Freiheit ohne Recht: Ein Beitrag zu Rousseaus Staatslehre [1 ed.] 9783428502813, 9783428102815

Beeinflußt von der Kritik an der formalen Rechtsidee und dem Lob des allgemeinen Gesetzes in Rousseaus Texten, verankern

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German Pages 285 Year 2001

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Freiheit ohne Recht: Ein Beitrag zu Rousseaus Staatslehre [1 ed.]
 9783428502813, 9783428102815

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 122

Freiheit ohne Recht Ein Beitrag zu Rousseaus Staatslehre Von

Jens-Peter Gaul

Duncker & Humblot · Berlin

Jens-Peter Gaul · Freiheit ohne Recht

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 122

Freiheit ohne Recht Ein Beitrag zu Rousseaus Staatslehre

Von Jens-Peter Gaul

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gaul, Jens-Peter:

Freiheit ohne Recht : Ein Beitrag zu Rousseaus Staatslehre / Jens-Peter Gaul. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 122) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10281-9

D 16 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-10281-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern, Heidi und Jochen Gaul

Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt die geringfügig überarbeitete und um zusammenfassende Thesen ergänzte Version eines Textes dar, der im Sommersemester 2000 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen worden ist. Mein Dank gilt vor allem meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Görg Haverkate, der den Fortgang der Arbeit stets in äußerst zuvorkommender Weise und mit großer Geduld begleitet und gefördert und das Erstgutachten angefertigt hat. Weiterhin zu danken habe ich Herrn Prof. Dr. Winfried Brugger, der freundlicherweise das Zweitgutachten übernommen hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Prof. Dr. Rainer Zaczyk, jetzt Trier, für zahlreiche Anregungen in der Studienzeit, und Herrn Dr. Stefan Huster, Heidelberg, für viele lehrreiche Gespräche in den letzten Jahren. Merzhausen, im Mai 2001

Jens-Peter Gaul

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Rousseau und das Recht

15

Erster

Teil

Geschichte und Glückseligkeit

26

1. Kapitel Geschichte I. Mensch und Zeit 1. Zukunft

26 26 27

a) Der Geschichtsprozeß

31

b) Historizität und Politik

39

aa) Niedergang

40

bb) Selbstentwürfe

47

cc) Staatskunst

49

2. Vergangenheit

52

a) Historiographie

52

b) Gestern - heute - morgen

55

aa) Tatsachen bb) „ . . . des humains comme nous..."

II. Die neue Polis

57 61

64

1. Von der Macht des Realen

66

2. Verborgene Geschichte

72

10

Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Glückseligkeit

I. Jenseits der Geschichte

78 81

1. Naturzustand

82

a) Natur vs. Geschichte

82

b) Was bleibt?

87

2. Wahres Glück

94

a) Grundlinien

95

b) Was ist „Glück"?

99

aa) Innere Ordnung

99

bb) Begegnung und Regel

103

Π. Exkurs: La Profession de Foi

Ill

1. Fakultative Metaphysik

112

2. Religion und Existenz

119

a) religion civile

120

b) Selbstschutz (I)

124

3. Anthropologische Konstanten

125

Zweiter

Teil

Freiheit ohne Recht

128

3. Kapitel Recht und Herrschaft I. Getrennte Welten 1. Vernunft

128 128 130

a) Begrenzte Einsicht

131

b) Intellekt und Natur

136

Inhaltsverzeichnis 2. Gefühl

141

a) Selbstverhältnisse

142

b) Zwei Chancen

146

aa) pitié

147

bb) conscience

154

II. L'Âge d'Or

156

1. Familie

157

a) Zuneigung

158

b) Freiheit

160

2. Moralität und Herrschaft

160

a) Zweifacher Haß

161

b) inégalité naturelle

167

4. Kapitel Der Weg nach innen I. Der Rechtsstaat 1. Die Quadratur des Kreises a) Privatinteressen b) „ . . . le vrai miracle ..." 2. Die Rechtsordnung a) liberté civile

176 177 177 177 183 186 187

b) Was ist „bürgerliche Freiheit"?

188

aa) Verhaßte Gemeinschaft

188

bb) Subjekt und Staat

192

(1) Heteronomie

192

(2) Repression

195

(3) Widerwille

200

12

Inhaltsverzeichnis

II. Die Tugendrepublik 1. Pflicht und Neigung

203 204

a) Die Restauration des Guten

204

b) „Autonomie" und Glück

213

2. Lieben und Hassen a) amour de la patrie b) Brüder III. Neue Unschuld 1. Jenseits der Tugend

217 218 221 223 224

a) Seelenqual

224

b) Niederlagen

227

2. Weisheit

230

a) Selbstschutz (II)

230

b) Gewohnheit und Erinnerung

233

aa) Wahre Verfassung

233

(1) coutumes

234

(2) Mauer und Spiel

235

bb) Am Ziel

241

Zusammenfassende Thesen

248

Literaturverzeichnis

254

Sachwortregister

273

Abkürzungsverzeichnis a.M.

am Main

Anm.

Anmerkung

Aufl.

Auflage

bzw.

beziehungsweise

d.h.

das heißt

d.i.

das ist

ders.

derselbe

dies.

dieselbe

ebd. Entspr./entspr.

ebenda

f.

folgende

ff.

fortfolgende

H.h.

Hervorhebung hinzugefügt

Entsprechend / entsprechend

H.i.O.

Hervorhebung im Original

Hrsg.

Herausgeber

i.E.

im Ergebnis

insb.

insbesondere

i.w.S.

im weiteren Sinne

Kap. m.N.

mit Nachweisen

Kapitel

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

Nr.

Nummer

o.a.

oder ähnliches / ähnlichem

S.

Seite(n)

sog. u.a.

sogenannte und andere

V.

von

Verf.

Verfasser

Vgl./vgl.

Vergleiche / vergleiche

Einleitung Rousseau und das Recht Rückblickend zählt der alternde Rousseau die zahlreichen Wanderungen seiner Jugendzeit zu den glücklichsten Erfahrungen seines Lebens. Er urteilt: „Nie habe ich so viel nachgedacht, nie war ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewußt, nie war ich sozusagen mehr ich selbst als auf den Reisen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe."1 Und über eine andere Wanderung heißt es: „Ich erinnere mich nicht, im ganzen Verlauf meines Lebens je so völlig frei von Sorgen und Mühen gewesen zu sein ( . . . )." 2 Eine dieser Reisen führt Rousseau nach Lyon, und auf dem Weg dorthin hat der junge Mann ein Erlebnis, das das „Glückshaus, das ich mir beim Wandern baute"3, einstürzen läßt.4 Als er bei einem Bauern um eine Mahlzeit bittet, erhält er zunächst nur „abgerahmte Milch und grobes Gerstenbrot"; erst später, nachdem der Mann Vertrauen gefaßt hat, wird der Wanderer mit Roggenbrot, Wein, Schinken und Eierkuchen bewirtet. Der ahnungslose Genfer erfährt nun von der beständigen Furcht des Bauern, der sein Anwesen verkommen läßt und seine Lebensmittel versteckt hält, damit die Steuereintreiber ihn für verarmt halten und unbehelligt lassen. Dieses Erlebnis konfrontiert den bis dahin unbeschwerten Rousseau erstmals mit einer fragwürdigen sozialen Ordnung und legt den „Keim jenes untilgbaren Hasses ( . . . ) gegen die Plagen, die das unglückliche Volk erträgt, und gegen seine Bedrücker ( . . . )." Hier also, lange vor der „Erleuchtung" von Vincennes, die die Tätigkeit als Autor initiierte, liegt der Ursprung der Auseinandersetzung mit einem Problem, das Rousseau Zeit seines Lebens begleiten und das Zentrum seines Denkens bilden sollte: eine Ordnung der Gesellschaft, in der für den Menschen ein gelingendes Dasein möglich ist.5 Konsequent wendet sich Rousseau später als Schriftsteller der Politik zu, an deren Schlüsselrolle für die Herstellung gelingender menschlicher Existenz er keinen Zweifel läßt.6 Er schreibt: „Ich hatte gesehen, daß alles im letzten Grunde auf die ι 2 3 4 5

Confess. IV 162. Confess. I I 61. Confess. IV 159. Vgl. zum Folgenden Confess. IV 163 f. (H.h.).

Vgl. Cassirer, Aufklärung, S. 205; Röhrs, Rousseau, S. 22; Rang, Rousseaus Lehre, S. 561, bezeichnet das Problem der Gesellschaftlichkeit und das der Liebesleidenschaft als die beiden großen moralischen Fragen Rousseaus. Rousseau selbst gibt dem Problem der Gesellschaftlichkeit den Vorrang (vgl. Confess. IX 430). 6 Treffend Cotta, Philosophie et politique, S. 174; Colletti, Rousseau, S. 79; Ducket, Anthropologie et histoire, S. 375: „Primat der Politik".

16

Einleitung: Rousseau und das Recht

Politik ankäme ( . . . )." 7 Der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Bedingungen der Staatskunst widmet Rousseau dann auch den Großteil seiner Schaffenskraft. So heißt es an der zitierten Stelle: „Von den verschiedenen Werken, an denen ich arbeitete, war das, mit dem sich meine Gedanken seit langem am meisten beschäftigten, das, an dem ich die meiste Freude hatte, an dem ich mein ganzes Leben arbeiten wollte und das, nach meiner Uberzeugung, meinen Ruf besiegeln sollte, meine »Politischen Einrichtungen 4." Als Rousseau aber erkennt, daß Zeit und Kraft nicht ausreichen, das gesamte Werk zu vollenden, entscheidet er sich nach eigenen Angaben dafür, den Contrat social fertigzustellen und den Rest zu vernichten.8 Es ist kein Zufall, daß die verbleibende Energie in einem Text gebündelt wird, dessen eigentliches Thema der Untertitel enthüllt: „Grundsätze des politischen Rechts".9 In der Tat will Rousseau das Problem der Gesellschaftlichkeit prinzipiell mit Hilfe des Rechts lösen, und in der Konzentration auf diesen Zusammenhang10 ist sein Denken zunächst vorbehaltlos der Anschauung seiner Zeit verhaftet.

L Im Konzept der Aufklärung finden die eigentümlichen Strukturen der Rechtstheorie in andere Fragestellungen Eingang und prägen die Form der Reflexion in fundamentaler Weise. Auch in Rousseaus Werk gibt es auf unterschiedlichen Ebenen zahlreiche Verbindungen dieser Art. Wenig augenfällig, aber geistesgeschichtlich umso wirkmächtiger ist etwa die in der Verwendung von Deduktion und Urteilsbegriff 11 liegende Beteiligung an der Verrechtlichung der Erkenntnistheorie, einer Disziplin, die sich im Zuge neuzeitlichen Denkens zunehmend von rechtstheoretischen Argumentationsmustern methodologisch bestätigt12 und zugleich herausgefordert 13 sieht. Eine ganz anschauliche Übernahme rechtlich gefaßter Formen dagegen repräsentiert der Rückgriff auf die Figur des imaginären Gerichtsprozesses. In allen wichtigen Rechtfertigungsschriften fordert Rousseau, den Nachweis der Wahrheit im Vollzug eines „Gerichtsverfahrens" zu erbringen. Rede und Gegenrede sollen den Richter - Staat, Gott, Publikum - überzeugen und den eigentlichen Sachverhalt ans Licht bringen. 14 Diese Haltung findet ihren stärksten 7 Confess. IX 399. 8 Vgl. Confess. X 508, IX 400; CS, Vorbericht 269. 9 Alle gebräuchlichen deutschen Übersetzungen geben „droit politique" (OC III 347) hier mit „Staatsrecht" wieder und unterlaufen damit die feine Trennlinie, die Rousseau zwischen „Staat" und „Polis" zieht. 10 Betont etwa von Clair, Rousseau et le droit, S. 304; Goldschmidt, Anthropologie et politique, S. 10; Groethuysen, Rousseau, S. 141. π Vgl. Emile IV 552-556. ι 2 Vgl. Brandt, Rechtsphilosophie und Aufklärung, S. 3 - 8 . 13 Vgl. Cassirer, Aufklärung, S. 326; Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 83. 14 Vgl. Beaumont 588 f.; Montagne I 12; Confess. I 9.

Einleitung: Rousseau und das Recht

Ausdruck im letzten großen Werk Rousseaus, im literarischen Prozeß der Dialogues, in dem der Verteidiger „Rousseau" mit dem die Öffentlichkeit repräsentierenden „Franzosen" über „Jean-Jacques", den Angeklagten, „richtet". Vor den Augen des Lesers entsteht dabei die Struktur eines echten Gerichtsverfahrens, das nach Zwiesprache von Anklage und Verteidigung im Freispruch „Jean-Jacques4 " endet.15 Doch die Rechtstheorie formt nicht nur das Denken im Zusammenhang rechtsexterner Problemfelder, sie emanzipiert sich als eigenständige Disziplin auch endgültig vom Primat theologischer Betrachtung und transportiert die ihr eigene Frage nach Grund und Inhalt des Rechts in die Diskussion. Rousseau greift diese Frage in einer Weise auf, die seiner Neigung zu extremer Darstellung exemplarisch Rechnung trägt. Dabei zeigt bereits der erste Zugriff auf den argumentativen Kontext, daß das Engagement des Autors hier Ablehnung und Begeisterung vereint. Rousseau wendet sich in grundlegender Weise gegen Wirklichkeit und theoretische Absicherung des Rechts im Ancien régime , in dem er gleichsam den Idealtypus einer historisch fortgeschrittenen Gesellschaft erblickt. In der Schrift über die Reform des polnischen Regierungssystems formuliert er eine durchaus modern anmutende Kritik am Rechtsbetrieb des 18. Jahrhunderts. Er beklagt lange Prozeßdauern, Gesetzesflut, Interessenjurisprudenz und die für den Bürger unverständlich komplexe Dogmatik des römischen Rechts „in den wustigen Kompilationen Justitians." 16 Das könnte hingenommen werden, wenn es der Beförderung einer gelingenden Existenz diente, allein - davon kann keine Rede sein. Für Rousseau zeigt das Recht der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft wie keine andere gesellschaftliche Einrichtung den Widerspruch zwischen dem nur scheinbar Richtigen und dem wahrhaft Guten auf. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird in rhetorisch eindrucksvoller Weise vorgestellt: „Ich schlage die Rechts- und Moralbücher auf, lausche den Gelehrten und Rechtskundigen und beklage, von ihren einschmeichelnden Reden durchdrungen, die elenden Zustände der Natur, ich bewundere Frieden und Gerechtigkeit, die von der zivilisierten Ordnung errichtet werden, ich segne die Weisheit der öffentlichen Einrichtungen und tröste mich darüber, ein Mensch zu sein, weil ich mich als Bürger sehe. Wohlunterrichtet über meine Pflichten und mein Glück schlage ich das Buch zu, verlasse das Schulzimmer und schaue um mich: da sehe ich unglückselige Völker unter einem eisernen Joch stöhnen, das Menschengeschlecht niedergemalmt von einer Handvoll Bedrücker, eine ausgezehrte, durch Pein und Hunger erniedrigte Menschenmenge, deren Blut und Tränen der Reiche in Frieden trinkt, und allenthalben erblicke ich den Starken mit der schrecklichen Macht der Gesetze wider den Schwachen gewappnet.4'17 Warum kann das geltende positive Recht ein gelingendes Dasein nicht sichern? Rousseau beantwortet diese Frage in der Entwicklungsgeschichte, die der Discours 15

Vgl. dazu Schröder, Einleitung, S. 36 f. 16 Pologne X 614. 17 Guerre 58. 2 Gaul

Einleitung: Rousseau und das Recht

18

sur V inégalité aufzeichnet. Als der historisch entstandene Verteilungskampf zwischen Armen und Reichen eine Dimension erreicht, die die Existenz der menschlichen Gattung gefährdet, schlägt der „kluge Reiche" die Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft vor. Zu diesem Zweck regt er den Abschluß eines Vertrags an, der die rechtliche Verfassung des sozialen Verbandes etabliert: „Laßt uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, denen nachzukommen alle verpflichtet sind, die kein Ansehen der Person gelten lassen und die in gewisser Weise die Launen des Glücks wiedergutmachen, indem sie den Mächtigen und den Schwachen gleichermaßen wechselseitigen Pflichten unterwerfen." 18 Nun ist formal Rechtsgleichheit hergestellt, doch Rousseau weiß: Die Rechtsgleichheit der bürgerlichen Gesellschaft ist „trügerisch und leer (...)[,] weil sich die öffentliche Macht mit dem Stärkeren vereint, um den Schwachen zu unterdrücken ( . . . )." 1 9 In der Tat: Die Reichen und Mächtigen entziehen sich dem Zwang des Gesetzes, zu ihren Gunsten wird das Recht gebeugt, die Wahrheit verdreht. 20 Schlimmer noch: Der Reiche beeinflußt nicht nur die Anwendung des Rechts, sondern auch den Inhalt zugunsten seiner Privatinteressen, er „hält das Gesetz in seinem Geldbeutel ( . . . )." 2 1 Das positive Recht dient ihm so als „Angriffswaffe und zugleich auch als Schild wider den Schwachen"22 und wird am Ende vom scheinbaren Garanten gelingender Existenz zum Instrument einer Unterdrückung, die schlimmer ist als die Gewalt des gesetzlosen Zustandes. Rousseau hat das den Genfern erklärt, als er über den Mißbrauch des Gesetzes schreibt: „Dann entsteht das Schlimmste aus dem Besten, und das Gesetz, das eine Stütze gegen die Tyrannei sein soll, ist schädlicher als die Tyrannei selbst."23 Rousseau unterzieht mit dieser Argumentation die formale Rechtsidee einer fundamentalen Kritik: Der Gerechtigkeitsgehalt des Rechts darf nicht reduziert werden auf eine von der Gestaltung der tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse unabhängige Konzeption. Die gesetzlich etablierte Gleichheit allein ist nichts, wenn sie keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat; sie ist dann nur scheinbare und vorgetäuschte Gleichheit, die den Sinn des Rechts in die Erhaltung der Ungerechtigkeit verkehrt. Solange Macht und Reichtum ungleich verteilt sind, wird das Recht als solches, als Wesen gesellschaftlicher Verfaßtheit, niemals Gerechtigkeit hervorbringen. „Der allgemeine Geist der Gesetze aller Länder zielt darauf ab, immer den Starken dem Schwachen gegenüber zu begünstigen, und den, der hat, gegenüber dem, der nichts hat: dieser Übelstand ist unvermeidlich und ausnahmslos"24, behauptet Rousseau. Dabei löst jedoch nicht jede materielle Unis Dsl 217. 19 Emile IV 487 f. 20 Vgl. Guerre 59. 21 22 23 24

Montagne IX 243. ÉP 244. Montagne VIII190 (vgl. auch Liberté 21). Emile IV 488 Anm. (ähnlich CS 19 [287 Anm.]).

Einleitung: Rousseau und das Recht

19

gleichheit die verderbliche Wirkung des Rechts aus, sondern nur eine solche, die die Möglichkeit der ökonomischen Abhängigkeit zwischen den Menschen schafft. 25 Kann der Reiche den Armen kaufen, und ist der Arme gezwungen, sich zu verkaufen, dann schreibt das Recht diese ungerechte Herrschaftssituation fest, dann gibt es „dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte ( . . . ) . " 2 6 Der „kluge Reiche" hat also mit Bedacht das Recht gewählt, um seinen Status zu sichern: wechselseitige, staatlich durchsetzbare Pflichten ohne Ansehung der Person - das ist der „allgemeine Geist der Gesetze", der sich in einer Situation extremer ökonomischer Ungleichheit im Unglück des sozial Schwachen entlädt. Rousseau sieht den Kampf um das richtige Recht für seine Zeit als verloren an. Nüchtern stellt er fest: „Die Gesetze und die Gerichtsbarkeit sind bei uns nur die Kunst, die Großen und die Reichen vor der gerechten Vergeltung der Armen zu schützen."27 Mit dieser Bestimmung des Gesetzes aber ist sichtbar, daß sich die aktuelle bürgerliche Gesellschaft aus dem Zusammenhang entwickelter Rechtsstaatlichkeit gelöst hat. Der soziale Verband ist bei genauer Betrachtung zu einer wahrhaft gesetzlosen Vereinigung geworden. Am Ende der gemeinsamen Reise sagt Emiles Tutor dann auch zu seinem Zögling: „Gesetze! Wo gibt es sie, und wo werden sie befolgt? Überall hast du unter diesem Namen nur das Privatinteresse und die Leidenschaft der Menschen herrschen sehen."28 Die Vorschriften, die jetzt gelten, sind nur noch „sogenannte Gesetze"29, deren Funktion sich darin erschöpft, offene Gewalttätigkeit zu verhindern. 30 Rousseau macht keinen Hehl daraus: Der Preis für diesen Frieden ist hoch. Im Discours sur V inégalité illustriert er die Etablierung des Gesetzes mit einem düsteren Bild: „ ( . . . ) selbst die Weisen sahen, daß es notwendig war, sich dazu zu entschließen, einen Teil ihrer Freiheit zur Erhaltung des anderen zu opfern, so wie ein Verwundeter sich den Arm abnehmen läßt, um den übrigen Körper zu retten." 31 Rousseau setzt der skizzierten Kritik am Recht der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft den Entwurf einer Gemeinschaft entgegen, in der das Gesetz eine ungleich positivere Rolle übernimmt. Auf der Grundlage sozialer und ökonomischer Homogenität tritt das Recht im historisch jungen sozialen Verband als Instrument kollektiver Selbstregierung auf, die jedem einzelnen Subjekt eine gelingende Existenz ermöglicht. Das allgemeine Gesetz wird hier zur Lösung des gesellschaftlichen Problems, indem es die friedenssichernde Wirkung der staatlich sanktionierten Regel nicht mit der Unterdrückung der Gesetzesunterworfenen erkauft, sondern die Kategorien von Freiheit und Gehorsam zwanglos vereint. 32 Die Herstel25 Vgl. CS I I 11 (311 Anm.). 26 Dsl 219. 27 FPIV 228. 28 Emile V 940 (vgl. auch CS IV 1 [358]). 29 Emile V 941 (vgl. OC IV 858: „simulacres de loix"). 30 Vgl. etwa Dsl 153 f.; Narcisse 160 f. 31 Dsl 219. 2*

20

Einleitung: Rousseau und das Recht

lung gelingender Existenz scheint dabei mit der Einführung der künstlichen normativen Ordnung abgeschlossen, und diese Einsicht entlädt sich in einem Hymnus auf das Gesetz, der selbst im dahingehend ohnehin passionierten Denken der Aufklärung 33 ohne Beispiel ist. Rousseau fragt: „Durch welche unbegreifliche Kunst hat man die Mittel ausfindig gemacht, die Menschen zu unterwerfen, um sie frei zu machen? Vermögen, Kräfte und selbst das Leben aller Glieder des Staates zum Dienste desselben zu verwenden, ohne sie zu zwingen und ohne sie zu Rate zu ziehen? Ihren Willen mit ihrem Einverständnis zu fesseln? Ihr Einverständnis gegen ihre Weigerung geltend zu machen, und sie zu zwingen, sich selbst zu bestrafen, wenn sie tun, was sie nicht tun wollten? Wie ist es möglich, daß sie gehorchen, und niemand befiehlt; daß sie dienen, und keinen Herrn haben? Daß sie wirklich freier sind, da bei einer scheinbaren Unterwerfung jeder nur so viel von seiner Freiheit verliert, als er den anderen damit schaden könnte?" 34 Die Antwort folgt unmittelbar und läßt in der Apodiktizität ihrer Formulierung keinen Zweifel am Exklusivitätsanspruch einer auf das Recht gegründeten Bewältigung des gesellschaftlichen Problems: „Diese Wunderdinge sind das Werk des Gesetzes. Einzig dem Gesetz haben die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit zu verdanken." Die gleiche Haltung kommt zum Ausdruck, wenn Rousseau an anderer Stelle betont: „Mit einem Wort, die Freiheit hat immer gleiches Schicksal mit den Gesetzen, sie regiert oder fällt mit ihnen; ich wüßte nichts Gewisseres zu sagen."35 Die Begeisterung für das richtige Recht scheint Rousseaus ganzes Denken zu durchziehen und alle Kategorien menschlicher Existenz zu erfassen. Nicht nur Leben oder Freiheit, sogar das „Glück eines jeden" 36 wird für ihn durch das Gesetz des guten sozialen Verbandes gesichert. Entsprechend firmiert dann auch das positive Recht der Cité regelmäßig als „göttliche Eingebung", „himmlische Stimme" oder „heilige Macht" 37 und suggeriert so die vollendete säkularisierte Imitation einer jenseitigen und damit perfekten Aufhebung intersubjektiver Problematik.

II. In dieser knappen Skizze ist eine zwiespältige Einschätzung des Rechts sichtbar, die sich kritisch auf den Rechtszustand der aktuellen politischen Gemeinschaften und affirmativ auf das Recht im Entwurf freiheitlicher Staatlichkeit bezieht. Rousseau selbst scheint diese Grenzziehung im Emile zu bestätigen. So heißt es bei der 32 Vgl. nur CS I 6 (280), III 13 (347). 33 Vgl. Goyard-Fabre, Sur quelques équivoques de la loi, S. 287; Carbonnier, La passion des lois, 1976. 34 ÉP 234 f. 35 Montagne VIII 189. 36 CS II 4 (293). 37 Vgl. zu Rousseaus Hymnus auf das Gesetz etwa ÉP 234 f.; Montagne VIII 188 f., IX 244; CS IV 6 (376); FPIV 224; CS-M I 7, OC III 309 f.; Pologne V I 585.

Einleitung: Rousseau und das Recht

Gegenüberstellung der abzulehnenden aktuell geltenden Gesetze mit den wahren Grundsätzen des politischen Rechts: „ ( . . . ) nichts in der Welt ist unterschiedlicher als diese beiden Gebiete."38 Die Rousseau-Rezeption hat sich diese Auffassung weitgehend zu eigen gemacht. Vor allem die scheinbare Glorifizierung der Synthese von Frieden und Freiheit durch das allgemeine Gesetz im sozialen Verband des Gesellschaftsvertrags ist in der Interpretation regelmäßig implizit, bisweilen aber auch ganz ausdrücklich übernommen worden. Unabhängig von der Schule der Auslegung und dem Charakter des endgültigen Urteils wird Rousseau zum Apologeten einer Haltung, die durch uneingeschränktes Vertrauen in das Potential des Rechts gekennzeichnet ist und die Möglichkeit einer Bewältigung des gesellschaftlichen Problems im Gesetz monopolisiert. In Rousseaus Denken „vollendet sich ( . . . ) alles in einem starren Legalismus des positiven Gesetzes"39, so hat man aus dieser Sicht nüchtern konstatiert, und emphatisch wird derselbe Befund reformuliert, wenn es heißt, „Rousseau magnifie la loi" 4 0 , wenn die Rechtsnorm als „crown of the community" 41 firmiert oder im Anschluß an die zitierte religiöse Terminologie als „image de Dieu" 4 2 erscheint und die „Erlösung" 43 des Menschen möglich macht. Die These von der Rousseau'sehen Apotheose des Rechts tritt schließlich sogar in der Formulierung auf, der Genfer Autor sei davon überzeugt, „in seinem Gesetzesbegriff als dem Ausdruck der volonté générale den Stein der Weisen ( . . . ) gefunden zu haben." 44 Auf der Basis dieser Annahme wird dann entweder referiert, Rousseau trage einen „Hymnus auf das Gesetz" vor, alle politischen Schriften seien von „stärkstem Enthusiasmus"45 für die Rechtsnorm durchdrungen, oder aber kritisch bemerkt, Rousseau rede einer bloßen Affirmation, mithin einer „ vorbehaltlosen Verherrlichung des positiven, vom Menschen gegebenen Gesetzes"46 das Wort. Es läßt sich zeigen, daß ein solches Verständnis des Rechts im Kontext der Rousseau'schen Staatslehre unzutreffend ist. Wird der Status des Gesetzes bei der Organisation politischer Gemeinschaft richtig bestimmt, dann erscheint das offenbare Bekenntnis zur Leistungsfähigkeit des droit positif weniger als Anerkennung der formalen Integration von Frieden und Freiheit, sondern eher als Würdigung einer subtilen katalytischen Funktion im historischen Zusammenhang subjektiver Metamorphose. Hintergrund dieser Erkenntnis ist die Einsicht, daß mit Blick auf

38 Emile V 912. 39 Holstein, Staatsphilosophie, S. 87. 40 41 42 43 44

Goyard-Fabre, Sur quelques équivoques de la loi, S. 295. Miller, Rousseau, S. 37. Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 531. Roellecke, Begriff des positiven Gesetzes, S. 57.

Denninger, Leviathan, S. 37 (H.h., H.i.O. entfernt). Vgl. Cassirer, Das Problem Rousseau, S. 25, 73; ders., Kant und Rousseau, S. 32; Ellenburg, Rousseau's Political Philosophy, S. 123. 46 Reibstein, Rousseau, S. 199 (H.h., H.i.O. entfernt). 45

22

Einleitung: Rousseau und das Recht

Glück und Freiheit des Menschen jeder Form institutionell etablierter Rechtsetzung eine unvermittelt wirksame Schwäche inhärent ist, die über die referierten Einwände gegen die Reduktion des Gerechtigkeitsgehalts auf ein formales Konzept weit hinausgeht und die staatlich sanktionierte Norm als selbständige Ursache mißlingender Existenz vorstellt. Rousseaus Haltung zum Recht ist also in der Tat zwiespältig, doch sie ist es nicht in erster Linie in einem Sinne, der zwischen ungerechtem und gerechtem Recht unterscheidet und einer tadelnswerten Wirklichkeit die Vision einer besseren Verwendung des Rechts gegenüberstellt. Rousseau sieht das Recht an sich, als Ausdruck staatlichen Handelns und Form äußerer Verfaßtheit menschlicher Sozialität, nicht als etwas Neutrales an, dessen gute oder schlechte Wirkung subjektiver Disposition überlassen ist. Er begreift es vielmehr als Möglichkeit der Organisation gemeinschaftlichen Seins, die schlechthin zugleich Chance und Gefahr, zugleich gelingende Existenz und menschliches Elend repräsentiert. Diese Einschätzung aber bezieht sich auch und gerade auf die wahre Fassung des politischen Rechts, auch und gerade auf das Recht in Rousseaus eigenem Konzept perfekter sozialer Strukturen. Erst aus dieser Perspektive gewinnt die intuitiv naheliegende Kennzeichnung des droit politique als ambivalent ihren tieferen, eigentlichen Sinn.

III. Die mangelnde Einsicht in die verdeckte Ambivalenz des Rechts ist Ausdruck einer verzerrten Vorstellung vom inneren Zusammenhang des Rousseau'schen Staatskonzepts, die regelmäßig aus einem impliziten oder ausdrücklichen Mißverständnis der philosophischen Anthropologie und ihrer Beziehung zur politischen Philosophie resultiert. Dabei werden die Staatslehre und eine von Rousseau besonders hervorgehobene Analyse der condition humaine 47 selten vollständig entkoppelt 48 , denn die im Discours sur V inégalité vorgetragene genetische Rekonstruktion der aktuellen sozialen Befindlichkeit des Subjekts ist in evidenter Weise Basis der Auseinandersetzung mit den Formen rechtlich verfaßter Gemeinschaft. 49 Das eigentliche Problem liegt vielmehr zum einen in der inkonsequenten Realisierung anerkannter anthropologischer Befunde auf der Ebene des Politischen, zum anderen aber in der fundamentalen Verkennung der condition humaine selbst. Dieses doppelte Versäumnis vereitelt im Hinblick auf die Theorie des Staates die Integra47 Vgl. Dsl 43, 67; Emile I 116 (vgl. OC IV 252: „condition humaine"; Original unglücklich: „Stellung der Menschen im Leben"). 48 So dem Grunde nach etwa bei Brandt, Rousseaus Philosophie, S. 53-57, passim; Vaughan, Political Writings, S. 14, passim. 49 Soweit treffend etwa Broome, Rousseau, S. 34; Ermacora, Staatslehre, S. 118; Maluschke, Grundlagen des Verfassungsstaates, S. 69; Müller, Korporation und Assoziation, insb. S. 44, 49, 51; Neumann, Herrschaft des Gesetzes, S. 151 f.; Schefold, Rousseaus doppelte Staatslehre, S. 337; Tubach, Perfectibilité, S. 146.

Einleitung: Rousseau und das Recht

tion zweier wesentlicher Kennzeichen subjektiver Verfassung: des Strebens der Menschen nach Glück und der existentiellen Verankerung ihres Daseins in der Kategorie der Geschichte. Die notwendige Orientierung auch der Staatslehre an der félicité de Γ homme wird in der Rezeption überwiegend zugunsten einer Ausrichtung am Begriff der Freiheit geleugnet. Hintergrund ist im allgemeinen der im Contrat social unternommene, prima facie traditionell konzipierte Versuch einer Synthese von Herrschaft und Selbstregierung, der dazu bewegt, die liberté de V homme als Bezugspunkt der politischen Philosophie50 oder gar Essenz des Rousseau'schen Denkens schlechthin zu deklarieren. 51 Folge dieser Haltung ist in der Regel, daß die Kategorien von Glück und Freiheit im Kontext der Cité entweder gar nicht in einer entwickelten Beziehung verankert, sondern kommentarlos nebeneinander gestellt bzw. implizit in eins gesetzt werden, oder aber anhand eines bestimmten Vorverständnisses (vertu als Substanz der Polis) zu Lasten des bonheur individuel in ein Exklusivitätsverhältnis treten. 52 Noch problematischer für die Auslegung des Staatskonzepts aber ist die Negation des Historischen, die dem Grunde nach aus der unglücklichen Unterstellung einer als ,rudimentär" 53 , „spekulativ" 54 oder gar „romantisch" 55 apostrophierten Geschichtsphilosophie resultiert. Wenn Rousseaus gesellschaftliche Lehre begriffen wird als „utterly uninterested in history" 56 und geprägt von einer „perspective anti-historiciste" 57, dann kann insbesondere dem Entwurf des Contrat social eine geschichtliche Indifferenz bescheinigt werden, die ihn in Abgrenzung zu einer pragmatischen politischen „science " als gleichsam a priori entworfene 58, reine 50 So ausdrücklich etwa Ansart-Dourlen, Dénaturation et violence, S. 98; Ellenburg, Rousseau's Political Philosophy, S. 132; Eisenmann, La cité de Rousseau, S. 195; Lacharrière, Rousseau: interprétation et permanence, S. 480; Tinland, La liberté selon Rousseau, S. 74, passim. 51 In diesem Fall steht der Begriff dann ohne unmittelbare Einordnung in eine Denktradition im Zentrum der Argumentation (vgl. nur Miller, Rousseau, S. 166, passim; Wokler, Rousseau et la liberté, S. 205, passim) oder eröffnet mit Hilfe eines extern inspirierten Vorverständnisses eine völlig eigenständige Linie der Auslegung (für die idealistische Rezeption ganz ausdrücklich zuerst Hegel, Geschichte der Philosophie, S. 306-308). 52

So mit unterschiedlicher Betonung etwa Ansart-Dourlen, Dénaturation et violence, S. 128-136; Collinet, L'homme de la nature, S. 149; Ellenburg, Rousseau's Political Philosophy, S. 121; Gildin, Rousseau's Social Contract, S. 9 f., 12, 29, 84; Hubert, Les sciences sociales, S. 198; McManners, Social Contract, S. 307; Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 429 f.; Shklar, Men and Citizens, insb. S. 3 - 32,193 -197; Steinvorth, Stationen der politischen Theorie, S. 105. 53

Vgl. Röhrich, Sozialvertrag, S. 43; Willms, Die politischen Ideen, S. 51. Vgl. Cranston, Jean-Jacques, S. 243; Ellenburg, Rousseau's Political Philosophy, S. 145; Starke, Weltbild der Aufklärung, S. 272. 55 Vgl. Menger, Verfassungsgeschichte, S. 83. 56 Shklar, Men and Citizens, S. 1. 57 Payot, Essence et temporalité, S. 267. 54

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Einleitung: Rousseau und das Recht

„Philosophie" 59 und damit als Bestandteil der Tradition neuzeitlich-rationalistischer Vertragstheorien 60 ausweist. Konsequent wird seine innere Struktur prinzipiell als Ausführung abstrakt-logischer Deduktion betrachtet 61 und schließlich jede programmatische Beziehung von Rousseaus politischem Denken zur konkreten geschichtlichen Welt bestritten: Die Lehre des Gesellschafts Vertrags hat hier reinen Modellcharakter und erhebt keinerlei Anspruch auf eine Umsetzung unter realen gesellschaftlichen Umständen.62

IV. Die skizzierte Problematik bestimmt das Programm dieser Untersuchung. In ihrem ersten Teil geht es wesentlich darum, sich der behaupteten Kennzeichen Rousseau'scher Anthropologie zu versichern. Hier wird das Subjekt der politischen Theorie als homo historicus gedeutet und in dieser Eigenschaft zum grundlegenden Element eines Staatsmodells erhoben, das mit seiner Zuwendung zur Wirklichkeit der Geschichte die Tradition der ahistorisch-abstrakten Vertragstheorien überschreitet. Daneben erinnert der Text gegen die Fixierung auf das Freiheitsproblem die menschliche Glückseligkeit als Maßstab auch der Staatslehre und stellt den Begriff in seinen konstitutiven Elementen vor. Der zweite Teil der Untersuchung wendet sich der eigentlichen politischen Theorie zu. Er befragt zunächst die Kategorien von Recht und legitimer Herrschaft im Kontext einer historisch determinierten Realität auf die Bedingungen ihrer Realisierung, bevor in der abschließenden Analyse des politischen Projekts das zuvor Entwickelte aufgenommen wird. Die konsequente Rekonstruktion des gesellschaftlichen Entwurfs aus der Perspektive der anthropologischen Grundtatsache (Streben nach Glück) macht dabei die innere Struktur der in Rede stehenden Staatslehre einsichtig und läßt die behauptete verdeckte Ambivalenz des Rechts hervortreten. Der nun sichtbare Zusammenhang der 58 Vgl. etwa Del Vecchio, Grundgedanken Rousseaus, S. 57; Goldschmidt, Anthropologie et politique, S. 349 f.; Mornet, Rousseau, S. 6, 111, 120. 59 Vgl. etwa Levine, Politics of Autonomy, S. 121, Anm. 8; Levin, Vaughan's interpretation, S. 526. 60 Vgl. etwa Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 99; Burkert-Wepfer, Sehnsucht nach dem Schönen, S. 210; Heller, Staatslehre, S. 30; Hirsch, Rousseaus Geschichtsphilosophie, S. 239 f.; Imboden, Rousseau und die Demokratie, S. 18, 23 f.; Kersting, Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 150; Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 429. 61 Vgl. etwa Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 38; Brandt, Droit et intérêt, S. 114; Fleiner-Gerster, Staatslehre, § 2, Ziffer 6; Lacharrière, Rousseau: interprétation et permanence, S. 472; Levine, Politics of Autonomy, S. 4; Marek, Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie, S. 172, 174; Meinecke, Historismus, S. 187; Schmidt-Aßmann, Verfassungsbegriff, S. 62. 62 Vgl. etwa Bourguin, Les deux tendances, S. 368; G. Kelly, Rousseau, Kant, and history, S. 351; Shklar, Men and Citizens, S. 17; Starobinski, Rousseaus Anklage, S. 23; Weil, Rousseau et sa politique, S. 17; Ziegenfuß, Rousseau, S. 197, passim.

Einleitung: Rousseau und das Recht

politischen Philosophie weist insbesondere die Rousseau unterstellte kritiklose Hochschätzung des Gesetzes als wenig plausibel aus und rechtfertigt so am Ende die bewußt plakativ verkürzte, in traditionell staatsrechtlichen Kategorien formulierte Rede von einer „Freiheit ohne Recht".

Erster Teil

Geschichte und Glückseligkeit

1. Kapitel

Geschichte Das politische Problem ist ein Gegenstand der Realität, und diese Sichtweise bedingt auch das Verständnis des Rechts, das in der Lösung des Problems eine so große Rolle spielen soll. Rousseau hat diese Haltung nicht ohne weiteres einnehmen können. Seine rechtstheoretische Hauptschrift, der Contrat social gibt Zeugnis von den Schwierigkeiten, denen die Antizipation einer Uberwindung der abstrakt-ungeschichtlichen Vertragstheorien des rationalistischen Naturrechts in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausgesetzt war. Rousseau läßt sich dennoch auf dieses Unternehmen ein, denn er glaubt, daß der Begriff des Rechts sich nur in einer konkreten historischen Betrachtungsweise erschließt. Mit diesem Ansatz wendet er sich der Geschichte zu, die er in einem Zeitalter, das historischen Zusammenhängen vergleichsweise indifferent gegenübersteht, als existentiell bedeutsame Kategorie menschlichen Daseins entdeckt.

I. Mensch und Zeit Auch wenn der Zugang der Aufklärung zur Geschichte im Grundsatz längst anerkannt ist 1 , so trennen das 18. Jahrhundert doch Welten von der Ausbildung eines wirklichen historischen Bewußtseins. Dessen Substanz läßt sich prägnant so zusammenfassen: Die Realität ist kein stabiles Medium, sondern eingebettet in eine Dynamik, der das Subjekt weder auf der begrifflichen noch auf der existentiellen Ebene entrinnen kann. Kurz, die Wirklichkeit ist historisch bestimmt, und diese Bestimmung ist eine totale.2 Die Philosophie des 18. Jahrhunderts nähert sich die1

Vgl. etwa Bödeker/u.a., Aufklärung und Geschichtswissenschaft, S. 9 f., 15-21; Cassirer, Aufklärung, S. 263-312; Dilthey, Das achtzehnte Jahrhundert, S. 217-268; Kondylis, Aufklärung, S. 421 -468; Meinecke, Historismus, S. 74-196. 2 Vgl. Muhlack, Geschichtswissenschaft in der Aufklärung, S. 414.

1. Kap.: Geschichte

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ser Auffassung, doch sie bleibt gleichsam auf halbem Wege stehen. Deutlich wird das in den Schriften Voltaires, insbesondere dem Essai sur les moeurs et l'esprit des nations et sur les principaux faits de Γ histoire. Dieser Text, an dem Voltaire von 1741 bis zu seinem Tod im Jahre 1778 immer wieder arbeitet 3, bildet gewissermaßen die Summe des Geschichtsverständnisses im Denken seiner Zeit. In ihm tritt der Glaube hervor, ein transhistorisch konzipiertes Subjekt könne die Zukunft vollständig kontrollieren und die Vergangenheit stets auf Distanz halten. Rousseau erkennt, daß die Aufklärung durch diesen Versuch, sich dem Totalitätsanspruch der Geschichte zu entziehen, an einer wahren Gewinnung des Historischen scheitert. Er stellt daher 1755 im Discours sur V inégalité ein Konzept vor, das dieses Defizit beheben soll. Die genannte Schrift entwirft eine umfassende, dynamisch-komplexe Beziehung von Subjekt und Geschichte, die Rousseau aus der Perspektive eines entwickelten historischen Bewußtseins in der Tat als „the first to discover »history 4 " 4 erscheinen läßt.

1. Zukunft Im Frankreich des Ancien régime erlaubt die kulturelle Omnipräsenz des absolutistischen Herrschaftssystems zunächst nur die tradierte Form „offizieller" Historiographie, deren Funktion sich in der Affirmation des Bestehenden durch eine chronologisch geordnete Wiedergabe politischer Ereignisse erschöpft. Gegenstand dieser Geschichtsschreibung ist im wesentlichen Aufstieg und Fall der Staaten und der sie verkörpernden, gleichsam übermenschlichen Führerfiguren. Erst im Zuge der beginnenden Emanzipation einer vom Staat unterschiedenen, potentiell kritischen „Gesellschaft" wird das Element der Herrschaft als eines unter vielen in den Kanon geschichtsrelevanter Objekte integriert. Voltaire folgt diesem Prozeß und wendet den Blick auf den kulturellen, sozialen und insbesondere auf den geistigen Wandel des Menschen, der für ihn die Essenz des Historischen schlechthin repräsentiert.5 So gründet sich dann auch der Essai sur les moeurs auf den zentralen Gedanken: „Geschichte" ist stets die Entwicklung des menschlichen Geistes (der Vernunft), Geschichtsschreibung ihre Dokumentation.6 Wie kommt Voltaire zu dieser Bestimmung? Ausgangspunkt der Argumentation ist eine spezifische Beziehung von Subjekt und Historie, deren Prinzip sich schon im Zuge der gedanklichen Überwindung des scholastischen Weltbildes konstituiert hat. Die naturwissenschaftlich initiierte und in der cartesischen Isolierung aus jedem ontologisch vorgängigen Zusammenhang vollendete Etablierung menschli3 Vgl. Pomeau, Introduction, S. II-XVIII. 4

Melzer, Natural Goodness, S. 50. Lettre à de Tott (23/ 04/1767), S. 1100: „La véritable histoire est celle des moeurs, des lois, des arts et des progrès de l'esprit humain." 6 Essai sur les moeurs (Supplément [II]), S. 904: „L'objet [des Essai sur les moeurs ; Verf.] était l'histoire de l'esprit humain ( . . . )." 5

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

eher „Autonomie" versetzt das Subjekt in einen eschatologisch indifferenten Raum und hebt darin die Vorstellung des Historischen als einer unantastbaren, theologisch als „Heilsgeschichte" präjudiziellen Zeitenfolge auf. Das Dasein wird auf diese Weise zunächst gleichsam geschichtslos und drängt auf die Konstituierung eines neuen lenkenden Faktors. Der selbständig gewordene Mensch füllt dieses ideologische Vakuum aus, indem er sich in einem instrumentalen, theologisch überformten Sinne kraft besserer Einsicht zum Vollender der Geschichte erklärt. 7 Die säkularisierte Reformulierung des biblischen Projekts, das eine Unterwerfung der Schöpfung vorsieht, erweist sich allerdings als problematisch, denn sie rekurriert auf die intellektuell gesteuerte, wissenschaftlich vermittelte Gewinnung von Herrschaft über die Natur. Die Legitimation für eine Beschäftigung mit der Ebene des bloß Sinnlich-Körperlichen kann auf der Basis des neuen Weltbildes aber nicht mehr, etwa in thomistischer Wendung, in der Vertiefung göttlicher Anschauung gefunden werden. So bleibt nur der Rückgriff auf den mit Hilfe quantitativer Erfassung der Physis erbrachten Nachweis sicherer Einsicht in die Regeln der Körperwelt, der sich methodologisch auf die schon in der Scholastik weitgehend unbestrittene These stützen kann, die Mathematik ermögliche die höchste Gewißheit der Erkenntnis. Auf diese Weise wird die Untersuchung des Materiellen gleichsam in den Rang des Intelligiblen (des kraft cogito zu Wissenden) gehoben und damit als ein würdiger Gegenstand der Aufmerksamkeit ausgewiesen. Eine so betriebene Rehabilitation des Sinnlich-Körperlichen aber stellt erst das Medium bereit, über das sich eine geschichtskonstitutive Macht des Menschen realisieren kann. Die Aufklärung kann diese Argumentation nicht ohne weiteres übernehmen, denn ihr wird ein Prinzip des naturwissenschaftlichen Modells zum Problem. Sie sieht: Die cartesische Spaltung transportiert stets ein strukturell konservatives Element, indem sie in der Trennung von res cogitans und statisch-passiver Natur den christlich-platonischen Dualismus von intelligibler und sinnlich-inferiorer Welt reproduziert. Die Aufwertung des Materiellen vollzieht sich hier nur innerhalb der gedanklichen Grenzen des Modells, denn die Anwendung der Mathematik auf die Physis schreibt die Gegenüberstellung von herrschendem Mensch und erkannter Natur fest. Die inzwischen eingesehene Naturhaftigkeit des Subjekts selbst aber verlangt nun eine ontologische Besserstellung des Sensiblen, die die naturwissenschaftlich interessierte prinzipiell überschreitet. Sie resultiert wesentlich in einer Überwindung der substantiellen Dichotomie zugunsten einer (quasi-)monistischen Konzeption, in der sinnliche Befangenheit und rationale Freiheit des Menschen im neuen Totalitätsanspruch der einen „Natur" aufgehen. In der Geschichtsphilosophie der Aufklärung nun erhält das Problem einer autonomen Machbarkeit des Historischen durch diese radikale Verschiebung der Gewichte einen neuen Schwerpunkt. Nicht Gott ist der Autor der Geschichte, soviel ist sicher, doch die Aufwertung des Sinnlichen und die mit ihr verbundene Einsicht in den Einfluß externer Faktoren auf das Subjekt evoziert die Frage, wie sehr sich 7

Gegenwärtig etwa noch bei Hobbes, Leviathan, Rückblick und Schluß, S. 541 f.

