– 2000) herausgegebenen Gemeinschaftswerk The Fontana Economic History of Europe (1973) als auch in seiner bekanntesten Monografie, die im Jahr 1975 unter dem Titel „Das Scheitern der Industriellen Revolution in Spanien, 1814– 1913“ erschien.⁶⁹ Dieses Werk, das zahlreiche Neuauflagen erfuhr und die Debatten der darauffolgenden Jahre maßgeblich prägte, war ausdrücklich darauf ausgerichtet, die „Abweichung des spanischen Falls vom allgemeinen Modell“ zu erklären. Damit setzte Nadal nicht nur die wirtschaftshistorische Entwicklung der westeuropäischen Industriestaaten als normative Messlatte. Er ging zudem von einer notwendigen „Synchronie“ aus, die er idealtypisch, wie auch andere Historiker auf internationalem Feld⁷⁰, in der englischen Geschichte wiederfand: „Die englische Entwicklung [desarrollo] zeichnet sich durch ein hohes Maß an Synchronie des technischen, ökonomischen, ideologischen und politischen Wandels aus, der schließlich zum Erfolg des  Siehe dazu vor allem Jordi Nadal: El fracaso de la revolución industrial en España, 1814– 1913, Barcelona 1975, S. 289 – 312. Nadal lehnte sich allerdings nur begrifflich an Rostow an, der durch sein Werk The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto aus dem Jahr 1960 zum bekanntesten Vertreter der US-amerikanischen Modernisierungstheorie emporgestiegen war. Beim Volksökonomen Walther G. Hoffmann stützte sich Nadal auf die Arbeit Stadien und Typen der Industrialisierung, die zwar bereits im Jahr 1931 erschienen war, nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch ins Englische übersetzt und von Ökonomen stark rezipiert wurde. Zu Rostow und Hoffmann siehe Mark Haefele: Walt Rostows’ Stages of Economic Growth. Ideas and Action, in: David E. Engerman u. a. (Hrsg.): Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst/Boston 2003, S. 81– 103; Gerd Hardach: Walther G. Hoffmann. Pionier der quantitativen Wirtschaftsgeschichte, in: GG 11 (1985), S. 541– 546.  Vgl. Jordi Nadal: The Failure of Industrial Revolution in Spain, 1814– 1913, in: Carlo M. Cipolla (Hrsg.): The Fontana Economic History of Europe, 6 Bde., London (u. a.) 1973 ff., Bd. 4: The Emergence of Industrial Societies, S. 533 – 626; ders.: El fracaso de la revolución industrial en España, 1814– 1913, Barcelona 1975.  Zu den Ursprüngen und der Ausformulierung der als „Whig Interpretation of History“ bekannten ‚Erfolgsgeschichte‘ Englands siehe Michael Bentley: Modernizing England’s past. English historiography in the age of modernism, 1870 – 1970, Cambridge (u. a.) 2005.

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Kapitalismus geführt hat.“⁷¹ Dementgegen war die „Geschichte dieser [spanischen] Frustration“ der „Unangepasstheit des politischen und sozialen Systems an die neuen vorhandenen Realitäten“⁷² geschuldet. Der ‚Normalweg‘, an dem Nadal den Grad der spanischen ‚Abweichung‘ maß, war einerseits technisch-industrieller Natur. Im Scheitern der spanischen Industrialisierung äußere sich aber andererseits die ‚Abweichung‘ von einem politisch-ideologischen Weg, in dem die technisch-industrielle Entwicklung und ein nicht näher definierter politischer Liberalismus unmittelbar miteinander verschränkt waren.⁷³ Im Gegensatz zu Jordi Nadal, der sich trotz parteiendemokratischer Grundüberzeugungen nicht politisch aktiv zeigte, wurde Josep Fontana zum wichtigsten Verfechter eines Berufsethos, der historische Analyse mit politischem und intellektuellem Aktivismus verband.⁷⁴ Fontana war bereits Mitte der 1950er Jahre der linkskatalanistischen Partit Socialista Unificat de Catalunya beigetreten und agierte seitdem in der kommunistischen Opposition, die sich in Studenten- und später Dozentenkreisen an der Universität Barcelona formierte. Unter Vicens hatte er eine Stelle als Lehrkraft an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät erhalten, der er jedoch im Jahr 1966 verwiesen wurde, nachdem er sich für die Gründung einer „Demokratischen Studentengewerkschaft“ (Sindicato Democrático de Estudiantes) eingesetzt und an einer öffentlichen Kundgebung für die Demokratisierung der Universität teilgenommen hatte.⁷⁵ Auf geschichtswissenschaftlicher Ebene näherte sich Fontana schon früh marxistischen Perspektiven.Vor allem der französische Historiker Pierre Vilar, Autor der Studie Catalogne dans l’Espagne moderne (1962), nahm für ihn wie für andere linkskatalanistische Historiker die

 Nadal: El fracaso de la revolución industrial en España, S. 7 und S. 28.  Ebd., S. 289.  Zur intellektuellen Biografie siehe José L. García: Jordi Nadal. Un perfil, in: Albert Carreras (Hrsg.): Doctor Jordi Nadal. La industrialització i el desenvolupament econòmic d’Espanya, Barcelona 1999, S. 5 – 15; Josep Fontana: Jordi Nadal i la història de la industrialització espanyola, in: ebd., S. 22– 25; o.A.: Esbós biogràfic, in: ebd., S. 26 – 33.  Zur Biografie und zum Werk Josep Fontanas siehe Raimundo Cuesta: La Historia como inagotable esperanza crítica. Apuntes acerca de la obra de Josep Fontana, in: Con-ciencia social. Anuario de didáctica de la geografía, la historia y las ciencias sociales 1 (1997), S. 103 – 120; ein Interview mit Josep Fontana in Javier Paniagua/José A. Piqueras/Joaquim Prats: Josep Fontana. Pasado y presente, in: Aula historia social 4 (1999), S. 5 – 13.  Die Kundgebung ist unter dem Namen capuchinada bekannt, da die Teilnehmer schließlich Zuflucht in einem Kapuzinerkloster fanden. Vgl. Josep M. Colomer: Els estudiants de Barcelona sota el franquisme, Barcelona 1978, S. 215 – 246; Elena Hernández Sandoica/Marc Baldó/Miguel A. Ruiz Carnicer: Estudiantes contra Franco (1939 – 1976). Oposición política y movilización juvenil, Madrid 2007, S. 240 – 255 und S. 419 – 421.

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Rolle des neuen maestro ein.⁷⁶ Zusammen mit weiteren Historikern seiner Generation begann Fontana den Wandel der Produktions- und Eigentumsverhältnisse und die sich daraus ergebenden politischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts zu untersuchen.⁷⁷ Jordi Nadal und Josep Fontana vertraten sehr unterschiedliche und sogar entgegengesetzte Perspektiven. Die Thesen beider Historiker erklärten dennoch die Geschichte Spaniens seit dem 19. Jahrhundert unter Verwendung von Kategorien, die den Legitimationsbedürfnissen des späten Franco-Regimes entgegenwirkten. Unter Verweis auf die international sanktionierte ‚Wissenschaftlichkeit‘ ihrer Zugänge und auf das Erbe Vicens’ trugen sie maßgeblich dazu bei, die Neueste Wirtschafts- und Sozialgeschichte als ein Feld zu etablieren, das die spanische Geschichte nach der Abweichung vom ‚europäischen Normalweg‘

 Vilar wurde nach der Veröffentlichung seiner Untersuchung (La Catalogne dans l’Espagne moderne. Recherches sur les fondements économiques des structures nationales, 3 Bde., Paris 1962) – neben Vicens – zur wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Autorität für den Katalanismus, insbesondere innerhalb seines linken Flügels. Das Werk wurde im Jahr 1964 ins Katalanische und 1968 ins Spanische übersetzt. Interessanterweise störten sich die Zensoren nicht am explizit marxistischen Zugang dieser für sie „hochinteressanten“ und „ausgezeichneten Studie“. Das Urteil der Zensoren fiel allerdings nicht deswegen positiv aus, weil sie den Prämissen der Arbeit zustimmten oder diese wie auch immer „tolerierten“. Sie schienen vielmehr die Implikationen und vor allem das Rezeptionspotential eines Werks zu übersehen, das für sie in erster Linie eine „wirtschaftliche Studie“ war, die mit „statistischen Daten und Grafiken“ sowie mit „alten Dokumenten“ arbeitete. Zensurakte für Pierre Vilar: Catalunya dins l’Espanya moderna, Barcelona 1964, AGA, Fondo Información y Turismo, (03)013 Caja 21/14477, Exp. 1777; Zensurakte für Pierre Vilar: Cataluña en la España moderna, Barcelona 1968, AGA, Fondo Información y Turismo, (03)013 Caja 21/19243, Exp. 7932. Zur Bezeichnung Vilars als „maestro“ siehe beispielsweise das oben zitierte Interview mit Fontana oder auch Carlos Hermida: Pierre Vilar, historiador y maestro de historiadores, in: Revista Historia y Comunicación Social 11 (2006), S. 45 – 60. Der französische Historiker erhielt im Jahr 2000 das „Verdienstkreuz“ (Medalla d’Or) der katalanischen Regierung.  Dieses Forschungsinteresse, das er ähnlich wie Nadal zunächst auf die katalanische Geschichte richtete, um es dann auf das Gesamtspanische auszuweiten, materialisierte sich vor allem in seinen Monografien zum „Bankrott der absoluten Monarchie 1814– 1821“ sowie zum Verhältnis von „Ökonomische[m] Wandel und politische[n] Haltungen im Spanien des 19. Jahrhunderts“. Vgl. Josep Fontana: La quiebra de la monarquía absoluta, 1814– 1820, Barcelona 1971; ders.: Cambio eocómico y actitudes políticas en la España del siglo XIX, Barcelona 1973. Einer seiner wichtigsten Mitstreiter war Josep Termes (1936 – 2011), der zur Geschichte der Arbeiterbewegung forschte. Fontana und Termes gründeten im Jahr 1970 die Zeitschrift Recerques. Història, economia i cultura, die sich mit der Geschichte der „katalanischen Länder seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ befasste und von einem seiner Mitarbeiter, Albert Manent (1930 – 2014), öffentlich als „Erbe von Vicens Vives“ präsentiert wurde. Albert Manent: La herencia de Vicens Vives. Historiadores sin mecenazgo [Das Erbe von Vicens Vives. Historiker ohne Mäzenen], La Vanguardia Española, 10.4.1975, S. 17.

