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German Pages 340 [342] Year 2019
Frank Ursin
Freiheit, Herrschaft, Widerstand Griechische Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.)
Alte Geschichte Franz Steiner Verlag
Historia – Einzelschriften 255
Frank Ursin Freiheit, Herrschaft, Widerstand
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen, Erfurt |
Mortimer Chambers, Los Angeles | Mischa Meier, Tübingen | Bernhard Linke, Bochum | Walter Scheidel, Stanford Band 255
Frank Ursin
Freiheit, Herrschaft, Widerstand Griechische Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.)
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12163-7 (Print) ISBN 978-3-515-12166-8 (E-Book)
DANKSAGUNG Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2016 an der Philosophischen Fakultät I der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verteidigten Dissertation im Fach Alte Geschichte. Ich möchte zuerst den Gutachtern Prof. Angela Pabst und Prof. Stefan Pfeiffer, sowie Prof. Florian Steger als Mitglied des Promotionsausschusses danken. Durch Diskussionen und Anregungen zu der vorliegenden Arbeit beigetragen haben in alphabetischer Reihenfolge Dr. Thomas Brüggemann, Dr. André Bünte, Stefanie Däne, Dr. Christian Fron, Dr. Alexander Free, Dr. Marius Gerhardt, Jan Köster, Prof. Andreas Mehl, Prof. Christian Mileta, Dr. Daniel Syrbe und Corinna Willkommen. Insbesondere bin ich dankbar für die (wenn auch kurzen, aber ergiebigen) Gespräche mit Prof. Kurt Raaflaub, Prof. Tim Whitmarsh, Prof. Tønnes Bekker-Nielsen, Prof. Helmuth Flashar, Prof. Kaja Harter-Uibopuu, Prof. Helmut Halfmann, Prof. Aloys Winterling und Prof. Claudia Tiersch. Tamara Dijkstra hat mir dankenswerterweise eines ihrer Manuskripte vor dem Druck zur Verfügung gestellt. Ich bin Prof. Alexander Weiß zu Dank verpflichtet, weil er mich als Erster im Rahmen eines Seminars zu Athen in der römischen Kaiserzeit mit den kaiserzeitlichen Griechen in Berührung gebracht hat. Prof. Angela Pabst gab mir die Gelegenheit, anschließend meine Studien des kulturellen Austauschs zwischen Griechen und Römern zu vertiefen. Dr. Albrecht Klose ist im positiven Sinn verantwortlich dafür, dass mich die Geschichtswissenschaft ergriffen hat. Der Gerda Henkel Stiftung spreche ich nachdrücklich meinen Dank aus, da sie das Dissertationsprojekt mit einem Promotions-Stipendium großzügig gefördert hat. Prof. Kai Brodersen und den weiteren Herausgebern der Historia Einzelschriften danke ich für die Aufnahme in die Reihe. Das Literaturverzeichnis hat Frau Olga Polianski akribisch durchgesehen. Die Krone des Dankes kommt, wenn nicht meinen Eltern aufgrund unendlicher Unterstützung, schließlich meiner Frau zu, die nie aufhörte, mich vom Aufhören abzubringen. Ich widme die Arbeit Rudolf Neupert. Ulm, Juni 2018
Frank Ursin
INHALTSVERZEICHNIS 1
Einleitung .................................................................................................... 1.1 Fragestellung ...................................................................................... 1.2 Forschungsstand ................................................................................. 1.3 Quellen ............................................................................................... 1.4 Vorgehen ............................................................................................. 1.5 Aufbau der Untersuchung ..................................................................
9 12 16 22 32 36
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Methodische Vorüberlegungen .................................................................... 2.1 Identitätskonzepte in Forschung und Antike ...................................... 2.2 Identitätskonflikte ............................................................................... 2.3 Differenzierung der Griechen ............................................................. 2.4 Erinnerungskultur, Vergangenheitsbezüge und Defizienzerfahrung ......................................................................
38 41 46 60
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Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘ ............................................... 3.1 Defizienzerfahrung durch Vergangenheitsbezüge .............................. 3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft .............................................. 3.3 Griechischer Freiheitskampf .............................................................. 3.4 Alternative Erinnerungskultur ............................................................ 3.5 Aristides’ Panathenaïkos als Einlösung alternativer Erinnerungskultur? ............................................................................. Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart ........................ 4.1 Erinnerungskultur im römischen Achaia ............................................ 4.1.1 Vergangenheitswissen der ‚breiten Masse‘ ............................. 4.1.2 Lokaltraditionen ...................................................................... 4.1.3 Feste ........................................................................................ 4.1.4 Sophistischer Kontext ............................................................. 4.1.5 Römische Kritik an griechischer Erinnerungskultur ............... 4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen .............................................. 4.2.1 Weltalter und goldene Zeit ...................................................... 4.2.2 Weltreichslisten ....................................................................... 4.2.3 Periodisierungen griechischer Geschichte .............................. 4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche ...... 4.3.1 Eskapismus als Antwort auf politische Defizienzerfahrung? .. 4.3.2 Ruinen als Zeichen materieller Defizienzerfahrung ................ 4.3.3 Der Umgang mit der Zerstörung Korinths .............................. 4.3.4 „Zu meiner Zeit aber hat die Schlechtigkeit …“ (Paus. 8,2,5) .............................................................................
68 77 77 80 92 96 101 104 105 105 108 113 115 121 122 122 126 138 151 153 158 165 170
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Inhaltsverzeichnis
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Freiheit ........................................................................................................ 5.1 Die politische Deutung von Neros Freiheitserklärung ....................... 5.2 Argumente gegen den Freiheitskampf ................................................ 5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias ............. 5.3.1 Auswahlkriterien des Erinnerungswürdigen ........................... 5.3.2 Erinnerungsorte des Freiheitskampfes .................................... 5.3.3 Historische Exkurse ................................................................. 5.4 Philopoimen als letzter Grieche ......................................................... 5.5 Vermeintliche Veränderungen des Freiheitsbegriffes .........................
180 181 186 191 192 199 201 210 214
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Herrschaft .................................................................................................... 6.1 Lernen durch Scheitern ...................................................................... 6.2 Tyche vs. Arete ................................................................................... 6.3 Kulturgriechen und Herrschaftsrömer ................................................ 6.4 Umwertungen in der Stärken- und Schwächendebatte ....................... 6.5 Die eigenen Anführer als Verräter an der Heimat ..............................
218 219 223 233 250 257
7
Widerstand ................................................................................................... 7.1 Diskursiver Widerstand und kritische Distanz ................................... 7.2 Gewaltsamer Widerstand .................................................................... 7.2.1 Staseis und die Grenzen der griechischen Exekutive .............. 7.2.2 Militärischer Kontext .............................................................. 7.2.3 Sozial motivierte Aufstände ....................................................
265 266 273 278 282 284
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Ergebnisse ................................................................................................... 287
9
Abkürzungen ............................................................................................... 293
10 Editionen ..................................................................................................... 295 11 Übersetzungen und Kommentare ................................................................ 298 12 Literaturverzeichnis ..................................................................................... 301 13 Register ........................................................................................................ 13.1 Namen ................................................................................................ 13.2 Sachen ................................................................................................ 13.3 Stellen .................................................................................................
333 333 335 337
1 EINLEITUNG Die antiken Griechen entwickelten schon früh kollektive Geschichtserinnerungen mithilfe fundierender Mythen wie dem Trojanischen Krieg, Stadtgründungssagen oder öffentlich vorgetragenen Gefallenenreden, in denen beispielsweise Athens Freiheitskampf bis auf die Auseinandersetzungen mit den Amazonen rückprojiziert wurde.1 Hinzu kamen später die Historiker der Perser- und Galater-Kriege, die Polybios lobt, weil sie durch ihre Darstellung einen großen Beitrag zu den Kämpfen der Hellenen um die Freiheit geleistet haben. Beim Kampf für Heimat und Vaterland solle man nämlich nach Polybios die vergangenen Triumphe vor Augen haben und sich nicht durch die Machtmittel der Barbaren beeindrucken lassen.2 Bei Polybios wird zweierlei angedeutet, was sich wie ein roter Faden durch die griechische Erinnerungskultur zieht: Einerseits scheint ein kanonisches Vergangenheitswissen vorausgesetzt zu sein, das andererseits auch flexibel mit zuweilen synchron konkurrierenden Deutungen aktuellen Legitimationsansprüchen untergeordnet werden konnte.3 Aufgrund dessen hat die von Assmanns Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ vorausgesetzte Kanonbildung griechischer Erinnerungskultur schon immer Probleme bereitet.4 Im griechischen Kontext ist es daher erklärungsbedürftig, warum in bestimmten historischen Situationen eine bestimmte Auswahl des Vergangenheitswissens aktualisiert und welche Themen, Personen und Orte erinnert werden. Besonders interessant ist in diesem Kontext die griechische Welt der römischen Kaiserzeit, weil die Erinnerung an den griechischen Freiheitskampf mit der römischen Eroberung 1
2 3 4
Zur Homererinnerung, die bis in die Zeit der Zweiten Sophistik und darüber hinaus reicht, vgl. Spickermann 2009. Zeitlin 2001. Seeck 1990. Kindstrand 1973. Zu den Gefallenreden vgl. Gehrke 2001, 301–303. Prinz 1997. Loraux 1986. Zu den Stadtgründungssagen und ihrer Relevanz für die Griechen während der römischen Kaiserzeit vgl. Scheer 1993. Als neuere Darstellung der griechischen Geschichte unter dem zentralen Aspekt des Freiheitskampfes vgl. Schmidt-Hofner 2016. Vgl. Polyb. 2,35. Vgl. Osmers 2013 zur Verargumentierung von Geschichte und der Verwendung von Vergangenheitsbezügen in der Kommunikation zwischen Poleis bereits im klassischen Griechenland. Vgl. Grethlein 2003, 441 f. contra Assmann 2007, 293. Auch wenn Assmanns Applikation seines Konzeptes des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ auf die Alte Geschichte von Teilen der Forschung kritisiert wird, sind einige seiner Überlegungen trotzdem bedenkenswert. Positiv z. B. Eckert 2016. Hingegen Walter 2004, 24 zieht den Begriff ‚Geschichtskultur‘ dem ‚kulturellen Gedächtnis‘ vor, weil er offener ist: Das Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ sei nicht auf die klassische Antike der Griechen und Römer anwendbar. Vgl. auch Jung 2006, 17 f., der Assmanns ‚kulturelles Gedächtnis‘ ebenfalls abweist, weil es nicht auf Griechenland übertragbar sei, da hier die Steuerung von Funktionsträgern der Schriftkultur wie im antiken Ägypten (dem Vergleichsmaßstab Assmanns) nicht gegeben sei. Jung 2011, 11 Anm. 4 kritisiert wiederholt die Übertragbarkeit auf andere Kulturkreise, weil Assmann vor allem von Ägpyten als Beispiel ausgeht.
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1 Einleitung
keinesfalls erloschen ist. Der chronologische Referenzrahmen der überwiegenden Mehrheit der griechischen Autoren der Hohen Kaiserzeit reicht von den Perserkriegen bis Alexander (5.–4. Jh. v. Chr.). Plutarch hielt die Perserkriege und Lukian Marathon und Demosthenes für typische Themen der Sophistenreden.5 Dies deckt sich weitgehend mit den bei Philostrat überlieferten Themen der Sophistenreden, die im Widerstand der Athener gegen Philipp II. und damit bei Demosthenes ihren Schwerpunkt haben.6 Es ließe sich also für die griechische Welt der römischen Kaiserzeit eine Kanonisierung verbindlichen Vergangenheitswissens ab dem Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts beschreiben. In chronologischer Hinsicht stellt sich allerdings die Frage, warum gerade zu diesem Zeitpunkt die Erinnerung an den Freiheitskampf derart prominent wird. Außerdem sind die Ausnahmen bei Plutarch, Pausanias und Aelius Aristides erklärungsbedürftig, weil sie den chronologischen Rahmen über Alexander hinaus bis zur Konfrontation mit den Römern bis in die hellenistische Zeit erweitern. Blickt man ins Feld der erklärenden Theorien, geht der thematischen und chronologischen Konzentration als Kanonisierung nach Assmann ein Traditionsbruch auf politischer Ebene voraus, der die Reorganisation vorbildlicher Texte in einem Kanon nach sich zieht.7 Die Frage ist nun, wo wir den Bruch zeitlich verorten müssen, der zu einer Kanonisierung des griechischen Vergangenheitswissens in der römischen Kaiserzeit geführt hat. Der kanonbildende Traditionsbruch auf politischer Ebene sei nach Assmann im Hellenismus zu suchen, was von Hose vehement bestritten wird,8 insofern sich die Idealisierung des 5. Jh. v. Chr. schon im 4. Jh. v. Chr. in der Restauration nach dem Peloponnesischen Krieg entwickelte und im hellenistischen Alexandria eher eine „Entkanonisierung“ stattfand. Das Argument ist, dass durch die Arbeit der alexandrinischen Philologen, „[…] ihre Systematisierung und Kataloge, […] die gesamte noch auffindbare griechische Literatur als Buchrolle prinzipiell zugänglich [wurde].“9 Hose verlegt die Anwendbarkeit von Assmanns Bruch-Kanonisierungs-These auf einen späteren Zeitpunkt der griechischen Geschichte. Demnach liegt erst dann ein adäquater Vergleich Griechenlands mit Ägypten und Israel vor, wenn die Erfahrung der Fremdherrschaft miteinbezogen wird, die in Ägypten und Israel den Bedarf nach einer Vergewisserung der eigenen Identität über eine Kanonisierung von Wissensbeständen erzeugte. Auch wenn die makedonische Besatzung von Chalkis, Demetrias und Korinth von den Griechen als drückend empfunden wurde,10 war die verbliebene politische Autonomie noch weitaus größer als in römischer Zeit. 5 6 7 8 9 10
Plut. praec. ger. reip. 814c. Lukian. Iupp. trag. 14. 32. Vgl. Bowie 2007, 358. Bowie 2004, 82 f.: Acht Mal nennt Philostrat Athen und Philipp oder Alexander als Thema einer Rede seiner Sophisten, sechs Mal die Perserkriege und sechs Mal den Peloponnesischen Krieg. Assmann 2007, 293. Hose 2002, 6. Hose 2002, 7: „Statt Kanonisierung, so will ich behaupten, finden wir im Hellenismus in einer vielstrebigen politischen und kulturellen Entwicklung Züge, die dem Postmodernismus unserer Tage entsprechen.“ S. u. Anm. 52 (Kap. 2.2). 50 (Kap. 3.2). 9 (Kap. 5.1).
1 Einleitung
11
Somit dürfte die Erfahrung der Fremdherrschaft seitens der Griechen erst mit der römischen Eroberung der griechischen Welt anzusetzen sein. Rekapitulieren wir die politischen Zäsuren bis zur Einrichtung der Provincia Achaia durch Augustus im Jahr 27 v. Chr., muss man beginnen mit den römischen Interventionen nach dem Dritten Makedonischen Krieg 168 v. Chr., denen die Zerstörung Korinths durch L. Mummius nach dem Achäischen Krieg 146 v. Chr. folgte. Der Achäische Bund versank daraufhin in der Bedeutungslosigkeit. Erweitert man den Blick, so muss daran erinnert werden, dass 133 v. Chr. Pergamon an Rom fiel, im Zusammenhang mit den Mithridatischen Kriegen 86 v. Chr. Athen von L. Cornelius Sulla erobert wurde und 30 v. Chr. mit Alexandria das ptolemäische Ägypten sein Ende fand. Griechenland im weiteren Sinne blieb während der spätrepublikanischen Bürgerkriege nicht unversehrt, deren große Schlachten eben hier ausgetragen wurden: Pharsalos 48 v. Chr., Philippi 42 v. Chr. und Actium 31 v. Chr. Erinnert sei außerdem an die Aktivitäten des Pompeius, Lucullus, Antonius, Cassius und Brutus im griechischen Osten. Kleinasien war in Mitleidenschaft gezogen durch die Eintreibung von Reparationszahlungen und die Verwüstungen nach den Mithridatischen Kriegen. Als Befreier Griechenlands hatte sich vorher ein Mithridates noch inszenieren können und die Allianz des Antonius mit den Ptolemäern verhieß ein griechischeres Reich als das des Augustus. Es zirkulierten sogar Orakel, die einen baldigen Fall Roms prophezeiten.11 Unter Augustus wurde indessen klar, dass die Römer nach Griechenland gekommen waren, um zu bleiben. Der Bruch, der eine Neuorientierung griechischer Identität forderte, ist mit der endgültigen Provinzialisierung Achaias anzusetzen. Insofern ist es nur folgerichtig, mit Elsner zu betonen, dass die Mythifizierung des freien Griechenlands der Vergangenheit notwendig auf der römischen Eroberung beruhte.12 Auch Whitmarsh erkennt, dass das imaginierte, freie Griechenland der Vergangenheit immer schon durch das Imperium Romanum umschrieben war und die Vergangenheitsbezüge zur Klassik erst mit der direkten römischen Herrschaft intensiviert wurden.13 Auch der Beginn des linguistischen Attizismus im 1. Jh. v. Chr. als einer Art formalen (und noch nicht inhaltlichen) Vergangenheitsbezugs wurde von der Forschung in den Zusammenhang mit dem römischen Einfluss und Literaturgeschmack gestellt.14 Damit sind die ersten Bedingungen genannt, die die Intensivierung von Vergangenheitsbezügen am Ende des 1. Jh. n. Chr. ermöglichten.15 Zwischen Augustus und Plutarch haben sich jedoch kaum Quellen erhalten, die Rückschlüsse auf die Verwendung der griechischen Freiheitstopik in dieser Zwischenzeit erlauben. Vermutlich spielte sie keine Rolle. Zwei Ereignisse, die die Intensivierung der griechischen Freiheitstopik im Medium des Vergangenheitsbezugs ausgelöst haben mögen, durchbrechen jedoch das Schweigen der Quellen. Erstens ist dies Kaiser 11 12 13 14 15
Fuchs 1964, 7. 16. Elsner 1995, 142 f. Whitmarsh 2004, 29. Hose 1999, 274–288. Dihle 1977, 162–177. Bowie 1974, 39.
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1 Einleitung
Neros Freiheitserklärung an die Griechen, die diejenige des T. Quinctius Flamininus von 196 v. Chr. am gleichen Ort (Korinth) aber unter ganz anderen historischen Bedingungen (römische Weltherrschaft) imitierte. Zweitens handelt es sich um die Rücknahme der neronischen Freiheitserklärung durch Kaiser Vespasian, die unter den Griechen tiefes Bedauern auslöste.16 Daher kreiste das politische Denken der Griechen in der Hohen Kaiserzeit – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – um die Begriffe ἐλευθερία (Freiheit, vgl. Kap. 5), ἀρχή καὶ δουλεία (Herrschaft und Knechtschaft, vgl. Kap. 6), verbunden mit dem ἀντιτείνειν (widerstehen, Widerstand, vgl. Kap. 7) gegen Fremdherrschaften.17 Mit dem Fokus der Arbeit auf diese Begriffe wird die konziliatorische Tendenz der rezenten Forschung infrage gestellt, die angefangen von Hose über Ando bis Madsen eine fortschreitende gelingende Integration der griechischsprachigen Provinzialen in die Suprastruktur des Imperium Romanum beschreibt.18 1.1 FRAGESTELLUNG Insbesondere dann, wenn Gesellschaften ihre Identität mithilfe fundierender Vergangenheitsbezüge herstellen, werden Vergangenheitsdeutungen überdurchschnittlich wichtig im Vergleich mit anderen identitätsstiftenden Faktoren, da sie formativ auf die Gegenwart wirken. Der integrale Aspekt griechischer Identität war seit den Perserkriegen gewesen, dass man das Selbstbild eines Freiheitskämpfers pflegte, der gegen Fremdherrschaften Widerstand leistete.19 Dieses Selbstbild wurde in dem Moment prekär, als die Griechen von den Römern beherrscht wurden und ihrem Widerstand sowie ihrer Freiheitsliebe unüberwindbare Grenzen gesetzt waren. Vor dem Hintergrund ihrer im Vergleich zu anderen Provinzialen des Imperium Romanum langen Tradition des Aufzeichnens und Erinnerns vergangener Ereignisse mussten die Griechen den Widerspruch zwischen ihrem historisch fundierten Selbstbild als Freiheitskämpfer mit der neuen ‚barbarischen‘ Herrschaft der Römer sinnvoll auflösen. Wie also gingen die Griechen in der römischen Kaiserzeit mit ihrer Vergangenheit um? Da nun insbesondere in post-neronischer Zeit die als Maßstab genommene und weiterhin zur Identitätsstiftung aufbereitete Erinnerung an die griechische Vergan16 17 18 19
Detailliert zur neronischen Freiheitserklärung und der Rücknahme durch Vespasian s. u. Kap. 5.1. Erste Ansätze dazu bei Nörr 1980, 12, der auf diese drei Leitthemen innergriechischer Debatten darüber, wie man sich als Grieche unter römischer Herrschaft zu verhalten habe, hingewiesen hat. Madsen/Rees 2014a. Ando 2010. Madsen 2009. Ando 2000. Eck 1999b. Hose 1994. S. u. Anm. 62 (Kap. 1.2) mit weiterer Literatur. Vgl. die Darstellung von Schmidt-Hofner 2016 unter dem Aspekt des Freheitskampfes. Zur „Entdeckung der Freiheit“ grundlegend Raaflaub 1985. Vgl. Gorgias DK 82 A 1,4 bei Philostr. soph. 493 (anstatt sich gegenseitig zu bekriegen sollten die Griechen gemeinsam gegen die Barbaren kämpfen) und Lys. 33 sowie Isokr. or. 1,144–167. 3. 7,306–317. Vgl. zur griechischen Identität als Freiheitskämpfer in der Kaiserzeit beispielsweise Aristeid. or. 26,51 und App. praef. 8 (30). Vgl. Jung 2006.
1.1 Fragestellung
13
genheit in zentralen Punkten nicht mit der Gegenwart übereinstimmte, hat dies zu kontrapräsentischen Vergangenheitsbezügen geführt. Diese betonen die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Differenz, die sich durch die Normativität der Vergangenheit als Widerspruch zur Gegenwart darstellte, forderte somit zu einer reflektierten Arbeit an der eigenen Identität heraus. Es wäre nun zu erwarten, dass die Griechen ihr Selbstbild korrigierten und das Motiv des Freiheitskämpfers durch einen anderen integralen Aspekt ihrer Identität ersetzten. Dazu gab es auch Angebote von römischer Seite, welche die griechische Kultur als παιδεία (Bildung) im kontrapunktischen Gegensatz zur Politik betonten. Dieses Angebot, das (mit Bourdieu gesprochen) den Ausfall des politischen Kapitals mit kulturellem Kapital kompensierte, wurde insbesondere – aber nicht nur – von einigen griechischen Sophisten angenommen. Jedoch lassen sich Indizien dafür finden, dass einige Griechen die Aufgabenteilung in Herrschaft für die Römer und Kultur für die Griechen gerade in der Hohen Kaiserzeit nicht mehr akzeptierten. Dabei ergab sich das Problem, dass die Erinnerungsstrategien der Griechen einerseits die hellenische Identität bewahren wollten und andererseits keinen offenen Konflikt mit den Römern beschwören durften.20 Es verschränken sich hier also Problemfelder, die sowohl Identität, Erinnerungskultur als auch Herrschaftskritik betreffen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, zu welchen Lösungen die Griechen angesichts dieser Problemkreise gekommen sind. Um die Dynamiken dieses wechselseitigen Prozesses zwischen Herrscher und Beherrschtem sichtbar machen zu können, muss untersucht werden, 1. welche Erinnerungsstrategien die Griechen in der Hohen Kaiserzeit anwandten, 2. welche thematischen Bezugspunkte ihre Vergangenheitsbezüge hatten und 3. welche Vergangenheitsdeutungen mit welcher zeitgenössischen Funktion dabei vorherrschten. Diese drei Untersuchungsbereiche lassen sich auf die Grundfrage zurückführen: Wer erinnert sich wann und wozu an welche Vergangenheit?21 Die Beantwortung dieser Fragen wird allerdings durch zwei der erwähnten Problemfelder erschwert, die Verallgemeinerungen nicht zulassen. Da die griechische Identität in der römischen Kaiserzeit hinsichtlich ihrer Begründungen in ein ethnisch-genealogisches, ein kulturelles und ein politisches Identitätskonzept unterschieden werden muss (Kap. 2.1), hat dies weitreichende Folgen für das Selbstund Fremdbild der Griechen. Es ist also zunächst zu klären, wer ‚die Griechen‘ überhaupt sind, die im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein sollen. Außerdem ist angesichts der Herrschaftssituation von einem höchst disparaten Befund hinsichtlich der Beziehung der beherrschten Griechen zu den herrschenden 20 21
Als erste Orientierung zu diesem Problem vgl. Alcock 2002, 86. Vgl. Alcock 2002, 36: „Who wants whom to remember what, and why? Whose version of the past is recorded and preserved?“ Erll 2005, 7 hält fest, dass disziplinübergreifend Einigkeit darüber besteht, dass das Erinnern zwei zentrale Merkmale besitzt: „[S]ein Gegenwartsbezug und konstruktiver Charakter. Erinnerungen sind keine objektiven Abbilder vergangener Wahrnehmungen, geschweige denn einer vergangenen Realität. Es sind subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen.“ Vgl. Erll/Nünning 2008. Connerton 2006 und Erll 2005, die einen Überblick über memory studies geben. Speziell zur Antike van Dyke/Alcock 2003. Alcock 2002. Dies. 2001, 324–328. Klein 2000 darüber, wie sich ‚Erinnerung‘ zum wissenschaftlichen Paradigma entwickelt hat.
14
1 Einleitung
Römern auszugehen, womit die Herrschaftskritik angesprochen wird. Die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschtem stellt sich nie einseitig dar, vor allem nicht, wenn ein Charakteristikum römischer Herrschaftspraxis darin bestanden hat, die provinzialen Eliten und städtischen Honoratioren – zwar in einem römischen Rahmen – jedoch aber weitgehend autonom ihre Poleis verwalten zu lassen.22 Die Mitarbeit lokaler Eliten bei der Verwaltung wurde ebenso vorausgesetzt, wie ihre Integration in die Reichsverwaltung gefördert wurde.23 Die Bürgerrechtspolitik seit dem frühen Prinzipat habe nämlich nach Eck darin bestanden, die […] Neubürger in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht aus ihren gewachsenen sozialen und politischen Bindungen herauszulösen, sie wurden vielmehr in ihren alten Zusammenhängen belassen; die Folge war ein doppeltes Bürgerrecht, auf lokaler und auf Reichsebene, mit zweifacher Loyalität – Rom und der Heimatgemeinde gegenüber.24
Auch wenn Eck betont, dass die Mehrheit der politisch-sozialen Oberschicht der Provinzialen in den Genuss dieser römischen Doppel-Loyalitäts-Politik gekommen sein soll, muss dies in seiner Undifferenziertheit nicht auch für Griechenland gelten. Will man die Extreme möglicher Reaktionen seitens der Griechen auf diese Politik abbilden, muss zwischen Kollaboration mit und Opposition gegen Rom unterschieden werden. Auch wenn diese Unterscheidung in ihrer dichotomischen Simplizität nicht die in den Quellen anzutreffende Heterogenität mit ihren vielfältigen Graubereichen abbildet, umreißt sie doch die Extreme möglicher Reaktionen auf die römischen Integrationsversuche hinsichtlich der Provinzialen, die in der constitutio Antoniniana 212 n. Chr. ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen.25 Das Verhältnis
22
23
24 25
Vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 2002, 221, der vor allem die Beziehung zwischen Statthaltern und städtischen Honoratioren im Osten des Imperium Romanum analysiert. Letztere neigten dazu, den jeweiligen Statthalter zu vereinnahmen, was ihre politische Autonomie unterstreicht. Vgl. auch Jacques/Scheid 1998, 195 mit dem Plädoyer für städtische Autonomie, die allerdings die statthalterliche Interventionsfähigkeit in Verwaltungsfragen unterschätzen, vgl. Plut. praec. ger. reip. 814e und Anm. 52 (Kap. 2.2). Vgl. auch Plin. ep. 8,24, der Maximus rät, er solle für die beherrschten Städte wenigstens den Schein der Freiheit aufrechterhalten. Zum Verhältnis von römischer Suprastruktur und lokaler Eigenverwaltung vgl. die Beiträge von Galsterer, Nörr und Horstkotte in Eck 1999a. Millar 1981 will am Beispiel von Apuleius’ Eselsroman für Macedonia und Achaia gezeigt haben, dass die römische Präsenz in Form des Statthalters als marginal zu bezeichnen ist, was allerdings mit der Wahrnehmung Plutarchs nicht übereinstimmt. S. u. Anm. 127 (Kap. 2.3). Eck 1999b, 3 spricht in diesem Zusammenhang von der „Integrationskraft und dem Integrationswillen“ Roms: „Fast alle ehemaligen Untertanengebiete hatten ihre ‚Vertreter‘ im römischen Senat und im Ritterstand. Sie nahmen Teil an der Regierung des Reiches; sie waren damit aber auch Garanten für die Loyalität der eigenen Heimat und den inneren Zusammenhalt des Imperiums.“ Eck 1999b, 2. Alle freien Bürger wurden durch Caracallas constitutio Antoniniana zu römischen Bürgern. Vgl. grundlegend Buraselis 2007, der die constitutio als „[…] einen Akt der politischen Vernunft [sieht], der die Identifikation mit dem Imperium stärkte, so den Zusammenhalt des Reiches kräftigte und es, per Saldo, mit Blick auf das im 3. Jahrhundert n. Chr. Kommende, krisentauglich machte,“ wie es Sommer 2016, Anm. 2 in seiner Rezension zum rezeptionsgeschichtlichen Band von Ando 2016 zur constitutio zusammenfasst. Sommer gibt ebd. zu bedenken, „[d]ass Caracallas Edikt unter Umständen auch gegenteilige Wirkungen haben konnte – etwa
1.1 Fragestellung
15
zwischen Herrscher und Beherrschten hat nun wiederum zusammen mit der römischen Bürgerrechtspolitik weitreichende Folgen für die griechische Identität. Wie dürfen wir uns die Situation vorstellen, wenn ein Grieche mit römischem Bürgerrecht sich für eine Reichskarriere entscheidet und der Heimat den Rücken zuwendet? Das Verlassen der Heimat könnte hypothetisch bei den Daheimgebliebenen Reaktionen provoziert haben, die in einem weiten Spektrum zwischen Bewunderung, dem Versuch der Nachahmung, Kritik am Abwandernden aufgrund seines Opportunismus und seiner Kollaboration mit einem früheren Feind bis hin zum eigenen bewussten Verbleiben in der Heimat und dem Widerstand gegen Rom und die Kollaborateure zu finden waren. Nahmen dann die Daheimgebliebenen den ‚Aufsteiger‘ überhaupt noch als einen der ihren wahr? Hatte er sich mit der Übernahme eines römischen Amtes dann nicht aus ihrer Perspektive von einem Griechen zu einem Römer gewandelt? Aus Obenstehendem wird ersichtlich, wie Fragen der Identität, der Erinnerungskultur und der Herrschaftskritik miteinander intereffizieren. Als zentral erweist sich hierbei der Problemkreis der griechischen Identität. Es wurde bereits angesprochen, dass sich dreierlei Identitätskonzepte beschreiben lassen (ethnischgenealogisch, kulturell und politisch). Um diese Unterscheidung mit Inhalt zu füllen, muss gefragt werden, woran konkret die Griechen ihre Identität knüpften. War es ein bestimmtes Bürgerrecht, eine Sprache, die gemeinsame mythische und historische Vergangenheit, eine gemeinsame Genealogie oder Abstammung, ein verbindliches Vergangenheitswissen, der gemeinsame Besuch panhellenischer Feste und Wettkämpfe, eine bestimmte Form von Bildung, ein gemeinsam geteilter Kunstgeschmack, die Abgrenzung von einem ‚Anderen‘, einem Barbaren, einem ‚Nicht-Sesshaften‘, jemandem mit einer anderen Kostform oder die Betonung irgendeines anderen Aspektes des Fremden, woran sich die griechische Ethnologie seit Alters abgearbeitet hatte? Anstatt positiv alle Aspekte griechischer Identität aufzulisten, kann auch die Gegenprobe gemacht werden mit der Frage: Was machte einen Griechen zum Römer? Oder genauer: Welche Bedingungen mussten erfüllt sein, damit ein Grieche in den Augen seiner Mitbürger den Status ‚griechisch sein‘ verliert? Wie bereits Pabst gezeigt hat, war es nicht die Annahme des römischen Bürgerrechtes, sondern im Anschluss daran das weitere politische Verhalten dieser Person, d. h. ob sie ein römisches Amt übernahm oder nicht.26 Dieser Spur soll im Folgenden nachgegangen werden, indem sowohl die durch Vergangenheitsbezüge hergestellte griechische Identität, als auch die Reflexion der Griechen auf diese Vergangenheitsbezüge vor dem Hintergrund von Identitätskonflikten analysiert werden soll.
26
durch Außerkraftsetzen der integrativen Wirkung, die die Inaussichtstellung des Bürgerrechts hatte […].“. Vgl. Pabst 2014a, 408. Das Sprechen des Lateinischen, die Abwesenheit von der Heimat und ein anderer Umgang mit der griechischen Vergangenheit sollten dazu noch ergänzt werden.