1. Kap.: Geschichte

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der Mensch in seinem (eigentlichen) Wesen der formenden Eigendynamik des historischen Materials entziehen kann. In Rousseaus Worten: Wie ist „zu unterscheiden, was die Spielarten desjenigen ausmacht, was der Gattung wesentlich ist" 8 ? Voltaires Argumentation setzt am Begriff der menschlichen Natur an und versieht ihn mit Prädikaten, durch die er sich aktiv gegenüber der Geschichte bewähren soll. Der erste Schritt des Gedankengangs wird in Kapitel 143 des Essai sur les moeurs gut erkennbar. Voltaire registriert hier, daß Sitten, Gebräuche und Anschauungen bei verschiedenen asiatischen Völkern differieren und zudem von der europäischen Norm abweichen. Dieser Befund wird nun zum Anlaß genommen, eine absolute menschliche Natur von geschichtlich variablen Manifestationen des Daseins abzugrenzen: „Tout ces peuples ne nous ressemblent que par les passions, et par la raison universelle qui contre-balance les passions ( . . . ) . Ce sont là les deux caractères que la nature empreint dans tant de races d'hommes différentes, et les deux liens éternels dont elle les unit, malgré tout ce qui les divise. Tout le reste est le fruit du sol de la terre, et de la coutume."9 Der Mensch kann der Geschichte also ein Wesen entgegenhalten, das Orte und Zeiten in seiner Universalität material transzendiert. Überall und in jeder Epoche werden die Menschen von den gleichen Leidenschaften (d.i.: die Selbstliebe in ihren Modifikationen) angetrieben und von der einen und gleichen Vernunft gemäßigt.10 Mit Hilfe der hier vorgestellten Konzeption gewinnt Voltaire zunächst einen argumentativen Standpunkt jenseits der Geschichte, der im Kontext einer Verhältnisbestimmung sogleich polemische Qualität erhält. Das Wesen des Menschen ist immer schon das eine und gleiche, während „Geschichte" nur als Schauplatz des Empirisch-Akzidentiellen firmiert. Das Wertungsgefälle tritt hervor, wenn die rhetorische Diminution des gesamten soziokulturellen Zusammenhangs („tout le reste") die Wirkmächtigkeit der Geschichte zur bloßen Ornamentik menschlicher Existenz degradiert. Die ontologische Priorität der menschlichen Natur hebt das Subjekt also über die Vergänglichkeit der besonderen geschichtlichen Realisation heraus. Mit der Annahme dieser Überlegenheit aber ist das Verhältnis von Mensch und Geschichte auch für die Kategorie des Handelns bestimmt. Das Historische „macht" den Menschen im Bereich des Akzidentiellen, indem es die kulturelle Erscheinung seines Daseins mit Hilfe von Klima und Gewohnheit formt. Umgekehrt aber firmiert das Subjekt in seiner wesenhaften Unveränderlichkeit als tätiger Ausgangspunkt des Variablen, denn die Geschichte muß sich dem Vollzug seiner leidenschaftlichen oder rationalen Entschlüsse beugen, ohne ihrerseits die Fundamente menschlichen Daseins verändern zu können. Der Mensch folgt also der Eigendynamik des Historischen nur an der Oberfläche seiner Existenz, im übrigen stellt er die Geschichte her in der handelnden Realisierung seiner historisch resistenten Natur.

s NH, 2. Vorrede 9. 9 Essai sur les moeurs, Band 2, Kap. CXLIII, S. 321 (H.h.). 10 Vgl. nur Essai sur les moeurs, Band 1, Introduction IV, S. 11, VI, S. 18, VII, S. 25.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

Nun zeigt sich allerdings, das Voltaire es bei einer formalen Bestimmung geschichtskonstitutiver Macht nicht belassen will. Der bloße Vorrang qua anthropologischer Konstanz macht nämlich noch keine Aussage darüber, welche moralische Qualität die jeweilige Veränderung hat. Dieser Aspekt aber erweist sich als problematisch, wenn mit Blick auf den Dualismus menschlicher Disposition der reale geschichtliche Zusammenhang analysiert wird. Hier zeigt sich, daß die Dominanz des Irrationalen nicht nur als methodologische Annahme zur Formulierung des moralischen Problems auftritt, sondern auch in der Geschichte konkret verifiziert werden kann. „Uinstinct, plus que la raison, conduit le genre humain" 11 , räumt Voltaire ein, und dieser Befund macht den menschlichen Einfluß auf die Historie in dieser Form zu einem unkalkulierbaren Faktor. Dabei geht es nicht um die noch bei Vico gegenwärtige Vorstellung einer produktiven, aber blinden Leidenschaft, in der Gestaltung und objektiv vorgesehener, d.h. gesetzmäßiger Selbstvollzug der Geschichte bis zur UnUnterscheidbarkeit koinzidieren. Für Voltaire ist fraglos, daß der ontologisch aufgewertete sinnliche Impetus in vollem Umfang steuernd-planenden Charakter hat. 12 Wechselnd jedoch muß die moralische Qualität leidenschaftlichen Handelns beurteilt werden, denn es verwirklicht keineswegs nur, aber regelmäßig auch das Böse.13 Voltaire sieht also: Damit das Gute wirklich wird, muß innerhalb der menschlichen Natur selbst die Vernunft des Subjekts gegen seine Triebstruktur gewendet werden. Allein die Rationalität ermöglicht mit Gewißheit die gute Überschreitung der Gegenwart, die Produktion von sittlich positiver Zukunft. Auf diese Weise gewinnt nun das Historische eine zweite, teleologische Dimension. Es wird zum Träger einer vollständigen Realisierung der apriorischen menschlichen Natur, die als Gutes, mithin als Norm zu denken ist. Da ein Blick auf die deskriptive Ebene der Geschichte gezeigt hat, daß die Leidenschaften des Subjekts bereits entfaltet sind, während das sie mäßigende Potential der Vernunft noch gebunden ist, konzentriert sich das normative Programm auf den rationalen Aspekt menschlicher Natur. Die Vernunft ist es, die sich durchsetzen soll, die gleichsam fortschreiten muß, damit die Asymmetrie des Faktischen im Sinne der Aufklärung korrigiert wird. Seine theoretische Fassung hat dieses Programm Mitte des 18. Jahrhunderts in einer selbständigen Lehre vom „Fortschritt" erhalten. Sie beruht auf dem Glauben an eine produktive „Autonomie" der Vernunft, die dem geschichtlichen Prozeß den Charakter des Unbedingten verleiht: Die Rationalität soll nicht nur, sie wird auch zu sich kommen. Dieser eschatologische Optimismus projiziert ein „Reich der Vernunft" an den Horizont menschlicher Geschichte. Voltaire schreibt: „On voit dans l'histoire ainsi concu les erreurs et les préjugés se succéder tour à tour, et chasser la vérité et la raison. On voit les habiles et les heureux enchaîner les imbéciles, et écraser les infortunés ( . . . ) . Les sociétés parviennent avec le temps à rectifier leurs 11

Essai sur les moeurs, Band 1, Introduction XI, S. 41. Vgl. etwa Traité de métaphysique VIII, S. 470. 13 Vgl. etwa Stance 1, S. 532; Zadig XVIII, S. 112. 12

1. Kap.: Geschichte

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idées; les hommes aprennent à penser." 14 Die so hergestellte Kontinuität der normativen Historie kompensiert dann selbst den für die Aufklärung intuitiv evidenten Rückgang des Rationalen im theologisch dominierten Mittelalter und erweist sich gerade in dieser Differenz zur Faktizität der Geschichte als verläßliche Konstante: Unbeeindruckt von der Dynamik des Partikularen bewegt sich der soziale Zusammenhang auf ein umfassend als „besser" (vernünftiger) begriffenes Dasein zu, in dem Zivilisierung der Existenz und Moralisierung des Subjekts zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen.15 In dieser Perspektive wird einsichtig, daß die Bedeutung der deskriptiven historischen Ebene sich nur als Reflex des Normativen konstituiert. Aus diesem Grund ist „Geschichte" eben im wesentlichen als Forum geistiger Aktivität von Interesse. Die Historiographie folgt diesem Programm: Sie zeichnet unter Verzicht auf einen materialen Gegenstand den Prozeß rationaler Selbstbefreiung von Vorurteil und Täuschung nach. Rousseau hält das skizzierte Konzept der Geschichtsbetrachtung für undifferenziert und setzt ihm ein eigenes entgegen, das zunächst formal in zeittypischer Weise den Gestus des Geschichtlichen adaptiert. Die vorgetragene historische Rekonstruktion aber, die den Menschen von einem ursprünglich-tierhaften Zustand bis zu einem Stadium jenseits der aktuellen Gesellschaft führt, fördert eine Struktur zu Tage, in der Mensch und Geschichte in eine wirkliche, eigentümlich schicksalhafte Wechselbeziehung geraten.

a) Der Geschichtsprozeß Der Geschichtsprozeß im weiteren Sinne zerfällt wesentlich in drei Abschnitte: Der ersten Phase, in der nur minimale Veränderungen registriert werden, folgt eine Art Prähistorie, die die Prinzipien der späteren Entwicklung antizipiert. Schließlich setzt die eigentliche Geschichte der menschlichen Gattung ein. Die innere Struktur dieses Prozesses erschließt sich in der Konzentration auf die Veränderungen in der subjektiven Konstitution. aa) Das Subjekt wird geleitet von der Selbstliebe {amour de soi), der einzigen Leidenschaft, „die mit dem Menschen geboren wird und ihn bis zum Tode nicht verläßt ( . . . ) . " 1 6 Sie läßt „uns brennend an unserem Wohlbefinden und unserer Selbsterhaltung interessiert sein ( . . . )." 1 7 In seinem ursprünglich-tierhaften, isolierten Zustand nun hat der Mensch nur wenige, noch ausschließlich auf die Selbsterhaltung gerichtete physische Bedürfnisse 18 und lediglich die Kräfte und Fähig14

Essai sur les moeurs (Supplément [III]), S. 905 f. Zur Fortschrittstheorie der Aufklärung vgl. näher Rohbeck, Fortschrittstheorie, 1987; BaczkOy Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 138-184; Kondylis, Aufklärung, S. 459-468. 16 Emile IV 441. 17 Dsl 57. 15

ι» Vgl. Dsl 79; Guerre 61 f.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

keiten, die zur Befriedigung dieser Bedürfnisse erforderlich sind: Die Natur gibt „ihm nur das notwendige Begehren nach Selbsterhaltung und ausreichende Fähigkeiten, es zu stillen." 19 Dabei erschöpft sich seine Existenz gewissermaßen in der Konzentration auf sich selbst, „da seine eigene Erhaltung beinahe seine einzige Sorge ausmacht ( . . . ) . " 2 0 Dieser Mensch ruht „in sich selbst" 21 , er überläßt seine Seele allein „dem bloßen Gefühl ihrer gegenwärtigen Existenz ( . . . ) . " 2 2 Die in der Hauptsache nur körperliche Ungleichheit des Naturzustandes bleibt mangels jeder Form intersubjektiver Praxis „kaum fühlbar ( . . . )." 2 3 Das Gleichgewicht von Bedürfnis und entsprechendem Vermögen wird auch dann noch gewahrt, als die reine Selbsterhaltung weitere Entwicklung erforderlich macht. Gelegentliche neue Anforderungen bringen Fähigkeiten hervor, die wesentlich im Einsatz dinglicher Hilfsmittel bestehen. So läßt etwa eine zunehmende Konkurrenz mit den Tieren den Menschen zu Gegenständen greifen, um sein Uberleben zu sichern: „Die natürlichen Waffen - die Aste von Bäumen und die Steine waren ihm bald zur Hand." 24 Die Situation hat sich durch diesen „nahezu unmerklichen Fortschritt" 25 allerdings schon in einer Hinsicht prinzipiell geändert: Mit der Etablierung der Zweck-Mittel-Relation im menschlichen Geist beginnt auch die Externalisierung des Subjekts, denn nun muß zur Selbsterhaltung auf äußere Faktoren zurückgegriffen werden, während der ursprüngliche Mensch die genannte Konfliktsituation „nackt und unbewaffnet" bewältigte und so in der Lage war, „sich sozusagen immer ganz mit sich zu führen." 26 bb) Die Entwicklung gewinnt innere Konsistenz, als die Häufigkeit intersubjektiver Kontakte zunimmt. Erste Formen der Geselligkeit - zunächst kurzfristige freie Assoziationen („Herden" 27 ), später dann Familien - fördern die Entwicklung von Sprache und Geist, Fortschritte in der Holzbearbeitung führen eine „Art von Eigentum" 28 in Form provisorischer Behausungen ein. Innerhalb der Familien entsteht die Gatten- und Elternliebe und damit eine frühe Form psychischer Leidenschaft. In dieser Phase der Entwicklung motiviert die Selbstliebe eine erste Vergegenständlichung des Mitmenschen, der durch die Erkenntnis des Vorteils begrenzter Zusammenarbeit als Mittel neben das dingliche Werkzeug tritt. Die erleichterte Lebensführung durch Instrumente jeder Art sorgt jetzt dafür, daß die Existenz des Subjekts nicht mehr vollständig in der Realisierung der Selbsterhaltung aufgeht. 19 Emile II 188 (vgl. auch CS-MI 2, OC III 281). 20 Dsl 97. 21 22 23 24 25 26 27 28

Dsl 269 (vgl. auch Dsl 161). Dsl 111. Dsl 167 (vgl. auch Dsl 67, 163). Dsl 175. Dsl 181. Dsl 83. FP II 212. Dsl 181.

1. Kap.: Geschichte

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Die gewonnene Muße läßt Raum für eine weitere Entfaltung des amour de soi, der sich von nun an nicht mehr nur auf die Sicherung der bloßen Existenz erstreckt, sondern ein möglichst angenehmes Dasein erstrebt. Doch die Bequemlichkeiten, in deren Schaffung der Mensch nun seine überschüssige Kraft investiert, verwandeln sich „durch die Gewohnheit ( . . . ) in wahre Bedürfnisse" 29 und setzten die begonnene Externalisierung durch die Etablierung neuer Abhängigkeiten fort. Schon an diesem Punkt der Entwicklung warnt Rousseau: „Alles, was über die physischen Bedürfnisse hinausgeht, ist eine Quelle des Übels. Die Natur hat uns ohnehin Bedürfnisse genug gegeben, und es ist ( . . . ) eine große Unbesonnenheit, wenn man sie ohne Not vermehrt und dadurch seine Seele in noch größere Abhängigkeit stürzt." 30 Zwar geht es vorerst nur um eine Abhängigkeit von den Dingen, und diese Form der Dependenz „kann der Freiheit gar nichts anhaben"31, doch schon sie ist für das Glück des Menschen relevant: Der Entzug der neu erworbenen Hilfsmittel ist „viel grausamer, als ihr Besitz süß war; und man war unglücklich, wenn man sie verlor, ohne glücklich zu sein, wenn man sie besaß."32 cc) Die Geschichte beginnt, als die Vorformen echter Sozialität sich in einen umfassenden intersubjektiven Zusammenhang auflösen. Veränderungen der natürlichen Umwelt führen die Menschen dauerhaft zueinander und bringen so die ersten Gesellschaften hervor. Nun kommt das Prinzip der Entwicklung vollständig zur Geltung: „Der vereinzelte Mensch bleibt sich immer gleich; nur in Gesellschaft macht er Fortschritte." 33 Im Hirtenzeitalter, das die aktuelle Gesellschaft kontrastiert als Idealzustand34, in dem die Menschen „frei ( . . . ) , gut und glücklich" 35 sind, erwachen durch wechselseitigen Einfluß endgültig die menschlichen Leidenschaften und die höheren geistigen Fähigkeiten. Im Prozeß der Menschwerdung aber geht die reine Selbstbezüglichkeit des Subjekts im müßigen Zusammensein mit anderen verloren: „Jeder begann, die anderen zu beachten und selbst beachtet werden zu wollen." 36 So hebt die Transformation der Selbstliebe in die relativ strukturierte Eigenliebe (amour propre) an. Dieses Gefühl veranlaßt das Individuum zunächst dazu, „sich selbst höher zu schätzen als jeden anderen ( . . . )." 3 7 Darüber hinaus aber verlangt es, daß das Gegenüber diese Einordnung bestätigt, mit anderen Worten: „daß die anderen uns sich selbst vorziehen ( . . . )." 3 8 Weil gerade das jedoch für den einzelnen Menschen unmöglich ist, schafft sich die Gesellschaft 29 Dsl 185 (vgl. auch Dsl 183 f.). 30

Dernière réponse 134. 31 Emile II 197. 32 Dsl 185. 33 FP X 260 (vgl. auch Dsl 117, 131; FP I I 212 f., V 235; CS-M12, OC III 283). 34 Vgl. Dsl 75: „ ( . . . ) du wirst das Alter suchen, von dem du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben ( . . . ) . " 35 Dsl 195. 36 Dsl 189 (vgl. auch Narcisse 156). 37 Dsl 369. 38 Émile IV 443. 3 Gaul

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

eine Art kollektive Kompensation: Die Bewertung der Talente und Fähigkeiten durch das überindividuelle Forum der „öffentlichen Meinung" läßt eine Abstraktion von der Selbstfixierung des Subjekts zu, denn in ihr erscheint der begünstigte einzelne als auch von den anderen bevorzugt. 39 Auf diese Weise wird der Einsicht Rechnung getragen, „daß beinahe alles auf die bloße Eitelkeit zurückgeht" 40, denn die Bewunderung durch andere, „das heimliche und letzte Ziel der menschlichen Handlungen"41, hat auf der Ebene unaufgelöster Kollektivität jetzt scheinbare Wirklichkeit. Mit dem Wunsch nach öffentlicher Anerkennung etabliert sich eine „Klasse von Bedürfnissen, die nach den anderen entstanden sind, aber trotzdem über alle herrschen ( . . . ) . " 4 2 Nun zeigen körperliche und geistige Ungleichheit erste Konsequenzen: „Derjenige, der am besten sang oder tanzte, der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste oder der Eloquenteste wurde zum Geachtetsten; und das war der erste Schritt hin zur [politischen; Verf.] Ungleichheit ( . . . )." 4 3 Die umfassende Abhängigkeit des Menschen spaltet sich also auf: Materiell bleibt das Subjekt weiterhin nur von den Dingen abhängig, psychisch verlagert es seine Existenz partiell in die Meinung anderer. Diese Verlagerung jedoch hat auf lange Sicht Folgen für den Selbstbegriff des einzelnen, denn der Mensch erlebt sich am Ende nur noch als das „relative Ich (... ). < i 4 4 Allein aus dem Urteil der anderen speist sich das Gefühl seiner Existenz, und so ist er „genötigt, sich immerfort zu vergleichen, um sich selbst zu kennen ( . . . )." 4 5 Die Epoche, in der sich das Subjekt „nur Arbeiten widmete[], die ein einzelner bewältigen konnte, und Künsten, die nicht das Zusammenwirken mehrerer Hände erforderten" 46, geht über in die Ackerbaugesellschaft, mit der die eigentliche Zivilisation beginnt. Die für die Bebauung des Bodens mit metallenen Geräten notwendige Arbeitsteilung hebt die verbliebene Autarkie auf und etabliert nun auch eine ökonomisch bedingte Verbindung der Menschen untereinander. 47 Waren die Wirkungen der natürlichen Ungleichheit im Hiltenzeitalter noch durch die Selbständigkeit des Subjekts beschränkt, so werden im Zustand wechselseitiger Abhängigkeit „die Unterschiede zwischen den Menschen ( . . . ) fühlbarer, anhaltender in ihren Auswirkungen und beginnen im selben Verhältnis Einfluß auf das Schicksal der Einzelnen auszuüben."48 In der Tat gewinnt das Zusammenleben vor dem Hin39 Zur großen Bedeutung für Rousseaus Denken vgl. Crocker, Rousseau et "l'opinion", 1967; Ganochaud, L'opinion publique chez Rousseau, 1980; Hennis, Begriff der öffentlichen Meinung bei Rousseau, 1957. 40 Corse 548.

FP V 233. 42 FP X 256 (vgl. auch FP V 232). 45 Dsl 189. 44 Emile IV 502 (H.i.O.). 45 Guerre 54. 46 Dsl 195. 47 Vgl. Dsl 201. 48 Dsl 205.

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tergrund reziproker materieller Dependenz nun den Zug, der es auch in der aktuellen Gesellschaft kennzeichnet: das Unglück des Menschen. (1) Ist der einzelne von anderen auch physisch abhängig, dann erreicht sein Verhältnis diesen gegenüber eine neue, gleichsam existentielle Qualität, deren entscheidende Konsequenz Rousseau so formuliert: Das Subjekt muß „unablässig danach trachten, sie für sein Schicksal zu interessieren ( . . . )." 4 9 Dieses Erfordernis absorbiert jetzt gewissermaßen die Person selbst, indem es sich einer im Hinblick auf gelingendes Dasein zunächst „neutralen" Disposition bemächtigt. Rousseau erklärt es in den Dialogues für „ganz natürlich, daß derjenige, der sich liebt, sein Wesen und seine Freuden auszudehnen sucht ( . . . ) . " 5 0 Diese Neigung des amour de soi sei „das einfache Werk der Natur, die das Gefühl unseres Daseins auszudehnen und zu verstärken bemüht ist", heißt es kurz zuvor. Die Tendenz zur seelischen Expansion aber ist prinzipiell unbegrenzt. „ ( . . . ) ich möchte es ( . . . ) über das ganze Weltall ausdehnen"51, sagt Rousseau über sein Ich. Diese Neigung des Menschen wird nun zum Träger seiner (sozialen) Bedürfnisse, die am Ende „die ganze Natur" 52 umfassen, und bei deren Realisierung das Subjekt „sich sozusagen über die ganze Erde aus[dehnt] ( . . . )." 5 3 Der hier transportierte Totalitätsanspruch aber kann im aktuellen intersubjektiven Zusammenhang, in dem jeder gerade nach der Aufmerksamkeit des anderen verlangt, per definitionem nie eingelöst werden, und „die Unmöglichkeit, dieses Verlangen vollkommen zu befriedigen, ( . . . ) [läßt] den Menschen unablässig nach neuen Mitteln suchen, die dazu beitragen könnten." 54 Auf diese Weise verlegt das Subjekt im Bemühen um die notwendige Beachtung durch andere seine Existenz wesentlich nach außen. Es verfällt in eine „Raserei, ( . . . ) die uns beinahe immer außerhalb unserer selbst hält" 55 , es lebt „immer außer sich ( . . . ) . " 5 6 Rousseau macht klar, daß der konstitutionell gleichsam „unersättliche" einzelne dabei die ursprüngliche Selbstidentität weitgehend verliert: „Zeit, Orte, Menschen, Dinge - alles, was ist, alles, was sein wird, ist für jeden von uns von Bedeutung; unsere Person ist nur noch der geringste Teil unser selbst."57 Die Ausweitung der Externalisierung hat im wesentlichen zwei Folgen: Verlust der „Freiheit" und Selbstentfremdung. (a) Rousseau registriert jenseits der Ebene äußerlichen Daseins eine Verbindung der Menschen, die die existierenden ökonomischen Differenzen vollständig kom49 Dsl 209. so Dialogues II 420 (vgl. auch Emile I 167, II 201, III 355, 405, IV 486 Anm., 577; NH I I 14 [237]; Emile et Sophie 1647; Montagne IX 242). 51 Rêv. V I 710. 52 FP II 214; CS-M12, OC III 282. 53 Emile I I 192. 54 Emile III 354. 55 Dsl 257. 56 Dsl 269. 57 Emile I I 192 (vgl. auch Voltaire 318). 3*

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pensiert: Die Bedürfnisse des einzelnen können jetzt nur noch mit Hilfe seiner Mitmenschen befriedigt werden, „zu deren Sklave er in gewissem Sinne wird, selbst wenn er zu ihrem Herrn wird; ist er reich, braucht er ihre Dienste; ist er arm, braucht er ihre Unterstützung, und mäßiger Wohlstand versetzt ihn keineswegs in die Lage, ohne sie auszukommen."58 Rousseau hebt den universalen Charakter dieser Abhängigkeit gerade am Beispiel des Reichen (Herrschenden) hervor. Er sieht: Hat schon die Verwendung von Werkzeugen die Aufmerksamkeit des Subjekts von sich selbst auf die Dinge und deren Gesetzmäßigkeiten gelenkt, so verstärkt sich die Notwendigkeit der Konzentration auf externe Faktoren, wenn die schwerer zu kontrollierenden und einzuschätzenden Menschen59 an die Stelle der dinglichen Hilfsmittel treten. Rousseau beschreibt diesen Zusammenhang eindrucksvoll in einer Passage des Emile: „Mein Volk, meine Untertanen, sagst du stolz. Sei's drum. Aber du, was bist du? Der Untertan deiner Minister. Und deine Minister ihrerseits, was sind sie? Die Untertanen ihrer Beamten, ihrer Mätressen, die Diener ihrer Diener. Rafft alles an euch, usurpiert alles, und gebt dann aus vollen Händen Geld aus, stellt Batterien von Kanonen auf, errichtet Galgen und Rad, erlaßt Gesetze, Verordnungen, vervielfacht die Anzahl der Spione, Soldaten, Henker, Gefängnisse und Fesseln - arme kleine Menschen, wozu dient euch all dies? Ihr werdet darum nicht besser bedient, nicht weniger bestohlen oder betrogen werden, nicht weniger abhängig sein. Ihr werdet immer sagen: wir wollen, und immer tun, was die anderen wollen." 60 Die Konsequenzen liegen auf der Hand: „Jeder, der Herr ist, kann nicht frei sein, und regieren heißt gehorchen." 61 Rousseau hat die Bedeutung dieser Systematik unterstrichen, indem er die Abhängigkeit des Beherrschten der des Mächtigen vorzieht. Der Erzieher des Emile macht seinem Schützling klar: „Wenn du dich verpflichtest, mir zu gehorchen, guter junger Mann - siehst du nicht, daß du mich dann verpflichtest, dich zu lenken, mich meiner selbst zu entäußern, um mich dir aufzuopfern ( . . . ) ? Du legst mir ein Joch auf, das härter ist als deines. " 62 Der Mächtige ist also ungeachtet seiner Einflußmöglichkeiten gewissermaßen der „Prototyp" des Sklaven selbst, und Rousseau spricht diesen Befund in der Exposition des Herrschaftsproblems im Contrat social deutlich aus: „Mancher hält sich für den Herrn der anderen und bleibt dennoch mehr Sklave als sie. " 63 (b) Aber auch die bis dahin noch erhaltene, relativ vermittelte Selbstkenntnis geht dem Menschen in der Situation wechselseitiger existentieller Abhängigkeit verloren. Getrieben von der Notwendigkeit, in der Wahrnehmung des anderen stets gegenwärtig zu sein, greift das Subjekt zu einer sozial attraktiven Maske, der es im 58 Dsl 207 f. 59 Vgl. nur Dsl 59 f. 60 Emile II 193 f. 61 Montagne VIII188 (vgl. auch Emile II 194 f.; Pologne XII626). 62 Emile IV 663 (H.i.O., letzte H.h.). 63 CS 1 1 (270), H.h.

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interpersonalen Kontext von nun an kaum mehr entsagt.64 In der Folge verdoppelt sich seine Existenz: „Sein und Scheinen wurden zwei völlig verschiedene Dinge." 65 St. Preux hat das bei seiner Schilderung des Lebens in Paris so formuliert: „Bei jedem Besuche muß er [der Mensch; Verf.] seine Seele ( . . . ) am Eingange zurücklassen und eine andere übernehmen, die des Hauses Farbe trägt, wie ein Bedienter seine Livree anzieht; ebenso legt er sie, wenn er will, beim Ausgange wieder ab und übernimmt bis zu einem neuen Tausch wieder die seinige." 66 Im ständigen Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen des Daseins aber verliert der Mensch schließlich jede Vorstellung seiner Identität. Nicht nur das Gegenüber ist unter seiner Maske unkenntlich geworden, auch die eigene innere Befindlichkeit bleibt dem Subjekt verschlossen. „Wir erkennen weder die Seele des anderen ( . . . ) noch die unsere" 67, schreibt Rousseau an Sophie d'Houdetot, und in der Nouvelle Héloïse werden die möglichen Konsequenzen genannt: „Da man sein will, was man nicht ist, so bringt man es dahin, daß man sich für etwas anderes als das hält, was man ist ( . . . )." 6 8 Getrieben von einem wahnhaften Hang nach sozialer Aufmerksamkeit, ist sich der Mensch am Ende selbst wahrhaft fremd geworden. 69 (2) Nun hat sich das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner psychischen Deformation vordergründig eingerichtet, gleichsam aus seiner Not eine Tugend gemacht: Die Rastlosigkeit des Daseins als solche wird mit der Zeit sinnstiftend und hindert damit den Gedanken an den angenommenen inferioren sozialen Rang, dessen Verbesserung sie dienen soll. Rousseau beschreibt die Menschen dieser Kondition ironisch als „glückliche Sklaven" 70 , die den scheinbar positiven Gehalt ihrer Existenz sogar aktiv gegen abweichende Konzepte verteidigen. Der Bürger des Ancien régime liebt seine Knechtschaft also nicht nur, sondern spricht, „stolz auf seine Sklaverei, ( . . . ) mit Geringschätzung von jenen, die nicht die Ehre haben, sie mit ihm zu teilen." 71 Der skizzierte Selbstbetrug aber muß auf Dauer mißlingen, und unterschwellig ist diese Einsicht dem Subjekt auch stets gegenwärtig. Emile, der durch das Leben in Paris seine seelische Stabilität vorübergehend verloren hatte, schreibt erinnernd an seinen früheren Tutor: „ ( . . . ) ich ließ mir nicht die Zeit, um mich auf mich selbst zu besinnen, aus Furcht, ich könnte mich bei mir nicht wiederfinden." 72 Dieses Gefühl ist nur zu berechtigt, denn im Mo64 Vgl. Emile I V 475; DsS 13.

65 Dsl 207. 66 NH II 14 (240). 67 Lettres morales III, OC IV 1092. 68 NH, 2. Vorrede 19. 69 Vgl. zum Entfremdungstheorem bei Rousseau Alt, Entfremdungsbegriff bei Rousseau, 1982; Baczko, Rousseau et l'aliénation sociale, 1959-62; Barth, Selbstentfremdung bei Rousseau, 1959; Berief Selbstentfremdung, 1991; Brandt, Der einzelne und die andern, 1966; Müller, Entfremdung, 1985; Schmid, Existenz in „Entfremdung", 1983. 70 Vgl. DsS 12. 71 Dsl 269. 72 Emile et Sophie 1650.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

ment der Selbsterkenntnis entdeckt der Mensch die vermeintlichen Defizite seiner gesellschaftlichen Existenz, und damit bricht die Illusion innerer Zufriedenheit zusammen. Rousseau bestätigt: Der Mensch der Gesellschaft „fühlt sich unbehaglich, wenn er gezwungen wird, sich auf sich selbst zu besinnen. Was er ist, gilt ihm nichts ( . . . )." 7 3 Die Analyse der eigenen konstitutionellen Schwächen erfaßt dabei jede Relationen, die nur gedacht werden kann: „ ( . . . ) sobald man die Gewohnheit annimmt, sich mit anderen zu messen, sich außer sich selbst zu versetzen, um den ersten und den besten Platz sich zuzueignen, ist es unmöglich, nicht alles zu verabscheuen, was uns übertrifft, alles, was uns erniedrigt, alles, was uns einengt, alles, was dadurch, daß es etwas ist, uns hindert, alles zu sein." Aus diesem Grund geht das Subjekt völlig in der Auseinandersetzung mit den eigenen Mängeln auf. Rousseau fährt fort: „Das Gefühl der Unterlegenheit in einer einzigen Hinsicht vergiftet das der Überlegenheit in tausend anderen, und man vergißt alles, was man mehr hat, um sich allein mit dem zu beschäftigen, was man weniger hat." 74 Die Folge: Der Mensch ist immer unzufrieden mit sich selbst, weil er nicht so ist, wie er gerne sein möchte. Diese Unzufriedenheit aber macht das Unglück aus, denn sie transportiert dessen eigentliches Wesen: (seelisches) Leid. „Die Unruhe der Wünsche erzeugt Neugier, Unbeständigkeit"75, erklärt Rousseau, mithin das Gefühl, die eigene Existenz überschreiten zu müssen. Gewissermaßen komplementär begreift das Subjekt seinen Status als defizitär, und „alle Entbehrung, die man fühlt, ist schmerzlich." Rousseau folgert sogleich: „Unser Unglück besteht also in der Disproportion zwischen unserem Verlangen und unseren Fähigkeiten."76 Hineingestellt in den Zwiespalt von Wunsch und Wirklichkeit, bleibt die Seele des einzelnen ständig gefangen in schmerzvoller Unruhe, und auf der rastlosen Verfolgung eines unerreichbaren Ziels ist der Mensch der aktuellen Gesellschaft daher vor allem eines: dauerhaft unglücklich. 77 Der Geschichtsprozeß tritt in ein neues Stadium, als die vorhandene Bodenfläche vollständig ausgenutzt ist. Das Schicksal des Subjekts, das sich eine Daseinsgrundlage in Form des „Eigentums" nicht verschaffen konnte, wird nun bestimmt von seiner individuellen Konstitution: Der Schwache muß dem Willen des Besitzenden folgen und tritt in den Stand der (äußeren) Knechtschaft 78; der Starke aber sucht sein Heil in der gewaltsamen Veränderung der ökonomischen Verhältnisse. Der dauernde Konflikt ,,[z]wischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des 73 Emile IV 475. 74 Dialogues I I 421. 75 Emile IV 475. 76 Emile Π 187 (ähnlich Emile V 885; FP VI239). 77 Vgl. nur DsS 34; Dsl 185, 213, 301, 317; FP II212; bisweilen werden auch die Begriffe „unzufrieden" (Dsl 75) oder „elend" (vgl. Dsl 135, 173, 197, 219, 257, 301, 315, 317) synonym verwendet. 78 Vgl. Dsl 211 (folgendes Zitat ohne Nachweis ebd.). - Die Vorstellung von Herrschaft integriert dabei die Kategorie der Macht (»Autorität"), die Rousseau wesentlich mit der Möglichkeit zu zwingen identifiziert (vgl. CS I I 4 [292]; FP V I 240).

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ersten Besitznehmers" eskaliert schließlich in einem Krieg Hobbes'scher Provenienz, der das Menschengeschlecht „an den Rand seines Ruins" 79 treibt. Unzufrieden mit der Situation ständiger Gefährdung, schlägt der Reiche nun vor, den Naturzustand zu verlassen. Der entsprechende Vertrag etabliert die bürgerliche Gesellschaft, in der das Gesetz die existierende politische Ungleichheit und die ihr entspringende gesellschaftliche Struktur mit der Anerkennung des Eigentumsrechts endgültig festschreibt und die (äußere) Freiheit vollständig aufhebt. 80 Die Garantie dieses Rechts durch die Gemeinschaft allein jedoch erweist sich als zu schwach, so daß die Menschen die Macht zur Bewältigung der zunehmenden Konflikte schließlich in einem zweiten Vertrag einer Regierung übertragen 81, in deren Hand das jetzt durchsetzbare Gesetz zur Waffe des Reichen gegen die Ansprüche des Armen wird. 82 Rousseau ist in seiner Gegenwart angelangt und wendet den Blick in eine Zukunft, in der die rechtlich fixierte Ungleichheit nun ihr eigenes dynamisches Potential vollständig entfaltet: „ ( . . . ) wenn ein Riese und ein Zwerg auf demselben Weg gehen, so wird jeder Schritt, den die beiden machen, dem Riesen einen neuen Vorteil verschaffen." 83 Der Reichtum mit seinen umfassenden Möglichkeiten 84 löst bei der Vergabe der Regierungsposten bald Alter und Verdienst ab. 85 Die Bindung an die Vorgaben des Herrschaftsvertrags wird schließlich im Zuge einer immer weiter fortschreitenden Spaltung zwischen Herrschenden und Beherrschten 86 durch einen gesetzlosen Despotismus ersetzt, in dem das Herr-Sklave-Verhältnis eine rein gewaltsame Prägung erfährt. 87 Die Beschreibung des historischen Prozesses bricht ab mit dem Erreichen dieses „neuen Naturzustandes", der „die Frucht eines Exzesses an Korruption ist." 8 8

b) Historizität

und Politik

Die Skizze des phylogenetischen Prozesses offenbart eine innere Struktur, die als dialektische Umsetzung des menschlichen Geschichtsverhältnisses beschrieben werden kann. 89 Sie liefert eine Bestimmung der Beziehung von Subjekt und Histo79 Dsl 213. 80 Vgl. Dsl 213-219. 81 Vgl. Dsl 227,243. 82 Vgl. ÉP 244; Montagne IX 243; Guerre 59; Emile IV 487 f. 83 Dsl 163. 84 Vgl. Dsl 255 f. 85 Vgl. CS III 5 (326); Dsl 247, 249. 86 Vgl. Dsl 253. 87 Vgl. Dsl 261, 259, 251. 88 Vgl. Dsl 263. 89 Rousseaus Denkform dem Grunde nach als eine dialektische zu begreifen, ist keineswegs nur Idee historisch-materialistischer Interpretation (vgl. Horowitz, Rousseau, S. 5 f.;

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

rie, in der eine unentrinnbar destruktive Genese als entscheidende Kategorie kollektiver Existenz etabliert und i m Vollzug relativer menschlicher Geschichtsmächtigkeit auf eine historisch adäquate Herstellung gelingender sozialer Praxis hin aufgehoben wird.

aa) Niedergang Rousseau macht gleichsam ernst mit der antiken, Mitte des 18. Jahrhunderts prinzipiell noch immer gültigen Rede von einer „zweiten Natur" des Menschen. Das Prinzip der konstitutionellen Veränderung findet sich dabei i m traditionell dafür vorgesehenen Begriffspaar Gewohnheit/Gewöhnung. „Die Natur ( . . . ) ist nur Gewohnheit" 9 0 , sagt Rousseau, und entsprechend rekurriert die Entstehung einer anderen Natur auf den Faktor der Gewöhnung. Deutlich wird das an der Kategorie der Erziehung, die kurz darauf als „nur eine Gewöhnung" vorgestellt wird. Unter wiederholtem gleichartigen Einfluß wandelt sich das Wesen des Menschen, und jetzt wird uns die (neue) „Gewohnheit so zur zweiten Natur, die an die Stelle unserer ursprünglichen Natur tritt, daß diese in vollkommene Vergessenheit gerät." 9 1 Der Discours sur Γ inégalité führt dieses Konzept konsequent durch, indem er die

Poppe, Rousseaus Volkssouveränitätslehre, S. 1681; Starke, Weltbild der Aufklärung, S. 274 f.; Volpe, Rousseau und Marx, S. 35-150). Rousseau selbst hat geschildert, wie sich seine Gedanken in der Auflösung von Gegensätzen vorwärtsbewegen (vgl. Confess. IV 172), und den Rezipienten entsprechend belehrt: „Der Durchschnittsleser verzeihe mir meine Paradoxa - man braucht sie, wenn man nachdenkt" (Emile I I 212). Davon ausgehend ist gegen vereinzelte Ansätze einer Relativierung dieser Struktur (vgl. Payot, Essence et temporalité, S. 380; Touchefeu, Rousseau: christianisme et république, S. 183) bereits das Gesamtwerk formeller Ausdruck einer Dialektik, die sich im Verhältnis der einzelnen Texte zueinander realisiert (vgl. Erdmann, Staat und Religion, S. 20, 34, passim). Innerhalb des Werkes wird bisweilen auch im Rahmen des Contrat social der Synthese von Freiheit und Repression (vgl. McManners, Social Contract, S. 311 -316), den internen Widersprüchen des Souveränitätsbegriffs (vgl. Dehaussy, La dialectique de la liberté, S. 121, passim) oder der Differenz von volonté générale und volonté de tous (vgl. Gilliard, Etat de nature et liberté, S. 116) nachgegangen, doch gilt vor allem der Discours sur l'inégalité als Träger eines „dialektischen Geschichtsbewußtseins" (Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 99), das die entsprechende Vermittlung der Gegensätze von „Naturzustand" und reinem status naturalis (vgl. Weiß, Modernität und Klassizität, S. 11, Anm. 41), Phylogenese und Ontogenese (vgl. Hoock, Ausgangsfrage Rousseaus, S. 493), menschlicher Kraft und Schwäche (vgl. Ansart-Dourlen, Dénaturation et violence, S. 24, 48), natürlicher Gleichheit und natürlicher Ungleichheit (vgl. Polin, Le sens de l'égalité et de l'inégalité, S. 147), Bedürfnis und Zufriedenheit (vgl. Kryger, La notion de liberté, S. 19) oder homme naturel und homme social (vgl. Ducket, Anthropologie et histoire, S. 342; Note 1 zu OC III 166, OC III 1341; Röhrs, Rousseau, S. 87 f.; Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 186) leisten soll (vgl. näher zum produktiv-dialektischen Sinn der Rousseau'schen „Widersprüche" Muntéano, Les "contradictions" de Rousseau, 1964; Einaudi, The early Rousseau, S. 9 - 1 6 m.w.N.). 90 Emile I 110. - Rousseaus Kritik an dieser Bestimmung ebd. betrifft nur die in dem Zitat transportierte Leugnung einer für die häusliche Erziehung relevanten ursprünglichen Natur. Emile II 326 (vgl. auch ÉP 246; Dsl 267; Corse 512).

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Veränderung von nur akzidentiellen Qualitäten auf die Essentialia subjektiver Existenz erstreckt. 92 Rousseau weiß: Der vehement und polemisch vorgetragene Angriff auf eine universale Vernunft als unverlierbares Kennzeichen der menschlichen Natur zielt genau auf das Fundament einer Geschichtsauffassung, in der diese Natur als Konstante begriffen wird. Die Behauptung, „daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier" 9 3 ist, eliminiert aber nicht nur die Vernunft als solche aus der Wesensbeschreibung des Menschen, sondern zugleich die mit der Unwandelbarkeit dieses Vermögens implizierte Statik jeder Charakterisierung. Die geschichtstranszendierende Konstanz der Selbstliebe an sich ist noch zu konzedieren; ihre etablierten materialen Außerungsformen dagegen (etwa: Soziabilität, Familiensinn, Eigentumsbegriff) dürfen zwar kraft ihres grundlegenden Charakters als „Natur" bezeichnet, nicht aber universal gedacht werden. Rousseau setzt also der Vorstellung, „die Menschen aller Zeiten seien einander ähnlich" 94 , ein System entgegen, in dem „das Menschengeschlecht eines Zeitalters nicht das Menschengeschlecht eines anderen Zeitalters ist ( . . . )." 9 5 Aufgelöst in unendlich viele geschichtliche Realitäten, geht die existence humaine in ihrer Historizität auf. 96 In dieser Sichtweise bleibt der Mensch chancenlos gegenüber den Einflüssen des historischen Prozesses. Die Geschichte „macht" ihn, denn die Entwicklung hinterläßt ihre Spuren nicht mehr nur in der kulturellen Prägung, sondern in der (eigentlichen) Natur des Subjekts, dem der Rückzug auf eine transhistorische Wesenheit unmöglich ist. Ohne die Möglichkeit einer Flucht in einen gleichsam historisch indifferenten Raum aber degeneriert der Mensch im Sinne des Wortes zu einer Kreatur der Geschichte. Rousseau hat diese Einsicht illustriert, indem er den fundamentalen Charakter subjektiver Veränderung in der Bilanz des Discours sur Γ inégalité herausstellt: „Der wilde Mensch und der zivilisierte Mensch sind im Grunde ihres Herzens und in ihren Neigungen derart verschieden, daß das, was das höchste Glück des einen ausmacht, den anderen zur Verzweiflung treiben würde." 97 Jetzt kann also in einem Stadium des Geschichtsprozesses dem Subjekt „natürlich" sein, was im anderen Stadium zweifellos als Ausdruck der Kunst erscheint. Deutlich wird diese Differenz besonders bei der Frage nach der Soziabilität des Menschen. Die Aufklärung rechnet den gesellschaftlichen Trieb zur unverfügbaren Natur des einzelnen, denn in ihm realisiert sich die Selbstliebe als Verlangen nach einer gesicherten Existenz.98 Rousseau dagegen betont, daß es hier auf die jeweili92 Anschaulich Bitterli, Natur". 93 Dsl 89. 94 N H I 12(59).

Kultur- und Geistesgeschichte, S. 237: „die ganze Substanz seiner

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5 Dsl 265 (vgl. auch Dsl 343). 6 Vgl. nur CS III 1 (317); CS-M12, OC III 283; d'Alembert 349; NH, 2. Vorrede 9. 97 Dsl 267 (H.h.). 9

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Vgl. nur Voltaire,

Essai sur les moeurs, Band 1, Introduction VII, S. 23 f., 25.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

ge historische Perspektive ankommt. Im reinen Naturzustand gilt das Subjekt als wesenhaft asozial", während der (späte) soziale Verband „nur mehr eine Ansammlung artifizieller Menschen und künstlicher Leidenschaften darstellt." 100 Aus der Sicht der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft dagegen müssen die Begriffe neu geordnet werden. Rousseau betont: „Man darf nicht verwechseln, was im Naturzustand natürlich ist und was im Gesellschaftszustand natürlich ist." 1 0 1 In einer Randbemerkung zum Manuskript der ersten Version des Emile erläutert er das Prinzip der Veränderung: „Nichts ist weniger nötig dafür als eine förmliche Erziehung; es reicht aus, in der Gesellschaft geboren zu sein, um soziabel zu werden." 1 0 2 Den gesellschaftlichen Zusammenhängen unmittelbar und dauerhaft ausgesetzt, kann das Subjekt nur noch als ursprünglich und spontan (d.i.: „natürlich") gesellig begriffen werden. Rousseau schließt dann auch für den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft ausdrücklich, „daß eine gänzliche Einsamkeit ein ( . . . ) Zustand ist, der der Natur widerspricht." 103 Eine einheitliche Antwort auf die Frage nach der Natur des Subjekts fällt in diesem Entwurf also vollständig der Macht des historischen Prozesses zum Opfer. Der Mensch kann wesenhaft sozial oder vernünftig sein, aber ist es nicht stets gewesen und wird es vielleicht auch nicht bleiben. Rousseau hat betont, daß Veränderung die einzige Konstante, mithin die Entstehung einer immer „neuen Natur" im ontologischen Sinne notwendig ist. 1 0 4 Einmal in die Geschichte entlassen, ist das menschliche Dasein kontinuierlicher Transformation unterworfen und läßt sich von nun an nur noch als „Geschichte", mithin als Entwicklung beschreiben. Dabei tritt die Entwicklung als Kategorie der Existenz - unmittelbar einsichtig für das konkrete Subjekt, bei dem „der Zustand des Alters eine Folge der Natur des einzelnen Menschen" 105 ist - bei Rousseau mit einem Geltungsanspruch auf, der bis zu einem gewissen Grad die Differenz zwischen Ontogenese und Phylogenese nivelliert. 1 0 6 Die Daseinsweise des einzelnen wird auf die kollektive Ebene übertragen: Auch Volk und Gattung als solche unterliegen einer Entwicklung, die von der Jugend über die Reife bis zum Alter führt. 107 Man kann die Unbedingtheit des historischen Prozesses gut am Beispiel des Goldenen Zeitalters sehen. Wenn Rousseau von diesem Zustand behauptet, „daß 99 Vgl. nur Dsl 79, 89, 97, 119, 131, 161.

100 Dsl 267 (vgl. auch Dsl 47, 79). ιοί Emile V 813. 102 Variante (b) zu ÉMF vor I, OC IV 56, OC IV 1268. 103 Dialogues I I 429. 104 Vgl. nur Dsl 43, 77, 121, 243, 251, 255, 259; Emile III 409; CS I I 7 (302 Anm.), 8 (306); ÉP 246. 105 Philopolis 307. 106 Vgl. zu den Grenzen Oberparleiter-Lorke, Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 165-172; Rang, Rousseaus Lehre, S. 276. 107 Vgl. nur Dsl 75; CS I I 8 (304, 305), III 10 (341), 11 (344); Dernière réponse 113 f.; Philopolis 307; Emile III 350 f. mit Dsl 79-99, 269; Dialogues I I 413 mit Dsl 161.

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das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben" 108 , wenn sein Ende bloß akzidentiellen Charakter haben soll 1 0 9 , dann liegt darin nur eine rhetorische Überhöhung der Schilderung gelingender sozialer Praxis, nicht aber eine wirkliche Aufhebung des geschichtlichen Prozesses. Das Hirtenleben, zunächst vorgestellt als „Mutter der Ruhe" 110 , trägt den Keim seiner Überwindung schon in sich. Das Subjekt ist durch die Leidenschaften „unruhig, vorausschauend und aktiv" 1 1 1 geworden, die wechselseitige Zuneigung führt „beim geringsten Widerstand zu einer heftigen Raserei" 112 , die Verrichtungen geschehen „mit Hast ( . . . ) . " 1 1 3 Die Eigenliebe, die als relatives, mit externen Faktoren korrespondierendes Gefühl zu einer „ungestümen Aktivität" 1 1 4 tendiert, macht sich die Rastlosigkeit des Menschen zu Nutze und treibt ihn auf der Suche nach Möglichkeiten zur Verbesserung seiner Lage ständig voran. Wie das Kind, so versucht das Subjekt im phylogenetischen Prozeß seinen Überschuß an Kräften „für etwas zu verwenden, das ihm im Bedarfsfall nützen kann; es wirft sozusagen den Überfluß seines augenblicklichen Seins in die Zukunft hinein." 115 Das dynamische Potential einer von der Muße freigesetzten und von den Leidenschaften aktivierten Selbstbezüglichkeit ist ungeheuer: Obwohl die für den Ackerbau notwendige Entdeckung der Metallurgie so schwer zu erklären ist, „daß man fast sagen möchte, daß die Natur Vorkehrungen getroffen hatte, um uns dieses verhängnisvolle Geheimnis zu verbergen" 1 1 6 , kann das Prinzip dieser Kunst den Menschen eben doch nicht auf Dauer vorenthalten werden. Die Unbedingtheit des Prozesses ist auch unabhängig von konkreten Umständen, wie sich am Beispiel verfaßter Gemeinschaft zeigt. „Der politische Körper beginnt, wie auch der Körper des Menschen, von seiner Geburt an zu sterben und trägt die Ursachen seiner Zerstörung in sich selbst" 117 , heißt es im Contrat social Die universale Geltung dieser Aussage erweist sich im Vergleich der in Rede stehenden Modelle: Die ungerechte bürgerliche Gesellschaft und die Gemeinschaft des (guten) Gesellschaftsvertrags müssen gleichermaßen zerfallen. Die Regierung der bürgerlichen Gesellschaft mißbraucht die Macht, die der Vertrag ihr zum Wohle des Volkes überträgt. Doch ein derartiges Handeln „ist die natürliche und los Dsl 195. 109 Vgl. Dsl 193, 199. no Langues DC 190. m Langues DC 192 Anm. (vgl. auch Guerre 54; Langues IX 186 Anm.). 112 Dsl 189. 113 Langues IX 197. 114 Dsl 193. us Emile III 352 (vgl. auch Emile III 355: „Im Zustand der Schwäche und Unzulänglichkeit konzentriert unser Streben nach Selbsterhaltung sich in unserem Inneren. Im Zustand der Kraft und der Stärke trägt uns das Verlangen, unser Wesen auszuweiten, darüber hinaus und schnellt uns so weit wie möglich vorwärts."). 116 Dsl 199. 117 CS III 11 (344).

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unvermeidliche Neigung auch der am besten eingerichteten Regierungen", sagt Rousseau an der eben zitierten Stelle. Auch die mit der Leitung des Staates beauftragte Körperschaft in der Gemeinschaft des Gesellschaftsvertrags usurpiert am Ende die souveräne Gewalt. 118 Der Grund für die Überschreitung der Befugnisse ist in beiden Fällen im wesentlichen identisch: Die unaufhebbare Selbstbezüglichkeit des Menschen gewinnt im Laufe seiner gattungsgeschichtlichen Sozialisierung eine intersubjektiv vermittelte Form. Die dadurch entstehenden Konflikte, „welche die gesellschaftlichen Institutionen notwendig machen, sind [aber] ebendieselben, welche ihren Mißbrauch unvermeidlich machen ( . . . ) . " 1 1 9 Hat also die relative Redefinition des Subjekts im Zuge der Vergesellschaftung erst einmal begonnen, so treiben es die von der Eigenliebe gesteuerten Leidenschaften dazu, im Zuge einer Abgrenzungsbewegung alle situativen Hindernisse zu überschreiten. Die unvermittelte Wucht dieses Prozesses wird deutlich, wenn langfristige Kalkulation im Verhalten des einzelnen ausbleibt. „Ihr ehrgeizigen Oberhäupter! ( . . . ) überschreitet nie eure Rechte, und sie werden bald unbegrenzt sein" 120 , sagt Rousseau. Doch er muß einsehen: Die Einhaltung der eigenen Befugnisse, die gerade den Mächtigen ihren Status garantiert 121 , fällt einer „Lust zu herrschen" 122, einem „Vergnügen zu befehlen" 123 zum Opfer, die jeden Appell vergeblich machen. Der historische Prozeß ist aber nicht nur unaufhaltsam, er ist zugleich auch unumkehrbar. „ ( . . . ) nie kommt man in die Zeiten der Unschuld und der Gleichheit zurück, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat" 1 2 4 , heißt es in den Dialogues. Rousseau hat diese Einsicht dort als einen seiner wichtigsten Grundsätze bezeichnet und noch einmal gegen die Kritik ins Feld geführt, die ihn oft als Protagonisten einer (tatsächlichen) „Rückkehr zur Natur" ansieht. 125 Rousseau weiß, daß es eine solche Rückkehr nicht geben kann: „Die Völker sind, wie die Menschen, nur in ihrer Jugend gelehrig; wenn sie alt werden, sind sie zur Besserung nicht mehr fähig ( . . . ) . " 1 2 6

us Vgl. CS III 10 (343, 341), 18 (356); EP 239 f.; Parisot, OC II 1138. 119 Dsl 251 f. 120 EP 244. 121 Vgl. Dsl 245; ÉP 244. 122 Dsl 211. 123 CS I 2 (271) (vgl. auch Emile 1168). 124 Dialogues III 569 (vgl. auch Narcisse 160; Emile V 912,1 114; CS I I 8 [304, 305], III 10 [343, 341], 11 [344]; Dsl 75, 213, 219, 319, 321; d'Alembert 461; Dernière réponse 114; Lettre à Voltaire [07/09/1755], Korresp. 104 f.; FP IV 229; Pologne XIII635). 125 Vgl. nur Landmann, Philosophische Anthropologie, S. 142; Marek, Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie, S. 167; Menger, Verfassungsgeschichte, S. 83; MoreauRendu, L'idée de bonté naturelle, S. 255, 312; Voltaire, Lettre à Rousseau (30/08/1755), Korresp. 101. 126 CS I I 8 (304). - Vgl. für Rousseaus eigene Person auch Lettre à Mirabeau (26/07/ 1767), Korresp. 344 f.: „ ( . . . ) versuchen Sie nicht einmal, mir die Augen zu öffnen, wenn ich mich irre: die Zeit ist vorbei. Man wird in meinem Alter nicht mehr wirklich bekehrt. Ich

1. Kap.: Geschichte

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Wohin führt die Geschichte des Menschen? Der pessimistische Duktus der zitierten Passagen ist kein Zufall, denn Rousseau realisiert den schon intuitiv als Niedergang erfaßten Entwurf eines Alterungsprozesses tatsächlich auf der Ebene des Historischen: Die Gattung wird im Laufe der Zeit psychisch und moralisch zugrundegehen. 127 Aus der Perspektive dieses Befundes verliert die evidente äußerliche Zivilisierung des einzelnen in einer substantiell als Verfallsgeschichte deklarierten Historie völlig am Bedeutung.128 Rousseau sieht: Die Geschichte „macht" kann mich täuschen, und Sie können mich belehren, aber nicht überzeugen"; entspr. Wolmar in NH V I 4 (691). 127 Auch wenn Rousseau diese Aussicht mit den Begriffen illustriert, der Geschichtsprozeß strebe einem Zeitpunkt zu, „der den Kreis schließt" (Dsl 263), oder habe gar ein „letztes Ziel" (Philopolis 307), so redet er nicht etwa einer immanenten Teleologie das Wort. Menschliche Historie bewegt sich nicht am Maßstab einer normativ verstandenen, universalen Natur entlang, folgt keinem Leitbild, das zum Bezugspunkt einer intelligiblen Parallelgeschichte werden und die Verwerfungen des Empirischen in der Linearität einer rationalen Welt aufheben könnte. Das eschatologische Panorama des Historischen speist sich allein aus seiner anthropologischen Substanz. Geschichte soll nicht geschehen, sondern geschieht, ist reine Faktizität, schlechthin nichts als das unbedingte Sich-Wandeln in der Zeit. „ ( . . . ) unzählige Jahrhunderte" (Dsl 181), dieser „unermeßliche Zeitraum" (Dsl 265), bilden nur den Hintergrund für die aus sich selbst resultierende, auf lange Sicht fatale Transformation menschlicher Natur. 128 Der Discours sur les sciences und die Fragments politiques illustrieren in plakativer Formulierung den Fortschrittsglauben der Aufklärung. Rousseau schreibt: „Es ist ein großes und schönes Schauspiel, wenn man sieht, wie der Mensch durch seine eigenen Kräfte gewissermaßen aus dem Nichts hervortritt; wie er durch das Licht der Vernunft die Finsternisse, womit ihn die Natur umgeben, zerstreut; wie er sich über sich selbst erhebt; sich mit dem Geiste bis in die Himmelsgegenden schwingt; den ganzen Raum des Weltkreises gleich der Sonne mit Riesenschritten durchläuft" (DsS 11), wie er im Wege der Vervollkommnung seiner Fähigkeiten endlich zum „Ebenbild Gottes" wird (vgl. FP I I 212 f.). Die Kritik an dieser Vorstellung basiert auf einer Analyse tatsächlicher menschlicher Verfassung und zielt auf die angeblichen Konsequenzen wie auf die Prämisse steter rationaler Evolution. a) Uber „Jean-Jacques" heißt es in den Dialogues: „In der Bewunderung der Fortschritte des menschlichen Geistes erstaunte er, im nämlichen Maße das öffentliche Elend wachsen zu sehen" (Dialogues II 447). Und im Discours sur l'inégalité wird festgestellt, „daß alle späteren Fortschritte dem Scheine nach ebensoviele Schritte hin zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art gewesen sind" (Dsl 195), daß die geschichtliche Entwicklung „die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ins Verderben geführt hat" (Dsl 197). Hier formuliert Rousseau im begrifflichen Gewand unaufgelöster Kollektivität einen Befund, der sich auf die Kopplung von Moralisierung und Zivilisierung im historischen Konzept der Aufklärung bezieht. Er sieht: Die Fähigkeiten haben sich vergrößert, doch die Menschen sind dadurch sittlich nicht „besser" geworden, denn selbst gewisse Einsicht in das Gute kann relative Selbstdefinition nicht rückgängig machen. Diese in der späteren Rezeption als „moralische Grunderfahrung" (vgl. Krüger, Philosophie und Moral, S. 58-62) apostrophierte Reduktion des einheitlichen Fortschrittsgedankens auf seinen bloß äußerlichen Aspekt macht die Moralität zum isolierten Gegenstand historischer Betrachtung, deren Bilanz angesichts der behaupteten „ursprünglichen Güte" des Menschen erschreckend ist: „ ( . . . ) die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis" (Dsl 301). b) Vorgängiger Irrtum aber ist schon die Vorstellung geistiger Vervollkommnung selbst, denn auch die raison de V homme unterliegt den Gesetzen menschlicher Historizität und kann

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

den Menschen, und sie macht ihn böse und unglücklich. Für diese Haltung erscheint der evolutionäre Lauf der Zeit als „le grand ennemi du b o n h e u r " 1 2 9 , als Auslöser einer „ K r i s e " 1 3 0 , die in Entsprechung der biblischen Apokalypse über das Subjekt k o m m t 1 3 1 und die Kategorien von Geschichte und Entwicklung zu schlechthin bedrohlichen werden l ä ß t . 1 3 2 Entsprechend wirbt Rousseau dafür, den Eintritt in die Historie nach Möglichkeit zu vermeiden: „ O ihr, denen die himmlische Stimme sich nicht vernehmlich gemacht hat und die ihr für eure Art keine andere Bestimmung kennt, als dieses kurze Leben in Frieden zu beschließen; ( . . . ) kehrt zu eurer alten und ersten Unschuld zurück, denn es steht in eurer Macht, geht in die Wälder ( . . . ) . " 1 3 3 Und mit Blick auf den möglichen Aufbruch i n eine rechtlich verfaßte kollektive Existenz heißt es: „Umspült das Meer an euren Gestaden nur Klippen, die beinahe unzugänglich sind? So bleibt Barbaren und Ichthyophagen; ihr werdet damit ruhiger leben, vielleicht besser und gewiß glücklicher." 1 3 4

nicht mit Hilfe einer dualistischen Geschichtskonzeption die Grenzen anthropologischer Faktizität überschreiten. aa) Jede zeitliche Manifestation des Menschseins, sofern überhaupt rational, hat eine eigene Vernunft, und diese ist qualitativ von der Situation des Wissens und quantitativ von der beschränkten Kapazität des Subjekts abhängig. Daher gilt mit Blick auf die modernistische Fassung der Fortschrittstheorie, daß menschliches Begriffsvermögen nicht etwa die Einsichten vorangehender Epochen akkumuliert, sondern „auf der einen Seite genausoviel verliert, wie es auf der anderen gewinnt, und daß ständig neu entstehende Anschauungen uns ebenso viele vorhandene Kenntnisse wegnehmen, wie die geschärfte Vernunft wieder ersetzen kann" (Lettre à Mirabeau [26/07/1767], Korresp. 341). bb) Am Ende hält allerdings nicht einmal die Behauptung intellektueller Stagnation, denn die Menge des zu Wissenden schwächt die Leistungsfähigkeit des Subjekts in doppelter Hinsicht. Zunächst bindet sie Energie, die „für das eigene Denkenlernen verloren ist", so daß man im Ergebnis „zwar mehr erworbene Bildung, aber weniger geistige Kraft" (Emile IV 697) besitzt. Schließlich enthält sie einen erheblichen Anteil an Fragen, die den Menschen nicht mehr existentiell betreffen und daher mit geringerer Sorgfalt behandelt werden. Die Folge: Der Mensch „hat viel mehr aufgepaßt, um seine Urteile zu vervielfältigen, als um sich gegen den Irrtum zu schützen. Damit ist er rechthaberischer geworden und weniger vernünftig" (FP II 213, H.h.). 129 Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 359. 130 Vgl. Émile III 409; Pologne IV 582, Χ 612; Jugement polysynodie 89 (zur Bedeutung des Begriffs für Rousseaus Denken Koselleck, Kritik und Krise, S. 133 -142). 131 Vgl. nur Dsl 261, 75. 132 So mit Abweichungen im Detail etwa Gossmann, Time and history, S. 344; Jouvenel, Rousseau, évolutionniste pessimiste, S. 12; G. Kelly, Rousseau, Kant, and history, S. 351, passim; Levin, Vaughan's interpretation, S. 535; Menger, Verfassungsgeschichte, S. 83; Stakkelberg, Rousseau, S. 24; Terrasse, Rousseau et la quête de l'âge d'or, S. 297. 133 Dsl 319. 134 CS II 11 (312).