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oder – wie im Fall Fontanas – der ‚ausgebliebenen Revolution‘ befragte.⁷⁸ Dass Vicens’ Schüler, darunter auch Giralt, ihre Karrieren innerhalb Spaniens verfolgen konnten, lässt sich nicht zuletzt durch das symbolische und soziale Kapital erklären, das ihr maestro hinterlassen und sein Umfeld nach 1960 offensiv gepflegt hatte. Dank der Unterstützung derselben Netzwerke und nicht zuletzt von Giralt, Nadal und Reglà konnte schließlich auch Josep Fontana als erklärterweise marxistischer Historiker noch im Jahr 1974 in den Professorenstand treten.⁷⁹ Jaume Vicens’ Erbe und sein Name sollten vor dem Tod Francisco Francos und dem Ende der Diktatur noch ein letztes Mal zum Einsatz kommen: Die Neugründung des CEHI. Wie bereits erwähnt, fungierte das Institut nach 1960 lediglich als legaler Überbau für den Erhalt von Zuschüssen für den IHE. Als Forschungseinrichtung war das CEHI nahezu stillgelegt, was im Jahr 1969 selbst das Rektorat der Universität Barcelona dazu bewegte, sich danach zu erkundigen, ob „das CEHI noch existiert […].“⁸⁰ Das Institut beteiligte sich zwar offiziell an einer Ausstellung, die im Jahr 1970 die „persönlichen Unterlagen des maestro“ Vicens der Öffentlichkeit präsentierte.⁸¹ Tatsächlich bestand der CEHI bis in die frühen 1970er Jahre nur aus einem Sekretär, der zudem nur nominell als Verwalter erschien. Diese „Überwinterungsphase“, wie sie Emili Giralt später bezeichnen sollte, endete mit dessen Rückkehr an die Universität Barcelona im Jahr 1971.⁸² Wie auch Fontana und Nadal hatte Giralt seinen Interessensschwerpunkt unter anderem auf das 19. Jahrhundert verlagert, wobei er seinen Fokus auf die Geschichte der Arbeiterbewegung legte.⁸³ Seit seinem Lehrstuhlantritt an der Universität Valen Siehe dazu beispielsweise Josep Fontana: Canvi econòmic i actituds polítiques. Reflexions sobre les causes de la revolució de 1868, in: Recerques. Història, economia i cultura 2 (1972), S. 7– 32.  Wie Nadal Emili Giralt erklärte, arbeitete er schon im Jahr 1970 daran, „die akademische Positon Fontanas zu konsolidieren“, wofür er sich auch das „Einverständnis Reglàs“ einholte. Brief von Jordi Nadal an Emili Giralt vom, 30.12.1970, PNEG, Correspondencia general.  Brief des Rektorats der Universität Barcelona an den CEHI vom 17.12.1969, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1(4), 2, 1.  Vgl. die Broschüre zur Exposición de Homenaje a la memoria de Jaume Vicens i Vives (Barcelona, 1910–Lyon, 1960) con el motivo del X aniversario de su muerte, Barcelona, Juli 1970, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1, (3), 3, 1, Etapa d’hivernació (1960 – 1972).  Die Bezeichnung der Jahre zwischen 1960 und Beginn der 1970er Jahre als „Überwinterungsphase“ verwendete Giralt in einer Rede aus dem Jahr 1985.Vgl. Discurs llegit pel Director del CEHI, Emili Giralt i Raventós a l’acte d’inauguració de la nova seu del CEHI, Barcelona, 5.11.1985, ACEHI, Fondo CEHI, 1 (3), Carpeta 1,1.  Vgl. Emili Giralt/Josep Termes/Albert Balcells: Els moviments socials a Catalunya, Pais Valencià i les Illes. Cronologia 1900 – 1939, Barcelona 1967. Seit 1960 war Giralt Mitglied der Commission Internationale d’Historie des Mouvements Sociaux et des Structures Sociales.

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cia im Jahr 1965 verband er seine Forschungen mit einem zunehmenden Einsatz für die (Re)Konstruktion der neuesten Geschichte Kataloniens unter nationalem Vorzeichen und in oppositioneller Absicht.⁸⁴ Im Zuge dessen begann Giralt ein Archiv oppositioneller Bewegungen anzulegen, das aus studentischen Flugblättern, Plakaten sowie anderen Zeugnissen regimekritischer Kreise bestand. Mit seiner Ankunft in Barcelona und der provisorischen Übernahme der Direktion des CEHI ging er schließlich dazu über, diese zunächst private Sammlung in ein dauerhaftes und umfassendes Archiv der anti-franquistischen Opposition und des spanischen und insbesondere katalanischen Exils umzuwandeln. Unter dem Deckmantel eines wissenschaftlichen Instituts, das weiterhin mit dem Namen Jaume Vicens verbunden war, ließ sich Giralt ab dem Jahr 1972 und bis zur legalen Auflösung des franquistischen Staatsapparats im Jahr 1977 von einem in Paris ansässigen spanischen Anarchisten, Mariano Aguayo (1922– 1994), die einschlägigen und in Spanien noch verbotenen Publikationen der Exilverlage zum Bürgerkrieg und zum Franco-Regime zusenden.⁸⁵ Einen zweiten und ungleich wichtigeren Beitrag zum neuen Archiv leistete die im Jahr 1972 gegründete Fondation Internatonale d’Études Historiques et Socials sur la Guerre d’Espagne (FIEHS). Diese Stiftung, die ihren offiziellen Sitz in Genf hatte, jedoch von Perpignan aus operierte, setzte sich zum Ziel, private und körperschaftliche Nachlässe relevanter Persönlichkeiten und Organisationen des Exils zu sammeln.⁸⁶ Die FIEHS stand unter der geheimen Schirmherrschaft der in Barcelona ansässigen Fundació Jaume Bofill, die seit 1969 diverse katalanischnationale Organisationen, Veranstaltungen und Forschungsprojekte förderte.⁸⁷  Weiteres zu seiner Biografie und seinen katalanisch-nationalen Überzeugungen in Rafael Aracil/Antoni Segura: Emili Giralt i Raventós, Estudis d’Història Agrària 17 (2004), S. 4– 10.  Das Archiv des CEHI enthält die gesamte Korrespondenz zwischen Aguayo und Giralt sowie die zahlreichen Bestelllisten. Auf Bitte Giralts verschickte Aguayo die Bücher an das CEHI, um Zollkontrollen zu vermeiden. Vgl. Brief Emili Giralt an Mariano Aguayo vom 23. 3.1973, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 5, (1), 2, Correspondència 1973. Aguayo war im Jahr 1948 aufgrund seiner Tätigkeit im anarchistischen Untergrund inhaftiert worden und ging ein Jahr darauf nach Paris, wo er unter anderem als Verleger der anarchistischen Zeitschrift Frente Libertario arbeitete.  Siehe dazu die Gründungsurkunde in ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 3, (1), 1, 1, Acte de constitution de la Fondation Internationale d’Estudes Historiques et Sociales, 14.7.1972, Genève.  Die nach einem katalanischen Philosophen benannte Stiftung wurde von der Kulturaktivistin Teresa Roca (1925 – 2016) und dem Juristen Josep M.Vilaseca (1919 – 1995) gegründet. Sie erscheint in der Korrespondenz, die der Direktor der FIEHS, Ramon Sugranyes de Franch (Universität Fribourg), und ihr Sekretär, Jordi Planes, unter der kryptischen Bezeichnung „B.“ hielten. So beispielsweise in einem Brief von Planes an Sugranyes aus dem Jahr 1974, in dem vereinbart wird, die Schirmherrschaft von „B.“ weiterhin geheim zu halten, um nicht das „wissenschaftliche“ Profil der FIEHS zu gefährden. Vgl. Brief von Jordi Planes an Ramon Sugranyes vom 30.12.1974, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 3, (2), 6, Correspondència amb col·laboradors (1972– 1978); weitere Briefe in