16
1 Einleitung
1.2 FORSCHUNGSSTAND Da die Forschungsbeiträge zum kaiserzeitlichen Griechenland und zu den einzelnen hier zu untersuchenden Autoren Legion sind, wird der Forschungsstand unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte der Identität und der Funktion von Vergangenheitsbezügen zusammengefasst. Nachdem die Griechen der Kaiserzeit von der Forschung zunächst lange marginalisiert wurden,27 beispielsweise Lesky und Radermacher einen Aelius Aristides abfällig als „Konzertredner“ abqualifizierten und ihm jeden Quellenwert absprachen, wollte Bengtson ihn als Quelle für die zeitgenössische Sicht eines Griechen auf das Imperium Romanum rehabilitieren.28 Whitmarsh führt die mittlerweile etablierte Rehabilitation der griechischen Literatur der Kaiserzeit auf veränderte Forschungsinteressen zurück: Es haben sich sowohl die ästhetischen Werturteile und literaturwissenschaftlichen Maßstäbe als auch die Sicht auf Sieger und Verlierer aus der Perspektive der post colonial studies gewandelt.29 Das gegenwärtige Interesse an Vergangenheitsbezügen und Erinnerungskultur30 der Griechen wurde von der älteren Forschung nicht geteilt, obwohl die Grundlinien der Quellenbefunde bereits bekannt waren. Schon Mommsen sah, dass die Griechen der Kaiserzeit […] einen Cultus der Vergangenheit ins Leben [riefen], der sich zusammensetzt aus dem treuen Festhalten an den Erinnerungen größerer und glücklicherer Zeiten und dem barocken Zurückdrehen der gereiften Civilisation auf ihre zum Theil sehr primitiven Anfänge.31
Weiterhin bemerkte er, dass das „Gedächtnis der Vergangenheit“ vorzugsweise an der alten Religion haftet und, dass der „Cultus der Stammbäume, in welchem die Hellenen dieser Zeit ungemeines geleistet und die adelsstolzesten Römer weit hinter sich gelassen haben“,32 die Griechen bestimmt habe. Mommsen diskutierte bereits Dions Rhodiakos und Plutarchs Bemerkungen in den Praecepta gerendae reipublicae mit dem schlichten Ergebnis, dass beide Autoren in der Kaiserzeit keine
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So führte Mommsen seine „Römische Geschichte“ in drei Bänden nur bis Caesar (1854–56). Obwohl er als Epigraphiker mit der römischen Kaiserzeit bestens vertraut war, wurde die Behandlung dieses Zeitraums seinerseits erst 1992 auf Grundlage von Vorlesungsmitschriften herausgegeben. 1885 erschien als Band 5 der „Römischen Geschichte“ lediglich eine Darstellung der Provinzen in der Kaiserzeit. Vgl. Bengtson 1974, 264. Vgl. Whitmarsch 2005, 1: „The Greek literary culture of the first three centuries of our era is no longer viewed as an embarrassing epilogue. […] Aesthetic values have changed: the Romantic obsession with ‚originality‘ and ‚inspiration‘ has been challenged by newer emphases on ‚creative imitation‘, and indeed (under the influence of postmodernism) the reception, replication, and intertextual refashioning of earlier literary works. Political priorities have also shifted: that Greeks of the period were under Roman occupation is now more likely to inspire sympathetic analyses of colonial politics than dismissive sniffs at the weak and decadent culture.“ Zum Konzept der Erinnerungskultur informieren Erll 2011. Erll 2010. Gudehus/Eichenberg/ Welzer 2010. Assmann 2007. Assmann 2006. Erll 2005. Bergenthum 2005. Pethes/Ruchatz 2001. S. u. Kap. 2.4. Mommsen 1894, Bd. 5, 257 f. Ebd., 261.
1.2 Forschungsstand
17
politischen Möglichkeiten mehr wie zu Zeiten des Perikles oder Alkibiades sahen.33 Anstatt einer unter vielen Senatoren zu sein, bliebe man in seiner Polis. Darum ist Hellas auch das Mutterland der heruntergekommenen inhaltlosen Ambition, unter den vielen schweren Schäden der sinkenden antiken Civilisation vielleicht des am meisten allgemeinen und sicher eines der verderblichsten.34
Zwar teilte Bowie nicht mehr Mommsens negative Bewertung der Sachverhalte, meinte aber, die griechische Literatur der Kaiserzeit repräsentiere den Versuch, der politischen Unterordnung der Gegenwart zu entkommen indem der vergangene Ruhm des freien Griechenland in Erinnerung gerufen werde.35 Bowie setzt indessen Mommsens Paraphrase von Plutarchs Praecepta gerendae reipublicae fort: Es gab keine Volksversammlungen und Hopliten mehr und die Eingriffe der Kaiser mit ihren Legaten, Prokonsuln und Legionären entsprächen nicht mehr den Verhältnissen eines Perikles oder Demosthenes. Bowie schlussfolgert: For a Greek, the paradeigmatic political animal, the contemporary balance of politics was profoundly unsatisfactory. This is, what led orators to declaim on the happier days of Marathon and Salamis and historians to forget the period after Alexander.36
Das ‚Verschweigen‘ der nachklassischen griechischen Geschichte durch die kaiserzeitlichen Griechen hat Bowie (gefolgt von Swain) zu der These inspiriert, dass die Zweite Sophistik als Ausdruck eines wiedererstarkten Hellenismus betrachtet werden muss, der die Differenz zu Rom vertieft habe.37 Die durch Vergangenheitsbezüge gestärkte griechische Identität musste demnach in Widerspruch zur römischen Herrschaft treten. Für MacMullen war die gesamte Zweite Sophistik daher potentiell anti-römisch, weil sie die griechische Identität stärkte.38 Dieser Ansatz bezieht sich auf die literarischen Texte, sowohl ihre Form und Techniken, als auch ihre Inhalte und historischen Bezugspunkte.39 Bowersock und Jones haben die Gegenposition zu diesem griechischen AntiRomanismus formuliert.40 Sie begründen ihre Position vor allem mit dem inschriftlichen Material zur Person der Sophisten und deren Rolle als Mediatoren zwischen Rom und der griechischen Welt.41 Dieser Ansatz konzentriert sich auf Gesandtschaften zum Kaiserhof und die dort erwirkten Privilegien für griechische Poleis, mithin die politische Tätigkeit der Sophisten. Ihre literarische Produktion spielt
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Ebd., 261–264. Ebd., 264. Bowie 1970. Diese Ansicht wird auch geteilt von Goldhill 2002. Schmitz 1997. Anderson 1989. Bowie 1970, 18. Bowie 1974, 208 f. Bowie 1982. Swain 1996. MacMullen 1992, 244: „[…] the so-called Second Sophistic, perfectly harmless on the surface but anti Roman in its implications, since its intent was the assertation of Hellenism.“ Dagegen spricht sich Jones 2004 aus, der im Gegenzug ein kritisch zu hinterfragendes Modell von ‚multiple identities‘ einführt. Whitmarsh 2013. Whitmarsh 2004. Vgl. Whitmarsh 2005, 8 f. Bowersock 1969.
18
1 Einleitung
weniger eine Rolle als die guten Beziehungen zu Rom, weshalb man hier keinen Anti-Romanismus finde. Über alle Lager hinweg gilt als anerkannt, dass die Griechen in der römischen Kaiserzeit – bei allen Vorbehalten, die man gegenüber der Terminologie haben sollte –, nur zaghafte Spuren von ‚Romanisierung‘ bzw. ‚Romanisation‘ gezeigt haben.42 Woolf hat den Grund für die Romanisierungsresistenz der Griechen primär in ihrer starken hellenischen Identität gesehen, die von Vergangenheitsbezügen gespeist wurde.43 Obwohl Woolfs Untersuchung auch die materielle Kultur berücksichtigte (bspw. die Verwendung von römischen Zement im griechischen Osten), stärkte sie zunächst das Anti-Romanismus-Lager. Tatsächlich hatte bereits Touloumakos davor gewarnt, dass man nicht von Romanisierung im Osten des Imperium Romanum sprechen sollte, sondern eher von Integration, worunter er die Verleihung des römischen Bürgerrechts und die Aufnahme in die Senats- und Beamtenaristokratie verstand.44 Weiterhin sei der Philhellenismus der römischen Kaiser die Voraussetzung für die panhellenischen Bestrebungen der Griechen in der Kaiserzeit gewesen, sodass der Integration eine Stärkung des griechischen Selbstbewusstseins folgte.45 Ein anderer Zweig der älteren Forschung hat das Überlegenheitsgerede der Griechen bezüglich ihrer Kultur als Feindschaft zu den Römern verstanden, die Hellenen mithin als „enemies of the roman order“: „[…] the so-called Second Sophistic, perfectly harmless on the surface but anti-Roman in its implications, since its intents was the reassertation of hellenism.“46 Dieser Spur ist auch Swain gefolgt, der bei jedem der von ihm untersuchten griechischen Autoren eine gewisse Skepsis und Distanz gegenüber der römischen Herrschaft gefunden hat („a resistance to integration“).47 Dem gegenüber stehe nach Schmitz die neuere Forschung, die dafür eintritt, dass wir kaum Spuren von Anti-Romanismus finden würden.48 Madsen hatte zu42
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Zu den beiden Begriffen vgl. Schörner 2005. Kritisch bereits Woolf 1997, der die Frage eines Entweder-oder von Romanisierung und Romanisation für verfehlt hält. Vgl. auch die Beiträge in Mattingly/Alcock 1997. Eine gute Übersicht über die Debatten der letzten Jahre bietet Scott 2010 in ihrem Review-Artikel. Woolf 1994, 125: „The same past that provided Greeks with the resources to jockey for position and favour in the Roman world, is now revealed as a source of disquiet, promoting dissatisfaction with the present order of things and thereby inhibiting the assimilation of Greeks into it.“ Touloumakos 1971, 46. Touloumakos 1971, 50 f. MacMullen 1966, 189 und 244. Vgl. außerdem Fuchs 1938, 49–54 mit Anm. 59–65 und Walbank 1972, 160–163. Swain 1996, 418: „Overall the identity the Greek elite constructed for itself involved a certain distance from Roman rule.“ Swain 1996, 89: „For since Greek identity could not be grounded in the real political world, it had to assert itself in the cultural domain and do so loudly as possible. The result of this is that, however close individuals got to Rome, overall we notice a certain distance, a resistance to integration, that may surprise anyone used to the modern view that the second sophistic is a facet of Roman history rather than Greek.“ Schmitz 1999, 85. Jones 1978a, 35 zu Dion Chrysostomos: „The kind of Hellenism he preaches is one that does not conflict with Roman supremacy, but is approved by the Romans.“ Vgl. auch Jones 1971, 126–130. Forte 1972. Nutton 1978, 209–221. Méthy 1994, 173–192.
1.2 Forschungsstand
19
letzt wieder herausgestellt, wie sehr sich die griechischen Eliten zugehörig zu Rom fühlten und, dass es für sie kein Problem gewesen sei, eine griechisch-kulturelle neben einer römisch-politischen Identität zu pflegen.49 Spawforth beschreibt eine Romanisation von Griechenland, die ihre Impulse aus dem Westen bekam und seiner Ansicht nach richtiger als Re-Hellenisierung zu bezeichnen sei.50 Die griechischen Eliten antworteten demnach auf die von Augustus angestoßene Debatte um das Verhältnis griechischer Kultur und römischer Dekadenz mit einer Reaktualisierung ihrer als klassisch verstandenen Vergangenheit. Die politische Rom-Orientierung51 der griechischen Eliten zeige sich dabei in der Wiederaufnahme von Kulten und der Restaurierung von Gebäuden. Spawforth beobachtet außerdem eine „increasingly Roman orientation of the Greek elites in the first century BC“.52 Swain wollte das Problem der griechisch-kulturellen Identität von in römischen Diensten stehenden Griechen damit lösen, dass er stratifizierte Ebenen der Loyalität annahm, die er sich politisch dachte.53 Die Identifizierung der griechischen Eliten per Bürgerrecht mit Rom hätte demnach keinen Einfluss auf ihre kulturelle Identität gehabt – beide hätten nebeneinander gepflegt werden können.54 Swain ging jedoch nicht darauf ein, wie die griechischen Mitbürger die Rom-Orientierung ihrer Eliten verstanden haben und inwiefern dies mit ihrer eigenen griechischen Identität eventuell konfligierte.55 Außerdem berücksichtigte er nicht die Debatten um die griechische Freiheit, die Reflexionen über Widerstand, sowie die zahlreichen Aufstände im griechischen Osten. Daneben ist fragwürdig, ob Swains an Eck erinnerndes Loyalitäts- und Identitätsmodell in seiner Unterkomplexität und Undifferenziertheit der Heterogenität ‚der Griechen‘ gerecht werden kann. Die Grundfrage muss demnach lauten, ob griechische und römische Identität in einer Person konfliktfrei nebeneinander bestehen konnten. Es muss also geprüft werden, ob entweder eine griechisch-kulturelle Identität neben einer römisch-politischen stehen konnte – Politik und Kultur in der Antike also getrennt voneinander gedacht wurden, oder ob nicht vielmehr Kultur und damit auch die griechische Identität immer auch politisch kon49 50 51 52 53 54 55
Madsen 2009, 59–82. Spawforth 2011, 28. Spawforth 2011, 128: „strongly Roman political orientation“. Spawforth 2011, 145. Swain 1996, 70. Swain 1996, 88. Zwar erkennt Swain das Problem eines unter einer Fremdherrschaft stehenden Menschen an, sich entweder für Akzeptanz oder Widerstand (oder eine Position dazwischen) entscheiden zu müssen, aber ein Erklärungsmodell dafür stellt er nicht bereit. Vgl. Swain 1996, 71: „On the wider political plane there is a degree of contradiction between their Greek and Roman identities. This is not surprising. For it is precisely when a people is under foreign domination that choices have to be made between acceptance or resistance and about preferences within these alternatives. The Greeks sometimes found these choices difficult–though it is easy, by selecting or ignoring passages of literary texts and by relying on the (in fact) heavily contextualized evidence of public discourse in the epigraphic record, to suggest otherwise. Certainly, in the case of the intellectuals studied in this book it seems clear that even those who were involved in Roman government did not put their Roman identity before their Greek one.“
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1 Einleitung
zipiert war.56 Die vorliegende Arbeit möchte insofern eine neue Perspektive in die Diskussion einbringen, als sie griechische Identitätskonzepte der römischen Kaiserzeit als Ausgangspunkt wählt und diese als Grundlage der Analyse des kaiserzeitlichen Griechen-Römer-Verhältnisses qualifiziert. Vermutungsweise wird sich das Identitätskonzept derjenigen Gruppe von Griechen, die keine römische Karriere anstrebte, vom römischen Identitätskonzept unterscheiden. Die Forschung arbeitet mit den Begriffen Kultur und Politik bevorzugt antithetisch, beispielsweise paradigmatisch Jones: „Though they died politically, the [Greek] cities retained, and indeed enhanced, their importance as centers of Hellenic culture.“57 Oft wird von der Forschung eine Ausgleichsbewegung diagnostiziert, wonach die Kultur in dem Maße gewachsen sei, wie die Politik abhandenkam. Dahinter steht ein Konzept, das auf der Annahme von Kompensationsmechanismen beruht. Damit reproduziert die Forschung jedoch bereits antike römische Vorstellungen, wonach die kaiserzeitlichen Griechen den Römern zwar als politisch bedeutungslos galten, ihnen aber der Bereich der Kultur zugesprochen wurde.58 Die Römer reservierten demnach für sich die Politik, d. h. politische Herrschaft und militärische Machtausübung, und für die Griechen die Kultur, d. h. vor allem die Bereiche Bildung und Kunst. Dies wird etwa daran deutlich, wenn Cassius Dio als Römer bedauert, dass Kaiser Nero nicht wie ein Mummius nach Griechenland übergesetzt war, d. h. mit den politisch-militärischen Absichten eines Römers, sondern um sich in musischen Agonen wie ein Grieche zu profilieren.59 Das Problem der ‚Romanisierung‘ der Griechen, die offensichtlich anders verlaufen ist als bei den westlichen Provinzialen,60 ist hier jedoch nicht, ob die Römer kulturelle Artefakte und Techniken in den griechischen Raum exportierten oder die Griechen diese importierten,61 sondern wie sich die Selbstwahrnehmung der 56
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Swain 1996, 89 hat zwar beobachtet, dass die mittels Vergangenheitsbezügen hergestellte griechische Identität unter den Antoninen weder bloß kulturell (zu passiv) noch überwiegend politisch (zu aktiv) gewesen war, sondern sich auf ein „feeling, the spirit of their history and heritage“ bezog, welches sich allerdings niemals politisch in Demonstrationen oder Aufständen geäußert habe, zieht daraus aber keine Schlüsse hinsichtlich der Identitätsproblematik. Jones 1963, 8. S. u. Kap. 6.3. Cass. Dio 63,8,2. Zu Cassius Dio als Römer s. u. ad Anm. 52 (Kap. 2.2). Nach Hoses Konzeption wurde den westlichen Provinzialen durch die Romanisierung Hispaniens, Galliens, Britanniens und Nordafrikas eine durch eine „Innenperspektive“ gegenüber Rom gekennzeichnete Historiographie zur Rezeption bereitgestell, vgl. Hose 1994, 482. Pabst 2010, 123 f. beobachtet im Werk des Florus, der weder dem ordo senatorius noch dem ordo equester angehörte, eine Integrationstendenz, welche die provinziale Oberschicht in ihrer Bewunderung für Rom stärken wollte. Florus verortet sich stets mit einem „wir“ oder „unser“ auf Seiten der Römer früherer Jahrhunderte. Vgl. auch Woolf 1997, 347, der die Frage bereits für falsch hält, ob sich die Gallier selbst romanisierten oder die Römer sie kulturell assimilierten, sondern dafür plädiert, dass sich Herrscher und Beherrschte in einem gänzlich neuen Modus des Miteinanders und ihrer Identität verständigen mussten. Hingley 2006, 116 unterstreicht, dass vor allem diejenigen Kulturgüter von den Provinzialen übernommen wurden, die technisch gesehen eine Verbesserung des Alltagslebens versprachen. So auch Woolf 1994, 116 und 128 mit der Kritik von Salmeri 2000, 53 daran, dass es keine neue Erkenntnis sei, dass sich der römische Einfluss in Griechenland überwiegend auf die Einfüh-
1.2 Forschungsstand
21
Griechen vor dem Hintergrund ihrer historisch fundierten Identität angesichts der gegenwärtigen römischen Herrschaft darstellte. Dass wir bei den fraglichen Autoren einen linearen Fortschritt von der Außenperspektive als Griechen zur Innenperspektive eines Römers zu verzeichnen hätten, ist hingegen ein noch immer beliebtes Modell der Forschung.62 Es sind jedoch Zweifel angebracht, ob das einfache Modell eines Wechsels von der Außenperspektive zur Innenperspektive tatsächlich auf die Zeit der Zweiten Sophistik für alle Griechen anwendbar ist. Es scheint zunächst paradox, dass die Annahme einer linearen Progression der Identifikation mit Rom seitens der Griechen dem Befund nicht angemessen sei, dass immer mehr Angehörige der griechischen Oberschicht das römische Bürgerrecht erhielten und in den römischen Senat aufgenommen wurden.63 Jedoch stellt selbst die Eigenbezeichnung einiger Griechen als Φιλορώμαιοι64 (Römerfreunde) keine Innenperspektive eines Römers dar und die Tatsache, dass sich die ‚Hellenen‘ nach dem Untergang des weströmischen Reiches als ‘Ρωμαῖοι bezeichneten, hat verschiedene andere Gründe.65 Was für Madsen Zeichen der Integration sind, ist vielmehr der Zündstoff für eine innergriechische Debatte, wie man sich unter der gegenwärtigen Herrschaft der Römer, die Plutarch Fremdherrschaft nennt (ἀλλόφυλος ἀρχή),
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rung neuer Architekturformen, von Bäderkomplexen und Gladiatorenspielen beschränke, vgl. Robert 1940. Vgl. Millar 1987 und die anderen Beiträge in Macready/Thompson 1987, außerdem für Kleinasien Berns 2002. Vgl. Halfmann 2002. Jones 1986, 89. Forte 1972. Bowersock 1969. Insbesondere Hose 1994, 482 meint beobachtet zu haben, dass Dionysios von Halikarnassos von der Außenperspektive auf die Römer den Griechen die römische Herrschaft nahebringen wollte. Die ‚integrierten Imperiumsbefürworter‘ Appian, Cassius Dio, Asinius Quadratus sowie Chryseros hätten ihr Werk aus der römischen Perspektive geschrieben. Daneben, dass dieser Befund insbesondere für Appian zu bezweifeln ist, wird das ‚Fortschrittsschema‘, dass wir noch bei Halfmann 2002 finden, dadurch gestört, dass es gleichzeitig eine gegenwartskritische, griechisch-zentrierte Historiographie, wie die des Kephalion, Jason von Argos und Claudius Charax gibt (dazu auch Bowie 1970, 13 f.), deren Darstellungen mit Alexander dem Großen enden, womit die römische Expansion systematisch ausgeblendet ist. Nach einigen Präzedenzfällen unter Augustus und Tiberius strömten seit Kaiser Claudius (CIL XIII 1668 = ILS 212 (Lyon), tab. II, Z. 5) immer mehr Provinziale in den römischen Senat, vgl. Kriekhaus 2006. Vgl. die römische Kritik daran beispielsweise bei Sen. Apocol. 3,3. Die meisten bedeutenden Sophisten und griechischen Autoren besaßen das römische Bürgerrecht, vgl. Schmitz 1997, 24 f. Swain 1996, 69–71. Bowersock 1969, Kap. 4. Die Inschriften von Rhetoren und Sophisten hat Puech 2002 gesammelt. Eine umfangreiche Prosopographie haben Janiszewski/Stebnicka/Szabat 2015 vorgelegt. Die Senatoren aus den ‚griechischen Provinzen‘ hat Halfmann 1979 zusammengestellt. Smith 1988, 493–497 sieht bereits mit Ariobarzanes I Philorhomaios einen der ersten griechischen Klientelkönige der Römer (in diesem Fall von Kappadokien). Seine politische Orientierung und Abhängigkeit wird durch sein ‚römisches Portrait‘ in den Münzen deutlich: rasiert, kurzes Haar und ältere Gesichtszüge. Kropp 2013 mit weiterem Material bis ins erste nachchristliche Jahrhundert aus dem Nahen Osten. Zu denken ist hier außerdem an Personen wie Theophanes von Mytilene oder Herodes den Großen. Smith 1998 mit einer Untersuchung zu den kaiserzeitlichen Portraits römischen Typs von ‚Griechen‘, die damit ihre romanitas demonstrierten. Vgl. Binder 2001, 1003 f. Dahlheim 2003, 257. Nach Demandt 2002, 69 nannten sich die christlichen Byzantiner Rhomaioi, um beispielsweise nicht mit den heidnischen Hellenen verwechselt zu werden. Vgl. auch Kaldellis 2007.
22
1 Einleitung
zu verhalten habe.66 Diese Debatte musste zu einer Spaltung der Griechen führen in diejenigen Kollaborateure und Opportunisten,67 die sich nach Rom hin orientierten, und diejenigen, die (bewusst) in der griechischen Welt verblieben. Wenn also die Herrschaft der Römer im griechischen Denken eine Fremdherrschaft darstellt, wird das Problem der politischen Identität virulent. Wie wir gesehen haben, hält die Forschung hierzu verschiedene Lösungsansätze bereit, die überwiegend darauf basieren, das Nebeneinander einer griechisch-kulturellen Identität neben einer politischen als Römer anzunehmen. In Kap. 2.2 wird versucht, dieser fragwürdigen Annahme einer Sowohl-als-auch-Lösung eine Entweder-oder-Lösung entgegenzustellen. 1.3 QUELLEN Während Vergangenheitsbezüge in der althistorischen Forschung insbesondere in diachronen Analysen Aufmerksamkeit fanden, wurden synchron konkurrierende Erinnerungen in der Hohen Kaiserzeit von der Forschung bishser vernachlässigt.68 Im Gegensatz zur Historiographie werden Literaturgenres wie die Biographie, Rede, Buntschriftstellerei, Satire etc. zudem kaum beachtet. Dabei spielen vornehmlich diese Genres mit Vergangenheitsbezügen, indem sie in einer breiten Palette vom Antiquarismus bis zu kontrafaktischer Geschichte Vergangenheitsbezüge zum Ausgangspunkt und Gegenstand ihrer Argumentationen machen. Ihre teils innovativen, polemischen oder satirischen Vergangenheitsdeutungen konkurrieren mit den etablierten Versionen. Hier werden Vergangenheitsbezüge vielfältig funktionalisiert: Im Wesentlichen werden zeitgenössische Sachverhalte kritisiert, legitimiert oder historisch begründet. Dies geht weit über die erklärende Funktion des Vergangenheitsbezugs in der Historiographie hinaus. Deshalb bergen die erwähnten Literaturgenres für unser Vorhaben mehr Erkenntnispotenzial als historiographische Werke, in denen Vergangenheitsbezüge an sich nicht erklärungsbedürftig sind. Während die erhaltene griechische Literatur augusteischer Zeit noch eine affirmative Hinwendung zu Rom zeigte oder aber in heute verlorenen Werken offene Kritik an Rom geübt wurde, zeigen einige griechischen Autoren seit dem Ende des 1. Jh. n. Chr. eine subtil geäußerte kritische Distanz zur römischen Herrschaft. Diese Distanz stellen sie als Nicht-Historiographen in ihren Werken im Modus des Ver66 67 68
Plut. Flam. 2,5. Vgl. auch Pabst 2014a, 407. Rádnoti-Alföldy 1994, 330 spricht im Zusammenhang mit Plut. praec. ger. reip. 814c von „Kollaboration“. Dijkstra/Kuin/Moser/Weidgenannt 2017 behandeln den Zeitraum von 100 v. Chr. bis 100 n. Chr. Bichler 2012 endet chronologisch vor der Kaiserzeit. Schmitz/Wiater 2011 bearbeiten nur das 1. Jh. v. Chr. Im Sammelband von Flashar/Gehrke/Heinrich 1996 zu ‚Konzepten von Vergangenheit in der griechisch-römischen Antike‘ behandelt Seek immerhin Dion von Prusa, von Mosch das panegyrische Münzprogramm Athens in der Kaiserzeit, Willers die Neugestaltung von Eleusis im 2. Jh. n. Chr. und von Haehling die Struktur und Funktion von Zeitbezügen in der Historia Augusta. Swain 1996, 65–100 bietet jedoch eine brauchbare Behandlung der einschlägigen Konzepte. Pernot 1993, 739–762 zur Verwendung griechischer Vergangenheit bei Rhetoren und Sophisten.
1.3 Quellen
23
gangenheitsbezugs her. Im Folgenden soll ein knapper chronologisch geordneter Überblick derjenigen literarischen Quellen gegeben werden, die sich zur Analyse von Reflexionen über Vergangenheitsbezüge eignen. Die herangezogenen Autoren Plutarch, Dion Chrysostomos, Aelius Aristides, Pausanias und Lukian determinieren somit durch ihre Wirkungszeit den Untersuchungszeitraum. Andererseits wird der Untersuchungszeitraum inhaltlich begrenzt durch die Zeit zwischen der neronischen Freiheitserklärung 67 n. Chr.69 und der constitutio Antoniniana 212 n. Chr., mit der formal alle Bewohner des Imperium Romanum das römische Bürgerrecht erhielten. Diese heute kulturgeschichtlich verstandene Epoche wird mit Philostrat als sogenannte Zweite Sophistik bezeichnet,70 die in der Wirkungszeit Plutarchs Ende des 1. Jh. n. Chr. beginnt,71 mit Aelius Aristides ihren Höhepunkt erreicht und durch Philostrats Sophistenviten begrenzt wird. Als Kontrastfolie für die genannten kaiserzeitlichen Autoren können Dionysios von Halikarnassos, Strabon von Amaseia und Nikolaos von Damaskos als griechische Autoren augusteischer Zeit herangezogen werden. Dies begründet sich aus ihrer affirmativen Haltung gegenüber der römischen Herrschaft, die der impliziten, im Modus des Vergangenheitsbezugs subtil vorgetragenen Herrschaftskritik der späteren Autoren entgegensteht. So wie sich Dionysios einer anti-römischen Strömung in der griechischen Geschichtsschreibung gegenüber sah und dagegen anschrieb, antwortete Livius auf ein rhetorisches Übungsstück kontrafaktischer Geschichte, nämlich die Frage wer den Sieg bei einem Treffen zwischen Alexander und den Römern davontragen würde.72 Dionysios und Livius erwähnen dabei aber keine konkreten griechischen anti-römischen Autoren, was zu Spekulationen in der Forschung geführt hat. Gabba dachte an Timagenes von Alexandria,73 wofür der einzige Beleg eine auch anders ausdeutbare spitzzüngige Bemerkung gegenüber
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Die Datierung der Freiheitserklärung ist umstritten und hängt von der Datierung der AkraiphiaInschrift ab. Strocka 2010, 53 f. hat zuletzt für den Anfang der Griechenlandreise Neros plädiert (66 n. Chr.). Suet. Nero 24,2 verlegt die Freiheitsproklamation hingegen ans Ende der Griechenlandreise Neros (67 n. Chr.). Philostr. soph. 481 unterscheidet die ἀρχαία σοφιστική des 5. Jh. (Gorgias) von der δεύτερα [σοφιστική], die er mit Niketes von Smyrna Ende des 1. Jh. n. Chr. beginnen lässt. Die vitae Sophistarum sind dem älteren Gordian, Prokonsul der Africa proconsularis gewidmet (237– 238 n. Chr.). Vgl. Swain 1996, 1. Schmitz 1997, 14. Zur Zweiten Sophistik als Kulturepoche vgl. grundlegend Anderson 1993. Vgl. ferner Richter/Johnson 2017. Schubert/Weiß 2015. Whitmarsh 2013a. Schmidt/Fleury 2011. Schmitz 2007. Hinds 2007. Conolly 2007. Bowie 2007. Whitmarsh 2005. Borg 2004. Goldhill 2001. Whitmarsh 2001. Conolly 2001. Schmitz 1999. Schmitz 1997. Swain 1996. Gleason 1995. Anderson 1989. Bowie 1970. Bowersock 1969. Bompaire 1958. Sehr kritisch gegenüber der Verwendung des Begriffs der Zweiten Sophistik in der modernen Forschung und des Sophisten-Begriffs in der Antike zeigt sich Brunt 1994. Vgl. auch Pernot 1993, der den Begriff der ‚Dritten Sophistik‘ eingeführt hat, und für einen Forschungsüberblick dazu Fowler/Quiroga Puertas 2014, 3 f. Zum Beginn der Zweiten Sophstik vgl. Schmitz 2014, 32. Russell 2001, 2. Plutarch distanziert sich selbst mehrfach von den Sophisten, s. u. Anm. 81 (Kap. 3.3). Liv. 9,17–19 und Dion. Hal. ant. 1,4. 89. Gabba 1991b, 245 mit Fuchs 1939, 14 f. mit Anm. 40. Vgl. die Literatur bei Sordi 1982, 777 f.
24
1 Einleitung
Augustus darstellt.74 Engels sieht ihn daher nicht als Exponenten eines geistigen Widerstandes gegen die römische Weltherrschaft.75 Jacoby dachte eher an Metrodoros von Skepsis und andere Griechen in Mithridates’ Umgebung zur Zeit Sullas und des Pompeius.76 Schon Laqueur hat nachzuweisen versucht, dass Livius eher auf Rhetoren anstatt auf ein kürzlich erschienenes einzelnes Geschichtswerk referenzierte.77 Festzuhalten ist, dass sich Dionysios mit seiner Reaktion gegen antirömische Griechen auf der Seite der Rom-Befürworter positioniert.78 Neben dem Augustus-Biographen Nikolaos von Damaskos (FGrHist 90) kann außerdem Strabon von Amaseia als pro-römisch eingestuft werden.79 Vergangenheitsbezüge als Teil der griechischen Erinnerungskultur bilden das Hauptcharakteristikum der griechischen Autoren aus der Zeit der Zweiten Sophistik. Sie finden sich vor allem in der populären Vortragskultur der Sophisten, wo sie jedoch kaum reflektiert werden. Da die historischen Bezugspunkte der öffentlich präsentierten Reden im Wesentlichen nicht über die Zeit Alexanders des Großen hinausgehen und damit der Eintritt der Römer in die griechische Welt ausgeblendet wird,80 sind sie für die Untersuchung kaum ergiebig. Eine Ausnahme bilden hier Dion Chrysostomos, Aelius Aristides und Lukian, da sie ein weiteres Geschichtsbild haben und auch zur Gegenwart Stellung beziehen. Das Kriterium für die Aufnahme eines Autors ist also nicht seine sophistische Tätigkeit, sondern sein Umgang mit der griechischen Vergangenheit. Das bedeutet also, auch die nicht-sophistische Literatur stärker in den Blick nehmen zu müssen, ohne die Sophisten als Kontrastfolie vollständig zu vernachlässigen. Plutarch und Pausanias, die in Philostrats Vitae Sophistarum nicht erwähnt werden, begrenzen den engeren zeitlichen Rahmen der Untersuchung (Ende 1. bis Ende 2. Jh. n. Chr.). Durch diese beiden Autoren ist bezeugt, dass ein weiterer und offenerer Begriff griechischer Vergangenheit in der Zeit der Zweiten Sophistik vertreten wurde. Der Rahmen ihres Geschichtsbildes geht über die Zeit Alexanders des Großen hinaus bis zum Eintritt der Römer in die griechische Welt und reicht bis in die jüngste Vergangenheit, was in Kap. 4.1 und 4.2.3 zu zeigen sein wird. 74
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FGrHist 88 T 8 (= Sen. Ep. 91,13: Timagenes felicitati urbis inimicus aiebat Romae sibi incendia ob hoce unum dolori esse, quod sciret meliora surrectura quam arsissent.). Timagenes war für seine Scharfzüngigkeit bekannt, vgl. FGrHist 88 T 1–3. Hierin könnte man einen spöttischen Scherz über Roms Bauprogramme sehen, wie Engels 1999, 230 glaubt, sogar indirekt ein Kompliment für Augustus und Agrippa. Einzig die felicitas der Römer in diesem Testimonium würde ihn einreihen in die Linie der griechischen Kritiker, welche die Tyche für Roms Aufstieg verantwortlich machen. Engels 1999, 230. Zunächst vermutlich auf Seiten des Antonius stehend, schaffte er mit Hilfe einer Schrift über Augustus’ Taten den Wechsel in das gegnerische Lager. Nach dem Bruch mit Augustus verbrannte er aber diese Schrift, vgl. Sen. De ira 3,23,4–6. Jacoby 1993 (Komm. II), 224. Metrodoros von Skepsis (FGrHist 184), Herakleides von Magnesia (FGrHist 187), Aisopos (FGrHist 187a), Teukros von Kyzikos (FGrHist 274), Memnon von Herakleia (FGrHist 434). Vgl. Engels 1999, 238. Laqueur 1936, 1066–1068. Näheres zu Dionysios s. u. Kap. 4.2.2. Engels 1999, 152 und 210 mit dem Beispiel Strabons über die pro-römische Darstellung der Zerstörung Korinths (Strab. 8,6,23 p. 381 f.). S. o. ad Anm. 6 (Kap. 1).