1. Kap.: Geschichte

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bb) Selbstentwürfe Der Mensch ist in seiner Konstitution den Kräften der Geschichte ausgeliefert. Was aber gibt diesen Kräften ihre verderbliche Richtung, was initiiert den phylogenetischen Alterungsprozeß? Rousseau antwortet: Bereits der erste Schritt hin zur Uberwindung einer bloß an der physischen Notwendigkeit orientierten Selbstgenügsamkeit ist für das Subjekt nichts anderes als sein eigenes Werk. Von der Schaffung körperlicher Annehmlichkeiten durch die Menschen heißt es: „ ( . . . ) das war das erste Joch, das sie sich - ohne daran zu denken - auferlegten, und die erste Quelle der Übel, die sie für ihre Nachkommen vorbereiteten ( . . . ) . " 1 3 5 Der gesamte historische Prozeß ist vom kontinuierlichen Vollzug menschlicher Entschlüsse angetrieben, deren innovative Kraft anhand einzelner exponierter Handlungen illustriert wird: die Entdeckung der Metallurgie, die Inbesitznahme von Grund und Boden, die Vertragsinitiative des Reichen, selbst der Eintritt in den sozialen Verband. Psychische Deformation und moralischer Verfall des Subjekts also sind sein eigenes Produkt, die geschichtlichen Lasten allein selbstverschuldet. 136 Leidend am aktuellen Zustand der menschlichen Natur, ruft der savoyische Vikar: „O Mensch, suche nicht mehr nach dem Urheber des Übels; dieser Urheber bist du selbst. Es gibt kein anderes Übel als das, was du tust oder erleidest, und beides kommt dir von dir selbst." 137 Steht der Verlauf der Historie aber prinzipiell zur Disposition des Menschen, dann eröffnen sich Perspektiven, die den notierten Pessimismus völlig zu konterkarieren scheinen. Ausgangspunkt ist das Subjekt selbst, denn Rousseau lokalisiert den Ursprung der Variabilität menschlicher Existenz auf der Ebene der Ontogenese. Er hat nämlich registriert, „daß die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens oft sich selbst unähnlich sind und sich in ganz verschiedene Menschen umzubilden scheinen."138 Das Programm, das diesen Befund auswertet, etabliert die Kategorie der Erziehung als Instrument geschichtlicher Veränderung. Das Potential dieser Kategorie wird dabei in Konsequenz der anthropologischen Vorgaben hoch eingeschätzt. So heißt es: „Ich wüßte nicht, daß schon jemals ein Philosoph die Kühnheit besessen hätte zu sagen: Hier ist der Endpunkt, bis zu dem der Mensch gelangen kann und über den hinaus er nicht kommen kann. Wir wissen nicht, was unsere Natur uns zu sein erlaubt." 139 Rousseau hat angesichts der Evidenz des sittlichen Verfalls mit dieser Bestimmung die moralistische Spielart des aufklärerischen Materialismus im Blick, die aus der vollständigen Identifikation von menschlicher Natur und Sinnlich-Körperlichem die Möglichkeit einer Machbarkeit sittlicher Existenz ableitet. Allerdings vermeidet er das anschaulich als „logische Sackgasse"140 135

Dsl 183

f.

136 Vgl. nur Dsl 301, 303; Malesherbes I I 483; Philopolis 307; Confess. V I I I 3 8 3 f.

137 138 139 140

Emile IV 576. Confess. IX 403. Emile 1156 (ähnlich NH, 2. Vorrede 9). Kondylis, Aufklärung, S. 518.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

apostrophierte Dilemma, die Formbarkeit der Moral mit der Allmacht der Erziehung in eins zu setzen. Der Einfluß auf die Sittlichkeit des Subjekts erweist sich gerade als abhängig von der Unveränderbarkeit der Fixierung auf das Selbst, die erst den Ansatzpunkt für eine entsprechende Lenkung bietet. Rousseau behauptet dann auch keineswegs, das Vermögen der Erziehung sei grenzenlos. 141 Es ist vielmehr in jedem Fall an „unsere Natur" (d.i. der amour de soi i.w.S.) und darüber hinaus ohnehin an eine situativ bedingte Limitiertheit menschlichen Tuns gebunden. 142 Grundsätzlich gilt, daß ein effektiver edukativer Einfluß des Menschen auf die Formation seiner selbst nicht das Privileg eines einzelnen sein muß (Emile), sondern sich auch auf der kollektiven Ebene entfalten kann. In den Confessions wird die Affirmation geschichtskonstitutiver Macht kompromißlos betrieben. „Ich hatte gesehen, ( . . . ) daß, wie man es auch anstellte, jedes Volk stets nur das würde, was die Natur seiner Regierung aus ihm machen würde" 143 , heißt es dort, und auch die Option kollektiver Erhebung zur Sittlichkeit im sozialen Verband des Gesellschaftsvertrags wird positiv beurteilt: „Die Grenzen des Möglichen sind im Bereich der Moral weniger eng, als wir denken." 144 Wie ernst dieser Ausblick gemeint ist, wird deutlich, wenn Rousseau fast beiläufig beide häufig apodiktisch festgehaltenen Prinzipien des historischen Prozesses aufzuheben scheint: Die Unbedingtheit des Niedergangs verschwindet hinter der Begeisterung für die vertragliche Lösung des gesellschaftlichen Problems, wenn es über den Menschen heißt, daß „der Mißbrauch seines neuen Zustandes ihn ( . . . ) oftmals hinter seinen bisherigen zurückfallen ließe" 145 , und die Unumkehrbarkeit der Geschichte soll selbst während des letzten Grades der Ungleichheit nur so lange Bestand haben, „bis neue Revolutionen die Regierung völlig auflösen oder sie der legitimen Einrichtung näherbringen. " 146 So ist aus dieser Sicht dann auch in der aktuellen Gesellschaft keineswegs alles verloren, die psychisch-moralische Deformation nicht unüberwindlich. Rousseaus Vertrauen in die Zukunft des Subjekts schafft in der erlebten Wirklichkeit des Verfalls Raum für einen Optimismus, der fast grenzenlos erscheint. „Man hat immer Erfolg, wenn man nur das Gute w i l l " 1 4 7 , heißt es mit Blick auf den Versuch, den einzelnen bei der Reaktivierung seines (sittlichen) Gewissens anzuleiten, und am Ende machen die Selbstheilungskräfte der Geschichte sogar das Element der Erzie141

In Rede steht hier ohnehin nur eine empirische Machbarkeit der Moral. Die Normen des Sittlichen sind für Rousseau Produkte einer vernünftig einsehbaren intelligiblen Welt (vgl. 3. Kap./I./l.). 142 Vgl. Emile I 110,11215. 143 Confess. IX 399. 144 CS III 12(345). 145 CS I 8 (284), H.h. (vgl. OC III 364: „souvent"; Original: Be griff fehlt). 146 Dsl 251, H.h. (vgl. auch CS I I 8 [304 f.]; FP I 210). 147 Emile IV 539.

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hung in der massenhaften, autonom gesteuerten Restauration intakter Moralität obsolet. So sagt „Rousseau" in den Dialogues zu dem „Franzosen": „Glauben Sie denn, der einzige Mensch zu sein, in dessen Herz noch die Gerechtigkeit unabhängig von jedem anderen Interesse spricht? Nein, mein Herr, es gibt noch mehr und vielleicht mehr als man glaubt, die eher getäuscht als verführt sind, die jetzt aus Schwäche und Nachahmung tun, was sie die ganze Welt tun sehen, die aber ganz anders handeln würden, wenn sie sich selbst überlassen wären. ( . . . ) Die allgemeine Stimmung ist von den Oberhäuptern des Bundes verzaubert. Ließen sie einen Augenblick von ihrer Wachsamkeit ab, so würden die durch ihre Kunst irregeführten Begriffe bald wieder ihren natürlichen Lauf nehmen, und die große Menge würde, die Augen öffnend und sehend, wohin man sie geführt hat, selbst über ihre eigene Verwirrung erstaunen. Es wird, Sie mögen sagen, was Sie wollen, früher oder später so kommen." 148 Die Kategorie der historischen Entwicklung wird auf diese Weise prinzipiell rehabilitiert, ihr positives Potential harrt einer Freisetzung durch tätige Einwirkung auf die geschichtliche Existenz des Menschen. Diesen ungenannten Befund hat Rousseau dann auch im Sinn, wenn er der Historie die Kapazität zur Bewältigung des sozialen Problems zuspricht. Die Geschichte, so heißt es im Discours sur Γ inégalité, liefert „die Lösung einer Unzahl von Problemen der Moral und Politik ( . . . ) , die die Philosophen nicht lösen können." 149

cc) Staatskunst Rousseau synthetisiert die notierte Wechselwirkung von menschlicher Handlung und historischer Formation in einem Programm, das auf die analoge, gleichsam phylogenetisch modifizierte Restauration der ursprünglichen Befindlichkeit des Subjekts zielt. Er sieht: Eine effektive erzieherische Einwirkung auf die Konstitution des Menschen unterliegt dem Primat seiner Historizität und nimmt daher unter Berücksichtigung der geschichtlichen Situation eine jeweils spezifische Form an. So versuchen die Kapitel acht bis zehn des zweiten Buchs im Contrat social, die historischen Grenzen für eine Einwirkung auf den sozialen Verband als solchen zu bestimmen.150 Rousseau weiß: Es gibt einerseits für die Nationen eine „Zeit der Reife, die man abwarten muß, ehe man sie Gesetzen unterwirft", doch andererseits gilt: „ ( . . . ) sind die Gewohnheiten erst einmal festgelegt und die Vorurteile verwurzelt, so ist es ein gefährliches und vergebliches Unterfangen, sie reformieren zu wollen." In der Summe bleibt nur wenig Hoffnung: „All diese Bedingungen findet man schwerlich vereint" 151 , heißt es zum Schluß der Untersuchung über die 148 Dialogues ΙΠ 610 f. (H.h.). 149 Dsl 265. 150 Vgl. insb. CS II 8 (304, 305). 151 CSU 10(310). 4 Gaul

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

Voraussetzungen der Staatsgründung. Die Wahl des richtigen historischen Zeitpunkts aber ermöglicht eine Form der Erziehung, die Rousseau die „öffentliche" nennt. 152 Sie verschränkt Ontogenese und Phylogenese, denn das politische Projekt muß auf der Ebene des einzelnen Subjekts ansetzen, zielt aber auf eine Transformation des sozialen Verbandes an sich. Auch wenn im Binnenbereich jeder Phase staatlicher Gemeinschaft die spezifische Steuerung individueller Entwicklung also prinzipiell erhalten bleibt, so soll sich doch die Natur der Gattung als Ganzes mit Hilfe der „Gewohnheit" im Laufe der Zeit verändern. Diese Form der Erziehung repräsentiert die Substanz jeder planvollen Lenkung eines Gemeinwesens, mithin der „Politik". 1 5 3 Geschichtlich jenseits der Option, auf das Kollektiv als solches zuzugreifen, wandert das vormals originär Politische in die Sphäre isolierter Privatheit, wo eine häusliche Erziehung versuchen kann, freigesetzte intakte Subjektivität inmitten scheiternder intersubjektiver Praxis zu bewahren. Ihres eigentlichen Betätigungsfeldes beraubt, ist die Politik dann wesentlich darauf beschränkt, öffentliche Institutionen zu fördern, die den status quo konservieren sollen. 154 Die historische Möglichkeit wirklicher Politik zu erkennen und tätig zu ergreifen, ist also der einzige effektive Zugang zum Problem des Sozialen. Doch wie kann dieses Projekt angesichts der skizzierten geschichtlichen Befangenheit des Subjekts realisiert werden? Eine politische Selbsterziehung müßte die Auswirkung ihrer Maßnahmen mit der Vorstellung einer sich phylogenetisch wandelnden Natur koordinieren, und es scheint, daß vor jeder Frage nach der Bereitschaft schon die menschliche Leistungsfähigkeit einem solchen Vorhaben nicht gewachsen ist. Rousseau personalisiert in Analogie zum erziehenden „Übermenschen" 155 des Emile die relative Geschichtsmächtigkeit des Subjekts dann auch in der Figur des genialen Législateur, den er dem Totalitätsanspruch der Geschichte entzieht, indem er ihn mit Gott identifiziert. 156 Ungefährdet von einer nicht kalkulierbaren Selbstdeformation, arrangiert der Gesetzgeber die historische Genese des sozialen Verbandes, der für ihn bloßer Stoff in einem gewaltigen demiurgischen Prozeß ist. Rousseau kombiniert hier das antike Vorbild des „großen Mannes", der die Historie formend überschreitet, mit dem gedanklichen Instrumentarium der Moderne. Politik ist für ihn „Kunst" 1 5 7 im ursprünglichen Sinne des Wortes (techne), durch die die Natur vollendet oder imitiert werden soll. Zunächst tritt diese Kunst als „Handwerk" auf: Der Politiker muß „arbeiten" 158 und am Ende sein „Meister152 Vgl. dazu Broecken, „Homme" und „Citoyen", S. 160-212; Bruppacher, Selbstverlust und Selbstverwirklichung, S. 165-173; Rang, L'éducation publique, 1964; Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 186-193. 153 Vgl. nur Emile 1114; Pologne IV 578; ÉP 236.

154 Vgl. etwa Narcisse 161; Dialogues I I I 570.

155 Vgl. Emile 1132. 156 Vgl. nur CS I I 7 (300). 157 Vgl. nur ÉP 240; CS I I 1 (288), 3 (291 Anm.), III 11 (344); d'Alembert 404; Dialogues III 611; Emile 1110; Pologne 1567. 158 ÉP 240.

1. Kap.: Geschichte

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stück" 159 abliefern, er errichtet als „Baumeister" 160 das „Gebäude" 161 des Staates. Im Zuge des neuzeitlichen analytischen Rationalismus kann eine solche Disziplin aber nur noch als „Wissenschaft" gedacht werden, deren Grundgesetze die der Physik sind. Daher bemüht sich eine den Regeln der Mechanik folgende Politik 1 6 2 darum, den als „Maschine" begriffenen einzelnen 163 in einen entsprechend konzipierten staatlichen Verband 164 einzuordnen. Auch der Gesetzgeber tritt - wie Gott, „dieser erhabene Werkmeister" 165 , - als „Baumeister" 166 auf, doch eigentlich ist er nichts anderes als ein „Mechaniker, der die Maschine erfindet" 167 und dabei die „science du Législateur" 168 nach mathematischen Vorschriften realisiert. 169 Die menschliche Energie kann also unter bestimmten Voraussetzungen darauf verwendet werden, die Kräfte der Geschichte in die richtigen Bahnen zu lenken und für die Herstellung intakter Gemeinschaft zu nutzen. Das konstruktive Potential dieser Kräfte ist gewaltig: „Es liegt nicht in der Hand der Menschen, ihr Leben zu verlängern, doch es liegt in ihrer Macht, das Leben des Staates so weit wie möglich zu verlängern, indem sie ihm die bestmögliche Verfassung geben. Auch der am besten eingerichtete wird einmal am Ende sein, aber später als ein anderer, wenn kein unvorhergesehener Zufall seinen Untergang vor der Zeit herbeiführt." 1 7 0 Durch eine wesentlich mit „öffentlicher Erziehung" identifizierte Politik läßt sich die unvermeidliche Entwicklung des Subjekts beeinflussen und so auf kollektiver Ebene wenigstens zeitweise gelingende interpersonale Praxis herstellen. In Rousseaus Abgesang auf die großen europäischen Staaten liegt dann auch in erster Linie Bitterkeit über die schlecht investierte menschliche Kraft: „Nicht ohne Mühe haben wir es fertiggebracht, uns so unglücklich zu machen." 171 Die Kategorie des Historischen wird in dieser Perspektive zum Ansatzpunkt für die Lösung des sozialen Problems, wenn man will, in der Tat zur „clé du problème de notre existence ( . . . ) . " 1 7 2 Rousseau weiß: Der Mensch ist (nur) Geschichte, und der Verlust geschichtsresistenter Konstanten erhebt die Analyse der jeweiligen hi159 ÉP236. 160

Jugement polysynodie 93. 161 Dsl 227 (vgl. auch Dsl 61). 162 Vgl. CS-M14, OC III 296. 163 Vgl. nur Emile III 575; CS-M 12, OC III 284. 164 Vgl. CS-M 11, 4, OC III 281, 297; CS I 7 (283), III 6 (328); Dsl 11; Guerre 55; Emile V 918; FP XVI278; Pologne XI618. 165 Dsl 237. 166 CS I I 8 (304) (vgl. auch Emile V 928 f.). 167 CS II 7 (301) (vgl. OC III 381: „méchanicien"; Original: „Künstler"). 168 CS-M 14, OC III 297. 169 Vgl. nur CS III 1 (316-318), 2 (320-322). no CS III 11 (344). 171 Dsl 301. 172 Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 194. *

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

storischen Situation zur conditio sine qua non jeder systematischen Bemühung um ein erfolgreiches Dasein. Schon früh hat Rousseau die Konsequenzen dieses Befundes gesehen: Die Wissenschaft von der Geschichte ist für ihn diejenige, deren „Zweige sich am weitesten über all die anderen Wissenschaften ausbreiten." 173 Die Einsicht in die historische Befangenheit des Menschen aber transportiert ein Gegenwartsbewußtsein, das den naiven Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten von Zukunftsproduktion konterkariert: Subjektive Geschichtsmächtigkeit ist eine fragile Option, die der totalen Historizität des Menschen selbst Tribut zollen muß, denn eine tätige Überschreitung der Gegenwart kann nicht auf die ideal vorgestellte Dynamik eines ohnehin konstruktiven Prozesses gestützt werden. Jedes einzelne Projekt gelingender gesellschaftlicher Praxis muß sich vielmehr in der mühsamen, partiellen Aufhebung einer unerbittlich destruktiven Genese bewähren.

2. Vergangenheit Der savoyische Vikar übernimmt für einen Moment die Rolle des aktuellen Subjekts, dessen Frage nach der Beziehung zur Vergangenheit Desinteresse und Selbstgewißheit der Aufklärung vereint: „ ( . . . ) was gehen uns die Ereignisse an, die vor zweitausend Jahren geschehen sind?" 174 Rousseaus Antwort entwickelt sich in einer zum Teil affirmativen, überwiegend aber kritischen Auseinandersetzung mit den Positionen, die für die Geschichtsbetrachtung des 18. Jahrhunderts repräsentativ sind.

a) Historiographie Die Assoziation von Dunkelheit und Rückständigkeit ist wesentlicher Teil der Faszination, die die Geschichte auf die Philosophie des 18. Jahrhunderts ausübt. Beschäftigt mit der Formulierung und Umsetzung eines Reformprogramms, bleibt der Blick in eine Zukunft gerichtet, deren Gestaltung sich am Gegenbild einer vernunftlosen und unaufgeklärten Vergangenheit orientiert. Voltaire teilt diese Haltung, und im Essai sur les moeurs hat sie in zeittypischer Weise Ausdruck gefunden. Konzipiert ist die Schrift schon begrifflich nicht als Geschichtswerk, sondern - so der Titel bzw. Untertitel der Einleitung in den Ausgaben von 1775 bzw. 1785 - als „Philosophie der Geschichte".175 Diese Bezeichnung transportiert das weltanschauliche Vörverständnis und hat erhebliche Konsequenzen: Die historische Tatsache verliert ihre Bedeutung zugunsten einer Darstellung übergeordneter Zusammenhänge, denn die Geschichtsbetrachtung wird im tätigen Vollzug des universalen menschlichen Fortschritts funktionalisiert. Sie dient jetzt in Fortschreibung hu173 Sainte-Marie, OC IV 51. 174 Emile IV 493. 175 Vgl. Pomeau, Introduction /Variantes, S. X V I I f., LXXIII, 3, 841 Anm. (a).

1. Kap.: Geschichte

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manistischer Tradition allein der Belehrung über moralische und politische Zusammenhänge.176 Voltaire, der nur „vérités utiles" 177 sucht und den „entassement de faits inutiles" 178 beiseite lassen will, realisiert eine (gängige) Anschauung, die im Interesse der Gegenwart den Vorrang der „Philosophie" vor der geschichtlichen Wirklichkeit ausdrücklich zum Programm erhebt. Fehlt das Wissen um historische Zusammenhänge, heißt es etwa bei Diderot, so muß man „recourir à des suppositions philosophiques, partir de quelque hypothèse vraisemblable ( . . . ) . En sy prenant ainsi, les progrès d'un art seraient exposés d'une manière plus instructive et plus claire que par son histoire véritable ( . . . ) . " 1 7 9 In dieser Perspektive ist die Vergangenheit, ihre Realität und epochale Differenz nicht als solche, sondern nur als Derivat moralischer Belehrung von Interesse. Voltaire macht aus dieser Haltung keinen Hehl. Er rät, „d'avoir une légère teinture de ces temps reculés; mais je voudrais qu'on commençât une étude sérieuse de l'histoire au temps où elle devient véritablement intéressante pour nous; il me semble que c'est vers la fin du XVe siècle." 180 Auf diese Weise wird einer Betrachtung Rechnung getragen, die den Beginn der Aufklärungsbewegung mit dem wahren Beginn der Geschichte identifiziert und die Vergangenheit insgesamt zur Prähistorie degradiert. Anschaulich tritt das in der Auseinandersetzung mit der Figur des Goldenen Zeitalters zu Tage. Die antike Darstellung eines mythischen glücklichen und konfliktfreien Lebens vor jeder Zivilisation wird von der Renaissance im Zuge der neuzeitlichen Entdeckungen unter kulturkritischen Aspekten reaktiviert. Sie bildet jetzt den Hintergrund für den bon sauvage, der in den existierenden Naturvölkern begegnet und das zivilisatorisch korrumpierte aktuelle Subjekt kontrastiert. Dieses Konzept ist im 17. und 18. Jahrhundert verbreitet und erreicht zu Rousseaus Lebzeiten seine größte Popularität. 181 Schon auf der Ebene des Literarischen trifft man allerdings bisweilen auf eine latente Entmythologisierung des aetas aurea, mit deren Hilfe die Affirmation gültiger moralischer Standards oder technologischer Errungenschaften betrieben wird. 1 8 2 In der historiographisch interessierten Perspektive ist diese Tendenz vor dem Hintergrund des Fortschrittsgedankens noch stärker ausgebildet. Das geschichtlich Überholte, das sich in den aktuellen sociétés sauvages manifestiert 183, hält den europäischen Maßstäben nicht stand, doch das Postulat einer Akzeptanz

176

Vgl. Muhlack, Geschichtswissenschaft in der Aufklärung, S. 44,45 f. Essai sur les moeurs, Band 1, Introduction I, S. 3. 178 Essai sur les moeurs (Supplément [I]), S. 900. 179 „art" [Encyclopédieartikel] , S. 268. 177

180

Remarques sur l'histoire, S. 44. Vgl. dazu Krauss, Anthropologie des 18. Jahrhunderts, S. 32-47; Mouralis , Montaigne et le mythe du bon sauvage, 1989. 182 Vgl. Koebner, Zurück zur Natur, S. 72-75, 77, 79-81. 183 Vgl. nur Voltaire, Essai sur les moeurs, Band 1, Introduction II, S. 8 f., VII, S. 26, Avant-propos, S. 201. m

54

1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

des anderen (Vergangenen) 184 erweist sich bald als bloße Rhetorik. Forster oder Voltaire können sich schon eine Gesellschaft ohne Eigentum nicht vorstellen 185 , und Bordes fällt das endgültige Urteil der Spätaufklärung über den historischen Sozialverband: „Man läßt sich seit langem durch die Chimäre einer Goldenen Zeit nicht mehr täuschen. Überall ist die Barbarei der Errichtung von Gesellschaften vorausgegangen ( . . . ) . " 1 8 6 In diesem Denken wird erkennbar, wie sehr die Aufklärung auf sich selbst fixiert bleibt. Die Vergangenheit ist ihr nicht ein prinzipiell gleichwertiges aliud, sondern ein defizitäres, überwindungsbedürftiges Stadium menschlicher Existenz. Das wahre Dasein beginnt erst jetzt, in der Gegenwart, im Zeitalter der Aufklärung, das durch eine Zäsur von früheren Epochen getrennt ist. Voltaire hat diese Sichtweise deutlich gemacht, wenn er sein Jahrhundert als Ort des historischen Durchbruchs bezeichnet, der der tätigen Vernunft endgültig den Weg ebnet. 187 Für ihn kommt das Subjekt jetzt also zu sich und nimmt sein Schicksal in die eigene Hand. Dazu benötigt es wenig mehr als seine Rationalität, und auch wenn geschichtsmächtiges Tun sich der historisch transportierten moralischen Einsichten bedienen mag, so kann es doch als wesentlich voraussetzungslos gedacht werden. Insofern hat man treffend formuliert, daß es der Historiographie der Aufklärung bei ihrer apostrophierten „Rückkehr zu den Quellen" 188 in der Tat nur darum geht, „die universale Vorgeschichte der französischen Bourgeoisie [zu] schreiben." 189 Im Hinblick auf die Methode der Historiographie erweist sich ein großer Teil der Aufklärung in Vollzug eines allgemeinen Paradigmas gleichsam als retardierendes Moment. Bayle etwa folgt schon am Ende des 17. Jahrhunderts bei der Gewinnung geschichtlicher Einsicht einem wesentlich induktiv konzipierten Verfahren, das der verbreiteten anticartesisch inspirierten Hochschätzung der Empirie formal entspricht und das Primat des Faktischen gegenüber dem Ideellen realisiert: Historische Wahrheit kann qua Konkretheit mit einem größeren Grad an Gewißheit eingesehen werden als selbst die Aussagen der Mathematik. 190 Voltaire dagegen bleibt grundsätzlich einem Wissensideal verhaftet, das geschichtliche Sachverhalte nicht sicher erfaßt. „Historische Gewißheit" kann für ihn nur „extrême probabilité" sein, während zweifelsfreie Erkenntnis allein in der Mathematik (den Naturwissenschaften) möglich ist. 1 9 1 Das offene und nicht umgehend relativierte Bekenntnis zur Mathematik stellt im Zeitalter einer ideologisch motivierten Abwertung des 184 Vgl. Voltaire,

Essai sur les moeurs, Band 1, Kap. VI, S. 259 f.

185

Vgl. Fontius, Rousseaus Auseinandersetzungen, S. 29 f.; Voltaire, Band 2, Kap. CXLIII, S. 322: „contre la nature". 186 Zitiert nach Krauss, Anthropologie des 18. Jahrhunderts, S. 61. «7 Lettre à Helvétius (27/10/1760), S. 49. iss Vgl. Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 71-87. 189 Meinecke, Historismus, S. 78. 190 Vgl. Entwurf zu einem critischen Wörterbuche IX, S. 624 f. 191 Vgl. „histoire" [Encyclopédieartikel

], S. 177.

Essai sur les moeurs,

1. Kap.: Geschichte

55

„Systems" eher die Ausnahme dar, doch in Hinblick auf seinen präsupponierten Gehalt ist es geradezu repräsentativ. Hier behauptet sich dem Grunde nach allein der überkommene cartesische Gewißheitsanspruch, dessen Anerkennung der Mathematik im wesentlichen auf dem Verfahren einer (apriorischen) Deduktion von Erkenntnisse (aus der „Hypothese") fußt. 192 Die populäre Denunziation, Descartes perpetuiere eine intellektualistische, der Komplexität des naturhaften Stoffes inadäquate syllogistisch-scholastische Methodik, ist dann oftmals Nebenprodukt inhaltlicher Kritik 1 9 3 oder Camouflage einer gleichsam spekulativen „Induktion", die deduktives Vorgehen auf (scheinbar) empirisch ermittelte Prinzipien stützt. 194 Wenn also die Historiographie den Rang seriöser Wissenschaft beanspruchen will, dann liegt es vor diesem Hintergrund nahe, sie weitgehend von der Last ungeklärter Sachverhalte zu befreien und methodologisch den (de facto) deduktiv arbeitenden Disziplinen anzunähern. Die Ambivalenz des skizzierten Zusammenhangs ist mitzulesen, wenn Voltaire im Kontext einer Kritik am „System" hofft: „Peut-être arrivera-t-il bientôt dans la manière d'écrire l'histoire ce qui est arrivé dans la physi-

b) Gestern - heute - morgen Rousseau scheint sich den referierten Anschauungen wenigstens zum Teil nicht zu verschließen. Auch er will bei Bedarf die „ungewissen Zeugnisse der Geschichte" 196 durch Fiktionen ersetzten, deren Bestimmung „Aufgabe der Philosophie" 1 9 7 sein soll, auch er will eher die Entwicklung „im allgemeinen nach[]weisen, als ihre wahrhaften Ursachen mit Präzision ( . . . ) bestimmen." 198 Der Zweck dieses Unternehmens entspricht ebenfalls der Auffassung seiner Zeit. So heißt es im Vorwort zum Discours sur l'inégalité : „ ( . . . ) die ( . . . ) Geschichte der Regierungen ist für den Menschen eine in jeder Hinsicht lehrreiche Lektion." 1 9 9 Das Vergangene dient in dieser Vorstellung als Fundus für die erfolgreiche Bewältigung der Zukunft, die Lektüre der Geschichte ist nichts anderes als ein „Lehrgang in praktischer Philosophie ( . . . ) . " 2 0 0 Rousseau läßt dabei zunächst keinen Zweifel am Vorrang des Illustrativen gegenüber dem historisch Richtigen. Er sagt in einer Formulierung, die die Unterstellung einer Mißachtung der Tatsachen201 offenbar 192 193 194 195 196 197 198

Vgl. Descartes , Regula II, S. 364 f. So etwa bei Voltaire, Lettres philosophiques XIV, S. 131. Vgl. Kondylis, Aufklärung, S. 298-309. Nouvelles considérations sur l'histoire, S. 46. Dsl 109. Dsl 169. Dsl 47.

199 D s l 61 (vgl. auch Emile I I 245 f., I V 4 9 0 - 5 0 2 ; N H I 12 [60]; Montagne V I I 165, V I I I

205; CS IV 4 [364]; FP X 255 f., XIII273 f.). 200 Émile IV 500.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

rechtfertigt: „Als ob es so wichtig wäre, ob eine Tatsache authentisch ist, wenn man etwas Nützliches daraus lernen kann. Verständige Menschen müssen die Historie wie ein Gewebe aus Fabeln betrachten." 202 Die Antwort auf die selbstgestellte Frage nach dem Sinn des Wortes „Tatsachen" 203 steht dann auch ganz im Zeichen dieser Systematik und betreibt eine subtile argumentative Reduktion des Begriffs von rein äußerlicher Faktizität auf bewertbare moralische Wirkungszusammenhänge.204 Rousseau fragt: „Glaubt man, daß die wirkliche Kenntnis der Ereignisse trennbar sei von der ihrer Ursachen und Wirkungen, daß das Historische so wenig mit dem Moralischen zusammenhänge, daß man das eine ohne das andere erkennen könnte?" 205 Der Historiker darf etwa „den Leser nicht mit der unfruchtbaren und zweifelhaften Folge der Könige ermüden, die Sparta von Lelex an bis in die Zeit der Republik regierten" 206 , sondern muß die inneren Zusammenhänge der Geschichte aufdecken. Erst dann kann sie auch die ihr zugedachte Aufgabe erfüllen, denn „die Erkenntnis von Tatsachen ohne die Kenntnis ihrer Ursachen führt nur zur Belastung des Gedächtnisses, ohne Belehrung für die Erfahrung und ohne Vergnügen für den Verstand." 207 Auch der Begriff der „historischen Ursachen" bedarf jedoch der Vertiefung. Rousseau polemisiert gegen die Historiker, die die Hintergründe geschichtlicher Ereignisse einbeziehen, aber im Grunde darüber nicht mehr wissen „als das, was sie in der Zeitung lesen ( . . . ) . " 2 0 8 Nicht irgendwelche Ursachen sind Gegenstand wahrhafter Geschichtsbetrachtung, sondern nur die, die im Wesen des Menschen selbst begründet liegen: Man muß „auf die Grundtriebe der menschlichen Leidenschaften und bis auf die allgemeinen Gründe, die sie bewegen, zurückgehen." 209 Doch diese Forderung macht die Aufgabe des Historikers schwierig, denn die allgemeinen Gründe sind oft am schwersten zu erkennen. So ist der Titel der Schrift, die die zitierte Polemik enthält, in einer Hinsicht Programm: Es geht Rousseau um die „cause secrete", um die geheimen Ursachen der Geschichte. Ein Beispiel: „Der Krieg offenbart nur Vorkommnisse, die schon durch moralische Ursachen, von denen die Historiker selten etwas erkennen können, festgelegt waren." 210

201

Vgl. Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 141; Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, S. 11 f. 202 Emile II 336 Anm. 203 Vgl. Émile II 245. 204 Als einzig originärer Beitrag Rousseaus zur Gewinnung eines geschichtlichen Bewußtseins begriffen von Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 138-147; Peters, Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien, S. 268 f. 205 Emile II 245 f. 206 FP XIII 273. 207 FP X 255 f. (vgl. auch Émile IV 492). 208 EsÉ, OC II 1258. 209 FP X 255. 210 Émile IV 495.

1. Kap.: Geschichte

57

Bereits der Blick auf die Ebene der Methode allerdings zeigt, daß die Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Konzepten keineswegs vollständig ist. Ausgehend vom Zusammenhang dieser Argumentation betreibt Rousseau eine durchaus weitgehende Revision der aufklärerischen Geschichtsbetrachtung, die das Verhältnis von Subjekt und Vergangenheit von einer kritiklosen Selbstfixierung befreit und den Menschen in einen einheitlich begriffenen historischen Kontext integriert.

aa) Tatsachen Im Exordium des Discours sur l'inégalité , das den Status der Schrift mit Blick auf die Methode erläutert, findet sich folgende Passage: „Beginnen wir damit, daß wir alle Tatsachen beiseite lassen, denn sie berühren die Frage nicht. Man darf die Untersuchungen, in die man über diesen Gegenstand eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingungsweise geltende Schlußfolgerungen, mehr dazu geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaften Ursprung zu zeigen ( . . . ) . " 2 1 1 Die politische Situation in der Mitte des 18. Jahrhunderts verlangt dem Autor konfliktträchtiger Schriften stets rhetorische Unterwerfungsgesten ab. Rousseau beschränkt sich daher nicht darauf, den biblischen Lehren von der ursprünglichen Konstitution des Menschen den Respekt zu erweisen, „den ihnen jeder christliche Philosoph schuldet", er verleiht auch der folgenden Schilderung des menschlichen Aufbruchs in die Geschichte konsequent den Status einer Untersuchung, die nur fragt, „was wir, uns selbst überlassen, geworden wären ( , . . ) . " 2 1 2 Die „Tatsachen", die beiseite gelassen werden sollen, sind also jedenfalls die biblischen. 213 Nun hat man aber das notierte Zitat 2 1 4 , die wiederholte Charakterisierung der Aussagen als „Hypothesen" 215 sowie den an anderer Stelle geäußerten Vorsatz, „über die Natur der Dinge nach [zu] sinne [n] und nicht über Geschehnisse, die tausend besondere und vom gemeinsamen Grundsatz unabhängige Ursachen haben können" 216 , im Kontext der skizzierten zeitgenössischen Fixierung auf das naturwissenschaftliche Modell verstehen wollen. Aus dieser Perspektive ist der geschichtliche Gestus des Discours sur l'inégalité nur fiktiver Ausdruck der geneti211

Dsl 71 (folgendes Zitat ohne Nachweis ebd.). Dsl 61 (ähnlich Dsl 73). 213 So auch Caspar, Wille und Norm, S. 29; Ducket, Anthropologie et histoire, S. 333; Ellenburg, Rousseau's Political Philosophy, S. 145; Goldschmidt, Anthropologie et politique, S. 125, 127; Green, Rousseau, S. 121; Herb, Theorie legitimer Herrschaft, S. 79; G. Kelly, Rousseau, Kant, and history, S. 353; Lansson, L'unité de la pensée, S. 4; Meier, Dsl (Kommentar), S. 71, Anm. 83; Morel, Recherches, S. 136; Rang, Rousseaus Lehre, S. 136; Weigernd, Rousseau, S. 328, Anm. 14. 214 Entspr. Dialogues II437. 2 2

1

215 Vgl. D s l 61, 169, 225, 247 (vgl. auch D s l 73,219).

216 Guerre 53.

58

1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

sehen Wendung des Erkenntnisproblems und läßt auch profanhistorische Befunde unberücksichtigt. Rousseaus Geschichtsschreibung kann dann im ganzen dem Grunde nach als „deductive et a priori" 217 begriffen werden. Ist diese Charakterisierung zutreffend? Rousseau schreibt im Discours sur l'inégalité „über die Unmöglichkeit, vor der man einerseits steht, gewisse Hypothesen zu zerstören, obgleich man sich andererseits außerstande sieht, ihnen den Gewißheitsgrad von Tatsachen zu geben ( . . . ) . " 2 1 8 Für die einzelnen Daten der historischen Rekonstruktion wird also der letzte Grad von Gewißheit nicht reklamiert, sie bleiben prinzipiell hypothetisch. Rousseau läßt daran auch keinen Zweifel: „Meine Leser mögen daher nicht glauben, daß ich mir zu schmeicheln wage gesehen zu haben, was zu sehen mir so schwer erscheint; ich habe einige Vermutungen gewagt ( . . . ) . " 2 1 9 Warum aber muß dann an den Daten festgehalten werden, wenn sie sich als nicht endgültig verifizierbar erwiesen haben? In Fortschreibung von Diderots Ansatz erläutert Rousseau zunächst, „daß es, ( . . . ) wenn die Geschichte fehlt, Aufgabe der Philosophie ist, ähnliche Tatsachen zu bestimmen, die sie [zwei bekannte Tatsachen; Verf.] verbinden können ( . . . )." Die Philosophie soll also der Geschichtsbetrachtung helfen, doch sie ist darin gleichsam an die historische Wirklichkeit gebunden. Ihre Festlegungen müssen vor dem Maßstab der „Ähnlichkeit" bestehen, mithin wesenhaft der bekannten geschichtlichen Realität vergleichbar sein. Rousseau erklärt dann auch, daß die philosophische Bestimmung kaum Wahlmöglichkeiten hat: „ ( . . . ) in bezug auf die Ereignisse [ist] die Ähnlichkeit der Tatsachen auf eine viel kleinere Zahl von unterschiedlichen Klassen reduziert, als man sich vorstellt." In diesem Konzept gewinnt die Tatsache als solche eine Schlüsselstellung. Rousseau weiß: Der von einer präsupponierten historischen Unkenntnis ausgehende Entwurf einer Gattungsgeschichte muß sich gleichsam spiegeln auf der Ebene konkreter Faktizität, die als komplementäre Sphäre einen Geltungsanspruch der historischen Rekonstruktion überhaupt erst ermöglicht. Die Nachbildung der Geschichte durch die Philosophie ist also inhaltlich nur Derivat des Tatsächlichen: Gleichsam eingeholt von der historischen Wirklichkeit, muß sie sich den Gesetzen der Realität beugen. Im Laufe des Discours sur l'inégalité greift Rousseau dann auch zur Absicherung seiner Aussagen immer wieder auf das argumentative Potential der Tatsachen zurück, denen er konsequent Beweiskraft zuspricht. 220

217 Goldschmidt, Anthropologie et politique, S. 164, H.i.O. (ähnlich Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 100; Bosanquet, Les idées politiques, S. 327, Anm. 1; Broecken, „Homme" und „Citoyen", S. 40, Anm. 103; Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 207; Hirsch, Rousseaus Geschichtsphilosophie, S. 226, 241; Kondylis, Aufklärung, S. 342; Payot, Essence et temporalité, S. 85; Röhrs, Rousseau, S. 86; Stackelberg, Rousseau, S. 10, 41; Starobinski, Welt von Widerständen, S. 27). 2 18 Dsl 169 (folgende Zitate ohne Nachweis ebd.). 2 19 Dsl 47. 22

0 Vgl. nur Dsl 109, 285, 287, 325.

1. Kap.: Geschichte

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Diese Sichtweise relativiert den scheinbaren Gehalt deduktiver Methodik in der Aussage, daß die „Vermutungen [über die Ursachen des historischen Prozesses; Verf.] zu Gründen werden, wenn sie die wahrscheinlichsten sind, die man aus der Natur der Dinge herleiten kann ( . . . ) . " 2 2 1 Man hat den notierten Satz treffend mit einer Äußerung des von Rousseau geschätzten Buffon verglichen 222 , der den Umgang mit Lücken im Zusammenhang der Fakten aus der methodologischen Prämisse entwickelt, man dürfe als Historiker sein Urteil nicht auf „vaines spéculations" gründen 223 , sondern müsse zuvor „avoir vu, revu, examiné, comparé ( . . . ) , et tout cela sans préjugé, sans idée de système ( . . . ) . " 2 2 4 Hier wird ein empirischer Aufwand vorausgesetzt, der dem Grunde nach die Rede rechtfertigt, für bestimmte Annahmen ließen sich „par induction des raisons très-plausibles" finden. 225 Vor diesem Hintergrund kann Rousseau die Entwicklung mit einem hohen Gewißheitsgrad („unzerstörbare Hypothesen") rekonstruieren und etwa über den historischen Vertragsschluß sagen: „Dies war, oder muß der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein ( . . . ) . " 2 2 6 Entsprechend heißt es über die gemeinsame Sorge um das Wasser: „Dies mußte der Ursprung der Gesellschaften und der Sprachen in den warmen Ländern gewesen sein." 227 Hatte Rousseau in bezug auf den Geschichtsprozeß immerhin nicht auf die absolute historische Wahrheit seiner Erkenntnisse bestanden, so endet in Hinblick auf den vorgeschichtlichen Zustand selbst jeder Kompromiß. Die Rousseau-Rezeption setzt bis heute oftmals Historie und Prähistorie bei der Frage nach dem methodologischen Status in eins 228 , doch dazu besteht kein Anlaß. Angesichts der Tatsache, daß die ursprünglich theologische Hilfskonstruktion eines status naturae purae, 221 Dsl 167. 222 Vgl. Meier, Dsl (Kommentar), S. 167, Anm. 210. 223 Vgl. Théorie de la Terre, S. 126. 224 De la manière d'étudier, S. 30. 225 Vgl. Théorie de la Terre, S. 122 (H.h.). 226 Dsl 219 (H.h.). 227 Langues DC 197 (H.h.). 228 Für den reinen Naturzustand als bloße „Hypothese" etwa Aldridge, The state of nature, S. 25; Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 87-103; Bitterli, Geistes- und Kulturgeschichte, S. 282; Bolle, Rousseau, S. 68; Bosanquet, Les idées politiques, S. 327, Anm. 1; Brandt, Eigentumstheorien, S. 148 f.; Broecken, „Homme" und „Citoyen", S. 40 f.; Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 202-215; Cassirer, Das Problem Rousseau, S. 18 f.; Clair, Rousseau et le droit, S. 301; Dehaussy, La dialectique de la liberté, S. 122 f.; Duchet, Anthropologie et histoire, S. 338; Dürkheim, Montesquieu et Rousseau, S. 116; F etcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 27; Forschner, Rousseau, S. 23; Gouhier, Les méditations métaphysiques, S. 13 f.; Gueroult, Nature humaine, S. 384 f.; Perkins, Rousseau, liberté et guerre, S. 1222; Peters, Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien, S. 268; Rang, Rousseaus Lehre, S. 116; Rath, Zweite Natur, S. 30; Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 38, 40; Ritzel, Rousseau, S. 90; Salomon-Bayet, Rousseau, S. 159; Spaemann, Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, S. 67; Starobinski, Welt von Widerständen, S. 27; Steinvorth, Stationen der politischen Theorie, S. 113; Terrasse, Rousseau et la quête de l'âge d'or, S. 69 f.; Trousson, Rousseau, S. 31; Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 57 f.

60

1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

die mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust des komplementären Gnadenbegriffs der ideologischen Kontrolle ihrer Erfinder gleichsam entglitten war und nun in säkularisierter Form mit den biblischen Lehren in Widerspruch trat, den Hauptkritikpunkt der kirchlichen Orthodoxie bildete, bekennt sich Rousseau erstaunlich freimütig zu der Behauptung, der beschriebene reine Naturzustand sei eine geschichtliche Realität. 229 Schon die zeitgenössische Kritik registrierte diese Haltung und ließ sich auch durch den Hinweis im Vorwort des Discours sur Γ inégalité, es ginge um einen Zustand, „der vielleicht nie existiert hat" 2 3 0 , nicht täuschen: „ ( . . . ) ce peut-être est assurément de trop", bemerkt Fréron 2 3 1 Im Zuge der weiteren Argumentation gibt Rousseau dann auch seine Zurückhaltung auf und bezeichnet einzelne Phänomene des Naturzustandes als „Tatsache" 2 3 2 , schließlich diesen Zustand selbst als „real gegebene Tatsache ( . . . ) . " 2 3 3 Im Grunde hatte sich dieses Ergebnis schon angekündigt, als Rousseau im Exordium des Werkes seine als „Hypothesen" vorgestellten Aussagen nicht ohne Hintersinn mit jenen vergleicht, „welche unsere Naturwissenschaftler alle Tage über die Entstehung der Welt machen." 234 Der Gestus des Textes, der sich in großem Umfang des verfügbaren Tatsachenmaterials bedient, drängt ungeachtet seiner vordergründigen Präsentation gleichsam selbst auf die Konstituierung eines Sachverhalts, der den Status einer „bewiesenen Tatsache" beansprucht. Das argumentative Potential entlädt sich schließlich in einer langen Anmerkung, in der Rousseau schreibt: „ ( . . . ) es fällt mir schwer zu begreifen, wie es zugeht, daß sich in einem Jahrhundert, in dem man in glänzende Kenntnisse seinen Stolz setzt, nicht zwei eng verbundene Menschen finden ( . . . ) , von denen der eine zwanzigtausend Taler seines Vermögens und der andere zehn Jahre seines Lebens für eine gefeierte Reise um die Welt opferte, um dabei nicht immerfort Steine und Pflanzen, sondern einmal die Menschen und die Sitten zu studieren ( . . . ) . " 2 3 5 Was verspricht sich Rousseau von einer systematisch durchgeführten Erforschung der condition humaine? Die Antwort liegt nahe: Die Einsicht, daß „verschiedene den Menschen ähnliche Lebewesen, die von den Reisenden ohne lange Prüfung für Tiere gehalten wurden ( . . . ) , in Wirklichkeit wahrhaft wilde Menschen waren, deren Rasse, in alten Zei229

So grundsätzlich auch Berief, Selbstentfremdung, S. 81; Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, S. 440; Caspar, Wille und Norm, S. 29 f.; Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, S. 10, 13; Figal, Rekonstruktion der menschlichen Natur, S. 32, passim; Herb, Theorie legitimer Herrschaft, S. 79-81; Levin, Vaughan's interpretation, S. 524 f.; Love joy, Discourse on Inequality, S. 168; Masters, Philosophy of Rousseau, S. 118, Anm. 46, 48; Meier, Dsl (Kommentar), S. 71, Anm. 83, S. 168, Anm. 212; Morel, Recherches, S. 130138, 198, passim; Ogden, State of Nature, S. 23; Plattner, State of Nature, S. 17-30; Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 278, Anm. 32. 2 30 Dsl 47. 2

31 Fréron [Rezension], S. 149 [S. 586].

232

Vgl. Dsl 363. 33 Dsl 169 (vgl. auch Confess. VIII 383). 2 34 D s l 71. 2 35 Dsl 345. 2

1. Kap.: Geschichte

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ten in den Wäldern zerstreut, keine Gelegenheit gehabt hatte, irgendeine ihrer virtuellen Fähigkeiten zu entwickeln, keinerlei Grad von Vollkommenheit erlangt hatte und sich noch im anfänglichen Naturzustand befand." 236 Die Vorstellung vom homme sauvage als eines geschichtlichen fait réel aber rechtfertigt schließlich in der Tat das Urteil: „Le Discours est moins (...) a priori que tous les traités qui l'ont précédé." 237

bb) „... des humains comme nous ..." Rousseau firmiert also nicht zu Unrecht als Begründer moderner Anthropologie und Ethnologie 238 , doch die Wirkung dieser Disziplinen zielt in seinem Konzept in eine unerwartete Richtung. „ ( . . . ) wir selbst würden eine neue Welt unter ihrer [der Reisenden; Verf.] Feder entstehen sehen und so die unsere kennenlernen ( . . . ) " 2 3 9 - die „Kenntnis unserer Welt" ist hier nichts anderes als die Kenntnis der eigenen Historizität. Rousseau stößt die Tür zum Verständnis einer wahrhaft geschichtlichen Welt auf, wenn er den Menschen der aktuellen Gesellschaft auf eine Weise mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, vor der es kein Entkommen gibt: Hat das historische Spiegelbild des aktuellen Subjekts den Status einer beweiskräftigen Tatsache, dann kann die Vorstellung quasi-animalischen Daseins nicht mehr beiseite geschoben werden. Der genetische Zusammenhang zwischen tierischer und aktueller Existenz wird in diesem Sinne ausdrücklich hergestellt: Es gibt keinen Grund, „den in Frage stehenden Tieren die Bezeichnung ,Wilde Menschen' zu verweigern, ( . . . ) für die, ( . . . ) die sich darüber im klaren sind, bis zu welchem Punkt seine Perfektibilität den bürgerlichen Menschen über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehoben haben kann." 2 4 0 Rousseau sieht am Ende seines Lebens dann auch ein, daß er den nachlässigen Umgang mit der historischen Wirklichkeit revidieren muß. Geschichte verliert nur als nachgewiesenes Element der Realität ihren unverbindlichen Charakter, und deshalb kann die Richtigkeit einer Schilderung allein dann dahinstehen, wenn es nicht um „historische Wahrheiten" geht. 241 Geschichte also ist etwas Wirkliches, und jeder Versuch, sie aus der Gegenwart zu drängen, indem sie ihrer Realität entkleidet und zum bloßen Mythos degradiert wird, muß scheitern. Das Historische ist nahe, und der Mensch muß nicht einmal in andere Länder reisen, um ihm zu begegnen, denn gelegentlich bricht es sogar

236 Dsl 325 f. 237 Morel, Recherches, S. 198 (H.i.O.). 238 Grundlegend Lévi-Strauss , Rousseau, Begründer der Wissenschaften vom Menschen, 1992. 239 Dsl 349. 240 Dsl 333. 241 Vgl. Rêv. IV 683.