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Gleichwohl die FIEHS eindeutig als anti-franquistisches Projekt unter katalanischer Führung konzipiert war, bemühten sich ihre Gründer darum, der Stiftung ein streng akademisches, ideologieübergreifendes und internationales Profil zu verleihen, was man unter anderem durch die Präsenz renommierter Historiker wie Raymond Carr (1919 – 2015), William Deakin (1913 – 2005), René Remond (1918 – 2007) und Pierre Vilar im Ehrenbeirat erreichte.⁸⁸ Giralt nutzte die programmatische Affinität zwischen der FIEHS und dem sich im Neuaufbau befindlichen CEHI, um die Zusammenlegung beider Bestände zu organisieren und das von Vicens gegründete Institut unter Verweis auf seinen „universitären Charakter“ und sein „neutraleres Erscheinungsbild“ als Ziel für die Überführung anzubieten.⁸⁹ Zwar erfolgte der Zusammenschluss des CEHI und der FIEHS aus Gründen politischer Vorsicht erst im Jahr 1977. Zu dem Zeitpunkt war aber das Centro de Estudios Históricos Internacionales bereits als Forschungsinstitut zur neuesten Geschichte Kataloniens und Archiv des Anti-Franquismus neu gegründet worden.⁹⁰ Giralt hatte sich seit dem Jahr 1971 entschieden für die Neubelebung des CEHI eingesetzt und schließlich drei Jahre später die entschlossene Unterstützung des Rektors erhalten.⁹¹ Wie Giralt den Rektor informierte, würde das CEHI die Organisation von Vortragsreihen und die Publikation von Forschungsarbeiten erneut in Angriff nehmen. Die wesentliche Aufgabe des Instituts bestünde aber vor allem im Aufbau eines Archivs, das die „Untersuchung der politischen und sozialen Vorfälle, die sich seit 1939 ereignet haben“, ermöglichen sollte. Der Absender erhoffte sich vom Rektor „das maximale Verständnis und maximale Hilfe“, auch in finanzieller Hinsicht, wobei er auf die Fortsetzung von Vicens’ Erbe appellierte: „Nur auf der Grundlage dieses Verständnisses und dieser Unterstützung kann eine Tätigkeit weitergeführt werden, mit der Prof. Dr. Jaime Vicens Vives,

ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 3, (2), 1, FIEHS, Correspondència Jordi Planes-Ramon Sugranyanes de Franch (1971– 1986).  Zum Ehrenbeirat siehe die Informationsbroschüre zum FIEHS im ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1 (4), 3,6; zur „Notwendigkeit, die FIEHS unter katalanischer Führung zu behalten“ siehe den Brief des Direktors Ramon Sugranyes an Jordi Planes vom 3.11.1972, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 3, (2), 1, FIEHS, Correspondència Jordi Planes-Ramon Sugranyanes de Franch (1971– 1986).  Dieser Wortlaut in einem Brief von Emili Giralt an Ramon Sugranyes vom 24. 2.1977; dieser Brief und weitere Korrespondenz zur Verhandlung in ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1, (4), 5, 10, Correspondència Emili Giralt i Raventós – Ramon Sugranyes de Franch 1974, 1977, 1978, 1980, 1981.  Als solches besteht es bis heute: http://www.ub.edu/cehi, [Stand: 2.05. 2017].  Vgl. Brief von Fabià Estapé an Emili Giralt vom 10.9.1974. Dieses Schreiben, für die amtlichen Belange auf Spanisch verfasst, endet mit der auf Katalanisch handgeschriebenen Notiz: „Vorwärts mit dem Centre d’Estudis Històrics Internacionals!“ Spanisch war bis ins Jahr 1977 die einzige offizielle Amtssprache. ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 5, (1), 3, Correspondència 1974.

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Gründer des Instituts und sein erster Direktor, vor 25 Jahren begonnen hatte.“⁹² Giralt und Rubió war durchaus bewusst, dass das neue CEHI mit jener im Jahr 1949 gegründeten Einrichtung auch in seiner politischen Ausrichtung nur wenig gemein hatte.⁹³ Dennoch stellten sie zwischen beiden eine Kontinuität her, die bewusst auf eine selektive Erinnerung an den maestro aufbaute. Wie Rubió an Giralt im Zuge der Neugründung schrieb, musste „[…] das Wappen bzw. der Geist erhalten werden, der Inhalt aber muss sich ändern…“⁹⁴ Nur durch diesen „neuen Charakter“ sei es möglich, wie Giralt seinerseits dem Rektor schrieb, „dass die Verbindung zur Vergangenheit keine Last, sondern einen Ansporn bedeutet.“⁹⁵ Das CEHI wurde schließlich im Herbst des Jahres 1975 neu ins Leben gerufen, begleitet von einer Hommage an Vicens, die in der Aula Magna der Universität stattfand.⁹⁶ Noch vor dem Ende der Diktatur hatte sich somit ein staatlich anerkanntes und formal vom Außenministerium weiterhin mitfinanziertes Institut etabliert, das sich dem Anti-Franquismus verschrieb.⁹⁷ Die Neugründung des CEHI offenbarte einerseits, inwiefern selbst die akademische Führungsspitze der Universität Barcelona einem sich von innen auflösenden Regime den Rücken gekehrt hatte. Andererseits bewies das neue Institutsprofil, dass Jaume Vicens’ ‚Erbe’ auch in Kreisen der katalanisch-nationalen Opposition selektiv eingefordert wurde. Als Gegner der „offiziellen Historiografie“ habe er bewiesen, so ein weiterer seiner ehemaligen Mitarbeiter im Jahr 1970, dass „der Wissenschaft dienen, dem Vaterland dienen“ bedeute – ein „Vaterland“, das sich jedoch von demjenigen, das Vicens und insbesondere der Consejo Superior de Investigaciones

 Brief von Emili Giralt an Fabià Estapé vom 3.7.1975, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1, (4), 3, CEHI Història institucional, Etapa de reinstitucionalització (1972– 1978).  So schätzte Jordi Rubió nach Durchsicht der institutseigenen Unterlagen, die er im Vorfeld zur Neugründung sortierte, Vicens’ Geschäftsführung, insbesondere diejenige der ersten Jahre, wie folgt ein: „Es war zwar nicht nur, aber vor allem eine opportunistische Haltung! Die [Kontakte] zur Opposition fehlten vollkommen!“ Brief von Jordi Rubió an Emili Giralt vom 15.10.1974, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 5, (1), 3, CEHI Correspondència 1974.  Brief von Jordi Rubió an Emili Giralt vom 7.10.1974, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 5, (1), 3, Correspondència 1974.  Brief Jordi Rubió an Fabià Estapé vom 7.10.1974, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 5, (1), 3, Correspondència 1974.  Zur Organisation der Feierlichkeiten und den Vorträgen siehe die entsprechenden Berichte in ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1, (8), 1, Memòries d’activitats (1974– 2002), 1974– 1975; sowie den im Diario de Barcelona erschienenen Artikel zur Neugründung des CEHI und der Veranstaltung in der Aula Magna vom 16.12.1975.  Die Subvention wurde im Jahr 1973 sogar von 100 000 auf 300 000 Peseten erhöht. Siehe dazu AMAE, Fondo Relaciones Culturales, R 19447, Exp. 14, 1974– 1977 Subvención a CEHI.

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Científicas in den 1940er und 1950er Jahren vor Augen gehabt hatten, deutlich unterschied.⁹⁸

 So die einleitenden Worte von Pedro Voltes zur Broschüre für die Exposición de Homenaje a la memoria de Jaume Vicens i Vives (Barcelona, 1910 – Lyon, 1960) con el motivo del X aniversario de su muerte, Barcelona, Juli 1970, ACEHI, Fondo CEHI, CEHI 1, (3), 3, 1, Etapa d’hivernació (1960 – 1972).