1.3 Quellen
25
Da Plutarch und Pausanias somit historische Ereignisse kommentieren, in die auch die Römer involviert sind, wird der Schwerpunkt der Textanalyse auf ihnen liegen. Plutarch wurde um 45 n. Chr. geboren und verbrachte den Großteil seines Lebens in der böotischen Stadt Chaironeia.81 Er unternahm Reisen nach Rom, Italien und Alexandria. Sein Lehrer war der aus Ägypten stammende Platoniker Ammonios. Plutarchs Werke weisen eine ausgeprägte Vertrautheit mit rhetorischer Technik auf, die er in seiner Jugend vermutlich in Athen erworben hat. In der für diese Arbeit zentralen Schrift Πολιτικά Παραγγέλματα (Praecepta gerendae reipublicae)82 rät Plutarch dem jungen Menemachos aus Sardeis,83 sich auf städtische Ämter zu beschränken.84 Plutarch erkennt die Orientierung junger Griechen auf eine politische Laufbahn in Rom, kritisiert aber die Unzufriedenheit der Auf- bzw. Umsteiger.85 Plutarch selbst übernahm Gesandtschaften zu Prokonsuln, städtische Ämter und die Aufsicht über kleinere öffentliche Bauvorhaben,86 „viele Pythiaden lang“ Ämter in Delphi87 und eines der beiden ständigen Priesterämter ebendort.88 Plutarch als Platoniker unterhielt auch Beziehungen zu Vertretern anderer philosophischer Sekten, wie zum Akademiker und Peripatetiker Favorin von Arelate oder zum Stoiker Dion von Prusa. Er war mit zahlreichen hochrangigen Römern verbunden.89 Q. Sosius Senecio waren die Parallelbiographien, De profectibus in virtute sowie die Quaestiones conviviales gewidmet. L. Mestrius Florus, Konsul unter Vespasian, verdankte er vermutlich das römische Bürgerrecht, da sein römischer Name L. Mestrius Plutarchus lautete, den er in seinen Werken aber nie benutzt hat.90 Er kannte Q. Iunius Arulenus Rusticus (cos. 92 n. Chr.), der von Kaiser Domitian etwa ein Jahr nach seinem Konsulat hingerichtet wurde, C. Minicius Fundanus (cos. 107 n. Chr.), und die Brüder T. Avidius Quietus und C. Avidius Nigrinus, die vermutlich beide Prokonsuln von Achaia waren. Möglicherweise erhielt Plutarch die ornamenta consularia, die seine ‚akademische Reputation‘ auszeichneten, und das Amt des Prokurators der Provinz Achaia des Jahres 119 n. Chr.91 Letzteres war, 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
Zu Leben und Werk Plutarchs vgl. e. g. Beck 2014. Pelling 2000. Swain 1996, 135–186. Jones 1971. Ziegler 1951. Vgl. Kap. 3. Menemachos ist nur durch Plutarch bekannt. Ihm ist neben den Praecepta gerendae reipublicae wahrscheinlich auch die Schrift de exilio gewidmet (601b: τὸ δέ σε μὴ κατοικεῖν Σάρδεις οὐδέν ἐστιν·). S. u. Anm. 2 (Kap. 3). Plut. praec. ger. reip. 813c–d. Vgl. außerdem ebd. 811a–c und Plut. an seni 793c–d. 794b. Plut. de tranqu. 470c. S. u. Anm. 47 (Kap. 3.2). Plut. praec. ger. reip. 811b–c. Plut. an seni 792 f. Plut. quaest. conv. 700e. Nach seinem Tod wurde ihm von den Poleis Delphi und Chaironeia eine Büste mit seinem Porträt in Delphi errichtet, vgl. Syll. II3 843A. S. u. Anm. 45 (Kap. 3.2). Vgl. Ziegler 1951, 650. Suda π 1793 Adler: Plutarch seien die ornamenta consularia verliehen worden durch die Intervention von Senecio. Die Suda sagt zudem, der Statthalter von Illyrien solle nichts ohne die Konsultation Plutarchs unternehmen, was aber eine anachronistische Unterordnung Illyriens unter Achaia darstellt, wenn solche ‚Ratschläge‘ nicht auch einfach über Provinzgrenzen hinweg gegeben werden können. Ziegler 1951, 657 f. und Jones 1971, 29 f. 34 sehen die Verleihung der ornamenta consularia als historisch an. Der ‚ältere Plutarch‘ sei von Hadrian zum
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1 Einleitung
wenn es ihm tatsächlich verliehen wurde, eher eine Ehrenbezeichnung. Plutarch starb wohl vor 125 n. Chr. Plutarchs Schriften zerfallen in zwei große Gruppen, die größtenteils philosophischen Moralia und die historisch-biographischen Arbeiten (Parallelbiographien).92 Der spätantike sogenannte „Lamprias-Katalog“ listet 227 Werke auf, von denen eine große Zahl verloren ist. In der Sammlung der Moralia sind 78 Schriften, darunter einige unechte, zusammengestellt. Die 44 Parallelbiographien wurden nach 96 n. Chr. begonnen und sind eine großangelegte Reihe von 22 Vitenpaaren, in denen jeweils ein griechischer und ein römischer Staatsmann oder Feldherr miteinander verglichen wird. Daneben sind noch vier Einzelbiographien überliefert. Die relative Chronologie ist nicht eindeutig, doch scheinen sich mehrere der frühen Paare auf Figuren zu konzentrieren, bei denen sich Bildung und Politik verbinden:93 Demosthenes und Cicero als das fünfte Paar,94 Kimon und Lucullus, Pelopidas und Marcellus sowie vermutlich Philopoimen und Flamininus. Die nächste Gruppe befasst sich besonders mit der frühen römischen Geschichte: Lykurg und Numa, Theseus und Romulus, Themistokles und Camillus, Lysander und Sulla. An zehnter Stelle standen Perikles und Fabius.95 Eine gesonderte Gruppe befasste sich mit den großen Römern republikanischer Zeit und den Griechen des 4. Jh. v. Chr.: Dion und Brutus an zwölfter Stelle,96 Alexander und Caesar, Agesilaos und Pompeius, Nikias und Crassus, Demetrios und Antonius, Phokion und Cato maior, Aemilius Paullus und Timoleon. Plutarch vergleicht in den comparationes nicht nur die Männer, sondern auch ihre „Nationen“. Das Vitenpaar Philopoimen und Flamininus nimmt neben den Praecepta gerendae reipublicae hierbei eine herausragende Stellung ein, weil beide zu einer Zeit gewirkt haben, in denen die Römer bereits massiv in Achaia intervenierten, dieses aber noch nicht beherrschten. Dion wurde um 40 n. Chr. in Prusa in der römischen Provinz Bithynien geboren und wird seit Menander Rhetor auch „Chrysostomos“ (Goldmund) genannt.97 Er ist nach 112 n. Chr. gestorben. Er stammte aus einer reichen Familie und war wohl der Großvater des späteren Historikers Cassius Dio. Er betätigte sich zunächst als Sophist, wurde dann aber Schüler des Stoikers Musonius Rufus. Dion präsentiert sich für die Römer, die gemäßt seiner Ansicht nach Luxus verlangen und lediglich über militärisches Wissen verfügen sowie einer angemessenen Bildung entbehren würden, als ein griechischer Philosoph.98 In den 70er Jahren lebte er meist in Rom, wurde aber wohl von Domitian 82 n. Chr. wegen allzu freimütiger Kritik am Kaiser aus Italien und seiner Heimat Bithynien verbannt. Bis 96 n. Chr. führte
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procurator Achaeae gemacht worden, was vielleicht auch nur eine Ehrenbezeichnung gemeint hat. Vgl. Jones 1971, 34. Lamberton 2001, 12. Für Plutarch, der von sich selbst sagt, er schreibe keine ἱστορίαι sondern βίοι (Alex. 1,2 f.), versucht Hershbell 1997, bes. 235 zu zeigen, dass er dem Anspruch nach Biographie, der Form nach aber Historiographie betreibe. Vgl. Jones 1966. Plut. Dem. 3,1. Plut. Per. 2,5. Plut. Dion 2,7. Vgl. zum Leben Dions Stebnicka 2015. Weißenberger 1997. Dion Chrys. or. 13,29–37. Vgl. Moles 2005, 128.
1.3 Quellen
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er gemäß seiner Selbststilisierung ein am kynischen Ideal orientiertes Wanderleben im Nordosten des Imperium Romanum und beim Volk der Geten.99 Nerva rief ihn wieder zurück. Für seine Heimatstadt erwirkte er Privilegien, für die er sich an der Spitze einer Gesandtschaft bei Nervas Nachfolger Trajan bedankte. Die Nähe zu den Römern benutzte Dion gezielt gegenüber seinen Mitbürgern in Prusa, um sich vor ihnen auszuzeichnen.100 Dion versuchte, Prusa durch Stiftungen und öffentliche Bauten zu fördern. Es kam aber zum Konflikt mit der Bürgerschaft, der seinen Höhepunkt in einem bei Plinius dem Jüngeren angedeuteten Prozess fand (111/2 n. Chr.).101 Es sind 80 Reden erhalten, von denen orr. 37 und 64 seinem Schüler Favorin von Arelate zuzuschreiben sind. Dions Reden haben vielfältige Themen: Sie sind teilweise moralphilosophische „Sittenpredigten“, politische Mahnreden und Äußerungen zu aktuellen Fragen, literarisch-kritische Essays, sophistische Deklamationen und theologisch-kosmologische Erörterungen. Die Königsreden (orr. 1–4) suggerieren eine Nähe zu Trajan.102 Sie könnten als Showreden im griechischen Kontext gehalten worden sein oder vielleicht auch in Rom. Dion stellt in seiner Alexandrinischen Rede (or. 32) und auch im Borysthenikos (or. 36) eine Außenperspektive her, um den Griechen einen Spiegel vorzuhalten. Dadurch ermöglicht er in letzterer Rede formal seine Kritik an der römischen Herrschaft. Er zeichnet das an der Vergangenheit und in der Ferne liegende Ideal einer griechischen Gesellschaft, um die Bewohner seiner Heimatstadt Prusa zur Reflexion ihrer gegenwärtigen Verfassung zu bringen, indem er die Kampfbereitschaft, Philosophie- und Homer-Verehrung der Borystheniten kontrapräsentisch erinnert. Im Rhodiakos (or. 31) findet sich ebenfalls Romkritik, die teils explizit und teils im Modus des Vergangenheitsbezugs vorgetragen wird. Das Verhältnis von Griechen und Römern ist auch Thema bei Lukian, der zwischen 115 und 125 n. Chr. in Samosata am Euphrat, am östlichen Rand des römischen Syrien geboren wurde.103 In der Schrift ‚Über den Traum oder das Leben Lukians‘ (Περὶ τοῦ ἐνυπνίου ἦτοι Βίος Λουκιανοῦ) schildert der Syrer Lukian seine Entscheidung, sich griechische Bildung anzueignen.104 Nachdem er in Ionien eine rhetorische Ausbildung genossen hatte,105 ging er als Wanderredner auf Reisen bis
99 Philostr. soph. 488. Vgl. Bekker-Nielsen 2014. 100 Vgl. Dion Chrys. or. 45,3. 47,22. Dazu Krause 2003, 126 f. und generell zu seinem Verhältnis zu den Flaviern Sidebottom 1996. 101 Vgl. Plin. ep. 10,81. 102 Die Nähe zu Trajan wird noch von Philostr. soph. 488 suggeriert, wobei sie bei Plin. ep. 10,81 und 82 (wenn nicht verschwiegen) nicht existent ist. Dion hat die Geschichte im Wagen mit Trajan wahrscheinlich erfunden und seine Schüler haben es Philostrat erzählt, vgl. BekkerNielsen 2008, 135 f. Zudem muss sich Dion Chrys. or. 40,13 f. verteidigen, weil er anlässlich einer Gesandtschaft zum Kaiser nicht die Ergebnisse erzielt hat, die seine Mitbürger einem vermeintlichen Vertrauten des Kaisers zugebilligt hätten. 103 Zu Lukians Leben und Werk vgl. Nesselrath 1999. Nesselrath 1990. Jones 1986. 104 Vgl. Andrade 2013, Kapp. 8–11. Die griechische Paideia war für ihn eine notwendige Voraussetzung für die Integration in die griechisch-römische Welt, vgl. Lukian. Pisc. 19. 105 Vgl. Lukian. Bis Acc. 27.
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1 Einleitung
nach Italien und Gallien.106 Als der Kaiser Lucius Verus im syrischen Antiocheia weilte, warb Lukian 163 oder 164 n. Chr. mit einigen Schriften (Salt., Im., Pro Im.) um seine Gunst. Bald darauf war er im paphlagonischen Abonuteichos und setzte sich mit einem gewissen Alexander auseinander, der einen Kult des Neos Asklepios Glykon begründet hatte.107 165 n. Chr. war Lukian Zeuge der Selbstverbrennung des Kynikers Peregrinos Proteus in Olympia, was er in einer eigenen Schrift verarbeitet hat (Peregr.). Hier findet sich einiges zur Romkritik des Peregrinos. In Athen war Lukian in den 160er und 170er Jahren für längere Zeit,108 wo eine Reihe seiner Schriften situiert sind.109 In fortgeschrittenem Alter nahm er wohl einen Posten in der Provinzbürokratie Ägyptens an,110 kehrte aber vielleicht wieder zurück zu seiner rhetorischen Vortragstätigkeit.111 Gestorben ist er Ende der 180er oder zu Beginn der 190er Jahre. Für die vorliegende Arbeit sind nur einige Schriften Lukians von Interesse. Aus der Antiochener Zeit, wohl aus der Mitte des Jahres 166 n. Chr.,112 stammt die Schrift ‚Wie man Geschichte schreiben soll‘ (Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν), welche die enkomiastische Historiographie bezüglich des damaligen Partherkriegs kritisiert. In der Schrift ‚Die gedungenen Gelehrten‘ (Περὶ τῶν ἐπὶ μισθῷ συνόντων, merc. cond.) beschreibt Lukian die unwürdige Existenz griechischer Philosophen und Lehrer in den Häusern reicher Römer.113 Der ‚Rechtsstreit der Konsonanten‘ (Δίκη συμφώνων, Iud. voc.) ist ein humoristischer Kommentar zu den Auseinandersetzungen um hyper-attizistische Sprachformen. Das gleiche Thema wird im ‚Rednerlehrer‘ (Ῥητόρων διδάσκαλος, Rh. pr.) neben einigen – aus Lukians Sicht – negativen Tendenzen der zeitgenössischen Rhetorik verarbeitet. Diese Schrift ist aufgrund ihrer Kritik an dem übermäßigen zeitgenössischen Gebrauch von Vergangenheitsbezügen von Interesse. Aelius Aristides wurde in Hadrianutherai in Nord-Mysien am 26. November 117 n. Chr. geboren.114 Aristides’ Vater Eudaimon war ein wohlhabender Landbesitzer in dieser Gegend und Priester im Tempel des Zeus Olympios. Die Familie besaß das Bürgerrecht von Smyrna und bekam 123 n. Chr. das römische Bürgerrecht von Hadrian verliehen. Alexander von Kotyaion war vermutlich in Smyrna sein Lehrer. Dieser wurde später nach Rom gerufen und war für die Erziehung von Marc Aurel und Lucius Verus zuständig.115 Aristides studierte weiter bei Polemon in Smyrna, Claudius Aristokles in Pergamon und Herodes Atticus in Athen. Philosophie studierte er bei dem Platoniker Caius in Pergamon und Lukios in Athen. 106 107 108 109 110 111 112 113 114
Vgl. ebd. und Lukian. Apol. 15. Vgl. Lukian. Alex. 55 f. Vgl. dazu Steger 2005. Vgl. Lukian. Demon. 1. Lukian. Demon., Iupp. Trag., Vit. Auct., Pisc., Bis Acc., Nav., Anach., Eun. Vgl. Lukian. Apol. 12 mit Jones 1986, 20 f. Vgl. Lukain. Herc. und Bacch. Vgl. Jones 1986, 60 und jetzt Free 2015. Vgl. Ursin 2016, 41 f. Vgl. Trapp 2016. Petsalis-Diomidis 2010. Bowie 1996b. Behr 1994. Behr 1986, 1–4. Behr 1968. Philostr. soph. 581 und Suda s. v. Ἀριστείδης. Aristides’ voller römischer Name erscheint auf der Inschrift OGIS 709 (= IGR I 1070). 115 Vgl. Aristeid. or. 32.
1.3 Quellen
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Aristides entschied sich, Rhetor zu werden und setzte 141 n. Chr. zu einer Vortragsreise an. Er kam nach Kos, Knidos, Rhodos116 und bis zum ersten Nil-Katarakt, wo er aber erkrankte.117 Er reiste daraufhin zurück nach Smyrna, wo er vor April 142 n. Chr. ankam. Um seine Krankheit zu lindern, wandte er sich dem Heilgott Sarapis zu, dem seine früheste erhaltene Rede gewidmet ist (or. 45). Kurz vor der Abfahrt nach Rom im Dezember 143 n. Chr. befiel Aristides wieder eine heftige Krankheit, die ihn im November des folgenden Jahres zurück nach Smyrna zwang, wo ihm von Asklepios Hilfe widerfuhr, der ihn 145 n. Chr. zum Asklepieion von Pergamon kommen hieß. Dort befolgte er zwei Jahre lang die Verordnungen des Gottes.118 Es bildete sich dort ein Kreis von Gebildeten, zu dem u. a. ein gewisser Pardalas und Cuspius Rufinus zählten. Die ἱεροὶ λόγοι (Heilige Reden) schildern u. a. 130 Träume, die er über einen Zeitraum von 25 Jahren aufgezeichnet hat und von denen er Anleitung zur Heilung seiner Krankheiten erwartete. Er nahm mit fortschreitender Besserung seine Vortragstätigkeit wieder auf. Zwischen 147 und 154 n. Chr. kämpfte er gegen Versuche, ihn mit kostspieligen Ämtern zu betrauen (Ἀσιάρχης, Εἰρηνάρχης, Πρύτανις), was ebenfalls in den ἱεροὶ λόγοι thematisiert wird. Den Panegyrikos auf Rom (or. 26) hielt Aristides entweder 144 oder 155 n. Chr. vor Antoninus Pius in Rom.119 Nach dem Romaufenthalt widmete er sich der Lehre und dem Vortrag gleichermaßen und trat in der Provinz Asia als öffentlicher Redner auf. 166 n. Chr. traf auch ihn die ‚Antoninische Pest‘, was ihn nicht davon abhielt, seinen Beruf bis mindestens 176 n. Chr. auszuüben – dem Jahr, in dem er eine Deklamation vor Marcus Aurelius hielt. Seine letzten datierbaren Werke (orr. 18–21) stellen eine Reaktion auf das Erdbeben, welches Smyrna im Jahr 177 oder 178 n. Chr. zerstörte, dar. Er starb im Alter von 60 oder 70 Jahren.120 Von Aristides sind 44 Reden erhalten, wobei seine Urheberschaft bei einigen Reden bestritten worden ist.121 Er genoss in spätantiker und byzantinischer Zeit ein hohes Ansehen, weshalb ihm in der Überlieferung Texte angehängt wurden. Sein Stil ist geschult an Isokrates und Demosthenes, seine Prosahymnen122 (orr. 37–46) haben eher einen dichterischen Charakter und seine μονοδία auf Smyrna (or. 18) ist in Rhythmen und kurzen Kola asianischen Stils gehalten. Von den Prunkreden brachte der im August 155 n. Chr. in Athen gehaltene Panathenaikos (or. 1) Aristides nachhaltigen Ruhm ein und wurde von Menander Rhetor als ein meisterhaf-
116 Vgl. Aristeid. or. 33,27. 24,53. 117 Vgl. Aristeid. or. 34,49. Die Erlebnisse in Ägypten verarbeitete er später in or. 36. Vgl. Philostr. soph. 582. 118 Vgl. Steger 2016b. 119 Vgl. die neu aufgeflammte Diskussion um die Datierung der Rom-Rede in Desideri/Fontanella 2013. Bowsersock hat ebd. wieder für die ursprünglich von Behr vorgeschlagene Datierung von 155 n. Chr. plädiert. 120 Philostr. soph. 585. 121 Die rhodische Rede, or. 25 Ῥοδιακός, und die Rede an den Kaiser, or. 35 εἰς βασιλέα zählen wohl nicht zu seinen Werken. Die Echtheit von or. 35 ist allerdings umstritten. Vgl. Bowie 1996b mit Literatur. 122 Vgl. zu einigen der Prosahymnen jetzt Russell/Trapp/Nesselrath 2016.
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1 Einleitung
tes Vorbild epideiktischer Rede angesehen.123 Dem durch den Kostobokeneinfall 171 n. Chr. zerstörten Eleusis wird in or. 22 in der Art eines athenischen Epitaphios gedacht. Die Rede geht die griechische Geschichte von den Anfängen bis etwa zur römischen Eroberung Achaias durch, um nachzuweisen, dass Eleusis noch niemals zuvor Zerstörungen erfahren hatte. Aristides stellt damit seiner eigenen Zeit im Vergleich mit der Vergangenheit ein schlechtes Zeugnis aus. In einer Homonoia-Rede von 163 n. Chr. fordert Aristides die Städte von Asia eindringlich auf, ihre Rivalitäten beizulegen (or. 23). Aristides’ Selbstverständnis als Rhetor wird in or. 2 (zwischen 145 und 147 n. Chr.) präsentiert, einer Verteidigung der Rhetorik gegen Platons Angriff im Gorgias. Dort hatte Platon ebenfalls die vier Staatsmänner Miltiades, Kimon, Themistokles und Perikles angegriffen, weil sie die Athener nach ihrer jeweiligen Herrschaft nicht besser gemacht hatten, als sie vorher waren. Dagegen wehrt sich Aristides mit or. 3. (zwischen 161 und 165 n. Chr.). In diesen und anderen Reden werden die Vergangenheitsbezüge auf die klassische Zeit deutlich, wobei der Gattung der Übungsreden oder Schuldeklamationen (μελέται) diese Vergangenheitsbezüge inhärent sind. So ist or. 36 ein Essay über die Nilquellen, in dem häufig gegen Herodot polemisiert wird. Or. 5 und 6 erörtern die Entsendung von Verstärkungstruppen nach Sizilien, or. 7 und 8 drängen Athen zum Friedensschluss mit Sparta (425 v. Chr.) und dieses zur Milde gegenüber Athen (405 v. Chr.), or. 9 und 10 behandeln Athens Streben nach einer Allianz mit Theben (338 v. Chr.) und orr. 11–15 schildern die Situation verschiedener Städte nach der Schlacht bei Leuktra (371 v. Chr.). Diese μελέται sind – im Gegensatz zur Rom-Rede und einigen Passagen der Hieroi Logoi – nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, weil sie keine Reflexionen über Vergangenheitsbezüge beinhalten. Vergangenheitsbezüge finden sich in Pausanias’ Περιήγησις τὴς Ἑλλάδος verstreut im gesamten Werk, in besonderer Weise aber in den breiten historischen Exkursen dieser zwischen 155 und 180 n. Chr. entstandenen Beschreibung Griechenlands.124 Im Zusammenhang mit den historischen Exkursen reflektiert Pausanias öfter über das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit. Biographische Informationen müssen aus seinem Werk gewonnen werden. Die Bezugnahme auf bestimmte Denkmäler und historische Ereignisse legen ein Geburtsdatum um 115 n. Chr. nahe. Pausanias stammte wahrscheinlich aus Magnesia am Sipylos in Lydien und war einigermaßen wohlhabend, da er Italien, Ägypten, Palästina, Syrien, Kleinasien und Griechenland bereisen konnte. Mehr kann man über seine Lebensumstände nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Gliederung der Periegese geht offensichtlich auf den Verfasser zurück und spiegelt die Reihenfolge der Entstehung wider: Attika und die Megaris (I), Korinth und Argolis (II), Lakonien (III), Messenien (IV), Elis (V und VI), Achaia (VII), Arkadien (VIII), Böotien (IX) und Phokis (X). Der Text endet abrupt, weshalb ver123 Men. Rhet. 372,10–12. 384,16. 386,31. 418, 22. 124 Zu Werk und Autor vgl. Frateantonio 2009. Pirenne-Delforge 2008. Pretzler 2007. Akujärvi 2005. Hutton 2005. Donohue 2000. Habicht 1998. Arafat 1996. Habicht 1985. Regenbogen 1956.
1.3 Quellen
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mutet wurde, dass er von Pausanias entweder nicht fertiggestellt wurde oder die Handschriften nur unvollständig erhalten sind. Pausanias’ erklärte Absicht ist es, πάντα τὰ Ἑλληνικά zu beschreiben.125 Sein historisches Interesse gilt der griechischen Vergangenheit bis zur Zerstörung Korinths und aber auch dem zeitgenössischen Zustand Achaias vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit. Keine Beachtung sollen in dieser Arbeit formale Vergangenheitsbezüge wie der Attizismus oder das Aufleben des dorischen Dialekts in Sparta erhalten.126 Performativer Vergangenheitsbezug, wie die Wiederbelebung des lykurgischen Erziehungssystems in Sparta mit seinen brutalen Ritualen, ist ebenfalls nicht zentral für diese Arbeit.127 Ergiebiger sind Berichte darüber, dass man in Sparta Reden auf die Könige Pausanias und Leonidas hielt und sich in Plataiai spartanische und athenische Epheben im sogenannten Dialogos maßen, einem historisch argumentierenden Redewettstreit, dessen Sieger die Prozession beim Fest der Eleutherien anführen durfte.128 Leider sind die jeweils vorgetragenen Vergangenheitsdeutungen nicht überliefert, sodass wir hier keine neuen Ergebnisse erwarten dürfen. Der griechische Roman, ein beim Publikum beliebtes Genre in der Kaiserzeit, ist in einer fernen, unbestimmten Vergangenheit angesiedelt und aufgrund seiner eskapistischen Tendenzen ebenfalls nicht ergiebig.129 Wenn diese Arbeit sich den Vergangenheitsbezügen in primär nicht-historiographischer Literatur zuwendet, ist dieses Vorgehen erklärungsbedürftig. Bereits antike Historiker bevorzugten in ihren Darstellungen hauptsächlich Quellen aus der Zeitstufe des zu beschreibenden Ereignisses. Je absoluter die Aussagen dieser Quellen waren, d. h. nicht von Vergleichen gestört wurden, desto höher wurden sie gewertet. Somit sind historiographische Darstellungen für diese Arbeit ungeeignet, wenn sie nicht wie Appian in seinem Proömium oder Dionysios von Halikarnassos gelegentlich polemischer Deutungskonkurrenzen Einblick in zeitgenössische Debatten erlauben.
125 Paus. 1,26,4. 126 Dem Attizismus, seinen Bedingungen, Formen und Funktionen wurde wiederholt Aufmerksamkeit geschenkt von Hose 1999. Schmitz 1997, 67–96. Swain 1996, 17–64. Dihle 1977. Zu Sparta vgl. Cartledge/Spawforth 1989, 190–211. 127 Plut. Lyc. 18,2. Arist. 17,10. 128 Paus. 3,14,1: τοῦ θεάτρου δὲ ἀπαντικρὺ Παυσανίου τοῦ Πλαταιᾶσιν ἡγησαμένου μνῆμά ἐστι, τὸ δὲ ἕτερον Λεωνίδου – καὶ λόγους κατὰ ἔτος ἕκαστον ἐπ' αὐτοῖς λέγουσι καὶ τιθέασιν ἀγῶνα, ἐν ᾧ πλὴν Σπαρτιατῶν ἄλλῳ γε οὐκ ἔστιν ἀγωνίζεσθαι […]. („Gegenüber dem Theater steht das Grabmal des Pausanias, des Führers bei Plataiai, und das andere des Leonidas, und jedes Jahr halten sie Reden auf sie und veranstalten einen Wettkampf, an dem nur Spartiaten teilnehmen dürfen.“). Zum Dialogos vgl. Jung 2006, 351–360. Robertson 1986. Lukian. amor. 18. Dion Chrys. or. 38,38. Hermog. περὶ ἰδεῶν 2,10. Suid. s. v. Εἰρηναῖος (der alexandrinische Grammatiker Eirenaios [Minucius Pacatus] hat im 1. Jh. n. Chr. ein ganzes Buch darüber verfasst). 129 Whitmarsh 2008. Smith 2007. Bowie 2006. Swain 1996, 101–131.
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1 Einleitung
1.4 VORGEHEN Die Grundthese der vorliegenden Arbeit lautet, dass einige Griechen im Modus des Vergangenheitsbezugs grundsätzliche Kritik an der gegenwärtigen römischen Herrschaft geäußert haben. Zur Überprüfung dieser These wird auf der Grundlage der Quellenauswahl das Textcorpus in zwei mal zwei Schritten analysiert: In einem ersten Schritt werden die Reflexionen griechischer Autoren über Vergangenheitsbezüge herausgearbeitet. In einem zweiten Schritt werden auf dieser Grundlage die Positionen der Autoren zum Verhältnis der griechischen Vergangenheit zur römischen Gegenwart gewonnen (Kap. 4). Anschließend werden wieder in einem ersten Schritt Vergangenheitsbezüge zu den Themen Freiheit, Herrschaft und Widerstand herausgearbeitet, woraufhin in einem zweiten Schritt konkurrierende Deutungen kenntlich gemacht werden sollen (Kap. 5, 6 und 7). Methodisch wird dabei problemgeschichtlich-sachthematisch vorgegangen, da sonst die unterschiedlichen Deutungen der Autoren zu ein und demselben Sachverhalt nicht deutlich werden. Die einschlägigen Sachverhalte bzw. Themen werden allgemein aus dem ersten Zweischritt und speziell aus der Analyse von Plutarchs Praecepta gerendae reipublicae gewonnen (Kap. 3). In diesem zentralen Text diskutiert Plutarch die Problemfelder der Identität, Erinnerungskultur und Herrschaftskritik. Im Anschluss wurde das Untersuchungscorpus unter Zuhilfenahme der mit Plutarch ermittelten Sachverhalte und Themen einer vollständigen Lektüre unterzogen. Es zeigten sich dabei einige zentrale Textpassagen, in denen die Autoren über das Griechen-Römer-Verhältnis vor dem Hintergrund griechischer Vergangenheit reflektierten. Diese Passagen wurden einem ‚close reading‘ unterzogen und die so gewonnenen Ergebnisse jeweils mit Blick auf die zentrale Fragestellung und ihre drei Problemfelder Identität, Erinnerungskultur und Herrschaftskritik interpretiert. Bevor im Folgenden die problemgeschichtlich-sachthematische Methode erläutert werden soll, ist auf zwei damit verschränkte methodische Fragen einzugehen, die sich während der Arbeit ergaben: 1. Wie können kritische Äußerungen erfasst werden, wenn sie nicht explizit, sondern implizit geäußert werden, und 2. wie können kollektive Vorstellungen der Rezipienten (in der Literatur) und des Publikums (bei Reden) über den Wortlaut eines Textes hinaus ermittelt werden? Hinsichtlich der kritischen Äußerungen wird angenommen, dass im Medium des Vergangenheitsbezugs sagbar wurde, was offen und explizit kommuniziert zu Sanktionen geführt hätte, nämlich die Beschwörung eines gegen auswärtige Mächte Widerstand leistenden freien Griechenlands. Dies muss deshalb betont werden, weil einige Griechen sich in der als Besatzungssituation empfundenen römischen Herrschaft möglicher Sanktionen offener Kritik und offenen Widerstandes bewusst waren und ihre wahre Haltung nicht offen kommunizierten (παρρησία).130 Die Philosophenausweisungen 89 n. Chr. aus Rom und 93 n. Chr. aus Italien wollten genau dieses kritische Potenzial einer freien Rede und damit Kritik an der Herrschaft des Kaisers
130 Vgl. Plut. praec. ger. reip. 813d–814a. S. u. ad Anm. 24 (Kap. 3.2) und 201 (Kap. 5.5).
1.4 Vorgehen
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unterbinden.131 Zu denken ist außerdem an die Ausweisung des Peregrinos Proteus aus Italien aufgrund seiner Kaiserkritik.132 Dions Königsreden (orr. 1–4), in denen er sich die Rolle eines frei sprechenden Kynikers gibt, sind hingegen nur ein schwaches literarisches Echo eines Parrhesia übenden Sokrates oder Diogenes. Sie zeigen aber, dass die Kommunikationssituation, d. h. Thema, Genre, Adressat etc., entscheidend ist für die Formulierung der Aussagen und die Verschlüsselung innerer Haltungen des Autors. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür stellt Aelius Aristides dar, der in seinem Panegyrikus auf Rom dem Thema entsprechend zwar die Stadt und ihr Reich lobt und damit den Römern das vermittelt, was diese hören wollen. Grund zum Zweifel, ob es sich dabei um die einzig mögliche Deutung dieses Kommunikationsversuchs des Aristides handelt, geben hingegen seine an Griechen adressierten Reden, wo er eine sehr distanzierte Haltung zu Rom einnimmt. Die Analyse der Rom-Rede wird zeigen, dass sie in den Ohren eines zeitgenössischen Griechen auf einer impliziten Ebene alles andere als rom-freundlich wahrgenommen werden konnte.133 Dies ließe sich prosopographisch oder epigraphisch nicht aufzeigen, weshalb auch Madsen zu dem zumindest voreilig zu nennenden Schluss kommt, dass die griechischen Eliten in Kleinasien pro-römisch gewesen sein müssen, weil sie ihr römisches Bürgerrecht per tria nomina öffentlich in den Inschriften dokumentierten und damit ihre Zugehörigkeit zu Rom demonstrierten.134 Es sollte hingegen zu denken geben, dass beispielsweise keiner der philostrateischen Sophisten mit der tria nomina vorgestellt wird, sondern das römische cognomen als ὄνομα verwendet wird.135 Appian erklärt seinen Lesern, dass die Römer zwei bis drei Namen tragen und stellt sich selbst nach griechischer Art aber als „Appianos, der Alexandriner“ vor, obwohl er das römische Bürgerrecht und sogar den Status eines eques besaß.136 Noch Pausanias hält es für notwendig, seinem griechischen Publikum die tria nomina als römische Gepflogenheit erläutern zu müssen.137 Weder einem römischen, noch einem ‚integrierten‘ griechischen Publikum hätte man die tria nomina erklären müssen.138 Anhand solcher Details können also nicht nur Aussagen über die 131 Suet. Dom. 10,4. Cass. Dio 67,13,2 f. Generell zum Exil in der Kaiserzeit und speziell zu den Philosophenausweisungen vgl. Stini 2011 und Hartmann 2002. 132 Lukian. Peregr. 18. 133 Swain 1996, 275. 416: „Far more serious mistakes stem from the assumption that the encomium he delivered before the imperial family, the To Rome, can be taken as the expression of the Greek aristocracies’ love of Roman rule.“ Vgl. auch Hutton 2005a, 42 f. und Stertz 1994 darüber, dass die or. 26 nicht wie üblich angenommen rom-freundlich war. Vgl. Pernot 2008, der diese These zuletzt ausführlich begründet hat, und s. u. ad Anm. 65 (Kap. 4.2.3). In Anlehnung an Ahl 1984 könnte man hier mit dem (allerdings in der Forschung umstrittenen) Konzept des „safe criticism“ arbeiten. Es existiert außerdem das verwandte Konzept des „doublespeak“, vgl. Benoist 2009. Bartsch 1994. Bei Cordes 2017 wird im Gegensatz zu ihren früheren Arbeiten (e. g. Cordes 2014) mit dem Konzept des „safe praise“ gearbeitet. 134 Madsen 2009, 96–99. 135 Bowie 2007, 366. Wie bei Varus von Perge, vgl. Philostr. soph. 576. 136 App. praef. 13 (51). 15 (62). 137 Paus. 7,7,8. 138 Gleichzeitig steigt die Beliebtheit alter griechischer Namen, s. u. ad Anm. 118 (Kap. 2.3).