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gegenständlich in die Realität der europäischen Zivilisation ein. So sind etwa die im Brief an d'Alembert geschilderten schweizer Montagnards 242 „in neueren Zeiten Menschen alter Art ( . . . ) . " 2 4 3 Rousseau registriert die ungenügenden Anstrengungen seiner Gegner, die Wirklichkeit der Geschichte zu eliminieren, dann auch mit kaum unterdrücktem Triumph. An Bordes schreibt er: „Was gäben sie darum, daß dieses Sparta nie dagewesen wäre! Und sie, die glauben, große Handlungen seien nur dazu da, gerühmt zu werden, was gäben sie nicht dafür, wenn es die seinen nie gegeben hätte!" 244 Doch Sparta war so wirklich wie das intellektuelle Paris der Aufklärung, das sich dieser Einsicht verschließt. „ ( . . . ) die Philosophie, scheint es, geht nicht auf Reisen" 245 , sagt Rousseau mit Blick auf die Realität des sauvage, und der Hohn richtet sich gegen eine Gesellschaft, die die geschichtliche Dimension ihrer Existenz ignoriert. Ihr scheinbares historisches Interesse wird entlarvt als bloße Nostalgie, denn in einer verklärenden Rückschau auf vergangene Zeiten liegt in Wahrheit nichts anderes als die Affirmation der bestehenden Wirklichkeit, deren kritische Überschreitung verweigert wird. Rousseau gibt sich keinen Illusionen hin: „Das Goldene Zeitalter wird wie ein Phantasiegebilde betrachtet, und für den, der ein verdorbenes Herz und einen verdorbenen Geschmack hat, wird es immer eines bleiben. Es ist nicht einmal wahr, daß man es zurücksehnt ^ ^ «246 Die Einsicht in die Realität des Historischen aber unterläuft auch den Versuch, Geschichte auf Distanz zu halten, indem ein bestimmtes politisch-sittliches Konzept zum konstitutiven Element der histoire de Γ homme schlechthin erhoben wird. Rousseau sieht: Jede Manifestation menschlicher Existenz repräsentiert ein bloßes Durchgangsstadium des Geschichtsprozesses, die Befindlichkeit des Subjekts bleibt von ihrer Genese aus einer anderen Form des Daseins untrennbar. Der Mensch ist also kein einfach Seiendes, sondern auch und gerade in seiner jeweils fundamentalen Differenz nur ein Gewordenes 247, das insoweit stets die Summe alles Menschlichen integriert. Diese Kontinuität aber, die homme naturel und Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft verbindet, etabliert den homo historicus als eine ontologisch vorgängige Kategorie, die vom akzidentiellen Wechsel moralischer oder sozialer Parameter unbeeindruckt bleibt. 248 Historie kann sittlich bewertet und vergleichend geordnet werden, aber sie ist an sich zunächst eine, und diese Einsicht denunziert die Vorstellung einer Initiation der Geschichte qua Aufklärung als intellektuelle Hybris.

242 Vgl. d'Alembert 394-396. 243 N H I 12(59). 244 Dernière réponse 121. 245 Dsl 341. 246 Émile V 943. 247 in diesem Sinne etwa auch Gouhier, Les méditations métaphysiques, S. 12; Starobinski, Welt von Widerständen, S. 38. 248 Treffend Meinhold, Rousseaus Geschichtsphilosophie, S. 30.

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Vor dem Auge des Betrachters breitet sich jetzt die prozessual vermittelte Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart aus. Indem der Mensch sie studiert, studiert er sich selbst, doch in ihrer konsequenten Rekonstruktion findet er nicht nur seine aktuelle Identität. Rousseau wendet am Ende auch bei der Frage nach den Maßstäben für die Herstellung von Zukunft die Analyse des tatsächlichen Geschichtsverlaufs gegen die Konzeption der Aufklärung. Er hält angesichts des allgemeinen konstitutionellen Verfalls nichts von Voltaires Vorschlag, auf die gedankliche Substanz vor dem „fin du XVe siècle" zu verzichten. Die Umkehrung ist es, die Sinn macht: „ ( . . . ) unsere ganze Historie fängt da an, wo sie enden sollte." 249 Rousseau sieht ab von einer Beschäftigung mit der Epoche des Niedergangs und verweist die Menschheit der Sache nach auf eine modifizierte Reproduktion der vorchristlichen Geschichte. Von der Renaissance wieder ans Licht gebracht und in seinen Augen dann so unglücklich interpretiert, ermöglicht die antike Vorstellungswelt den Zugang zum Problem des Sozialen. Rousseau weiß: Wenn auch das Subjekt nicht zurück kann in die Vergangenheit, so liegt doch grundsätzlich in ihren Strukturen seine Zukunft. Auf diese Weise verschmelzen nun gestern, heute und morgen zu einer Einheit, die das gesamte Potential menschlicher Existenz transportiert. „Sicherlich geht es uns nicht unmittelbar an, ob vor zweitausend Jahren ein Mensch schlecht oder gut war; und doch interessiert es uns in der alten Geschichte ebenso, als sei es heute gesehen"250, sagt Rousseau mit Blick auf die Geschichte transzendierende Kraft moralischer Vorstellung, und dieses Prinzip ist auch mit Rücksicht auf die Gestaltung von sozialer Zukunft wirkmächtig. Solange der historische Prozeß die Etablierung der neuen Polis überhaupt gestattet, solange sind Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende nichts, kein Hindernis für den produktiven Zugriff auf das geschichtliche Material. Vor diesem Hintergrund kann dann auch die oben gestellte Frage des aktuellen Subjekts nach dem Zusammenhang mit längst vergangenen Ereignissen beantwortet werden. So heißt es zur Forderung nach gesetzgebenden Versammlungen des Volkes: „Das versammelte Volk! wird man sagen, welches Hirngespinst! Heute ist es ein Hirngespinst, doch vor zweitausend Jahren war es keines." Und die Folgerung: „Aus dem was geschehen ist, wollen wir auf das schließen, was geschehen kann ( . . . ) . " 2 5 1 In dieser Darstellung bezieht das Gestaltungspotential des Historischen seine argumentative Kraft allein aus sich selbst, aus seiner reinen Faktizität. „Sie machen Einwände, aber die Geschichte löst sie auf' 2 5 2 , schreibt Rousseau über den Widerstand des Genfer Patriziats gegen den Allgemeinen Rat, und auch die Diskussion über die Möglichkeit gesetzgebender Versammlungen im Contrat social wird mit dem apodiktischen Hinweis 249 Émile IV 491. 250 Émile I V 588.

251 CS III 12 (345). - Vgl. auch Jugement polysynodie 86: Im Irrtum sind die, „die das Mögliche nur nach dem [aktuell; Verf.] Bestehenden zu bewerten wissen ( . . . ) . " 252 Montagne VIII209.

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auf die Realität eines geschichtlichen Vorbilds beendet: „Wie dem auch sei, diese eine unstreitige Tatsache ist die Antwort auf alle Schwierigkeiten. Der Schluß vom Wirklichen auf das Mögliche erscheint mir tauglich." 253 Rousseau hat sein Verständnis von der bruchlos-realen Geschichte in einer appellatorischen Formulierung zusammengefaßt, die in provozierend verkürzter Weise daran erinnert, daß die aktuelle psychisch-moralische Deformation nur deshalb unkorrigierbar ist, weil sie historisch internalisiert wurde. Sie ist nicht ursprüngliche Natur, sondern entstanden aus einer Fehlleitung der Selbstliebe, die grundsätzlich auch hätte ausbleiben können. Der Auswirkung des Verfalls entkleidet, wäre der Mensch des 18. Jahrhunderts nicht anders als das Subjekt der Antike, dessen Optionen er sich dann bemächtigen könnte. In diesem Sinne heißt es in der Schrift über die Reform der polnischen Regierung: „Wenn man die Geschichte des Altertums liest, glaubt man sich in ein anderes Weltall und unter andere Wesen versetzt. Was haben die Franzosen, die Engländer, die Russen mit den Römern und Griechen gemein? ( . . . ) Wie sollten die Menschen der Neuzeit, welche sich so klein fühlen, sich vorstellen können, daß es so große Menschen gegeben hat? Und doch gab es sie, und sie waren menschliche Wesen wie wir; was hindert uns denn, Menschen zu sein wie sie?" 254

I I . Die neue Polis Auf den ersten Blick scheint Rousseaus rechtstheoretische Hauptschrift, der Contrat social, in der Tradition der rationalistischen Vertragstheorien zu stehen. In diesem gedanklichen Entwurf ist die Rechtsform des (Gesellschafts-)Vertrags die Antwort auf die Frage nach dem Rechtsgrund staatlich organisierter Herrschaft, und diese Antwort tritt mit einem normativen Anspruch auf, der das akzidentielle Moment wirklicher Geschichte in einem universal gültigen Modell transzendiert. 255 Dem Moment faktisch-zufälliger historischer Gegebenheiten, auf das die apostrophierte science du Législateur beim Unternehmen einer realen Stiftung verfaßter Gemeinschaft rekurriert, wird im Manuskript des Contrat social die „Idee des bürgerlichen Zustandes" als in sich geschlossenes gedankliches Element gegenübergestellt 256, das ausdrücklich als die relevante Ebene der Reflexion firmiert. So heißt es: „Obwohl ich hier vom Recht handle und nicht von Schicklichkeiten, kann ich nicht umhin, im Vorbeigehen einige [flüchtige] Blicke auf diejenigen zu werfen, welche unverzichtbar sind in jeder guten Einrichtung." 257 Die geschichtli253 CS III 12 (346) (vgl. auch Observations 78; Montagne V I 149). 254 Pologne II 568 (H.h.). 255 Vgl. dazu näher Gough, Social Contract, S. 67-185; Kersting, Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 21 - 4 6 ; Riley, Will and Political Legitimacy, S. 1 -22. 256 Vgl. CS-M 14, OC III 297. 257 CS-M II 3, OC III 318.

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che Realität und ihre Anforderungen sind hier eben nur „en passant" mit dem Konzept rechtlich organisierter Gemeinschaft verknüpft und als prinzipiell selbständige Gegenstände der Erörterung gleichsam subsidiär. Auch in der Endfassung des Textes, einem Buch „für alle Zeiten" 258 , läßt sich diese Haltung grundsätzlich nachweisen. 259 Sie findet ihren stärksten Ausdruck dann, wenn die gesamte Dimension des Historischen bewußt aus der Erörterung des Herrschaftsproblems herausgenommen wird. Zu Beginn der Entwicklung eines Rechtsgrundes für die staatliche Gemeinschaft antwortet Rousseau auf die Frage, wie der frei geborene Mensch in Unfreiheit geraten konnte: „Ich weiß es nicht" 2 6 0 , und der Statik der Vertragsform entsprechend werden die Menschen in einer Weise zum Bezugspunkt der Erörterung, die als Ausgangspunkt der Deduktion für die Theorien des neuzeitlichen Naturrechts typisch ist 2 6 1 : „so ( . . . ) , wie sie sind ( . . . ) . " 2 6 2 Der reale geschichtliche Prozeß, so scheint es, tut das übrige: Die empirisch-historische Ebene des Konzepts, die in der Rezeption regelmäßig ohnehin als eine bloß akzidentielle Illustration firmiert 263 , fällt seinen Kräften zum Opfer, denn die soziale Deformation der europäischen Zivilisation ist so weit fortgeschritten, daß die Möglichkeit effektiver Reform so gut wie ausgeschlossen ist. Rousseau erklärt dann auch: „Noch ein Land gibt es in Europa, das zur Gesetzgebung fähig ist: die Insel Korsika." 264 Das rechtstheoretische Konzept des Gesellschaftsvertrags wird dann zur Substanz des Contrat social schlechthin, indem es die einzige Funktion ausfüllt, die die Geschichte ihm läßt: Es firmiert als in sich geschlossenes gedankliches Modell legitim organisierter Staatlichkeit, an dem sich die Wirklichkeit messen lassen muß. In diesem Sinne heißt es ausdrücklich im Émile: „Wer sich ( . . . ) über die bestehenden Regierungsformen ein gesundes Urteil bilden will, muß beide vereinigen; er muß wissen, was sein muß, um das, was ist, richtig zu beurteilen. ( . . . ) Bevor man beobachtet, muß man sich Regeln für seine Beobachtungen aufstellen: Man muß sich eine Skala machen, um die einzelnen Maße darauf auszurichten. Unsere Prinzipien des politischen Rechts stellen diese Skala dar. Die Maße, die wir danach gewinnen, sind die politischen Gesetze eines jeden Landes." 265 Offenbar können die Bedingungen rechtlicher Verhältnisse unabhängig von einer bestimmten historischen Situation betrachtet und in einer Theorie formuliert wer-

258 Lettre à Rey (07/11 /1761), CC 9 (1969), Nr. 1534, S. 221. 259 Vgl. CS III 18 (355), IV 4 (388). 260 CS 1 1 (270). 261 Vgl. Euchner, Naturrecht und Politik, S. 26, Anm. 62 m.N. 262 CS I vor 1 (270); vgl. auch Confess. IX 417. 263 Vgl. in diesem Sinne etwa Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, S. 24; Holstein, Staatsphilosophie, S. 87; Levine, Politics of Autonomy, S. 156; Müller, Korporation und Assoziation, S. 49; Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 165; Salomon-Bayet, Rousseau, S. 166; Schmidt-Aßmann, Verfassungsbegriff, S. 62. 264 CS II 10(310). 265 Émile V 912, 913 (vgl. auch Emile III 401). 5 Gaul

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den, die den Zusammenhang von rechtlich vermittelter Herrschaft und gelingender Existenz abschließend darstellt. Doch die Fassade traditioneller Begrifflichkeit trügt. Rousseau betreibt aus der Perspektive eines Politikbegriffs, der sich primär auf die Einsicht in die determinierende Funktion eines gegebenen historischen und kulturellen Zusammenhangs stützt, eine schrittweise Demontage des vernunftrechtlichen Vertragskonzepts. Er sieht: Eine bruchlose argumentative Vermittlung von Recht und menschlichem Dasein gelingt nur, wenn die Reflexion über den staatlichen Zusammenhang im Kontext der Wirklichkeit verankert ist.

1. Von der Macht des Realen Rousseau löst die Vielgestalt menschlicher Realität in der Abstraktheit „des Menschen" 266 auf, doch diese Realität beginnt seine eigene vertragstheoretische Konstruktion Schritt für Schritt einzuholen. Die universale Geltung des Staatsmodells wird schon in Frage gestellt, wenn Rousseau Jedem Volk ein besonderes System des staatlichen Aufbaus zuweisen" will, das „vielleicht nicht an sich, jedoch für den Staat, dem es zugedacht ist" 2 6 7 , das Beste ist. Läßt sich hier noch die Vereinbarkeit mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrags unter Hinweis auf die Anwendung universaler Prinzipien auf den konkreten Einzelfall behaupten268, so werden die Grenzen einer Abstraktion vom empirisch Besonderen bald deutlich. In der Schrift über die Reform der polnischen Regierung heißt es: „Wenn man eine Nation für welche man arbeitet, nicht von Grund auf kennt, so wird das für sie erstellte Werk, so vortrefflich es auch an sich sein möge, im Hinblick auf seine Anwendung immer mangelhaft sein." 269 Jetzt bleibt einer gedanklichen Negation des konkreten geschichtlichen Zusammenhangs nur noch ein Wert „an sich", und im Brief an Mirabeau ist die Ebene ahistorischer Reflexion vollständig aufgehoben. Zur Frage nach der Evidenz normativer Sätze erklärt Rousseau: „Mir scheint, daß die Evidenz nur dann in den Natur- und politischen Gesetzen enthalten sein kann, wenn man diese als abstrakte Begriffe sieht. In einer ganz bestimmten Herrschaftsform, die sich aus unendlich vielen unterschiedlichen Elementen zusammensetzt, verschwindet diese Evidenz notwendigerweise. Denn die Wissenschaft von der Herrschaftsform ist nur ein System von Kombinationen, Regelungen und Ausnahmen, je nach Zeit, Ort und Umständen." 270 Hier firmiert das Nachdenken über die rechtliche Verfassung des sozialen Verbandes als Rezeption eines gegebenen kulturell-historischen Zusammenhangs, ohne den die gedankliche Organisation der Cité

266 267 268 269 270

Am deutlichsten wohl in CS I 8 (284). CS II 11 (312) (ähnlich CS III 9 [339]). Vgl. Schottky, Vertragstheorie, S. 134 f. Pologne 1565. Lettre à Mirabeau (26/07/1767), Korresp. 341 f.

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gar nicht mehr betrieben werden kann. Die Wirklichkeit des Rechtssubjekts in ihrer prinzipiell nicht mehr generalisierbaren Vielfalt wird damit zum integralen Bestandteil einer Theorie des Staates. Rousseau macht die Aiternativlosigkeit dieser Ansicht deutlich, wenn er erklärt, daß die konkrete geschichtliche Situation nicht nur über die genauen Bedingungen freiheitlicher intersubjektiver Praxis entscheidet, sondern sogar über ihre Möglichkeit schlechthin. „Die Freiheit gedeiht nicht unter jedem Himmel und ist daher nicht für alle Völker erreichbar" 271 , heißt es im Zusammenhang mit der Frage nach der richtigen Regierungsform. Die komplementäre Sphäre der Wirklichkeit, in der das Recht Freiheit schaffen kann, erweist sich nun plötzlich als nicht mehr reduzierbar auf einen Faktor, der in gleichsam typisierter Form im Modell des Gesellschaftsvertrags seine Funktion erfüllt. Die Wirklichkeit tritt vielmehr als eine veränderliche auf und entzieht sich der Aufhebung ihrer konkreten historischen Gestalt. Rousseau zeigt an dem gewählten Extremfall, wie das Modell einer aliénation totale, die einen sozialen Verband konstituiert, der sich durch allgemeine Gesetze selbst regiert, der stillschweigend mitgedachten Realität so vollständig beraubt wird, daß der gedankliche Entwurf des Gesellschaftsvertrags leerläuft. Das Modell rechtlicher Verhältnisse findet dann als solches nur noch Anwendung in privilegierten historischen Situationen und büßt den Anspruch universaler Geltung ein. Es verliert damit, wenn man so will, den Status, den es nach dem Untertitel des Contrat social gerade beansprucht: den eines prinzipiellen Aufweises des Zusammenhangs von Recht und Freiheit. Der Vorrang der historischen Wirklichkeit in ihrer Individualität drängt diesen Zusammenhang aus dem Kreis der Gegenstände, die einer Erörterung unter prinzipiellen Gesichtspunkten zugänglich sind, denn über das, was nur akzidentiell und als besonderes existiert, läßt sich nicht allgemein sprechen. Recht ist in einer bestimmten historischen Situation und rezipiert dann auch begrifflich deren Bedingungen, oder es ist gar nicht. Dazwischen aber gibt es nichts. Man hat den notierten Einfluß des Empirischen im Hinblick auf die „ehernen Prinzipien des Gesellschaftsvertrages ( . . . ) nicht als Substanzverlust" 272 ansehen wollen, doch tatsächlich erfährt die traditionelle universal-rationalistische Vertragstheorie hier mehr als bloß heftigen Einspruch 273 : Sie wird in ihrer inneren Struktur gleichsam auf den Kopf gestellt. Rousseau vertauscht gewissermaßen die Prioritäten, indem er seine Lehre vom Staat aus der Perspektive des historischen Augenblicks konstruiert. Er sieht: Der Entwurf des sozialen Verbandes ist determiniert durch die Kategorie der Wirklichkeit, seine Ausarbeitung gebunden an deren konkrete Ausformung. Die Staatsauffassung und eine in ihr enthaltene Theorie des Rechts also haben ihre gedankliche Basis stets in der Analyse des Historisch-Fakti271 CS III 8 (334). 272 Fontius, Rousseaus Auseinandersetzungen, S. 43 (H.i.O.). 273 Dem Grunde nach eingeräumt von Herb, Theorie legitimer Herrschaft, S. 160-163; Horowitz , Rousseau, S. 167, 203; Schefold, Rousseaus doppelte Staatslehre, S. 340, 348 f.; Schmidt-Aßmann, Verfassungsbegriff, S. 68-70; Schottky, Vertragstheorie, S. 72-75, 134137. 5*

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sehen, das so den Status bloßer Illustration überschreitet. Diese Rehabilitierung der geschichtlichen Wirklichkeit in der politischen Philosophie zwingt zur Aufgabe eines abstrakt konstruierten Staatsmodells und desavouiert den Anspruch der rationalistischen Vertragstheorien, das Verhältnis von rechtlich vermittelter Herrschaft und gelingender Existenz in Freiheit abschließend darzustellen. Im argumentativen Zusammenhang des Contrat social verliert der (scheinbare) Kern der Lehre, die aliénation totale, dann in der Tat seine spezifisch rechtstheoretische Bedeutung 274 und degeneriert zu einem Grundsatz, der gegenüber der konstitutiven Funktion der Realität für den Begriff des Rechts gleichsam subsidiär ist. In Rousseaus Denken entspricht sein Status dem der abstrakten Überlegungen eines „Fremden" und damit dem „allgemeine [r] Ansichten ( . . . ) , die dem Urheber staatlicher Einrichtungen zu Einsichten verhelfen, nicht aber ihn anleiten können." 275 Eine auf ihren transhistorischen Gehalt reduzierte Rechtstheorie mag ein axiomatisches Eigenleben führen und in idealistischer Reinterpretation auch als „Programm praktischer Vernunft" o.ä. 276 gelesen werden. Sie verharrt dann aber auf der Ebene des Prinzipiellen, und damit ist sie für Rousseau nichts, eine „Theorie" im reduzierten Sinne, die im Ignorieren des historisch Besonderen das Wesen rechtlicher Verhältnisse kategorial verfehlt. Rousseau weiß: Der Begriff des Rechts erschließt sich erst, wenn die avisierte „Veräußerung" des Subjekts auf eine komplementäre geschichtliche Realität projiziert wird. Nun hat Rousseau, reformuliert in etablierten Kategorien, stets die „Anwendbarkeit" einer Lehre verlangt. 277 Diese Forderung aber transportiert im Kontext einer Abkehr von der Geschichtslosigkeit des politischen Denkens ein Konzept, in dem die Herstellung rechtlicher Verhältnisse als konkrete Aufgabe begriffen wird. Man hat den Contrat social treffend gegen eine idealisierende Interpretation mit dem Hinweis verteidigt, die Theorie des Gesellschaftsvertrags verfolge ein existentielles Anliegen 278 , und tatsächlich zielt Rousseaus Staatslehre im Rahmen der historischen Möglichkeiten auf eine aktive Gestaltung der Geschichte, auf ein reales politisches Projekt. 279 In den Briefen an Tronchin stellt Rousseau den Bezug zum Faktisch-Konkreten her, indem seine Heimatstadt Genf zum Vor- und Abbild des Contrat social erhoben wird. Dort heißt es: „Mein Herr, hätte ich bloß ein System gemacht, so geben Sie gewiß zu, daß man gar nichts darüber gesagt hätte. Man 274 Beklagt von Herb, Theorie legitimer Herrschaft, S. 160, Anm. 285. 275 Pologne 1565. 276 Vgl. etwa De/ Vecchio, Grundgedanken Rousseaus, S. 56; Green, Principles of Political Obligation, S. 82 f.; Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 162- 168. 277 Vgl. nur Emile I 134; Lettre à Mirabeau (26/07/1767), Korresp. 342; Pologne I 565; Wegelin und Schulthess nach einem Besuch bei Rousseau, Korresp. 404. 278 vgl. Welzel, Naturrecht, S. 159 f. 279 Vgl. etwa Barnard, Political Legitimacy, S. 98 f.; Cotta, Philosophie et politique, S. 171; Favre, Unanimité et majorité, S. 121; Gagnebin, Le rôle du législateur, S. 287; Levin, Vaughan's interpretation, S. 524, Anm. 18; Masters, Philosophy of Rousseau, S. 304 f.; Reibstein, Rousseau, S. 201; Vaughan, Political Writings, S. 2, passim; Willms, Die politischen Ideen, S. 52 f.

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hätte sich damit begnügt, den Gesellschaftsvertrag mit Piatons Staat, mit der Utopia und der Histoire des Sévarambes ins Land der Chimären zu verweisen. Allein, ich schilderte einen wirklich vorhandenen Gegenstand ( . . . ) . " 2 8 0 Das hier schon anklingende Bemühen, die Unverbindlichkeit des politischen Denkens aufzuheben, findet an anderer Stelle stärkeren Ausdruck. „ ( . . . ) nicht eine chimärische Vollkommenheit ( . . . ) , sondern das nach der Natur des Menschen und der Verfassung der Gesellschaft Bestmögliche" 281 , erklärt Rousseau im Brief an d'Alembert zum Ziel jeder Theorie des Sozialen, und im Schreiben an Mirabeau wird deutlich, was im Falle des Erfolgs zu tun ist. Von der Herrschaftsform, die das Gesetz über den Menschen stellt, heißt es: „Sollte es möglich sein, diese Form zu finden, so wollen wir nach ihr suchen und uns bemühen, sie zu errichten." 2* 2 Die Trennung von Denken und Handeln in der Sphäre sozialer Gestaltung ist hier aufgehoben, und ihre Scheidung wird auch nicht als Ausdruck einer kategorialen Differenz, sondern als bloßes Zugeständnis an die tatsächliche Situation begriffen. „Ich würde es tun" 2 8 3 , sagt Rousseau über die Errichtung der Polis, doch er ist zu diesem Vorhaben ebensowenig in der Lage wie zur privaten Erziehung 284 , und so delegiert er das konkrete politische Projekt an den Législateur, der die genannten Kategorien in seiner Person vereinigt. Auch wenn Rousseau nach eigenem Zeugnis stets versucht war, der Figur des Gesetzgebers wegen der geringen Chancen auf dessen Erscheinen romanhafte Züge zu verleihen 285 , so ging er doch in der Sache nicht von seinem Konzept ab: „Ich schmeichle mir, daß eines Tages ein Staatsmann ( . . . ) , aus einem glücklichen Zufall, dieses Buch zu lesen bekommt; daß meine formlosen Gedanken nützlichere in ihm erwecken; daß er dann arbeitet, um die Menschen besser oder glücklicher zu machen und daß ich vielleicht dazu beigetragen habe. Dieser Wunsch hat mir die Feder in die Hand gedrückt.. . " 2 8 6 In der Folge verwandelt sich der Contrat social in ein Handlungsprogramm, das die Prinzipien des Gesellschaftsvertrags als selbständiges Element der Erörterung aufgibt und in die Ebene aktiver, historisch-wissenschaftlicher Gestaltung integriert. 287 Werden Vertragsschluß und Gesetzgebung zunächst noch als getrennte gedankliche Schritte vorgestellt 288 , so illustriert später eine verschwimmende Begrifflichkeit 289 - Gesetzgebung, Verfassungsgebung, Stiftung eines Volkes, Schaffung der Nation - , daß es nur um verschiedenen Facetten eines einzigen konkreten 280 Montagne V I 149 f. (H.i.O.). 281 d'Alembert 447. 282 Lettre à Mirabeau (26/07/1767), Korresp. 343 (H.h.). 283 CS I vor 1 (270). 284 Vgl. Émile 1133 f.

285 Vgl. Lettre au Prince de Wurtemberg (10/11 /1763), CC 18 (1973), Nr. 3017, S. 124. 286 F P 1 2 1 0 .

287 Treffend Masters, Structure of Rousseau's Thought, S. 417, 430, 436 (H.h.): „a science that is both practical and theoretical." 288 Vgl. CS I I 6 (297). 289 Vgl. nur CS II 7 (300-304), 9 (308), 10 (309, 310).

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Projekts geht. 290 Der Gesellschaftsvertrag, den Rousseau auf der Ebene der realen Polis ohnehin als einen höchstens konkludenten ansieht 291 , löst sich im tatsächlichen Akt der Staatsgründung auf: Die Stiftung eines legitimen sozialen Verbandes gelingt nur durch eine Setzung von Recht, die strukturell die Prinzipien der aliénation totale rezipiert hat. Rousseau hat das an der einzigen „echten" Anwendung des Contrat social demonstriert: Im Akt der Gründung einer Republik der Korsen wird der Vertrag durch einen E i d 2 9 2 ersetzt, der im Vorgang der Unterwerfung unter die Rechtsgesetze die Substanz der aliénation totale aufnimmt. „Das ganze korsische Volk vereint sich durch einen feierlichen Eid zu einem einzigen politischen Körper" 293 , heißt es, und die entsprechende Formel lautet: „Im Namen Gottes des Allmächtigen und auf die heiligen Evangelien vereinige ich mich durch einen heiligen und unwiderruflichen Schwur mit Körper, Gütern, Willen und all meiner Kraft mit dem korsischen Volk, um ihm gänzlich anzugehören, ich und alles, was von mir abhängig ist. Ich schwöre, für es zu leben und zu sterben, all seine Gesetze zu befolgen und seinen Oberhäuptern und seiner rechtmäßigen Obrigkeit in allem, was mit den Gesetzen übereinstimmt, zu gehorchen." 294 In Rousseaus politischer Theorie wird also prinzipiell nichts entwickelt, das über die konkrete historische Situation ihrer Anwendung hinausweist. Rousseau hat diesen Befund offen ausgesprochen: Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag ist in der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft eine „unnütze Wissenschaft ( . . . ) . " 2 9 5 Diese 290 Die Vorstellung, Rousseau begreife auf der Ebene der realen Polis insbesondere Vertragsschluß und Gesetzgebung als zwei verschiedene Akte, bezeichnet Schottky, Vertragstheorie, S. 133, i.E. zu Recht als „absurde Erwägung". Zu Mißverständnissen gibt in diesem Zusammenhang immer wieder eine Passage im Contrat social Anlaß, in der für die Möglichkeit, unter Gesetzen zu leben, verlangt wird, daß das Volk „se trouvant déjà lié par quelque union d'origine, d'intérêt ou de convention" (OC III 390). Schon die Alternativität der Aufzählung zeigt, daß der Begriff „convention" nur eine allgemeine Übereinkunft im Sinne einer vorstaatlichen Homogenität meint und nicht etwa einen Vertrag (so die Übersetzung im Original, CS II 10 [310]) oder gar den Gesellschaftsvertrag (so etwa Masters, Philosophy of Rousseau, S. 358 f.). 291 Vgl. CS 16 (280); Émile V 916. 292 Neben medivialen Vorbildern dürfte hier die Praxis in Genf von Einfluß gewesen sein (vgl. Rosenblatt, Rousseau and Geneva, S. 10 f.). Im Genfer Manuskript des Contrat social ist, gleichsam als „Zwischenform", von einer Vereidigung auf den Vertrag die Rede (vgl. CSM 1 3 , I I 2, OC III 292,318). 293 Corse Fragm. 554 (folgendes Zitat ohne Nachweis ebd.). 294 Auch die sprachwissenschaftliche Analyse des Contrat social weist die Transformation vom reinen Modell in ein zeitlich gefaßtes Phänomen aus (vgl. de Man, Political Allegory, S. 670-675). 295 Émile V 912. - Obwohl Rousseau sich an der zitierten Stelle mit dem Begriff „inutile science" ausdrücklich auf die „principes du droit politique" bezieht (vgl. OC IV 836), will die kantische Reinterpretation im Bemühen, eine eigenständige Ebene „reiner" Philosophie zu isolieren, hier nur das deskriptive Element angesprochen wissen, kann sich dann aber angesichts der angenommenen Trennung von „philosophy" und „science" nicht erklären, warum „Rousseau regarded the former study as a prerequisite to any useful application of the latter" (vgl. Levine , Politics of Autonomy, S. 121, Anm. 8).

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Aussage wird ohne Einschränkung vorgetragen und zeigt, wie wenig Rousseaus Staatsphilosophie der Struktur des abstrakten, transhistorischen Modells verhaftet ist. In der Tat taugt das System der Cité nicht einmal zum Maßstab. Rousseau demontiert diese Kategorie im letzten Buch des Emile. Hier verläßt die Titelfigur vorläufig ihre zukünftige Ehefrau, um in Begleitung des Tutors auf eine Reise zu gehen, die Einsicht in das Wesen des Politischen eröffnen soll. Wird zunächst die referierte Maßstabsfunktion des vernünftigen Konzepts vorgestellt, so erweist sich diese Kategorie am Ende schließlich als inadäquat. Emile erkennt: Der entwickelte Zusammenhang von Recht und gelingender Existenz im Modell des Contrat social impliziert eine psychische und moralische Konstitution des Subjekts, über die die Geschichte längst hinweggegangen ist. Mit der einsetzenden Deformation aber schwindet nicht nur die Möglichkeit realer gelingender Gemeinschaft, es wandeln sich auch die Bedingungen der Möglichkeit für den einzelnen, sich selbst als „frei" zu begreifen. Das gleichsam noch ungeformte Subjekt des Contrat social kann in einen bestimmten rechtlichen und sozialen Zusammenhang gestellt werden und gewinnt hier die „bürgerliche Freiheit". 296 Für den Menschen der aktuellen Gesellschaft dagegen ist das Modell eines freiheitlichen sozialen Verbandes im Grunde ein Muster ohne Wert, denn die Realität der Freiheit ist gewissermaßen „nach innen" gewandert. Emile selbst dehnt nicht ohne Grund in der Bilanz seiner Reise mit dem Tutor den Umfang dieser Reise aus. Nur durch „einige der großen und viel mehr der kleinen Staaten Europas" 297 führte der Weg, und doch spricht Emile vom mißlungenen Versuch, „einen Erdenwinkel zu finden, wo ich mir ganz und gar selbst gehören könnte ( . . . ) . " 2 9 8 Schließlich sagt er: „ ( . . . ) ich werde frei sein. Ich werde es nicht nur in diesem oder jenem Land sein, in dieser oder jener Gegend; ich werde es auf der ganzen Erde sein." 299 Emile hat erkannt: Die konkrete Form gesellschaftlicher Organisation ist für die Freiheit des einzelnen bedeutungslos geworden. Die Welt jenseits Europas, wo ein intakter sozialer Verband oftmals Herrschaft und Freiheit versöhnt, hat Emile nicht gesehen, aber er hat - natürlich Genf besucht. Ist nicht in diesem Stadtstaat, der als Vor- und Abbild der Grundsätze des Contrat social firmiert 300 , die Wirklichkeit gelingender intersubjektiver Praxis unmittelbar zugänglich? Der Tutor des Emile verneint: „Unter keiner Regierungsform gibt es Freiheit, sie lebt im Herzen des freien Menschen; er trägt sie überall mit sich. Der niedrige Mensch trägt überall die Knechtschaft mit sich. Der eine wäre Sklave in Genf und der andere frei in Paris." 301 Emile muß nicht die

296 Vgl. CS I 8 (284). 297 Émile V 937. 298 Émile V 938. 299 Émile V 939. 300 Vgl. nur CS I vor 1 (270); Montagne V I 148-150; Dsl 9-41. - Rousseau hat unabhängig von seinem durchaus auch konflikthaften Verhältnis zu Genf seine Heimatstadt immer wieder als Beispiel für eine gute gesellschaftliche Ordnung angeführt (vgl. näher zuletzt Rosenblatt, Rousseau and Geneva, 1997; Dufour, Le régime politique genèvois, 1997 m.w.N.). 301 Émile V 941 (H.h.).

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ganze Erde kennen, denn selbst die beste gesellschaftliche Verfassung ist für ihn bedeutungslos. Sie ist nicht länger Maßstab eines Zustandes, der als „frei" beschrieben werden kann. Rousseau befreit hier die Option gelingender Existenz in der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft dem Grunde nach von der Kategorie des Politischen. Emiles Glück hängt nicht von den Bedingungen kollektiver Formation ab, und schon lange vor einer bewußten Konfrontation seines Schützlings mit den Strukturen der Gesellschaft kann der Tutor bilanzieren: „Alle großen Schwierigkeiten sind besiegt, alle großen Hindernisse beiseite geräumt ( . . . ) . " 3 0 2 Die gemeinsame Reise wird unternommen, um Emiles Glück vollkommen zu machen, indem er sich am Beispiel der Trennung von der geliebten Sophie mit der Möglichkeit unerwarteter Schicksalsschläge auseinandersetzt.303 Die Kenntnis des Politischen, das hier auch nur noch als „eine Art Anhang" 304 auftritt, ist lediglich Nebenprodukt der Reise, und entsprechend unerheblich ist ihr Gewinn für Emile. Er hat Verbindungen geknüpft und sein Wissen erweitert 305 , doch Menschwerdung und Charakterbildung waren lange zuvor abgeschlossen. Anders als für das Subjekt des Gesellschaftsvertrags konstituiert sich gelingende Existenz für Emile nicht im Bezugssystem des organisierten Kollektivs, das nicht am Anfang, sondern am Ende des Erziehungsprojekts steht und nur noch die Rolle eines Akzidenz4 einnimmt. 306

2. Verborgene Geschichte Rousseau hat den Anspruch universaler Geltung in der Reflexion über das gesellschaftliche Problem überwunden und so für das Verständnis des gesetzlich re302 Émile V 837. 303 Vgl. Émile V 882-895. 304 Lettre à Duchesne (23/05/1762), CC 10 (1969), Nr. 1790, S. 281. 305 Vgl. Émile V 936 f. 306 Rousseau thematisiert die seltsame historische Zwiespältigkeit des politischen Problems nur an wenigen Stellen (vgl. etwa NH III 22 [408 f.] und im Kontext der religion civile unten 2. Kap./II./2./a]). Er weiß: Die Frage nach einer freiheitlichen Verfassung des sozialen Verbandes ist immer noch aktuell, doch der Entwurf des Contrat social ist nicht länger die Antwort auf diese Frage. Die Geschichte hat die Bedingungen der Freiheit von der äußeren Verfaßtheit des Gemeinwesens weg auf die innere Befindlichkeit des Subjekts verlagert, das von Anfang an die Hauptlast bei der Konstituierung freiheitlicher Verhältnisse in seiner Person trägt. Obwohl Rousseau hier schon die Haltung des einsamen Émile antizipiert, der jeden Einfluß der äußeren Verhältnisse auf den als „frei" zu denkenden Zustand zunächst leugnet (vgl. Émile et Sophie II 682 f.), verschließt er nicht die Augen vor dem stabilisierenden Anteil externer Faktoren an der Wirklichkeit der Freiheit: Der späte Émile bemüht sich nicht ohne Grund um die Änderung der unerträglichen äußeren Verhältnisse, „koste es, was es wolle" (Émile et Sophie II 686). Es kommt für den Menschen eben doch darauf an, ob „die öffentliche Gewalt ihn vor privaten Gewalttaten schützt" und er „ruhig" leben kann, ob ihm als Ersatz des historisch überholten „Vaterlandes" (patrie) wenigstens die „Heimat" (pays natal) bleibt (vgl. Emile V 941,1 114).

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gulierten sozialen Verbandes die Sphäre des Realen zurückgewonnen. Welche Elemente der Wirklichkeit aber sind neben einer spezifischen, historisch determinierten sozio-kulturellen Prägung des Subjekts mit Rücksicht auf das Wesen von Recht und Staat von besonderer Relevanz? In allen wichtigen Werken Rousseaus werden gemäß der Einsicht in den prozessualen Charakter menschlicher Existenz Entwicklungen beschrieben, „Geschichte", wie der Autor das bezeichnenderweise nennt. Rousseau selbst schildert in seinen autobiographischen Schriften die „Geschichte" seines Gemüts (seiner Seele) 307 , Julie erzählt in der Nouvelle Héloïse, wo jeder Tag seine eigene „Geschichte" hat 3 0 8 , die „einfache Geschichte all dessen, was in meinem Herzen vorgegangen ist" 3 0 9 , Emile bezeichnet sein Leben gegenüber dem früheren Tutor als „Geschichte meiner Leidenschaften" 310, im Discours sur Γ inégalité schreibt Rousseau die „Geschichte" des Menschen311 und tritt nach eigenem Zeugnis als „Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens" 312 auf. Betrachtet man von den genannten Werken diejenigen näher, in denen der Versuch einer Versöhnung von Soziabilität und Glück unternommen wird, dann läßt sich grundsätzlich eine weitgehende Identität in der Struktur der geschilderten Entwicklung feststellen. So ist Emile zu Beginn seines Daseins schwach und hilflos, ein Status, dessen Überwindung nur in einem mühevollen und langwierigen Prozeß gelingt. Die von außen initiierte und überwachte Selbstfindung der Person endet in einer Phase relativer Stabilität, die jedoch nicht auf Dauer Bestand hat: Emile bleibt nach gescheiterter Ehe mit Sophie allein zurück, die ursprüngliche Subjektivität wird in modifizierter Form erneut auf sich selbst gestellt. Julie und St. Preux verlassen in einer langen und schmerzlichen Entwicklung den Zustand psychischer Hilflosigkeit und Deformation. Unter Wolmars Anleitung entsteht das „Idyll" von Ciarens, in dessen Obhut sich das redefinierte (Selbst-)Verhältnis der beiden Hauptfiguren entfaltet, bis die Gemeinschaft an Julies Tod zerbricht und St. Preux wieder auf sich selbst verwiesen ist. Sogar Rousseaus eigene Biographie zeigt in Ansätzen diese Struktur: Die Sehnsucht des jungen Mannes nach dem Erlebnis intakter sozialer Praxis wird eine Zeit lang aufgehoben in der Gemeinschaft des philosophischen Paris, aus dessen trügerischer Geborgenheit die Flucht nur unter großen emotionalen und materiellen Opfern gelingt. Begleitet vom väterlichen Rat eines Marschall Keith, gewinnt Rousseau die innere Haltung, die in der Verfassung des einsamen Emile ihre gleichsam objektivierte Entsprechung gefunden hat. 307 Vgl. Confess. VII274; Malesherbes I I 481; Ébauches, OC I 1155. 308 Vgl. NH IV 17 (544). - Rang, Rousseaus Lehre, S. 84, sieht die Nouvelle Héloïse unzutreffend als Schilderung von Zuständen an. 309 NH III 18 (379) (vgl. OC I I 364: „l'histoire naïve de tout ce qui s'est passé dans mon coeur"; Original: „die schlichte Darstellung all dessen, was in meinem Herzen vorgegangen ist"). 310 Émile et Sophie I 654. 3Π Vgl. Dsl 75. 312 Dialogues 1331.

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Und der Contrat social? Es scheint zunächst, daß Rousseau die skizzierte Struktur hier verläßt und den prozessualen Charakter menschlicher Realität allein in der Schilderung des Verfalls zur Geltung bringt: „Der politische Körper beginnt, wie auch der Körper des Menschen, von seiner Geburt an zu sterben ( . . . ) . " 3 1 3 Wie aber entsteht der soziale Zusammenhang, der gelingende intersubjektive Praxis möglich macht? Die Antwort: „Durch den Gesellschaftsvertrag haben wir dem politischen Körper Dasein und Leben gegeben ( . . . ) . " 3 1 4 Rousseau zögert nicht, die ganze Überzeugungskraft, die in der spezifischen Rechtsform des Vertrags liegt, auszuspielen. Ein Vertragsschluß läßt keinen Raum für die langsame Genese eines bestimmten Zustandes, sondern führt ihn im Moment seines Vollzugs herbei. Rousseau projiziert die rechtlich transportierte Aufhebung der Zeitlichkeit unbeirrt auf die Ebene der Realität und bemächtigt sich dabei auch der Kategorien eines staatlich initiierten Programms, das ersichtlich die Herstellung bloß gesetzlich regulierter Verhältnisse überschreitet: „Dieser Akt der Verbindung erzeugt augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners einen gemeinsamen sittlichen Körper ( . . . ) . " 3 1 5 Das Subjekt scheint durch den Rechtsakt der Mühe enthoben, sich dem Prozeß der moralischen Selbstvergewisserung zu unterziehen; ein erstaunlicher Befund, denn Rousseau beschreibt den Ausgangspunkt des konstitutionellen Wandels im Rahmen des sozialen Verbandes plakativ in Adaption der Begrifflichkeit, die den reinen status naturalis kennzeichnet: Der Mensch ist zunächst nur ein „Tier", und dem Tier bedeuten die Begriffe von Gut und Böse nichts. 316 Der Vertragsschluß aber eröffnet unmittelbar Zugriff auf den (offenbar ontologisch relevanten) Status einer liberté morale, die in der Tugend des Subjekts gründen soll, und gleicht darin einem „glücklichen Augenblick ( . . . ) , der aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Tier ein einsichtiges Wesen, einen Menschen, schuf." 317 Rousseau ahnt, daß er Verwunderung auslöst. So nimmt er in seiner Einschätzung der skizzierten Veränderung schließlich Zuflucht zu einem Phänomen, das in der Tat geeignet erscheint, das Unerklärliche zu erklären. In Anlehnung an Lykurgs Reformen in Sparta schreibt er: „Wenn sich wilde und liederliche Männer plötzlich und freiwillig der härtesten Disziplin unterwerfen, die es jemals gab, so geschah das Wunder nur durch die plötzliche Begeisterung für die Sitten und die Tugend, die in einem ganzen Volk verbreitet sind." 3 1 8 Ein Wunder also soll geschehen durch den Abschluß des Gesellschaftsvertrags - etwas, an das Rousseau, so viel ist sicher, nun selbst nicht glaubt. 319 Zu deutlich hatte er im Discours sur V inégalité 313 CS III 11 (344) (vgl. etwa auch CS III 10 [341], 15 [349], 18 [355 f.], IV 1 [358], 2 [359 f.]). 314 315 316 317 318

CS I I 6 (297). CS 16 (281), H.h. Vgl. etwa Dsl 135, 141; FP I I 212. CS I 8 (284), H.h. (vgl. auch CS 19 [285]; Pologne XU 628). FP V 237 (H.h.).

319 Vgl. nur Beaumont 561-583; Émile 1113; Confess. ΙΠ 122.

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beschrieben, was die Veränderung des Subjekts benötigt: Die Beherrschung von Feuer oder Sprache, die Vernunft des Menschen - all das ist Resultat einer „langsamen Aufeinanderfolge" 320 von Ereignissen, ist Produkt einer Entwicklung, Ergebnis der Zeit. Die Realität existiert nur in diesen Kategorien, und sie können im Moment eines überzeitlichen Vertragsschlusses nicht zum Verschwinden gebracht werden. Auf der Ebene des einzelnen Subjekts oder des Kollektivs gilt nichts anderes. Soll die Konstitution des Menschen verändert werden, so ist das nur durch die Kunst der Erziehung möglich, und deren „größte, wichtigste und nützlichste Regel" heißt: „Zeit verlieren ( . . . ) . " 3 2 1 Rousseau weiß: „ ( . . . ) es bedarf notwendigerweise einer gewissen Zeit, um die Wirkung auch der besten Reform zu spüren und die Festigkeit zu gewinnen, welche die Frucht dieser Reform sein soll." 3 2 2 Die angestrebte innere Verwandlung des Subjekts (bzw. des Kollektivs) kann sich nur in einem langen und mühevollen Prozeß vollziehen, und hier liegt die verborgene Geschichte der Cité. Rousseau sieht ein: Das vertragstheoretische Modell des Staates, in dessen Systematik ein unmittelbarer, gleichsam vertikaler Zusammenhang zwischen Gesetz und gelingender Existenz entworfen wird, ist als Chiffre eines rechtverstandenen sozialen Projekts inadäquat, weil die korrespondierende Realität den zeitlosen Charakter des Vertrags nicht aufnimmt. Auf den zweiten Blick verschließt sich der Contrat social dann einer Prozessualisierung des Augenblicks auch nicht mehr vollständig und gibt die Statik des Rechtsakts zugunsten einer dynamischen Betrachtungsweise auf. Die schon in der Widmung zum Discours sur l'inégalité angedeutete Entwicklung, die nach der formalen Etablierung der Republik einsetzt und die Konstitution des Bürgers verändert 323, findet sich wieder im Entwurf eines Volkes, das verfaßt und dennoch „erst im Werden ist ( . . . ) . " 3 2 4 Die Rahmenbedingungen dieser Genese sind ebenfalls skizziert: Sie nimmt ihren Ausgang unter der Herrschaft der Gesetze, wenn man will: im Rechtsstaat, und setzt sich fort unter dem Einfluß der „langsamer entstehenden Sitten ( . . . ) . " 3 2 5 Rousseau verweigert eine ausdrückliche Beschreibung dieser Entwicklung, doch er gibt zu erkennen, daß ihre Dimension ungeheuer ist. Mit Blick auf das Programm des verborgenen politischen Prozesses erklärt er: „Diese Politik taugt nicht für einen Akt, die Gerechtigkeit und die Tugend erlangen nur mit der Zeit Vorteile. Erst im Verlauf von Jahrhunderten ( . . . ) . " 3 2 6

320 Dsl 173, 265 (vgl. auch Dsl 113,117, 121,131). 321 Emile I I 212 (vgl. auch Émile IV 446, 454,456). 322 Pologne XV 650 (vgl. auch CS IV 6 [376 f.]). 323 Vgl. Dsl 15, 17. - Davon zu unterscheiden ist der Prozeß der Etablierung selbst (vgl. etwa CS I I 10 [309], m 17 [353 f.]; Pologne XV 650). 324 CS I I 7 (303) (vgl. auch Narcisse 161 Anm. [1]; Guerre Fragm. 64; Variante [b] zu OC I I I 917, OC ΙΠ 1728 f.). 325 es II 12 (314). 326 FP XV 277.

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Zuletzt wirft die notierte historische Unmündigkeit des Subjekts die Frage auf: Wie sollen die Menschen „aus sich selbst heraus ein so großes und so schwieriges Unternehmen durchführen, wie es ein System der Gesetzgebung ist?" 3 2 7 Die Antwort: Rechtliche Verhältnisse sind immer das Produkt einer externen Stiftung. Der soziale Verband in rechtlich verfaßter Form ist zur Selbstkonstituierung unfähig. Recht ist gestiftet, oder es ist gar nicht. Diese Einsicht aber gilt ausnahmslos. So, wie die aktuelle bürgerliche Gesellschaft nur vorstellbar ist als Resultat der von außen kommenden Initiative eines überlegenen Geistes, so ist auch die moderne Polis angewiesen auf das Erscheinen ihres Gründers. Die Rousseau-Rezeption hat der Figur des Gesetzgebers bis heute nur wenig Beachtung geschenkt, und Rousseau selbst trägt dazu bei, die Bedeutung der Gestalt für seine politische Philosophie zu verdecken. Im Contrat social erklärt er: „Dieses Amt, das die Republik bildet, geht jedoch nicht in ihre Verfassung ein." 3 2 8 Davon ausgehend hat die Literatur immer wieder die Verzichtbarkeit des Législateur bei der Darstellung der guten Gesellschaftsordnung betont. 329 Diese Auffassung aber betreibt dem Grunde nach nur die Affirmation eines Konzepts, das die Reduktion der Rechtstheorie auf die aliénation totale vorsieht und den Zusammenhang faktisch-historischer Existenz weitgehend ausblendet. Der Gesetzgeber ist integraler Bestandteil dieser Existenz und initiiert das demiurgische Programm, das darauf abzielt, „gleichsam die menschliche Natur zu verändern ( . . . ) . " 3 3 0 Rousseau stellt dabei klar, daß der soziale Verband dem Législateur auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist: „Wenn ( . . . ) der Gesetzgeber sich in seinem Ziele irrt, wenn er von einem Grundsatz ausgeht, der sich von jenem unterscheidet, welcher aus der Natur der Dinge entspringt, wenn der eine Knechtschaft, der andere Freiheit bezweckt, der eine Reichtümer, der andere das Wohl der Bevölkerung, der eine Frieden, der andere Eroberungen, dann wird man sehen, wie die Gesetze unmerklich ihre Wirkung einbüßen, die Verfassung kraftlos wird, der Staat in fortdauernde Unruhen gerät, bis er zerstört oder verwandelt ist ( . . . ) . " 3 3 1 In der Tat ist gerade das für das Schicksal der Gemeinschaft so bedeutsame Phänomen des Rechts nur erklärbar aus dem Moment der Konfrontation von Mensch und formender, überlegener Instanz. Der hier entspringende politische Prozeß perpetuiert die prägenden Elemente dieser Gegenüberstellung und macht so erst Genese, Wirkung und Grenze und damit den Begriff des Rechts in der neuen Polis sichtbar. Législateur und unmündiges Subjekt sind also komplementäre Bausteine des einen rechtstheoretischen Konzepts. Rousseau löst die Verbindung des Gesetzes zur Situation seiner Entstehung erst dann auf, wenn er sich auf die Würdigung sozialer Zustände verlegt, in denen sich das Recht durch den bloßen Ablauf der Zeit gleichsam von seiner ursprünglichen Stiftung 327 CS II 6 (300). 328 e s Π 7 ( 3 0 1 ) .

329 Vgl. nur Brandt, Rousseaus Philosophie, S. 127; Forschner, Anm. 136; Herb, Theorie legitimer Herrschaft, S. 162 f., Anm. 284. 330 CS II 7 (301). 331 CSU 11 (313).

Rousseau, S. 162,

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emanzipiert hat - in der im Émile beschriebenen aktuellen bürgerlichen Gesellschaft etwa oder in der Republik Genf der Lettres de la montagne , „deren Alter sich gewissermaßen in der Nacht der Zeiten" 3 3 2 verliert. Der Bruch mit der Tradition der rationalistischen Vertragstheorien dürfte angesichts des Stellenwertes, den die Dimension der Geschichte in Rousseaus Denken einnimmt, kaum aus einem „unbewußten Selbstwiderspruch" o.ä. 333 resultieren; man kann aber durchaus der Ansicht sein, daß selbst das Sprachgenie Rousseaus im Contrat social an einer konsistenten rhetorischen Prozessualisierung des Augenblicks scheitert. 334 So hatte Rousseau ursprünglich einen Untertitel erwogen, der dem Konzept der Schrift viel besser gerecht geworden wäre: „la formation du corps politique". 335 Der prozessuale Charakter der „formation" hätte zumindest indiziert, daß der in der Metaphorik des Vertragsdenkens schicksalhaft erscheinende Augenblick auf der allein relevanten Ebene der realen Polis nur der erste Moment eines kontinuierlichen Transformationsprozesses ist, den erst eine Rekonstruktion verborgener Geschichte vollständig erschließt. Nun aber verdeckt schon die begriffliche Statik der „Prinzipien", daß die Vorstellungen des Contrat social nur wenig mehr sind als eine Momentaufnahme dieses Anfangsstadiums. Zu stark war für Rousseau offenbar die Faszination der Vorstellung, alle Widrigkeiten des Lebens in der Gemeinschaft könnten in einem einzigen und zugleich ewigen Zeitpunkt aufgehoben werden. 336 Innerhalb des Werkes erscheint diese Hoffnung im gelingenden Versuch, die Bedrohung der seelischen Einheit durch die Empfindung des Zeitablaufs aufzuheben und dem Subjekt so die Zeit nutzbar zu machen, „ohne ihr Sklave zu werden ( . . . ) . " 3 3 7 ihre Quelle aber ist unmittelbar im persönlichem Erleben zu finden. „Möchte doch dieser Augenblick immer fortdauern!" 338 , wünscht Rousseau im seltenen Moment des Glücks, und der einsame Emile ruft aus: „Inniggeliebte Tage der ersten Zeit meiner Liebe, köstliche Tage, ach, könntet ihr doch unablässig wiederkehren und für alle Zeit mein Wesen erfüllen! Ich wünschte mir keine andere Ewigkeit!" 3 3 9 Man hat darauf hingewiesen, daß die Flucht aus der eigenen Zeitlichkeit in einen Zustand, „wo das Gegenwärtige immer fortdauert" 340 , durch den Eintritt in die zeitlose Welt der (körperlichen) „Natur" realisiert werden soll. 3 4 1 In der Tat 332 Dsl 17. 333 So aber Schottky, Vertragstheorie, S. 70,133; Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 269 f. 334 Treffend F etcher, Rousseau der konservative Denker, S. 144. 335 Vgl. Variante (a) zu OC III 279, OC III 1410. 336 Vgl. näher Payot, Essence et temporalité, S. 239-379; Poulet, Études sur le temps humain, S. 158-193. 337 Émile III 396. 338 Rêv. V 699. 339 Émile et Sophie I 647. 340 Rêv. V 699. 341 Vgl. de Man, Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 103.