Schlusswort Als im November des Jahres 2010 das Año Vicens zu einem feierlichen Abschluss kam, fanden sich im Festsaal des Consejo Superior de Investigaciones Científicas zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Gesellschaft zusammen. Unter dem Vorsitz des damaligen Königs Juan Carlos I. und der Schirmherrschaft verschiedener Minister, der katalanischen Regionalregierung und des CSIC selbst erinnerte man dort sowie in zahlreichen anderen Veranstaltungen an den fünfzig Jahre zuvor verstorbenen Jaume Vicens Vives – an den „Erneuerer der spanischen Historiografie“ und dessen Vermächtnis. Die Lehren aus der intellektuellen Biografie des katalanischen Historikers waren für Vortragende und Redner eindeutig. Vicens sei für eine Geschichtswissenschaft eingetreten, die „inmitten der Autarkie an eine Strömung [die ‚Annales‘] anschloss, wie sie in Europa üblich war.“ Nicht nur das: Auch habe er den nachkommenden Historikergenerationen eine Perspektive als Erbe hinterlassen, wonach „Spanien von Europa aus verstanden werden“ müsse.¹ Was sich hinter dem Begriff „Europa“ verbarg, entschlüsselte vor allem der britische Historiker John H. Elliott, der in Vicens’ Werk die Absicht erkannte, „Katalonien und folglich ganz Spanien in die moderne Welt zu führen“. Zu welcher „modernen Welt“ und welchem „Europa“ Vicens den Weg aufgezeigt hatte und vor allem in welchem Kontext diese ‚Rückkehr‘ in Angriff genommen worden war, waren Fragen, die in den Schatten einer der Anrufung des maestro geschuldeten Erinnerungspraxis gerieten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Abschlussveranstaltung dieses Jubiläumsjahrs im Festsaal des CSIC stattfand. Nicht nur hatte Mitte der 1950er Jahre Vicens mit dieser Institution gebrochen. Ausgehend von seinen Konflikten mit dem zentralen Apparat der franquistischen Wissenschaftspolitik hatte er zudem sein Profil und dasjenige seiner Escola de Barcelona über die explizite Abgrenzung zu jener Geschichtswissenschaft geschärft, die aus der Sicht des katalanischen Historikers von dieser Einrichtung gefördert worden war. Der zentrale Festakt zum Año Vicens war auch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Er fand nämlich genau an jenem Ort statt, an dem in den 1940er Jahren unter dem Vorsitz Francisco Francos ein ganz anderer Weg der spanischen Geschichte gefeiert und inszeniert worden war. Die seit Jahrzehnten unveränderte Einrichtung des Festsaals und das strikte Protokoll, das die zum Abschluss des Año Vicens geladenen Gäste einhalten mussten, riefen zwar so manche Erinnerung an die ehemaligen Plenarversammlungen des CSIC wach. Die weiterhin größte spanische Forschungseinrichtung  Juliá: Jaume Vicens Vives en la historiografía española. Siehe dazu Kapitel II.1. https://doi.org/10.1515/9783110532227-017

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hatte jedoch im Jahr 2010 nur wenig mit jenem Obersten Forschungsrat gemeinsam, der im November des Jahres 1939 gegründet worden war. Der CSIC hatte den Übergang von der Diktatur zur parlamentarischen Monarchie überlebt, was vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen ist. Erstens hatte sich die Symbolfunktion der Institution spätestens in den 1960er Jahren grundlegend gewandelt. Der CSIC repräsentierte zum Ende der Diktatur die ‚spanische Wissenschaft‘ nicht mehr unter national-katholischem Vorzeichen. Er war vielmehr Bestandteil einer Wissenschaftspolitik geworden, die sich der technisch-industriellen Entwicklung und einer Rückstandsrhetorik verschrieb, an die auch unter den neuen politischen Rahmenbedingungen angeknüpft werden konnte.² Zweitens ermöglichte die Abwesenheit eines klaren politischen Bruchs nach 1975 eine hohe Kontinuität der vom Franco-Regime gegründeten Einrichtungen im Allgemeinen. Die Transición bot kaum Raum für einschneidende institutionelle oder personelle Umbrüche, wovon auch der CSIC profitierte.Was dem Tod Francisco Francos folgte, war keine Zäsur, sondern eher die fortwährende Abwicklung der frühen Symbolik des CSIC, seine institutionelle Reform und eine allmähliche Umdeutung der institutionseigenen Geschichte. Die längst verblasste Struktur der Patronatos wurde Mitte der 1970er Jahre endgültig fallen gelassen, der Consejo Ejecutivo als höchstes Entscheidungsorgan zugunsten eines stärker partizipativen Reglements aufgelöst, und schließlich wurde im Jahr 1986 unter der sozialistischen PSOE-Regierung jene Residencia de Estudiantes neu errichtet, die das Vorzeigeprojekt der Junta para Ampliación de Estudios gewesen war. Gerade der Umgang mit dem Erbe der 1907 gegründeten JAE stand für eine neue institutionelle Traditionsbildung. So gab der CSIC im Jahr 2007 einen Sammelband heraus, der den bezeichnenden Titel „JAECSIC. Hundert Jahre Wissenschaft in Spanien“ trug und beide Institutionen in eine Kontinuitätslinie stellte. Die Diktatur erschien darin als Intermezzo auf dem Weg zu einer „Synchronisierung Spaniens mit Europa“³, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begonnen habe. Ob diese Umdeutung der institutionellen Tradition, die auch heute weitergepflegt wird, dazu geführt hat, den Blick auf die Kontinuitäten zwischen Diktatur und Demokratie zu verstellen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Die Frage danach, inwiefern der CSIC nach der Auflösung des franquistischen Staats weniger das Vermächtnis der JAE antrat als vielmehr sein eigenes fortführte

 So blieb beispielsweise auch die im Jahr 1958 gegründete Beratende Kommission für wissenschaftliche und technische Forschung (CAICT) mit einer hohen personellen Kontinuität bis ins Jahr 1987 erhalten.  Vgl. Virgilio Zapatero: La sincronización de España con Europa, in: Miguel A. Puig-Samper (Hrsg.): Tiempos de investigación. JAE-CSIC, cien años de ciencia en España, Madrid 2007, S. 23 – 27.

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und an die neuen politischen Gegebenheiten adaptierte, stellt weiterhin ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Jedenfalls wurde wenige Monate vor dem Festakt zum Año Vicens auch die lateinische Inschrift entfernt, die seit dem Jahr 1944 über dem Eingang zum Hauptgebäude prangte und an die Stiftung der Institution durch den „siegreichen“ Caudillo erinnerte.⁴ Als man Jaume Vicens im November 2010 symbolisch in den Schoß des CSIC zurückholte, waren die meisten Spuren verwischt, die auf die ersten Jahrzehnte der Institution und vor allem auf ihre Gründungsphase verwiesen. Der katalanische Historiker wurde zum Vorboten eines langen, doch geglückten Wegs über die Pyrenäen stilisiert und JAE und CSIC zum institutionellen Ausdruck einer spanischen Wissenschaft erklärt, die – den franquistischen Instrumentalisierungsversuchen zum Trotz – ihren wesentlichen Beitrag zur „Synchronisierung“ mit „Europa“ geleistet hatte. In dieser Deutung erscheinen Vicens und die franquistische Wissenschaftspolitik jeweils als Protagonist und Antagonist in einer Geschichte der ‚Rückkehr‘ der spanischen Geschichtswissenschaft und der spanischen Geschichte selbst in die ‚moderne Welt‘. Wie die vorliegende Arbeit allerdings gezeigt hat, lässt sich weder Jaume Vicens’ Laufbahn in einem geradlinigen Narrativ der ‚Rückkehr nach Europa‘ fassen noch ist es hilfreich, die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes als rückwärtsgewandtes Intermezzo in einer Geschichte des ‚Fortschritts‘ zu betrachten. Trägt man der Tatsache Rechnung, dass Begriffe wie Europa, Wissenschaft und Moderne selbst eine Geschichte besitzen, die auch und gerade unter dem Franco-Regime stets offen und umkämpft war, so eröffnet sich eine andere Perspektive auf die Geschichte der franquistischen Wissenschaftspolitik, der spanischen Geschichtswissenschaft und auch auf die intellektuelle Biografie von Jaume Vicens. Dabei hat sich diese Untersuchung erstens auf einen Ansatz gestützt, in dem Wissenschaft und Diktatur nicht als bloße Antagonisten behandelt werden. Die Entwicklung der spanischen Geschichtswissenschaft und auch die Laufbahn des katalanischen Historikers lassen sich nicht ohne die Interaktion mit der franquistischen (Wissenschafts)Politik erklären. Zweitens muss eine Geschichte der Wissenschaftspolitik und der (Geschichts)wissenschaft unter dem Franco-Regime die zentrale Funktion mitberücksichtigen, die die Wissenschaft innerhalb nationalhistorisch artikulierter Narrative erfüllte. Sowohl für den CSIC als auch für Jaume Vicens war die ‚Wissenschaft‘ wesentlicher Bestandteil einer ‚Moderne‘, die zuallererst als ‚europäischer‘ Weg imaginiert wurde. Der Umgang mit dieser ‚Moderne‘ lässt sich jedoch nicht auf die Gegenüberstellung eines

 Vgl. Ignacio M. Prada: El CSIC ordena borrar de sus fachadas las alusiones a Franco, ABC, 17. 8. 2010.