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1 Einleitung
Vorstellungen des Autors, sondern auch über diejenigen des Rezipienten gewonnen werden. Es ist zu erwarten, dass offen vorgetragene Kritik an der römischen Herrschaft kaum in die durch die römischen Sieger kontrollierte Überlieferung eingegangen wäre. Es ist bedenkenswert, dass ausgerechnet Appians Bücher über die hellenische Geschichte und das ptolemäische Ägypten nicht überliefert sind. Vermutungsweise hat dies mit seiner kritischen Haltung gegenüber Rom zu tun. Wo wir die seltene offene Kritik greifen können, wurde diese von der Forschung entweder als Devianz von der Norm charakterisiert oder sie findet sich in der papyrologischen Überlieferung, die nicht zur Publikation vorgesehen war und dennoch zirkulierte.139 Es ist in Rechnung zu stellen, dass die Sprechakte des Besiegten unter einer Fremdherrschaft aufgrund von Sanktionsdrohungen kaum offene Kritik am Sieger artikulieren werden. Da die offene Rede sanktionsbewehrt ist, wenn sie nicht in einem geschützten Kontext etwa innerhalb philosophischer Parrhesia vorgetragen wird,140 dürfen wir mit subtilen Äußerungen rechnen. Es wird davon ausgegangen, dass der Sprecher kritische Äußerungen entsprechend markiert. Diese Markierung geschieht entweder durch sprachliche Zeichen, die Herstellung kontextueller Bezüge, Anspielungen oder mithilfe von Vergangenheitsbezügen, worauf Plutarch in den Praecepta gerendae reipublicae ausdrücklich hinweist.141 Diese Situation macht die sorgfältige Interpretation mithilfe des ‚close reading‘ nötig, da die in den literarischen Texten implizit vorgebrachte Kritik subtil verschleiert wurde. Implizit bezeichnet dabei die nicht prima facie erkennbaren kritischen und subversiven Elemente eines Textes, die es herauszuarbeiten gilt. Gewöhnlich werden ähnliche Fragestellungen, wie die hier zugrunde gelegte, von der Forschung mit dem Fokus auf einzelne Autoren bearbeitet, d. h. dass die jeweiligen Autoren kapitelweise abgehandelt werden. Die Nachteile dieses Zugangs bestehen einerseits in der lückenhaften Quellenlage, da nicht alle Schriften eines Autors überliefert sind (wie bei Appian zu sehen), und andererseits darin, dass auf diesem Wege kein zeitgenössisches Gesamtbild der Deutungen und Haltungen unterschiedlicher Autoren gewonnen werden kann. Außerdem würde die Autorzentrierung unzählige Wiederholungen in der Untersuchung auf systematischer Ebene notwendig machen. Der Vorteil des hier gewählten Vorgehens gegenüber dem autorenzentrierten Ansatz etwa bei Swain besteht darin, dass die drei Leitthemen Freiheit, Herrschaft und Widerstand autorenvergleichend behandelt werden können. Autoren verraten beim Schreiben über die Vergangenheit bisweilen mehr über ihre Gegenwart als 139 Vgl. zu den ‚Heidnischen Märtyrerakten‘, besser Acta Alexandrinorum aus der ersten Hälfte des 1. bis zum frühen 3. Jh. n. Chr. Luiselli 2016. Hartmann 2012b. Harker 2008. Musurillo 1961. Musurillo 1954. Bauer 1901. 140 Vgl. auch Helvidius Priscus’ freimütige Rede gegenüber Vespasian bei Epiktet (Arr. Epict. Diss. 1,2,19–21). Dazu und zu den Philosophenausweisungen vgl. Pfeiffer 2009, 33–37. 141 Vgl. Plut. praec. ger. reip. 814c und Kap. 3. Zuletzt hat Horst 2013, 139–170 darauf hingewiesen, wie Autoren in der Zeit der Zweiten Sophistik im Medium des Vergangenheitsbezuges Einfluss auf zeitgenössiche Wahrnehmungen und damit auf die politische Gestaltung der Gegenwart genommen haben.
1.4 Vorgehen
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über die Zeit, über die sie eigentlich berichten. Zwar sind die Aussagen der Quellen immer an einen spezifischen Sprechakt gebunden, d. h. sie wurden von einem Autor zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Kontext getätigt; ihre Aussagen als Kommentare zu ein und demselben Sachverhalt können mit der problemgeschichtlichen Methode jedoch in einen virtuellen Dialog eintreten. Dieser Dialog bildet dann in der Analyse auf einer höheren Abstraktionsstufe die konkreten Positionen der Quellen ab, sodass ihre Argumente über die konkrete Sprechaktsituation hinaus miteinander interagieren. Dieses Verfahren imitiert zugleich die kognitiven Prozesse des antiken Rezipienten, der während seiner Lektüreerfahrung auch die Aussagen des Autors kontextualisiert und mit divergierenden Deutungen abgeglichen hat. Die Methodik der vorliegenden Arbeit konzentriert sich daher auf die Analyse synchron konkurrierender Deutungen griechischer Vergangenheit in der Zeit der Zweiten Sophistik,142 und nicht auf eine diachrone Rezeptionsgeschichte. Obwohl Spezialuntersuchungen zu einzelnen Autoren wie Plutarch, Dion Chrysostomos, Aelius Aristides, Lukian und Pausanias auch Vergangenheitsbezüge, das Griechen-Römer-Verhältnis, Identitätsfragen etc. thematisieren, gibt es bisher keine systematische problemgeschichtliche Untersuchung der hier zugrunde gelegten Fragestellung. Durch die hier gewählte Methodik werden die bisher von der Forschung lediglich angeschnittenen zentralen Fragen innergriechischer und griechisch-römischer Debatten überhaupt erst sichtbar. Dem bisweilen nötigen Zergliedern einschlägiger Quellenpassagen wird dadurch begegnet, dass sie bei ihrer ersten Erwähnung möglichst vollständig und in größerem Zusammenhang dargeboten werden. Der Herausforderung, dass die Chronologie in der Problemgeschichte gelegentlich unterkomplex behandelt wird, kann dadurch begegnet werden, dass sie an entsprechender Stelle ausführlich thematisiert wird. Der Frage des Umgangs mit der griechischen Vergangenheit in der römischen Gegenwart seitens der Griechen kann somit nicht nur eine neue Perspektive hinzugefügt werden, sondern es wird auch auf methodischer Ebene ein Desiderat beseitigt.
142 Sandl 2005, 100 weist darauf hin, dass der Plural Erinnerungskulturen „[…] auf die Pluralität von Vergangenheitsbezügen verweist, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, sondern auch synchron in verschiedenartigen Modi der Konstitution der Erinnerung, die komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten können.“ Jung 2006, 25 hat im methodischen Rahmen der lieux de mémoire ebenfalls untersucht, wie „[… sich] konkurrierende und rivalisierende Konzepte der Erinnerung zwischen unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppen (etwa einzelnen Poleis) ausprägten und auch eine Auseinandersetzung um die Vergangenheit stattfand“.
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1 Einleitung
1.5 AUFBAU DER UNTERSUCHUNG Bevor die drei Leitthemen Freiheit, Herrschaft und Widerstand innerhalb der griechischen Literatur der Hohen Kaiserzeit analysiert werden können, muss zunächst gefragt werden, wer ‚die Griechen‘ waren, die im Folgenden untersucht werden sollen (Kap. 2). Hier wird ein neues Differenzierungsmodell vorgeschlagen, das es erlaubt, detaillierter als in der Forschung bisher geschehen, ‚die Griechen‘ als heterogene Gruppe zu begreifen. Außerdem sind hier die zentrale Begriffe Erinnerungskultur, Vergangenheitsbezüge und Defizienzerfahrung zu klären. Plutarchs Schrift Praecepta gerendae reipublicae (‚Ratschläge zum Führen eines Staates‘) ist ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 3), um diejenigen Leitthemen herauszuarbeiten, die im weiteren Verlauf der Untersuchung die strukturierenden Elemente für die Analyse der Quellen darstellen, d. h. die Wahrnehmung der Gegenwart, der Umgang mit der römischen Herrschaft, dem griechischen Freiheitskampf und alternativer Erinnerungskulturen. Diese Themen werden im Anschluss im Rahmen griechischer Vergangenheitsbezüge in einer römischen Gegenwart aufgegriffen (Kap. 4). Zunächst wird die Erinnerungskultur im römischen Achaia skizziert. Anschließend wird darüber zu sprechen sein, welchen Platz die Griechen innerhalb der antiken Weltgeschichte für sich beanspruchten, respektive von römischer Seite zugeteilt bekamen. Im Anschluss werden die Geschichtsbilder und Periodisierungen griechischer Vergangenheit aus der Perspektive der kaiserzeitlichen Griechen herausgearbeitet. Wie die Griechen mit Vergleichen zwischen Vergangenheit und Gegenwart ihre zeitgenössische Defizienzerfahrung begründeten, indem sie darüber reflektierten, was politisch nicht mehr möglich war oder einfach materiell fehlte, bildet den Abschluss dieses Kapitels. Um das Leitthema der griechischen Freiheit herauszustellen, wird die innergriechische Debatte an besonders aussagekräftigen Beispielen aufgezeigt (Kap. 5). Die Deutungen von Neros Freiheitserklärung bei Plutarch und Pausanias werden mit der römischen Wahrnehmung kontrastiert. Anschließend werden die Argumente gegen den Freiheitskampf beim Rom-nahen Flavius Josephus herausgearbeitet, was als Kontrastfolie zum folgenden Kapitel über den Freiheitskampf als Ordnungsprinzip der historischen Exkurse bei Pausanias gelesen werden muss. Die Bewertungen der Taten des achäischen Strategen Philopoimen bei Polybios, Plutarch und Pausanias werden paradigmatisch für das in der Kaiserzeit von einigen Griechen breit diskutierte Freiheitsthema verglichen. Abschließend werden die anhand der Beispiele gewonnenen Ergebnisse mit den etablierten Forschungspositionen konfrontiert und diskutiert. Die Debatte über den Umgang mit der römischen Herrschaft soll im folgenden Kapitel (Kap. 6) anhand von konkurrierenden Konzepten dargestellt werden. Ausgehend von der Beobachtung Kosellecks, dass die Erfahrung des Besiegtwerdens und anschließender Fremdherrschaft eine intellektuelle Herausforderung sowohl für Sieger als auch Besiegte darstellt, wird den Veränderungen innerhalb dreier Debatten nachgegangen. Es handelt sich um die Fragen, ob die römische Herrschaft über Griechenland ein Produkt der τύχη (des Zufalls) oder der ἀρετή (eigener Leis-
1.5 Aufbau der Untersuchung
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tungen) war; ob die Römer aufgrund der römischen Stärke oder der griechischen Schwäche gesiegt haben; und ob sich die Griechen damit abgefunden haben, von den Römern als lediglich für die Kultur zuständig angesehen zu werden, während jene die Kunst des Herrschens für sich beanspruchten. Abschließend (Kap. 7) werden als Zusammenführung der Freiheits- und Herrschaftsdebatten die Widerstandsmomente bei den Griechen in der Frühen und Hohen Kaiserzeit daraufhin untersucht, um welche Art von Widerstand es sich gehandelt hat. Der Widerstands-Begriff wird vorher zunächst aus den griechischen Quellen heraus unter Zuhilfenahme moderner Konzepte, etwa Whitmarshs diskursivem Widerstand, entwickelt. Die Ergebnisse werden in Kap. 8 zusammengefasst.
2 METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN Bevor wir uns den einzelnen thematischen Aspekten mit einer problemgeschichtlichen Analyse zuwenden, müssen zentrale Begriffe der vorliegenden Arbeit wie Erinnerungskultur und Vergangenheitsbezüge bestimmt werden. Es ist außerdem zu bestimmen, wer ‚die Griechen‘ sind, die im Folgenden betrachtet werden sollen. Obwohl die griechische Identität in der römischen Kaiserzeit am Rande jedes größeren Forschungsbeitrags gestreift und in einigen Spezialarbeiten behandelt wird, wird selten auf die Eingrenzung des Gegenstandsbereichs reflektiert. Es werden meist ‚die kaiserzeitlichen Griechen‘ in ihrer Gesamtheit oder lediglich einzelne Autoren für sich untersucht, die dann pars pro toto stehen sollen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Die Kontroversen um den Grad der Romanisierung oder Romanisation in der Osthälfte des Imperium Romanum sowie unterschiedliche Identitätskonzepte dürften dafür verantwortlich sein. Daher wird im Folgenden in drei Schritten versucht, die Griechen im Sinne dieser Arbeit zu definieren. Zunächst werden die zentralen Positionen der bis in die Gegenwart reichenden Forschungsdebatte zur Identität der kaiserzeitlichen Griechen rekapituliert (Kap. 2.1). Dabei soll gezeigt werden, dass diese letztlich (nicht immer bewusst) auf bereits antike Identitätskonzepte zurückgehen, was in Kap. 6.3 am Beispiel des Konzepts der „Kulturgriechen und Herrschaftsrömer“ ausführlicher dargelegt werden soll. In einem zweiten Schritt wird anhand einiger Beispiele auf Identitätskonflikte einzugehen sein (Kap. 2.2). Dabei werden sich die von der Forschung des Öfteren herangezogenen Personen eher als Ausnahme von der Regel erweisen. Zuletzt wird ein differenzierendes Modell vorgelegt, das die vorher dargelegten Identitätskonflikte aufzufangen sucht (Kap. 2.3). Wenn die Forschung bei den Provinzialen Achaias, welche über den Status eines römischen Bürgers verfügten, multiple Identitäten1 annimmt – eine ‚politische‘ als Römer und eine ‚kulturelle‘ als Grieche –, so fällt erstens daran auf, dass wir es hier mit einem sehr engen Kulturbegriff zu tun haben, der zweitens gleichzeitig mit dem Schema von Herrschaftsrömern und Kulturgriechen eine beträchtliche Schnittmenge gemein hat. Es wird hier letztendlich eine Variante des römischen Identitätsmodells gegeben, wie es uns bei Cicero entgegentritt. ATTICVS: […] Sed illud tamen quale est quod paulo ante dixisti, hunc locum (id est, ego te accipio dicere Arpinum) germanam patriam esse vestram? Quid? vos duas habetis patrias, an est una illa patria communis? Nisi forte sapienti illi Catoni fuit patria non Roma sed Tusculum.
1
Vgl. Jones 2004, 14 darüber, dass die Identitäten der pepaideumenoi „[…] something complex and mulit-layered“ seien. Am Beispiel des Pausanias und Aristides macht er jedoch lediglich deutlich, wie ersterer vor allem in Lydien und letzterer vor allem in Mysien, aber auch Pergamon und Smyrna verwurzelt ist.
2 Methodische Vorüberlegungen
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MARCVS: Ego mehercule et illi et omnibus municipibus duas esse censeo patrias, unam naturae, alteram civitatis: ut ille Cato, cum est Tusculi natus, in populi Romani civitatem susceptus est. Ita cum ortu Tusculanus esset, civitate Romanus, habuit alteram loci patriam, alteram iuris. Ut vestri Attici, priusquam Theseus eos demigrare ex agris et in astu, quod appellatur, omnes conferre se iussit, et sui erant idem et Attici, sic nos et eam patriam ducimus, ubi nati et illam qua excepti sumus. Sed necesse est caritate eam praestare qua nomen universae civitatis est, pro qua mori et cui nos totos dedere et in qua nostra omnia ponere et quasi consecrare debemus; dulcis autem non multo secus est ea quae genuit quam illa quae excepit. Itaque ego hanc meam esse patriam prorsus numquam negabo, dum illa sit maior, haec in ea contineatur. Atticus: […] Aber was bedeutet es, dass du kurz zuvor gesagt hast, dieser Ort – ich nehme nämlich an, du meinst damit Arpinum – sei eure eigentliche Heimat? Habt ihr etwa eine doppelte Heimat oder ist damit jene einzige Heimat gemeint, die allen gemeinsam ist? Es sei denn, die Heimat jenes weisen Cato war nicht Rom, sondern Tusculum. Marcus: Ich meine tatsächlich, beim Herkules, dass Cato und überhaupt alle Bürger aus Landstädten eine doppelte Heimat haben: eine natürliche und eine politische. Wie jener Cato, nachdem er in Tusculum geboren war, in die politische Gemeinschaft des römischen Volkes aufgenommen wurde, und weil er daher seiner Herkunft nach ein Tusculaner, seiner politischen Gemeinschaft nach ein Römer war, besaß er einerseits die Heimat des Geburtsortes und andererseits die Heimat des gemeinsamen Rechts; wie eure Attiker, bevor Theseus ihnen befahl, ihre Äcker zu verlassen und sich allesamt in die Stadt, wie sie genannt wird, zu begeben, zugleich sie selbst und Attiker waren, so halten wir sowohl den Ort wo wir geboren wurden als auch jene Gemeinschaft, von der wir aufgenommen wurden, für unsere Heimat. Aber mehr Liebe verdient die Heimat, von der die gesamte Bürgerschaft ihren Namen hat, für die wir sterben, der wir uns ganz hingeben und der wir alle unsere Fähigkeiten zur Verfügung stellen und gleichsam als Opfer darbringen müssen. Die Heimat aber, die uns hervorbrachte, ist uns nicht viel weniger süß als jene, die uns aufnahm. Daher werde ich keinesfalls irgendwann einmal leugnen, dass dies meine Heimat ist, solange nur jene die größere bleibt und diese in ihr aufgeht.2
Hinsichtlich der Munizipien Italiens wird bei Cicero ein hierarchisches Konzept vorgelegt: Das Munizipium ist die Heimat von Natur und Geburt her, Rom jene des Rechts, das den Munizipalen erst verliehen wurde. Rom steht aber für den Gesamtstaat und kann daher die meiste Loyalität für sich beanspruchen. Demnach werden Menschen aus verschiedenen Ursprungsregionen (die später auch Provinzen sein können) in den römischen Gesamtstaat eingebunden. Die Identität als Mann aus Tusculum oder Gallien steht konfliktfrei neben – oder genauer unter – jener als Römer. Mit Blick auf die Forschung wird deutlich, dass diese überwiegend keinen Unterschied zwischen der Ost- und Westhälfte des Imperium Romanum macht und die Ergebnisse, die für den lateinischen Westen erzielt wurden, schlicht auf den griechischen Osten überträgt. Beispielsweise arbeitet Hose sehr detailliert die Haltung des Florus heraus, meint dann aber genau dieselben Positionen auch bei Appian zu entdecken.3 Wenn Mattingly nur allgemein von der Identität der Provinzialen 2
3
Cic. de leg. 2,5. Der Text am Ende des Zitats nach contineatur wird in zwei weiteren Varianten überliefert, die Powell 2006, 195 getilgt hat. Einerseits ist zusätzlich habet ciuitatis et unam illam ciuitatem putat und andererseits habet ciuitates duas; sed unam illam ciuitatem putat überliefert. Diese Varianten könnten nochmals darauf hindeuten, dass Cicero eine kulturelle unter einer politischen Identität annimmt. Vgl. Hose 1994 und s. o. Anm. 60 (Kap. 1.2).
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2 Methodische Vorüberlegungen
spricht, dies aber nur an Africa und Britannien exemplifiziert, scheint er davon auszugehen, dass sein Modell im ganzen Imperium Romanum gültig ist.4 Dieses Modell arbeitet mit drei Stufen: Zuerst reagieren die neuen Provinzialen auf die römische Eroberung mit bewaffnetem Widerstand und der Betonung ihrer indigenen Identität. Anschließend reagieren die Römer auf diesen Widerstand mit der Abwertung der Provinzialen als ‚Barbaren‘. In einem dritten Schritt reagieren die Provinzialen ihrerseits auf das Barbarenklischee indem sie sich integrieren. Genau dieser zweite Schritt – die pauschale Verachtung provinzialer Kultur als inferior seitens der Römer – trifft auf die Griechen aber nicht zu. Des Weiteren mag es sich bei solchen Thesen der Forschung ausgewirkt haben, dass die Griechen bekanntermaßen in der Antike keinen Staat bildeten, und die Forschung den Griechen-Begriff daher eher mit Faktoren wie Sprache und Kulturtechniken anstatt mit politischer Zugehörigkeit verbindet. Bei unserer Untersuchung wird sich freilich zeigen, dass gerade der Freiheitskampf einerseits – also die gemeinsame, panhellenische Abwehr von Fremdherrschaft –, sowie die Ächtung von innergriechischen Kämpfen zwischen einzelnen Poleis andererseits – in beiden Fällen also die Verbundenheit in einer gemeinsamen, teils ex negativo, teils positiv definierten Politik – den Begriff der Griechen in einen dezidiert politischen Kontext rücken. Wird hier ein alternativer, von den untersuchten Autoren vertretener Identitätsbegriff bereits schemenhaft deutlich, so soll dieser im Folgenden noch etwas genauer herausgearbeitet werden. Er ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass bei unseren Autoren die Kategorien Griechen oder Römer stets antithetisch behandelt werden. Die Zuordnung zu den Griechen erfolgt zum anderen vorrangig über die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft einer Stadt griechischen Ursprungs und wird meist über die Abstammung erworben. Man ist also als Athener Grieche, während man nach römischem Denken keineswegs als Tusculaner Römer ist. Städte untereinander können sich Isopoliteia zuerkennen. Diese dient jedoch vor allem dem privatrechtlichen Schutz und verändert die Identität eines Menschen allenfalls bei einer Übersiedlung in die neue Stadt, wodurch beispielsweise Herodot vom Mann aus Halikarnassos zum Mann von Thurioi werden konnte.5 Es gibt Indizien dafür, dass man den römischen Bürgerstatus ebenfalls als Isopolitie verstand.6 Dass das römische Bürgerrecht einen Griechen kognitiv-geistig automatisch zu einem Römer machte, ist hingegen zu bezweifeln, wie bereits Pabst betont hat.7 Der römische Bürgerstatus tangierte daher die Identität als Grieche erst dann, wenn jemand für Rom in Ämtern oder als Senator tätig wurde. Als eine gesonderte Debatte innerhalb 4
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Vgl. Mattingly 2011, 213–218. Etwas differenzierter ging Woolf 2003 für Gallien vor, der jedoch meint, dass für die gallo-römischen Eliten die römische Zivilisation eher etwas mit gesellschaftlichem Status als mit politischer oder ethnischer Identität zu tun hatte, vgl. Woolf 2003, 240. Vgl. ferner Johnston 2017 und Revell 2016 für den Westen des Imperium Romanum. Suda, s. v. Ἡρόδοτος. Vgl. Plut. de exilio 604 f., dass einige „Historien des Herodot von Halikarnassos“ schreiben würden, viele andere aber auch „von Thurioi“, weil er sich dort der Kolonie anschloss. Die Griechen konnten den zusätzlichen Erwerb des römischen Bürgerrechts als Isopolitie interpretieren, vgl. Veyne 1999, 557 Anm. 271. Pabst 2010, 121.
2.1 Identitätskonzepte in Forschung und Antike
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griechischer Identitätskonzeption wird die Frage ventiliert, ob man auch Grieche werden kann. Dies wird mehrheitlich verneint: Solche Menschen sind zwar hellenisiert, nicht aber hellenisch. Tatsächlich versuchten einige Menschen der letztgenannten Gruppe, wie etwa Favorin, trotzdem auch als Griechen gesehen zu werden. Dies bedurfte aber erheblicher Anstrengung und war nur höchst begrenzt erfolgreich. 2.1 IDENTITÄTSKONZEPTE IN FORSCHUNG UND ANTIKE Blicken wir zunächst auf die antiken Identitätskonzepte, so unterscheiden sie sich hinsichtlich verschiedener Distinktionsmerkmale, die entweder integrierend oder exkludierend wirken konnten. Grundsätzlich bildeten die Erinnerung an die eigene Vergangenheit und die Pflege der eigenen Sprache bei gleichzeitiger Ablehnung des Lateinischen die Klammer griechischer Identitäten.8 Neben einer kulturellen auf griechischer Bildung (παιδεία) beruhenden Identität9 gab es im 2. Jh. n. Chr. auch eine starke Tendenz zu einer genealogisch-ethnisch fundierten Identität.10 Der Paideia- und Ethnosbegriff griechischer Identität konnten auch ineinanderfallen: 8 9
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Vgl. Dahlheim 2003, 256. Schmitz 1997, 175–181. Humbert 1991. Bowie 1991. Nikolaidis 1986, 229–244. Palm 1959, 14. Nach Isokr. 4,50 war nicht mehr γένος, sondern eine gewisse διάνοια und auch παιδεία dafür ausschlaggebend, ob man sich als Hellene bezeichnen dürfe. Isokrates gehört nach Quint. inst. orat. 10,79 zweifellos zum Kanon sophistischer Rhetorikausbildung, sodass diese Konzeption allen Sophisten bekannt gewesen sein dürfte. Vgl. Dion. Hal. ant. 1,89,4 zum Unterschied zwischen Hellenen und Barbaren: Sprache, Bildung, Religion und Rechtsstaatlichkeit. Vgl. außerdem Dion. Hal. ant. 14,6,6 und Plut. fort. Alex. 329c. Schmitz 1997, 29 stellt die Bedeutung der Bildung als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal entsprechend heraus. Demnach kultivierten die Sophisten mittels der Präsentation ihrer Paideia einen Habitus, der vor allem der sozialen Distinktion gegen die unteren Schichten und gleichzeitig der Integration in die Oberschicht diente. Durch die Praxis des öffentlichen Redens, das die anerkannteste Präsentationsform von Paideia darstellte, vergrößerte sich gleichsam das symbolische (kulturelle, soziale und institutionelle) Kapital der Sophisten. Gleichzeitig formten sie mit dem Inhalt und den Bezugspunkten ihrer Reden ihre eigene Identität als Hellenen, zumal das Sprechen eines reinen Attisch als besondere Auszeichnung innerhalb der Gruppe galt. Vgl. neuerdings Pernot 2015, 66–100. Zur kulturellen Identität in der Kunst vgl. Elsner 1995, 125–155. Zanker 1995; im zivilen Leben mit den Inschriften vgl. Rogers 1991a über die Prozessionskultur in Ephesus; van Nijf 1997 über städtische Identität; van Nijf 1999 über athletische Identität; in der Architektur vgl. Walker/Cameron 1989. Whitmarsh 2010 über ‚Mikroidentitäten‘ im griechischen Osten, d. h. lokale Identitäten. Dies geht auf Hdt. 8,144,14–17 zurück: gleiches Blut und gleiche Sprache, dieselben Tempel, Opfer und Sitten. Das hadrianische Panhellenion hat in der Zeit der Zweiten Sophistik einen starken Einfluss darauf ausgeübt, dass sich griechische Poleis mit ihrer Abstammung beschäftigten. Vgl. Bergmann 2010. Romeo 2002. Weiss 2000. Jones 1996a. Boatwright 1994. Wörrle 1992. Willers 1990. Spawforth/Walker 1986. Dies. 1985. Das Panhellenion forderte ein ethnisches Griechentum mit Bezug zu Achaia und richtet sich somit gegen das kulturelle Griechentum eines Favorin oder die indigenen Pausanias aus Lydien und Aristides aus Mysien, vgl. Spawforth 2012, 254. Es förderte eine ethnic identity, vgl. Romeo 2002, 26. Zu inschriftlich erhaltenen genealogischen Bezügen vgl. Touloumakos 1971, 49. 55–58.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Der Sophist Polemon von Laodikeia bezeichnete seine Rhetorik-Studenten als Hellenen, die er nach ethnischen Gesichtspunkten auswählte: Sie seien bezogen auf ihre Herkunft vollständig hellenisch gewesen (und eben nicht barbarisch).11 Der Hellenen-Begriff als solcher war im Verlauf der Kaiserzeit immer facettenreicher geworden: Beim Apostel Paulus bezeichnete Hellene jemanden, der kein Jude und bei Tatian jemanden, der kein Christ war, woraufhin Hellene später synonym mit Heide verwendet wurde.12 Notwendiges aber nicht hinreichendes Kriterium für die Identifikation eines Hellenen war jedoch immer die griechische Sprache gewesen. Somit galt man nicht bereits deshalb als Grieche, weil man Griechisch sprach oder schrieb. Paideia war in der Zeit der Zweiten Sophistik rhetorische Bildung und dabei speziell die „korrekte Handhabung der attizistischen Kunstsprache.“13 Für Aristides war das korrekte Sprechen des attischen Griechisch die Defintion von Paideia,14 während dagegen die Kyniker, die ‚mehr Fehler als Wörter machen würden‘,15 aus seiner Sicht sprachloser erschienen als ihr eigener Schatten.16 Durch die Wiederholung und Ritualisierung solcher Aussagen über das Feld der Sprache schafften die sophistischen Darbietungen ihren eigenen privilegierten Status, monopolisierten den öffentlichen Diskurs für die gesellschaftliche Elite17 und stellten so eine Paideia-basierte Spielart griechischer Identität zur Rezeption bereit. Swain sieht in dieser durch Sprache und Vergangenheitsbezüge hergestellten griechischen Identität zu Recht den bewusst eingesetzten Hemmfaktor von Integration in das Imperium Romanum.18 Zu diesem Ergebnis gelangt Swain, indem er die Haltung eines Autors zur römischen Herrschaft sowohl auf der Grundlage seiner hinterlassenen Werke als auch seiner Biographie untersucht. Es ist allerdings zu bedenken, dass der Attizismus ein Elitenphänoman ist und teilweise den römischen Geschmack eines Griechentums bevorzugt, das in dieser Engführung nicht allgemeine Anerkennung fand. Daher erscheint es zumindest fragwürdig, ob sich breitere griechische Bevölkerungsschichten damit identifizieren konnten. 11
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Philostr. soph. 531: ἀλλ' ξειλεγμένης τε καὶ καθαρᾶς ἑλλάδος VaP2. In diesem Sinne auch der Sophist Alexander, der in Athen Stehgreifreden halten wollte. Jedoch war die ganze Jugend bei Herodes, den er daraufhin fragte, ob er seine Hellenen haben könne, vgl. Philostr. soph. 571. Philostr. soph. 518 zählt die Herkunftsregionen der Schüler Skopelians in Smyrna auf: Ionier, Lyder, Karier, Maionier, Aioler und Hellenen von Mysien und Phrygien, weil Smyrna für diese nicht nah liegt. Er zog aber auch aus der Ferne Schüler an: Kappadoker, Assyrer, Ägypter, Phönizier, εὐδοκιμωτέροι τῶν Ἀχαιῶν und die Jugend von Athen. Hier werden also auch die ehemaligen hellenistischen Reiche miteinbezogen. Ähnlich auch Philostr. soph. 613: Herakleides der Lykier zog die Jugend von Ionien, Lydien, Phrygien und Karien nach Smyrna; ebenfalls auch Hellenen von Europa, die Jugend des Orients und viele aus Ägypten, weil er dort einmal bei Ptolemaios von Naukratis gewesen war. Vgl. Tatian. Or. ad graec. passim und Röm 1,16, sowie Klein 1988. Zweimüller 2008, 91 und s. u. Anm. 105 (Kap. 4.3.1). Dazu Flinterman 1995, Schmitz 1997, ausführlich Swain 1996, 17–64, die Beiträge in Borg 2004 und zuletzt Free 2015. Vgl. Aristeid. or. 1,326. Aristeid. or. 3,664. Aristeid. or. 3,672. Schmitz 1999, 80. Swain 1996, 409–411. 418. So auch schon Woolf 1994, 125.