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ist die Sehnsucht nach einer Verschmelzung mit der Gesamtheit der Physis bei Rousseau gegenwärtig: „Erwachte ich aus einer langen, anmutigen Träumerei, sah mich von Rasen, Blumen und Vögeln umgeben und ließ meinen Blick über die malerischen Ufer, die längs einer weiten kristallklaren Wasserfläche lagen, in die Ferne schweifen, so verwob ich alle diese lieblichen Gegenstände mit meinen Erdichtungen, und kam ich dann gradweise wieder zu mir und zu dem, was um mich her war, so konnte ich den Scheidepunkt zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht angeben ( . . . ) . " 3 4 2 Die Aufhebung der Zeit im einen und einigenden Zeitpunkt der staatlichen Gemeinschaft aber muß scheitern, da die Polis im wesentlichen das „Werk der Kunst" 3 4 3 ist und so der Natur „gerade entgegengesetzt ( . . . ) . " 3 4 4 Rousseau hat das von Anfang an gesehen, denn selbst der Versuch einer quasi-gegenständlichen Synthese von Kunst und Natur im Elysium von Ciarens mißlingt. „ ( . . . ) die Natur hat alles getan; aber unter meiner Anleitung, und hier ist nichts, das ich nicht angeordnet hätte" 345 , sagt Julie und beharrt auf dem Erfolg ihres Projekts, doch Rousseau weiß es besser. Die Differenz von Kunst und Natur ist auf lange Sicht unaufhebbar: „Die Natur, welche nicht fürchtet, daß man sie verkenne, verändert oft ihr Aussehen; und die Kunst verrät sich oftmals dadurch, daß sie natürlicher sein will als sie." 3 4 6 Es gibt keine Flucht aus der Zeitlichkeit, und so muß man sich dem politischen Problem auf der Ebene der historischen Wirklichkeit stellen, auf der es begegnet. Nur der Versuch einer Bewältigung in dieser Sphäre legitimiert für Rousseau überhaupt das Nachdenken über die Strukturen sozialer Organisation.

2. Kapitel

Glückseligkeit Rousseau sieht: Die Dynamik der geschichtlichen Existenz und die von ihr implizierte Vielheit der historischen Phänomene drohen die postulierte Einheit eines „Systems" 347 in unverbundene Fragmente zerfallen zu lassen. Wie können „archi342 Rêv. V 701. 343 CS III 11 (344). 344 CS III 2 (321). 345 NH IV 11 (493). 346 NH, 2. Vorrede 25. 347 Rousseau hat sich gelegentlich in fast koketter Weise den Vorwurf fehlender Systematik zu eigen gemacht: „Die Systeme aller Art sind mir zu hoch; Nachdenken, Abwägen, Schikanieren, Insistieren - das ist meine Sache nicht. Ich gebe mich dem Eindruck des Augenblicks ohne Widerstand und ohne Skrupel hin" (zitiert nach Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 25; ähnlich Emile IV 524). Entsprechend fällt bisweilen die Charakterisierung eigener Werke aus: Dem Discours sur les sciences fehle es „völlig an Logik und Ordnung" (Confess.

2. Kap.: Glückseligkeit

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VIII 347), der Émile sei nur eine „Sammlung von Bemerkungen und Beobachtungen, ohne Anordnung der Gedanken und fast ohne Zusammenhang" (Emile, Vorwort 101), die geplanten Institutions politiques bestünden nur aus „formlosen Gedanken" (FP I 210). Im Gegensatz dazu aber heißt es an anderer Stelle, daß das Werk „tief gedacht war und ein zusammenhängendes System bildete" (Dialogues III 564). Wie ist diese Differenz zu erklären? a) Rousseau selbst erläutert: „Meine Gedanken ordnen sich mit der unglaublichsten Schwierigkeit in meinem Kopf; sie treiben dort dumpf umher, gären, bis ich erregt und erhitzt werde und Herzklopfen bekomme, und inmitten dieser Erregung sehe ich nichts genau, könnte ich nicht ein Wort schreiben, sondern muß warten. Unmerklich besänftigt sich diese große Erregung, das Chaos entwirrt sich, jedes Ding kommt an seinen Platz, aber langsam und nach einer langen dunklen Verwirrung. ( . . . ) . Daher rührt die ungemeine Schwierigkeit, die mir das Schreiben bereitet. Meine Manuskripte, durchgestrichen, hingeschmiert, mit vielen Einschüben, unlesbar, bezeugen die Mühe, die sie mich gekostet haben" (Confess. III 115, H.h.). Die schriftliche Umsetzung des Denkens also ist es, die eine strenge Systematik vermissen läßt. Rousseau räumt ein: „Ich glaube nicht, daß ich mir ( . . . ) in den Ideen widerspreche, kann aber nicht leugnen, daß ich es oft in meinen Ausdrücken tue" (Emile I I 242 Anm.). Gegenüber Malesherbes klagt er mit Blick auf die Erleuchtung von Vincennes, die seine Tätigkeit als Schriftsteller initiiert (vgl. Confess. VIII 346): „Ach, mein Herr, wenn ich jemals den vierten Teil alles dessen, was ich unter diesem Baume gesehen und empfunden habe, hätte niederschreiben können" (Malesherbes I I 483). Was ihm hier als eine Einheit in der Erleuchtung unmittelbar zugänglich geworden war, mußte nun, Stück für Stück, in einem mühsamen Prozeß zu Papier gebracht werden. Diese Unmöglichkeit, das Erlebte sofort vollständig auszudrücken, dieser Zwang, einen Augenblick der Einsicht auszudehnen auf viele Jahre beschwerlicher Arbeit, vermitteln Rousseau von Anfang an ein gebrochenes Verhältnis zu seiner Tätigkeit als Schreibender. „So ward ich, als ich am wenigsten daran dachte, beinahe ohne es zu wollen, zum Schriftsteller", berichtet er Malesherbes (ebd.). Angetrieben von seiner Wahrheitsliebe, verzweifelt Rousseau fast daran, die Einheit seines Denkens nicht in vollem Umfang veranschaulichen zu können. Seinen rein schriftstellerischen Fähigkeiten gegenüber eher kritisch eingestellt (vgl. Malesherbes II 483; d'Alembert 339, 340), weiß er um den eigenen steten Kampf mit der Fülle der Gedanken, die gleichzeitig zur Darstellung drängen. Fast schroff weist er den Leser des Contrat social auf das Grundproblem hin: „Meine Ideen hängen alle zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal vortragen" (CS II 5 [297]; ähnlich Confess. III 108). In dem Bestreben, argumentativ eine möglichst große Dichte zu erreichen, läßt Rousseau die gedankliche Substanz des Werkes oft in einen einzigen Text einfließen. So enthält etwa der Discours sur les sciences alle Grundelemente seines Systems. Rousseau selbst kritisiert den Text rückblickend (vgl. Confess. VIII 347); dennoch gelingt es ihm auf wenigen Seiten, der korrupten bürgerlichen Gesellschaft des Ancien régime den ursprünglich „guten" Menschen der Natur, den Bürger einer historisch überholten Polisgemeinschaft und das moralisch lebende, isolierte Individuum gegenüberzustellen (vgl. näher Forschner, Rousseau, S. 21; Masters, Philosophy of Rousseau, S. 243-254; Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 267-275). Diese Schrift war unmittelbar unter dem Eindruck der Erleuchtung von Vincennes entstanden, doch die Wirkung dieses Erlebnisses hält sich bis zum Ende von Rousseaus eigentlicher Tätigkeit als Schriftsteller. So weist etwa eines der letzten Werke, die nur fragmentarisch erhaltene, als Fortsetzung des Émile gedachte Schrift Émile et Sophie die gleiche gedankliche Dichte auf wie das Erstlingswerk. Die gesellschaftliche Korruption der ursprünglichen menschlichen Güte, die Selbstbehauptung des Subjekts, die Polisgemeinschaft jenseits der aktuellen europäischen Zivilisation - „not a single theme of real importance to Rousseau is left out in these thirty-odd pages", urteilt Judith N. Shklar (Men and Citizens, S. 235). b) Für das Denken selbst hat Rousseau stets den Status eines „Systems" reklamiert (vgl. nur Dialogues III 566, 567, 568, 570; Bordes-2, OC III 105; Philopolis 307; Montagne V I 145), d. h. den eines geschlossenen Gedankengebäudes, das „nichts Widersprechendes" (vgl.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

Dialogues III 564; Emile II 242 Anm.) enthält. Die innere Einheit seines Werkes ist ihm wiederholt ein Anliegen (vgl. nur Malesherbes I I 483; Dialogues 1285, III 567, 569, 576; CS I I 5 [297]) und wird im Brief an Beaumont besonders hervorgehoben: „Ich habe über verschiedene Materien geschrieben, aber immer nach denselben Prinzipien: immer dieselbe Moral, derselbe Glaube, dieselben Grundsätze, und, wenn man will, dieselben Meinungen" (Beaumont 500). Rousseau befürchtet allerdings, daß die Struktur seines Werkes, das er als krassen Gegensatz zu den Ideen seines Jahrhunderts begreift (vgl. Dialogues III 569; Confess. IX 400), den Rezipienten überfordern könnte. So versieht er seine Texte mit Hinweisen, die zu Sorgfalt und Überlegung auffordern: „Zeiht mich, ich bitte euch, nicht vorschnell des Widerspruchs!" (CS I I 4 [292 Anm. (2)]; vgl. auch CS I I 5 [297], III 1 [315]; Émile I I 190 Anm., 212, III 370 Anm.; Jugement polysynodie 97 Anm.; Dsl 265; Guerre 52; Pologne XIV 643; Confess. VII 273, IX 409, XI553), ruft er seinen Lesern zu. Allein, es ist vergeblich. Ironisch stellt Rousseau im Rückblick fest, daß das Publikum ihn früh auf die Rolle des (Selbst-)Widersprüchlichen festgelegt hatte: „Nach meiner ersten Abhandlung war ich ein Paradoxienjäger, der sich ein Vergnügen daraus machte, etwas zu beweisen, was er selbst nicht glaubte" (Beaumont 500; ähnlich Narcisse 148 f.; Dsl 365; Dialogues I I 416; vgl. auch die Vorwürfe Beaumonts [zitiert in Beaumont 586] und Voltaires, Lettre à Rousseau [30/08/1755], Korresp. 103). Gegen Ende seiner Tätigkeit als Schriftsteller macht sich Rousseau diese Charakterisierung dann zu eigen: Er schreibt: „ ( . . . ) ich bin lieber der Mann der Paradoxa als der der Vorurteile" (Emile II 212). c) In einer Gesamtschau kann Rousseaus positive Selbsteinschätzung nicht ganz geteilt werden. Zu konzedieren sind nicht nur begriffliche, sondern auch eine Reihe inhaltlicher Divergenzen, die nicht mehr werkimmanent dialektisch, sondern allenfalls auf einer systemtheoretisch gefaßten Metaebene produktiv gewendet werden können (dafür etwa Jaumann, Rousseau in Deutschland, S. 20-22; Treml, Rousseaus Naturbegriff, S. 805, passim). Diese (echten) Widersprüche finden sich in der Rousseau-Forschung im wesentlichen auf zwei verschiedene Arten verarbeitet: aa) Bisweilen wird die skizzierte Problematik genutzt, um von vorneherein einen „stabilen Begriffsschematismus" in Rousseaus Denken zu leugnen (vgl. Erdmann, Staat und Religion, S. 20) und so Raum zu schaffen für die Ansicht, die textorientierte Auslegung müsse „in der Rousseau-Forschung immer sekundär bleiben, weil sie allzuleicht den Lebensodem dieses Werkes ( . . . ) systematisierend aufhebt" (Röhrs, Rousseau, S. 13). Dann erscheint es schnell zulässig, etwa im Dienste idealistischer Reinterpretation (treffend Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 59, Anm. 211), Rousseau „nicht wörtlich und buchstäblich [zu] nehmen" (Vossler, ebd., S. 378), sondern „sich mitunter gegen den Wortlaut Rousseaus [zu] wenden" (Oberparleiter-Lorke, Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 83), um ihn am Ende vermeintlich besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat (in diesem Sinne Brandt, Droit et intérêt, S. 114; Oberparleiter-Lorke, ebd.). bb) Die communis opinio ist im Hinblick auf den Umgang mit den echten Widersprüchen selbst durchaus heterogen (vgl. Jaumann, ebd., S. 19, Anm. 19 m.N.), setzt sie aber regelmäßig in ein wertendes Verhältnis zur Konzeption des Gesamtwerkes. Eine typische Formulierung lautet etwa: „His profound unity is far more imposing than his occasional logical lapses" (Shklar, ebd., S. 220 f.). Die angesprochene vorgängige gedankliche Einheit konstituiert sich dabei aus der Perspektive des hier fraglichen Zusammenhangs in der Hauptsache über zwei Elemente: (1) Hervorzuheben ist mit Blick auf die Staatslehre selbst zunächst das Problem ihrer inneren Konsistenz, die vereinzelt zugunsten einer entwicklungsgeschichtlichen Konzeption von Rousseaus Denken verneint worden ist (vgl. mit unterschiedlicher Betonung etwa Brandt, Rousseaus Philosophie, S. 66, passim; Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, S. 30; Vaughan, Political Writings, S. 71-86, passim), wie oben angedeutet aber auf der Basis eingehender textlicher und biographischer Analyse nicht zweifelhaft sein kann (so auch Β wecken, „Homme" und „Citoyen", S. 13; F etcher, Rousseau der konservative Denker,

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medische Punkte" im steten Fluß der Geschichte gefunden werden? Es scheint zunächst durchaus naheliegend, in der Historizität der menschlichen Natur selbst das einigende Prinzip des Werkes zu erblicken, denn die geordnete und widerspruchsfreie Zusammenstellung der verschiedenen geschichtlichen Realisationen hätte den formalen Anforderungen des Systembegriffs entsprochen. Doch Rousseau gibt sich damit nicht zufrieden. Sein „System" soll auch eine Funktion erfüllen, und an dieser läßt er schon in seiner ersten Schrift keinen Zweifel: „ ( . . . ) all dasjenige, was heutzutage von aller Welt bewundert wird, vor den Kopf [zu] stoße[n] ( . . . ) . " 3 4 8 Rousseau sucht, wenn man will, nach dem „kritischen Prinzip", das sein Werk mit Blick auf die bürgerliche Gesellschaft schließlich zu einem „traurigen und großen System" 349 machen sollte.

I. Jenseits der Geschichte Offensichtlich konnte die konstante historische Variabilität des menschlichen Wesens allein kein Element sein, das eine Basis für die Kritik des gegenwärtigen Zustandes bietet. 350 Sollte aber dieser Anspruch nicht aufgegeben werden, so mußte die erkannte Prozeßhaftigkeit der condition humaine in einer Weise systematisierend erfaßt werden, die eine kritische Überschreitung der Geschichte erlaubt. Rousseau bemüht sich zu diesem Zweck um den Nachweis einer ursprünglichen, „eigentlichen" menschlichen Natur. Er entwirft einen „Naturzustand" vor jeder Geschichte und ordnet ihm eine bestimmte Realisation subjektiver Existenz zu. Deren Charakterisierung wird zum Maßstab der Kritik und versöhnt die Statik des „Systems" mit der Dynamik seiner Inhalte.

S. 135; Forschner, ebd., S. 47 f., 56 f.; Masters, ebd., S. 189, 248; Melzer, Natural Goodness, S. 5; Reiche, Rousseau und das Naturrecht, S. 86 f.; Rousseau selbst [Confess. V I 269]: „immer derselbe in allen Zeiten"). (2) Mit Rücksicht auf das Gesamtwerk konzentriert sich seit Lanssons Aufsatz (L'unité de la pensée, 1912) die Diskussion auf den Contrat social, dessen Kollektivismus in schroffem Gegensatz zur Hochschätzung der radikalen Asozialität des homme naturel und des Individualismus im Émile und den autobiographischen Schriften steht. Noch Forschner, ebd., S. 20, bezeichnet die Frage nach dem Status der Staatstheorie als „die crux der Interpreten", und auch in neuester Literatur ist das Problem in Form eines gedanklichen Ausgangspunkts gegenwärtig (vgl. Melzer, ebd., S. 3). Obgleich die Konzeption des Contrat social also nach wie vor als Herausforderung begriffen wird, hat doch die inzwischen etablierte, formal geschichtsphilosophische Interpretation des Werkes die divergierenden Tendenzen in Rousseaus Daseinsentwürfen durch die Verankerung der einzelnen Modelle in verschiedenen Stadien des historischen Prozesses systematisierend aufgehoben (vgl. Rang, Rousseaus Lehre, S. 8 8 92; Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz, S. 19-33). 348 DsS 9. 349 Bordes-2, OC III 105. 350 Treffend Emberley, Management of the Passions, S. 156. 6 Gaul

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1. Naturzustand Die politische Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts reklamiert für sich den Vollzug einer Methode, die sichere Erkenntnisse über das Problem staatlicher Gemeinschaft liefern soll: den Rekurs auf einen ursprünglichen menschlichen Zustand. Rousseau kennzeichnet diesen Anspruch als Illusion: Die Methode ist richtig, doch nie konsequent angewendet worden. „Die Philosophen, welche die Grundlagen der Gesellschaft untersucht haben, haben alle die Notwendigkeit gefühlt, bis zum Naturzustand zurückzugehen, aber keiner von ihnen ist bei ihm angelangt", heißt es im Discours sur Γ inégalité. 351 Was ist der Grund dafür? Rousseau sieht: In der gängigen Lehre vom Naturzustand degeneriert die Frage nach dem Menschen zum Derivat der unmittelbaren politischen Intention. Das Problem staatlicher Gemeinschaft ist hier wesentlich das Problem der Legitimation von Herrschaft. Wenn es aber darum geht, subjektiv-ursprüngliche („natürliche") Rechtspositionen als Basis einer legitimen gesellschaftlichen Ordnung auszuweisen, wird Soziabilität präsupponiert und ordnende Vernunft gar zum unverzichtbaren Faktor. Der Versuch, bis zur ursprünglichen Natur des Menschen zu gelangen, endet dann in der Tat auf halbem Wege in einem bloß vovstaatlichen Zustand, in dem ohne Verlust ein aktueller anthropologischer Befund mit der wahren Natur des Menschen identifiziert werden kann. Für Rousseau ist dieses Konzept unvollständig. Das Problem des staatlichen Verbandes reduziert sich nicht auf den Aspekt der Legitimation von Herrschaft, denn primäre Auswirkung der mißlingenden Sozialität ist die psychisch-moralische Deformation des Subjekts - eine Einsicht, die die Frage nach der inneren Verfassung des Menschen in das Problem staatlicher Gemeinschaft integriert. Wird aber die Befindlichkeit des einzelnen in der gesetzlichen Ordnung selbst zum Thema, so genügt der Blick auf einen unmittelbar vorstaatlichen Zustand nicht mehr. Dann bleibt nur, „bis an die Wurzel [zu] graben" 352 und die Konstitution des Menschen in einem wahrhaft ursprünglichen, einem „reinen Naturzustand" 353 zu zeigen.

a) Natur vs. Geschichte Die Introspektion des Subjekts eröffnet den Blick auf ein ursprüngliches Dasein des Menschen 354 , doch damit ist noch nichts gewonnen. Rousseau erkennt: Die geschichtliche Verbindung läßt die historischen Realisationen humaner Existenz als 351

Vgl. dazu und zum Folgenden Dsl 69 f. 352 Dsl 161. 353 Dsl 121. 354 Vgl. nur Dialogues III 570 f., 571; Rêv. VIII 737; Dsl 75; Lettres morales VI, OC IV 1112-1118.

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bestimmungsgemäße Entfaltung der ursprünglichen Natur erscheinen. Das eigentliche Wesen des Menschen geht in diesem Verständnis vollständig in seiner Historizität auf. Wie kann dann aber ein eigenständiger Begriff der nature de l'homme gefunden werden? Rousseau sieht: Die cartesische Unterscheidung der Substanzen hat den TelosGedanken aus der Naturbetrachtung eliminiert und die Natur selbst auf ein bloßes Material reduziert, über das das denkende Subjekt bei der Realisierung der eigenen Bestimmung verfügt. Der Bereich des Materiellen wird dabei der substantiellen Dichotomie entsprechend jeder Rationalität entkleidet. Descartes besteht deshalb darauf, daß Tiere im Vergleich zum Menschen nicht über weniger, sondern über keinerlei Vernunft verfügen. 355 In der Philosophie der Aufklärung ist diese Trennung mit der Einsicht in die Naturhaftigkeit des Menschen an sich schon in Frage gestellt, und im Discours sur l'inégalité verschwindet sie vollkommen: Rousseau erklärt, daß „das Tier und der Mensch von der Natur gleich behandelt worden sind Zunächst entfällt die notierte Differenz, wenn der Vollzug der (vernünftigen) Reflexion einer Mensch und Tier gemeinsamen Systematik unterstellt wird. Dieser Ansatz weist die aktuelle Distanz zwischen den Gattungen als eine nur graduelle aus 357 und eröffnet zugleich der animalischen Existenz dem Grunde nach die Option des Denkens. 358 Rousseau aber geht nun über diese bereits in der Frühaufklärung diskutierte Argumentation hinaus, indem er in Ansehung des Naturzustands selbst den quantitativen Unterschied leugnet. Uber das ursprüngliche Dasein des Menschen heißt es: „Wenn ich dieses so verfaßte Wesen ( . . . ) so betrachte, wie es aus den Händen der Natur hat hervorgehen müssen, so sehe ich ein Tier ( . . . ) . " 3 5 9 In dieser Gleichsetzung wird der animal als Träger einer (wesentlich) vernunftlosen Existenz präsupponiert, denn auch das Subjekt des reinen status naturalis ist nicht rational 360 , seine Vernunft allein ein Resultat der Geschichte.361 Rousseau nennt mit Blick auf die Phylogenese die eigentliche Folge dieser plakativen Nivellierung: Der Mensch teilt grundsätzlich das historische Schicksal des Tieres, das „nach einigen Monaten ist, was es sein ganzes Leben lang sein wird, und seine Art nach tausend Jahren, was sie im ersten dieser tausend Jahre war." 3 6 2 Jeder weiteren Bestimmung entzogen, „ohne Sinn", existiert das Subjekt vor der Geschichte. Als bloßer Teil einer animalischen Population verharrt es in der Statik einer absoluten Geschichtslosigkeit, deren Prinzip Rousseau noch im Entwick355 Vgl. Discours de la Méthode, Teil 5, S. 58. 356 Dsl 93. 357 Vgl. Dsl 101. 358 Vgl. Dsl 97; CS 12 (272 Anm. [2]). 359 Dsl 79 (vgl. auch Dsl 89, 93, 97, 107, 175, 179). 360 Vgl. nur Dsl 57, 89, 107, 115 f., 139, 149,177, 291; FP XVI278; Emile V 817. 361 Vgl. nur Dsl 177, 207. 362 Dsl 103. *

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lungsgrad existierender Naturvölker dokumentiert sehen w i l l . 3 6 3 Entsprechend wird der Naturzustand beschrieben: „Es gab weder Erziehung noch Fortschritt; die Generationen vermehrten sich ohne Sinn; und da eine jede stets vom gleichen Punkt ausging, flössen die Jahrhunderte in der ganzen Rohigkeit der ersten Zeiten dahin; die Art war schon alt, und der Mensch blieb noch immer ein Kind." 3 6 4 Der Beginn jeder Entwicklung kann in dieser Vorstellung dann nur noch eine Ursache haben: Zufall. Die Dynamik des Fortschritts ist keine ursprüngliche, sondern das Produkt des „zufälligen Zusammentreffens mehrerer äußerer Ursachen ( . . . ) , die auch niemals hätten entstehen können und ohne die er [der Mensch; Verf.] ewig in seinem anfänglichen Zustand geblieben wäre ( . . . ) . " 3 6 5 Nicht die Behauptung einer Differenz zwischen Zivilisierung und Moralisierung also macht im Grunde die Substanz der Rousseau'schen Fortschrittskritik aus, sondern die Einsicht in die Kontingenz der Entwicklung an sich. Der so gewonnene eigentliche Begriff der menschlichen Natur denunziert nun die Rede von der „zweiten Natur" als euphemistische Verschleierung des Unnatürlichen (Kulturellen) und dient später (modifiziert) als Leitlinie für ein individuelles Erziehungsprojekt 366 oder Gegenbild zur staatlichen Gemeinschaft. 367 Zugleich werden die „künstlichen Fähigkeiten" 368 (etwa Vernunft, Sprache, Soziabilität) zu Produkten einer Gattungsgeschichte, deren Rekonstruktion demonstriert, wie „der ursprüngliche Mensch nach und nach verschwindet und die Gesellschaft ( . . . ) nur mehr eine Ansammlung artifizieller Menschen und künstlicher Leidenschaften darstellt." 369 Der angezeigte Gegensatz zwischen Natur und Geschichte war der RousseauRezeption stets suspekt. Sie wählt regelmäßig die von Rousseau vermittelte Vorstellung eines ursprünglich wesenhaft asozialen Menschen 370 zum Ausgangspunkt grundsätzlicher Kritik an der Scheidung von Natur und Historie. Als vermeintlicher Schwachpunkt des Konzepts gilt dabei die menschliche Perfektibilität 371 , eine

363 Vgl. nur Dsl 97, 111, 157, 325-343 und insb. 195: „Das Beispiel der Wilden - die man beinahe alle an diesem Punkt [d.i.: Leben en troupe; Verf.] angetroffen hat - scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben ( . . . ) . " Die hier initiierte Vorstellung einer „Geschichtslosigkeit" der Naturvölker wurde der bald darauf entstehenden Ethnologie zur Hypothek (vgl. nur Stocking, Geschichtlichkeit der Wilden, 1978). 364 Dsl 161 (vgl. OC III 160: „inutilement"; Original: „unnütz") (vgl. auch Dsl 85, 133, 291). 365 Dsl 167 (vgl. auch Dsl 95, 113, 119, 177, 193; Philopolis 307; FP X 260). 366 Vgl. Émile 1110. 367 Vgl. CS III 2 (321); Émile I 112. 368 Dsl 79. 369 Dsl 267 (vgl. auch Guerre 52). 370 Vgl. nur Dsl 89, 97, 117, 131, 161, 165 f.; Langues IX 186, 187; Variante (b) zu ÉMF vor I, OC IV 56, OC IV 1268. 371 Zur Perfektibilität bei Rousseau vgl. Broecken, „Homme" und „Citoyen", S. 61-65; Plattner, State of Nature, S. 46-51; Rohbeck, Fortschrittstheorie, S. 61 f.

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„Fähigkeit, die, mit Hilfe der Umstände, sukzessive alle anderen entwickelt und bei uns sowohl der Art als auch dem Individuum innewohnt ( . . . ) . " 3 7 2 Rousseau besetzt mit diesem Neologismus einen Argumentationszusammenhang, den die Aufklärung gerade erst für sich entdeckt hatte. In ihrer Vorstellung repräsentiert die Fähigkeit zur Vervollkommnung den Faktor, mit dessen Hilfe sich die Unbedingtheit des Fortschritts in der Verfassung des Menschen verankern und damit von äußeren Ursachen weitgehend unabhängig machen läßt. Die Perfektibilität dient damit gleichsam als subjektiver Ermöglichungsgrund eines Prozesses, der die menschliche Natur bestimmungsgemäß entfaltet. Diesem Telos entsprechend ist sie Inbegriff einer „natürlichen Fähigkeit", mithin eines Vermögens, das sich dem Programm der Natur folgend realisiert. 373 Die zeitgenössischen Reaktionen auf den Discours sur V inégalité stehen dann auch ganz im Zeichen dieser Vorstellung. 3 7 4 Bonnet etwa fragt Rousseau: „Muß nicht von allem, was unmittelbar aus den Fähigkeiten [d.i. hier die Perfektibilität; Verf.] des Menschen resultiert, gesagt werden, daß es aus seiner Natur resultiere? ( . . . ) Wenn sich der Gesellschaftszustand also aus den Fähigkeiten des Menschen ergibt, so ist er dem Menschen natürlich. " 3 7 5 Auch Teile der späteren Rezeption bedienen sich der Sache nach dieser Argumentation: Die Perfektibilität wird als „natürliche Eigenschaft" begriffen und hebt die Künstlichkeit der sozialen Natur ganz 376 oder teilweise 377 auf. Rousseau hat diese Interpretation seines Denkens nicht gelten lassen. Er antwortet auf Bonnets Frage, daß die Gesellschaftlichkeit in der Tat zwar ein Zustand der menschlichen Gattung sei, doch „dies nicht unmittelbar, wie Sie sagen, sondern mit Hilfe gewisser äußerer Umstände, die dasein oder auch nicht dasein oder wenigstens früher oder später eintreffen können und also diesen Fortschritt entweder beschleunigen oder aufhalten." 378 Die Ablehnung eines „unmittelbaren" Wirkungszusammenhangs zielt auf das teleologisch aufgeladene Verständnis der „natürlichen Eigenschaft". Die Perfektibilität entläßt ihr Potential nicht im Zuge der Realisierung einer natürlichen Bestimmung, sondern ist gleichsam passiv: Sie reagiert nur auf einzelne äußere Anstöße, die eben auch ausbleiben können. Insoweit jedes entelechischen Gehalts entkleidet, kann sie die von der Kritik postulierte Versöhnung zwischen Natur und Geschichte gerade nicht leisten. Die Integration des Menschen in die Statik des status naturalis geschieht also in Rousseaus Vorstellung so vollständig, daß die Verbindung zwischen Natur und Geschichte allein 372 Dsl 103. 373 Vgl. zu diesem Begriff Plattner, State of Nature, S. 46 f. 374 Vgl. zur Kritik in Deutschland und England Tubach, Perfectibilité, 1960; Ogden, State of Nature, S. 23-29. 375 Lettre de Philopolis (25/08/1755), in: Meier, Dsl (Materialien), S. 453 (H.i.O.). 376 Vgl. in diesem Sinne Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 117-124; Derathé, Le rationalisme de Rousseau, S. 19; Dürkheim, Montesquieu et Rousseau, S. 134. 377 Vgl. in diesem Sinne Caspar, Wille und Norm, S. 50 f.; Forschner, Rousseau, S. 42; Pickles, Notion of Time, S. 380 f.: bis zum Goldenen Zeitalter. 378 Philopolis 307 (H.h.).

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dem kontingenten Verhalten externer Faktoren überantwortet wird. 3 7 9 Die Konsequenzen dieses Befundes sind offensichtlich: Der Prozeß der Menschwerdung mußte nicht überall gleichzeitig stattfinden 380, er mußte nicht notwendig stattfinden 3 8 1 , mehr noch - er hat nicht überall stattgefunden. 382 Rousseaus eigentliche Kritik am Konzept der Aufklärung allerdings verbirgt sich in der kaum bemerkbaren Dynamisierung des reinen Naturzustands selbst. Rousseau fragt: „Weshalb kann allein der Mensch geistesschwach werden? Kommt es nicht daher, daß er damit zu seinem anfänglichen Zustand zurückkehrt und daß - während das Tier, das nichts erworben und auch nichts zu verlieren hat, immer bei seinem Instinkt bleibt - der Mensch, wenn er durch das Alter oder durch andere akzidentielle Umstände alles wieder verliert, was seine Perfektibilität ihn hatte erwerben lassen, folglich tiefer fällt als das Tier selbst?" 383 Die hier transportierte Aussage, die Phylogenese und Ontogenese grundsätzlich verbindet, wird im Emile in Hinblick auf die Gattungsgeschichte weiter illustriert. 384 Rousseau fingiert ein Neugeborenes, das bei seiner Geburt Statur und Kraft eines ausgewachsenen Mannes hat. Dieses Wesen hätte nun - wie der homme naturel aber anders als der Säugling 385 - das Gefühl seiner eigenen Existenz, doch es könnte sich kaum bewegen, nicht sehen oder hören, sich nicht ernähren. Rousseau bilanziert: „Wenn man nur ein wenig nachdenkt über die Ordnung und den Fortschritt unserer Erkenntnisse, so kann man nicht leugnen, daß dies etwa der dem Menschen natürliche Urzustand der Unwissenheit und Dumpfheit ist ( . . . )." Der Mensch ist also ursprünglich nicht einmal auf dem Entwicklungsstand ein Tieres; er ist in diesem Sinne buchstäblich „nichts ( . . . ) . " 3 8 6 Das ändert sich jedoch: Die Menschen beobachten die Tiere, „ahmen sie nach und erheben sich so bis zum Instinkt der Tiere, mit dem Vorteil, daß, während jede Art nur den ihr eigenen Instinkt hat, der Mensch, welcher vielleicht keinen hat, der ihm eigen ist, sie sich alle aneignet ( . . . ) . " 3 8 7 Er wird also „für den Instinkt, der ihm vielleicht fehlt, durch Fähigkeiten entschädigt, die ihm zunächst den Instinkt zu ersetzen und ihn danach weit über die Natur hinauszuheben vermögen ( . . . ) . " 3 8 8 Wie kommt es zu

379

Zu den Grundlagen dieses Konzepts bei dem von Rousseau verehrten Montesquieu (vgl. nur Émile V 912; CS III 4 [325]; Wegelin und Schulthess nach einem Besuch bei Rousseau, Korresp. 400) und der eher skeptischen Rezeption durch die Aufklärung vgl. Rohbeck Fortschrittstheorie, S. 64 - 70. 3 «o V g l . Dsl 47. 381 Vgl. Philopolis 307. 582 Vgl. Dsl 325 f., 333. 3 3 ® Dsl 103 f. (H.i.O.). 3g 4 Vgl. zum Folgenden Émile 1155 f. 3 «5 Vgl. Emile 1 154,180. 386 Beaumont 509. 587 Dsl 81. 388 Dsl 105.

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dieser Entwicklung? Der Instinkt entsteht durch Nachahmung, aber woher stammt diese Fähigkeit? Sie könnte Produkt der Perfektibilität sein. Doch Rousseau betont, daß der natürliche Mensch die Perfektibilität nur „der Möglichkeit nach erhalten hat ( . . . ) . " 3 8 9 Er ist ursprünglich also gar nicht perfektibel, dieses Vermögen ist bloß potentiell vorhanden. 390 Woraus aber entwickelt sich dann die Perfektibilität? Die Antwort verdeutlicht das Primat der Kontingenz: Sie ist Resultat „des zufälligen Zusammentreffens mehrerer äußerer Ursachen ( . . . ) , die auch niemals hätten entstehen können ( . . . ) . " 3 9 1 Rousseau erklärt, welcher Art diese Ursachen sein müssen. Über den natürlichen Menschen heißt es: „ Z u n ä c h s t gibt sie [die Natur; Verf.] ihm nur das notwendigste Begehren nach Selbsterhaltung ein und ausreichende Fähigkeiten, es zu stillen. Alle anderen hat sie wie zur Reserve in den Grund seiner Seele gelegt, damit eine jede sich nach Bedarf entwickle." 392

b) Was bleibt? Am Ende des Discours sur Γ inégalité vergleicht Rousseau den natürlichen Menschen mit dem künstlichen der bürgerlichen Gesellschaft und verneint buchstäblich jede Gemeinsamkeit.393 Nun scheint aber mit der Radikalität dieser Bilanz der eigene Anspruch auf eine prinzipielle Kritik der aktuellen Gesellschaft leerzulaufen. Der angebliche Verfallsprozeß der Gattung sollte einen Menschen hervorbringen, der gegenüber dem ursprünglichen Subjekt in näher zu bestimmender Weise „schlechter" ist. Die Entwicklung aber hat die Natur des Menschen offenbar so 389 Dsl 167 (vgl. auch Dsl 127,135). 390 Rousseau weiß um die Befangenheit der Aufklärung in ihrer Vorstellungswelt. „Ich sehe voraus, daß man die Partei, die ich hier ergriffen habe, nicht leicht billigen wird" (DsS 9), heißt es schon in der Vorrede zur Kulturkritik des Discours sur les sciences. Hatte die bloße Identifikation von tierischer und menschlicher Natur heftigen Widerspruch ausgelöst (vgl. nur Voltaire, Lettre à Rousseau [30/08/1755], Korresp. 101; Lettre de Philopolis [25/ 08/1755], in: Meier, Dsl [Materialien], S. 457; Diderot, „droit naturel" [Encyclopédieartikel], S. 45), so mußte eine endgültige Nivellierung der Unterschiede durch einen völligen Verzicht auch auf die Perfektibilität die Ablehnung noch vergrößern. Rousseau läßt sich deshalb scheinbar darauf ein, „von der metaphysischen und moralischen Seite her" (Dsl 99) eine konstitutionelle Überlegenheit des Menschen nachzuweisen; ein Unterfangen, dessen absurden Charakter eine zeitgenössische Kritik genau erkennt: „M. Rousseau, dans son homme sauvage, en trouve deux, l'homme sauvage physique & l'homme sauvage métaphysique & moral: C'est comme si l'on disoit l'ours physique, l'ours métaphysique & moral" (Fréron [Rezension], S. 152 [S. 587]). In der Tat war klar, daß die Untersuchung eine solche Überlegenheit nicht zu Tage fördern konnte. Dennoch behauptet Rousseau im Dienste einer moderaten Darstellung in apodiktischem Ton eine dahingehende Differenz zwischen Mensch und Tier: „ ( . . . ) so gibt es doch eine andere sehr spezifische Eigenschaft, die sie unterscheidet und über die es keinen Zweifel geben kann: die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen" (Dsl 103, H.h.). 391 Dsl 167. 392 Emile I I 188 (H.h.). 393 Vgl. Dsl 267-271.

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grundlegend verändert, daß sie zu einem bloßen aliud geworden ist, an dem jede Kritik aus der Perspektive des früheren Zustandes eigentlich vorbeigehen muß. 394 Wie kann die skizzierte grundsätzliche Distanz zwischen den Realisationen menschlicher Existenz überwunden werden? Rousseau versucht zunächst, das Problem auf der Ebene der Moralität zu lösen. Er schreibt: „Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis ( . . . ) . " 3 9 5 Gegen diesen Befund wird nun eine ursprüngliche „Güte" des Menschen angeführt. 396 Die Verbindung beider Verfassungen menschlicher Existenz im geschichtlichen Verfallsprozeß soll dann zeigen, „daß der Mensch von Natur gut ist, und daß es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden." 397 Doch die Qualifikation der ursprünglichen Güte als „Hauptgrundsatz aller Moral" 3 9 8 erweist sich bei der Suche nach einem Maßstab der Kritik unmittelbar als wertlos. Moralität, das bedeutet: Begriffe, „die Gut und Böse voneinander unterscheiden." 399 Rousseau versteht diese Begriffe als Produkte einer praktischen Intersubjektivität, die sich erst in der Geschichte verwirklicht: „Mit einem Wort, erst wenn er [der Mensch; Verf.] sich vergesellschaftet hat, wird er ein moralisches Wesen ( . . . ) . " 4 0 0 Im Zustand isolierter Konfliktlosigkeit dagegen gibt es keine bewußte Suche nach richtigem Verhalten. Die Menschen im reinen Naturzustand sind „präzise deshalb nicht böse ( . . . ) , weil sie nicht wissen, was gut ist." 4 0 1 Rousseau beschreibt die erläuterte Differenz in einem Fragment, in dem die natürliche Güte (bonté naturelle) der Tugend (vertu) des moralischen Wesens gegenübergestellt wird: „Solange die Menschen ihre erste Unschuld bewahrten, hatten sie keinen anderen Führer nötig als die Stimme der Natur; solange sie nicht böse wurden, waren sie davon dispensiert, gut zu sein; ( . . . ) und man kann sagen, daß die Tugend selbst ( . . . ) ihre Schönheit und ihre Nützlichkeit nur aus den Übeln des Menschengeschlechtes zieht." 402 „Natur" gewinnt ihre kritische Funktion also allein aus einer Perspektive, die die Analyse sozialer Existenz schon einbegreift und mit der faktischen Güte des homme naturel kontrastiert. Rousseau hat sich stets gegen die bis heute wirkmächtige Einordnung in eine Tradition verwahrt, die die Historizität des Subjekts mit

394 Treffend Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 186. 395 Dsl 301. 396 Vgl. nur Dernière réponse 118 Anm.; Bordes-2, OC III 105; Philopolis 312; Dsl 151, 301; Dialogues III 569; Malesherbes II 483; Émile IV 586, 598; Beaumont 508, 510. 397 Malesherbes II 483 (entspr. Dialogues III 569; Lettre à Cramer [13/10/1764], Korresp. 286). 398 Beaumont 508. 399 Émile III 354. 400 FP II 213 (vgl. auch Dsl 193). 401 Dsl 141 (vgl. auch Dsl 137). 402 FP II 212 (vgl. OC III 476: „ils furent dispensés d'être bons"; Original: „waren sie geneigt, gut zu sein") (vgl. auch Confess. IX 411; Émile V 887).

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Hilfe eines unvermittelten und bisweilen klischeehaft überformten Zusammenhangs von Natürlichkeit und Moralität nivelliert. Tatsächlich ist, so wird sich zeigen, seiner ausgesprochen nüchternen Anthropologie selbst für das in sittlichen Begriffen erfaßbare Goldene Zeitalter die Vorstellung eines „edlen Wilden4' fundamental fremd 403 , und hinsichtlich des reinen status naturalis muß diese Kategorie vollkommen inadäquat sein. Rousseau besteht dann auch auf der unmittelbar moralischen Indifferenz der Natur. Er sieht: Die Menschen im ersten Naturzustand sind „weder gut noch böse ( . . . ) . " 4 0 4 Mehr Erfolg scheint ein Zugriff auf die Implikationen der Kategorien von Herrschaft und Knechtschaft zu versprechen. Rousseau bezeichnet den Menschen des reinen Naturzustandes ausdrücklich als „frei" 4 0 5 und rechnet diese Eigenschaft zu den „essentiellen Gaben der Natur ( . . . ) . " 4 0 6 Der so gewonnene Begriff der „natürlichen Freiheit" 407 bietet sich im ersten Zugriff als kritischer Maßstab aktueller Gesellschaft an. Konnte nicht durch den Geschichtsprozeß verfolgt werden, wie die „edelste Fähigkeit des Menschen" 408 , das „erste aller Güter" 409 , endgültig verlorengeht, als die Aufhebung der (äußeren) Freiheit im Herr-Knecht-Verhältnis vor der bürgerlichen Gesellschaft durch den doppelten Gesellschaftsvertrag bestätigt und institutionell abgesichert wird? „Freiheit" ist tauglicher Bezugspunkt einer Bewertung aktueller Befindlichkeit, wenn sie im reinen Stande der Natur als solche nachgewiesen werden kann. Dabei rekurriert insbesondere die neuere transzendentalphilosophisch ausgerichtete Rezeption auf eine Argumentation im Discours sur l'inégalité, die den in Rousseaus Werk angeblich fehlenden theoretischen Begriff von Freiheit repräsentieren soll. Dort heißt es, die Tiere seien „der Freiheit bar" 4 1 0 , denn sie blieben stets „Sklaven des Instinktes ( . . . ) . " 4 1 1 Der Mensch unterscheide sich vom Tier nun darin, „daß bei den Operationen des Tieres die Natur allein alles tut, wohingegen der Mensch bei den seinen als ein frei Handelnder mitwirkt. Jenes wählt oder verwirft aus Instinkt und dieser durch einen Akt der Freiheit, was bewirkt, daß das Tier von der Regel, die ihm vorgeschrieben ist, nicht abweichen kann ( . . . )." Und weiter: „Die Natur befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch empfindet 403 Mindestens unglücklich daher Cranston, The noble savage, 1991; Pernthaler, Staatslehre, S. 66; Rath, Zweite Natur, S. 32; Stackelberg, Rousseau, S. 43 f.; Vaughan, Political Writings, S. 19. 404 Dsl 135. 405 V g l . Dsl 99, 101, 133, 187, 207; ÉMF II, OC IV 181. 406 Dsl 241. 407 Vgl. nur Dsl 219, 245; CS I 6 (280), 8 (284), III 10 (343), 18 (356); Guerre 52; NH III 22 (409); FP XII266. 408 Dsl 237. 409 Émile II 195.

410 Dsl 59. 411 Dsl 237.

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den gleichen Eindruck, aber er erkennt sich frei, nachzugeben oder zu widerstehen ( . . . ) . " 4 1 2 Aus dieser Passage wird abgeleitet, Freiheit könne als das der menschlichen Natur immanente Vermögen einer Negation der Naturordnung, mithin als auf sich selbst gegründete Autonomie des Willens begriffen werden. 413 Diese Argumentation übersieht, daß das skizzierte Konzept auf der Ebene anthropologischer Analyse selbst inkonsistent ist. 4 1 4 Wenn Rousseau im Kern behauptet, der (in Handlung umgesetzte) menschliche Wille sei Sitz und Träger der Freiheit 415 , entspricht er zwar durchaus einer verbreiteten Vorstellung des 18. Jahrhunderts 416, doch ist für dieses Element innerhalb seines Entwurfs eigentlich gar kein gedanklicher Raum. Liegt nicht in der ausdrücklich geäußerten Annahme, der Mensch folge allein seinem Instinkt 417 , die Vorstellung beschlossen, ein so beschriebenes Wesen bestreite gleichsam seine gesamte Existenz ohne die Möglichkeit für einen Akt der Wahl? Man hat versucht, diese prinzipielle Schwäche durch zusätzliche Differenzierungen zu kompensieren 418, doch Rousseau gibt den Versuch einer Unterscheidung von Mensch und Tier selbst auf. Er weiß: Das Subjekt des Naturzustandes realisiert sein Dasein in einer Welt ohne Alternativen. Es folgt keinem „Willen" 4 1 9 , sondern dem Instinkt, der eben auch den Menschen in „Skla412 Dsl 99,101. 413

Vgl. etwa Kryger, La notion de liberté, S. 73, passim; Oberparleiter-Lorke, Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 54 f., passim. 414 Ebenso mit Abweichungen im Detail Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 115 f.; Β ruppacher, Selbstverlust und Selbstverwirklichung, S. 53; Caspar, Wille und Norm, S. 45 f.; Charvet, The social problem, S. 8 - 1 0 ; F etcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 32; Noble, Rousseau's Moral Philosophy, S. 68-71; Rang, Rousseaus Lehre, S. 182; Steinvorth, Freiheitstheorien, S. 152 f. 415 Vgl. CS-M I 4, OC ΙΠ 296: „ ( . . . ) wollen und handeln sind das gleiche für jedes freie Wesen ( . . . ) . " 416 Vgl. nur Voltaire, Traité de métaphysique VII, S. 462: „Vouloir et agir, c'est précisément la même chose qu'être libre." 417 Vgl. nur Dsl 45, 79 f., 175. 418 Die Behauptung, das „Vermögen zu wollen, oder vielmehr zu wählen" (Dsl 103), sei auf die Festlegung der Mittel beschränkt, während das Handlungsziel instinktiver Entscheidung überlassen werde (vgl. Berief, Selbstentfremdung, S. 94; Broecken, „Homme" und „Citoyen", S. 58-61 mit Anm. 164, 165), bleibt angesichts der konkreten Beispiele zweifelhaft. Die Erläuterung der Ernährungsweise läßt sich noch in das genannte Konzept integrieren (vgl. Dsl 99), wenngleich auch sie teilweise allein als Ausdruck des Instinkts erscheint (vgl. Dsl 81). Daß der Mensch aber bei einem Treffen mit anderen Tieren „die Wahl hat zwischen der Flucht und dem Kampf' 1 (vgl. Dsl 85), kann kaum als Ausdruck einer bloß instrumentalen „Wahlfreiheit" begriffen werden, soll nicht die Selbsterhaltung als Handlungsziel ihren fundamentalen Charakter verlieren, indem sie mit einer Regung des Instinkts identifiziert wird. Die Willensfreiheit läßt sich nicht auf diese Weise redefinieren; „Wollen und Nichtwollen" (Dsl 107) ist handlungszielbestimmend. 419 Der Begriff des „Willens" taucht dann außerhalb der zitierten Passagen in Zusammenhang mit dem Subjekt des Naturzustands im Discours sur V inégalité auch nur ein einziges Mal auf, und zwar in einer Anmerkung (vgl. Dsl 333). Im übrigen hat auch das Neugeborene keinen Willen (vgl. Emile 1154).

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verei hält 4 2 0 und für eine Lebenssituation immer nur eine Lösung kennt. So heißt es schließlich ausdrücklich: „ ( . . . ) jeder wartet friedlich auf den Antrieb der Natur, überläßt sich ihm ohne Wahl ( . . . ) . " 4 2 1 Rousseau besteht am Ende dann auch nicht auf „Freiheit" als Kriterium einer kreatürlichen Differenz 422 , sondern räumt ein, daß „die Schwierigkeiten, die alle diese Fragen umgeben, noch einigen Raum ließen, über diesen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu streiten ( . . . ) . " 4 2 3

420 Vgl. CS I 8 (284). 421 Dsl 157 (H.h.). 422 Daß dem in Rede stehenden Interpretationsansatz die Angreifbarkeit des in Anspruch genommenen Konzepts entgeht, ist exemplarischer Ausdruck einer Haltung, die die Dimension des Empirisch-Historischen aus dem Duktus der Auslegung weitgehend entfernt. So entsteht etwa der gedankliche Raum für die Etablierung von „Freiheit" als differentia speciflca, indem der Naturzustand als „unstreitig hypothetisch" deklariert wird (vgl. Oberparleiter-Lorke, Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 23, 86: „heute Übereinstimmendel] Meinung"). Liegt der wesentliche Mangel schon neukantianischer Interpretation darin, Rousseau nicht im Kontext der notierten eingeforderten Denkweise ausgelegt zu haben, so perpetuiert die aktuelle Fassung der transzendentalphilosophischen Rezeption trotz gegenteiliger Beteuerung dieses Versäumnis. Zwar wird in bewußter Abgrenzung zum (Neo-)Kantianismus zum einen kritisiert, dieser interpretiere Rousseau „nur als Aufklärer", während in der Aufklärung doch die „Reduzierung des Menschen auf seine Rationalität" und Rousseau insoweit als „antiaufklärerisch" zu sehen sei (vgl. dies., ebd., S. 13, 118, 10), zum anderen mit der (treffenden) communis opinio (vgl. etwa F etcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 89; Forschner, Rousseau, S. 9; Reiche, Rousseau und das Naturrecht, S. 9; Schinz, La pensée de Rousseau, S. 506, passim) in Anlehnung an Rousseaus eigene Aussagen (vgl. etwa Émile 1134, I I 189, IV 552; CS III 17 [354]; d'Alembert 343 Anm. [1]) der rein praktische Charakter seines Denkens betont (vgl. Kryger, La notion de liberté, S. 21; Oberparleiter-Lorke, ebd., S. 20 f.). Dennoch setzt sich immer wieder die typisch (neu-)kantianische Deklaration der bloß theoretisch-begrifflichen Ebene als allein relevanter (vgl. nur Levine, Politics of Autonomy, S. VIII; Natorp, Rousseaus Sozialphilosophie, S. 8, 10, 12, passim) durch, etwa wenn die Bestimmung des reinen status naturalis als empirisch „ungesellig" im Rekurs auf eine (prinzipiell durchaus nachweisbare [vgl. etwa Émile III 437, IV 444, 453; Confess. IX 418; Langues IX 186]) ontologische Qualität des Begriffs in Frage gestellt oder in ihrer Bedeutung ganz geleugnet wird (vgl. Oberparleiter-Lorke, ebd., S. 183-203). Hier realisiert sich im Grunde mehr denn je der Versuch, Rousseau den philosophischen Zusammenhängen der (französischen) Aufklärung zu entziehen. Rousseau firmiert jedoch als „organischer Bestandteil der Aufklärung, und zwar qua Aufklärung" (Kondylis, Aufklärung, S. 339, H.i.O.), und die weitgehende Berechtigung dieser Kennzeichnung wird schon einsichtig in der Selbstverständlichkeit, mit der die zeitgenössische Diskussion Aussagen zur Disposition des Subjekts allein im Kontext biologisch-soziologischer Parameter rezipiert (vgl. etwa Diderot, Apologie de M. l'abbé de Prades, 5., S. 528 [H.i.O.], wo unter „état de troupeau celui sous lequel les hommes rapprochés par l'instigation simple de la nature, comme les singes, les cerfs, les corneilles, etc." verstanden wird, oder Voltaire, Essai sur les moeurs, Band 1, Introduction VII, S. 23 f., der sich unmittelbar gegen die Rousseau'sche Behauptung vom homme solitaire wendet: „On a écrit que cet état est le véritable état de l'homme [ . . . ] . Je ne crois pas que cette vie solitaire [ . . . ] soit dans la nature humaine. Nous sommes, si je ne me trompe, au premier rang [ . . . ] des animaux qui vivent en troupe, comme les abeilles, les fourmis, les castors, les oies, les poules, les moutons, etc."). 423 Dsl 103.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

Nun tritt Rousseaus Weigerung, sich weiter um den Nachweis menschlicher Freiheit zu bemühen, hier prima facie als momentane Resignation gegenüber der argumentativen Kraft der eigenen Vorgaben auf. Auf diese Weise scheint es immerhin möglich, daß das Subjekt ein freies wird, wenn es im Zuge der geschichtlichen Entwicklung lernt, den Impetus des Körpers in einem voluntativen Akt zu umgehen. Tatsächlich aber ist für Rousseau die Fähigkeit, sich aus eigenem Antrieb (spontan) gegen biologisch vermittelte mechanische Determination durchzusetzen - einen „wirklichen Willen" 4 2 4 zu haben - , bloße Erscheinung, die sich nicht affirmativ oder kritisch in einem als „Freiheit" kategorisierbaren Zusammenhang verankern läßt. Diese Anschauung ist schon gegenwärtig, wenn das Konzept des Discours sur l'inégalité einleitend als Ausdruck der „metaphysischen ( . . . ) Seite" des Subjekts bezeichnet und damit der eigenen massiven Kritik an der Methode spekulativer Bestimmung der menschlichen Natur und der ihr entsprechenden Gesetze425 ausgesetzt wird. Konsequent tritt die Problematik am Ende dann auch nicht mehr als Frage nach „Freiheit" im klassischen Sinne auf, sondern wird im Rahmen einer schlichten Selbstdiagnose abgehandelt. Der savoyische Vikar stellt fest: „Ich will meinen Arm bewegen, und ich bewege ihn, ohne daß diese Bewegung eine andere unmittelbare Ursache hätte als meinen Willen." 4 2 6 Die Behauptung einer „Freiheit" stützt sich also allein auf die intuitive Evidenz der Selbststeuerung, die man treffend als „naiven phänomenologischen Befund" 427 bezeichnet hat. Im übrigen verzichtet Rousseau auf die Hinzuziehung externer Maßstäbe und läßt das Problem auf sich beruhen: „Ob die Handlungen meines Willens meiner eigenen Macht unterliegen oder ob sie einer fremden Veranlassung folgen, weiß ich nicht, und es kümmert mich wenig, es zu wissen." 428 Hintergrund dieser Indifferenz ist die Notwendigkeit, im Zuge radikal begriffener menschlicher Historizität isoliertes Subjekt und liberté de l'homme getrennt zu denken. Schon die notierte Leugnung der Möglichkeit, (politische) Freiheit in jedem geographisch-kulturellen Zusammenhang zu etablieren, wirft die Frage nach den Konsequenzen für ein mögliches ontologisches Konzept humaner Existenz auf, und in der Tat erklärt Rousseau nun, daß das internalisierte Desinteresse an Freiheit im Stande defizitärer Existenz 429 geschichtlich eine Qualität erreichen kann, die den Begriff des Menschen selbst besetzt. Er sagt: „Wenn es ( . . . ) Sklaven von Natur gibt, so deshalb, weil es Sklaven wider die Natur gegeben hat. Die Gewalt hat die ersten Sklaven gemacht, deren Feigheit hat diesen Zustand verewigt." 4 3 0 Die „zweite Natur" des Menschen also kann auch ein Dasein repräsen424 Émile IV 574. 425 426 427 428 429 430

Vgl. Dsl 49-55. Emile IV 557 f. Forschner, Rousseau, S. 198. Liberté 20. Vgl. etwa Corse 512; CS II 8 (304). CS I 2 (272).