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‚modernen‘, ‚europäischen‘ Vicens und einer ‚anti-modernen‘, ‚autarken‘ Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes reduzieren. Anstatt das gesamte Vorgehen der Arbeit wiederzugeben, sollen im Folgenden ihre wichtigsten Argumentationsstränge in sechs Punkten zusammengefasst werden, die aufeinander aufbauen und die wichtigsten Thesen enthalten: 1. Die Gründung des CSIC im Jahr 1939 muss zuallererst als Versuch bestimmter katholischer Eliten verstanden werden, den Begriff der Wissenschaft unter national-katholischen Vorzeichen zurückzuerobern und die Forschung in den Dienst des neuen Staates zu stellen. So erfüllte der Consejo vom Moment seiner Gründung an die Funktion einer Symbolinstitution in einem doppelten Sinne. Einerseits wurde er mit einem bestimmten symbolischen Haushalt ausgerüstet, andererseits war er als institutioneller Ausdruck einer ‚spanischen Wissenschaft‘ konzipiert, die mit dem Erbe der liberal-laizistischen JAE brechen sollte.Vor allem in den 1940er Jahren spiegelte sich im institutionellen Aufbau des CSIC, in den jährlich veranstalteten Plenarversammlungen, im arbor scientiae und anderen Inszenierungselementen eine symbolische Ordnung wider, die auf ein Zeitalter der Katholizität und imperialen Größe verwies und den auch in territorialer Hinsicht organischen Zusammenhalt sowie die „christliche Einheit“ der spanischen Wissenschaft wiederherzustellen versprach. Mit der Konstruktion einer „glorreichen spanischen Wissenschaftstradition“ ging auch die Etablierung einer Wissenschaftshierarchie einher, die sich in der symbolischen, diskursiven, institutionellen und finanziellen Privilegierung der Geisteswissenschaften und der Theologie als wahrlich spanische Disziplinen ausdrückte. Die Natur- und Technikwissenschaften wurden zwar als „Erfordernisse der Moderne“ ebenfalls in den CSIC eingegliedert. In den Inszenierungen und Diskursen erschienen sie aber zugleich als bedrohliche Äußerungen einer ‚fremden Moderne‘, die abgewehrt, gezähmt oder zumindest eingehegt werden musste. Damit unterlag die symbolische Ordnung des Consejo seit seiner Errichtung einer entscheidenden Ambivalenz: Die Einheit von ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ sollte in einer Institution aufgehen, deren symbolischer Haushalt auf ein national-katholisches Narrativ aufbaute, das gerade diese ‚Moderne‘ als Irrweg aussparte. 2. Die Struktur der Patronatos, die Plenarversammlungen und der ‚Wissenschaftsbaum‘ vermochten zwar diese grundlegende Spannung zu überbrücken. Die symbolische Ordnung des Consejo begann aber brüchig zu werden, als sich in den 1950er Jahren die Ökonomie wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit und dadurch auch das Gleichgewicht von ‚spanischer Tradition‘ und ‚europäischer Moderne‘ zugunsten der Letzteren verschob. Bereits unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzte eine wichtige Umfunktionierung des CSIC ein, die im Jahr 1950 anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen der Institution ihren ersten Höhepunkt erreichte. Der CSIC wurde bereits früh zu einer er-

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folgreichen Bühne, um die Teilhabe des franquistischen Spaniens an einer westlichen Welt zu inszenieren, von der es politisch isoliert war. Nur wenige Jahre nach der internationalen Ächtung des Regimes durch die UN-Vollversammlung fanden sich in Madrid Vertreter zahlreicher Wissenschaftseinrichtungen und mehrere Nobelpreisträger ein, deren Präsenz als Sanktionierung der staatlichen Wissenschaftspolitik, wenn nicht sogar des Franco-Regimes selbst gefeiert wurde. Die ‚spanische Wissenschaft‘ tauschte ‚Geist‘ gegen ‚Technik‘ ein, womit der CSIC als positiver Beitrag zur ‚christlichen Rettung Europas‘, die als Imagination gerade um das Jahr 1950 eine Hochkonjunktur erlebte, neu verortet werden konnte. In den folgenden Jahren begann jedoch eine wissenschaftspolitische Aufmerksamkeitsverschiebung einzusetzen, die es zunehmend erschwerte, die symbolische Ordnung des CSIC und das national-katholische Narrativ selbst aufrecht zu erhalten. Trotz der anhaltenden Technikskepsis, die sich in den Wissenschaftsdiskursen der 1950er Jahre offenbarte, geriet die technische Forschung in den Mittelpunkt der Inszenierungs- sowie der Finanzierungsbemühungen. Der Grund dafür lag aber nicht bloß in der gestiegenen Nachfrage nach technischem Wissen, die sich aus dem verstärkt industriepolitischen Kurs des Franco-Regime ergab. Die entschiedene Aufwertung der Technik war darüber hinaus Teil eines neuen wissenschaftspolitischen Kurses, der sich dem Aufbruch in eine imaginierte technisch-industrielle Moderne verschrieb. Diese Unterscheidung ist signifikant, denn mit der Privilegierung der Technik verstärkten sich auch die Rückstands- und Rentabilitätsdiskurse sowie die Bestrebungen, den CSIC als ‚normale‘ Einrichtung im internationalen Vergleich erscheinen zu lassen. Die Semantik des Begriffs Wissenschaft rückte von der „spanischen Wissenschaftstradition“ und von organologischen Diskursen ab und verschob sich zugunsten jener Bereiche, die als Zeichen von Modernität und Zweckrationalität galten. Dies widerspricht allerdings auch einer Deutung, die normativ zwischen ‚rückwärtsgewandter‘, diktatorischer Wissenschaftspolitik und ‚moderner‘, einem liberalen Geist verpflichteter Wissenschaft unterscheidet. Die frühen Versuche des Franco-Regimes, eine national-katholische Wissenschaft zu etablieren, scheiterten nicht daran, dass sie von einem gleichsam Kraft seiner Rationalität sich durchsetzenden Wissenschaftsverständnis eingeholt wurden. Vielmehr war es die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes selbst, die sich einer neuen ‚Wissenschaft‘ verschrieb, die aus ihrer Sicht die ‚Moderne‘ repräsentierte. Dieser Weg – von der schwarzen Soutane zum weißen Kittel – erforderte allerdings auch, das national-katholische Narrativ und die symbolische Ordnung des CSIC fallen zu lassen. So verlor der Consejo im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren einerseits seine Funktion als Symbolinstitution der spanischen Wissenschaft zugunsten der Beratenden Kommission für wissenschaftliche und technische For-

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schung (CAICT). Andererseits büßten auch die Plenarversammlungen und sogar die institutionelle Integrität des CSIC ihre Bedeutung als Inszenierungsmomente der Einheit und des Gleichgewichts der spanischen Wissenschaft ein. 3. Die grundlegende wissenschaftspolitische Umorientierung, die sich zwischen den 1940er und 1960er Jahren vollzog, war nicht nur auf der Ebene von Diskursen, Symbolen und Inszenierungen angesiedelt. Sie wirkte sich darüber hinaus auf entscheidende Weise auf bestimmte Forschungsbereiche aus, die wie die Geschichtswissenschaft noch in den 1940er Jahren einen privilegierten Status genossen hatten. Gerade die historische Forschung erfüllte im ersten Jahrzehnt des Franco-Regimes ihre Funktion als Legitimationswissenschaft. Im Kontext einer Diktatur und einer Wissenschaftspolitik, die auf ein Zeitalter der Katholizität und imperialen Größe verwies, legte die Geschichtswissenschaft ihre Schwerpunkte auf die Politik- und Ideengeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, der katholischen Monarchien und der imperialen Hegemonie. Das 17. und vor allem das 18. und 19. Jahrhundert fielen als Forschungsgegenstände hingegen einer prinzipiellen Negativbewertung der technisch-industriellen Moderne zum Opfer. Die Leistung der katholischen Nation in den letzten Jahrhunderten habe darin bestanden, wie der Historiker Vicente Palacio schrieb, „inmitten des modernen Europas [zu leben], ohne von der Moderne verseucht zu werden.“⁵ Mit dem Wandel der franquistischen Wissenschaftspolitik in den 1950er Jahren sank jedoch die Geschichtswissenschaft rapide in der wissenschaftspolitischen Prioritätenskala ab. Zwar bewirkte die Gleichzeitigkeit von Technikprivilegierung und Technikskepsis zunächst, dass die Geisteswissenschaften und damit auch die Geschichtswissenschaft als „geistige Strebbögen“ innerhalb des jüngsten wissenschaftspolitischen Kurses neu verortet wurden. Dies geschah allerdings eher auf diskursiver denn auf institutioneller und finanzieller Ebene. So war die vom Consejo vermeintlich geförderte Historiografie spätestens ab Mitte der 1950er Jahre und bis in die 1970er Jahre durch gravierende finanzielle Notlagen, gescheiterte Projekte und enttäuschte Erwartungen gekennzeichnet. Neben den finanziellen und institutionellen Schieflagen stand die national-katholische Geschichtsschreibung zudem vor einer wichtigen narrativen Hürde. Sie wurde nämlich aufgefordert, das Verhältnis der Geschichte Spaniens zu einer ‚Moderne‘ positiv zu wenden, die sie gerade aus ihrem Nationalnarrativ als ‚fremde Moderne‘ ausgeschlossen hatte. Ungeachtet der Versuche, den Reformabsolutismus des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der historiografischen Aufmerksamkeit zu rücken, bildete das Zeitalter der technisch-industriellen Revolution weiterhin ei-

 Palacio Atard: Derrota, agotamiento, decadencia en la España del siglo XVII, S. 179. Siehe Kapitel I.2.2.