2.1 Identitätskonzepte in Forschung und Antike
43
Whitmarsh untersucht im Gegensatz zu Swain die kulturelle Identität eines Autors auf Grundlage seiner hinterlassenen Werke hinsichtlich der Manipulation, Innovation und Kombination literarischer und kultureller Rollen.19 Er kommt zu dem Ergebnis, dass es durch alle Texte hinweg eine Konsistenz gäbe, dass ein Grieche jemand ist, der definiert ist „[…] through linguistic articulation and subjected to a radically ludic uncertainty by means of a range of literary strategies.“20 Dieser Textzugang hebt auf die literarischen Rollenspiele der Autoren ab, fokussiert mithin allein auf die Literatur und verliert daher zwei Aspekte aus den Augen: Einerseits die Wahrnehmung der Adressaten und andererseits das Politische durch die Engführung auf einen flexiblen Kulturbegriff. Whitmarsh betont allerdings auch die Identifikation mit der griechischen Vergangenheit, die einen integralen Bestandteil griechischer Identität darstellt: „In literary terms, ‚becoming Greek‘ meant constructing one’s own self-representation through and against the canonical past.“21 Seine Untersuchung hat gezeigt, dass der Begriff der Mimesis nicht nur in die Vergangenheit weist durch die Nachahmung der alten Formen, sondern auch in die Gegenwart mit der modernen Transformation oder aemulatio.22 Dem kann entnommen werden, dass Vergangenheitsbezüge eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Ordnung des sozialen Gefüges und für kulturelle Identitäten qua Präsentation literarischer und habitueller Selbstdarstellungen haben. Diesem Ansatz fehlen hingegen die politischen Implikationen einer mithilfe von Vergangenheitsbezügen hergestellten griechischen Identität. Daher verwundert es nicht, dass Whitmarsh die Debatten um den griechischen Freiheitskampf unbeachtet ließ. Die Konstruktion kollektiver Identitäten, wie sie etwa durch die Verwendung der ersten Person Plural erzeugt wird, hat immer auch politische und soziale Funktionen und unterliegt gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen.23 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass für die Griechen traditionell Alterität eine Grundlage ihrer Identität darstellt, d. h. die Distinktion von einem ‚Anderen‘ um ein ‚Selbst‘ zu erzeugen etwa in der Wendung ‚Griechen und Barbaren‘.24 Allein dies dürfte bereits darauf hindeuten, dass auch in späterer Zeit mit einer Inkompatibilität griechischer und römischer kollektiver Identitäten zu rechnen ist. Swain vertritt dennoch die These, die Griechen hätten eine „Roman political identity“ akzeptiert, die konfliktfrei neben einer griechisch-kulturellen Identität bestanden habe.25 Da er 19 20 21 22 23
24 25
Whitmarsh 2004, 29. Swain 1996, 414. Whitmarsh 2004, 34. Whitmarsh 2004, 27. Vgl. dazu auch Gehrke 2010, 584–600, bes. 599. Whitmarsh 2004, 295: „Greek cultural identity in the early Roman period (the period often called ‚the second Sophistic‘) was an intense concern, but it was never taken for granted: identities were made, contested, masked, ironized, dissimulated, or disavowed, but not received as self-evident.“ Vgl. grundlegend Hall 2002, der zeigt, wie sich erst relativ spät eine ethnische griechische Identität herausbildete und nach den Perserkriegen vor allem durch das Stereotyp des nichtgriechischen Barbaren Gemeinschaft unter den Griechen konstruierte. Swain 1996, 70 f. Vgl. hingegen Cortéz Copete 2013, 18, der in Hinsicht auf Identitäten eine radikale Position vertritt und diesen psychopathologischen Befund der Annahme mehrerer Identitäten als Schizophrenie klassifiziert, womit er Swains Konzept ablehnt.
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2 Methodische Vorüberlegungen
allerdings zuvor schon festgestellt hat, dass griechische und römische Identitäten bisweilen konfligieren können, versucht er dieses Problem mit der Einführung der Kategorie ‚Loyalität‘ zu lösen.26 Demnach sind zwei Szenarien denkbar: Erstens konnte ein Grieche unter Beibehaltung seiner kulturellen Identität eine römische politische Identität annehmen, die dann aber miteinander konfligieren würden – er müsste sich also für die eine oder andere Seite entscheiden. Zweitens könnte sich ein Grieche unter Beibehaltung seiner kulturellen Identität nicht politisch mit den Römern identifizieren und aber trotzdem gegenüber ihnen loyal sein. Dies greift in abgewandelter Form Andersons These auf, wonach die Zweite Sophistik ein kulturelles Phänomen darstellt, welches den Griechen von römischer Seite als Kompensation für den Verlust ihrer politischen Macht angeboten wurde.27 Andersons These beruht seinerseits auf Bowie, der den Tausch von Herrschaft gegen Kultur ins Spiel gebracht hatte.28 Für Teile der in den Reichsdienst aufstrebenden Oberschicht ergibt sich dann aber das Problem, den Römern gegenüber loyal sein zu müssen und gleichzeitig die an sie gestellten Erwartungen der griechischen Mitwelt nicht enttäuschen zu dürfen. Hier ergäbe sich tatsächlich eine schizophrene Situation,29 die in der Praxis nur durch die Orientierung zur einen oder anderen Seite aufgelöst werden konnte. Die Forschung verfolgte hinsichtlich der griechischen Identität bislang ein einfaches Modell inklusiver Disjunktion in der Tradition von Jones über Woolfs Diktum „Becoming Roman, staying Greek“ bis zu Whitmarsh.30 Die politische Identität als Römer hat jedoch nicht konfliktfrei neben der eines ‚Kulturgriechen‘ gestanden, was Pabst deutlich macht, indem sie zeigt, dass beide Identitäten in der Kaiserzeit im griechischen Denken antithetisch zueinander konzipiert waren.31 Die antithetische Konzeption griechischer und römischer Identitäten, die von griechischer Seite holistisch gegeneinander abgegrenzt werden und nicht segmentär konzipiert sind, schließen ein Sowohl-als-auch aus. Auch wenn sich nicht erst seit Hadrian eine starke Sogwirkung entwickelte, Römer zu werden, erzeugte dies eine mindestens genauso starke Gegenbewegung: „‚Griechisch zu bleiben‘ ist mithin kein Automatismus, sondern bedarf gesamtgesellschaftlich wie individuell einer Entscheidung.“32 Entgegen den neueren multiple-identities-, hybridity- und bicul26
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Swain 1996, 70 bemerkt auch, dass Loyalitäten wirr und widersprüchlich verlaufen können. Nur der verfehlte Diskurs über Nationalitäten habe die frühere Forschung zu der Annahme verleitet, die griechische Elite müsse ausschließlich pro-römisch gewesen sein, da Rom sie sonst nicht unterstützt hätte (ebd., 412). Anderson 1993. Bowie 1974. Vgl. kritisch zum Kultur- und Herrschaftsbegriff sowie Bowies Thesen Whitmarsh 2004, 17–20. Vgl. Cortéz Copete 2013, 18 und s. o. Anm. 25 (Kap. 2.1). Jones 1969. Woolf 1994. Whitmarsh 2004. Pabst 2014a unterzieht die gängigen Erklärungsmuster einer kritischen Prüfung. Vgl. Pabst 2014a, 407. Ihre Verwendung von „[…] jeweils holistisch, nicht segmentär“ kann auch mit dem logischen Begriff der ausschließenden Disjunktion umschrieben werden. Pabst 2014a, 408. Auch Whitmarsh 2004, 2 weist auf den konstruktiven Charakter kultureller Identitäten hin, weil das Beharren auf dem Griechentum nicht statisch zu verstehen sei: „authors do not write because they are Greek; they are Greek because they write.“ Vgl. auch
2.1 Identitätskonzepte in Forschung und Antike
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tural-identity-Tendenzen in der Forschung33 wird in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass seit Plutarch bis in die Zeit Philostrats eine im Vergleich zur augusteischen Zeit sich anders als zuvor äußernde Distanz zwischen Griechen und Römern zu beobachten ist, die in den literarischen Texten implizit mithilfe von Vergangenheitsbezügen gestaltet wird. Das Theoriekonzept der Hybridität will im sozialwissenschaftlichen Kontext eine Mischform von ursprünglich getrennten Systemen beschreiben. Bhaba hat dieses Konzept auf die politische Ebene postkolonialer Diskurse angewendet,34 was auch von althistorischer Seite rezipiert wurde.35 Es bot sich eine Anwendung auf die von der Forschung weit gefassten Kulturkontakte zwischen Griechen und Römern an. Dabei wurde jedoch nicht in Erwägung gezogen, dass griechische und römische Haltungen zu ein und demselben historischen, politischen oder kulturellen Bezugspunkt konfligieren konnten. Die Widersprüche zwischen griechischen und römischen Deutungen auf einigen zentralen Feldern wurden indes so groß, dass sich die Deutungen gegenseitig ausschlossen. Dies wiederum wirkte angesichts der römischen Herrschaft über Achaia und Asia von griechischer Seite besehen desintegrierend. Schmitz hat darauf aufmerksam gemacht, dass insbesondere die Griechen, die den Konsulat erreichten, ihre griechisch-kulturelle Identität besonders hervorkehrten, wie Herodes Atticus oder Antipatros von Hierapolis.36 Dies deutet darauf hin, dass sie nicht den Kontakt zu ihrer griechischen Mitwelt verlieren wollten, die sie nunmehr als Römer wahrnahm. Der Versuch, griechische und römische Identität parallel zu pflegen oder sogar in Einklang zu bringen, musste jedoch scheitern. Gellius zitiert das Selbstzeugnis des Ennius, der tria corda habe, weil er drei Sprachen spreche (Griechisch, Oskisch und Lateinisch), womit er drei Aspekte seiner personalen Identität hervorhebt.37 Während die Römer also die äußerst disparate Gruppe der Provinzialen in ihr Imperium integrieren mussten,38 haben die Griechen weiterhin ihr alteritätsbasiertes Identitätskonzept gepflegt. Dieser These soll im Folgenden nachgegangen werden, indem anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll, wie einerseits die Griechen mit Personen im Spannungsfeld zwischen griechischer und römischer Identität umgingen und andererseits, in welchem Verhältnis diese externe Perspektive zum Selbstbild der fraglichen Personen stand.
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Meyers Terminologie, die von Persistenz als ‚bewusstem Beharren‘ im Zusammenhang mit Akkulturationsprozessen spricht, vgl. Meyer 2007, 11 f. Zu multiple identities vgl. Jones 2004, zur hybridity vgl. Rogers 1991a (zur Salutaris-Inschrift in Ephesos). Smith 1998, 77 (zum Nymphaeum des Herodes Atticus in Olympia). Whitmarsh 2001, 295 Anm. 119 (zu Favorins „cultural hybridity“) sowie zur bicultural-identity vgl. Gleason 2010 (zu Herodes Atticus und Regilla). Vgl. Bhabha 2000. Bhabha 1997. Bhabha 1994. Vgl. Vasunia 2003, 371 und 385. Vgl. Schmitz 1997, 25. Gell. noct. att. 17,17,1: Quintus Ennius tria corda habere sese dicebat, quod loqui Graece et Osce et Latine sciret. Auch Revell 2009, 151 spricht von „aspects of identity“. Vgl. mehrere Beiträge in De Kleijn/Benoist 2013.
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2 Methodische Vorüberlegungen
2.2 IDENTITÄTSKONFLIKTE Die Perspektive der modernen Forschung verschleiert oder missachtet bisweilen die Perspektive der antiken Zeitgenossen auf Identitäten, etwa wenn ein Cassius Dio als Beispiel für einen integrierten Griechen herangezogen wird.39 Die Konzentration auf rein technische Aspekte von Identität wie Sprache (römische Geschichte auf Griechisch schreiben), Herkunft (vermeintlich Nikaia in Kleinasien) und Abstammung (vielleicht in der dritten Generation vom Griechen Dion von Prusa) sind keine hinreichenden Bedingungen für eine geistig-mentale Identität als Grieche.40 Als Sohn eines Konsulars ist Dio sehr wahrscheinlich nicht in Nikaia, sondern in Rom geboren und er meint nicht die Griechen, sondern die Römer respektive die Senatorenschaft, wenn er die erste Person Plural benutzt.41 Davon abgesehen, dass sich Cassius Dio an keiner Stelle seines Werkes selbst als Grieche bezeichnet, verortet er sich somit unter den Römern. Das Beispiel Cassius Dio zeigt, dass es nicht genug ist, einen Autor in ein modernes Kategoriensystem einzuordnen, sondern jeder Autor einer detaillierten Untersuchung bedarf, um auch sein Selbstbild zu gewinnen. Dies wird umso wichtiger, wenn antike Stimmen pauschal eine Nivellierung aller Identitäten behaupten, die bei eingehender Analyse nicht zu halten ist. Die römische Position in der Frage der Identität der Provinzialen, die Aelius Aristides in seiner Rom-Rede wiedergibt, besagt, dass alle Reichsbewohner zu Römern geworden seien, da man nicht mehr Griechen und Barbaren unterscheide, sondern die Menschen in Römer und NichtRömer unterteile.42 Die Römer hätten außerdem die besten Männer in allen Poleis für ihren Kriegsdienst herangezogen und mit dem römischen Bürgerrecht ausgestattet, „so dass sie sich fortan nur ungern zu ihrem eigenen Volk bekannten, aus
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Bei Ameling 1997, 2472–2496 firmiert Cassius Dio als das Beispiel für einen griechischen Intellektuellen im Imperium Romanum. Vgl. Pabst 2010, 121 und ähnlich Stephan 2002, 258. Swain 1996, 10. Woolf 1994, 118. Vgl. Hose 1994, 359 f. Erst nach seinem 2. Konsulat 229 n. Chr. ging er in die „Heimat“ zurück (Cass. Dio 80,4,2–5,3). Er gehörte außerdem dem consilium des Septimius Severus und des Caracalla an. Für einen „griechischen Senator“ wäre seine Karriere äußerst unüblich gewesen: Er hat die lateinische Provinz Pannonia Superior verwaltet und war consul ordinarius. Dios intendierte Leserschaft war die Senatorenschaft, egal ob griechischer oder anderer Herkunft, ebd. 421. Vgl. auch Pabst 2010, 130 Anm. 67 die darauf hinweist, dass Dio sich 9,39,7 mit der Toga als „unserer Tracht“ identifiziert. Aristeid. or. 26,63: οὐ γὰρ εἰς Ἕλληνας καὶ βαρβάρους διαιρεῖτε νῦν τὰ γένη, […] ἀλλ' εἰς Ῥωμαίους τε καὶ οὐ Ῥωμαίους ἀντιδιείλετε· ἐπὶ τοσοῦτον ἐξηγάγετε τὸ τῆς πόλεως ὄνομα. Dass dies der persönlichen Ansicht des Aristides entspricht, darf bezweifelt werden, da er im Folgenden weiterhin die Unterscheidung in Griechen und Barbaren beibehält, vgl. Pabst 2014a, 406 Anm. 43. Vgl. bspw. Aristeid. or. 26,100, wo er sagt, dass es jetzt sowohl dem Griechen wie dem Barbaren möglich ist mit oder ohne Habe ohne Schwierigkeiten zu reisen, wohin er will, gerade als ob er von einer Heimatstadt in eine andere zöge. Er distanziert sich implizit von der römischen Vorstellung, dass die Römer in der Unterscheidung in Römer und Nicht-Römer potenziell alle Provinzialen als Teilhaber an der Herrschaft und nicht länger als Untertanen angesehen werden.
2.2 Identitätskonflikte
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dem sie einst gekommen waren.“43 Demnach müssten wir auf der Ebene politischer Identifikation außer der Präsentation eines römischen Namens Zeugnisse finden, wonach sich Griechen politisch mit den Römern identifizieren und ihre Herkunft verschweigen, verschleiern oder verleugnen, bzw. so als patria behandeln, wie es Cicero mit Tusculum getan hat, d. h. mit hierarchischer Unterordnung. Dies lässt sich jedoch nicht beobachten. Was sich jedoch bei Pausanias beobachten lässt, ist das intendierte Missverständnis einer öffentlichen Kommunikation. In seinem historischen Exkurs zum athenischen Freiheitskampf gegen die Makedonen nach Chaironeia streift Pausanias auch den Musenhügel in Athen, der unter Anführung des Olympiodoros von der makedonischen Besatzung befreit wurde.44 Mit einem einzigen Satz kommentiert Pausanias das in exponierter Lage innerhalb der alten Stadtmauern Athens errichtete Philopappus-Grabmal:45 ὕστερον δὲ καὶ μνῆμα αὐτόθι ἀνδρὶ ᾠκοδομήθη Σύρῳ („Später wurde auch ein Denkmal für einen Syrer dort errichtet.“).46 Nach den griechischen und lateinischen Inschriften auf seinem zwischen 114 und 116 n. Chr. errichteten Grabmonument setzt sich C. Iulius Antiochus Epiphanes Philopappus in verschiedene politische und kulturelle Kontexte:47 Zuerst war er ein römischer Bürger, Konsul und persönlicher Freund Kaiser Trajans, weiterhin athenischer Bürger und er stammte über seinen Großvater Antiochus IV. von den Königen Kommagenes ab.48 Außerdem bezieht er sich auf den Gründer der makedonischen Dynastie in Syrien, Seleukos I. Nikator. Wenn Pausanias Philopappus lediglich als einen Syrer bezeichnet, ist dies sachlich nicht falsch; er missachtet aber die Komplexität der von Philopappus intendierten Demonstration mehrerer Aspekte seiner Identität. Der Anspruch von Philopappus, als Römer und Grieche zugleich wahrgenommen zu werden, wurde von Pausanias missachtet und auf ein Drittes reduziert. 43
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Aristeid. or. 26,75: ποιησάμενοι δὲ μολίτας, οὕτως καὶ στρατιώτας ἐποιήσατε ὥστε τούς τε ἀπὸ τῆς πόλεως μὴ στρατεύεσθται καὶ τοὺς στρατευομένους μηδ’ ὁτιοῦν ἧττοω εἶναι πολίτας, τῆς μὲν ἀρχαίας ἀπόλιδας γεγενημένους ἅμα τῇ στρατείᾳ, τῆς δ’ ὑμετέρας πολίτας τε καὶ φρουροὺς ἀπὸ τῆς αὐτῆς ἡμέρας. Paus. 1,25,2–26,3. Zum Philopappus-Monument vgl. Wu 2016. Kleiner 1983. Paus. 1,25,8. Vgl. die Überlegungen von Dijkstra in Scheidler 2016, wonach Philopappus sich durch die Wahl der statuarischen Verweise sowie lateinischen und griechischen Inschriften auf seinem Grabmonument an unterschiedliche Adressaten im römischen Griechenland wendet. Vgl. Dijkstra in Dimakis/Dijkstra 2017 (im Erschienen) CIL III 557a (= IG II2 3451a): C. Iulius C. f. Fab(ia) Antiochus Philopappus cos. frater Arvalis allectus interpraetorios ab Imp(eratore) Caesare Nerva Traiano Optumo Augusto Germanico Dacico („Caius Iulius Antiochus Philopappus, Sohn des Caius, aus der fabischen Tribus, Konsul, Arvalbruder, von Imperator Caesar Nerva Trajanus Optimus Augustus Germanicus Dacicus in den prätorischen Rang erhoben“). CIL III 557b (= IG II2 3451b): βασιλεὺς Ἀντίοχος Φιλόπαππος βασιλέως Ἐπιφάνους τοῦ Ἀντιόχου („König Antiochus Philopappos, Sohn des Königs Epiphanes, Sohn des Antiochus“). CIL III 557c (= IG II2 3451c): βασιλεὺς Ἀντίοχος βασιλέως Ἀντιόχου („König Antiochus, Sohn des Königs Antiochus“). CIL III 557d (= IG II2 3451d): [Φιλό]παππος Ἐπιφάνους Βησαιεύς („Philopappos, Sohn des Epiphanes, aus dem Demos Besa“). CIL III 557e (= IG II2 3451e): βασιλεὺς Σέλευκος Ἀντιόχου Νικάτωρ („König Seleukos Nikator, Sohn des Antiochos“).
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2 Methodische Vorüberlegungen
Es sei erneut an die These von Schmitz erinnert, dass gerade diejenigen Griechen, die die höchsten römischen Ämter erreicht haben, ihre griechische Identität besonders intensiv hervorkehrten.49 Das lässt sich als der Versuch interpretieren, griechische und römische Identität parallel zu pflegen. Dieser Versuch wird jedoch immer dann prekär, wenn sowohl kultur- als auch vergangenheitssensible Aspekte ins Spiel gebracht werden.50 Bemerkenswert ist außerdem, dass Aristides neben den Militärdienstleistenden vor allem die provinzialen Eliten im Blick hat, die für Rom die Aufgabe einer regelrechten Besatzung wahrnehmen (φρουρά). Diese „Besatzungen“ sieht Aristides als Teil der Herrschenden, aber nicht die anderen Bewohner Griechenlands. Zwar formuliert er dies positiv im Sinne der Römer, die auf militärische Besatzungen ihrerseits verzichten durften51 – der verwendete Terminus φρουρά ist aber „[…] im griechischen Denken ausnehmend negativ besetzt […],“52 wie Pabst herausgestellt hat. In jedem Fall ist φρουρά ein politischer Begriff. Da Aristides die griechischen Kollaborateure als Besatzer Griechenlands in römischen Diensten deutet, kann Schmitz’ These dahingehend modifiziert werden, dass diejenigen Griechen, die ein römisches Amt übernahmen, ihr Griechentum umso mehr 49 50
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Schmitz 1997, 25 und s. o. ad Anm. 36 (Kap. 2.2). Beispielsweise zeigt Dionysios zwar Interesse an der römischen Kultur und möchte Fremdes verstehen (vgl. Pabst 2010, 126 Anm. 37 mit Belegen und zahlreichen Beispielen, wie Diktatur, Triumphzug, Kalender oder Namenssystem), aber seine Zugehörigkeit zu den Griechen berührt das nicht. Diejenigen römischen Sitten, die Dionysios als „unseren (griechischen) Sitten“ überlegen vorstellt, haben keinerlei griechisches Pendant. Die patria potestas etwa ist bei den Griechen im 2. Jh. n. Chr. noch so unverständlich, dass Hadrian eigens darauf hinweisen muss, dass der Erwerb des römischen Bürgerrechts das Privatleben unmittelbar verändert, indem mündige Erwachsene alieni iuris und z. B. eigentumsunfähig gsind, solange der Familienvorstand sie nicht emanzipiert hat (Gai. Inst. 1,55). Vgl. Paus. 7,7,8, wo er die tria nomina erklärt und s. u. ad Anm. 123 (Kap. 4.1.2).Vgl. auch Lukian. Demon. 57 mit der Kritik daran, dass hinsichtlich der römischen Gladiatorenspiele in Athen die eigenen griechischen Werte nicht mehr geachtet werden (sog. Altar des Mitleids). Zu den Gladiatorenspielen im griechischen Bereich vgl. Mann 2011 und grundlegend Robert 1940. Aristeid. or. 26,64: […] φρουρῶν δὲ οὐδὲν δεῖ τὰς ἀκροπόλεις ἐχόντων, ἀλλ’ οἱ ἑκασταχόθεν μέγιστοι καὶ δυνατώτατοι τὰς ἑαυτῶν πατρίδας ὑμιν φυλάττουσιν· („Es bedarf keiner Besatzungen, welche die Burgen innehaben; denn die angesehensten und mächtigsten Männer überwachen überall in eurem Interesse die eigene Vaterstadt […].“). Pabst 2014a, 406. IG II 43, Z. 22 reagiert auf die Kritik am 1. Athenischen Seebund hinsichtlich der Besatzungen. Athen und Sparta waren mit dem ‚Besatzungsmodell‘ gescheitert (Aristeid. or. 26,50. 52. 27. 29). Die makedonischen und später römischen Besatzungen von Chalkis, Demetrias und Korinth („Fesseln Griechenlands“) werden von den Griechen bei Polyb. 18,11. 44 f. Plut. Arat. 16,2 f. (τὴν Μακεδόνων φρουράν) Plut. Flam. 10,2 und noch Paus. 7,7,6 (Korinth, Chalkis und allerdings Magnesia am Pelion) und 8,52,4 kritisiert. Vgl. auch Plut. praec. ger. reip. 814e: Ποιοῦντα μέντοι καὶ παρέχοντα τοῖς κρατοῦσιν εὐπειθῆ τὴν πατρίδα δεῖ μὴ προσεκταπεινοῦν, μηδὲ τοῦ σκέλους δεδεμένου προσυποβάλλειν καὶ τὸν τράχηλον, ὥσπερ ἔνιοι, καὶ μικρὰ καὶ μείζω φέροντες ἐπὶ τοὺς ἡγεμόνας […]. („Indem man aber sein Vaterland im Gehorsam gegen die herrschende Macht erhält, darf man es nicht noch mehr erniedrigen, nicht, weil das Bein gefesselt ist, die Kette auch noch um den Hals legen, wie manche es tun, die Alles, Großes und Kleines an die Statthalter bringen, […].“). Zur Fessel-Metaphorik vgl. Schrott 2014, 620 f., der auch auf die Verwendung bei Liv. 35,38,9 und Plut. de Herod. mal. 855a – allerdings in einem anderen Zusammenhang – hinweist.
2.2 Identitätskonflikte
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betonen mussten, weil sie von ihrer ursprünglichen peer group nicht mehr als Griechen wahrgenommen wurden. Daher sollten wir bei Identitäten den Blick auch auf die Perspektive von Dritten und den Kontext der Identitätsäußerungen ausweiten. Bowie hat bereits darauf hingewiesen, dass Zugehörigkeitsäußerungen immer auch kontextsensibel sind.53 Darüber hinaus müssen auch die Adressaten von Zugehörigkeitsäußerungen stets bedacht werden und wie diese die Kommunikationsversuche interpretieren.54 Da dies den Sprechern in ihrer jeweiligen Kommunikationssituation ebenfalls bewusst war, darf davon ausgegangen werden, dass sie denjenigen Aspekt ihrer Identität hervorkehrten, der den intendierten Adressatenkreis ansprechen sollte. Weil der Rezipient also immer auch einen Einfluss auf die Formulierung und Deutung der Botschaft hat, muss auch das Publikum von Zugehörigkeitsäußerungen berücksichtigt werden. Es soll im Folgenden an weiteren Beispielen untersucht werden, wie dieselbe Person ihre Identität in unterschiedlichen Kontexten darstellte und wie dies von Dritten rezipiert wurde. Für Lukian galt Arrian als ‚Mann, der zu den führenden Römern gehört‘.55 Tatsächlich hat Arrian den cursus honorum absolviert und war u. a. legatus Augusti pro praetore in Cappadocia.56 In Arrians Schrift über die Alanen bezeichnet er sich selbst hingegen als Xenophon, in den Dissertationes und im Periplus lediglich mit seinem griechischen Namen als Ἀρριανός – sein römischer Name war Lucius Flavius Arrianos.57 Einerseits stellt die Identifikation mit Xenophon ein literarisches Spiel dar, andererseits hätte ein eindeutig als Grieche perzipierter Mensch wohl nicht den Impuls verspürt, sich über seinen Namen als besonders griechisch auszuweisen. Über Lukians eigene Identität als Grieche oder Syrer wird noch zu sprechen sein.58 Es kann aber bereits festgehalten werden, dass Arrian von Lukian aufgrund seiner politischen Betätigung zu den führenden Römern gezählt wird, während sich dieser in seinen literarischen Werken als Grieche darstellt, der er von seiner Herkunft aus Nikomedeia in Bithynien her zweifellos war.59 Die von Whitmarsh angesprochene literarische Mimesis durch die Selbstbennenung Xenophon deutet unmissverständlich auf eine besondere Emphase für das Griechentum Arrians per Vergangenheitsbezug hin.60
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Bowie 2007, 374. Hutton 2005a, 42 gibt zu bedenken, dass die Griechen je nach Adressat (Griechen oder Römer) den Modus der Kommunikation änderten: Ein griechisches Publikum wird sich etwa für Defizienzerfahrung mehr empfänglich zeigen als ein römisches. Lukian. Alex. 2: καὶ Ἀρριανὸς γὰρ ὁ τοῦ Ἐπικτήτου μαθητής, ἀνὴρ Ῥωμαίων ἐν τοῖς πρώτοις καὶ παιδείᾳ παρ' ὅλον τὸν βίον συγγενόμενος […]. PIR2 F 219. Halfmann 1979, Nr. 56. Vgl. auch mit weiterer Literatur zu Arrian Fein 1994, 174–186. Vgl. Bowie 2007, 374. Vgl. Bosworth 1993, 272. Swain 1996, 68 folgert ein Selbstverständnis als Grieche bei Arrian, was Pabst 2010, 127 Anm. 44 bezweifelt, da sich Arrian zwischen den „Kulturen“ bewegt. S. u. ad Anm. 92 (Kap. 2.2). Vgl. Fein 1994, 174. Vgl. Whitmarsh 2001, 96 f. Whitmarsh 2004, 14, 48.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Es existieren nur wenige Quellen zu Publikums- oder Adressatenreaktionen, aber im Text eines Autors können die seinerseits antizipierten Reaktionen erschlossen werden: Sei es, dass ein Redner sowohl seine Botschaft für eine spezifische Zielgruppe formuliert als auch bestimmte Aspekte seiner persönlichen Überzeugungen betont oder auslässt. Vergleicht man etwa Dions vier Reden über die Monarchie zum Lobe Trajans mit seiner rhodischen oder den tarsischen Reden, wird offensichtlich, dass er sich gegenüber den Römern als Parrhesia-übender Philosoph darstellt, gegenüber den Griechen aber als Anti-Römer bzw. Patriot und somit auch die Vorstellungen seines Publikums bedient, respektive widerspiegelt. Ein anderes Beispiel in diesem Kontext sind nach dem Zeugnis Lukians die Schmähreden des Peregrinos Proteus gegen den (gutmütigen) Kaiser Antoninus Pius.61 Peregrinos’ Ruhm sei daraufhin bei den einfachen Leuten gestiegen bis er letztlich vom Stadtpräfekten Roms verbannt wurde wegen zu großer παρρησία. Mit seiner Verbannung aus Rom habe Peregrinos versucht, einem Musonius, dessen Schüler Epiktet oder einem Dion Chrysostomos nachzueifern.62 Es ist das Eine, welche Zugehörigkeiten in bestimmten Kontexten geäußert werden – das Andere, wie sie vom Adressaten in anderen Kontexten wiederum gedeutet werden. Bowie diente der oben angeführte Hinweis auf die unterschiedlichen Kontexte von Zugehörigkeitsäußerungen dazu, nachzuweisen, dass die Welt der Sophisten keinesfalls ausschließlich griechisch war und wir weitaus mehr römische Einflüsse vermuten dürfen.63 Das macht die griechischen Vergangenheitsbezüge aber zu einem bewussten Akt in einer römischen Gegenwart. Die einerseits damit präsentierte und andererseits wahrgenommene Identität ist dabei nicht immer deckungsgleich und unterliegt im historischen Verlauf auch einer gewissen Dynamik. Die Selbstdarstellung frühkaiserzeitlicher ‚Griechen‘ als ‚Römer‘ in Portraitstatuen römischen Typs ist geprägt von der Toga und der Abwesenheit der Darstellung eines Bartes. Im 2. Jh. n. Chr. beobachtet Smith hingegen den Trend zum griechischen Himation und Bart,64 den Pabst als Ausdruck gewachsener Distanz zu den Römern deutet.65 Der Vater des Herodes Atticus wird im Statuenprogramm des Nymphaeums in Olympia mit Toga, Herodes selbst mit Himation oberhalb von Hadrian dargestellt.66 Smith hatte dies als Ausdruck einer hybriden griechisch-rö-
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Lukian. Peregr. 18. Vgl. zur Verbindung von Eleutheria und Parrhesia Hülsenwiesche 2002, 110–114. Beispielsweise eröffnet Philostrat die Widmung seiner Sophistenviten mit seinem römischen Namen: „Flavius Philostratus an den glänzendstens Konsul Antonius Gordianus“. Damit umgibt er seine Darstellung mit einem römischen Rahmen. Ähnlich der Grieche Pollux von Naukratis, Autor eines zehn Bücher umfassenden attizistischen Lexikons (Onomasticon): Er versah jedes seiner zehn Bücher mit der Widmung Κομμόδῳ Καίσαρι Ἰούλιος Πολυδύκης χαίρειν. Smith 1998. Vgl. die Beobachtungen von Gkikaki 2016 zu den Statuen der „Roman imperial women“, die zunehmend klassische griechische Formen adaptieren. Pabst 2014a, 403. Vgl. Dion Chrys. or. 36,17, der in der idealisiert-griechischen Welt von Olbia um 100 n. Chr. denjenigen als Außenseiter darstellt, der sich rasierte, um den Römern zu schmeicheln. Smith 1998, 77 gefolgt von Gleason 2010, 132 f. und Kuhn 2012, 435 contra Bol 1984, 165 Anm. 33, Taf. 26, die den kopflosen Himationträger für Herodes’ Vater hält. Smith ebd. führt
2.2 Identitätskonflikte
51
mischen Identität gedeutet.67 Kuhn macht hingegen auf die Statusäquivalenzen in der Selbstdarstellung der griechischen Claudii aufmerksam, deren εὐγένεια dem patrizischen Rang der römischen Annii entspreche – der Familie von Herodes’ Frau Regilla.68 Was nach Smith ein Versöhnungskonzept darstellt, ist also vielmehr einem Rangstreit zwischen Griechen und Römern zuzuordnen, was uns im Folgenden beschäftigen wird. Vergleicht man die Karrieren der Claudii Attici aus der freien Stadt Athen mit denen der Quintilii-Brüder69 aus der römischen colonia Alexandria Troas, zeigen sich sowohl Muster unterschiedlichen Sozialverhaltens als auch die Machtkämpfe innerhalb der Senatorenschicht im 2. Jh. n. Chr., in dem besonders viele homines novi aus dem griechischen Osten in den römischen Senat aufstiegen.70 Die Quintilii hatten einen klar Rom-orientierten colonia-Hintergrund und waren keine Griechen, sondern über den Ritter- zum Senatorenstand aufgestiegene Italiker in einer römischen Veteranen-Kolonie, die unter Augustus auf dem Gebiet des hellenistischen Alexandreia Troas gegründet wurde.71 Der Großvater der Quintilii-Brüder wurde unter Nerva in den Senat aufgenommen: Sex. Quinctilius Valerius Maximus.72 Dieser ist identisch mit dem aus dem einschlägigen Plinius-Brief bekannten Maximus, der an die Besonderheiten der Griechen (Alter der Kultur, gegenwärtigen Defizienz) erinnert werden musste, was das cultural gap zwischen römischen Kolonisten und Griechen offenbart.73 Herodes hingegen sah sich durch seine Verbindung mit Hadrian, seine Heirat mit Regilla (und damit in die höchsten Kreise der senatorischen Aristokratie) und wohl auch als Lehrer von Marc Aurel und Lucius Verus nicht in Konkurrenz mit anderen Senatoren, sondern ihnen überlegen und auf einer Stufe mit dem Kaiser.74 Er begann seine Karriere bereits mit einem enormen Statusvorteil auf regionaler Ebene, den er auf die Reichsebene auszuweiten suchte. Die soziale Ambition des Herodes, ein par inter principes zu sein, war jedoch mit dem römischen Statussystem unvereinbar. Die Quintilii identifizierten sich hingegen mit dem ordo senato-
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die Parallele des Philopappus-Monuments in Athen an, bei dem ebenfalls der Vater Toga, der Sohn Himation trägt. Bol 1984, 98–100 zur Datierung: frühe 150er Jahre. Smith 1998, 77. Kuhn 2012, 436. Vgl. auch Kuhn 2010. Sex. Quintilius Condianus PIR2 Q 21. Sex. Quintilius Maximus PIR2 Q 27. Halfmann 1979, Nr. 75. 76. Trotta 1998 mit einem Stemma der Familie der Qunitilii. Vgl. Halfmann 1979, 78–81. Kuhn 2012, 426 f. I. Troas 39. Plin. ep. 8,24. Zur Identifikation von Sex. Quinctilius Valerius Maximus mit Plinius’ Maximus: Kuhn 2012, 428. Trotta 1998, 12 f. contra Sherwin-White 1966, 479. Maximus war corrector in Achaia 107/8 n. Chr., dazu Galimberti Biffino 2007, 287–289 und Spawforth 2012, 239. Die Identifikation mit dem aus Arr. Epict. diss. 3,7,30 f. bekannten Römer wird gemacht von Trotta 1998, 13 f. Millar 1965, 142. Tod 1939, 336 f. Zu den 25 bekannten correctores vgl. die prosopographische Studie von Guerber 1997. Kuhn 2012, 435.