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tieren, das sich von einer vorausliegenden, Subjektivität schlechthin verhafteten „Freiheit" vollständig gelöst hat und den idealistisch inspirierten Versuch widerlegt, den Totalitätsanspruch der Geschichte mit der nicht belegbaren 431 Annahme eines von der „Natur" verschiedenen, transhistorischen „freiheitlichen Wesens" zu umgehen.432 Die jetzt prinzipiell mögliche Scheidung von Freiheit und Immanenz aber transportiert den Verzicht auf einen theoretischen Begriff der liberté individuelle und weist ihre Verknüpfung mit menschlicher Existenz allein der sozialen Theorie zu. Dort wird im Kontext angestrebter Konfliktbewältigung eine Form spontanen Wollens präsupponiert und „Freiheit" so in Analogie zu antiken Vorbildern als originär intersubjektiv gefaßter, rein praktischer Hilfsbegriff gekennzeichnet. Konsequent kommt liberté de Γ homme als Kategorie überhaupt erst zu sich, wenn die historische Genese die Formulierung der Bedingungen sozialen Wandels erfordert, weil der Mensch in der Realisierung seiner physischen Existenz der destruktiven Bestimmung durch fremde Subjektivität ausgesetzt ist. 4 3 3 Die Definitionsleistung hebt an mit dem Begriff der „Unfreiheit", in dem Rousseau neben das Erleiden von Zwang die machtindifferente Fremdorientierung gesetzt hatte. Der Affinität dieser politisch-psychologischen Dichotomie zum (Un-)Glück des Subjekts entspricht die Bestimmung von „Freiheit" in den Lettres de la montagne. Dort heißt es: „Die Freiheit besteht weniger darin, seinem Willen zu folgen, als vielmehr darin, dem anderer nicht unterworfen zu sein. Sie besteht außerdem darin, den Willen anderer nicht dem unsrigen zu unterwerfen." 434 „Freiheit" kann also nur gedacht werden als ein Wollen, das im Geflecht wechselseitiger Abhängigkeit anderer Macht nicht ausgesetzt ist und sich vor allem selbst von jeder Externalisierung verschont. Wie diese Bedingungen praktisch in eins fallen, hat Rousseau im Contrat social erklärt. Dort sind neue Polis und Präsenz des anderen Subjekts im Begriff der loi générale integriert und ermöglichen die Bestimmung von Freiheit als „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat ( . . . ) . " 4 3 5 Der Kategorie der Freiheit (Unfreiheit) verlustig geht also jede Form menschlichen Daseins, in der sich der Wille nicht im Stande reziproker materieller Dependenz bewähren muß. Rousseau hat dann auf der begrifflichen Ebene auch die provisorische Charakterisierung des Naturzustandes als „ungeregelte Freiheit" 436 bald korrigiert. Er erklärt: „Man vermischt gerne die Unabhängigkeit und die Freiheit. Diese beiden Dinge sind voneinander so sehr verschieden, daß sie einander sogar ausschließen."437 So erscheint der Mensch nicht nur im reinen status naturalis, in 431 Vgl. nur Dsl 237 f., 241; CS 14 (275); CS-M 15, OC III 302; Émile V 915 f., wo „Freiheit" stets menschliche „Natur" ausmacht. 432 Vgl. Oberparleiter-Lorke, Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 24, 82, 191. 433 Vgl. Corse 512; CS 16 (279 f.). 434 Montagne VIII188. 435 CS I 8 (284). 436 CS-M I 2, OC III 283 (folgendes Zitat ohne Nachweis ebd. [H.h.]).

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

dem ihm angesichts fehlender faktischer und institutioneller Zwänge die „perfekte Unabhängigkeit" zugesprochen wird, sondern bis zum Eintritt in die gesetzlich verfaßte Gemeinschaft, soweit ihm Handlungsmöglichkeiten bleiben, in der Tat als bloß (äußerlich) „unabhängig". 438 Die Richtigkeit dieser Einschätzung zeigt sich bei der idealtypisch gefaßten Darstellung des Ubergangs vom sozialen Naturzustand in die rechtlich regulierte Gemeinschaft des Gesellschaftsvertrags: Der Mensch erhält „statt der natürlichen Unabhängigkeit die Freiheit ( . . . ) . " 4 3 9

2. Wahres Glück Die Suche nach einem kritischen Prinzip war vorläufig erfolglos, denn bonté und indépendance sind im historischen Prozeß als taugliche Bezugspunkte für das aktuelle Subjekt vollständig verlorengegangen. Was bleibt also übrig? Rousseau bemerkt: „Wir sehen um uns her fast nur Leute, die sich über ihre Existenz beklagen ( . . . ) . i < 4 4 0 Das Dasein des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft ist offenbar in erster Linie geprägt durch die Erfahrung des Unglücks, und es scheint, daß diesem Befund das Glück des ursprünglichen Menschen entgegengesetzt werden kann. 441 Rousseau formuliert die Differenz folgendermaßen: „Wenn man die natürliche Beschaffenheit der Dinge betrachtet, dann scheint der Mensch eindeutig dazu ausersehen zu sein, das glücklichste aller Geschöpfe zu sein. Betrachtet man aber den heutigen Zustand, dann scheint das Menschengeschlecht das beklagenswerte,,442

ste zu sein. In der Tat entdeckt Rousseau in diesem Zusammenhang eine Verbindung, mit deren Hilfe die kritische Überschreitung der Geschichte gelingt. Der produktive Zugriff auf die Kategorie des bonheur individuel ist allerdings nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich. Rousseau erkennt: Der Begriff des menschlichen Glücks muß nicht allein gegen fremde Versuche argumentativer Degradierung verteidigt, sondern auch mit der eigenen Systematik subjektiver Historizität präzise ins Verhältnis gesetzt werden.

437 Montagne VIII 188. - Ganz unglücklich sind daher Begriffsbildungen wie „liberté d'indépendance" (Cotta, Théorie religieuse et politique, S. 185; Bretonneau, Valeurs humaines, S. 8). 43 8 Vgl. nur Dsl 207, 233; Guerre 52; CS-M 12, OC III 284. 43 9 CS I I 4 (295). ^o Dsl 133. 441 Vgl. nur Dsl 105, 133, 135, 311, 373; Émile I I 188,196. 442 FP II 212 (vgl. auch Dialogues III 569: „Überall läßt er [Rousseau; Verf.] uns das menschliche Geschlecht [ . . . ] glücklicher in seiner ursprünglichen Beschaffenheit, [ . . . ] elend [ . . . ] aber erscheinen in dem Maße, wie es sich davon entfernt.").

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a) Grundlinien Rousseau ist sicher, im Streben nach Glück die zentrale Kategorie menschlicher Existenz erfaßt zu haben. „Der Gegenstand des menschlichen Lebens ist die Glückseligkeit des Menschen" 443 , schreibt Rousseau an Sophie d'Houdetot, und der Tutor des Emile erklärt seinem Zögling: „Man soll glücklich sein, lieber Emile; das ist das Ziel jedes empfindsamen Wesens, das ist das erste Verlangen, das die Natur uns einprägte, und das einzige, das uns niemals verläßt." 444 Rousseau, der nach eigenem Zeugnis von dem „eifrigen Verlangen" 445 , der „dauerhafteste^] Leidenschaft" 446 , die Menschen glücklich zu sehen, bewegt wird, nimmt diese Einsicht auf und erhebt sie zur Leitlinie seines Denkens. So berichtet er in den Confessions von seinen Vorarbeiten für die Institutions politiques und sagt dann: „Ich sah, daß mich all das zu großen Wahrheiten führte, die für das Glück des Menschengeschlechts ( . . . ) nützlich waren ( . . . ).' < 4 4 7 Auch der Discours sur les sciences beschäftigt sich nur mit „Wahrheiten ( . . . ) , die auf das Glück des Menschengeschlechts abzielen" 448 , und das Vorwort des Émile verkündet, von den richtigen Erziehungsregeln hänge „Glück oder Unglück der Menschheit ab ( . . . ) . ' i 4 4 9 Die plakative Natur dieser Formulierungen repräsentiert aber nicht nur formal den gleichsam obligatorischen, regelmäßig inhaltsarmen Eudämonismus des 18. Jahrhunderts, sondern ist Ausdruck ernsthafter Orientierung am Ideal des glücklichen Subjekts. aa) Auf den ersten Blick scheint die Ausrichtung am „Menschengeschlecht" Rousseaus Denken mit der vorherrschenden philosophischen Haltung seiner Zeit zu verbinden. Doch die Vorstellung eines Glücks der unaufgelösten Totalität erweist sich als eine bloß rhetorische Parallele zum Kollektivismus der zeitgenössischen Philosophie. Rousseau sieht: Das Wohl des einzelnen ist als Entfaltung ursprünglicher Selbstliebe zunächst potentiell gegen den anderen gerichtet. Die aufklärerische Betonung natürlicher Soziabilität aber verlangt zugleich, daß fremde Glückseligkeit in den sozialen Zusammenhang integriert wird. Die Dichotomie dieser (aporetischen) Struktur erweist sich im Hinblick auf die Bewertung ihrer Glieder allerdings von vorneherein als gleichsam „asymmetrisch". So ist zwischen autonomer Lebensführung und einem Konzept von Selbstbeschränkung zu vermitteln, das schon in sich den Vorrang des Kollektivs vor dem einzelnen transportiert. Sittlich gutes (tugendhaftes) Handeln zielt danach immer auf den Nutzen der Gesellschaft an sich (möglichst vieler), nicht auf den des einzelnen. 450 Vor diesem

443 444 445 446

Lettres morales II, OC IV 1087. Émile V 883. Dernière réponse 135. Rêv. V I 711.

447 Confess. IX 399. 448 DsS 9. 449 Émile, Vorwort 103.

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Hintergrund aber bleibt im Rahmen des Postulats einer natürlichen Einheit von Moralität (Tugend) und Glück wenig gedanklicher Raum für eine substantiierte Bestimmung individueller Glückseligkeit. In der Folge scheitert dann eine konsistente Definition auch regelmäßig an der Forderung nach Rücksicht auf die gesellschaftliche Ordnung 451 oder nimmt in Adaption des moralischen Konzepts eine Form an, die im Grunde eine Verankerung im Subjekt auf das Kollektiv hin überschreitet. So heißt es etwa bei Diderot: „L'homme le plus heureux est celui qui fait le bonheur d'un plus grand nombre d'autres." 452 Der bonheur individuel degeneriert in letzter Konsequenz zum kaum mehr identifizierbaren Nebenprodukt einer präsupponierten „allgemeinen" Glückseligkeit, die sich als Summe subjektiver Fremdorientierung gleichsam von selbst herstellt. 453 Rousseau setzt dem ein Konzept entgegen, das den einzelnen in seiner ursprünglichen Isolierung begreift und als alleinigen Bezugspunkt des Glücks gerade auch in der vollkommenen Sozialisierung nicht aufgibt. 454 Zu diesem Zweck wird der Mensch zunächst ausdrücklich aus der sittlich legitimierten Verfügungsgewalt des Kollektivs befreit 455 und damit überhaupt als möglicher Träger einer wahrhaft individuellen Glückseligkeit restauriert. Rousseau weiß, daß die Problematik einer Verankerung von Tugend und Glück in der einen Natur offen zu Tage tritt, wenn die Flucht in eine kollektive Fassung des Glücksbegriffs ausscheidet. Es gibt dann nur noch zwei Wege: Ein rechtverstandenes (d.h.: individuelles) Glück muß auch im guten sozialen Verband als solches nachgewiesen oder aber als Kategorie vollständig aufgegeben werden. Deutlich heißt es in diesem Sinne an die Adresse der Aufklärung: „Jenes moralische Wesen, was ihr öffentliches Glück nennt, ist ein Wahn. Existiert das Wohlbefinden nicht in der Person, dann ist es nichts ( . . . ) . " 4 5 6 Rousseau leugnet keineswegs, daß der Begriff des bonheur social bestimmt werden kann, doch er sieht gerade in der politischen Geschichte, wie oft „das Blut der Bürger dem vorgeblichen Glück des Staates geopfert" 457 wurde, und besteht deshalb darauf, „daß das öffentliche Glück das Glück aller in allem sein muß, oder das Wort ist sinnlos." Es gilt also: „ ( . . . ) die Idee des Glücks eines Staates [muß] aus der Idee des Individualglücks eines jeden Bürgers gezogen werden ( . . . )." Vor 450 Vgl. etwa Voltaire, Traité de métaphysique IX, S. 475: „La vertu et le vice, le bien et le mal moral, est donc en tout pays ce qui est utile ou nuisible à la société" (H.i.O. entfernt). 45 1 Vgl. Kondylis, Aufklärung, S. 418 f.; Mauzi, L'idée du bonheur, S. 10. 4 52 Fils naturel (Second entretien), S. 1159. 453

Treffend Mauzi, L'idée du bonheur, S. 604: „C'est donc la vertu qui confère au bonheur son assise définitive, qui l'enferme à l'intérieur d'un ordre dont il ne peut plus s'évader. C'est elle surtout qui permet de glisser, non sans hypocrisie, du bonheur individuel au bonheur social." 454 Ganz unrichtig daher Goyard-Fabre, Sur quelques équivoques de la loi, S. 302; Steinvorth, Freiheitstheorien, S. 153. 4 55 Vgl. ÉP 243. 456 FP V I 239 (folgende Zitate ohne Nachweis ebd. 240, 241). 4

57 Dsl 249.

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diesem Hintergrund ist es konsequent, wenn das von Rousseau geschätzte System der Republik Genf auf das „Glück der Einzelnen" 458 zielt, denn das ist der Maßstab, an dem sich jedes Konzept zur Versöhnung von Natur und Geschichte messen lassen muß. 459 bb) Dennoch ist der Entwurf staatlich verfaßter Gemeinschaft immer wieder außerhalb des skizzierten Zusammenhangs interpretiert worden, und bisweilen kommt darin eine bewußte Antizipation idealistischer Paradigmen zum Ausdruck. So begreift insbesondere die neo-kantianische460 und die insoweit von ihr beeinflußte 461 Rezeption Rousseau als primär ethisch interessiert: Ihm gehe es um die Menschwerdung des Subjekts, um seine Erhebung zur autonomen, moralischen Persönlichkeit. Dieses Prädikat verlange vom einzelnen die Befolgung des Gemeinwillens im Gesetz der Polis, denn nur auf diese Weise werde kraft legal vermittelter Gerechtigkeit die Freiheit aller in selbständiger Leistung gesichert. (Wahre) Glückseligkeit dagegen habe im Grunde keinen eigenständigen Begriff mehr, sie sei bloßes Derivat der Menschwerdung, gleichsam intelligible Erfahrung des eigenen sittlichen Personseins. 462 Nun ist richtig, daß in Rousseaus Denken die „Menschwerdung" des Subjekts eine Rolle spielt. Dabei geht es aber nicht um eine rein ontologische Konzeption, in der sich die Idee des Menschen in einem besonderen Akt realisiert, sondern um einen Prozeß, in dem biologische, psychologische und historische Faktoren zusammenwirken. Die argumentativen Ebenen sind regelmäßig inkonsistent oder ineinander verwoben, so daß der Begriff des Menschen sich am Ende über eine Art pauschalierende, kausale und normative Aspekte integrierende Betrachtung konstituiert. 4 6 3 Rousseau kann sich diesen Mangel an Stringenz leisten, denn die Ausweise Dsl 9. 459 Vgl. i.E. auch Bochow, Erziehung zur Sittlichkeit, S. 86, 98; Bolle, Rousseau, S. 133135; Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 571, passim; Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie, S. 94; Jimack, Rousseau and the primacy of self, S. 90, passim; Rang, Rousseaus Lehre, S. 265, 545; Reich, Rousseau und Kant, S. 15 f.; Schinz, La pensée de Rousseau, S. 506, passim; Stahl, Geschichte der Rechtsphilosophie, S. 309; Starobinski, Rousseaus Anklage, S. 25. 460 Hier maßgebend Cassirer, Das Problem Rousseau, S. 23, 31, 35,43, 61. 461 Vgl. etwa Kraft, Natur und Norm, S. 44-47; Levine, Politics of Autonomy, S. 14; Mac Adam, Inequality, S. 101; Röhr s, Rousseau, S. 107, 109, 118 f., passim; Steinvorth, Freiheitstheorien, S. 151, 166, passim; Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 291, passim; Taylor, Unbehagen an der Moderne, S. 58; Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 19, 135, 162, 175, 211, passim. 462 Vgl. nur Cassirer, Das Problem Rousseau, S. 69; ders., Kant und Rousseau, S. 28; Röhrs, Rousseau, S. 106, 111. 463 So soll der Mensch etwa durch seine Perfektibilität (vgl. Dsl 103), durch die Zuneigung zum anderen (vgl. Langues IX 194), durch das Mitleid (vgl. Emile I I 200 f.), durch die Vaterlandsliebe (vgl. Pologne X I I 632), durch die Sprache (vgl. Langues I 165) oder die Sittlichkeit zu sich kommen. In diesem Fall jedoch wird einmal die Gottesebenbildlichkeit schon erreicht, wenn die Begriffe von Gut und Böse entwickelt sind. Dann aber ist auch das Subjekt der korrupten bürgerlichen Gesellschaft in seiner gleichsam gehemmten (d.h.: gekannten, 7 Gaul

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

tung menschlicher Existenz ist für ihn frei von jeder Selbstzweckhaftigkeit. Der Gewinn theoretischer Einsicht oder sittlicher Integrität ist nicht Vollzug einer immanenten Teleologie, sondern Faktizität, die aus der Sicht eines absoluten Maßstabs jederzeit disponibel sein muß. „ ( . . . ) fürchtet nicht, eure Art herabzuwürdigen, wenn ihr ihrer Einsicht und Aufgeklärtheit entsagt" 464 , beruhigt Rousseau diejenigen, die die historische Option des Glücks noch wahrnehmen können. Er weiß, daß der bonheur individuel argumentativ nicht gegen subsidiäre Begriffe ausgespielt werden darf. Nachdrücklich besteht er insbesondere auf die Notwendigkeit einer Vermittlung von Moralität und Glück, die dieser Priorität Rechnung trägt. So wird schon der partielle Verlust vormoralischer Güte im Goldenen Zeitalter mit Blick auf dessen Bewertung als „glücklichste ( . . . ) Epoche" ausdrücklich für vernachlässigbar erklärt 465 , und dieses Verhältnis setzt sich im Bereich sittlichen Daseins fort. In der Profession de foi heißt es: „Entspricht die moralische Güte unserer Natur, könnte der Mensch nur gesunden Geistes und Leibes [d.i.: glücklich; Verf.] sein, soweit er gut ist. Entspricht sie ihr nicht, und ist der Mensch von Natur aus böse, kann er nicht aufhören, es zu sein, ohne zu verderben ( , . . ) . " 4 6 6 Grundsätze von Güte und Gerechtigkeit können in ihrem normativen Gehalt also nur Gültigkeit beanspruchen, wenn sie sich material in die Eudämonie des handelnden Subjekts überführen lassen.467 Jedes Sollen, das an den Menschen herantritt, jede Aufforderung, das Gute dem Bösen vorzuziehen, muß diese Probe bestehen. So wird dann auch die Analyse des staatlichen Verbandes zeigen, daß im Falle des Konflikts Glück unter Verzicht auf (aktuelle) moralische Güte der bloßen Verwirklichung des Gerechten stets vorzuziehen ist. Für Rousseau steht fest: Gerade die Aufgabe verfaßter Gemeinschaft ist es, menschliche Glückseligkeit zu realisie-

aber nicht gelebten) Moralität schon Mensch geworden (vgl. FP I I 213; Émile IV 455, 570). Dagegen erhebt sich in anderer Darstellung der Mensch erst dann zu sich selbst, wenn er das sittlich Gute in der (selbständigen) Befolgung des Gewissensspruchs (vgl. Émile IV 593 f.) bzw. allgemeinen Gesetzes (vgl. CS I 8 [284]) realisiert. Insbesondere im staatlichen Zusammenhang scheint allerdings das Personsein des Subjekts nicht gerade zwingend qua Moralität konstituiert, sondern (auch) dadurch, daß „seine Fähigkeiten ( . . . ) so sehr geübt und entwikkelt, seine Begriffe so sehr erweitert, seine Gefühle so sehr veredelt [werden], seine ganze Seele zu solcher Höhe erhoben" wird. 464 Dsl 319. 465 V g l . Dsl 193. 466 Émile IV 586 (vgl. vorläufig auch Émile IV 485 f. Anm., 586, 596, 607; CS-M I 2, II 4, OC III 284 f., 329; NH III 18 [373]; d'Alembert 356). 467 Treffend Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 104 f.; Melzer, Natural Goodness, S. 62: „ ( . . . ) value (and content) of justice must ultimately be judged before the bar of happiness." 468 So i.E. auch Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 76 f.; Brinkmann, Staatsauffassung Rousseaus, S. 26 f.; Crocker, Social Contract, S. 26; Dürkheim, Contrat social, S. 23; Goyard-Fabre, Sur quelques équivoques de la loi, S. 297; Mauzi, L'idée du bonheur, S. 14, Anm. 1, 655; Müller, Korporation und Assoziation, S. 54; Schwarz, Rousseaus „Contrat social", S. 32; Trousson, Rousseau, S. 195.

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b) Was ist „ Glück"? Die Gewißheit um das Glück als entscheidende Kategorie menschlicher Existenz wird konterkariert von der Unsicherheit über seinen Begriff. „Jeder Mensch will glücklich sein; aber um dahin zu gelangen, müßte er zunächst wissen, was das Glück ist" 4 6 9 , sagt Rousseau, nur um nüchtern festzustellen: „ ( . . . ) der Sinn des Wortes Glück ist unbestimmt." 470 Auch der Tutor des Emile macht seinen Zögling auf dieses Problem aufmerksam, indem er in seiner eben referierten Belehrung fortfährt: „Aber wo liegt das Glück? Wer weiß es? Jeder sucht es, und niemand findet es. Man braucht das Leben auf, nach ihm zu jagen, und stirbt, ohne es erreicht zu haben." 471 Rousseau glaubt das skizzierte Problem lösen, den Begriff menschlichen Glücks definieren zu können. Rekonstruiert man seine Überlegungen, dann läßt sich feststellen, daß das wahre Glück des Menschen zum einen vom Zustand der inneren Befindlichkeit des einzelnen, zum anderen von der Verwirklichung dieses Zustandes innerhalb bestimmter äußerer Bedingungen abhängig gemacht wird. 4 7 2

aa) Innere Ordnung Rousseau nennt zunächst die Voraussetzungen des Glücks, die das Subjekt unmittelbar selbst betreffen. Im Emile werden sie im Begriff der „inneren Ordnung" zusammengefaßt. Dort heißt es: „Dann allein, wenn alle seine Kräfte tätig sind und seine Seele dennoch in Frieden ist, ist der Mensch wohlgeordnet." 473 Zweierlei also scheint diesen Zustand auszumachen und damit Bedingung menschlichen Glücks zu sein. (1) Wann ist die menschliche Seele „in Frieden"? Rousseau kennt den Grund für den inneren Unfrieden der Seele, und so weiß er auch: Glücklich zu sein, setzt wesentlich voraus, Wünsche und Kräfte in einen Zustand vollkommenen Gleichgewichts zu bringen, die Differenz zwischen Anspruch und Fähigkeit aufzuheben. 474 Erst wenn der Mensch sich selbst genügt, gewinnt er die „innere Ruhe" 4 7 5 , die der Tutor des Emile zur Bedingung des Glücks macht, erst wenn er das Unerreichbare aufgibt, erlangt er die „Zufriedenheit des Herzens" 476 , die St. Preux in seiner uner469 Émile III 376. 470 F P V I 238. 471 É m i l e V 8 8 3 ( ä h n l i c h F P V I 2 3 9 ) .

472 Vgl. zur Problematik des Glücks bei Rousseau etwa Giraud, Rousseau's Happiness, 1969; Grimsley, Rousseau and the Problem of Happiness, 1972; Zeil-Fahlbusch, Wissen und Handeln, S. 82-90. 473 Emile I I 188. 474 Vgl. Émile I I 188, V 888. 475 Émile V 884. 476 NH III 3 (325). 7*

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füllten Liebe zu Julie entbehrt. Gelingt aber die Aufhebung der inneren Spaltung zugunsten einer in sich ruhenden Selbstbejahung, dann liegt in der Tat „die Quelle des wahren Glücks in uns selbst." 477 Rousseau berichtet Sophie d'Houdetot von dieser Einsicht: „ ( . . . ) ich sah, daß es vergeblich ist, sein Glück in der Ferne zu suchen, wenn man vernachlässigt, es in sich selbst zu entwickeln ( . . . ) . " 4 7 8 Befolgt das Subjekt diesen Rat, dann gelangt es zum vollen Genuß menschlicher Glückseligkeit, den Rousseau für seine Zeit mit Madame de Warens so beschrieben hat: „ ( . . . ) das Glück folgte mir überall. Es war nicht in irgendetwas nachweisbar, es war ganz in mir selbst, es konnte mich nicht einen Augenblick verlassen." 479 Doch Rousseau betont, daß es nicht genügt, das innere Gleichgewicht für einen einzigen Moment herzustellen. Nicht die kurzen Augenblicke der Freude und des Vergnügens machen das Glück aus, denn sie gehen vorüber, verfliegen, sind nur „dünn gesäte Punkte auf dem Pfade des Lebens." 480 Das wahre Glück dagegen ist ein beständiges inneres Gefühl 481 , ein Gleichgewicht, das alleine durch seine Dauerhaftigkeit zum inneren Frieden führt. 482 Gerade die Anforderung der Beständigkeit ist es, die die Verwirklichung des Glücks so schwierig macht. „In diesem Leben ist alles vermengt, man kann nicht ein einziges reines Gefühl auskosten, nicht zwei Augenblicke lang verharrt man im gleichen Zustand. Die Affektionen unserer Seele sowie die Veränderungen unseres Körpers befinden sich in ständigem Fluß" 4 8 3 , klagt Rousseau. Das Prinzip der dauerhaften seelischen Zufriedenheit ist unmittelbar der Konstitution des Menschen im reinen Naturzustand entnommen: „Nur in diesem ursprünglichen Zustand trifft man auf das vollkommene Gleichgewicht der Kräfte und Wünsche, nur so ist der Mensch glücklich." 484 Frei von den „Leiden ( . . . ) der Seele" 485 , den „geistigen Qualen" 486 , die sich aus dem Zwiespalt von Wunsch und Wirklichkeit ergeben, lebt der natürliche Mensch als ungebrochene Einheit, als absolutes Ganzes „in sich selbst ( . . . ) . " 4 8 7 „Seine Einbildungskraft malt ihm nichts aus, sein Herz verlangt nichts von i h m " 4 8 8 und ist deshalb „in Frieden" 489 , seine Rêv. I I 648. 478 Lettres morales IV, OC IV 1102. 479 Confess. V I 224. 480 Rêv. V 698 (vgl. auch FP V I 239; Confess. V I 224; NH I I 11 [230], V 2 [561 Anm.]; Dsl 271). 477

481 482 483 484 485 486 487

Vgl. NH I 24 (84); FP V I 239; Fragm. div. 21, OC II 1324. Vgl. Rêv. V 698. Émile I I 187 (vgl. auch CS-M I 2,4, OC III 282, 295). Émile II 188. Dsl 133. Dsl 307. Dsl 269. 488 Dsl 109. 489 Dsl 133.

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Seele wird „durch nichts in Unruhe versetzt ( . . . ) . " 4 9 0 Rousseau sieht: Der Formalismus dieses Konzepts bleibt unbeeindruckt vom materialen Wandel subjektiver Verfassung und setzt innere Stabilität als konstitutives Element der félicité de Γ homme selbst im Stand völliger Denaturierung gegen abweichende Optionen durch. Die Abwesenheit von Leid kraft seelischer Einheit - dieses gleichsam „negative" Moment des Glücks - ist daher von so entscheidender Bedeutung, daß es bisweilen zum Begriff des bonheur individuel schlechthin wird. In ahistorischer Pauschalität heißt es: „Das Glück hienieden ist also nur ein negativer Zustand, der an der geringsten Menge Leids gemessen werden muß." 4 9 1 Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, warum Rousseau in Ansehung des reinen Naturzustandes Bordes trotzig entgegenhält: „ ( . . . ) es ist allemal besser, wenn man einem Schaf als wenn man einem bösen Geist gleicht." 492 (2) Allein, Rousseau schreibt im Genfer Manuskript des Contrat social: „(...) unfühlbar für die stumpfen Menschen der ersten Zeiten, den aufgeklärten Menschen der späteren Zeiten entglitten, wird das glückliche Leben des Goldenen Zeitalters der menschlichen Rasse immer ein fremder Zustand bleiben, entweder weil sie es verkannt hatte, als sie es hätte genießen können, oder weil sie es verloren hatte, als sie es hätte kennen können." 493 Nun wird die eigentliche Tragik einer Historisierung menschlicher Natur sichtbar: Der ursprüngliche Mensch ist innerlich eine Einheit, er ist im Gleichgewicht, in diesem Sinne „glücklich" - doch er ist es, ohne sich selbst als glücklich begreifen zu können. Im Sinne des Wortes „unfähig", das (existierende) Glück zu fassen, verharrt er beinahe in Gleichgültigkeit. So läßt sich dann auch die Einschränkung verstehen, nach der die Menschen im Goldenen Zeitalter nur so glücklich waren, „wie sie es ihrer Natur nach sein konnten ( . . . ) . " 4 9 4 Rousseau hat diesen Zusammenhang im Blick, wenn er in Adaption der zeitgenössischen Fixierung auf den rationalen Aspekt subjektiver Natur betont: Der Mensch erwirbt erst mit den „Einfällen, die ihn erleuchten, die Gefühle die ihn glücklich machen" 495 können. 496 Rousseau weiß: Die Möglichkeit des Selbstge490 Dsl 111. 491 Émile II 187 (H.h.). 492 Dernière réponse 116. 493 CS-M I 2, OC III 283. 494 Dsl 195. 495 FP I I 213. 496 Rousseau weiß allerdings, daß das Vermögen des Menschen auch sein Verhängnis sein kann. Ohne das Bewußtsein der Zeitlichkeit, ohne Einbildungskraft, ist die Seele des natürlichen Menschen in Frieden. Dem Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft dagegen wird der Erwerb dieser Eigenschaften bald zur Qual: Getrieben von der Macht der Einbildungskraft, die den Wunsch anregt und die mögliche Erfüllung in Aussicht stellt, begibt es sich auf eine endlose Jagd nach einem unerreichbaren Ziel - eine Jagd, an deren Ende es resignieren muß. „Alles, was ich sah, schien mir mein nahes Glück zu verbürgen" (Confess. II 61), heißt es in den Confessions über eine Reise des jungen Rousseau; der Rousseau des Émile aber weiß:

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nusses beruht darauf, daß das innere Potential des Einzelnen in Tätigkeit gesetzt wird. Nur dann fiihlt das Subjekt sein Dasein und lebt (existiert) auf der Basis einer sensualistischen Selbstdefinition. 4 9 7 I m Émile wird dieser Zusammenhang bestätigt: „Leben heißt nicht atmen, sondern handeln; es heißt, unsere Organe zu gebrauchen, unsere Sinne, unsere Fähigkeiten ( . . . ) . " 4 9 8 M i t Rücksicht auf das Element des inneren Gleichgewichts läßt sich daher formulieren: „ E i n empfindungsfähiges Wesen, dessen Fähigkeiten seinem Verlangen entsprächen, wäre ein ( . . . ) glückliches W e s e n . " 4 9 9 Nun erweist sich die skizzierte Begriffsbestimmung in gewissem Sinne als dynamisch: „Leben" ist in verschiedenen Intensitätsgraden möglich. „Dieses Maß der Existenz oder besser gesagt des Lebens ist nicht immer das gleiche, es hat für uns einen bestimmten Spielraum, es ist der Vergrößerung oder Verkleinerung f ä h i g " 5 0 0 , erklärt Rousseau. Der Mensch lebt also umso mehr, je stärker er fühlt. Die Intensität des Fühlens wiederum hängt davon ab, wie sehr seine Fähigkeiten aktiviert s i n d . 5 0 1 Wirklich i m Stande, das Dasein zu genießen, ist daher nur der vervollkommnete M e n s c h 5 0 2 , denn „[bleibt] ein Teil unserer Fähigkeiten ungenützt", kommen wir „nicht zum vollen Genuß unseres Daseins ( . . . ) . " 5 0 3 I n Fortschrei-

„ ( . . . ) das Ziel, das ganz greifbar erschien, entflieht rascher, als man es verfolgen kann. Glaubt man, es zu berühren, verwandelt es sich und zeigt sich wieder vor uns in weiter Ferne. Die zurückgelegte Strecke, die wir nicht mehr sehen, gilt uns nichts, und der Weg, der noch vor uns liegt, wird immer größer. So erschöpfen wir uns, ohne zum Ziel zu kommen, und je weiter wir uns vom Genuß entfernen, umso weiter entfernt sich das Glück von uns" (Emile I I 188). Und über den steten Blick des Menschen in die Zukunft urteilt Rousseau: „Die Voraussicht! Die Voraussicht, die uns unablässig über uns selbst hinausführt und uns oft dahin bringt, wohin wir nie gelangen werden: sie ist die wirkliche Quelle all unseres Elends" (Émile I I 192 [vgl. auch Confess. XI576]). Der savoyische Vikar zieht schließlich die Bilanz für den Menschen, der sich über die anderen Geschöpfe erhoben hat: „Die Tiere sind glücklich, nur ihr König ist elend!" (Émile IV 569). So ist die Menschwerdung ein offener Prozeß, der die Möglichkeit von Glück und Elend in sich trägt. Hat sich - mit Blick auf die bürgerliche Gesellschaft - auch das Unglück realisiert, so war diese Entwicklung an sich doch nicht zwingend. Nicht die Fähigkeiten selbst sind für das Elend verantwortlich. Rousseau sagt, worauf es ankommt: „Der Mißbrauch unserer Fähigkeiten macht uns unglücklich ( . . . ) " (Emile IV 575, H.h.). 497 Lettres morales V, OC IV 1109; Émile IV 592: „Existieren ist für uns fühlen." 498 Émile 1118 (vgl. auch Emile Π 191). 499 Émile I I 187. 500 Fragm. div. 21, OC I I 1325. 501 Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang das nicht zufällig von Rousseau erwähnte Gedächtnis. Der Eintritt des Subjekts in die Dimension der Zeitlichkeit verleiht ihm die Gewißheit seiner selbst; es begreift sich als eingebettet zwischen Vergangenheit und Zukunft und ordnet alle Momente des Lebens seiner Person zu. Rousseau schreibt über den sich erinnernden Menschen: „Die Erinnerung erstreckt das Gefühl der Selbstidentität auf alle Augenblicke seines Lebens; er wird nun wirklich ein und derselbe und damit erst fähig zum G l ü c k ( . . . ) " (ÉmileII 184). 502 Vgl. Rêv. V 699 f. 503 Émile I I 187.

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bung des Prinzips aber wird höchstes Glück dann wirklich, wenn diese Fähigkeiten auch „zu ihrer größten Kraft gelangt sind ( . . . ) . " 5 0 4 Dieses Konzept führt Rousseau zu einer Beschreibung des „langen Lebens", die sich vom Zeitfaktor löst: „Nicht derjenige, der die meisten Jahre zählt, hat am längsten gelebt, sondern der, der das Leben am stärksten erlebt hat. So wird mit hundert Jahren zu Grabe getragen, wer schon als Toter geboren wurde." 505

bb) Begegnung und Regel Der beschriebene Zustand inneren Gleichgewichts bei gleichzeitiger Aktivierung aller Kräfte muß im Rahmen bestimmter äußerer Bedingungen realisiert werden, soll menschliches Glück Wirklichkeit haben. Der Verweis auf die Dimension intersubjektiver Praxis und die Notwendigkeit einer äußeren Ordnung bestätigen nachdrücklich die Charakterisierung Rousseau'scher Philosophie als wesenhaft politisch. (1) Im fünften Spaziergang der Rêveries berichtet Rousseau von einem Unternehmen, das ihn während seines Lebens auf der Petersinsel im Bieler See „wahrhaft glücklich" 506 macht. Inspiriert vom Status ursprünglicher menschlicher Existenz, bemüht er sich darum, die Geistigkeit des Subjekts in seiner Person aufzuheben, um nur noch „sein Dasein ( . . . ) [zu] spüren ( . . . ) , ohne die Mühe des Denkens zu haben." 507 Rousseaus Projekt ist erfolgreich: Innere Einkehr bringt die Bewegung des Gemüts zur Ruhe und ermöglicht einen „Zustand, in dem die Seele eine hinlänglich feste Lage findet, um sich darin ganz auszuruhen und ( . . . ) zu sammeln, ( . . . ) bloß auf das Gefühl unseres Daseins eingeschränkt, welches ( . . . ) die Gegenwart ganz ausfüllte" 508 - eine Befindlichkeit, die wenige Zeilen später als ein „zureichendes, vollkommenes, überschwengliches Glück, das in der Seele keine Leere ( . . . ) läßt", charakterisiert wird. Im Vollbesitz seiner Kräfte, innerlich im Gleichgewicht und vom Gefühl dieser Einheit eingenommen, scheint Rousseau in seiner Einsamkeit wahrhaft menschliches Glück zu genießen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn in den Briefen an Malesherbes mit Rücksicht auf die selbstgewählte Isolation apodiktisch festgestellt wird: „ ( . . . ) die Erfahrung hat mir für die Zukunft hinlänglich beweisen, daß der Zustand, in den ich mich versetzt habe, der einzige ist, in dem der Mensch ( . . . ) glücklich leben kann ( . . . ) . " 5 0 9 Tauscht diese Bilanz? Rousseau hat seine Gefühlslage in einer aufschlußreichen Formulierung selbst eingeordnet. Er stellt fest, daß den meisten Menschen der von 504 Émile V 837 (H.h.). 505 Emile 1118 (vgl. auch NH 124 [83], IV 1 [417 f.]). 506 Rêv. V 692. 507 Rêv. V 697. 508 Rêv. V 699. 509 Malesherbes I I 484.

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ihm beschriebene seelische Zustand kaum bekannt ist, und verteidigt ihn dann mit den Worten: „Aber ein Unglücklicher, der aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen ist und der hier weder für sich noch für andere etwas Nützliches mehr beginnen kann, kann in diesem Zustand eine Entschädigung für alle menschliche Glückseligkeit finden, die weder das Schicksal noch die Menschen ihm rauben können." 510 Offenbar ist die Imitation einer bloß physischen Existenz nur insoweit innere Erfüllung, wie der Begriff des Glücks reduziert und darin aktuelle menschliche Natur geleugnet wird. Rousseau weiß: Das (auch) geistige Wesen kann (als ein solches) allein mit der Abwesenheit qualvoller innerer Zerrissenheit nicht zufrieden sein, denn es ist nur „der erste Schritt zum Glück, nicht zu leiden." 511 In der Tat: „Das Glück der geistigen Menschen ist anderer A r t . " 5 1 2 Worin aber liegt es dann? Bei der Frage, was die Existenz im Goldenen Zeitalter auszeichnet, führt Rousseau den Leser zunächst in die Irre. Mit Blick auf die nicht nur potentiell, sondern angesichts der korrupten bürgerlichen Gesellschaft eben auch aktuell verderblichen Wirkungen der menschlichen Fähigkeiten betont er „die rechte Mitte zwischen der Indolenz des anfänglichen Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe ( . . . ) . " 5 1 3 Diese relative Bestimmung verdeckt aber die Beschreibung dessen, was die Menschen eigentlich genießen: Es ist die Entdeckung eines Daseins, in dem die solitäre Existenz überschritten und das Gegenüber zum Ursprung emotionaler Erhebung wird, der „süße Verkehr" mit anderen also, die „süße Gesellschaft". 514 Rousseau übernimmt das Element gelingender Begegnung in den Begriff des menschlichen Glücks. Er räumt ein: „Heute, da ( . . . ) mein Glück vom Verkehr mit meinesgleichen [abhängt], ist es offenbar, daß ich mich nicht mehr als ein individuelles und isoliertes Wesen betrachten muß ( . . . ) . " 5 1 5 In dieser Wendung liegt der Rückgriff auf die Gedankenwelt der Aufklärung, die in der ursprünglichen Soziabilität des Menschen nicht nur Herausforderung, sondern auch Erfüllung des bonheur individuel sieht. 516 Rousseau bestätigt: „Unser süßestes Dasein ist relativ und kollektiv, und unser wahres Ich ist nicht ganz in uns. Kurz, der Mensch in diesem Leben ist so eingerichtet, daß man nie zum rechten Genuß seiner selbst ohne Zutun anderer gelangen kann." 517 Rousseau hat die Geltung dieses Prinzips insbesondere am Beispiel der zu schaffenden staatlichen Gemeinschaft erläutert. Er erklärt begrifflich etwas mißverständlich, der bien public läge „in der Verbindung, die sie [die Einzelnen; Verf.] 510 Rêv. V 700, H.h. (vgl. OC 1 1047: „fortune"; Original: „Glück"). 511 512 513 514

NH V 2 (558), H.h. Émile III 376. Dsl 193. Vgl. Dsl 187,23.

515 Lettre sur la vertu, ASR 320. 516 Vgl. Mauzi, L'idée du bonheur, S. 592-594. 517 Dialogues II 429 (vgl. auch Émile IV 456, 665, 587, V 719; Beaumont 547).

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vereint, ( . . . ) , und weit davon entfernt, daß die öffentliche Glückseligkeit begründet würde durch das Glück der einzelnen, ist sie es, die seine Quelle wäre." Das „Glück der einzelnen" entspricht hier dem Zustand des promeneur solitaire , einem immerhin denkbaren „nur für sich allein glücklich sein" 519 , welches sich durch die „öffentliche Glückseligkeit", d.h. das Zusammensein mit anderen, zum wahren bonheur individuel erhebt. An anderer Stelle ist der gleiche Befund einfacher formuliert: Das politische Projekt soll den Menschen dazu bringen, daß er „seine Glückseligkeit vervielfachen lerne, indem er sie mit seinen Mitmenschen teilt ^

^ «520

Und Rousseau in seiner Einsamkeit? Die verzweifelte Sehnsucht nach menschlicher Gesellschaft hat am Beginn der Rêveries machtvoll Ausdruck gefunden: „So bin ich denn nun allein auf Erden, ohne Bruder, ohne Nächsten, ohne Freund, meiner eigenen Gesellschaft überlassen. Der geselligste und liebevollste Sterbliche ist mit allgemeiner Ubereinstimmung seiner Mitmenschen aus ihrer Gesellschaft verbannt worden." 521 Dennoch schreibt Rousseau an Malesherbes: „Sie vermuten mich unglücklich und von Melancholie verzehrt. Ο mein Herr, wie sehr Sie sich irren!" 5 2 2 Was war geschehen? Den Begriff des wahren Glücks vor Augen, schafft sich Rousseau die Bedingungen dieses Glücks selbst. Geleitet von seiner Einbildungskraft, umgibt er sich mit einer Welt, die ganz seinen Vorstellungen entspricht, und bevölkert sie mit den Wesen seiner Träume. „Glückliche Erdichtungen ersetzen ihm ein wirkliches Glück", heißt es in den Dialogues 523 über seine Flucht in eine von liebevollen und verständigen Menschen bewohnte Traumwelt. Rousseau versucht hier, das verlorene Erlebnis gelingender Intersubjektivität unter neuen Bedingungen zu rekonstruieren. Sich selbst überlassen und frei von den Unwägbarkeiten menschlicher Beziehungen, gelingt der Schritt: „Ich schuf mir nach meiner Phantasie ein Goldenes Zeitalter ( . . . ) . " 5 2 4 Dennoch, auch in diesem Konzept des Daseins findet Rousseau nicht wirklich Trost. Seine Seele läßt sich von der Gesellschaft der erdachten Wesen nicht auf Dauer täuschen. „Mitten unter ihnen jedoch, ich gestehe es, betrübte sie dann und wann die Nichtigkeit meiner Phantasiegebilde"525, erklärt er. Auch kann Rousseau nicht ewig in seiner eigenen Sphäre verharren. Ermüdet von der Träumerei 526 oder gezwungen, lästige Besucher zu empfangen 527, holt ihn das Unglück der realen 518 CS-M I 2, OC III 284. 519 FP V I 240. 520 CS-M 12, OC III 288. 521 Rêv. 1639. 522 Malesherbes 1478. 523 Dialogues I I 430 (vgl. auch Malesherbes 1478, III 488 f.; Confess. IX 422). 524 Malesherbes III 488. 525 Malesherbes III 489 (vgl. auch Confess. V 217 f.). 526 Vgl. Dialogues I I 433. 527 Vgl. nur Rêv. II 654 f., IV 685 f., VII729; Malesherbes III 487 f.

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Welt immer wieder ein. So freundlich die Gesellschaft der kleinen Hausgemeinschaft auch gelegentlich beschrieben wird 5 2 8 , so wenig läßt Rousseau Zweifel an seiner Ablehnung anderer Menschen: „Sie haben allen Reiz des geselligen Lebens aus meinem Herzen getilgt." 529 Der Wunsch nach einem Ersatz für die Freuden seiner Visionen bewegt ihn schließlich dazu, den Entwurf des „Glücks" reduzierter seelischer Aktivität zu radikalisieren, ihn immer stärker von den Menschen und ihrer Welt zu entfernen und zugleich mit dem Anschein des Vollkommenen zu umgeben: Im Genuß des eigenen Daseins, so schreibt er, ist man, „wie Gott, sich selbst genug." 530 Doch die Selbsttäuschung mißlingt: „Ein wahrhaft glückliches Wesen ist ein einsames Wesen: Gott allein genießt ein absolutes Glück; aber wer von uns könnte es sich vorstellen?" 531 Rousseau kann es nicht und weiß aus eigener Erfahrung um den hohen Preis, den derjenige zahlt, der vor der korrupten bürgerlichen Gesellschaft in die Einsamkeit flieht. Bei der Suche nach einem Glück, das den Launen des Schicksals wie dem Zugriff der Menschen entzogen ist 5 3 2 , bleibt Rousseau jenseits gelingender Träume voll ,3itterkeit" und „sehr unglücklich ( . . . ) . " 5 3 3 (2) Seelisch eine Einheit und im Vollbesitz seiner Kräfte, ist das Subjekt „wohlgeordnet". Für die vollkommene Realisation des Glücks hebt Rousseau nun den Ordnungsbegriff über die Ebene des einzelnen hinaus und stellt der inneren Verfassung des Subjekts eine notwendige äußere Entsprechung entgegen. Er sagt: „Die [äußere; Verf.] Ordnung ist die fundamentalste Forderung, die ich in mir finde." 5 3 4 In der Tat sind Rousseaus verschiedene Entwürfe individueller Existenz von einem starken Ordnungssinn geprägt. 535 Stets ist das Subjekt aufgehoben in einer eigenen Regeln folgenden äußeren Verfassung, die die Verwirklichung gelingenden Daseins erst ermöglicht. Der ursprüngliche Mensch existiert in einer vorsozialen „Ordnung der Natur" 5 3 6 , im „Idyll" von Ciarens und der Rousseau'sehen Polis finden sich Möglichkeiten geordneter Gemeinschaft 537, Émile und der savoyische VI528 Vgl. nur Rêv. V 698. 529 Rêv. 1642 (vgl. auch Dialogues I I 433; Rêv. I I 648). 530 Rêv. V 699 (vgl. auch Malesherbes III 490; Émile IV 458). 531 Émile IV 458. 532 Vgl. nur Dialogues II 430; Rêv. V 700. 533 Dialogues I I 431,430. 534 Zitiert nach Glum, Religion und Staat, S. 59. 535 Vgl. zur Bedeutung des Ordnungsdenkens bei Rousseau Audi, Rousseau, S. 347-386; Baczko, Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 214-268; Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 570, passim; Fuchs, Pursuit of Virtue, 1993; Polin, La politique de la solitude, S. 64-71; Viroli, La théorie de la société bien ordonnée, 1988. 536 Vgl. CS III 2 (321), 4 (324), 5 (327), 8 (336); Dsl 109, 263, 311; NH V 2 (564, 573 Anm. [1]), 7 (637); d'Alembert 380; Émile I 116, 164 (vgl. OC IV 273: „naturel"; Original: „gegebenen"), I I 206, 208, 261, III 396, IV 546, 569, 610, 614, 642, 679, 686, 702, V 758, 804,813,816,924. 537 Vgl. nur NH ΙΠ 20 (387); CS-M 12, OC ΙΠ 289.

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kar wenden sich, am Ende auf sich selbst gestellt, einer bergenden göttlichen Weltordnung zu. 5 3 8 Rousseau hat die Notwendigkeit einer geregelten äußeren Verfaßtheit der Existenz am Beispiel seiner eigenen Person illustriert: „Aus der Ordnung der Dinge, ich weiß nicht wie, gestoßen, sah ich mich in ein unbegreifliches Chaos, in dem ich nichts unterscheide, gestürzt, und je mehr ich über meine gegenwärtige Lage nachdenke, desto weniger ist mir begreiflich, wo ich bin." 5 3 9 In dieser Frage grundsätzlich im Einklang mit seiner Zeit, radikalisiert Rousseau in seiner politischen Philosophie die Spannung, in die der Ordnungsbegriff im Denken der Aufklärung geraten war. Die jetzt kanonisierte Newton'sehe Umformung der Vernunft in ein (induktives) Vermögen des Erkenntniserwerbs, das das Prinzip aus dem besonderen empirischen Phänomen rekonstruiert, hatte im Grunde den überkommenen, am Systemdenken des 17. Jahrhunderts orientierten Ordnungsbegriff mit seinem impliziten Vorrang des Ganzen vor dem einzelnen schon überholt. Konnte diese Spannung in der politischen Philosophie durch die im Konzept der Soziabilität angelegte Überschreitung solitären Daseins oftmals noch aufgefangen werden, so gewinnt Rousseaus Anthropologie mit ihrer Betonung der vom amour de soi geprägten individuellen Existenz dem Problem politischer Ordnung eine neue Dimension ab. „Der natürliche Mensch ist sich selbst alles" 540 , sagt Rousseau und notiert damit eine prinzipielle Distanz zwischen Subjekt und Subjektivität integrierender Totalität in Form geordneter Gemeinschaft. Der Zustand aktueller Gesellschaft bestätigt diese Distanz: Unordnung. 541 Der savoyische Vikar aber verbindet unbeirrt die Möglichkeit individuellen Glücks mit der Existenz äußerer Ordnung. Er fragt: „ ( . . . ) welch süßere Glückseligkeit gibt es als die, sich in ein System eingeordnet zu sehen, wo alles gut ist?" 5 4 2 Initiiert ist damit ein Begriff guter politischer Ordnung, der die Bedeutung des ursprünglich auf sich selbst geworfenen Subjekts aufnimmt. Entwickelt wird zunächst ein Gerüst für den Begriff der Ordnung schlechthin. Charakteristisch ist dabei die festgelegten Regeln 543 folgende Integration einzelner Teile in ein einheitliches Ganzes zu einem gemeinsamen Zweck. 5 4 4 Rousseau gibt an, worin dieser Zweck besteht: „ ( . . . ) ich sehe nichts, was nicht in dasselbe System eingeordnet wäre und nicht demselben Ziel zustrebte, nämlich der Erhaltung des Ganzen in der festgesetzten Ordnung." 545 Den Teilen selbst ist jeweils ein be538 Vgl. nur Émile IV 597, V 940; Émile et Sophie 1670. 539 Rêv. 1639. 540 Émile 1112. 541 Vgl. nur Dsl 61, 135, 153, 211, 227, 247, 261, 313, 379; DsS 32 Anm.; FP I I 231; Pologne I I I 571; Émile IV 569. 542 Émile IV 597 (vgl. auch NH III 18 [369], V 2 [573]). 543 Vgl. nur Émile IV 454, 506, V 922; CS-M I 2, 4, OC III 282, 296; NH IV 10 (487); CS III 1 (317) (vgl. OC III 397: „le désordre succédé à la regle"; Original für „regle": „Ordnung"). 544 Vgl. Emile III 405, IV 563, 565, 569; NH V 2 (574 f.); FP XVI278. 545 Vgl. Émile IV 566.