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nen blinden Fleck. Anders ausgedrückt: Die Historiker des CSIC fanden weder den Weg noch erhielten sie die nötigen Mittel, um durch ein neues Narrativ jenen Aufbruch in die technisch-industrielle Moderne historisch zu artikulieren, dem sich das Franco-Regime und die franquistische Wissenschaftspolitik spätestens seit Mitte 1950er verschrieben hatte. 4. In dieses Deutungsvakuum trat wiederum Jaume Vicens, um auf die Sonderrolle Kataloniens in der neuesten Geschichte Spaniens aufmerksam zu machen und die Ansprüche des ‚industriellen Kataloniens‘ auch für die Gegenwart einzufordern. Der Historiker aus Barcelona verlagerte seinen Forschungsschwerpunkt in den 1950er Jahren von der Politikgeschichte des 15. in die Wirtschaftsund Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. Im Zuge dessen richtete er seinen Fokus auf denjenigen Protagonisten, der für ihn diesen ‚Fortschritt‘ am ehesten verkörperte: Das katalanische Industriebürgertum. Durch diese Verlagerung distanzierte er sich durchaus vom national-katholischen Narrativ. Die technisch-industrielle Moderne erschien nicht mehr als ‚fremde‘ Herausforderung, die abgewehrt oder selektiv und rein instrumentell adaptiert werden musste. Vielmehr schrieb Vicens die spanische und darin vor allem die katalanische Geschichte in einen historischen Pfad des ‚Fortschritts‘ ein, den er selbst als europäischen ‚Normalweg‘ imaginierte. Diese affirmative Wendung zu einem Europa des ‚Fortschritts‘ darf allerdings nicht so verstanden werden, dass Vicens sich dadurch etwa von einer ‚rückständigen‘ Franco-Diktatur abwandte. Vielmehr verwies er auf die Geschichte der Industrialisierung im Katalonien des 19. Jahrhunderts als historisches Vorbild für den neuen technisch-industriellen Kurs, dem sich auch das Franco-Regime verschrieb. Dies bedeutet auch, dass sich dieser imaginierte Weg, der sich bei Vicens in Begriffen wie ‚Europa‘, aber auch ‚occidente‘ verdichtete, in erster Linie auf industrielle Revolution und technische Innovation bezog. Auf politischer Ebene privilegierte der katalanische Historiker ein konservatives Bürgertum, das er als Garant von Kontinuität und Stabilität präsentierte. Die politischen Revolutionen erschienen in diesem Narrativ fortschreitender Zyklen hingegen bis zuletzt als Manifestationen dysfunktionaler Gesellschaften, in denen die regierenden Minderheiten sich als unfähig erwiesen hatten, die Mehrheiten an sich zu binden. Dabei muss die regionalidentitäre Funktion von Vicens’ Deutungsangebot auf besondere Weise hervorgehoben werden, denn Vicens ging von Beginn an von einer mentalen Geografie Spaniens aus, in der Katalonien das „offene Fenster zu Europa“ darstellte. Dadurch erhielt seine Deutung zur Geschichte Spaniens in der technisch-industriellen Moderne allerdings die Gestalt einer Eventualität: Wenn Spanien seit dem 19. Jahrhundert im europäischen Kontext eine ‚Anomalie‘ dargestellt habe und in den ‚Rückstand‘ geraten sei, dann vor allem deshalb, weil die politischen Eliten der Hauptstadt die Impulse nicht empfangen hätten, die aus

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einem sich industrialisierenden Katalonien gekommen seien. Mit dieser Interpretation, die er auch als öffentlicher Intellektueller vertrat, verband er ferner die Aufforderung, den katalanischen Wirtschafts- und auch Bildungseliten die Führungsrolle zuzusprechen, die ihnen auf einem Weg in die technisch-industrielle Moderne gebührten. Das Ausmaß des spanischen Scheiterns, diesen historischen Weg zu begehen, machte Vicens davon abhängig, ob Spanien dem Vektor folgen würde, den die katalanische Geschichte vorgegeben hatte. Erst als in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre deutlich wurde, dass eine „katalanische Utopie“ (Ucelay da Cal) unter dem Franco-Regime nicht realisiert werden könnte, begann Vicens den spanischen ‚Rückstand‘ und den katalanischen ‚Fortschritt‘ grundsätzlich zu dissoziieren. 5. Die Dynamik enttäuschter Ambitionen zeigte sich auch in der Entwicklung seines Historikerprofils und in der von ihm gegründeten Escola de Barcelona. Dabei ging Vicens bereits früh von einem Selbstverständnis als ‚europäischer‘ Historiker aus. Diese Selbstprofilierung darf jedoch nicht retrospektiv als Teil einer geradlinig verlaufenden ‚Rückkehr‘ der spanischen Historiografie in die internationale ‚Ökumene der Historiker‘ interpretiert werden. Eine solche Deutung der Laufbahn von Jaume Vicens verfällt den autoriografischen Konstruktionen, die der katalanische Historiker selbst pflegte. Zugespitzt könnte man sagen, dass seine Ausrichtung auf die deutsche Geopolitik der frühen 1940er Jahre nicht weniger ‚europäisch‘ war als seine Rezeption der ‚Annales‘ zehn Jahre später. Sicherlich durchlief Vicens im Übergang von den 1940ern zu den 1950er Jahren eine politische Umorientierung. Die retrospektive Projektion eines normativen Europa-Begriffs, wie sie im Año Vicens dominierte, übergeht jedoch die historischen Kontinuitätslinien, die sich bei einer genaueren Untersuchung der Laufbahn von Jaume Vicens offenbaren. So lässt sich beispielsweise an seiner Rezeption von Fernand Braudels Méditerranée in den späten 1940er Jahren zeigen, dass sie als Anknüpfungspunkt diente, um seine geohistoria aus dem Schatten einer als pseudowissenschaftlich geächteten deutschen Geopolitik zu holen. Auch bei seiner sonstigen offensiven Aneignung des Kürzels ‚Annales‘ ging es nicht primär darum, sich gegen eine vermeintlich staatsnahe Geschichtswissenschaft zu stellen. Die ‚Annales‘ stellten vielmehr eine Chiffre dar, um eine neue, ausdrücklich nicht-marxistische und von der Universität Barcelona ausgehende Wirtschafts- und Sozialgeschichte einzufordern, mit der er die spanische Geschichtswissenschaft aus ihrem ‚Rückstand‘ zu holen versprach. Es war also weniger der heuristische Gehalt bestimmter Theorien und Methoden, die Vicens’ Orientierung an Lucien Febvre, Charles Morazé oder Braudel motivierten – in dieser Hinsicht waren Vicens’ Arbeiten stets eklektisch. Der katalanische Historiker übernahm vielmehr den vor allem für

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Febvre charakteristischen polemischen Stil, um seine Ambitionen innerhalb des spanischen Feldes zu bekunden. Parallel dazu war die Gründung des Centro de Estudios Históricos Internacionales, der Estudios de Historia Moderna und des Índice Histórico Español in erster Linie darauf ausgerichtet, seine Escola de Barcelona zu „einem Getriebe der spanischen Geschichtsforschung“ zu machen. Insofern waren die drei Organe der Escola zunächst als konstruktive Beiträge zu einer spanischen Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime konzipiert, als dessen Teil sich auch Jaume Vicens verstand. Erst das Scheitern dieses Bestrebens sowie Vicens’ Konflikte mit dem CSIC und seinem beruflichen Umfeld führten dazu, dass sich Mitte der 1950er Jahre innerhalb der Escola die Bezeichnung ‚offizielle Historiografie‘ als pejorative Kategorie für eine mutmaßlich wissenschaftspolitisch bevorzugte Geschichtswissenschaft etablierte. Dabei befanden sich zu jener Zeit nicht nur Vicens, seine Mitarbeiter und deren Projekte, sondern die gesamte historische Forschung in einer äußerst prekären Lage. Im Gegensatz zu anderen Historikern erhielt Vicens sogar durchaus Zugang zu staatlichen Ressourcen. Letztere wurden zwar Ende der 1950er Jahre nicht mehr vom CSIC bereitgestellt. Dafür aber profitierten Vicens und der Índice Histórico Español von der Tatsache, dass das Außenministerium in der ambitionierten und durchaus erfolgreichen Großbibliografie bis zuletzt ein förderungswürdiges Exportgut erkannte. Zwar ist es unbestreitbar, dass der katalanische Historiker und insbesondere sein näherer Mitarbeiterkreis mit signifikanten Hindernissen zu kämpfen hatten. Doch waren es vor allem die regionalidentitären Spannungen, fachlichen Konkurrenzverhältnisse, eine sich verschärfende Ressourcenknappheit und nicht zuletzt Vicens’ offen artikulierte Ambitionsansprüche, die maßgeblich dazu beitrugen, dass ein wesentlicher Teil des spanischen Historikerfelds dem katalanischen Historiker und vor allem seinen Schülern eine im wahrsten Sinne des Wortes periphere Rolle zusprachen. 6. Die Konflikte, die Vicens in dem für ihn charakteristischen Stil rhetorisch ausschlachtete, sein explizit ‚europäisches‘ Profil und vor allem seine zuletzt geerntete internationale Anerkennung boten zusammen mit seinen Deutungen zur Geschichte Spaniens im 19. Jahrhundert zahlreiche Anknüpfungspunkte für die nach seinem Tod einsetzende selektive Erinnerungspraxis. Vor allem sein unmittelbarer Mitarbeiterkreis und sein intellektuelles Umfeld sorgten in Katalonien für die Kontinuität von Vicens’ ‚Erbe‘. Gerade seine Schüler hielten an einem bestimmten Denkstil fest, der historischen ‚Fortschritt‘ und ‚Rückstand‘ Spaniens im Vergleich zu ‚Europa‘ in sozial- und wirtschaftshistorischen Kategorien untersuchte und die Geschichte als Wissenschaft jenseits der Pyrenäen ansiedelte. Allerdings implizierte dieser Weg des ‚Fortschritts‘ für sie – anders als für Vicens – unmissverständlich die Überwindung der Diktatur. Darüber hinaus