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2 Methodische Vorüberlegungen
rius und versuchten Herodes als primus inter pares (vergeblich) auszuschalten als er in ihre Einflusssphäre eindrang.75 Herodes war Priester des Kaiserkultes,76 wie bereits sein Vater77 und auch der Urgroßvater78 unter Tiberius.79 Obwohl die Claudii Attici schon während des 1. Jh. n. Chr. für einen Senatssitz alle Voraussetzungen erfüllten, sind sie im Vergleich mit anderen Provinzialen erst spät in den Senat eingerückt und das aber als erste Griechen Achaias.80 Aufgrund der oben zur These von Schmitz angeführten Überlegungen kann nun gefolgert werden, dass Herodes Atticus gerade weil er Sohn eines Konsularen, selbst consul ordinarius und mit einer aristokratischen Römerin verheiratet war neben seiner außerordentlichen παιδεία seine griechische Genealogie betonte. Die Claudii Attici kommunizierten öffentlich, dass sie von Hermes abstammten über den Vorvater Keryx,81 Herkules,82 Kekrops,83 Miltiades und Kimon.84 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die römische Perspektive eines Gellius oder Fronto auf Herodes eher der Polemik hinsichtlich der Herkunft eines Provinzialen entspringt.85 75
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Die außerordentlichen reichsweiten Karrieren des Herodes und der Quintilii wurden solange geduldet, wie sie sich im üblichen Rahmen der ihnen zugebilligten Machtfülle bewegten. Als die Quintilii unter Commodus allerdings zusammen mit ihren ebenfalls erfolgreichen Söhnen und dem Familiennetzwerk hinter sich zu einer bedrohlichen ‚Tetrarchie‘ erwuchsen, wurden sie kurzerhand ausgeschaltet, vgl. Kuhn 2012, 452. IG II2 3595. Halfmann 1979, Nr. 27. FD III, 2, 66,5 ff. Halfmann 1979, 27a. IG II2 3530. Halfmann 1979, Nr. 27c. Quaß 1982, 190 Anm. 16 ist Halfmanns Identifizierung (Halfmann 1979, Nr. 27b) eines Τιβέριος Κλαύδιος Ἡρω[– aus IGR IV 1410 mit dem Großvater des Herodes Atticus zu gewagt. Dass der Vater des Claudius Atticus aber wahrscheinlich auch das Kaiserpriesteramt innehatte, lässt das ἀρχιερεὺς ἀπὸ προγόνων aus IG II2 3604, Z. 8 (= Syll.3 853/4) vermuten. Birley 1997, 212 vermutet als Grund für die Abneigung auch mangelnde Lateinkenntnisse. IG XIV 1389. IG II2 3606. IG XIV 1389. Vgl. Ameling 1983 I, 3–14 über die Genealogien. Erwägenswert wäre die Konfrontation der Genealogie des Herodes Atticus mit dem Befund von Hölkeskamp 1999, wonach diejenigen römischen gentes vermehrt griechische Genealogien bemühten (sich auf griechische mythologische Figuren hinabführend), die gößere Lücken in der Reihe ihrer politisch tätigen Vorfahren aufzuweisen hatten. Vgl. Iuv. sat. 8 über römische Genealogien und Vergangenheitsbezüge innerhalb der römischen Führungsschicht. Hinsichtlich seiner sprachlichen Fertigkeiten betont Aulus Gellius, dass Herodes sowohl mit der Gabe griechischer Redegewandtheit, als auch mit der Würde eines Konsuls ausgestattet war. Gellius war mit Herodes vertraut, der er ihn und seine römischen Landsleute des Sommers auf dessen Landgut bei Marathon einzuladen pflegte, vgl. Gell. noct. att. 1,2,1: Herodes Atticus, uir et Graeca facundia et consulari honore praeditus, accersebat saepe, nos cum apud magistros Athenis essemus, in uillas ei urbi proximas me et clarissimum uirum Seruilianum compluresque alios nostrates, qui Roma in Graeciam ad capiendum ingenii cultum concesserant. Damit setzt sich Gellius als Römer vom Griechen Herodes ab. Für Gellius ist Herodes der exzeptionelle Fall eines Grenzgängers, der trotz seines Engagements für Griechen und Römer eindeutig auf griechischer Seite verortet wird, da Gellius die Besonderheit der griechischen Redefertigkeit und gleichzeitigen Konsulwürde sonst nicht hätte betonen müssen. Dass Herodes außerdem meistens griechisch sprach, ist ihm unterdessen aufgefallen, vgl. Gell. noct. att. 1,2,6:
2.2 Identitätskonflikte
53
Die Perspektive der Griechen auf Herodes ist eine andere. Die Athener werfen Herodes vor, er wolle die Herrscher Griechenlands mit ‚viel Honig‘ für sich gewinnen und zeige tyrannisches Gebaren.86 Damit wird ihm die Nähe zu den Römern von seiner griechischen Mitwelt als Makel ausgelegt. Aufgrund der feindlichen Haltung von Seiten der Athener ihm gegenüber (er hatte die von seinem Vater testamentarisch festgesetzten jährlichen Auszahlungen von einer Mine an jeden attischen Bürger mit Schuldverrechnungen wieder kassiert) ging Herodes nach dem Tod seines Vaters und Kaiser Hadrians 138 n. Chr. nach Rom, um Abstand von Athen zu bekommen. Nach dem Tod seiner Frau Regilla strengte ihr Bruder Appius Annius Atilius Bradua 160 n. Chr. einen Prozess gegen Herodes an, in dem er ihn des Mordes an ihr bezichtigte.87 Nach Philostrat stellte die Anklagerede eine Lobrede auf Braduas Abstammung dar ohne seine Vorwürfe gegen Herodes zu beweisen. Stattdessen wies er auf den Eisenbuckel an seinem Schuh als patrizisches Statusabzeichen hin,88 was Herodes zur abfälligen Bemerkung veranlasste, er trage seinen Adel an den Schuhen. Damit will er andeuten, das patrizische Adelsabzeichen sei seiner eigenen ruhmvollen Abstammung unterlegen. Der Prozess war somit ein Austragungsort für den Kampf um die Frage der Überlegenheit der römischen Patrizier gegen das griechische Konzept der ἐυγένεια – ausgefochten zwischen alt-etablierten Familien und den neuen Provinzialen. Das Begräbnis-Gedicht für Regilla ist auf zwei Marmorsäulen von Triopion erhalten.89 Dort wird Hermes als Vorvater von Herodes eingeführt, der den Trojaner Aeneas gerettet und somit die Existenz römischer Patrizier erst ermöglicht hat. Hier ist also mittels Vergangenheitsbezug die griechische Überlegenheit gegenüber den Römern subtil verschlüsselt worden.90 Nach den Konflikten im römischen Statussystem wollte Herodes nicht weiter aufsteigen: Er wurde nicht Prokonsul und blieb nach eigener Aussage lieber Redner anstatt Konsular.91 Damit kann der Versuch des Herodes, sich sowohl im griechischen als auch im römischen Bereich zu behaupten, als gescheitert angesehen werden.
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[…] tum Herodes Graeca, uti plurimus ei mos fuit, oratione utens […]. Gellius hätte für einen Konsularen wohl eher das Lateinische erwartet. Eindeutiger wird Fronto, der in einem römischen Kontext erwägt, Herodes als ‚Griechlein‘ zu bezeichnen, was er jedoch nicht ausgeführt hat, vgl. Fronto ad M. Caes. 3,3 p. 38 van den Hout. Philostr. soph. 561. Vgl. dazu Kennell 1997. Vgl. allgemein zu den Patronatsbeziehungen Nicols 2014. Eilers 2002 und speziell zu Herodes Tobin 1997. Philostr. soph. 555 f. Vgl. Alföldy 1952. Dossin 1969. Goldman 2001, 101–131. Nach Plut. de tranqu. anim. 470c und Statius silv. 5,2,27 f. trugen aber auch Plebejer das ‚Mondmedaillon‘. Herodes’ Replik macht aber nur Sinn, wenn es exklusiv für die Patrizier stand. Vgl. auch Iuv. sat. 7,191. IG XIV 1389 = IGUR III 1155, diskutiert von Skenteri 2005, 29–47. Pomeroy 2007, 161–174. Gleason 2010, 147–156. Gleason 2010, 150. Die allgemeine Überlegenheit der Griechen gegenüber den Römern wird auch dadurch erzeugt, dass bei den Intellektuellen in der Kaiserzeit die Trojaner, die nicht erst seit Vergils Aeneis als Ahnherren der Römer gelten, als besiegte Barbaren dargestellt werden, vgl. Erskine 2001, 98 f. Philostr. soph. 536.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Es ist als problematisch zu erachten, wenn die Extremfälle (meist nur, weil sie gut dokumentiert sind) als Norm angenommen werden. Zwar sind Cassius Dio und Herodes Atticus durch den exzeptionellen Charakter ihrer Karrieren und Identitäten faszinierende Gestalten, sie repräsentieren aber gerade nicht den typischen Senator (wenn es überhaupt einen geben sollte). Während sich Cassius Dio ausschließlich als römischer Senator sieht, beobachten wir bei Herodes den verzweifelten Versuch, griechische und römische Identität miteinander in Einklang zu bringen, was aus griechsicher Perspektive letzlich scheitern musste. Die Entscheidung des Cassius Dio für die römische Seite erscheint dagegen weniger Probleme verursacht zu haben, da er ja lange in Rom lebte. Als Beispiele für den Fall, dass eine Person nicht-griechischer Herkunft um die Anerkennung ihrer Hellenisierungsversuche kämpft, können Lukian und Favorin angeführt werden. Lukian pflegte neben seiner semitischen Herkunft aus Samosata im Grenzgebiet zu den Parthern eine starke griechische Identität, die allerdings nicht auf Abstammung, sondern auf Paideia beruhte.92 Detaillierter soll im Folgenden Favorin aus Arelate untersucht werden, der als Gallier den Versuch unternimmt, mittels Paideia bei den Griechen als Grieche akzeptiert zu werden. Das wurde seitens der Griechen aber nicht anerkannt, da er in der Korinthischen Rede sonst nicht hätte um Anerkennung seines Anspruchs kämpfen müssen.93 Die Rede bietet einen Einblick in die Argumentation der Anerkennungskämpfe einer Person mit griechischer Paideia-Identität. Da Favorin das Identitätskonzpt eines kulturellen Griechentums vertritt kann er darauf verweisen, dass das römische Korinth mittlerweile hellenisiert sei. Sein Publikum spricht er daher als Griechen an.94 Pausanias, der hingegen ein ethnisch-genealogisches Identitätskonzept vertritt, stellte später zu seiner Zeit fest, dass keiner der alten Korinther mehr in der Stadt lebe, sondern von Rom geschickte Siedler.95 Dass die zeitgenössischen Korinther Griechen sind oder zu Griechen wurden, wird also von Pausanias bezweifelt. 92
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Vgl. Swain 1998, 314. Whitmarsh 2004, 122 und zuletzt Free 2015. Zur syrischen Identität Lukians vgl. Andrade 2013, 261–287. Griechisch war nicht Lukians Muttersprache, weshalb er als Nicht-Grieche auch ein größeres Interesse an nicht-griechischen Sprachen zeigt, vgl. Rochette 2010. Außerdem beobachtet er aufmerksam die Interferenz der beiden Amtssprachen des Imperium Romanum, was er beispielsweise in Pro lapsu verarbeitet (falsche Grußformel bei einer morgendlichen salutatio), vgl. Mestre/Vintró 2010. Vgl. auch Martin 2010 zu Lukians späterer Stellung als archistator des Präfekten von Ägypten. Zu Lukians Biographie vgl. Schwartz 1965. Ein späteres Beispiel für einen syrischen Landsmann Lukians stellt Ammianus Marcellinus dar, der sich selbst als miles et graecus charakterisiert. Er entstammt einer griechischen Oberschichtfamilie Syriens. Seine Karriere im römischen Militärdienst und das Bekenntnis zur lateinischen Sprache haben offenbar nicht seine griechische Identität tangiert. Vgl. Amm. 14,6,6. 16,10,3. 19,8,6. 31,16,9 und Dunstal 2002. Zu der bei Dion Chrysostomos überlieferten Korinthischen Rede Favorins (or. 37) vgl. Whitmarsh 2004, 119–121. Whitmarsh 2001. König 2001. Die Redesituation ist insofern komplex, als es sich bei Korinth um eine römische colonia handelt. Das wirft die Frage auf, ob überhaupt Griechen während Favorins Rede vor Ort waren und nicht vielmehr Römer sein Publikum bildeten. Er selbst stellt Korinth aber als mittlerweile hellenisiert dar und außerdem ist die Rede für die breitere Rezeption schließlich publiziert worden. Ps.-Dion Chrys. [Favor.] or. 37,26. Paus. 2,1,2.
2.2 Identitätskonflikte
55
Favorins konkreter Anlass für die Korinthische Rede ist der Abbruch einer einst ihm gewidmeten Statue, weshalb er zunächst statuarische Weihungen allgemein thematisiert. So, wie einem gebürtigen Lukanier, der eine Rede auf dorisch hielt, einmal in Syrakus eine Statue aufgestellt worden war, solle man Favorin jetzt in Griechenland (wieder) Statuen aufstellen, weil er sich mit den Griechen identifiziere: εἰ δέ τις οὐ Λευκανὸς ὤν, ἀλλὰ Ῥωμαῖος, οὐδὲ τοῦ πλήθους, ἀλλὰ τῶν ἱπποτρόφων, οὐδὲ τὴν φωνὴν μόνον ἀλλὰ καὶ τὴν γνώμην καὶ τὴν δίαιταν καὶ τὸ σχῆμα τῶν Ἑλλήνων ἐζηλωκώς, καὶ ταῦθ’ οὕτως ἐγκρατῶς καὶ περιφανῶς, ὡς οὔτε τῶν πρὸ αὑτοῦ Ῥωμαίων οὔτε τῶν καθ’ αὑτὸν Ἑλλήνων (εἰρήσεται γάρ) οὐδὲ εἷς· τῶν μὲν γὰρ Ἑλλήνων τοὺς ἀρίστους ἔστιν ἰδεῖν ἐκεῖσε πρὸς τὰ τῶν Ῥωμαίων πράγματα ἀποκλίνοντας, τὸν δὲ [προστάτην] πρὸς τὰ τῶν Ἑλλήνων καὶ τούτων ἕνεκα καὶ τὴν οὐσίαν καὶ τὸ πολιτικὸν ἀξίωμα καὶ πάνθ’ ἁπλῶς προϊέμενον, ἵν’ αὐτῷ περιῇ ἓν ἀντὶ πάντων Ἕλληνι δοκεῖν τε καὶ εἶναι – εἶτα τοῦτον οὐκ ἐχρῆν παρ’ ὑμῖν ἑστάναι χαλκοῦν; (26) καὶ κατὰ πόλιν γε· παρ’ ὑμῖν μέν, ὅτι Ῥωμαῖος ὢν ἀφηλληνίσθη, ὥσπερ ἡ πατρὶς ἡ ὑμετέρα, παρὰ Ἀθηναίοις δέ, ὅτι ἀττικίζει τῇ φωνῇ, παρὰ Λακεδαιμονίοις δέ, ὅτι φιλογυμναστεῖ, παρὰ πᾶσι δέ, ὅτι φιλοσοφεῖ καὶ πολλοὺς μὲν ἤδη τῶν Ἑλλήνων ἐπῆρε συμφιλοσοφῆσαι αὐτῷ, οὐκ ὀλίγους δὲ καὶ τῶν βαρβάρων ἐπεσπάσατο. (27) ἐπ’ αὐτὸ γὰρ τοῦτο καὶ ἐδόκει ὑπὸ τῶν θεῶν οἷον ἐξεπίτηδες κατεσκευάσθαι, Ἕλλησι μέν, ἵνα ἔχωσιν οἱ ἐπιχώριοι τῆς Ἑλλάδος παράδειγμα ὡς οὐδὲν τὸ παιδευθῆναι τοῦ φῦναι πρὸς τὸ δοκεῖν διαφέρει· Ῥωμαίοις δέ, ἵνα μηδ’ οἱ τὸ ἴδιον ἀξίωμα περιβεβλημένοι τὸ παιδεύεσθαι πρὸς τὸ ἀξίωμα παρορῶσι· Κελτοῖς δέ, ἵνα μηδὲ τῶν βαρβάρων μηδεὶς ἀπογιγνώσκῃ τῆς Ἑλληνικῆς παιδείας, βλέπων εἰς τοῦτον. Ist man nun kein Lukanier, sondern ein Römer, nicht ein Mann aus dem Volk, sondern aus dem Ritterstand, hat man sich nicht nur die Sprache, sondern auch die Denkart, Lebensweise und Aufmachung der Griechen angeeignet, und zwar so gekonnt und ausgezeichnet wie kein Römer vor einem und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch kein Grieche der Gegenwart – denn die besten der Griechen passen sich, wie man sehen kann, den dortigen römischen Verhältnissen an, während man selbst für die Griechen eingenommen ist und dafür Hab und Gut, seine politische Stellung, kurz, alles aufs Spiel setzt, um für all das nur eines zu haben: als Grieche zu gelten und Grieche zu sein – ausgerechnet von diesem Mann sollte kein Standbild bei euch stehen? (26) Eigentlich müßte es in jeder Stadt eins von ihm geben: bei euch, weil er als Römer ganz griechisch geworden ist, so griechisch wie eure Stadt; bei den Athenern, weil er Attisch spricht; bei den Spartanern, weil er mit Hingabe Sport treibt; in allen Städten schließlich, weil er sich der Philosophie verschrieben und schon viele Griechen zum gemeinsamen Studium mit ihm angeregt, ja sogar eine nicht kleine Zahl von Ausländern an sich gezogen hat. (27) Eigens zu diesem Zweck scheint er nämlich von den Göttern ausgeschickt worden zu sein, für die Griechen, daß die Einwohner Griechenlands dafür ein Beispiel hätten, wie gering hinsichtlich eines guten Namens der Unterschied zwischen Erziehung und Geburt ist; für die Römer, damit sie nicht vor lauter Selbstbewußtsein über die Bildung hinwegsehen; für die Kelten, damit im Hinblick auf diesen Mann kein Barbare daran verzweifelt, daß auch für ihn die griechische Bildung erreichbar sei.96
Favorin als Gallier respektive Kelte bezeichnet sich selbst als Römer, der mittels παιδεία (Bildung), φωνή (Sprache), γνώμη (Gesinnung), δίαιτα (Lebensweise) und σχῆμα (Charakter, Erscheinung oder Kleidung) Anerkennung als Grieche einfordert.97 Mit den genannten Elementen umschreibt er Aspekte griechischer Identität, 96 97
Ps.-Dion Chrys. [Favor.] or. 37,25–27. Vgl. Pabst 2014a, 404 und König 2001. Vgl. Men. Rhet. 354,7–21: Wenn man die Siedler einer hellenischen Stadt lobt, soll man sie auf Dorer, Aioler oder Ionier zurückführen. Die Aioler seien die stärksten (ἰσχυρότατος), die Dorer
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2 Methodische Vorüberlegungen
die man sich allesamt aneignen könne, um als Grieche zu gelten ohne als solcher geboren zu sein. Damit erkennt er implizit den exklusiven Charakter griechischer Identität an, nachdem nur der ein Grieche war, der als solcher in einer griechischen Stadt geboren war, mithin eine griechische Abstammung vorweisen konnte. Er beobachtet außerdem kritisch, dass Teile der griechischen Elite eine römische Karriere anstreben (τὰ τῶν Ῥωμαίων πράγματα). Zugunsten des Griechisch-Seins habe er nicht nur auf römische, sondern auf jegliche politische Ambition (τὸ πολιτικὸν ἀξίωμα)98 verzichtet. Favorin stellt es als unvereinbar dar, gleichzeitig Grieche zu sein und politische Ämter zu übernehmen und dabei Grieche zu bleiben. Der Grund für letzteres könnte darin gesehen werden, dass im Falle der Übernahme römischer Ämter „[…] die griechische Mitwelt [ihn] nicht länger als Griechen [sieht], sondern zu den Römern rechne[t].“99 Es kann gefolgert werden, dass die Übernahme römischer Ämter von den nicht Rom-orientierten Griechen ausgeschlossen wird. Auch Aelius Aristides hat sich nachdrücklich geweigert überhaupt irgendeines der an ihn herangetragenen Ämter zu übernehmen, darunter sowohl Ämter auf Polis- als auch auf Provinzebene.100 Favorin beansprucht für sich, das Ideal des zeitgenössischen Hellenen abzubilden, indem er zeigt, dass παιδεία fast so gut sei wie φύσις. Gerade der Streit zwischen Favorin und Polemon macht deutlich, dass ethnische und kulturelle Identität gegeneinander ausgespielt wurden. Bevor wir gleich zu diesem paradigmatischen Streit kommen, sei zunächst der bisher noch nicht explizierte Begriff der ethnischen Identität am Beispiel des Dion Chrysostomos erklärt. In seinem an ‚die Griechen‘ adressierten101 Olympikos soll der Bildhauer Pheidias angeklagt werden, um herauszufinden, nach welchem Vorbild er seine Zeusstatue gefertigt habe. Im Zusammenhang mit den gemeinsamen Göttern wird der „väterliche Zeus“ genannt, den diejenigen so nennen, „die wir gemeinsam teilhaben an Griechenlands Erbe.“102 Pheidias soll ἐν τοῖς Ἕλλησιν (vor den Hellenen) angeklagt werden. Diese sollen einen „gemeinsamen Gerichtshof einrichten aus allen Bewohnern der Peloponnes […], dazu noch aus Böotiern, Ioniern und allen Griechen Europas und Kleinasiens […].“103 Dion beginnt die Rede mit einer Kritik an den Sophisten, mit denen man lediglich glücklich werden könne, wenn man Geld gäbe und „Eltern, Vater-
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die männlichsten (ἀνδρικότατος) und die Ionier die beredetsten (ἐλλογιμότατος). Favorin weist auf ähnliche Attribute hin und bringt sich selbst damit in Verbindung. Er fordert von sich eine Statue bei den den Athenern, weil er Attisch spricht (ἀττικίζει), bei den Spartanern, weil er mit Hingabe Sport treibt (φιλογυμναστεῖ) und in allen griechischen Städten, weil er sich der Philosophie verschrieben hat (φιλοσοφεῖ). Ps.-Dion Chrys. [Favor.] or. 37,25. Pabst 2014a, 408. Vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 2002, 119–125. Seine Zuhörer spricht er deutlich als „παρά γε ἡμῖν τοῖς Ἕλλησι“ an, Dion Chrys. or. 12,41. Vgl. auch Dion Chrys. or. 50,2, wo er die Ratsherren von Prusa als Hellenen anspricht. Vgl. Zweimüller 2008, 177. Dion Chrys. or. 12,42: ὃν καὶ πατρῷον Δία καλοῦμεν οἱ τῆς Ἑλλάδος κοινωνοῦντες. Dion Chrys. or. 12,49: μᾶλλον δὲ κοινὸν δικαστήριον ξυμπάντων Πελοποννησίων, ἔτι δὲ Βοιωτῶν καὶ Ἰώνων καὶ τῶν ἄλλων Ἑλλήνων τῶν πανταχοῦ κατὰ τὴν Εὐρώπην καὶ τὴν Ἀσίαν, […].
2.2 Identitätskonflikte
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land, Heiligtümer der Götter, Gräber der Vorfahren“104 zurückließe. Der ethnische Griechenbegriff Dions erstreckt sich nicht nur auf das griechische Kernland südlich des Balkans, sondern auch auf Kleinasien, während jedoch die italischen Griechen und hellenistischen Reiche ausgespart werden. Die Rückbindung an die Griechen der Vergangenheit ist bei diesem ethnischen Identitätskonzept zentral. Wenn hier von ethnischer Identität die Rede ist, liegt dem die Konzeption Halls zugrunde, der den Identitätsdiskurs der archaischen und klassischen Griechen untersucht hat. Er zeigt, dass die ethnischen Gruppen in archaischer Zeit keine „racial“,105 sprachlich, religiös oder kulturell bestimmten Gruppen, sondern soziale Gruppen sind, deren Ursprünge jeweils gemeinsam imaginiert werden. Er verwirft den Essentialismus ethnischer Gruppen und argumentiert stattdessen für eine aktive, konstruktive und dynamische Rolle von Ethnographie, Genealogie, materieller Kultur und Sprache bei der Konstitution ethnischen Selbstbewusstseins: What makes ethnic identity distinct from other social identitites is precisely its historical (or quasi-historical) dimension. The consciousness that it engenders is explained and legitimated by reference to the past: the answer to ‚who am I?‘ invariably involves ‚how did I get here?‘106
Ethnische Identität kommt nicht ohne Vergangenheitsbezüge aus. Insbesondere bei Vergangenheitsbezügen zum Freiheitskampf als integralem Aspekt griechischer Identität und der zeitgenössischen Defizienzerfahrung, die ohne Vergangenheitsbezüge zu einer vermeintlich besseren Vergangenheit undenkbar ist, zeigt sich die Abhängigkeit der Griechen von der selektiven Aktualisierung ihrer Vergangenheit. Mit Hall wird deutlich, dass kulturelle und ethnische Identität gleichermaßen soziale Konstrukte sind, deren Legitimität und Geltung gesellschaftlich ausgehandelt werden muss. Solch eine Aushandlung ist der dokumentierte Streit zwischen Polemon und Favorin. Während Polemon ein ethnisches Griechentum propagiert, versucht Favorin sich mithilfe von Aspekten eines kulturellen Paideia-Griechentums Anerkennung zu verschaffen, womit er letzlich scheitert. Favorin ist lediglich hellenisiert, kann aber nie ein Grieche werden.107 Philostrat sieht den Anfangspunkt des Streits in der kompetitiven Natur der kaiserzeitlichen Bildungselite. Als Polemon in Smyrna und Favorin in Ephesos parallel ihre Vortragstätigkeit entfalteten, hatten sie ein Publikum von Konsuln und deren Söhnen.108 Hierbei fällt bereits auf, dass die Römer ihre Söhne wohl bei einem „echten Griechen“ studieren lassen wollten. Die dem jeweils Vortragenden entgegengebrachte Gunst der Römer neideten Favorin und Polemon einander. Als Nebenbemerkung sei eingeschoben, dass die Söhne römischer Konsuln natürlich auch als Römer wahrgenommen werden.
104 Dion Chrys. or. 12,10: καὶ γονεῖς καὶ πατρίδας καὶ θεῶν ἱερὰ καὶ προγόνων τάφους […]. 105 Aufgrund der problematischen Konnotation des „Rassebegriffs“ wird in dieser Arbeit ‚Genealogie‘ und ‚genealogisch‘ verwendet, auch wenn die angelsächsische Forschung mehrheitlich ‚race‘ und ‚racial‘ gebraucht. 106 Hall 1997, 182. 107 In Anlehnung an Woolfs Dictum „Becoming Roman, staying Greek“ und dessen Inversion könnte hier formuliert werden: „Trying to become Greek, but staying Roman.“ 108 Philostr. soph. 490.
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2 Methodische Vorüberlegungen
In der Auseinandersetzung zwischen Favorin und Polemon sei aus φιλοτιμία (Ehrliebe) bald φθόνος (Neid) entstanden, worauf sie Schmähreden auf einander schrieben. Im Zuge dessen muss auch die Legitimität von Favorins Griechentum zur Sprache gekommen sein, da sie für Polemon einen attraktiven Angriffspunkt bot. Favorin sprach bekanntlich von seinen drei Lebensparadoxa: Er sei Gallier, der als Hellene lebe, außerdem Eunuch, der wegen Ehebruchs verurteilt wurde und habe mit dem Kaiser gestritten und sei dennoch am Leben.109 Er wollte mittels Paideia als Grieche gelten, die er bewusst gegen die Physis absetzte, um sich im Rahmen seiner Argumentation Anerkennung zu verschaffen.110 Daher ist Romeos Beobachtung verständlich, dass „[t]he theme of the purity of Hellenic blood could not fail to be unpopular with those who explicitly attached themselves to Isocrates’ cultural conception of Greekness.“111 Polemon verfasste zwischen 133 und 136 n. Chr. eine physiognomische Schrift,112 die in einer arabischen Übersetzung von 1356 in einer Leidener Handschrift überliefert ist.113 In der lateinischen Übersetzung von Georg Hoffmann trägt ein Abschnitt die Überschrift De Graecis et eorum genere puro.114 Nachdem Polemon in den vorstehenden Absätzen die Bevölkerung aller vier Himmelsrichtungen beschrieben hat, geht er hier dazu über, die ‚authentischen‘ Griechen als ein reines Genos zu definieren, da sie unvermischt seien (1–5). Polemisch erklärt er danach (5–10), dass viele Ausländer vor kurzem gekommen seien und sich in Griechenland niedergelassen hätten, angezogen durch das bequeme Leben, das Klima, die Kultur, die Bräuche und die lokalen Institutionen. Der Grieche sei von diesen verschieden, moderatus in seiner körperlichen Erscheinung und ausgestattet mit einer natürlichen Intelligenz (11–21). Hier finden wir die Theoretisierung der grundlegenden Unterschiede zwischen ethnischen Griechen und kulturellen „WahlGriechen“, zusammen mit einer Erklärung der vermeintlichen körperlichen und geistigen Überlegenheit. Polemon hielt demnach 131/2 n. Chr. nicht zufällig die Rede zur Einweihung des Tempels des Zeus Olympios – dem Gründungsakt des Panhellenions, das die ethnische griechische Identität förderte.115 Die Poleis mussten sich zur Aufnahme in 109 Philostr. soph. 489: ὅθεν ὡς παράδοξα ἐπεχρησμῴδει τῷ ἑαυτοῦ βίῳ τρία ταῦτα· Γαλάτης ὢν ἑλληνίζειν, εὐνοῦχος ὢν μοιχείας κρίνεσθαι, βασιλεῖ διαφέρεσθαι καὶ ζῆν. Vgl. Cass. Dio 69,3,6. 110 Ps.-Dion Chrys. [Favor.] or. 37,27: ἵνα ἔχωσιν οἱ ἐπιχώριοι τῆς Ἑλλάδος παράδειγμα ὡς οὐδὲν τὸ παιδευθῆναι τοῦ φῦναι πρὸς τὸ δοκεῖν διαφέρει· („Damit die umwohnenden Griechen ein Beispiel haben, wie die Bildung nicht weniger Ansehen bringt als Geburt.“). 111 Romeo 2002, 32. Vgl. Isokr. or. 4,50. 112 Vgl. Gleason 1995, 29 f. Jetzt grundlegend Swain 2007a mit der ersten Übersetzung ins Englische und umfangreicher Diskussion. 113 Vgl. Förster 1994, 95. 114 Förster 1994, 242. 115 Vgl. Philostr. soph. 533. Für die chronologische Koinzidenz vgl. IG IV2 1,384 (Epidauros). Romeo 2002, 26: „From the phraseology adopted in the extant inscriptions that relate to the Panhellenic league, it can be stated that the element appealed to most frequently in championing the Hellenic background of a community is that of consanguinity. In fact, the ideology of the Hadrianic Panhellenion seems to return to a definition of the concept of genos in terms of ancestral blood ties.“
2.2 Identitätskonflikte
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das Panhellenion bewerben, ihre Abstammung von Griechen nachweisen (εὐγενεία, συνγενεία), sowohl gute Beziehungen zu den anderen Poleis und Rom unterhalten, als auch Privilegien von Hadrian empfangen haben.116 Die wichtigste Aufgabe des Panhellenions war die Durchführung des Kaiserkultes durch den Hiereus und die Abhaltung von Spielen.117 Ein weiterer Bereich, in dem Identitätskonflikte zu beschreiben sind, ist die Namensgebung (Onomastik). Es war in der griechischen Oberschicht gängige Praxis, berühmte Feldherren, Staatsmänner, Redner und Philosophen der griechischen Geschichte als „Vorfahren“ anzugeben. Die griechischen Eigennamen dieser historischen Personen, wie Solon, Perikles, Nikias, Alkibiades, Demosthenes, Platon, Aristoteles oder Xenophon, erscheinen neben den römischen vermehrt aber erst in der Kaiserzeit in den Inschriften.118 So führt sich die Enkelin eines römischen Senators namens Klaudia Themistoklea über 19 Generationen auf Themistok-
116 Vgl. Romeo 2002, 31. Heller 2006 zur Eugeneia. Jones 1996a, 30 meint, das Panhellenion sei eine Idee der Griechen zu Ehren ihres Wohltäters Hadrian gewesen. Es sind 54 epigraphische Texte bekannt (Spawforth/Walker 1985, 79) und nur eine einzige literarische Quelle zur Gründung des Panhellenions in der Epitome aus Cass. Dio 69,16,1 f.: Ἁδριανὸς δὲ τό τε Ὀλύμπιον τὸ ἐν ταῖς Ἀθήναις, ἐν ᾧ καὶ αὐτὸς ἵδρυται, ἐξεποίησε, καὶ δράκοντα ἐς αὐτὸ ἀπὸ Ἰνδίας κομισθέντα ἀνέθηκε· τά τε Διονύσια, τὴν μεγίστην παρ' αὐτοῖς ἀρχὴν ρξας, ἐν τῇ ἐσθῆτι τῇ ἐπιχωρίῳ λαμπρῶς ἐπετέλεσε. τόν τε σηκὸν τὸν ἑαυτοῦ, τὸ Πανελλήνιον ὠνομασμένον, οἰκοδομήσασθαι τοῖς Ἕλλησιν ἐπέτρεψε, καὶ ἀγῶνα ἐπ' αὐτῷ κατεστήσατο, χρήματά τε πολλὰ καὶ σῖτον ἐτήσιον τήν τε Κεφαλληνίαν ὅλην τοῖς Ἀθηναίοις ἐχαρίσατο. Auffallend ist, dass Städte wie Ephesos und Smyrna fern blieben. Harter-Uibopuu 2003, 226 f.: „Ob der Grund dafür in Schwierigkeiten mit der Unterordnung unter die Vormachtstellung Athens zu suchen ist oder in der Überlegung, daß eine Teilnahme an dieser Organisation nicht notwendig sei, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Jedenfalls scheint die Möglichkeit, am Panhellenion teilzunehmen, dazu geführt zu haben, daß sich zahlreiche Städte in den Randgebieten der griechischen Welt mit ihren Wurzeln beschäftigten und die in der Diplomatie bereits in früheren Zeiten oft angeführten Verwandtschaftsverhältnisse erneut erforscht und öffentlich gemacht wurden. Damit war eine neue Identifizierungsmöglichkeit gegeben, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen lassen sollte.“ 117 Vgl. Jones 1996a, 43 ff. Es gab ferner den Archon und Agonotheten, der für die Austragung der Spiele (Panhellenia, seit 137) zuständig war, vgl. Harter-Uibopuu 2003, 227. Viele Amtsinhaber nutzten das Panhellenion und den Kaiserkult als Sprungbrett für eine Reichskarriere, vgl. Spawforth/Walker 1985, 103. Für die Elite boten sie eine Ehrenposition, mit der zum einen Prestige erzeugt und zum anderen eine Identifikation mit der römischen Herrschaft hergestellt werden konnte, vgl. Arr. Diss. Epict. 1,19,26–29. Millar 1965, 147. Bowersock 1996a, 297. Aus den 70er Jahren des 2. Jh. n. Chr. stammen bereits die ersten Nachrichten von finanziellen Schwierigkeiten, gegen Ende desselben Jh. scheint es schwierig gewesen zu sein, Teilnehmer für die penteterischen Spiele zu finden und im 3. Jh. n. Chr. verliert sich die Spur des Panhellenions. Vgl. Harter-Uibopuu 2003, 226. Die Spiele waren jedoch im 2. Jh. eine gewisse Zeit lang beliebt. In Kleinasien nahmen die Inschriften bezüglich des panhellenischen Synhedrions in dem Maße zu, wie die Inschriften mit Bezug zu den Eleutherien abnahmen, was Jung 2006, 377 Anm. 144 zu der Hypothese führte, dass das Bedürfnis nach einem panhellenischen Synhedrion mit dem Panhellenion befriedigt war. Darüber hinaus ließe sich vermuten, dass die kleinasiatischen Poleis ein Substitutionsangebot bekommen hatten, das zwar der panhellenischen Integration diente, aber weniger mit dem griechischen Freiheitskampf assoziiert war. 118 Vgl. Touloumakos 1971, 49. 55–58 mit epigraphischen Beispielen.