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stimmter Platz zugewiesen546; sie werden dabei untereinander in eine Rangbeziehung gesetzt.547 Rousseau begreift diese Struktur im ersten Zugriff als zureichend, um einen gegebenen Zustand als „Ordnung" qualifizieren zu können. Dieser Ausschluß materialer Kriterien aus der Bestimmung des Begriffs hat Konsequenzen: Gesellschaftliche (oder moralische) Ordnung kann gut oder schlecht sein. 548 Wodurch wird nun eine politische Ordnung gut? Rousseau setzt an der Frage nach den Rangbeziehungen der Menschen (der „Teile" 5 4 9 ) untereinander an und lädt den formalen Ordnungsbegriff material auf. Eduard schreibt an Clara: „Man ordne den Rang nach dem Verdienste ( . . . ) ; das ist der Gesellschaft wahre Ordnung." 5 5 0 Verdienst worum? Die Antwort: In der „besten Ordnung der Dinge" steht das Gemeinwohl im Zentrum jeglichen Handelns. St. Preux ist hier kompromißlos: „Alles trägt im umfassenden System zum allgemeinen Wohl bei." 5 5 1 Inhaltlich werden dabei Ordnung und Gemeinwohl mit der Existenz gerechter Verhältnisse identifiziert: „Um alles einer Regel zu unterwerfen, wirft man die erste aller Regeln um, nämlich die Gerechtigkeit und das öffentliche Wohl." 5 5 2 Schließlich heißt es deutlich: „Das erste und größte öffentliche Interesse ist immer die Gerechtigkeit." 5 5 3 Hier scheint das Subjekt zunächst hinter dem umfassenden Geltungs- und Funktionsanspruch der Gesamtheit völlig zu verschwinden. Die öffentliche Achtung eines hohen gesellschaftlichen Ranges wird aus dieser Sicht zum berechneten Nebenprodukt einer Identifikation von Person und Funktion, aus der das „Vaterland ( . . . ) den Nutzen ziehen kann." 5 5 4 Auch wenn Rousseau betont, daß die subjektive Teilhabe an organisierter Gerechtigkeit schon im Begriff des Gemeinwohls enthalten ist 5 5 5 , bleibt der einzelne gegenüber dem Ganzen dennoch gleichsam „passiv". Entsprechend heißt es kühl: „Verläßt ein Einzelner den ihm bestimmten Platz, ist er für nichts mehr zu gebrauchen." 556 Gute politische Ordnung ist dann reduziert auf einen Zustand allgemeiner Gerechtigkeit, der in seiner internen personalen 546 Vgl. Émile 1115, I I 186 f., 193, 208, III 405, IV 487, 563, V 718, 825; Émile et Sophie 1670; NH 112 (60), V 2 (574 f.), 3 (591); CS IV 4 (372). 547 Vgl. NH I I 2 (198), V 2 (574 f.); Emile IV 567, 568, V 769. 548 Vgl. nur Beaumont 543, 554; CS-M I 2, 4, OC III 282, 295, 297; CS I I 12 (313); Montagne IV 96, V 110, VII168 f., 176 f.; Dsl 207; NH, 2. Vorrede 23, I I 18 (262 f.); d'Alembert 381; Émile III 401,409, IV 596, 686, V 765; Confess. VII320. 549 Vgl. Émile IV 558. 550 NH II 2 (198) (ähnlich Dsl 249). 551 NH V 3 (591), H.h. 552 Montagne V I I 173 (vgl. OC III 828: „le bien public"; Original: „das allgemeine Beste"). 553 Montagne IX 245. 554 Pologne XIII636 (vgl. auch Pologne X 614 f., XII632, XIII633-642; Dsl 243; SaintPierre [FN] 17, 119). 555 Vgl. ÉP 243; NH V 2 (563). 556 Emile I 115.

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Gliederung aus der Perspektive eines überlegenen Geistes hergestellt wird: Gott ist der „Ordner aller Dinge" 5 5 7 ; der Gründer der Gemeinschaft übernimmt seine Rolle. 5 5 8 Nun findet sich in der Nouvelle Héloïse eine Passage, die illustriert, daß die Güte einer politischen Ordnung mit der Ausrichtung der Rangbeziehungen nach dem Verdienst um die Gerechtigkeit noch nicht vollständig bezeichnet ist. Eduard schreibt, er nehme Anteil am Schicksal St. Preux4 und Julies „um der ( . . . ) Ordnung der Dinge Willen, die da verlangt, daß jeder in die ihm und der Gesellschaft vorteilhafteste Stellung versetzt werde." 559 Neben das Allgemeinwohl tritt also das Wohl des einzelnen als Maßstab für die Zuweisung des Platzes in der guten Ordnung. Worin aber besteht dieses Wohl? Eduard schreibt weiter: „Diese zwei schönen Seelen gingen, eine wie die andere, aus den Händen der Natur hervor; in einer süßen Verbindung, im Schöße des Glücks, hätten sie ihre Kräfte frei entwickelt, ihre Tugenden geübt und wären mit leuchtendem Beispiel der Welt vorangegangen." „Entwicklung der Kräfte", „Übung der Tugend" - soll eine Ordnung gut sein, so muß sie dem Subjekt die Möglichkeit bieten, im Rahmen eines (subsidiären) ontologischen Programms zu sich selbst zu finden. „ ( . . . ) wir beginnen nicht wirklich Menschen zu werden, bevor wir Bürger gewesen sind" 5 6 0 , heißt es dann auch mit Blick auf den Entwurf guter politischer Ordnung im Genfer Manuskript des Contrat social. Doch noch immer sind die genannten Kriterien für die Qualifikation einer Ordnung als „gut" nur notwendig, nicht aber hinreichend. Das fehlende Merkmal erschließt sich erst, wenn die Rolle des einzelnen genauer in den Blick genommen wird. In der Profession de foi erläutert der savoyische Vikar die Frage nach der Differenz von guter und schlechter Ordnung aus der Perspektive des handelnden Subjekts. Dort heißt es: „Überall, wo Gefühl und Verstand sind, gibt es auch irgendeine moralische Ordnung. Der Unterschied besteht darin, daß der Gute sich in Beziehung zum Ganzen ordnet und daß der Böse das Ganze in bezug auf sich selbst ordnet. Dieser macht sich zum Zentrum aller Dinge: jener mißt seinen Radius und hält sich an der Peripherie." 561 (a) Ganz im Bereich personaler Innerlichkeit angesiedelt, dient das Beispiel der moralischen Ordnung zunächst zur Demontage eines Ordnungsbegriffs, der den Status des Subjekts als eines bloßen „Teils" nicht wirklich überwindet. Rousseau entzieht hier jeglicher Instanz jenseits des einzelnen die Kompetenz, auf Dauer die Elemente des Ganzen ins Verhältnis zu setzen. Das Subjekt muß diese Leistung im Rahmen seiner Einsichten selbst erbringen, es muß sich in einem Akt der Selbstfindung den Platz in der Ordnung zuweisen, auf dem es schließlich bleiben will. 557 Émile IV 551 (vgl. auch Émile IV 583). 558 Vgl. nur CS I vor 1 (270), I I 7 (300); NH III 20 (387); Corse Fragm. 561. 559 NH I I 2 (197), H.h. 560 CS-M I 2, OC III 287. 561 Émile IV 596 (H.h.).

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Die Notwendigkeit individueller Stellungnahme aber ist grundsätzlich in jedem Zusammenhang gegeben: Nicht nur der mündige, sondern schon der ganz junge Mensch „darf nicht auf's bloße Wort gehorchen; nichts ist für das Kind gut, als das, was es als solches fühlt." 5 6 2 (b) Die spezifische Art der Selbstbestimmung aber - Affirmation des Gegebenen - ist nun das Element, das die gute von der schlechten sozialen Ordnung wirklich unterscheidet. Rousseau illustriert diese Differenz anhand der Stufen des menschlichen Lebens. Er sagt über die aktuelle Gesellschaft: „Wir wurden geschaffen, um Erwachsene zu sein; die Gesetze und die Gesellschaft haben uns in den Zustand des Kindes zurückgeworfen." 563 Die Erwachsenen sind dann auch nur durch „die Erziehung verdorbene Kinder." 564 Rousseau weiß: Ein wirklich erwachsener Mensch kennt seinen Platz in der Gesellschaft und akzeptiert ihn, doch „das Kind kennt den seinen nicht und kann sich also auch nicht auf ihm behaupten."565 Die konstatierte Unordnung der aktuellen Gesellschaft hat in diesem Kontext ihren Ursprung. „ ( . . . ) um sich über den anderen zu setzten" 566 , wollen die Menschen einander schaden; das führt zu einem Zustand der Regellosigkeit: „ ( . . . ) alles kommt durcheinander, wenn einer die Stelle des anderen erstrebt." 567 Emile dagegen antwortet auf die entsprechende Frage des Tutors am Ende seiner Erziehung: „Wozu ich mich entschließe? Das zu bleiben, was Sie aus mir gemacht haben ( . . . ) . " 5 6 8 Auch der savoyische Vikar verharrt schließlich gegenüber einer göttlichen Weltordnung, in der ihm die Beziehungen der Teile untereinander zunächst verschlossen sind 569 , nicht in Ablehnung. Seine Untersuchungen der Handlungen des „großen Wesens" bilanziert er mit den Worten: „ ( . . . ) ich stimme der Ordnung zu, die es festsetzt(...)." 5 7 0 In der guten politischen Ordnung ist damit die (nur) formale Emanzipation des Subjekts von der ursprünglichen Leitung durch den überlegenen Geist gefordert. „Jedem seinen Platz zuweisen und ihn dort binden" 571 - das ist zunächst die Aufgabe einer Instanz, die wesentlich als erziehende begriffen werden kann: „In der sozialen Ordnung, wo jeder Platz vorgezeichnet ist, muß jeder Mensch für den seinen erzogen werden." 572 Dann aber befreit sich das Subjekt aus seiner Passivität und bestätigt die ursprüngliche Zuweisung aus eigener Kraft: „Der vernünftige 562 Émile Ι Π 377.

563 564 565 566 567 568 569 570

Émile II 196. Émile I I 208. Émile II 196. Dsl 209. d' Alembert 463 Anm. (vgl. auch CS II 10 [309]). Émile V 938. Vgl. nur Émile IV 556. Émile IV 597.

571 Émile II 186 f. (ähnlich Émile I I 208). 572 Émile 1115 (vgl. auch Émile 1114, IV 502).

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Mensch weiß an seinem Platz zu bleiben" 573 , mehr noch: Er fühlt sich an diesem Platz auch gut aufgehoben. 574 Auf diese Weise rehabilitiert Rousseau das Subjekt gegenüber der Totalität, deren Einheit eben insoweit stets auch sein eigenes Werk ist. Der affirmative Akt personaler Selbstbestimmung hebt die ursprüngliche Differenz von Mensch und äußerer Ordnung auf und macht den Sinn der Bestimmung einsichtig, Ordnung solle das einzelne mit dem Ganzen verbinden. 575 Eine geregelte Verfassung der Existenz kann also unabhängig von ihren materialen Inhalten nicht als Ordnung gedacht werden, wenn das Subjekt in Kritik verharrt. Rousseau läßt dann auch keinen Zweifel an der Nachrangigkeit geregelter Verhältnisse um ihrer selbst willen: „Denn man würde immer noch lieber wollen, daß die Gesellschaft schlecht geordnet wäre und die Bürger wären glücklich und redlich, als daß die Gesellschaft gut geordnet wäre und alle Bürger wären unglücklich und böse", heißt es in einer frühen Version der Nouvelle Héloïse. 516 Nun ist auch erkennbar, daß in Rousseaus Denken mit Blick auf die begriffliche Vorstellung von „Ordnung" am Ende von einer rein formalen Bestimmung abgerückt wird. „Aus dieser neuen Ordnung der Dinge wurde eine Vielzahl von Beziehungen ( . . . ) ohne Regel geboren" 577 , heißt es über die bürgerliche Gesellschaft. „Ordnung ohne Regel" - Rousseau schwankt zunächst in den terminologischen Konsequenzen dieses Befundes. Die aktuelle Verfassung sozialer Gemeinschaft ist Unordnung, jedoch zugleich mehr als das: Durch die Wahrung der formalen Kriterien erweckt sie den Eindruck einer Ordnung, ohne wirklich eine solche zu sein; sie ist bloße Scheinordnung. 578 Der Begriff der Ordnung selbst aber muß einer „guten" Verfassung vorbehalten sein; Ordnung und das Gute, Unordnung und das Schlechte sind eins. 579

II. Exkurs: La Profession de Foi Gleichsam unterhalb der Ebene des fundamentalen Prinzips seelischer Einheit wird Rousseaus Werk unter dem Eindruck einer geschichtlich variabel begriffenen menschlichen Existenz zu einem gestaffelten System von Aussagen, deren unterschiedliche „historische Reichweite" einen entsprechend differierenden Geltungsanspruch bedingt. Vor diesem Hintergrund muß sich die Interpretation einem wich573 Émile I I 196 (vgl. auch Émile V 889, 939; Confess. III 93). 574 Vgl. Émile IV 505; d'Alembert 463 Anm.; NH V 2 (574 f.). 575 Vgl. Emile IV 583; CS-M 12, OC III 283. 576 Zitiert nach Viroli, La théorie de la société bien ordonnée, S. 154 (Übersetzung Verf.). 577 CS-M I 2, OC III 282. - Masters, Geneva Manuscript, S. 158, übersetzt die Passage durchaus treffend mit „order ( . . . ) lacking order". 578 Vgl. nur Narcisse 161 Anm. [2]; Observations 90; Émile IV 488, V 802, 941; Montagne VIII212; CS III 18 (355); Pologne XII632; Confess. I I 85, VII320, 322. 579 Vgl. CS I I 6 (297); Émile IV 441, 600.

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tigen, im Emile enthaltenen Text zuwenden: der Profession de foi du vicaire savoyard. Der Status dieser äußerst ergiebigen Schrift ist weitgehend ungeklärt; insbesondere die Frage nach der Verwertbarkeit ihrer Aussagen im Hinblick auf Rousseaus in der Hauptsache im Contrat social entwickelte politische Philosophie bedarf einer Antwort. Dieses Versäumnis ist heute zwar erkannt 580 , doch wird noch regelmäßig der in Rede stehende Text einfach mit den Ausführungen über die religion civile verschmolzen 581 oder als ein dem Gesamtwerk widersprechender Sonderfall bewußt ausgeklammert. 582 Eine solche Behandlung der Schrift ist unangemessen; sie muß zu einer verzerrten Darstellung von Rousseaus politischer Philosophie führen. Die Profession de foi enthält ein argumentatives Potential, das für das Verständnis von Rousseaus Lehre von der Gesellschaft unverzichtbar ist. Rousseau selbst hat allerdings durch sein Gesamtkonzept und durch die eigenwillige formale Struktur des Textes eine Identifikation dieses Potentials erheblich erschwert. Es tritt nur zu Tage, wenn der generelle Status „metaphysischer" Argumentation innerhalb des Werkes mit der Bedeutung religiöser Anschauung in Rousseaus Denken ins Verhältnis gesetzt wird.

1. Fakultative Metaphysik Der Versuch einer grundsätzlichen Einordnung der Schrift in das Gesamtwerk sieht sich damit konfrontiert, daß Rousseau im Émile plötzlich eine weitere Person auftreten und sprechen läßt. Sind die Ansichten dieser Person auch Rousseaus Ansichten? Nun ist diese Problemstellung nicht neu; die gesamte Interpretation der Nouvelle Héloïse ist darauf angewiesen, den Status von Aussagen zu bestimmen, die erdachten Personen zugeordnet und von Rousseau in Anmerkungen kommentiert werden. Insbesondere das Glaubensbekenntnis Julies 583 , das Rousseau mit dem des Vikars identifiziert 584 , würde so die nämliche Frage aufwerfen. Die Problemstellung erreicht im Émile aber eine neue Qualität, denn das Bekenntnis des Vikars stellt mit seinem abrupten Wechsel der sprechenden Person und seinen grundsätzlichen Ausführungen zu Metaphysik und Religion einen abgeschlosse-

580 Vgl. Cell The Vicar's Ladder, S. 222. 581 Vgl. etwa Broome, Rousseau, S. 105, passim; Caspar, Wille und Norm, S. 180; Emery, "Contrat social", S. 158; Erdmann, Staat und Religion, S. 44-61; Gouhier, La religion du vicaire savoyard dans la cité, 1964; Masson, Religion de Rousseau II, S. 195, passim; Röhrs, Rousseau, S. 127 f.; Schinz, La pensée de Rousseau, S. 482; Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 301. 582 Vgl. etwa Melzer, Natural Goodness, S. 30, Anm. 1. 583 Vgl. NH V I 11 (insb. 750-755). 584 Vgl. Confess. IX 402: „ ( . . . ) das Glaubensbekenntnis dieser nämlichen Héloïse, das sie im Sterben ablegt, ist genau das gleiche wie das des savoyischen Vikars" (dazu näher Masson, Religion de Rousseau II, S. 75-80).

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nen, im ersten Zugriff tatsächlich wie ein Fremdkörper wirkenden, eigenständigen Text dar. Er geht inhaltlich und formal weit über das überwiegend auf Glaubensinhalte beschränkte, unmittelbar sinnfällig in den Handlungsfortgang der Nouvelle Héloïse eingefügte Bekenntnis Julies hinaus. Nimmt man nun alle für die Beurteilung der Profession de foi relevanten Aussagen Rousseaus zusammen, so lassen sich zwei Fixpunkte benennen, die das Wesen des Problems ausmachen: Ein rein methodologisches Anliegen kollidiert mit der Frage nach der inhaltlichen Verbindlichkeit der Aussagen. Im Emile wird die Kollision eindeutig in eine Richtung aufgelöst. Nach der Darlegung des Glaubensbekenntnisses schreibt Rousseau: „Ich habe diese Schrift nicht als Norm, die für die Ansichten über Religion gültig wäre, übertragen, sondern als Beispiel für die Art, wie man mit seinem Schüler Überlegungen anstellen kann, um nicht von der Unterrichtsmethode abzurücken, die ich darzulegen versucht habe." 5 8 5 Hier geht es also allein um die Methode, um das wie des Nachdenkens über religiöse (metaphysische) Fragen im Rahmen des Erziehungsprojekts. Der Gehalt der Sätze scheint dabei prinzipiell beliebig. An anderer Stelle jedoch identifiziert sich Rousseau inhaltlich mit den Aussagen des Vikars. Der persönliche Prozeß der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Glauben wird mit den Worten bilanziert: „Das Resultat meiner mühsamen Untersuchungen war ungefähr so, wie ich es seitdem im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars dargestellt habe ( . . . ) . " 5 8 6 Was also sind in diesem Kontext Rousseaus eigene Ansichten? Nach der zitierten Aussage schließt sich Rousseau offenbar weitgehend, aber nicht in jedem Fall dem Vikar an. Bestätigt wird die Richtigkeit dieser Einschätzung in der Auseinandersetzung mit Tronchin. Rousseau schreibt: „Man findet im Emile das Glaubensbekenntnis eines katholischen Priesters und in der Héloïse dasjenige einer frommen Frau. Diese beiden Stücke stimmen ziemlich miteinander überein, so daß eines durch das andere erklärt werden kann, und aus dieser Übereinstimmung kann man mit Wahrscheinlichkeit vermuten, daß der Verfasser der beiden Schriften, worin sie enthalten sind, wenn er sie beide nicht gänzlich annimmt, ihnen wenigstens sehr zuneigt." 587 Das aber bedeutet: Die eigentliche Sicht der in der Profession de foi behandelten Fragen ergibt sich gleichsam als „Schnittmenge" im Textvergleich. Auf diese Weise läßt sich ein Kanon von Sätzen ermitteln, der Rousseaus eigene Auffassung wirklich widerspiegelt. 588 585 Émile IV 639 f. 586 Rêv. III 667 (H.i.O.). - Vgl. auch Beaumont 522 f., 528 f.; Lettre à de Franquières (15/01/1769), CC 37 (1980), Nr. 6529, S. 15-22; Lettre à Vernes (18/02/1758), CC 5 (1967), Nr. 616, S. 32 f.; Lettre à Moultou (23/12/1761), CC 9 (1969), Nr. 1602, S. 342; Lettre à Madame de Boufflers-Rouverel (31 /10/1762), Korresp. 231. 587 Montagne 118 (H.i.O.). 588 Dabei sind zu berücksichtigen: die oft zustimmenden Anmerkungen zum Glaubensbekenntnis (vgl. nur Émile IV 557 Anm. [1], 558 Anm., 571 Anm.), andere Texte, etwa die Lettre à Beaumont oder die Lettres morales, die Korrespondenzen, die von Rousseau zum Prinzip erhobene (vgl. Émile, Vorwort 103) Differenzierung zwischen Zweifel und fester 8 Gaul

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

Einmal durchgeführt, wirft dieses Verfahren mit Blick auf die Konsistenz des Gesamtwerks im ersten Zugriff enorme Probleme auf. Ein Beispiel: In der Profession de foi wird das ursprüngliche Wesen des Menschen als Zusammenspiel zweier Substanzen, Körper und Geist, begriffen. 589 Diese Ansicht findet in anderen Äußerungen Rousseaus Bestätigung. Im Brief an Beaumont, in dem es um die inhaltliche Verteidigung des Émile geht, heißt es über den Menschen: „Er besteht aus zwei Substanzen, wovon die eine sterblich ist und die andere nicht sterben kann." 5 9 0 Auch im Brief an Vernes bekennt sich Rousseau ausdrücklich zum Leib-SeeleDualismus. 591 Offenbar ist dieser Gedanke fester Bestandteil seiner eigenen Überzeugungen. In der Grundlegung seiner Anthropologie im Discours sur V inégalité allerdings kommt Rousseau zu anderen Ergebnissen. Er untersucht den Menschen der Natur zunächst in körperlicher Hinsicht, um sich dann seiner „metaphysischen ( . . . ) Seite" 592 zuzuwenden. Die Unterscheidung von Mensch und Tier wird dabei zunächst mit der „Freiheit" des Menschen begründet, in deren Bewußtsein sich „die Geistigkeit seiner Seele" 593 zeige. Entspricht auch dieses Konzept vom Wesen der Seele nicht unmittelbar dem des savoyischen Vikars 594 , so ließe sich immerhin allein durch die Annahme der âme spirituelle als gleichursprüngliches Gegenstück des Körpers eine Übereinstimmung mit der dualistischen Anlage des Glaubensbekenntnisses festhalten. Nun ist aber in Rousseaus Konzept kein Platz für eine Vorstellung von „Freiheit", und entsprechend schlägt der Versuch fehl, eine ursprüngliche Geistigkeit des Menschen nachzuweisen. Die Regung der Seele bleibt dann bloße Tätigkeit des Körpers, die Natur des Menschen auf eine einzige Substanz reduziert. Im Ergebnis gibt Rousseau den Leib-Seele-Dualismus hier zugunsten eines (reinen) Materialismus auf. Zwischen den philosophischen Anthropologien der Profession de foi und des Discours sur l'inégalité bestehen also nicht nur im Detail, sondern auch in Hinblick auf die zugrundeliegenden Prinzipien erhebliche Unterschiede. 595 Überzeugung (vgl. Émile IV 602), die Trennung der Adressatenkreise in „Philosophen" einerseits und „Publikum" andererseits (vgl. nur Émile IV 562; Dsl 63, 169 f.; DsS 9; Montagne IX 221; Observations 71; d'Alembert 343 Anm. [1]; DsV, OC I I 1263; Narcisse 155 Anm.). 589 Vgl. Émile IV 552-601. 590 Beaumont 554 (vgl. auch Beaumont 509). - Das Konzept der Unsterblichkeit der Seele hat platonische Wurzeln (vgl. näher Émile IV 579; Burkert-Wepfer, Sehnsucht nach dem Schönen, S. 147-155). 591 Vgl. Lettre à Vernes (18/02/1758), CC 5 (1967), Nr. 616, S. 33. 592 Dsl 99. 593 D s l 101. 594 Der Vikar geht davon aus, daß die immaterielle (geistige) Substanz, die den Menschen als solchen belebt (vgl. Émile IV 574), wesentlich in der Fähigkeit des Denkens, im Gebrauch der Vernunft liegt (vgl. Émile IV 556, 583). Im Discours sur Γ inégalité dagegen weicht Rousseau prinzipiell von der auch den Vorstellungen des Vikars zugrundeliegenden, cartesisch geprägten Konzeption ab, wenn er den Unterschied zwischen Mensch und Tier im Hinblick auf das rationale Vermögen nur als einen graduellen begreift und den Gebrauch dieser Fähigkeit den Gesetzen der Mechanik unterstellt (vgl. Dsl 97, 99-103).

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595 Mit dieser Einsicht ist die zentrale Problematik der Aufklärung, die Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Geist, angesprochen. Als Reaktion auf die cartesische Abwertung des Materiellen wird jetzt in verschiedener Weise versucht, den Körper gegenüber dem traditionell sonst als „höher" begriffenen menschlichen Sein zu rehabilitieren. Allgemeines Resultat dieser Anstrengung ist zunächst die Überwindung der substantiellen Dichotomie zugunsten einer monistischen Konzeption, die beide Seinsweisen verbinden soll. In der Folge werden allerdings unterschiedliche Anschauungen propagiert, deren radikalste die gesamte menschliche Existenz als Sein und Tätigkeit des Körpers (der Materie) begreift. Nun ist es in Hinblick auf diese Diskussion ebenso falsch, Rousseau schlechthin als „Materialisten" zu bezeichnen (so aber Schwartz , Sexual Politics, S. 3), wie ihn „den verbissenen Feind des Materialismus" (so aber Kondylis, Aufklärung, S. 530) zu nennen. Rousseaus Standpunkt liegt zwischen diesen Extremen. „ ( . . . ) kaum wissen wir, ob der Mensch ein einfaches oder zusammengefügtes Wesen ist" (Emile IV 549), läßt Rousseau den Vikar sagen, und in der eigenen Bilanz ist diese Unsicherheit gegenwärtig: „ ( . . . ) ich bin kein Materialist ( . . . ) . Dennoch ist wahr, daß ich in einer großen Zahl von Sätzen mit den Materialisten übereinstimme ( . . . ) " (Lettre à Du Peyrou [08/12/1764], CC 22 [1974], Nr. 3712, S. 183). a) Rousseau macht im Discours sur V inégalité zunächst klar, daß er mit Rücksicht auf den Substanzbegriff einer monistischen Konzeption folgt: Das Wesen des ursprünglichen Subjekts ist die „Einfachheit" (Dsl 45; OC III 122: „simplicité"), es handelt nur „aufgrund des einfachen Antriebs (OC III 143: „simple impulsion") der Natur ( . . . ) " (Dsl 107, H.h.). Das eine Menschliche aber ist der Körper. Rousseau argumentiert: Der Mensch ist - wie das Tier (vgl. nur NH IV 11 [495 f.]) - mit einer Seele begabt. Wenn aber der Nachweis ihrer Geistigkeit schlechthin fehlschlägt, dann sind die (ersten) Akte der Seele (vgl. Dsl 57, 107) nicht geistiger Art, sondern bloße Tätigkeiten des Körpers. Die wiederholte Rede vom „Geist" des natürlichen Menschen (vgl. nur Dsl 57, 67, 69, 109, 115, 125, 155, 167, 173, 177, 179, 181, 185, 189, 207, 269) zielt also auf die Operationen einer materiellen Seele (vgl. etwa Dsl 111 mit Dsl 201). Im Brief an Beaumont wird das Prinzip dieser Sichtweise nachdrücklich bestätigt. Der erste Mensch „haßt und liebt nichts, und auf den bloßen physischen Trieb eingeschränkt, ist er nichts, ein Tier. Dies habe ich in meiner Abhandlung über die Ungleichheit bewiesen" (Beaumont 509, erste H.h., zweite H.i.O.). Ein Tier also ist der Mensch der Natur (vgl. Dsl 79, 97, 175); das Tier aber beschreibt Rousseau mit der zentralen Metapher des materialistischen Monismus als bloße Maschine (vgl. Dsl 99; dazu Baruzzi, Die französischen Materialisten, S. 7 - 1 5 ; Overmann, Ursprung des französischen Materialismus, S. 169-178). Entsprechend ist dann auch das Subjekt des reinen status naturalis eine „menschliche Maschine" (vgl. Dsl 99), ein „Automat" (vgl. Emile I 155, 180, wo der sonstige Unterschied zum Kind exemplarisch aufgehoben wird), dessen Reaktion „mechanisch" (Dsl 153) erfolgt und dessen spätere Reflexion eben wesenhaft „mechanische Klugheit" (Dsl 177) ist. b) Die Beschreibung des reinen Naturzustandes im Discours sur l'inégalité stellt den Menschen als Einen vor, der bloßer Körper ist. Sie folgt also einem reinen Materialismus und damit einem Konzept, das strikt von dem des Vikars zu unterscheiden ist (ebenso Caspar, Wille und Norm, S. 46, Anm. 95; Emberley, Management of the Passions, S. 152-157; F etcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 30 f.; Horowitz, Rousseau, S. 64, 65 f., 71; Meier, Dsl [Kommentar], S. 102, Anm. 127; Melzer, Natural Goodness, S. 30, Anm. 1; Plattner, State of Nature, S. 41-46, 80 f.; Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 229; Steinvorth, Freiheitstheorien, S. 152 f.; Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 277); die schon in der vorangehenden Fußnote genannten inhaltlichen Unterschiede zwischen den Entwürfen bestätigen die hier vorgetragene Einschätzung nur. Nun sind allerdings zwei Einwände denkbar, die es verbieten, die Überlegungen schon abzuschließen. aa) Der erste Einwand gründet sich auf die Einsicht, daß Rousseau die Widerlegung des aufklärerischen Monismus in zwei gedanklichen Schritten vollzieht. Zunächst wendet er sich gegen den das Denken seiner Zeit beherrschenden materialistischen Sensualismus. Diese Anschauung erkennt die Dichotomie von Geist und Körper grundsätzlich an, will sie aber in

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einer einzigen Substanz aufheben, indem sie die geistigen Fähigkeiten des Subjekts aus seiner Körperlichkeit hervorgehen läßt: Auch das juger der Vernunft ist ihr nur eine Variation des sentir. Rousseau wendet ein, „daß man, um eine einzige Substanz anzuerkennen, ihr unvereinbare Eigenschaften zuschreiben müßte, solche, die sich gegenseitig ausschließen ( . . . ) " (Emile IV 528). Mit dieser Erkenntnis aber ist ein substantieller Monismus auch dann schon unhaltbar, wenn das menschliche Urteil in der Sensibilität gründet, denn „das Denken, oder, wenn man will, das Fühlen" (ebd.) kann nicht mit dem res extensa verschmelzen. Rousseau erläutert: „Die Sinnesorgane sind ausgedehnt, aber das empfindungsfähige Wesen ist eins und unteilbar; es läßt sich nicht teilen, es ist entweder ganz oder nicht; das empfindungsfähige Wesen ist also kein Körper" (Emile IV 571 Anm.). Die ausstehende Bestimmung wird an anderer Stelle geleistet: „ ( . . . ) ich nenne die Substanz, der das Empfinden und das Denken zugehört, Seele oder Geist ( . . . ) " (EMF III, OC IV 220). Muß angesichts dieser Argumentation nicht der empfindsame homme animal des reinen Naturzustandes als auch geistiges Wesen begriffen werden? Selbst wenn außer acht bliebe, daß ohne eine petitio principii die in Frage stehende Auffassung kaum zur Demontage einer materialistischen Grundlegung Rousseau'scher Anthropologie im Discours sur Γ inégalité herangezogen werden kann, sind in diesem Text keine Anzeichen für eine Präsupposition des skizzierten Konzepts vorhanden. Zwar erklärt Rousseau in Zusammenhang mit dem scheiternden Versuch, das Subjekt qua Freiheit als auch geistiges auszuweisen, allein beim Akt der Wahl sei „mit den Gesetzen der Mechanik nichts erklärt" (Dsl 103). Wenn hier e contrario die vollständige Mechanisierung des Seins indiziert wird, scheint zunächst die für den Materialismus typische Flexibilisierung der Physik (vgl. Kondylis, ebd., S. 279-286) in Frage gestellt. Auf den zweiten Blick aber tritt die für alle monistischen Konzeptionen dieser Zeit charakteristische Annäherung von Mensch und Tier hervor. So hält Rousseau es für möglich, „daß sich ein bestimmter Mensch von einem anderen mehr unterscheide als ein bestimmter Mensch von einem bestimmten Tier" (Dsl 101). Die anticartesische Tendenz dieser Auffassung äußert sich insbesondere in der notierten Annahme einer nur graduellen Differenz hinsichtlich der Fähigkeit des Denkens. Entsprechend wird dann im Hinblick auf eine Integration des traditionell „Geistigen" in die eine Substanz auch die Starrheit des Mechanizismus aufgegeben: Bildung und Verknüpfung von Vorstellungen erklärt die Physik nur noch „en quelque manière " (OC III 142, H.h.; Dsl 101 f.: „in gewisser Weise"). Im reinen Naturzustand kann von der Spiritualität des Sensiblen also keine Rede sein, und Rousseau hat dieses Konzept dann auch im Kontext seiner Widerlegung des aufklärerischen Monismus schließlich als Hilfskonstruktion kenntlich gemacht. Im Brief an Moultou (01 / 08/1763), CC 17 (1972), Nr. 2851, S. 114, geht es ihm darum, „den Materialismus zu bekämpfen", der sich in Helvétius' Werk De l'Esprit manifestiert. Rousseau erklärt nun: „Das fundamentale Prinzip des Buchs über den Geist lautet, daß urteilen empfinden ist, woraus klar folgt, daß alles [Sein; Verf.] nichts als Körper ist." Die Kategorie des sentir wird also wieder der materiellen Substanz zugeordnet, und in Konsequenz muß die Geistigkeit im Bereich des juger zu finden sein. Rousseau entdeckt dann auch im Rahmen der Profession de foi , in der er „den neueren Materialismus bestreiten" (Beaumont 577, H.h.) will, im denkenden Urteilen des Subjekts eine autonom (frei) erzeugte Kraft, die das passiv sinnlich erfahrene Material aktiv vergleicht und so auf den Begriff bringt. Er erkennt: „ ( . . . ) urteilen und empfinden ist nicht das gleiche" (Emile IV 553), und folgert: „Ich bin also nicht einfach ein sensitives und passives, sondern ein aktives und intelligentes Wesen" (Emile IV 556, H.h.). Nicht einfältig zu sein, ist also Privileg des Menschen, denn das Tier ist eine Maschine, und eine „Maschine denkt nicht" (Emile IV 572; vgl. auch NH I I 14 [240]), während der Mensch „ein geistiges Wesen [ist], wenn er denkt" (Emile IV 583). bb) Der zweite Einwand wird von Rousseau selbst nahegelegt, indem er in der gleichen Passage der Lettre à Beaumont , die den homme naturel als bloßen Körper beschreibt, aktuelles menschliches Sein aus zwei Substanzen zusammensetzt (vgl. Beaumont 509). Entsprechend hat man verlangt, den Dualismus subjektiver Konstitution als gewordenen anzusehen.

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Die erkannte Frontstellung dieser Texte darf allerdings nicht verschleiern, daß die angezeigte konzeptionelle Differenz an anderer Stelle des Werkes in gleicher Weise nachgewiesen werden kann. So antwortet Rousseau etwa auf die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Soziabilität zunächst in den Begriffen einer Geschichtlichkeit, die jeder Entelechie entkleidet ist: „ ( . . . ) jene singulären und zufälligen Zusammentreffen von Umständen, ( . . . ) die sehr gut niemals eintreten k o n n t e n " 5 9 6 , führen aus dem ursprünglichen Naturzustand heraus. Z u diesen „ U m ständen, die dasein oder auch nicht dasein ( . . . ) k ö n n e n " 5 9 7 , gehören vor allem Naturkatastrophen großen Ausmaßes, die die Menschen zwingen, sich einander zu-

Dabei sei allerdings die Geistigkeit des Menschen mittelbar schon im reinen Naturzustand gegenwärtig, denn sie liege in der natürlichen Fähigkeit der Perfektibilität bereit. Man könne das als „genetisches Eingeborensein" der immateriellen Substanz bezeichnen (vgl. Broecken, „Homme" und „Citoyen", S. 133-135; Rang, Rousseaus Lehre, S. 183, 526). Die Inkonsistenz dieses Konzepts wird schon einsichtig, wenn man die perfectibilité als nur potentielles Vermögen des Menschen erinnert, doch selbst im anderen Falle wäre zu berücksichtigen, daß die Fähigkeit zur Vervollkommnung in der menschlichen Seele gründet (vgl. Emile II 188). Als Teil eines vorgängig materiell Definierten können die Emanationen der Perfektibilität aber kaum einen abweichenden substantiellen Status gewinnen. So bleibt es dabei, daß das Subjekt des Discours sur l'inégalité ursprünglich nur Körper ist und sich in dieser Hinsicht auch im Laufe der Phylogenese nicht wandelt. Im übrigen ist der ausführlich illustrierte, von den Sinnesempfindungen abhängige allmähliche Erwerb höherer Fähigkeiten bestenfalls Kennzeichen einer sensualistischen Konzeption. Wollte man diese Eigenschaften also als geistige ansehen, dann doch nur im Rahmen eines subslamimmanenten Dualismus. Ein substantieller Dualismus dagegen kann auch durch die der skizzierten Einsicht stillschweigend Rechnung tragende, kaum belegbare Annahme einer „Abspaltung" der geistigen Substanz (vgl. Rang, ebd., S. 51, 183) nicht plausibler gemacht werden. c) Die Konzeption des Émile schließlich stellt die Ontogenese strukturell in Analogie zur Phylogenese vor. Das Kind ist zunächst bloßer Körper, alle seine Regungen sind „reine Mechanismen" (vgl. Émile I 154, I I 215, IV 442). Auch die Perfektibilität ist wiederum nur eine der Fähigkeiten, „die die Natur dort [in das menschliche Herz; Verf.] zur Reserve hineingelegt hat" (Dialogues I 263, H.h.; vgl. OC I 668: „y [ . . . ] en réserve"; Original: Begriffe fehlen). Allerdings erhebt sich das Subjekt im Laufe der Entwicklung mit der Gewinnung des Selbstbewußtseins von nur physischer Tätigkeit zu geistiger Aktivität (vgl. Émile I I 184, IV 443 f.). Wenn man in dieser Skizze die Grundzüge eines sensualistischen Monismus erblicken will, dann ist in Rousseaus Werk das Spektrum der im 18. Jahrhundert diskutierten ontologischen Konzeptionen im wesentlichen gegenwärtig. Man mag diesen Pluralismus als erstes Indiz dafür werten, daß die Konsistenz des Rousseau'schen Denkens nicht von einer bestimmten Metaphysik abhängt. Das vorgestellte System ist vielmehr „metaphysically neutral" (Melzer, ebd., S. 12) und wird entsprechend der oben zitierten Selbsteinschätzung Rousseaus durch den partikularen Zugriff auf idealistische oder materialistische Theoreme abgesichert. So ist dann auch die Annahme, Rousseaus Geschichtsphilosophie oder seine politische Theorie seien gerade vom substantiellen Dualismus der Profession de foi abhängig (vgl. Meinhold, Rousseaus Geschichtsphilosophie, S. 7; Fetcher, ebd., S. 30 f., 79), kaum zu halten. Rousseaus Denken zielt auf die Herstellung menschlichen Glücks und ist deshalb primär an der inneren Einheit des Subjekts interessiert. Entscheidend ist daher nicht die ontologische Qualifizierung menschlicher Tendenzen, sondern die Einsicht in ihren antagonistischen Charakter: Körper und „Geist" widerstreiten und müssen versöhnt werden. 596 Dsl 95 (ähnlich Dsl 167). 597 philopolis 307.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

zuwenden.598 Im Essai sur l'origine des langues und im Discours sur l'inégalité selbst jedoch findet sich eine Reproduktion dieses Konzepts, die einen bemerkenswerten zusätzlichen Akzent aufweist. Auch hier initiieren Naturkatastrophen den Zusammenschluß, doch diese Katastrophen haben mit der Intention Gottes 599 jetzt eine erkennbare Ursache: „Er, dessen Wille es war, daß der Mensch in Gesellschaft lebe, berührte mit dem Finger die Achse der Erdkugel und neigte sie zu der des Universums hin. Auf diese leichte Bewegung hin sehe ich das Antlitz der Erde sich wandeln und die Berufung des menschlichen Geschlechts entscheiden."600 Die Sozialisierung des Menschen verliert in diesem Entwurf jeden zufälligen Charakter; sie ist durch Gottes Plan vorbestimmt, ist insoweit traditionelle Heilsgeschichte. In anderem Licht erscheint dann eine Formulierung der Profession de foi, die zunächst allein als Ausdruck der phylogenetischen Konsequenzen des aktuellen, unentrinnbar dichten sozialen Zusammenhangs begriffen wurde: Der Mensch ist „von Natur aus gesellig oder zumindest dazu geschaffen ( . . . ) , es zu werden ^

^ ««601

Die metaphysische Überformung des ursprünglichen Konzepts in Gestalt einer gottgewollten Entfaltung der sozialen Natur des Menschen ist in einer Weise ausgeführt, die sogar eine bewußte Parallelisierung der Entwürfe denkbar macht. Bis in die Syntax und Wortwahl einzelner Sätze hinein läßt sich das aufzeigen. „Die Überlieferungen von so zahlreichen Unglücksfällen in den alten Zeiten verdeutlichen, welcher Mittel die Vorsehung sich bediente, um die Menschen zu zwingen, sich einander zu nähern" 602 , heißt es in Essai sur l'origine des langues. Die Entsprechung dieses Satzes im Discours sur l'inégalité findet sich bezeichnenderweise am Ende des Abschnitts über die Entstehung der Sprachen und lautet: „ ( . . . ) an der geringen Mühe, die sich die Natur gegeben hat, die Menschen durch wechselseitige Bedürfnisse einander anzunähern ( . . . ) , sieht man zumindest, wie wenig sie deren Soziabilität vorbereitet hat ( . . . ) . " 6 0 3 Rousseau argumentiert also in der selben Sache einmal auf der Grundlage einer historisch-faktischen Analyse, einmal unter Hinzuziehung von Denkfiguren aus dem Bereich der Metaphysik. Bemerkenswert in einer Gesamtbetrachtung ist dabei insbesondere die Dominanz der empirisch fundierten Argumentationslinie. Während etwa im Discours sur l'inégalité die den Text prägende Skepsis gegenüber jeder Metaphysik 604 den eigentlichen Gedankengang geschlossen voranträgt, bleibt die spekulativ überformte Fassung des jeweiligen Gedankens entweder unveröf598 Dsl 185 f. 599 Vgl. Dsl 61, 319, 321. 600 Langues IX 192. 601 Emile IV 592; Lettres morales V, OC IV 1109 (vgl. auch Beaumont 547; Philopolis 307; Dialogues I I 429). 602 Langues IX 193. 603 Dsl 131. 604 Vgl. nur Dsl 49-55,115 f., 129, 151.

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fentlicht 605 , wird wage formuliert und in Vorwort bzw. Anmerkung verborgen oder zwischendurch ausdrücklich relativiert. 607 Nirgends ist der Verweis auf jenseitige Sachverhalte für die Argumentation konstitutiv; er dient offenbar lediglich dazu, den Zugang zu einer weiteren gedanklichen Dimension zu eröffnen. Tatsächlich scheint die metaphysische Lesart der Texte gleichsam fakultativ; die entsprechenden Elemente des Gedankengangs können ohne den Verlust inhaltlicher Konsistenz abgetrennt werden - ein Befund, den man anschaulich „Rousseaus abnehmbare Metaphysik" 608 genannt hat.

2. Religion und Existenz Rousseau mißt auch den Begriff der Philosophie selbst am notierten Primat der Praxis und findet daher in der Person des Vikars harsche Worte für eine Philosophie des Jenseitigen: „Die allgemeinen und abstrakten Vorstellungen sind die Quelle der größten menschlichen Irrtümer; niemals ist durch das Gerede der Metaphysik nur eine einzige Wahrheit entdeckt worden ( . . . ) . ' i 6 0 9 Und im Brief an Vernes heißt es: „Die Philosophie, bei diesen Gegenständen weder Grund noch Ufer vorweisend, ursprünglicher Ideen und elementarer Prinzipien mangelnd, ist nichts als ein Meer der Unsicherheit und des Zweifels, aus dem sich der Metaphysiker niemals herauszieht." 610 Und doch wirft Rousseau die Fragen der Metaphysik nicht einfach über Bord. Zutiefst überzeugt von der Unverzichtbarkeit einer Bindung an Prinzipien, die die sinnlich faßbare Welt transzendieren, setzt er die religiösen Grundfragen in eine Beziehung zum einzelnen, die dem Vorrang des unmittelbar humanen Anliegens Rechnung trägt. Dieser Haltung entsprechend will der savoyische Vikar metaphysische Einsichten „in der Schwebe ( . . . ) lassen, ohne sie zu verwerfen oder anzuerkennen, und ohne mich damit abzugeben, sie zu erhellen, wenn sie zu nichts führen, was für die Praxis von Nutzen ist." 6 1 1 Jenseits dergestalt relevanten Wissen erlischt also das Interesse an einer Erkenntnis transzendenter Zusammenhänge. So bleibt der Vikar auch der Welt und ihrem Ursprung gegenüber gleichgültig: „Ist diese ( . . . ) Welt jedoch ewig oder eine Schöpfung? Gibt es einen einzigen Ursprung der Dinge? Gibt es deren zwei oder mehrere? Und wel605

Vgl. zu Ursprung und Schicksal des Essai sur l'origine des langues etwa Masson, Questions de chronologie rousseauiste, S. 45-49. 606 Vgl. Dsl 61, 319, 321. 607 Vgl. Dsl 103. 608 Vgl. Goldschmidt, Anthropologie et politique, S. 351 f.; Masters, Philosophy of Rousseau, S. 73 f. 609 Emile IV 561 (vgl. auch Emile IV 639 Anm.: „Deine Moralgesetze sind sehr schön, Philosoph, aber ich bitte dich, zeige mir ihre Bestätigung. Höre einen Augenblick auf, verworrenes Zeug daherzureden [ . . . ]."). 610 Lettre à Vernes (18/02/1758), CC 5 (1967), Nr. 616, S. 32. 611 Émile IV 552 (vgl. auch Émile IV 550,591; Rêv. ΙΠ 667).

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eher Art sind sie? Ich weiß es nicht, und was kümmert's mich? Soweit diese Erkenntnisse mich angehen, werde ich mich bemühen, sie zu erwerben; bis dahin enthalte ich mich überflüssiger Fragen, die ( . . . ) für mein Verhalten nutzlos ( . . . ) sind." 6 1 2 Das hier skizzierte Konzept einer Integration der Metaphysik in die Untersuchung menschlicher Praxis führt Rousseau durch seine geschichtsphilosophische Konzeption.

a) religion civile Rousseau weiß: „Sobald die Menschen in der Gesellschaft leben, brauchen sie eine Religion, die sie dort festhält. Niemals hat ein Volk fortbestanden noch wird es fortbestehen ohne Religion, und wenn man ihm durchaus keine gäbe, würde es sich selbst eine machen oder wäre bald zerstört." 613 Warum ist das so? Die Antwort lautet, daß es „nützlich wäre, dem moralischen Band eine innere Kraft geben zu können, die bis in die Seele vordringt und immer unabhängig wäre vom Guten, den Übeln, vom Leben sogar und allen menschlichen Geschehnissen."614 Die Religion festigt also den Zusammenhalt in der Polis durch einen Rekurs auf Kräfte jenseits menschlicher Existenz. Das Verhältnis von Staatskunst und Spiritualität stellt sich dann als ein rein funktionales dar, das treffend als „radicale laïcisation de l'état" 6 1 5 beschrieben und von Rousseau folgendermaßen formuliert worden ist: „Man muß aus alledem nicht ( . . . ) schließen, daß Politik und Religion ( . . . ) ein gemeinsames Ziel hätten, sondern daß ( . . . ) die eine der anderen als Werkzeug dient." 6 1 6 Rousseau gibt an, wie die notwendige Integration der Religion in die Politik geschehen kann: „Das erste ist, eine rein bürgerliche Religion zu errichten, in welcher man alle Grundsätze ( . . . ) , welche der Gesellschaft wahrhaft nützlich sind, aufnimmt und alle anderen wegläßt, die bloß den Glauben und nicht das zeitliche Wohl betreffen ( . . . ) . " 6 1 7 Wie ernst es Rousseau mit der Orientierung am Nutzen der Gesellschaft ist, zeigt sich bei der fehlenden Freiheit des Bürgers in den Fragen religiöser Moral. 6 1 8 „Über denjenigen Teil der Religion aber, der die Moral enthält, d.h. die Gerechtigkeit, das allgemeine Beste, den Gehorsam gegen die ( . . . ) positiven Gesetze, die bürgerlichen Tugenden und alle Pflichten ( . . . ) des Bürgers, kommt es der Regierung zu, zu urteilen; in diesem einzigen Punkt steht die Religion unter ihrer Gerichtsbarkeit, und sie muß jede schädliche Meinung, welche das 612 Émile IV 566. 613 CS-M [de la religion civile], OC III 336 (vgl. auch Montagne I 20). 614 C S - M I I 2 , O C I I I 3 1 8 ( v g l . auch D s l 2 4 7 ) .

615 Gouhier, Les méditations métaphysiques, S. 255. 616 CS II 7 (304) (vgl. auch Dsl 61). 617 Montagne 131. 618 Vgl. dazu Haverkate, Verfassungslehre, S. 173-175.

2. Kap.: Glückseligkeit

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gesellschaftliche Band zu zerreißen trachtet, ächten" 619 , heißt es exemplarisch in den Briefen an Tronchin. Allein das „gesellschaftliche Band" also ist der inhaltliche Maßstab für religiöse Betätigung in der Polis. So sollen dann auch die Inhalte der religion civile „nicht eigentlich als religiöse Dogmen, sondern als Sinn für die Gemeinschaft" 620 gelten. Konsequent zählt Rousseau die „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze" zu den positiven Prinzipien des bürgerlichen Glaubensbekenntnisses und mobilisiert das Recht in seiner handlungsregulierenden Funktion kompromißlos gegen die Freiheit des Bürgers. Dabei läßt er alle frühere Zurückhaltung 621 hinter sich: „Hat also jemand ebendiese Dogmen öffentlich anerkannt und verhält sich dann so, als wenn er nicht daran glaubte, so soll er mit dem Tode bestraft werden; er hat das größte aller Verbrechen begangen: Er hat vor den Gesetzen gelogen." 622 Warum aber nennt Rousseau als Dogmen der religion civile auch den Glauben an die Existenz Gottes, ein künftiges Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen? Das eigentliche Ideal, die nur auf die Gemeinschaft bezogene antike Polisreligion, ist durch die faktische Präsenz des Christentums in der Welt überholt; Rousseaus versucht in einem Kompromiß, die christliche Hinwendung zum Jenseits für das Diesseits der Polis zu instrumentalisieren. Durch einen bewußten Akt der Anerkennung und gleichzeitiger Sicherung des Primats der Politik soll die politische Stabilität gewährleistet werden, die im geschichtlich irreversiblen Konflikt zwischen der universal-jenseitigen Orientierung des Christentums und der notwendig ungeteilten Aufmerksamkeit des Bürgers für die Polis verloren gegangen ist. Rousseau will die „beiden Köpfe des Adlers wieder vereinen und alles zu der politischen Einheit zurückführen, ohne die weder Staat noch Regierung jemals gut verfaßt sein werden." 623 In der Bilanz erhält sich der unlösbare Widerspruch: Das reine Christentum „schwächt die Triebfedern der Politik, es verwirrt die Bewegungen der Maschine und hebt die Einheit des moralischen Körpers a u f ' 6 2 4 ; dennoch ist das Evangelium an sich „das stärkste Band der Gesellschaft" 625 , das „selbst im Tode nicht aufgelöst" 626 wird. Angesichts dieses Konzepts bleibt wenig Raum für die Vorstellung, die bürgerliche Religion transzendiere die geistigen Grenzen der Polis selbst. „ ( . . . ) nur ( . . . ) gute Staatsbürger" 627 - allein darum geht es, der historisch bedingte Gegensatz zwischen Mensch und Bürger 628 ist unaufhebbar. 629 Die Religion des Staats619 Montagne 119 f. 620 CS IV 8 (389) (vgl. auch Pologne II 570). 621 622 623 624

Vgl. CS I I 5 (297). CS IV 8 (389). CS IV 8 (384). Montagne 131.

625 Montagne 129. 626 CS IV 8 (386). 627 CS IV 8 (389).

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

bürgers leistet ihren Beitrag zu einem gelingenden Leben in gleicher und selbstbestimmter Freiheit, darin erschöpft sich ihre Funktion. Konsequent ist dann auch jedes Interesse an transzendenten Inhalten im Bereich privater Innerlichkeit ausdrücklich einer Kontrolle durch staatliche Macht entzogen.630 Rousseaus Denken wird also gleichsam auf den Kopf gestellt, wenn die Realisierung der Gemeinschaft in der Polis unter der Begrenzung externer Vorgaben stehen soll. 6 3 1 Die Inhalte des bürgerlichen Glaubensbekenntnisses beeinflussen die Natur des Menschen nur, soweit es um unmittelbar gegenwärtige Interpersonalst im gesellschaftlichen Zusammenhang geht. Nach außen wirken sie durch ihre Fokussierung auf die Belange der Polis im Hinblick auf eine umfassende Humanisierung kontraproduktiv: „Der Patriot ist hart gegen den Fremden - er ist nur ein Mensch, er ist nichts in seinen Augen. Obgleich unvermeidlich, ist dies ein geringerer Ubelstand. Das Wesentliche ist, gut zu den Menschen zu sein, mit denen man lebt." 6 3 2 Die Polisreligion steht mit ihrer Negation insbesondere der universalen Nächstenliebe 6 3 3 in striktem Widerspruch zu den humanistischen Prinzipien einer Existenz jenseits der Polis. „Menschen, seid menschlich, das ist eure vornehmste Aufgabe. Seid es jedem Lebensalter gegenüber, allen Ständen und allem, was menschlich ist", heißt es im Émile ,634 Rousseau begreift Patriotismus und Humanismus als Kehrseiten einer Medaille, die immer nur getrennt zum Vorschein kommen können: „Der gegenseitige Haß der Völker wird verlöschen, zugleich aber auch die Liebe zum Vaterland." 635 Die Grundsätze können nicht zusammengefügt werden, denn die „Vaterlandsliebe und die Menschlichkeit sind zum Beispiel zwei in ihrer Stärke unvereinbare Tugenden, besonders bei einem ganzen Volk." 6 3 6 Die skizzierte Argumentation verbietet es schließlich auch, die Herstellung gelingender Gemeinschaft in einer entsprechenden umfassenderen Intention aufzuheben. Rousseaus im Brief an Beaumont vorgetragener heftiger Widerstand gegen die religiöse Orthodoxie und ihr Dogma von der Erbsünde bringt ihn angesichts 628 Vgl. Emile 1113, 111. 629 So mit Unterschieden im Detail auch Ansart-Dourlen, Dénaturation et violence, S. 136; Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 444 f.; Fetcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 184, Anm. 28; Forschner, Rousseau, S. 179-184; Grimsley, Religious Quest, S. 84; Koslowski, Gesellschaft und Staat, S. 161, Anm. 179; Note 6 zu OC III 468, OC I I I 1505; Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 461 f.; Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 361 f. 630 Vgl. CS IV 8 (388 f.); Beaumont 551. 631 Vgl. etwa Caspar, Wille und Norm, S. 179, der in den Dogmen der religion civile ,»Prinzipien der Humanität als Fundamentalgesetze jeder Gesellschaftsordnung" transportiert sehen will. 632 Émile 1112. 633 Vgl. CS IV 8 (387). 634 Émile I I 185 (vgl. auch Émile IV 583). 635 DsS 14. 636 Montagne I 32 Anm. [2] (vgl. auch CS-M [de la religion civile], OC ΙΠ 338: „ [ . . . ] ich sehe durchaus nicht, daß es möglich wäre [ . . . ] , die Rechte einer nationalen Religion mit denen der Menschlichkeit zu versöhnen [ . . . ].").