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erfüllte eine schleichende Umdeutung von Vicens’ Vermächtnis auch eine strategische Funktion. So wurde beispielsweise der CEHI noch vor dem Ende der Diktatur unter Verweis auf den Geist, den Vicens diesem Institut verliehen hätte, als Archiv des Exils und der Opposition neu gegründet. Diese Neugründung in anti-franquistischer Absicht ging mit einer Traditionspflege einher, die notwendigerweise über die eigentlichen Ursprünge des Instituts hinwegsah. Jaume Vicens’ Erbe wurde allerdings auch jenseits seines unmittelbaren Umfelds und für ganz andere Zwecke eingefordert. Der CSIC rehabilitierte den katalanischen Historiker bereits Mitte der 1960er Jahre, womit sich der Oberste Forschungsrat in gewisser Weise die im innerspanischen Vergleich hohe internationale Anerkennung Vicens’ zu eigen machte. Ferner wanderte Vicens im Laufe der 1960er Jahre vom Rand in die Mitte einer facheigenen Erinnerung, die die Geschichte der Geschichtswissenschaft unter dem Franco-Regime als ‚Erneuerungsgeschichte‘ zu periodisieren begann. Vicens hatte zwar zu Lebzeiten keinen zusammenhängenden autobiografischen Text veröffentlicht. In Aufsätzen, Artikeln und Vorworten hatte er jedoch beständig daran gearbeitet, seine eigene Biografie zu (re)konstruieren und aus ihr die Geschichte der Historiografie in Spanien hervorgehen zu lassen. Mit der Rehabilitierung des katalanischen Historikers und der Aneignung seines symbolischen Kapitals als ‚Erneuerer‘ übernahmen deutungsmächtige Historiker wie unter anderem José M. Jover auch Vicens’ autobiografische Konstruktionsleistungen. Das Jahr 1950, dieses „absolut signifikante Datum“, wie es Vicens kurz vor seinem Tod bezeichnet hatte, wurde zusammen mit der Rezeption der ‚Annales‘ nachhaltig zum Ausgangspunkt einer Erneuerungsnarrativs, das die Gestalt einer ‚Rückkehr nach Europa‘ annahm. Aus der Biografie des ‚Erneuerers‘, die Vicens selbst gepflegt hatte, war spätestens Mitte der 1970er Jahre die Geschichte der ‚Erneuerung‘ der spanischen Geschichtswissenschaft geworden – mit dem entscheidenden Vorteil, dass die historiografische Produktion der 1940er Jahre, auch diejenige von Vicens, als Teil einer ‚ideologischen Phase‘ aus der Fachgeschichte ausgeschlossen wurde und die darauffolgende Entwicklung als geradliniger Weg zurück in die internationale ‚Ökumene der Historiker‘ erschien. Der Topos der ‚Rückkehr‘ und die rückwirkende Konstruktion biografischer sowie fachlicher Kontinuitäten sind mitnichten Spezifika der spanischen Geschichtsschreibung.⁶ Vielmehr sind sie in der Geschichte der Wissenschaft im Europa des 20. Jahrhunderts besonders dort anzutreffen, wo historische Zäsuren zwischen Diktatur und Demokratie auf die eine oder andere Weise überbrückt

 Vgl. Ulrich Pfeil (Hrsg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ö kumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008.

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werden mussten. Wie jüngere Arbeiten zur deutschen Wissenschaftsgeschichte in der Nachkriegszeit gezeigt haben, ist die Dissoziation von Wissenschaft und Diktatur nicht nur aufgrund ihrer Normativität problematisch. Den „Motiven innerfachlicher Traditionsbildung und Identitätssicherung“⁷ verpflichtet, diente sie auch dazu, die Spuren des Nationalsozialismus aus den wissenschaftlichen Biografien und der facheigenen Geschichte zu tilgen. Nur politisch und ideologisch stark kompromittierte Forschung wurde in den Bereich der ‚Pseudowissenschaft‘ verwiesen, was wiederum vielen Historikern die Möglichkeit gab, im Zuge ihrer Neuorientierungen die eigene ‚Wissenschaftlichkeit‘ als Ausweis intellektueller Autonomie und ideologischer Unbefangenheit auszulegen.⁸ Gleichwohl die spanische Transición der 1970er Jahre keine vergleichbare Zäsur darstellte, bleibt auch hier die Frage offen, inwiefern die nachträgliche Konstruktion eines fundamentalen Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Franco-Diktatur eine ähnliche Funktion erfüllte. Die mehr oder minder explizit oppositionelle Haltung, die viele Universitätsangehörige in den 1960er Jahren entwickelten, darf nicht die Tatsache ausblenden, dass wiederum viele andere ihr Wissen in den Dienst des Staates stellten und das technokratische Politikverständnis teilten, das das Franco-Regime in der Phase des desarrollo auszeichnete. Die Geschichtswissenschaft hatte ihren Status als Legitimationswissenschaft zwar verloren, dafür war aber das Wissen von Ökonomen, Ingenieuren oder Juristen umso stärker gefragt. Eine Untersuchung, die sich mit der „Verwissenschaftlichung der Politik“⁹ in Spanien im ‚Jahrzehnt der Entwicklung‘ befasst, mag nicht nur dazu beitragen, die Langlebigkeit eines trotz aller Erosionserscheinungen stabilen Franco-Regimes zu erklären. Eventuell würde sie auch ein deutlich engeres Verhältnis zwischen Wissenschaft und Diktatur offenlegen, als es die auf das Narrativ der ‚Rückkehr‘ aufbauenden wissenschaftshistorischen und biografischen Rückblicke suggerieren. Insbesondere aber müssten zukünftige Studien stärker als bisher darauf achten, die autobiografischen Konstruktionen nicht beim Wort zu nehmen und sämtliche Konflikte mit staatlichen Einrichtungen nicht zu eigensinnigen Beiträgen zur Destabilisierung eines Regimes zu stilisieren, das niemals gestürzt wurde. Das Narrativ der ‚Rückkehr nach Europa‘ überwölbt die Komplexität der Wechselbeziehung zwischen franquistischer Wissenschaftspolitik und spanischer (Geschichts)Wissenschaft. Als Imagination besitzt die ‚Rückkehr‘ allerdings  Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165 – 193, hier S. 188.  Vgl. Eckel: Geist der Zeit, S. 89 ff.  Vgl. den oben zitierten Aufsatz von Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. 168 – 193.

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eine eigene, wirkungsmächtige Geschichte. Manche Historiker wie beispielsweise Jordi Nadal und Josep Fontana formulierten noch vor der Auflösung des FrancoRegimes die Geschichte Spaniens als Geschichte eines ‚Scheiterns‘ auf allen Ebenen. Das „Paradigma des Scheiterns“, wie es Santos Juliá bezeichnet hat, erlebte allerdings erst ab Mitte der 1970er Jahre seinen Durchbruch. Ein Großteil der Geschichtswissenschaft erforschte im folgenden Jahrzehnt die Gründe dafür, dass die Geschichte Spaniens nicht den Weg der Industrialisierung, der Wissenschaft, der bürgerlichen Revolutionen und nicht zuletzt der liberalen Demokratie gefolgt war, sondern eine fast vierzig Jahre anhaltende Diktatur hervorgebracht hatte. Ein mit der deutschen Sonderwegsthese vergleichbar starkes Interpretament kristallisierte sich aus dieser Geschichtsschreibung zwar nicht heraus.¹⁰ Doch auch dort bildeten implizite Vergleichsfolien und vorausgesetzte Gleichzeitigkeiten die Grundlage für eine nationalzentrierte Geschichte, die den Ursprüngen der ‚Abweichung‘ nachging. Bemerkenswerterweise erfolgte daraufhin im Zuge der Festigung der Parteiendemokratie sowie des NATO- und EG-Beitritts (1982/1986) eine bedeutende Verkehrung jenes Paradigmas. Während die einen nach den Symptomen des ‚Scheiterns‘ gesucht hatten, stellte Mitte der 1990er Jahre derselbe Santos Juliá gegenüber seinen Fachkollegen selbstkritisch fest, dass „wir ein liberales Spanien erfunden [haben], das vielleicht in einem langsameren Rhythmus vorankam, als wir es uns gewünscht hätten, aber nichtsdestotrotz seit jeher der europäischen Zivilisation angehörig war und über Institutionen verfügte, die denjenigen unserer nächsten Nachbarn ebenbürtig waren.“¹¹ ‚Europa‘ bildete – und bildet – weiterhin die implizite Vergleichsfolie, um die Geschichte Spaniens diesmal nicht nach ihrem ‚Scheitern‘, sondern nach ihrer ‚Normalität‘ zu durchforschen. ‚Anomalie‘ und ‚Normalität‘ bleiben zwei Seiten der selben Medaille: Die Geschichtsschreibung greift auf ein imaginiertes ‚Europa‘ zurück und produziert unweigerlich – durch Negation oder Affirmation – ein nationalzentriertes Narrativ. Es bleibt offen, was geschehen würde, wenn nicht

 Vgl. Dieter Langewiesche: Der „deutsche Sonderweg“. Defizitgeschichte als geschichtspolitische Zukunftskonstruktion nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Horst Carl u. a. (Hrsg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 57– 65; Thomas Welskopp: Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 109 – 139.  Santos Juliá: Anomalía, dolor y fracaso de España, in: Claves de Razón Práctica 66 (1996), S. 49 – 51; auch Walther L. Bernecker verweist in der Schlussbetrachtung zu seiner Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert auf das Aufkommen dieses Narrativs seit den 1980er Jahren. Er bezeichnet diese Strategie als „retrospektive ‚Normalisierung‘“ der spanischen Geschichte. Vgl. Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, S. 332.