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les zurück.119 Ein gewisser Σεκουνδεῖνος lässt in Korinth für seinen Freund oder Verwandten Διογένης Ἡρμολάου aus Athen eine Inschrift setzen mit den Worten: Ἀτθίδος εἰμὶ πάτρης, Περικλήιον αἷμα λελογχώς („Ich habe attische Väter, in denen das Blut des Perikles fließt.“).120 Wenn dann Apollonios von Tyana die ionischen Griechen tadelt, weil sie sich römische Namen und nicht die der griechischen Heroen und Gesetzgeber geben,121 erkennen wir, dass einige Griechen ihre historisch fundierte Identität stark gegen die römische absetzen und bereits der Wechsel des Namens unter den Griechen kritisch diskutiert wird. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Betonung ethnischer Identität eine ‚Immunisierung‘ gegen römische Akkulturationstendenzen darstellt. Da beim Wechsel in römische Dienste die griechische Identität seitens der Griechen sofort prekär wurde, versuchte man mit einer starken ethnischen Identität dem Zweifel zuvorzukommen. Damit kann Polemons Emphase für ein ethnisches Griechentum und seine Abstammung122 vor diesem Hintergrund als Reaktion auf Kritik seitens nicht Romorientierter Griechen ex negativo gedeutet werden. Es ist außerdem der Hinweis Vouts zu bedenken, dass Hadrians Philhellenismus stärker von der Perspektive des Kaisers aus betrachtet werden sollte, der die Griechen in das Imperium Romanum zu integrieren suchte.123 Die verstärkten Integrationsbemühungen müssen demnach auch vor dem Hintergrund sich zunehmend von den Römern distanzierender Griechen gesehen werden. Es darf nicht vergessen werden, dass seitens der Römer die griechische Freiheitsdebatte nicht unbemerkt geblieben sein dürfte, vor allem weil die letzte Freiheitserklärung – diejenige Neros – zeitlich nicht weit entfernt lag.124 2.3 DIFFERENZIERUNG DER GRIECHEN Es hat sich gezeigt (s. o. Kap. 2.2), dass ‚die Griechen‘ keinesfalls als eine homogene Gruppe im östlichen Teil des Imperium Romanum aufzufassen sind, wie auch ‚die Römer‘ im Westen bekanntlich zu differenzieren sind. In diesem Zusammenhang sei auf die rezente einschlägige Forschung von Johnston (2017), Vanacker/ Zuiderhoek (2017), Revell (2016; 2009) und Woolf (2003) verwiesen. Es würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen, wenn auch ‚die Römer‘ in der gleichen Tiefe differenziert würden wie es im Folgenden für ‚die Griechen‘ geleistet wird. Es wurden bereits Beispiele angeführt, die demonstrieren, dass die kommunizierten Zugehörigkeitsäußerungen nicht selten einem (zum Teil intendierten) Miss119 IG II/III2 3610, Z. 5 ff. Tiberios Klaudios Demostratos’ (Senator, curator) Enkelin Klaudia Themistoklea beruft sich noch im 3. Jh. auf die berühmten Vorfahren. (IG II/III2 3609). 120 IG IV 1604 = SEG 11,77 aus dem römischen Korinth. 121 Philostr. Ap. 4,5. Apoll. epist. 71. Alte Namen werden tatsächlich immer beliebter: Zoumbaki 1996. Spawforth 1996. Touloumakos 1971, 47 ff. 122 Vgl. Thonemann 2004 mit der auf epigraphischer Basis erbrachten Klarstellung über das Abstammungsverhältnis des Sophisten Polemon von Laodikeia vom König Polemon I von Pontos. 123 Vout 2006. Vgl. auch De Kleijn/Benoist 2013. 124 S. u. Kap. 5.1.
2.3 Differenzierung der Griechen
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verständnis seitens der Rezipienten unterlagen. Insbesondere dann, wenn von einer Person die Gleichzeitigkeit von römischer und griechischer Identität proklamiert wurde, haben Griechen diese Person auf eine der beiden kommunizierten Identitäten festgelegt. Daher bedarf es einer Differenzierung der Griechen, die im Rahmen dieser Arbeit auf ihre Verwendung von Vergangenheitsbezügen hin untersucht werden sollen. Die Frage ist also, ob die für die Autoren des zugrundegelegten Untersuchungscorpus erzielten Ergebnisse auch auf andere Griechen ausgeweitet werden dürfen. Der Anteil der Senatoren aus dem östlichen Teil des Imperium Romanum wuchs stetig seit der Zensur Kaiser Claudius’ im Jahr 48 n. Chr., in der er den Senat auch für die Provinzialen öffnete,125 merklich aber erst ab dem Ende des 1. Jh. n. Chr.126 Unter Antoninus Pius und Mark Aurel wurden tatsächlich östliche Statthalter bevorzugt, während unter Commodus und Severus diese Politik langsam wieder aufgegeben wurde.127 Das Amt des ab epistulis Graecis (ἐπὶ τῶν Ἑλληνικῶν ἐπιστολῶν) bekleideten ausschließlich sowohl ökonomisch als auch sozio-kulturell distinguierte Provinziale aus dem griechischen Osten.128 Sie schlugen genau wie die aus dem Osten stammenden und dort auch vorwiegend zum Einsatz kommenden Senatoren eine Brücke zwischen dem Kaiser in Rom und dem griechisch-sprachigen Teil des Imperium Romanum.129 Im konkreten Einzelfall ist indessen Vorsicht geboten, ob es sich bei einem aus dem Osten kommenden Angehörigen des ordo equester oder ordo senatorius tatsächlich um einen Griechen handelt oder vielmehr um einen Römer im Sinne seines ethnisch-genealogischen Selbstverständnisses. Unter der julisch-claudischen Dynastie traten relativ wenige homines novi aus dem Osten auf, wobei diese bis auf M. Antonius Flamma italische Einwanderer meist in der dritten Generation waren.130 Erst unter Vespasian sehen wir einen signifikanten Zuwachs östlicher Senatoren. Vespasian hatte die Reihen des Senats nach Neros Regierung und dem Vierkaiserjahr in der Tat auch wieder aufzufüllen. Tatsächlich stammte der überwiegende Teil ‚östlicher‘ Senatoren aus zuvor eingewanderten italischen Familien.131 Erinnert sei daran, dass Caesar, die Triumvirn und Augustus im Osten ca. 20 Veteranenkolonien gegründet hatten, die später typischerweise nach drei Generationen auch Senatoren hervorbrachten. Außerdem haben sich bereits während republikanischer Zeit römische negotiatores im Osten niedergelassen, die zusammen mit den Kolonisten als
125 CIL XIII 1668 (= ILS 212). S. o. Anm. 63 (Kap. 1.2). 126 Vgl. Schmitz 1997, 24 f. Swain 1996, 69–71. Zweimüller 2008, 344. Halfmann 1979, 71–81. 127 Bevorzugung östlicher Statthalter: vgl. Alföldy 1977, 78 f. 119 f. (Provincia Asia). Zur Aufgabe dieser Politik vgl. Leunissen 1989, 88 f. 128 Vgl. die prosopographische Arbeit von Magioncalda 2010, der 21 Personen als Amtsinhaber aufführt. 129 Vgl. Halfmann 1979, 88 f. und 94, der zeigt, dass die östlichen Senatoren vorwiegend im griechisch-sprachigen Bereich eingesetzt wurden. 130 Vgl. Halfmann 1979, 71 f. M. Antonius Flamma (Halfmann 1979, Nr. 7), procos. von Creta und Cyrene, vgl. Tac. hist. 4,45. 131 Vgl. Halfmann 1979, 71.
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Römer anzusprechen sind.132 Wie Kuhn am Beispiel der Quintilii-Brüder gezeigt hat, beziehen sich das Selbstbild, die Zugehörigkeitsäußerungen und die Statuskonzepte der imigrierten Italiker auf Rom, auch wenn sie bereits seit mehreren Generationen im griechischen Osten leben.133 Beispielsweise waren auch die in Ephesos prominenten Vedii Antonini italischen Ursprungs.134 Es lassen sich weitere Beispiele anführen für die Rom-Orientierung aus dem Osten kommender Personen. Mit Rom-orientiert ist dabei gemeint, dass Personen eine Orientierung auf römische Ämter, den cursus honorum und letzlich den Konsulat hin zeigen, indem sie diese Ämter angestrebt und auch bekleidet haben. Ein frühes Beispiel für einen Rom-orientierten Griechen ist der aus Kos stammende C. Stertinius Xenophon, der von Kaiser Claudius in den Rang eines Ritters erhoben wurde. Er war in Rom kaiserlicher Leibarzt und bekleidete das Amt des ab epistulis.135 In Inschriften wird Xenophon mit den Attributen φιλοκαίσαρ, φιλονέρων, φιλοκλαύδιος, φιλοσέβαστος und φιλορώμαιος betitelt.136 Im Anschluss an seine Tätigkeit in Rom kommt Xenophon zurück in seine Heimat und ist dort als Euerget tätig. Der Ritter Cn. Cornelius Pulcher war hingegen nicht in Rom, sondern schwerpunktmäßig in Achaia tätig.137 Er entstammte einer großen Familie aus Epidauros und war sowohl Priester des Kaiserkultes, Helladarch des achäischen Koinons als auch Archon des Panhellenions.138 Wohl nicht zufällig erinnert Plutarch ihn an die Lektüre seiner Praecepta gerendae reipublicae, die die Aufrechterhaltung griechischer Werte bei gleichzeitigem Engagement für die Römer thematisieren.139 Tiberius Claudius Novius war in seiner Jugend Sieger im Waffenlauf bei den Eleutherien, später ebendort sowohl Priester des Kultes von Plataiai als auch des Kaiserkultes.140 Er war Epimelet in Athen auf Lebenszeit, Priester des delischen Apollon, Epimelet des delischen Heiligtums, Nomothet und Oberpriester des Kaiserhauses. Nicht nur durch seine zahlreichen Priesterämter sondern auch durch
132 Val. Max. 9,2 nennt 80 000 und Plut. Sulla 24,4 nennt 150 000 römische Opfer bei der ephesischen Vesper, was die relativ hohe Zahl von Römern in Kleinasien bereits in spätrepublikanischer Zeit demonstriert. 133 Kuhn 2012, 426 f., 435 und 452. 134 Keil 1955, 563: „[…] richtiger wird man sie aus der Schicht jener Italiker herleiten, die als Steuerpächter, Kaufleute oder Geschäftemacher in die Provinz Asia gekommen und, wie sich immer deutlicher herausstellt, in großer Zahl daselbst verblieben sind und namentlich in der Zeit des Übergangs von der Republik zur Monarchie, aber auch noch das ganze 1. Jhdt. n. Chr. hindurch als eine von der einheimischen griechischen Bevölkerung gesonderte Gruppe im Geschäftsleben der Städte, durch mancherlei Begünstigungen gefördert, eine bedeutende Rolle spielten.“ 135 Syll.3 804. Tac. Ann. 12,67. Vgl. Quaß 1982, 198. 136 Syll.3 804,14 f. Herzog 1899, 198 (Gebet von Kalymnos für den Sohn des Xenophon). Vgl. Quaß 1982, 151. 137 PIR2 C 1424. Pflaum 1960–1961, 178 f., Nr. 81. 138 IG IV 1600. Vgl. Quaß 1982, 207. Stemma der Familie bei Hiller v. Gaetringen (IG IV2 1 p. XXV). 139 S. u. ad Anm. 5 (Kap. 3.1). 140 IG II2 1990. Vgl. zur Karriere Geagan 1979.
2.3 Differenzierung der Griechen
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seine Ehe mit der Spartanerin Damosthenia141 hatte er Verbindungen über die ganze Provinz Achaia. Auch in Sparta konzentriert sich das Priesteramt des Kaiserkultes in einer Familie.142 C. Iulius Eurykles Herclanus L. Vibullius Pius143 war ein Nachfahre des Octavianfreundes C. Iulius Eurykles,144 der wie seine Vorfahren das lebenslange Amt innehatte.145 Die Freundschaft zum Kaiser brachte er mit dem Ausdruck φιλοσέβαστος (Freund des Augustus) zum Ausdruck. Mit Blick auf das 2. Jh. n. Chr. reichen die Karrieren weiter hinauf innerhalb der Hierarchie des Imperium Romanum. In Ephesos stechen die Familien des Ti. Iulius Celsus Polemaeanus (cos. suff. 92),146 dem Vater des Stifters der Celsus-Bibliothek, oder die der Vedii Antonini hervor. Die Severer aus Pompeiopolis haben es zu großer Nähe zum Kaiser gebracht, bspw. war Cn. Claudius Severus (cos. suff. 167(?), cos. ord. 173)147 der Schwiegersohn Marc Aurels. In Pergamon traten u. a. die Konsulare C. Antius A. Iulius Quadratus (cos. suff. 94, cos. ord. 105 n. Chr.),148 L. Cuspius Pactumeius Rufinus (cos. ord. 142 n. Chr.)149 und A. Claudius Charax (cos. suff. 147 n. Chr.)150 als Euergeten auf. Quadratus hat die penteterischen Τραιάνεια ausgerichtet und wird in einem Schreiben des Kaisers als amicus und vir clarissimus angesprochen.151 Rufinus und Charax haben jeweils bedeutende Stiftungen für das Asklepieion in Pergamon vorgenommen.152 Rufinus war auch Priester des auf Hadrian abzielenden Kultes des Zeus Olympios153 und ein Bekannter von Aelius Aristides, der ihn um einen Gefallen bat. Aristides musste nach einem Statthalterwechsel immer wieder um die Befreiung von Liturgien nachsuchen.154 Das mag einerseits damit zusammengehangen haben, dass er sein Vermögen beisammen halten wollte, andererseits wollte er wie Favorin kein römisches Amt übernehmen.155 Diese Ämter waren zwar keine „Statthaltereien und Verwaltungen in den Provinzen […], um welche die Mehrzahl sich so eifrig bewirbt, die ihre Heimat zurücklässt, um vor fremden Türen alt zu werden,“156 sondern jeweils lokale oder auf Provinzebene angesiedelte Ämter. 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156
IG V 1,509. Vgl. Quaß 1982, 191. PIR2 J 302. PIR2 J 301. IG V 1,32B, Z. 23 ff. 34, 4 f. 44, 3 f. 380,6. 971. 1315, 23. PIR2 J 260. Halfmann 1979, Nr. 16. PIR2 C 1024. Halfmann 1979, Nr. 101. PIR2 J 507. Halfmann 1979, Nr. 17. PIR2 C 1637. Halfmann 1979, Nr. 66. Zur Laufbahn vgl. Habicht 1959/60. Halfmann 1979, Nr. 73. I. Pergamon 269 (= IGR IV 336). Rufinus weihte den Rundtempel des Zeus Asklepios Soter, vgl. Aristeid. hier. log. 4,28. Gal. De anat. admin. 2,224 f. Kühn. Vgl. Petsalis-Diomidis 2010, 194–202. Steger 2016a, 53. Charax beteiligte sich am Propylon, vgl. Habicht 1969, Nr. 141. I. Pergamon 434 (= IGR IV 424), vgl. Habicht 1969, 11. Vgl. zu den Freistellungen des Aristides Meyer-Zwiffelhofer 2002, 124–127. S. o. ad Anm. 96 (Kap. 2.2) und vgl. Philostr. soph. 480. Plut. praec. ger. reip. 814d: ἆρά γ' ἄξιον τῇ χάριτι ταύτῃ παραβαλεῖν τὰς πολυταλάντους ἐπιτροπὰς καὶ διοικήσεις τῶν ἐπαρχιῶν, ἃς διώκοντες οἱ πολλοὶ γηράσκουσι πρὸς ἀλλοτρίαις θύραις, τὰ οἴκοι προλιπόντες· Vgl. Anm. 47 (Kap. 3.2).
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2 Methodische Vorüberlegungen
Einige dieser Ämter hätten Aristides aber in den Augen seiner griechischen Zeitgenossen in die Nähe der Römer gerückt, was er unbedingt vermeiden wollte.157 Konkret geht es um das Amt der Eirenarchie: Der Statthalter der provincia Asia C. Iulius Severus bittet Aristides 152/3 n. Chr. das Amt des Eirenarchen zu übernehmen.158 Da Severus selbst Aristides für das Amt des Eirenarchen vorgeschlagen hatte und nicht ein städtisches Gremium, konnte Aristides keine Berufung einlegen.159 Daher musste Aristides die Übernahme des Amtes auf informellem Wege abwenden. In seinen Hieroi Logoi spricht er von den ‚weißen Mädchen‘, d. h. den Briefen zu seiner Unterstützung vom Kaiser Antoninus Pius und seinem Sohn Marc Aurel sowie außerdem einem Schreiben des ehemaligen Präfekten von Ägypten C. Avidius Heliodorus (138–142 n. Chr.), die ihm bei der Abwendung dieses Amtes helfen bzw. die ἀτέλεια (Freistellung aufgrund seines Rednerberufes) bestätigen sollen.160 Hier kommt nun der römische Konsular und gebürtige Pergamener L. Cuspius Pactumeius Rufinus161 ins Spiel, der zugunsten des Aristides in dieser Sache an den gegenwärtigen Statthalter C. Iulius Severus ein Schreiben abfasst, das letzlich zum Erfolg führte. Rufinus hatte (vielleicht) in die aus Cirta in Nordafrika stammende Familie der Pactumei eingeheiratet.162 Die Cuspii stammen ursprünglich aus Italien, doch Rufinus und sein Vater sind wohl in Pergamon geboren. Aristides weist ausdrücklich darauf hin, dass das Schreiben an Severus von Rufinus „in seiner Sprache“ (d. i. Rufinus’ Sprache) abgefasst sei.163 In der Forschung ist umstritten, ob es sich bei dieser Korrespondenz zwischen zwei ‚griechischen‘ Konsularen – der eine gegenwärtiger, der andere gewesener Provinzstatthalter Asias, beide aus Kleinasien stammend – um ein lateinisches oder griechisches Dokument gehandelt hat. Die Entscheidung in dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen für Aristides’ Perspektive auf den von ihm sonst geschätzten Rufinus: War das Schreiben griechisch, möchte Aristides darauf hinweisen, dass Rufinus – obwohl römischer Konsular – sich seiner Muttersprache bediente und diesen informellen Akt im Sinne Aristides’ regelte. War das Schreiben lateinisch, hat sich der Status des Rufinus als der eines Griechen aus der Perspektive des Aristides hin zu der eines Römers gewandelt. Darüber hinaus ist es auch möglich, dass Aristides Rufinus aufgrund seiner Verwandtschaftsverhältnisse zu nordafrikanischen und italischen Familien grundsätzlich für einen Römer hielt. Allerdings sind alle Inschriften von Rufinus auf Griechisch verfasst, was entweder den griechischen Rezipienten oder seinem Selbstbild als Grieche geschuldet ist. 157 Die abgelehnten respektive abgewehrten Ämter sind: Eirenarch (4,72: φύλακα τῆς εἰρήνης), die Prytanie in Smyrna (4,88), Steuereintreiber (4,95: ἐκλογεύς = ἐκλογιστής), Oberpriester des Kaiserkultes von Asia (4,101: τὴν ἰερωσύνην τὴν κοινὴν Ἀσίας = ἀρχιερεύς) und Mitglied des conventus (4,103: ἐν τῷ συνεδρίῳ τῷ κοινῷ). 158 Aristeid. hier. log. 4,78. C. Iulius Severus: PIR2 J 573 = Halfmann 1979, Nr. 62 aus Ankyra. 159 Vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 2002, 122. 160 Aristeid. hier. log. 4,75. 161 L. Cuspius Pactumeius Rufinus (cos. 142 n. Chr.): PIR2 C 1637 = Halfmann 1979, Nr. 66 aus Pergamon. Vgl. außerdem Kriekhaus 2006, 176–178. 162 Vgl. Alföldy 1977, 101 und 312. 163 Aristeid. hier. log. 4,84: τῇ αὑτοῦ φονῇ γράψας.
2.3 Differenzierung der Griechen
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Bereits Behr geht von Latein aus, da es sich um eine offizielle Korrespondenz mit dem Statthalter gehandelt hat.164 Downie und Pabst haben neuerlich für Latein plädiert.165 Swain hingegen ist für Griechisch eingetreten, da Latein „against the sense of the text and the tenor of the narrative“ sei.166 Eine Entscheidung in dieser Frage muss aufgrund der erratischen Quellenlage auf Hypothesen aufgebaut sein. Es ist auffällig, dass Aristides a) die Sprache des Schreibens überhaupt thematisiert, und b) dass die Sprache des Schreibens nur jene des Rufinus und also nicht auch die des Aristides ist. Dass die Sprache überhaupt erwähnt wird könnte sich daraus ergeben, dass es für Aristides erklärungsbedürftig und der Erwähnung Wert ist, warum das Schreiben letztlich zum Erfolg geführt hat.167 Dass die Sprache des Schreibens die des Rufinus ist und sie sich also vom Griechischen des Aristides unterscheidet, lässt nur den Schluss zu, dass es sich um Latein handelt (wenn andere indigenen Sprachen außer Betracht gelassen werden). Es ist für Aristides nicht nur die lateinische Korrespondenz zwischen zwei Konsularen, sondern überhaupt die Tatsache, dass es sich um Konsulare handelt, die Rufinus in Aristides’ Augen zum Römer macht. Eine Ebene unter den östlichen Senatoren sind diejenigen Personen anzusiedeln, die der Senatorenschaft entbehrten. Die Griechen C. Vibius Salutaris aus Ephesos und C. Iulius Demosthenes aus Oinoanda besaßen zwar das römische Bürgerrecht, sind aber nicht Senatoren geworden.168 Bei Salutaris, dem Stifter einer Prozession durch Ephesos, ist seine Herkunft allerdings umstritten.169 Über ihn hinaus können wir keine Vorfahren bestimmen, vielleicht stammt er sogar aus Italien. Auffällig ist, dass er kein lokales Amt innehatte. Kein römisches Bürgerrecht hatten hingegen Opramoas von Rhodiapolis und Iason von Kyaneai,170 die in gleicher Weise wie Salutaris und Demosthenes euergetisch tätig waren,171 und offensichtlich auf der lokalen oder regionalen Ebene verblieben, wie auch L. Mestrius Plutarchus. Plutarch erwähnt an keiner Stelle seinen römischen Namen, der uns einzig durch eine Inschrift aus Delphi bekannt ist.172 Da sich Plutarch an keiner Stelle als Römer, sondern immer als Grieche sieht, zeigt dies, dass der römische Bürgerstatus aus griechischer Perspektive nicht als 164 165 166 167 168 169
170 171 172
Behr 1981–1986, Bd. 2, 440 Anm. 142. Vgl. Behr 1994, § 3. Downie 2013, 173 und Pabst 2014a, 407. Swain 1996, 270. Auch für Gellius war es eine Besonderheit, dass der Konsular Herodes Atticus für gewöhnlich griechisch zu sprechen pflegte, obwohl er ein römischer Konsular war, vgl. Gell. noct. att. 1,2,6. Vgl. Rogers 1991a und Rogers 1991b, sowie jetzt Kuhn 2012, 432 Anm. 53. Vgl. zur Salutaris-Stiftung der Prozession von 104 n. Chr. (IvE 29) eingehend Rogers 1991a, der ebd., 142 vermutet, dass die soziale Identität der Ephesier aufgrund der Romanisation in eine Krise geraten war, woraufhin Salutaris mit der Präsentation griechischer Identität in der Prozession Abhilfe schaffen wollte. Iason-Monument: IG III 704–706. Berling 1993 vermutet allerdings, Iason hätte das Bürgerrecht und den Ritterstand, zeige dies aber nicht auf den Inschriften. Wörrle 1988. Kokkinia 2000. Reitzenstein 2011, 108–113. Vgl. zum Euergetismus in der Kaiserzeit jetzt Kokkinia 2012, die erklärt, welche Überlegungen beim Euergeten zugrunde liegen, Spiele oder Gebäude zu stiften. Vgl. Syll.3 829a in Delphi mit Plutarchs römischem Namen.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Ausschlusskriterium für griechische Identität gilt. Opramoas von Rhodiapolis ist uns bekannt durch die 32 Ehrendekrete für ihn, die er auf seinem Mausoleum hat anbringen lassen.173 Die Absender der Briefe sind die Statthalter von Lykien und Pamphylien, Procuratoren und in 12 Fällen der Kaiser Antoninus Pius, die jeweils den Ehrungen zustimmten. Opramoas war für seine Heimatstadt und ganz Lykien als Euerget tätig und bekleidete u. a. das Amt des lykischen Bundespriesters, in dessen Zusammenhang er auch für den Kaiserkult zuständig war.174 Er präsentiert sich stets als Sohn des Apollonius II. und Urenkel des Kalliades – er besaß das römische Bürgerrecht offensichtlich nicht. Seine Euergesien bezeugen, dass er extrem wohlhabend war,175 seine Tätigkeit jedoch bewusst auf Lykien beschränkte, obwohl er aufgrund seines Reichtums die Möglichkeit einer römischen Reichskarriere gehabt hätte. Spawforth hat nach einer onomastisch-prosopographischen Untersuchung der epigraphisch und numismatisch bezeugten Duumvirn in Korinth festgestellt, dass die Mehrzahl von ihnen als Freigelassene, Veteranen oder negotiatores und somit als Römer anzusprechen sind. Insbesondere zwischen Caesar und Claudius bilden die Händler die Elite von Korinth. Erst danach kommen aus den umliegenden Städten die griechischen Notabeln zum Vorschein, die der Provinz-Aristokratie zugeordnet werden müssen.176 Spawforth erklärt ihre Motivation, das höchste colonia-Amt anzunehmen damit, dass Korinth als Zentrum des Kaiserkults für das Achäische Koinon, Austragungsort der Isthmischen Spiele und vor allem als Statthaltersitz attraktiv für die provinziale Elite war, die nach einer höheren Laufbahn im Reichsdienst strebte. Insofern bildete gerade die romanitas Korinths die Anziehungskraft in den ersten Jahren der colonia.177 173 Kokkinia 2000 mit der neusten Edition der Texte, die ursprünglich publiziert worden waren als TAM II 905. 174 Kokkinia 2000, 216 f. Philostr. soph. 613 berichtet auch von Herakleides dem Lykier, dass er Archiereus von Lykien war – ein Amt, das bei den Römern hochgeachtet war, vielleicht wegen des alten Bündnisses. Die Etrusker waren ursprünglich Lyder, vgl. Hdt. 1,51. 94. Darauf greifen Plut. qu. R. 53 p. 277c und Strab. 5,2,2 p. 219 zurück. Vgl. Tac. Ann. 4,55, wo die Geschichte von Atys, Tyrrhenus und Lydus erzählt wird, womit die Sardier zeigen wollten, dass sie eine historische Beziehung zu Rom über die Etrusker hatten. 175 Salmeri 2000, 59 bezeichnet ihn als einen der wohlhabendsten Bewohner des Imperium Romanum, vgl. ebd. auch Anm. 27. 176 Spawforth 1996, 173–175 zählt gerade einmal fünf griechisch-provinziale Notabeln als Duumvirn. Es sind Cn. Cornelius Pulcher (ca. 41–47 n. Chr., Großvater des Ritters Cn. Cornelius Pulcher), C. Iulius Laco (41/42 n. Chr., Sohn von Eurykles von Sparta), C. Iulius Spartiaticus (45/47 n. Chr., Sohn des Laco), C. Iulius Polyaenus (entweder 57/58 oder 58/59 n. Chr., vermutlich aus Sikyon) und P. Memmius Cleander (66/67 n. Chr., peregriner Grieche, der wahrscheinlich vom Statthalter P. Memmius Regulus zwischen 35 und 44 n. Chr. das römischer Bürgerrecht verliehen bekam). 177 Spawforth 1996, 175. Seit Hadrian finden wir in Korinth allerdings wieder griechische Inschriften. Zum Vergleich finden wir in der römischen colonia Butrint erst am Ende des 2. Jh. n. Chr. wieder griechische Inschriften, vgl. Bergemann 1998, 123 Anm. 463 f. mit Literatur. Dijkstra 2013, 57 zeigt anhand der Sprache der Inschriften entlang der Gräberstraße von Patras, dass noch um 150 n. Chr. die lateinischen Inschriften massiv überwiegen. Im Zeitraum zwischen 200 und 250 n. Chr. können dann mehr griechische als lateinische Inschriften gefunden werden.