2. Kap.: Glückseligkeit

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der evidenten Existenz des Bösen in der Welt unweigerlich zur Frage nach dessen Ursprung. In seiner Antwort identifiziert Rousseau ein neues Subjekt der Verantwortung: die Struktur der (aktuellen) Gesellschaft. Diese Einsicht transportiert das Theodizee-Problem in den Bereich der Politik, die implizite Rechtfertigung Gottes bleibt dem eigentlichen politisch-anthropologischen Anliegen untergeordnet. 637 Wird dieses Verhältnis umgekehrt, lädt man dem Entwurf organisierter Gemeinschaft eine Last auf, die er nach Rousseaus Vorstellungen niemals tragen sollte. 638 Und auch dort, wo die Geschichte die Hoffnung auf die Realisierung gelingender Gemeinschaft zunichte gemacht hat, bleibt der Freispruch Gottes 639 am Ende bloßes Nebenprodukt einer Affirmation der ursprünglichen menschlichen Güte: „Nimm unsere verhängnisvollen Fortschritte weg, nimm unsere Irrtümer und Laster weg, alles Menschen werk, und alles ist gut." 6 4 0 Selbst historisch jenseits der Chance, das Ideal völlig intakter Sozialbeziehungen zu installieren, hält Rousseau am Projekt einer Integration der Religion in die Politik fest. 641 Er sieht: Unter den veränderten Vorzeichen der neuen Zeit ist die Macht der Politik geschwunden. Sie muß anerkanntem religiösem Pluralismus und irreversibler moralischer Deformierung Rechnung tragen. Dennoch bleiben ihr Handlungsmöglichkeiten. Rousseau versucht, durch die Reduktion der Glaubensinhalte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner die Religion wieder zum integrierenden Faktor gelingender Intersubjektivität zu machen. 642 Das angestrebte Ergebnis: eine „Art von bürgerlichem Glaubensbekenntnis ( . . . ) , welches positiv die gesellschaftlichen Grundsätze enthielte, die jeder verbunden wäre anzunehmen, und negativ die fanatischen Grundsätze, die man genötigt wäre, ( . . . ) als aufrührerisch zu 637 Treffend Rath, Zweite Natur, S. 29. 638 Vgl. etwa Cassirer, Das Problem Rousseau, S. 43; Haverkate, Verfassungslehre, S. 182, die der freiheitssichernden Einrichtung des Gesellschaftsvertrags die „Rechtfertigung Gottes" aufgeben, oder Cotta, Théorie religieuse et politique, S. 190, der Rousseau für „l'idée de Dieu à la société civile" interessieren will. 639 Vgl. etwa Émile IV 574 f., 577,583 f. 640 Émile IV 576. 641 Rousseau ist hier zu Kompromissen gezwungen, denn das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft ist weder Mensch noch Bürger, sondern ein gespaltenes „Doppelwesen" (Émile I 114), eigentlich „ein Ungeheuer, das man zum Wohle des Menschengeschlechts hinmorden muß" (CS-M [de la religion civile], OC III 341). Humanismus und Patriotismus sind deshalb in Verbindung zu bringen. So nimmt die aktuelle Fassung der religion civile zum einen stärker als die auf das Christentum fixierte moderne Polisreligion den Pluralismus der Weltreligionen und die Forderung nach Toleranz in den Blick (vgl. Montagne I 25, 31; Beaumont 554, 562; Voltaire 330, 331), zum anderen fügt sie dem Bestand der Dogmen neben dem Gehorsam gegen die natürlichen Gesetze (vgl. Montagne I \9) insbesondere die universale Forderung nach Nächstenliebe hinzu (vgl. Montagne I 20; Emile V 765). Gedanklich ist der Übergang zwischen Polisreligion und aktuellem bürgerlichem Glaubensbekenntnis fließend; gerade in den Lettres de la montagne argumentiert Rousseau zur Verteidigung der (ursprünglichen) religion civile vor dem Hintergrund des Streites um die Genfer Verfassung (vgl. Montagne 118-32; Burgelin, La philosophie de l'existence, S. 444). 642 Vgl. Beaumont 554; CS IV 8 (390).

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

verwerfen", kurz: ein „Katechismus des Bürgers", für Rousseau „das nützlichste Buch ( . . . ) , das jemals geschrieben worden ist ( . . . V ' 6 4 3

b) Selbstschutz (I) Im Stande historisch freigesetzter, allein auf sich selbst gestellter Subjektivität bleibt religiöse Anschauung unmittelbar ohne Anwendung, denn die Bewahrung intakter Selbstverhältnisse geschieht prinzipiell gegen die Einflüsse des weitgehend deformierten sozialen Verbandes. Rousseau gibt daher die Frage nach der Notwendigkeit spiritueller Förderung des Daseins dem Grunde nach frei und überläßt sie individueller, aus der Analyse spezifischer eigener Defizite gespeister Be644

antwortung. In Umsetzung dieser Vorgaben registriert er noch während seiner Tätigkeit als Schriftsteller, daß „der Zustand des Zweifels für meine Seele ein allzu heftiger Zustand ist ( . . . ) . t t 6 4 5 Hier wird bereits eine persönliche Dimension erkennbar, die neben die Diskussion in der Sache selbst tritt. Rousseau hat das hervorgehoben, indem er sein Plädoyer für die Unsterblichkeit der Seele mit der Aussage beschließt, diese Streitigkeit sei die „einzige ( . . . ) , bei der mein eigener Nutzen nicht vergessen sein wird." Rückblickend stellt er schließlich das Motiv der inneren Not ganz in den Vordergrund. Offen heißt es in den Rêveries: „Endlich sagte ich zu mir selbst: Soll ich mich ewig durch die Sophismen der Schönredner hin und her wehen lassen, von denen ich nicht einmal weiß, ob die Meinungen, die sie predigen und mit soviel Eifer anderen aufdrängen wollen, wirklich ihre eigenen sind? ( . . . ) Ihre Philosophie ist für die anderen; ich brauche eine für mich. " 646 Resultat dieser Erkenntnis ist die Profession de foi, die zunächst eine Methode vorstellt, mit der der Erwerb sicherer Einsicht möglich werden soll. 6 4 7 Ihr wesentliches Kennzeichen ist die schrittweise Substitution der erkennenden Vernunft durch das „innere Gefühl" (,sentiment intérieur ).648 Wird zunächst bei der Selbstvergewisserung des Subjekts noch „mein Leitsatz, mich dem Gefühl mehr als der Vernunft zu überlassen, von der Vernunft selbst bestätigt" 649 , so betreibt schließlich die raison de V homme ihre vollständige Selbstaufhebung: „Der würdigste Ge643 Voltaire 330 f. 644 Vgl. nur Émile IV 536, 545, 566. 645 Voltaire 328 (folgendes Zitat ohne Nachweis ebd. 332). 646 Rêv. III 665, H.h. (vgl. auch Émile IV 595 f.). 647 Rekonstruiert bei Cell, The Vicar's Ladder, 1988. 648 Vgl. zur Diskussion um die emotionale oder rationale Fundierung des religiösen „pragmatisme" Beaulavon, Rousseau et l'esprit cartésien, S. 327-352; Derathé, Le rationalisme de Rousseau, S. 33-73; Masson, Religion de Rousseau, insb. I, S. 249, II, S. 83 f.; Rang, Rousseaus Lehre, S. 474-476; Röhrs, Rousseau, S. 139-146; Schinz, La pensée de Rousseau, S. 485-498. 649 Émile IV 556.

2. Kap.: Glückseligkeit

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brauch meiner Vernunft ist, vor dir [Gott; Verf.] sich auszulöschen: mich von deiner Größe überwältigt zu fühlen, bildet das Entzücken meines Geistes und den Reiz meiner Schwäche." 650 Die im Vollzug dieser Methode gewonnenen Einsichten repräsentieren den Bestand einer Metaphysik, deren „Wahrheit" Rousseau nicht absolut, sondern in Realisierung der referierten dichotomischen Struktur von „Philosophie" nur für seine eigene Person reklamiert. 651 Hier findet sich im Ergebnis eine exakte Reproduktion des Konzepts, das im Brief an Voltaire schon gegenwärtig ist. „Der Zweifel ( . . . ) ist etwas zu Gewalttätiges für den menschlichen Geist" 652 , stellt der savoyische Vikar zunächst fest, und mit Blick etwa auf die mögliche Unsterblichkeit der Seele behilft er sich später mit der rhetorischen Frage: „Da diese Vermutung mich tröstet und nichts Unsinniges hat, warum sollte ich Bedenken haben, dabei zu bleiben?" 653 3. Anthropologische Konstanten Nun ist die Profession de foi nicht prinzipiell abweichend konzipiert, sondern steht gewissermaßen am Ende einer Skala, die gleichsam den „metaphysischen Gehalt" der einzelnen Texte anzeigt. Diese Einsicht kann aber die Ausnahmestellung des Bekenntnisses nur formal aufheben, nimmt der graduelle Unterschied doch eine Wendung ins Prinzipielle. Die metaphysischen Elemente anderer Texte können abgetrennt werden; der (empirisch-historisch fundierte) Kern dieser Schriften ist dann Teil von Rousseaus eigentlicher Lehre, seiner „Philosophie für die anderen". Was jedoch soll im Kontext politischer Theorie argumentativ integrierbar sein, wenn der in Rede stehende Text Religion und Metaphysik selbst zum Gegenstand hat und so offenbar gerade das Gegenstück zur rigorosen Diesseitigkeit insbesondere des Contrat social repräsentiert? Rousseau hat den Discours sur Γ inégalité und den Emile nicht grundlos im ganzen als „unzertrennlich" 654 bezeichnet. Der auf diese Weise stellvertretend für das Gesamtwerk implizierte inhaltliche Konsens realisiert sich in einer auf das jeweils behandelte Phänomen bezogenen Konstante, die gleichsam die geschichtlich oder programmatisch bedingte Kluft zwischen den (späteren) Realisationen des Menschseins überbrückt. Der gelegentlich so schroffe Gegensatz der verschiedenen Schriften erstreckt sich nämlich in aller Regel nicht auf die Analyse der forma650 Émile IV 584. 651 Vgl. Masson, Religion de Rousseau II, S. 275 f.; Masters, Philosophy of Rousseau, S. 73, Anm. 70; Groethuysen, Rousseau, S. 309: „II fut philosophe et chrétien. Il ne fut pas philosophe chrétien"; Schinz, La pensée de Rousseau, S. 487: „C'est une religion de poète, et non de philosophe". 652 Émile IV 548 (vgl. auch Émile IV 550, 635). 653 Émile IV 579. 654 Malesherbes II483.

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1. Teil: Geschichte und Glückseligkeit

len Struktur des gerade in Rede stehenden Elements subjektiver Konstitution. Das läßt sich gut am Beispiel des in der Profession de foi entwickelten, bereits referierten Ordnungskonzepts zeigen, auf dessen Geltung auch für den Bereich der Politik man treffend hingewiesen hat. 6 5 5 So ist ein wichtiges Element dieses Konzepts, das moralische Gewissen, etwa in der Économie politique im Zusammenhang der vertu civile gegenwärtig und wird dort zu einer relevanten Kategorie politischer Existenz erhoben. Die inhaltliche Übereinstimmung ist nun keineswegs gegeben, denn die Profession de foi wendet sich bei der Frage nach der Aussage des Richtspruchs heftig gegen die an anderer Stelle 656 im Sinne des Prinzips menschlicher Historizität konstatierte umfassende Abhängigkeit des Gewissens von externen Vorgaben. Der savoyische Vikar meint: „Man sagt uns, das Gewissen sei das Werk der Vorurteile; ich weiß indessen aus eigener Erfahrung, daß es beharrlich, entgegen allen Gesetzen der Menschen, der Ordnung der Natur folgt." 6 5 7 Die formale Systematik des behandelten Phänomens aber ist stets identisch. So charakterisiert der Vikar das moralische Gewissen der Économie politique entsprechend als richtende innerliche Instanz, die in einer Bewegung des Subjekts auf sich selbst in spezifischer Ausdrucksweise („Gewissensbisse") sittliches Fehlverhalten anzeigt. 658 Rousseaus philosophische Anthropologie in der Profession de foi vereinigt insoweit also seine „eigene" Philosophie mit der für die „anderen" und verleiht dem Glaubensbekenntnis damit den gleichen eigenartigen Rang, den Rousseau für die anderen „Bekenntnisse", die Confessions , beansprucht. Die prinzipielle begriffliche Koinzidenz in den Titeln der Texte, die jeweils eine Exposition des Selbst ankündigen, suggeriert auch eine methodologische Übereinstimmung. Und in der Tat: Der personale Ausgangspunkt wird kontrastiert von einer sorgfältig abgewogenen Objektivität, die Subjekt und Sache trennt. Die „Sache" wiederum, kein Zweifel, ist der Mensch. Verfolgt Rousseau in den Confessions auch das Projekt der exemplarischen Offenbarung wahrer menschlicher Existenz 659 und ihrer aktuellen politisch-sozialen Befangenheit 660, so treibt den savoyischen Vikar bei seiner Suche nach tröstender Gewißheit das Interesse an der menschlichen Natur an. „Aber wer bin ich?" 6 6 1 , fragt er und rekonstruiert bei der Gewinnung sicherer Glaubenseinsicht Schritt für Schritt den homme artificiel selbst in seiner psychischen und moralischen Befindlichkeit. Die Profession de foi dokumentiert also nicht nur den Orientierungsversuch eines Subjekts, das um die Möglichkeit gelingenden Lebens ringt, sondern entwirft auch ein detailliertes Bild vom Wesen des 655

Vgl. etwa Cotta, Théorie religieuse et politique, S. 189; Fetcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 84. 656 Vgl. CS-M 12, OC III 287; NH III 18 (373). 657 Emile IV 546 (vgl. auch Émile IV 570, 590 f., 594). 658 Vgl. Émile IV 546, 586, 588; ÉP 239. 659 Vgl. Confess. I 9: „Ich will meinesgleichen einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein." 660 Rekonstruiert bei C. Kelly, Rousseau's Exemplary Life, 1987. 661 Emile IV 552.

2. Kap.: Glückseligkeit

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aktuellen Menschen, dessen Aussagen unter dem Vorbehalt einer sorgfältigen Scheidung von Form und Inhalt und einer ohnehin notwendigen phylogenetisch bedingten Relativierung innerhalb der politischen Philosophie Gültigkeit beanspruchen können. Insoweit ist die Profession de foi dann aber - wie die Confessions „durch ihren Gegenstand ein wertvolles Buch für die Philosophen." 662

662 Ébauches, OC 11154.

Zweiter Teil

Freiheit ohne Recht

3. Kapitel

Recht und Herrschaft Rousseau will sich der Bedingungen versichern, die die Herstellung gelingender Interpersonalität möglich machen. Er wendet sich deshalb den Kategorien von Recht und Herrschaft zu, deren Problematik im Hinblick auf eine effektive Integration in den Kontext sozialer Praxis allein auf der Basis einer historischen Betrachtung erkennbar ist: Die Frage nach den Grundlagen des Rechts erweist sich als wesentlich bestimmt durch die Historizität des Subjekts, während die Prinzipien legitimer Herrschaft hervortreten, wenn das geschichtlich Verlorene erinnert und auf seine innere Struktur befragt wird.

I . Getrennte Welten Als Grotius im frühen 17. Jahrhundert den Versuch unternimmt, die überlieferte Idee des Naturrechts methodologisch neu zu fassen, wendet er sich der einzigen Wissenschaft zu, deren Instrumentarium sichere Erkenntnis zu gewährleisten scheint: der Mathematik. Die moderne Reformulierung des Rechtsproblems gelingt im Aufweis der letzen, eben quasi-mathematischen Evidenz unverrückbarer Prinzipien, deren hypothetisch alleinige Abhängigkeit von der menschlichen Vernunft jede weitere, insbesondere theologische Ableitung dem Grunde nach entbehrlich macht.1 Dennoch muß Rousseau weit mehr als einhundert Jahre später mit Blick auf die Frage nach dem „Naturrecht" eine „geringe Einigkeit" und „so viel Unsicherheit und Dunkelheit"2 festhalten. In der Tat hatte auch die methodologisch sichere gedankliche Basis nicht verhindern können, daß in der Mitte des 18. Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Naturrecht" ein Problemkomplex firmiert, der nur noch schwer zu übersehen ist.3 Rousseaus Originalität bricht diesen Kom1

Vgl. De Iure Belli ac Pacis, Buch 1, Kap. 1, X., 5., S. 51. 2 Dsl 51.

3. Kap.: Recht und Herrschaft

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3 Illustrieren mag diesen Befund Rousseaus eigene begriffliche Unschärfe (vgl. zur Terminologie Caspar, Wille und Norm, S. 80, Anm. 263; Gildin, Rousseau's Social Contract, S. 42 f.; Meier, Dsl [Kommentar], S. 53, Anm. 59). Sie ist bisweilen allein selbstverschuldet, etwa wenn die von Hobbes (Leviathan, 14. Kap., S. 99, H.i.O.: nicht „jus und lex, Recht und Gesetz, durcheinanderbringen") angemahnte Trennung von Recht/Anspruch und Pflicht/Gesetz erst befolgt (vgl. etwa CS II 4 [292], 6 [298]; CS-M I 2, OC III 285), dann aber im Begriff des Rechts doch wieder aufgehoben wird (vgl. etwa: das „natürlichen Recht [„droit de la nature", OC II 378], daß man, solange man keinem anderen schadet [d.i.: Pflicht; Verf.], sein Gutes suche und sein Übel fliehe", NH III 21 [394]; entspr. Dsl 151), regelmäßig aber offenbar unvermeidliches Produkt der Ausdifferenzierung, der die Lehren des modernen Naturrechts seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts unterliegen (vgl. näher Derathé, Rousseau et la science politique, S. 27-48; Kondylis, Aufklärung, S. 147-169; Léon, Rousseau et les fondements de l'Etat moderne, S. 205-216; Rosenblatt, Rousseau and Geneva, S. 90-101): a) Zunächst schlägt sich die zunehmende Auflösung eines fest umrissenen Naturbegriffs (vgl. nur Ehrard, L'idée de nature, 1963; Spaemann, Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, 1967; Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, S. 15-60) auch in Rousseaus Verwendung des Terminus' nature nieder (vgl. näher etwa Bruppacher, Selbstverlust und Selbstverwirklichung, S. 35-38; Cooper, Rousseau, S. 37-114; Schmid, Existenz in „Entfremdung", S. 290-296; Tobiassen, Nature et nature humaine, 1961; Treml, Rousseaus Naturbegriff, 1988) und bringt in Verbindung mit dem Begriff „Recht" ständig veränderte semantische Varianten hervor. So können etwa die „droits de la nature" die natürlichen Neigungen des Menschen genauso bezeichnen wie die ihm ursprünglich zukommenden Ansprüche (vgl. nur Dsl 39, OC III 120: „droits [du Coeur et] de la Nature", mit Dsl 33, OC III 118: „droits de la nature [et de la naissance]"). Daneben bezeichnet der Terminus „droit naturel" zum einen das Gesamtproblem „Naturrecht" (vgl. nur Dsl 51, 57, 59, 271, OC III 124, 126, 194), zum anderen, als Synonym für „droit de la nature", den einzelnen ursprünglichen Rechtsanspruch des Subjekts (vgl. etwa Dsl 69, OC III 132; Montagne I 14, OC III 690; CS I I 4 [292], OC III 373), schließlich auch („loi naturelle" bzw. „loi de [la] nature" entspr.) den naturrechtlichen Gebotssatz (vgl. etwa Dsl 215, OC III 177; Pologne X 614, OC III 1001). b) Vor allem aber teilen die wechselnden Versuche, kausale und normative Natur zu integrieren, bei aller Verschiedenheit doch die Neigung, die Verbindung der Ebenen von Empirie (Sein) und Recht (Sollen) mit methodologisch fragwürdigem Vorgehen zu erleichtern. So unterläuft gerade der von Rousseau durchaus auch positiv rezipierte (vgl. Derathé, ebd., S. 83 f.; Melzer, Natural Goodness, S. 129, Anm. 18) Pufendorf immer wieder die selbst auferlegte strikte Trennung von Moral und Physis (vgl. etwa zur Legitimation des Staates De officio II, Kap. 5, § 2, S. 197, § 7, S. 198, mit De jure naturae III, Kap. 2, § 8, S. 233, VII, Kap. 2, § 13, S. 650), und allgemein besteht die Tendenz, faktisch handlungsleitenden Sätzen mit Blick auf die Selbsterhaltung des Subjekts schon einen „gewissen präskriptiven Charakter" zu attestieren (vgl. Kummerow, Vertrag und Vertragstreue, S. 472, im Anschluß mit dem Hinweis, das Gesetz der Natur „schreiben" in dieser Vorstellung dem Handelnden „vor, beispielsweise eine blutende Wunde abzubinden."). Die resultierende schwankende Diktion ist auch bei Rousseau gegenwärtig, der „loi naturelle" zur Bezeichnung eines normativen Satzes verwendet (vgl. etwa Montagne VIII 189, OC III 842; Guerre 50, OC III 602) und den Terminus „loi de [la] nature" grundsätzlich als Synonym ansieht (vgl. nur Dsl 53, 271, OC III 125, 194). Gelegentlich nimmt „loi naturelle" aber auch die Bedeutung des physikalischen Naturgesetzes an. Das ist dann der Fall, wenn Rousseau die reine Notwendigkeit der naturzuständlichen Abläufe illustriert und deshalb die Perspektive des ursprünglichen Subjekts einnimmt, das Normativität als solche gar nicht erleben kann (vgl. etwa Dsl 219 f., OC III 178; Pologne X I I 626, OC III 1013; CS I I 4 [293], OC III 373). Im Duktus der Argumentation gilt: Die (empirisch) festgestellte Tendenz des Menschen zur Selbsterhaltung (vgl. nur Emile IV 441; Dsl 57, 173) verwandelt sich in Verbindung mit dem Problem des Naturrechts zum ,,oberste[n] Gesetz der Natur" (Emile III 407). Das beinhaltet zum einen ein „von Natur aus" gegebenes

9 Gaul

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2. Teil: Freiheit ohne Recht

plex auf und spaltet ihn gleichsam in zwei Teile, in zwei gedankliche Welten, die prinzipiell isolierte Gegenstände der Erörterung repräsentieren. Rousseau verschließt sich dabei der Tradition nicht grundsätzlich, doch er weiß, „daß es nicht richtig ist, daß sich die Gebote des Naturgesetzes allein auf die Vernunft gründen; sie haben eine festere und sicherere Basis."4 Diese andere, bessere Grundlage aber soll das Empfinden (Gefühl) des Menschen sein. In der Existenz dieser Doppelstruktur realisiert sich Rousseaus Vorstellung einer Fassung des Rechtsproblems, die der menschlichen Natur in ihrer Historizität adäquat ist.

1. Vernunft Bei der Überwindung der scholastischen Weltdeutung, nach der das Subjekt fraglos teilhat an einer vorgegebenen Ordnung, geht es wesentlich um die Gewinnung eines wirklich selbständigen Vernunftvermögens. In diesem Prozeß trennen sich Subjekt und Recht gewissermaßen: Die Vorstellung von der unmittelbaren Gegenwart der Einsicht in das Richtige, die sich teilweise bis an das Ende des 17. Jahrhunderts in der Verteidigung einer durch „eingeborene Ideen" vermittelten Partizipation menschlicher Vernunft an der lex aeterno, erhält, wird ersetzt durch eine gedankliche Konstruktion, die dem Freiheitsanspruch des insoweit autonomen Subjekts Rechnung trägt. Dem Menschen fällt jetzt eine ungleich schwierigere Rolle zu: Er soll aus seiner relativen Passivität hervortreten und der Verpflichtung eines aus der (göttlichen) Vernunft stammenden Weltentwurfs mit eigener Kraft nachkommen, indem er die Prinzipien seiner Existenz ermittelt und als Grundlage eines Systems deduktiv gewonnener, normativer Sätze verwendet, die in der konkreten Situation handlungsleitend werden.5 Rousseau folgt dieser Emanzipation des rationalen Vermögens dem Grunde nach, wenn er die Existenz naturrechtlicher Regeln und ihren Ursprung aus der Erkenntnis einer reinen Vernunft bejaht: „Ohne Zweifel gibt es eine allgemeine Gerechtigkeit, die einzig aus der Vernunft hervorgeht ( . . . )." 6 Ihre Vorschriften lassen sich etwa formulieren in , jener erhabenen Maxime der durch Vernunft erschlossenen Gerechtigkeit: Tue anderen, wie du willst, daß man die tue ( . . . )." 7 Rousseau betont den Vernunftcharakter dieser Regeln, indem er sie als „droit naturel raisonné"8 oder „loi de raison" 9 bezeichnet. Ihr menschliche Setzung und faktische „Recht auf alles, dessen er bedarf' (CS I 9 [285]), zum anderen die „erste und stärkste" der „Pflichten des Menschen" (gegen sich selbst, FP I I 211; vgl. auch CS I 2 [271]: „Gesetz [ . . . ] , über seine Selbsterhaltung zu wachen"). Zugleich firmiert sie als in juristischer Terminologie reformulierter deskriptiver Satz, als eine der „Regeln des Naturrechts" (Dsl 57). 4 Émile IV 486 Anm. (vgl. auch CS-M I I 4, OC III 329; Dsl 57, 247). 5

Vgl. zu dieser Systematik näher Euchner, Naturrecht und Politik, S. 19-29. 6 CS I I 6 (297 f.) (vgl. auch CS-M I I 4, OC IU 329; Dsl 115). 7 Dsl 151 (H.i.O.). 8 CS-M II 4, OC III 329.

3. Kap.: Recht und Herrschaft

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Ungerechtigkeit transzendierender Charakter „an sich" 10 folgt aus einer Kombination vorkritischer, (wohl noch) naturrechtsaffiner Universalität 11 und traditioneller theologischer Fundierung 12: „Was gut ist und der Ordnung gemäß, ist dies durch die Natur der Dinge und unabhängig von menschlichen Abmachungen. Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er allein ist ihre Quelle ( . . . ) . " 1 3 Rousseau identifiziert sich bis hierhin grundsätzlich mit der Anschauung seiner Zeit, doch die Übereinstimmung bleibt im wesentlichen auf die Annahme einer Existenz vernunftrechtlicher Regeln beschränkt. 14 Jeder Versuch, eine Verbindung zwischen diesen Vorschriften und der Wirklichkeit von Gerechtigkeit im sozialen Verband herzustellen, muß nach Rousseaus Auffassung scheitern. Seine Kritik des Vernunftvermögens zielt auf den empirischen wie auf den normativen Aspekt des Phänomens und gründet allein in der konsequent durchgehaltenen Vorstellung von einer Historizität menschlicher Natur.

a) Begrenzte Einsicht Mit den Attributen universaler und die Geschichte transzendierender Wirklichkeit ausgestattet, erscheint die menschliche Vernunft der Aufklärung bei der Suche nach einer argumentativen Basis für die Frage nach einer gerechten Organisation des sozialen Verbandes alternativlos. Sie allein ist das Medium, das dem Menschen den (gedachten) Übergang von einem fiktiven natürlichen Zustand in den rechtlich regulierten ermöglicht. Rousseaus Bestreben aber, die konstitutive Funktion der Geschichte für die Bedingungen menschlicher Existenz in die Problematik staatlicher Legitimität zu integrieren, verwandelt das gedankliche Experiment in eine tatsächliche Herausforderung durch den realen historischen Kontext. Aus dieser Perspektive nun werden Verfügbarkeit und Universalität des rationalen Vermögens plötzlich zum Problem - ein Befund, der zeigt, daß für die Gestaltung gelingender interpersonaler Praxis auf die vernünftige Einsicht des Subjekts nicht zurückgegriffen werden kann. aa) Am Beginn der menschlichen Entwicklung steht „das Leben eines Tieres, das zunächst auf die reinen Sinnesempfindungen beschränkt war ( . . . ) . " 1 5 Das

9 CS-M 12, OC III 284. 10 Confess. VIII359. n Vgl. Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, insb. S. 100-105, 116-122. 12 Vgl. etwa Pufendorf, De jure naturae II, Kap. 3, § 5, S. 133 -135; Grotius, De Iure Belli ac Pacis, Buch 1, Kap. 1, X., 1., S. 50, passim. 13 CS I I 6 (297), H.h. (vgl. auch CS I I 11 [313]; Émile IV 556). 14

Zur Diskussion um Rousseaus Verhältnis zum Naturrecht vgl. etwa Derathé, Rousseau et la science politique, S. 151-171 m.w.N.; Forschner, Rousseau, S. 68-89 m.w.N.; Melzer, Natural Goodness, S. 128-142 m.w.N. 15 Dsl 175. *

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2. Teil: Freiheit ohne Recht

Subjekt bemüht sich instinktiv um die Realisierung seiner ursprünglichen Regungen, von denen Rousseau ausdrücklich betont, daß sie „der Vernunft vorausliegen ( . . . ) . " 1 6 Das geistige Vermögen des prähistorischen Menschen ruht; (vernünftiges) Denken oder gar Begriffe von Metaphysik sind ihm fremd. 17 Damit nun die historische Entwicklung der Vernunft beginnen kann, muß die in sich geschlossene, selbstgenügsame Existenz des Subjekts von außen aufgebrochen werden. Rousseau hält dann auch mit Blick auf situative Veränderungen in der Geschichte fest, „daß sich bei allen Nationen der Welt die Fortschritte des Geistes präzise nach den Bedürfnissen bemessen haben, welche die Völker von der Natur erhalten oder denen sie die Umstände unterworfen hatten ( . . . )." 1 8 Die Systematik des rationalen Vermögens ist Produkt eines zunehmenden Konkurrenzkampfes mit den (anderen) Tieren, in dessen Kontext der Mensch zunächst durch stete Konfrontation mit gleichartigen Konfliktsituationen eine bestimmte Vorstellung erwirbt. Tritt zu dieser Vorstellung eine weitere hinzu, dann wird die neue Vorstellung auf Ähnlichkeiten mit der schon bekannten untersucht, mithin: verglichen. 19 Dieser Vorgang, der dem ursprünglichen Subjekt unmöglich war 2 0 und der jetzt noch „fast ohne darüber nachzudenken" geschieht, etabliert die Einsicht in die Existenz von Relationen („groß", „klein", „stark", „schwach" o.ä.). Das Ergebnis des Vergleichsvorgangs initiiert nun eine weitere, schon komplexere geistige Operation. Rousseau nennt sie „eine Art von Reflexion, oder vielmehr eine mechanische Klugheit ( . . . )." 2 1 Das Subjekt leitet aus der Erkenntnis der bestehenden Unterschiede zwischen seiner und der Konstitution der anderen Tiere etwa: schwächer, aber viel gewandter 22 - die notwendigen Maßnahmen für seine eigene Erhaltung ab. 23 Rousseau faßt diesen Prozeß abstrakt so zusammen: „Das Nachdenken geht aus dem Vergleich von Vorstellungen hervor, und die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen bewirkt diese Vergleiche." 24 Die Entwicklung gewinnt eine neue Qualität, als das familiäre Zusammenleben der Menschen zur Gewohnheit wird: „Durch das viele Einander-Sehen kann man es nicht mehr entbehren, einander immer wieder zu sehen."25 So entsteht eine erste Form von psychischem Bedürfnis, das die Basis für die (lebhaften) seelischen Leidenschaften bildet (Gattenliebe, Elternliebe). Das leidenschaftlich Angestrebte nun 16 Dsl 57 (vgl. auch Dsl 145). π Vgl. nur Dsl 57, 89, 107, 115 f., 125, 129, 139, 149, 177, 291, 367; FP X V I 278; Emile V 817. is Dsl 109. 19 Vgl. Langues IX 187; Beaumont 525; Dsl 177. 20 Vgl. Dsl 155. 21 22 23 24 25

Dsl 177. Vgl. Dsl 85. Vgl. Dsl 177, 179; Langues IX 186. Langues IX 186, H.h. (vgl. auch Emile IV 553, 556). Dsl 187 (vgl. auch Dsl 183).

3. Kap.: Recht und Herrschaft

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wird zum Gegenstand verstärkter Erkenntnisbemühungen, die das rationale Vermögen des Subjekts weiter ausbilden. Rousseau hat die Auswirkung der Leidenschaften auf die Genese der Vernunft so formuliert: „Durch ihre Aktivitäten vervollkommnet sich unsere Vernunft. Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen begehren; und es ist unmöglich zu begreifen, weshalb einer, der weder Begehren noch Besorgnisse hätte, sich die Mühe geben sollte nachzudenken."26 Schließlich zieht Rousseau Bilanz: „Alle unsere Fähigkeiten wären nun also entwickelt ( . . . ) , die Vernunft aktiviert und der Geist beinahe an der Grenze der Vollkommenheit angelangt, deren er fähig ist." 2 7 Der historische Ort dieser Bilanz ist der Zustand sozialer Ungerechtigkeit und psychisch-moralischer Deformation vor dem Übergang in die rechtlich verfaßte bürgerliche Gesellschaft. Hier, so scheint es, ist nun die Stunde der Vernunft gekommen. Doch die zitierte positive Formulierung täuscht über die wahre Leistungsfähigkeit des Vermögens in diesem Stadium menschlicher Existenz hinweg. „Von allen Fähigkeiten des Menschen entwickelt sich die Vernunft, die sozusagen eine Zusammenfassung aller anderen ist, am schwierigsten und spätesten"28, heißt es mit Blick auf die Ontogenese, und dieser Befund hat seine Entsprechung in der Gattungsgeschichte.29 Rousseau weiß: Die Entfaltung der Rationalität beansprucht das Prinzip reziproker Vervollkommnung, das die Genese des Menschen substantiell seit dem Beginn der (sog.) société naturelle vorantreibt, bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Erst wenn das betreffende Volk geschichtlich (relativ) „alt", erst wenn die Verbindung zwischen den Menschen faktisch und institutionell unaufhebbar geworden ist, kurz: erst in der bürgerlichen Gesellschaft selbst kommt die Vernunft vollständig zu sich. Rousseau hat dann auch deutlich ausgesprochen, daß vor der Gründung der rechtlich verfaßten Gemeinschaft „die menschliche Vernunft noch nicht fortgeschritten genug war, um durch Maximen der Weisheit die Naturtriebe zu ersetzen." Mit diesem Befund wird der behauptete Zusammenhang von subjektiver rationaler Fähigkeit und gelingender, weil vernünftig regulierter Interpersonalst gleichsam historisch unterlaufen. Lakonisch kommentiert Rousseau vor dem Hintergrund der skizzierten Argumentation das etablierte Modell der Aufklärung: „Was präzise bedeutet, daß die Menschen für die Errichtung der Gesellschaft Einsichten aufgewendet haben müssen, die sich erst mit viel Mühe ( . . . ) im Schöße der Gesellschaft selbst entwikkeln." 30 Rousseau zielt mit diesem Entwurf auf den nachlässigen Umgang mit dem letztlich präsupponierten Vernunftvermögen des Subjekts in den gedanklichen Modellen der Naturrechtsschule. Man hat diesen Umgang treffend ironisiert in der Beschreibung, es komme stets „in der Spätphase der kompetitiven Gesellschaft des 26 27 28 29 30

Dsl 107. Dsl 207. Emile II 205 (ähnlich Émile V 817; NH V 3 [589 f.]). Vgl. Beaumont 525 f.; FP II 213 (folgendes Zitat ohne Nachweis ebd.). Dsl 55.

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2. Teil: Freiheit ohne Recht

Naturzustandes zu der berühmten Krisis und Katharsis aller Sozialvertragstheorien: Die in unübersehbare Zwiste verstrickten Menschen erkennen plötzlich, daß es so nicht weitergehen könne; die wie ein ,Deus ex machina4 hervorbrechende Vernunft hebt die auf einem Tiefpunkt angelangten zwischenmenschlichen Beziehungen auf eine neue höhere Stufe des Zusammenlebens im Staate."31 Rousseau weiß es besser: Die Vernunft steht für das soziale Projekt nicht zur Verfügung, denn sie ist nur ein spätes historisches Phänomen. Diese Einsicht aber bedingt gleichsam eine gedankliche Umkehrung der bis dahin gültigen Systematik. Rousseau hat das am Beispiel des Eigentums demonstriert. In der Ackerbaugesellschaft entsteht mit der Bearbeitung des Bodens das Eigentum, und aus ihm folgen, „war es einmal anerkannt, die ersten Regeln der Gerechtigkeit. Denn um jedem das Seine zu geben, muß jeder etwas haben können ( . . . ) . " 3 2 Der etablierte Grundsatz des cuique suum degeneriert in dieser Darstellung zu einem Produkt der Geschichte, das in der Retrospektive des Chronisten in abstracto stets existiert hat 33 , sich auf der konkreten Ebene historischer Wirklichkeit aber als Element einer Kategorie offenbart, die zunächst nicht einmal gedacht werden kann. „Regeln der Gerechtigkeit" sind ohne die Fähigkeit vernünftiger Einsicht nicht nur nichtig, sie sind in der Sphäre des Menschlichen überhaupt nicht. bb) Doch noch ist die Argumentation nicht vollständig. Geht das Erlebnis gelingender Sozialität in der société naturelle den Menschen auch unwiederbringlich verloren, so eröffnet doch die Vernunft in abstrakter Betrachtung die Chance, den sozialen Verband neu zu organisieren und so den Zustand der Ungerechtigkeit zu überwinden. 34 Welche Folgen also hat es, wenn sich das Subjekt in der aktuellen Gesellschaft auf sein rationales Vermögen besinnt? In der Darstellung der Überlegung im Status allseitigen Krieges auf der Ebene des realen historischen Prozesses wird zunächst auf jede Differenzierung verzichtet: „Es ist nicht möglich, daß die Menschen über eine solch elende Lage und über das Unglück und die Not, von denen sie bedrückt wurden, nicht am Ende Reflexionen angestellt haben."35 Das Erlebnis einer ungerechten sozialen Verfassung macht die Notwendigkeit einer Reorganisation der menschlichen Beziehungen evident: Alle „hatten ( . . . ) genügend Vernunft, um die Vorteile einer politischen Einrichtung zu ahnen ( . . . ) . " 3 6 Nach welchen Vorschriften aber muß das System der Gesellschaft angelegt sein, damit es gelingende Existenz ermöglicht? Hier kommen nur die Regeln des Naturrechts in Betracht, doch Rousseau stellt fest, daß ihre Anwendung an der unterschiedlich entwickelten Fähigkeit zu vernünftiger Erkenntnis scheitert: Weil den durchschnittlichen Menschen die wahre Einsicht in die Sphäre 31

Euchner, Naturrecht und Politik, S. 195. 32 Dsl 201. 33 Vgl. CS-M I I 4, OC ΙΠ 329 f.; Émile IV 584; Rêv. IV 683. 34 Vgl. Dsl 57. 35 Dsl 213 (H.h.). 36 Dsl 217 f.

3. Kap.: Recht und Herrschaft

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der Gerechtigkeit verschlossen bleibt, gelingt es dem klugen Reichen, „ihnen andere Maximen einzuflößen ( . . . ) , die für ihn ebenso günstig wären, wie das Naturrecht ihm widrig war." 37 Resultat dieses Unternehmens ist dann die ungerechte Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft, ein Zustand, der gerade „der Vernunft ( . . . ) entgegengesetzt"38 ist. Kann die genannte konstitutionelle Schwäche des Subjekts allein mit dem Stand des historischen Prozesses erklärt werden? Rousseau bezweifelt die etablierte Behauptung, daß heute die Einsicht in die Prinzipien des natürlichen Rechts „leicht" zugänglich ist, daß diese „ganz offensichtlich" 39 sind. Er bezeichnet das Wissen um den Menschen als die „am wenigsten fortgeschrittene von allen ( . . . ) Kenntnissen" 40 und bestreitet die Möglichkeit, die wahre Natur des Subjekts aufzudecken. 41 Er sieht: Unter der dominierenden Ebene der künstlichen Existenz ist das Wesen des Menschen so verborgen, daß zu seiner Freilegung der „Aristoteles und Plinius unseres Jahrhunderts" 42 bemüht werden müßte. Doch selbst wenn eine Verständigung über die Prinzipien möglich wäre, die dem Naturrecht zugrundeliegen, könnten dann daraus wirklich taugliche Regeln der Gerechtigkeit abgeleitet werden? Müssen nicht sogar die Vertreter dieser Systematik einräumen: „ ( . . . ) letztere [„Konklusionen"; Verf.] können manchmal eindeutiger, manchmal weniger eindeutig aus den Prinzipien deduziert werden, einige stehen denselben näher, andere ferner"? 43 Verlangt nicht die Einsicht in die Regeln der Gerechtigkeit eine kaum zu leistende „Reihe höchst abstrakter Schlußfolgerungen" 44? Und selbst wenn diese Hürde zu bewältigen wäre, ist nicht zur Umsetzung der Regeln die Fähigkeit notwendig, die Maximen der eigenen Handlung einem Universalisierungsprozeß zu unterziehen?45 Spätestens an diesem Punkt muß das durchschnittliche Subjekt einfach scheitern. Rousseau fragt: „In Anbetracht dessen, daß die Kunst, auf diese Weise seine Ideen zu verallgemeinern, eine der schwierigsten und spätesten Übungen des menschlichen Verstandes ist, wird der durchschnittliche Mensch jemals imstande sein, aus dieser Art nachzudenken die Regeln seines Verhaltens zu gewinnen ( . . . )?" 4 6 Der Akt vernünftiger Einsicht in die Gebote des Naturgesetzes, der im naturrechtlichen Lehrgebäude die Sphäre abstrakt feststehender Gerechtigkeit mit der 37 Dsl 215. 38 D s l 261 (vgl. auch D s l 221).

39 Pufendorf, 40 Dsl 43.

De jure naturae II, Kap. 3, § 15, S. 148 (Übersetzung Verf.).

41 Dsl 69. 42 D s l 49. 43 Pufendorf, Elementorum jurisprudentiae I, Definitio XIII, § 16, S. 183 (Übersetzung Verf.). 44 D s l 115. 45 Vgl. zur oben zitierten „Goldenen Regel" in diesem Kontext etwa Watties, Golden Rule, S. 122-140; Wimmer, Universalisierung, S. 254-295. 46 CS-M 12, OC ΙΠ 286 f. (vgl. auch Émile IV 482,494, 527 f.; CS I I 7 [302 f.]).

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2. Teil: Freiheit ohne Recht

menschlicher Existenz verbinden und handlungsleitend wirken soll, wird in dieser Vorstellung zum Privileg einiger weniger. Rousseau hat diese Sichtweise schon vor Augen, wenn er in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Naturrecht ironisch festhält, „daß es unmöglich ist, das Gesetz der Natur zu verstehen und folglich ihm zu gehorchen, wenn man nicht ein sehr großer Räsoneur und ein tiefer Metaphysiker ist ( . . . )." 4 7 Die Universalität eines Vermögens, das sich in jedem einzelnen in gleicher Weise manifestiert und ihm die Einsicht in die Regeln gerechten Verhaltens vermitteln kann, wird hier schlicht geleugnet. „ ( . . . ) die erhabenen Begriffe des Gottes der Weisen, die sanften Gesetze der Brüderlichkeit, die er uns auferlegt, die sozialen Tugenden der reinen Seelen, welche die wahre Anbetung darstellen, die er von uns verlangt, werden der Menge stets entgehen"48, lautet in theologischer Reformulierung der Befund, der einen Keil treibt zwischen die „blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie w i l l " 4 9 , auf der einen Seite, und den wenigen genialen Denkern, die sich durch das Vermögen einer „erhabenen Vernunft" 50 auszeichnen, auf der anderen. Am Ende geht Rousseau sogar die Vorstellung einer graduell unterschiedlichen Teilhabe an einem einheitlichen Vermögen nicht weit genug. Er ist bereit, die Vernunft partiell zu subjektivieren: „Bis zu einem bestimmten Punkt gibt es allgemeine Grundsätze, eine allgemeine Evidenz, und überdies hat jeder seine eigene Vernunft, die ihn bestimmt." 51

b) Intellekt und Natur Die Gebote des Naturgesetzes existieren, doch sie sind für die Menge nicht zu erkennen und allein deshalb wirkungslos. Dieses Ergebnis erübrigt eigentlich eine Aufarbeitung des Naturrechtsproblems unter normativen Gesichtspunkten52, doch 47 D s l 5 3 f. ( v g l . auch D s l 5 5 , 3 6 5 ) .

48 C S - M I 2, OC III 285.

49 CS II 6 (300). so Vgl. etwa Dsl 25, 151, 277; CS I I 7 (303). 51 d'Alembert 343. 52 Rousseau beteiligt sich dabei gegen das Vorurteil, er operiere mit einem unvermittelten, der Aufklärung unbekannten Dualismus der Vernunftbegriffe (so Fetcher, Rousseaus politische Philosophie, S. 81 f.; Steinvorth, Stationen der politischen Theorie, S. 98) lediglich am allgemeinen Versuch, im Zuge einer Rehabilitation des Materiellen den traditionell vom Sensiblen völlig unabhängigen, gleichsam abstrakt operierenden Intellekt gegen die sinnlich gebundene ratio auszuspielen und damit die Naturalisierung (Güte) der Vernunft zu realisieren. Wenn Rousseau dennoch auch hier in eine Gegnerschaft zur Aufklärung gerät, dann liegt das weniger an der Konsequenz, mit der das Natürliche rational genannt, als an der Bedingungslosigkeit, mit der die natura-ratio-Gleichung über eine variable Bestimmung des Natürlichen in den Dienst einer historisch evozierten, anthropologisch oder politisch interessierten Problemlage gestellt wird. „Natur" und „Intellekt" nämlich können nach Bedarf auch die Kategorien besetzen, die der Aufklärung in ihrer Fixierung auf die eine Natur sakrosankt erscheinen. Das Verhältnis von Vernunft und Leidenschaft vor der Norm der Natur realisiert sich bei Rousseau daher in einer kaum auf den Begriff zu bringenden Partikularität (vgl. näher Bürge-

3. Kap.: Recht und Herrschaft

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Rousseau ist nicht bereit, die Demontage des aufklärerischen Konzepts auf halbem Wege abzubrechen. Wird in der Rekonstruktion geschichtlicher Faktizität das natürliche Gesetz noch als ein (unerreichbares) Gut (eben Natur) präsupponiert, so zeigt die fiktive Idealisierung des handelnden Subjekts53, daß eine ernst genommene menschliche Historizität auch die positive Bewertung des vernunftrechtlichen Gebots beeinflussen muß. aa) Im Genfer Manuskript des Contrat social wird deutlich, daß die Normen der loi naturelle im geschichtlichen Prozeß niemals eine Chance auf Umsetzung hatten. So heißt es über das Studium der Phylogenese: „ ( . . . ) wir werden bemerken, daß ( . . . ) die Begriffe des natürlichen Gesetzes, das man besser das Gesetz der Vernunft nennen müßte, sich nur zu entwickeln beginnen, wenn die vorherige Entwicklung der Leidenschaften all seine Vorschriften kraftlos macht." 54 Rousseau sieht ein: Die Regeln der Gerechtigkeit kommen gewissermaßen „zu spät". 55 Sie werden erkannt und geliebt, aber sie werden nicht gelebt. 56 Für den Betrachter nun tritt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Unordnung die mangelnde Realisierung vernunftrechtlicher Vorschriften intuitiv als Abfall von der rationalen Rekonstruktion der bonté naturelle auf: Die Leidenschaften, so scheint es, ersticken die in der Vernunft transportierte Güte. Rousseau bestätigt diesen Eindruck zunächst. „ ( . . . ) die Gerechtigkeit spricht, und die Leidenschaften handeln" 57 , erklärt er und macht dieses Verhalten zum Schicksal der Gattung: „Es ist das Los der Menschheit, daß die Vernunft uns das Ziel [die Gerechtigkeit; Verf.] zeigt und die Leidenschaften uns davon entfernen." 58 Die ahistorische Pauschalierung wird dabei in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der geschichtlichen Analyse korrigiert: Die verderblich handelnde Leidenschaft ist jetzt stets „ein sinnliches und handgreifliches Interesse, das sich allein auf unser materielles Wohlergehen bezieht, auf das Vermögen, die Reichtümer" 59, kurz: der „Eigennutz" (der amour propre). 60 lin, La philosophie de l'existence, S. 261-268; Kondylis, Aufklärung, S. 335-342; Schinz, La pensée de Rousseau, S. 231 -236). 53 Diese Perspektive wird in der Figur des „homme indépendant" (CS-M I 2, OC III 285) personifiziert. 54 CS-M I 2, OC III 284. 55 Vgl. Dsl 57 mit dem Hinweis von Meier, Dsl (Kommentar), S. 57, Anm. 64, „tardif (OC III 126: „tardives leçons de la Sagesse") bedeute bei Rousseau auch oft „zu spät". 56 Wenn wir aber „das Böse, das uns nützt, dem Guten vor[ziehen], das uns die Natur zu lieben befiehlt" (d'Alembert 356), dann bleibt die menschliche Seele nicht frei von innerer Spannung. So ist dann auch in Rousseaus zweiter Rekonstruktion der Geschichte der moralische Zwiespalt des Subjekts das grundlegende Kennzeichen seines Unglücks. Rousseau hat das an sich selbst (vgl. Beaumont 501) und an der Person des savoyischen Vikars illustriert: Bevor dieser wieder zum Glück in der inneren Einheit (vgl. Émile IV 543, 544) findet, erlebt er einen Zustand schwerer seelischer Zerrissenheit. Rückblickend charakterisiert ihn der Vikar in Anlehnung an die biblische Formulierung mit den Worten, er habe „das Gute geliebt, das Böse getan, immer im Widerspruch zu mir selbst" (Émile IV 595). 57 Lettre à Moultou (07/06/1762), Korresp. 214. 58 Narcisse 150. 59 Lettre à d'Offreville (04/10/1761), CC 9 (1969), Nr. 1500, S. 143.

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2. Teil: Freiheit ohne Recht

Aus der Perspektive des historischen Prozesses muß also die naturalisierte Vernunft (ratio) die künstliche Leidenschaft an wahre menschliche Disposition erinnern. Diese Verhältnisbestimmung allerdings wird in Rousseaus ausdrücklicher Zusammenfassung des fingierten Naturrechtsproblems keineswegs bestätigt. So heißt es im Brief an Mirabeau: „Nehmen wir aber einmal an, diese ganze Theorie von den Naturgesetzen sei doch vollkommen evident, selbst in der Anwendung, und so klar, daß sie sich jedermann erschließt - wie können Philosophen, die das menschliche Herz kennen, dieser Evidenz soviel Macht über die Handlungen der Menschen einräumen, als wüßten sie nicht, daß jeder sich äußerst selten nach seinem Verstand richtet und häufig nach seinen Leidenschaften." 61 Hier wird nun in der Darstellung der Dichotomie von Vernunft und Emotion für die Leidenschaft Partei ergriffen: Sie (allein) kann sich auf einen Sitz in der Natur des Menschen („Herz") berufen. Die gleiche Auffassung ist erkennbar, wenn an anderer Stelle die Regeln der Vernunft als bloße Produkte des Intellekts ausgewiesen und gegenüber der Leidenschaft (eben Natur) abgewertet werden. Rousseau macht klar, daß ein Handlungsmotiv „uns nicht fremd sein [darf], wenn es uns engagieren soll ( . . . ) . " 6 2 Das Prädikat der „Vertrautheit" (Natur) aber kommt nicht einmal der im sinnlichen instinct divin (Gewissen)63 verankerten ,JJebe zur Ordnung" zu, die als „rein spekulative Anschauung"64 firmiert, und schon gar nicht der abstrakt erkennenden raison, die mit typisch distanzierenden Begriffen wie „kalt" 6 5 , „frostig" 66 , „grundsatzlos"67 oder „allein ( . . . ) nicht aktiv" 6 8 beschrieben wird. Rousseau erklärt: Gesucht ist ein „Gefühl, das in mir meinem Eigeninteresse die Waage halten könnte ( . . . ) . " 6 9 Die naturwüchsige, anthropologisch unhintergehbare Selbstfixierung des Subjekts verweist bei der Frage nach einem Korrektiv auf sich selbst zurück und realisiert die Einsicht in das Monopol emotional fundierter Verhaltenssteuerung 70: „Die Selbstliebe [amour de soi] ist das ( . . . ) einzige Motiv, das die Menschen zu handeln antreibt." 71 Nun instrumentalisiert Rousseau aber die eigene Aussage, die Quelle auch der künstlichen Leidenschaften sei natürlich 72 , inθο Vgl. Pologne XI618 f.; CS-M 12, OC ΙΠ 283. 61 Lettre à Mirabeau (26/07/1767), Korresp. 342. 62 Lettre à d'Offreville (04/10/1761), CC 9 (1969), Nr. 1500, S. 143. 63 Vgl. Emile IV 593, OC IV 600. 64 Lettre à Carondelet (04/03/1764), CC 19 (1973), Nr. 3166, S. 198. 65 Vgl. Émile IV 657. 66 Vgl. NH IV 12(514). 67 Vgl. Émile IV 594. 68 Émile IV 653 f. 69 Lettre à Carondelet (04/03/1764), CC 19 (1973), Nr. 3166, S. 198 (H.h.). 70 Vgl. Émile IV 665; NH IV 12 (515). 71 Lettre à Carondelet (04/03 /1764), CC 19 (1973), Nr. 3166, S. 199. 72 Vgl. Émile IV 441.

3. Kap.: Recht und Herrschaft

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dem er im aktuellen Konflikt zwischen Vernunft und Emotion die letztere an die unstreitig sensible (wahre) Natur des Subjekts bindet und damit das Artifizielle als ein Ursprüngliches redefiniert: „Der Mensch ist ( . . . ) nur ein fühlendes Wesen, das einzig und allein seine Leidenschaften beim Handeln befragt ( . . . )." 7 3 Auf diese Weise kann dann die normative Differenz zwischen den historischen Formen der Selbstfixierung ausdrücklich nivelliert werden: „Die einzige dem Menschen natürliche Leidenschaft ist die Selbstliebe oder, in weiterem Sinn, die Eigenliebe..