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nur der Vielfalt der historischen Erfahrung, sondern auch der offenen Semantik Rechnung getragen würde, die sich hinter dem Begriff ‚Europa‘ verbergen. Würde der verzerrte und verzerrende Spiegel ‚Europas‘ in seine Vielfalt zerbrechen, ließe sich die Geschichte nicht mehr ohne weiteres auf nationale Wege reduzieren und der Blick stünde offen für eine Geschichte jenseits nationaler oder regionaler Identitätskonstruktionen.

Verzeichnis der Abkürzungen ACCHS ACEHI AGA AGUN AMAE CAICT CEHI CSIC DCM DGRC EHM IHE ICH INI JAE PNEG SCI SDC UCAD

Archivo del Centro de Ciencias Humanas y Sociales (CSIC) Archivo del Centro de Estudios Históricos Internacionales Archivo General de la Administración del Estado (Zentrales Verwaltungsarchiv) Archivo General de la Universidad de Navarra Archivo del Ministerio de Asuntos Exteriores (Archiv des Außenministeriums) Comisión Asesora de Investigaciones Científica y Técnica Centro de Estudios Históricos Internacionales Consejo Superior de Investigaciones Científicas Departamento de Culturas Modernas (CSIC) Dirección General de Relaciones Culturales (Außenministerium) Estudios de Historia Moderna Índice Histórico Español Instituto de Cultura Hispánica Instituto Nacional de Industria Junta para Ampliación de Estudios Privatnachlass Emili Giralt Servicio de Cambio Internacional (CSIC) Servicio de Documentación Científica (CSIC) Unidad de Coordinación y Administración Documental (CSIC)

https://doi.org/10.1515/9783110532227-018

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abb. 1: Verteilung der Institutos und Patronatos des CSIC nach den Jahrhunderten, in denen ihre Namensgeber geboren wurden, 49 Abb. 2: Árbol de la Ciencia, Symbol des CSIC, 52 Abb. 3: Zusammensetzung des Ehrenbeirats (Consejo de Honor) des CSIC, 1940 – 1960, 105 Abb. 4: Symbol des Centro de Estudios Históricos Internacionales, 243

https://doi.org/10.1515/9783110532227-019

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen I Archivbestände Archivo del Centro de Ciencias Humanas y Sociales (CSIC) Fondo Patronato Menéndez Pelayo Fondo Instituto Jerónimo Zurita Archivo del Centro de Estudios Históricos Internacionales Fondo CEHI, Centro de Estudios Históricos Internacionales Fondo IHE, Indice Histórico Español Archivo del Ministerio de Asuntos Exteriores Fondo Dirección General Relaciones Culturales [Fondo Relaciones Culturales] Archivo General de la Administración del Estado Fondo Ministerio de Educación Nacional [Fondo Educación] (05)004, Consejo Superior de Investigaciones Científicas (05)001, Expedientes de personal Fondo Ministerio Información y Turismo [Fondo Información y Turismo] (03)013, Expedientes de censura Archivo General de la Universidad de Navarra Fondo Florentino Pérez Embid [Fondo Pérez Embid] Fondo José M. Albareda [Fondo Albareda] Fondo Rafael Calvo Serer [Fondo Calvo Serer] Fondo Manuel Lora-Tamayo [Fondo Lora Tamayo] Unidad de Coordinación y Administración Documental (CSIC) Protocolos de las reuniones del Consejo Ejecutivo Museu de les Cultures del Vi de Catalunya Fons documental Emili Giralt i Raventós (1927– 2008)

II Gedruckte Quellen A) Edierte Korrespondenzen Bosch i Gimpera, Pere/Olivar Bertrand, Rafael: Correspondència, 1969 – 1974, Barcelona 1978. Clara, Josep u. a. (Hrsg.): Epistolari de Jaume Vicens Vives, 2 Bde., Girona 1997 f.

https://doi.org/10.1515/9783110532227-020

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Quellen- und Literaturverzeichnis

http://www.abc.es/20101119/cultura/elliott-vicens-vives-transformo-20101119.html [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.aehe.net/vicensvives.html [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.casareal.es/ES/actividades/Paginas/actividades_actividades_detalle.aspx?data= 8582 [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.csic.es/web/guest/home [Stand: 8. 3. 2017]. http://www.rtve.es/alacarta/videos/imprescindibles/imprescindibles-manana/933561/ [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.tv3.cat/videos/2985370/Jaume-Vicens-Vives-Renovar-la-historia-construir-un-pais [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.tv3.cat/videos/2705310/Vicens-Vives-un-dels-grans-de-la-historia-economica [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.tv3.cat/videos/2706150/100-anys-del-naixement-de-lhistoriador-catala-VicensVives [Stand: 30. 6. 2017]. http://www.ub.edu/cehi, [Stand: 2. 5. 2015]. http://www.un.org/documents/ga/res/1/ares1.htm [Stand: 8. 3. 2017].

Dank Bei diesem Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Manuskripts, das im Sommersemester 2016 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen wurde. Es ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit an einem Forschungsprojekt, das in vielerlei Hinsicht einer Entdeckungsreise, wenn nicht gar einer Odyssee glich. Zwischen dem anfänglichen Dissertationsexposé und diesem Buch liegt ein Dickicht begangener Wege, darunter auch viele Sackgassen. Gleichwohl ich für jede einzelne Seite die volle Verantwortung trage, wäre diese Arbeit nie zustande gekommen, wenn ich nicht auf großzügige fachliche und nicht fachliche Unterstützung hätte zählen können. An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Jörn Leonhard danken, der die Arbeit hervorragend betreut und mir auch in schwierigen Zeiten stets ein großes Vertrauen in die Machbarkeit der Arbeit vermittelt hat. Ebenfalls dankbar bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, deren Kritik und Anregungen innerhalb und außerhalb der Lehrstuhlworkshops eine große Hilfe waren. Ich danke Prof. Dr. Sylvia Paletschek für die aufmerksame Lektüre der Dissertationsschrift und ihr Gutachten, das wertvolle Verbesserungsvorschläge für die Publikation enthielt. Mein größter Dank gilt auch Prof. Dr. Lutz Raphael, Prof. Dr. Jörg Baberowski und Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, die mein Manuskript in diese von ihnen herausgegebene Reihe „Ordnungssysteme – Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit“ aufgenommen und mir zudem sehr hilfreiche redaktionelle Hinweise gegeben haben. Auch möchte ich all jenen Fellows des FRIAS danken, die mir vor allem in den ersten Jahren des Projekts ein offenes Ohr schenkten und wertvolle Ratschläge gaben. Von den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken und Archive, die ich im Laufe der Jahre besucht habe, bin ich vor allem Olga Giralt zu besonderem Dank verpflichtet, da sie mir freundlicherweise den Nachlass ihres verstorbenen Vaters Emili Giralt zur Durchsicht überließ, noch bevor jener in ein offizielles Archiv überführt wurde. Ich danke ebenso Dr. Miquel Marín Gelabert, der mich zusammen mit Dr. Ignacio Peiró herzlich an der Universidad de Zaragoza empfangen und stets seine keineswegs selbstverständliche Hilfe angeboten hat. Dass ich zuletzt in München den nötigen Freiraum hatte, um die Arbeit zum Abschluss zu bringen, verdanke ich Prof. Dr. Xosé Manoel Núñez Seixas und seinem Team am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der LMU München, Dr. Lisa Dittrich, Emanuel Steinbacher, Lisa Leuschel und Sarafina Märtz. Was die Bewältigung der nicht unerheblichen Korrektoratsaufgaben angeht, bin ich vor allem Angelika Hofrichter und Maximilian Heumann zu behttps://doi.org/10.1515/9783110532227-021

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Dank

sonderem Dank verpflichtet. Dieser gilt auch Anna Catharina Hofmann, die nicht nur große Teile der Arbeit lektoriert, sondern ihr auch entscheidende gedankliche Impulse gegeben hat. Ebenso danke ich Michel Abeßer für die unzähligen fachlichen und vor allem freundschaftlichen Gespräche, und Bojena für ihre warmherzige Unterstützung und Geduld in den letzten Jahren. Zuletzt möchte ich Angelika, Luis Leopoldo, Elsa, Daniel, Luis, und auch Nora, Sofia und Elias danken, die mir je auf ihre eigene Weise den Halt gaben, der jenseits fachlicher Expertise für das Gelingen eines solchen Projekts unabdingbar ist.