2.3 Differenzierung der Griechen
67
Aufhorchen lassen sollten aber diejenigen griechischen Stimmen, welche die Integrationsbewegung der Griechen in das Imperium Romanum kritisch sahen.178 Das bedeutet, dass lediglich Teile der Nachfahren hellenistischer Dynastien und städtischer Honoratioren Rom-orientiert waren, ein anderer Teil hingegen nicht. Diese grundsätzliche Beobachtung hatte bereits Polybios gemacht. Als Kallikrates 180/179 v. Chr. im Auftrag des Achäischen Bundes eine Gesandtschaftsreise nach Rom unternahm, wies er die Römer auf die zwei entgegengesetzten politischen Lager in Achaia hin: δυεῖν γὰρ οὐσῶν αἱρέσεων κατὰ τὸ παρὸν ἐν πάσαις ταῖς δημοκρατικαῖς πολιτείαις, καὶ τῶν μὲν φασκόντων δεῖν ἀκολουθεῖν τοῖς γραφομένοις ὑπὸ Ῥωμαίων καὶ μήτε νόμον μήτε στήλην μήτ’ ἄλλο μηθὲν προυργιαίτερον νομίζειν τῆς Ῥωμαίων προαιρέσεως, τῶν δὲ τοὺς νόμους προφερομένων καὶ τοὺς ὅρκους καὶ στήλας καὶ παρακαλούντων τὰ πλήθη μὴ ῥᾳδίως ταῦτα παραβαίνειν, ἀχαϊκωτέραν εἶναι παρὰ πολὺ ταύτην τὴν ὑπόθεσιν καὶ νικητικωτέραν ἐν τοῖς πολλοῖς. In den ganzen demokratischen Poleis sind gegenwärtig zwei Parteien zu finden, die eine empfiehlt Gehorsam gegenüber dem Geschriebenen der Römer, und weder die Gesetze, die Inschriften oder etwas Anderes stehe über dem Willen der Römer. Die andere zitiert die Gesetze, Schwüre, Inschriften und spricht die Menge an, diese nicht leichtfertig zu brechen. In Achaia war dieser Vorschlag sehr populär und am erfolgreichsten bei der Menge.179
Gemäß Polybios wies Kallikrates angesichts der dichotomischen pro- und antirömischen Lager desweiteren auf die Rolle der politischen Führer hin. Falls die Römer diese auf ihre Seite ziehen könnten, würde auch die Menge ihnen ohne Angst folgen.180 Hierin wird nicht nur das pro-römische politische Kalkül des Kallikrates sichtbar, sondern das Grundmuster des Griechen-Römer-Verhältnisses, d. i. die politische Dynamik zweier Lager auf zwei Ebenen: pro- und anti-römische Lager gab es demnach auf der Ebene der Politiker (πολιτευομένοι) und innerhalb der undifferenzierten Menge (οἱ πολλοί, ὄχλος, πλῆθος). Daher ist eine Differenzierung der Akteure in der griechischen Welt der Kaiserzeit geboten, die alle Gruppen miteinbezieht. Bereits Syme hatte darauf hingewiesen, dass im Osten mehrere (politisch bedeutsame) Gruppen unterschieden werden müssen.181 Hierbei müssen sowohl politische, ethnische und kulturelle Aspekte von Identität als auch die Herkunft und die Orientierung (auf Rom oder Griechenland, d. h. lokal) der östlichen Eliten berücksichtigt werden. Aus dem Schema ausgesondert werden Familien, welche die Region bereits in der vorherigen Generation verlassen haben, sodass ihre Kinder in Rom aufwuchsen. Das gilt etwa für Cassius Dio, der Senator in zweiter Generation ist und sich selbst klar als römischer Senator sieht.182 Der hellenisierte Syrer Lukian kann in diesem Schema vorerst keinen Platz finden. 178 Vgl. Plut. praec. ger. reip. cap. 18. Dion Chrys. or. 34,28. Siehe auch Anm. 47 (Kap. 3.2) und 205 (Kap. 5.5) mit weiteren Belegen. 179 Polyb. 24,9,1–4. 180 Polyb. 24,9,6: τοὺς πολιτευομένους μεταθέσθαι πρὸς τὴν Ῥωμαίων αἵρεσιν, καὶ τοὺς πολλοὺς τούτοις ἐπακολουθήσειν διὰ τὸν φόβον. 181 Syme 1988, 8 f. 182 S. o. ad Anm. 41 (Kap. 2.2).
68
2 Methodische Vorüberlegungen
Anders als von einem Großteil der griechischen Mitwelt werden jene Personen, die sich selbst erst in den Reichsdienst stellen, jedoch griechischer Herkunft sind, noch zu den Griechen gerechnet. Dies ist vor allem darüber gerechtfertigt, dass es innerhalb der Oberschicht der Poleis eine zeitgenössische Debatte über das in diesem Punkt richtige Verhalten gibt. Genauer als in der bisherigen Forschung wird darauf geachtet, dass das griechische Identitätskonzept für die Frage des Erwerbs einer Zugehörigkeit zu den Griechen eher hermetisch ist. Bei den Bewohnern römischer Kolonien gilt es zudem zu beachten, dass hier auch eine Hellenisierung nicht einmal unbedingt gewollt war oder stattfand. Tab. 1: Differenzierungsschema zwischen Römern, hellenisierten Römern, Rom-orientierten und nicht Rom-orientierten Griechen im Osten des Imperium Romanum Zuordnung
Nr.
Beschreibung
Beispiele
Römer
1a
Römische Kolonisten mit der Herkunft aus dem lateinischen Westen, v. a. Italien, die im Osten seit Generationen ansässig sind, aber durch ihre Rom-Orientierung nie zu Griechen wurden.
Quintilii aus Alexandreia Troas, Vedii Antonini aus Ephesos
1b
Hellenisierte Römer, die sich per Paideia griechischer Identität angenähert haben aber aus dem lateinischen Westen stammen. Darunter auch Philhellenen.
Favorinus aus Arelate
2a
Griechen aus dem Osten mit römischem Bürgerstatus, die eine Karriere im Reichsdienst anstreben. Rom-orientiert und von griechischer Mitwelt zu den Römern gerechnet.
Herodes Atticus aus Athen
3b
Griechen aus dem Osten mit oder ohne römischen Bürgerstatus, die auf der lokalen Ebene tätig bleiben. Nicht Rom-orientiert.
L. Mestrius Plutarchus aus Chaironeia, Pausanias, Iason von Kyaneai, Opramoas von Rhodiapolis
Griechen
2.4 ERINNERUNGSKULTUR, VERGANGENHEITSBEZÜGE UND DEFIZIENZERFAHRUNG Funktionen von Vergangenheitsbezügen sind seit einigen Jahren Gegenstand der Geschichtsforschung im Allgemeinen und der Altertumswissenschaften im Besonderen.183 Die meisten Arbeiten beruhen auf Konzepten wie dem kulturellen
183 In der Forschung ist anerkannt, dass die Weise, wie die Griechen in der Kaiserzeit ihre eigene Vergangenheit sahen, als Problemstellung gelten kann. Vgl. mehrere Beiträge in dem Sammelband Konstan/Saïd 2006 (Greeks on Greekness: Viewing the Greek Past under the Roman Empire).
2.4 Erinnerungskultur, Vergangenheitsbezüge und Defizienzerfahrung
69
Gedächtnis,184 Erinnerungskultur(en),185 Erinnerungsorten186 bzw. ‚lieux de memoire‘.187 Insbesondere die identitätsstiftende Funktion von Vergangenheitsbezügen ist dabei wiederholt für die Griechen der Hohen Kaiserzeit herausgestellt worden.188 Das von der Forschung im Rahmen dieser Konzepte entwickelte Begriffsinventar soll im Folgenden erläutert und hinsichtlich der Verwendung in der vorliegenden Arbeit definitorisch präzisiert werden. Es handelt sich um die Begriffe Erinnerungskultur, fundierende und kontrapräsentische Vergangenheitsbezüge, Erinnerung sowie Defizinenzerfahrung. ‚Erinnerungskultur‘ (bisweilen synonym gebraucht mit Geschichtskultur)189 bezieht sich auf die Bedeutung von Erinnerung als einem bewussten Akt. Hier soll Erinnerungskultur verstanden werden als Formation von Vergangenheitsbezügen in Kombination mit historischen Deutungsmustern auf der Grundlage von Geschichtsbildern. Um dies konkret zu machen, sei ein Beispiel gegeben. Pausanias leitet seinen historischen Exkurs über die Diadochen mit der Erklärung ein, dass ihre Taten in Vergessenheit geraten seien, weil ihre Zeitgenossen, die ihre Taten beschrieben hatten, schon früher nicht beachtet worden waren.190 Das anhaltende Vergessen als Makel ist für ihn der Grund, weshalb er jetzt erklären möchte, wie die Herrschaft über Ägypten, Mysien und die Nachbarländer durch die Diadochen zustande kam. Er möchte also einen Makel der gegenwärtigen Erinnerungskultur beheben, die über den vergessenen Hellenismus hinweg überwiegend an die klassische Zeit erinnert. Es schien ihm z. B. erklärungsbedürftig, warum Attalos eponym für eine attische Phyle war.191 Das war kein Bildungsgut, welches man durch die Lektüre der Klassiker erlangen konnte. Pausanias setzt sich also im Gegensatz zur überwiegenden Zahl seiner Zeitgenossen für eine alternative nicht-konventionelle Erinnerungskultur ein insofern er im Fall der Diadochen Vergangenheitsbezüge zu
184 Assmann 2007 durchaus mit der Kritik von Walter 2004, 24–26 und Hose 2002. Positiver und auch auf Grundlage von Assmann 2006 vgl. Eckert 2016 mit einer Arbeit zu L. Cornelius Sulla. Zur Theoriedebatte aus kulturwissenschaftlicher Sicht vgl. Bergenthum 2005. 185 Überblick und Einführung bei Erll 2011. Erll 2010. Erll/Nünning 2008. Heusch 2011 nutzt das Konzept der Erinnerungskultur für Aulus Gellius und das 2. Jh. n. Chr. Vgl. ferner Rüpke 2012 zu religiösen Erinnerungskulturen. Grundlegend ist Assmann 2006. 186 Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp 2010 zur griechischen Welt, vgl. auch Dies. 2006 zur römischen Welt. Außerdem Marincola 2012. Foxhall 2010 und grundlegend Nora 1984, dazu Erll 2005, 23–26. 187 Mit der theoretischen Grundlegung von Halbwachs, Assmann und den „lieux des mémoire“ von Pierre Nora untersucht Jung 2006 die Deutungsgeschichte der Schlachten Marathon und Plataiai bis in die Kaiserzeit. Der Schlacht an den Thermopylen ist die Untersuchung von Albertz 2006 gewidmet. Vgl. auch Haake/Jung 2011. Für die Antike haben das Konzept außerdem angewendet Alcock 2002. Auffahrt 1999. Chaniotis 1991 und Hölscher 1988. 188 Pabst 2014a. Mattingly 2011. Pabst 2010. Whitmarsh 2010. Lomas 2004. Stephan 2002. Ostenfeld 2002. Goldhill 2001. Porter 2001, 64–76. Veyne 1999. Berns 1998. Laurence/Berry 1998. Swain 1996, 65–100. Woolf 1994. Saïd 1991. Für die Spätantike Stenger 2009 und zur Funktion von Vergangenheitsbezügen im klassischen Griechenland Osmers 2013. 189 Walter 2004, 24 f. 190 Paus. 1,6,1. 191 Paus. 1,8,1. Zu den Phylenheroen vgl. Kron 1976.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Bezugspunkten herstellt, die sonst dem Vergessen anheim fallen würden.192 In seinem Geschichtsbild hat demnach die hellenistische Zeit mindestens einen genauso großen Stellenwert wie die Klassik bei den meisten seiner Zeitgenossen. Immerhin rechnet Pausanias mit dem Interesse seiner Leserschaft an der von ihm getroffenen Schwerpunktsetzung. Weitere Beispiele für die Propagierung alternativer Erinnerungskulturen bieten Plutarch, Dion Chrysostomos und Aelius Aristides.193 Vielfach wurde in der Forschung auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Erinnerung als Vergangenheitsbezug einerseits und historiographischer Forschung mit dem Produkt ‚Geschichte‘ andererseits hingewiesen.194 Angesichts dieser Diskussion ist festzuhalten, dass für die Analyse von Vergangenheitsbezügen die gleiche historisch-kritische Methode wie für die Analyse der antiken Historiographie anzuwenden ist. Insofern sind auch hier Formen, Funktionen und Akteure von Vergangenheitsbezügen zu differenzieren.195 Auf ein und dasselbe historische Ereignis kann in einer Zeitstufe von verschiedenen Akteuren in verschiedener Form und mit unterschiedlichen Funktionen Bezug genommen werden. Hier setzt die synchrone Analyse von Vergangenheitsbezügen an, um distinkte Deutungen herauszuarbeiten. Dass bei der hier getroffenen Auswahl von Autoren Vorsicht geboten ist anlässlich vermeintlich offensichtlicher Befunde affirmativer Hinwendung zu Rom, wird erst deutlich, wenn sowohl Vergangenheits- als auch Gegenwartsdeutungen berücksichtigt werden. Dies fordert eine Unterscheidung in absolute und komparative Aussagen. Wenn wir etwa bei Pausanias absolute Aussagen über seine Gegenwart bevorzugten, ergäbe sich der Befund einer positiv-affirmativen Gegenwartsdeutung. Beispielsweise sei das Stadion des Herodes Atticus in Athen „beim Hören nicht so eindrucksvoll aber ein Wunder anzuschauen“.196 Die neu aufgeführten Bauten Hadrians in Athen werden von ihm ebenso gerühmt wie ein von Hadrian zur Versorgung Korinths gebautes Aquädukt. Pausanias lobt Hadrian, weil er die Götter aufs höchste geehrt, den Untertanen größtes Glück verschafft, Heiligtümer aufgebaut, verbessert, mit Weihgeschenken geschmückt und Geschenke an Griechen und Barbaren verteilt habe.197 Ob diese positive Haltung des Pausanias gegenüber 192 Vgl. Paus. 3,13,2, wo Pausanias darüber reflektiert, dass das Vergessen für die Messenier aufgrund ihrer langen Abwesenheit von der Peloponnes von Nachteil ist, weil ihre Vergangenheit von anderen, im konkreten Fall von den Spartanern, in Anspruch genommen werde. 193 Zu Plutarch, Dion Chrysostomos und Aelius Aristides s. u. Kap. 3.4 und 3.5, sowie ad Anm. 108 (Kap. 4.1.5). 194 Bereits Halbwachs 1991, 66–76 zum Verhältnis von Kollektivem Gedächtnis und Geschichte. Assmann 2007, 77: „Man muß sich darüber klarwerden, daß Erinnerung nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun hat.“ Zur Theoriedebatte aus kulturwissenschaftlicher Sicht contra Historiker vgl. Bergenthum 2005. Erll 2005, 25 kritisch zur Trennung von Geschichte und Gedächtnis bei Nora 1998, 13. 195 Vgl. Jung 2006, 14. 196 Paus. 1,19,6. 197 Bauten in Athen: Paus. 1,18,9. Aquädukt für Korinth: Paus. 8,22,3. Positive Würdigung Hadrians: Paus. 1,5,5. Außerdem habe er keinen Krieg willentlich begonnen, jedoch die Hebraier in Syrien unterworfen. Er habe Geschenke an Griechen und Barbaren verteilt, was inschriftlich im um 130 n. Chr. erbauten athenischen Pantheon verzeichnet sei. Zum Pantheon vgl. PirenneDelforge 1998. Vgl. auch Arafat 1996, der Pausanias’ Haltung zu den römischen Kaisern unter-
2.4 Erinnerungskultur, Vergangenheitsbezüge und Defizienzerfahrung
71
Hadrian dessen Philhellenismus geschuldet ist, muss vorerst offen bleiben. Diese absoluten Aussagen haben in der Forschung jedenfalls zu dem Urteil geführt, dass Pausanias in der rezenten Vergangenheit den Höhepunkt griechischer Geschichte sehe.198 Dieser Befund wird jedoch durch komparative Aussagen konterkariert, welche die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleichen. In den meisten Fällen dienen sie Pausanias dazu, zeitgenössische Defizite am Maßstab der Vergangenheit zu markieren.199 Betrachtet man diese große Gruppe von Aussagen, ergibt sich für Pausanias der Befund, dass es mit Griechenland seit der Zerstörung Korinths durch die Römer kontinuierlich bergab ging.200 Doch gerade die vermeintlich ‚unsauberen‘ oder für den Historiker ‚weniger wertvollen‘ komparativen Aussagen, respektive Vergangenheitsbezüge, verraten oft mehr über die Gegenwart eines Autors als die absoluten Aussagen, denen der Maßstab fehlt. Die Quelle für Gegenwarts-Vergangenheits-Vergleiche war das Vergangenheits- bzw. Geschichtswissen. Die Griechen unterschieden zwischen dem Geschehenen (τὸ γενόμενον) und der Geschichte (ἱστορία).201 In dieser Arbeit wird diese Differenzierung imitiert, indem Geschichte von Vergangenheit geschieden wird. Der Unterschied soll darin bestehen, dass es sich bei Vergangenheit um zunächst ungedeutete Informationen (egal ob historisch korrekt oder nicht) und bei Geschichte um intentional konstruiertes Deutungswissen handelt. Sowohl auf das Geschichts- und Vergangenheitswissen kann mittels Vergangenheitsbezug respektive Erinnerung Bezug genommen werden. Aufgrund der Doppeldeutigkeit des Terminus ‚Erinnerung‘ kann es zu Missverständnissen bei seiner Verwendung kommen. Zum einen bezeichnet Erinnerung den Inhalt eines Gedächtnisses (wie eine Akte in einem Archiv) und zum anderen die Operation der Aktualisierung dieses Inhalts. Für letzteres und somit die intentionale Aktualisierung einer Erinnerung wird in dieser Arbeit der Terminus Vergangenheitsbezug verwendet. Somit bezeichnet Vergangenheitsbezug eine bewusste Operation eines Akteurs, der einen Bezug zu Inhalten und Formen herstellt, die aus seiner Gegenwart heraus verstanden der Vergangenheit zuzurechnen sind. Dieses weite Verständnis von Vergangenheitsbezug wird nicht von der gesamten Forschung geteilt. Stamm nimmt in ihrer Untersuchung zu den Vergangenheitsbezügen bei Aelian eine eigenwillige Position ein, wenn sie von ‚scheinbaren Vergangenheitsbezügen‘ spricht, die allein durch rhetorische Konventionen motiviert
198 199 200 201
sucht. Auffällig hierbei ist, dass die positive Wertung Hadrians durch Pausanias ausschließlich auf Grundlage der den Griechen erwiesenen Wohltaten gemacht wird. Das Desinteresse der Griechen an Rom, seiner Geschichte, überhaupt dem nicht griechisch-sprachigen Westen des Imperium Romanum tritt hier einmal mehr zu Tage. Nach Arafat 1996, 142 hätten die Griechen mit Mummius ihren Tiefpunkt, mit Hadrian den Höhepunkt ihrer Geschichte erreicht. Vgl. Paus. 7,17,1. Contra Elsner 1992, 19, der von „a sense of inevitable decline and fall“ spricht, also einem kontinuierlichen Niedergang. Zum Beispiel heiße die Stadt ‚Amphikleia‘ bei Herodot nach der ältesten Überlieferung ‚Amphikeia‘, erklärt Paus. 10,33,9. Das zusätzliche Lambda sei eine Entstellung der Einwohner (ἐλυμήναντο), womit Pausanias eine Verschlechterung gegenüber dem Original markiert. S. u. ausführlich dazu Kap. 4.3.4. LSJ 349 s. v. γίγνομαι I 3 „the facts, the past“. LSJ 842 s. v. ἱστορία II. Vgl. Schmitz 1999, 87.
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2 Methodische Vorüberlegungen
sein sollen.202 Demnach sei auch die attizistische Kunstsprache der Zweiten Sophistik kein formaler Vergangenheitsbezug. Ihr enger Begriff von ‚echten Vergangenheitsbezügen‘ umfasst entweder die Kennzeichnung des Bruchs zwischen einst und jetzt oder das Aufzeigen von Kontinuität, was bei Stamm unter Brauch, Sitte und Tradition fällt. Abweichend von diesem engen Verständnis wird hier zugunsten eines weiteren Verständnisses des Begriffs davon ausgegangen, dass eine Reflexion über die konventionelle Verwendung von Vergangenheitsbezügen in inhaltlicher und formaler Hinsicht die Konvention unterminiert. Wenn die rhetorischen Konventionen zum Gegenstand von Kritik werden (wie bei Plutarch und Lukian), enthebt sie das nämlich ihrer zeitgenössischen, selbstverständlichen Verwendung und legt ihren funktionalen Charakter offen. Es sind mehrere Funktionen von Vergangenheitsbezügen denkbar (s. u. ad Anm. 215 (Kap. 2.4)), wobei zur Operationalisierung der Analyse des Quellencorpus eine Beschränkung auf zwei Funktionen erfolgt. Assmann unterscheidet, basierend auf Theißen, fundierende und kontrapräsentische Erinnerungen.203 Von der Vergangenheit her gedacht kann ein stetig tradierter Bestand von Erinnerungen eine so feste Konsistenz erhalten, dass er in Widerspruch zu der sozialen und politischen Wirklichkeit der Gegenwart geraten kann, wenn er in dieser Gegenwart aktualisiert wird, was Theißen als ‚kontrapräsentische Erinnerung‘ bezeichnet.204 Von der Gegenwart her gedacht ist das eine artifizielle Form der Erinnerung oder kulturellen Mnemotechnik zur Erzeugung und Aufrechterhaltung von Ungleichzeitigkeit.205 Theißen und Assmann haben ihren Begriff kontrapräsentischer Erinnerung von der Vergangenheit her konzipiert. In dieser Arbeit wird hingegen der Fokus auf die zeitgenössische Funktion von bewusst eingesetzten kontrapräsentischen Erinnerungen gelegt, die nunmehr als kontrapräsentische Vergangenheitsbezüge anzusprechen sind, womit ihr funktionaler Charakter betont wird. Kontrapräsentische Erinnerung ist demnach eine spezielle Spielart von Vergangenheitsbezügen und der Form nach eine Bezugnahme auf vergangene Verhältnisse, die in der Gegenwart nicht mehr bestehen. Für die kaiserzeitlichen Griechen sind daher bezüglich des immer noch erinnerten Freiheitskampfes der Vergangenheit (z. B. des 5. Jh. v. Chr.) im 2. Jh. n. Chr. kontrapräsentische Vergangenheitsbe-
202 Stamm 2003, 7–12. 203 Vgl. Assmann 2007, 78 f. Assmann 1992, 39 ff. Theißen 1988, 170 ff. 204 Theißen unternimmt den Versuch, das Verhältnis zwischen Tradition (Entlastung von Entscheidungen mittels anerkannter Muster und immer neuer Konsensfindung, Charakter des Selbstverständlichen) und Entscheidung (Umkehr, Abfall, Konversion und Bekenntnis) für den biblischen Glauben zu prüfen (Theißen 1988, 170–172). Es ergeben sich dabei Identitätsprobleme, wenn die Wahl zwischen unterschiedlichen Traditionen besteht. Der Unterschied zwischen kulturellem Gedächtnis und Tradition ist, dass Traditionen die Entscheidungsmöglichkeiten reduzieren, hingegen das kulturelle Gedächtnis diese vergrößert. Letzteres enthält mehr vergangene Lebensformen als man verwirklichen kann. „Tradition gerät nicht nur faktisch in Spannung zur Gegenwart, sondern wird kontrafaktisch gegen die Gegenwart ausgespielt.“ (ebd., 174). 205 Vgl. Assmann 2007, 24.
2.4 Erinnerungskultur, Vergangenheitsbezüge und Defizienzerfahrung
73
züge zu erwarten.206 Der dadurch erzeugte Widerspruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart konnte aus griechischer Sicht nun ein hohes Kritikpotenzial bezüglich der Gegenwart römischer Herrschaft erzeugen. Zwischen fundierenden und kontrapräsentischen Vergangenheitsbezügen muss kein dichotomisches Verhältnis bestehen, da weitere Funktionen beschrieben sind (s. u. ad Anm. 215 (Kap. 2.4)). Wardman ist der Meinung, dass die Römer auf die aus ihrer Perspektive unerwünschte Erinnerung des griechischen Freiheitskampfes reagiert haben, indem sie ihn entweder unterdrückten oder diskreditierten, da sie den Eindruck hatten, er gehöre der Vergangenheit an.207 Das ist jedoch nicht plausibel, da die Römer keinen Impuls zu einer Unterdrückung der Erinnerung des griechischen Freiheitskampfes verspürt hätten, wenn sie glaubten, sie entfalte in der Gegenwart keine Wirkung. Im Gegenteil haben sie die Wirkung von Vergangenheitsbezügen sehr wohl in Betracht gezogen. Daher war es naheliegender, unerwünschte Erinnerungen den eigenen Interessen gemäß umzuformen. Beispielsweise wurde von römischer Seite die Perserkriegserinnerung Anfang der 60er Jahre des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in Beziehung zu den Parthern gesetzt.208 Nach Jung dienten die Perserkriege in dieser Zeit als „[…] historische Präfiguration der gegenwärtigen schweren Kämpfe mit dem Partherreich um die Vorherrschaft in Armenien […].“209 Ziel der Umdeutungen war die Werbung um Unterstützung der griechischen Provinzialen für den außenpolitischen Kurswechsel gewesen, der eine Phase guten Einvernehmens seit Augustus beendete. Der erstmals 61/62 n. Chr. durch eine Ephebeninschrift belegte Kaiserkult bei den Eleutherien in Plataiai demonstriere nach Jung die Vereinbarkeit der dort gepflegten Perserkriegserinnerung mit der römischen Politik.210 Jedoch sind die Bemerkungen Plutarchs aus den Praecepta gerendae reipublicae zur problematischen Aktualisierung der Perserkriegserinnerung ein Hinweis darauf, dass die von Teilen der griechischen Elite gepflegte Erinnerung in Plataiai nicht von
206 Vgl. Bowie 1970, 47, „By re-creating the situations of the past the contrast between the immense prosperity and the distressing dependence of the contemporary Greek world was dulled […].“ 207 Vgl. Wardman 2002, 85–87. 208 Bereits Cic. De domo sua 60 spricht von den Parthern als Persern nach den Eroberungen des Pompeius. Vgl. auch Oliver 1977, 91 f. über IG II2 2113 = III, 1145 aus der Zeit Commodus’ (in Plataiai aufgestellt Inschrift anlässlich eines Sieges über die Parther) und Spawforth 1994, 238 f. zur Identifikation der Perser mit den Parthern. Ab Trajan werden allerdings die Parther/ Perser-Bezüge der Römer weniger, da für Trajan Alexander ein weitaus besseres Vorbild darstellte. Vgl. Cass. Dio 68,29,1: Trajan verglich sich selbst mit Alexander insofern er noch viel weitergekommen sei als jener. Am Erythräischen Meer in Mesopotamien sagte er, er würde auch nach Indien ziehen, wäre er noch ein junger Mann. Trajan habe Babylon nur besucht wegen des Ruhmes der Stadt und Alexander (Cass. Dio 68,30,1). Doch außer Schutthalden, Steinen und Ruinen geb es dort nichts zu sehen. Er besichtigte auch den Raum, in dem Alexander angeblich gestorben sei. 209 Jung 2006, 363. 210 Vgl. Jung 2006, 362. IG II2 1990, 3–6, worin Tiberius Claudius Novius mit seiner gesamten Titulatur erscheint, der einerseits Kaiserpriester und andererseits auch Sieger in Plataiai bei den Eleutherien war.
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2 Methodische Vorüberlegungen
allen Griechen als unproblematisch empfunden wurde.211 So sehr sich Teile der griechischen Elite auch um die Vereinbarkeit griechischer Vergangenheit mit der römischen Gegenwart bemühten, war für andere der Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht übersehbar. Dieser Bruch ist bei kontrapräsentischen Erinnerungen intendiert, da das Fehlende und Andersartige thematisiert und somit letztlich Diskontinuitäten betont werden. Bei den fundierenden Erinnerungen hingegen erscheint die Gegenwart im Licht der Vergangenheit als sinnvoll, gottgewollt oder notwendig, womit Kontinuität hergestellt wird. Die Erklärung gegenwärtiger Verhältnisse kann sowohl von fundierenden als auch von kontrapräsentischen Vergangenheitsbezügen geleistet werden. Beispielsweise hält Pausanias den Raub des Kultbildes der Athena Alea aus Tegea durch Augustus für erklärungsbedürftig, weil er das von ihm am Ort erwartete Artefakt nicht vorfand: „Augustus hat offenbar nicht damit angefangen, von den Besiegten Statuen und Götterbilder fortzuführen, sondern folgte nur einem längst geübten Brauch.“212 Der folgende Beispielkatalog zur Rechtfertigung seiner These beginnt mit Ilion, nennt einige griechische Beispiele und Xerxes’ Statuenraub von Athen, Brauron, Milet und Branchidai. Er schließt mit den Worten: „Kaiser Augustus tat also nur, was von alters feststehende Sitte bei Griechen und Barbaren war.“213 Die Erklärung von Statuenraub mittels Vergangenheitsbezügen als Beispielkatalog ist hier der Form nach fundierend (Brauch, Sitte: Augustus’ Verhalten ist nicht singulär, sondern folgt einer gewissen Tradition, die Gegenwart mittels Kontinuität erklärt), der Funktion nach exkulpierend, auch wenn Pausanias Statuenraub generell verurteilt.214 Das fehlende Kultbild provozierte kontrapräsentische Erinnerung, die Pausanias dazu herausgefordert hat, den Widerspruch zwischen erwarteter Präsenz des Kultbildes und dessen gegenwärtiger Abszenz mit fundierenden Vergangenheitsbezügen zu erklären. Neben fundierenden und kontrapräsentischen Funktionen von Vergangenheitsbezügen hat Piepenbrink neben der rein rhetorischen215 auch kritische, motivierende, integrative, legitimierende und stabilisierende Funktionen unterschieden. Piepenbrink hatte Vergangenheitsbezüge in öffentlichen Reden im republikanischen Rom und klassischen Athen untersucht und dafür diese Systematisierung von Funktionen von Vergangenheitsbezügen vorgeschlagen. Ihre Ausgangsthese war, dass im Gegensatz zu den Römern die Griechen dazu tendieren würden, „konflikthafte Momente aus ihrem kulturellen Gedächtnis auszuschließen,“216 was je211 Vgl. Kap. 3.3. 212 Paus. 8,46,2. Zu der Stelle vgl. Moggi/Osanna 2003, 502. Pretzler 2007, 28 n. 82, 87. Swain 1996, 345. Hutton 2005a, 623 Anm. 4 will die Stelle sarkastisch lesen im Gegensatz zu Arafat 1996, 128: ‚frankly fawning‘. 213 Paus. 8,46,4. 214 Vgl. Arafat 1996, 129: „While Pausanias does not explicitly give his approval to the practice of carrying off artefacts, he hardly condemns it, […] and effectively uses the past to legitimize the (in this case, recent) present.“ 215 Piepenbrink 2012, 117: „d. h. dem Bestreben des Redners zu dienen, die eigene Position zu bekräftigen, sich selbst optimal zu präsentieren und die Kontrahenten zu diskreditieren.“ 216 Piepenbrink 2012, 100. Vgl. dazu Loraux 1980, 213–242. Flaig 1991, 129–149.
2.4 Erinnerungskultur, Vergangenheitsbezüge und Defizienzerfahrung
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doch nicht der Fall war. Die von Piepenbrink differenzierten Funktionen seien hier der Vollständigkeit halber aufgezählt: 1. kritische Funktion: Verhaltensweisen von Personen oder Gruppen werden kritisiert. Es gibt Überlappungen mit der Motivationsfunktion, wo für Veränderungen geworben wird, also kontrapräsentischer Vergangenheitsbezug stattfindet. 2. motivierende Funktion: Es wird allgemein zu einem bestimmten Verhalten animiert. Es soll nicht nur ein bestimmtes Verhalten durch Verweis auf die Vergangenheit hervorgerufen werden, sondern auch Verstärkung anderer Argumente stattfinden. 3. integrative Funktion: Kooperative soziale Werte werden mit historischen Beispielen präsentiert. 4. legitimierende Funktion: Bereits positiv konnotierte Einrichtungen werden mit Verweis auf ihr Alter oder langes Bestehen fundiert. 5. stabilisierende Funktion: Sie kann mit der kritischen Funktion einhergehen und dient der Stabilisierung von Verhalten oder Verhaltenserwartungen. Von zentraler Bedeutung für die Methodik der vorliegenden Arbeit ist das Kritikpotenzial kontrapräsentischer Vergangenheitsbezüge, d. h. derjenigen Vergangenheitsbezüge, denen eine kritische Funktion durch den Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart inhärent ist. Die zugrundeliegende Motivation für derlei Vergleiche soll in Anlehnung an Assmann und Theißen als Defizienzerfahrung bezeichnet werden.217 Diese Defizienzerfahrung angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse Griechenlands in der römischen Kaiserzeit wird von Plutarch, Dion Chrysostomos, Aristides, Lukian und Pausanias sowohl in materieller als auch in politischer Hinsicht gemacht und kommuniziert. Im Anschluss an diese zeitgenössische Defizenzerfahrung wird von den Autoren meist ein politischer Vergangenheitsbezug im Modus der Komparation hergestellt (und nicht im Modus des Absoluten). Allen hier untersuchten Autoren aus der Zeit der Zweiten Sophistik ist die Differenz der Verhältnisse zwischen Vergangenheit und Gegenwart bewusst und sie sprechen diese Differenz auch explizit an, was sie von den meisten Sophisten ihrer Zeit unterscheidet. Die Sophisten beziehen sich thematisch zwar auch auf die Vergangenheit, diskutierten in ihren Meletai die Ereignisse aber im Modus des Absoluten.218 Insofern finden wir bei unserer Autorenauswahl sowohl eine große Zahl auswertbarer Vergleiche zwischen Vergangenheit und Gegenwart als auch von Reflexionen über das Gegenwart-VergangenheitVerhältnis, wobei die Vergangenheit immer als Maßstab gesetzt wird. Neben anderen Referenzpunkten wie fernen Ländern ist die Vergangenheit also als Maßstab im Sinne eines utopischen Raumes bereits einmal realisierter Ideale zu verstehen.219 Der damit erzeugte Widerspruch zwischen der eigenen Zeit und 217 Vgl. Assmann 2007, 79 f. Theißen 1988. 218 Vgl. Bowie 2004. 219 Jung 2011, 14 wies darauf hin, dass die Utopie in der Vormoderne vorwiegend auf die Vergangenheit gerichtet war, während sie in der Moderne in die Zukunft weist (wenn sie nicht räumlich ausgelagert wurde und zeitgleich an einem fernen Ort existierte): „Anders als in der Moderne, in der die gesellschaftlichen Ideale auf die Zukunft als Referenzepoche hin formuliert
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2 Methodische Vorüberlegungen
den mittels Vergangenheitsbezügen konstruierten Bildern der Vergangenheit hat zu einer kritischen Haltung gegenüber den Römern geführt. Zwar wurde die gegenwärtige Weltordnung weitgehend als unveränderlich wahrgenommen, die kritische Haltung der Griechen begünstigte jedoch einerseits konkrete Kritik an der römischen Herrschaftspraxis und andererseits eine innergriechische Debatte darüber, wie man sich als Grieche unter der römischen Herrschaft zu verhalten habe, ob man also mit Rom kollaborieren solle oder nicht.
werden, ist in der Vormoderne die Vergangenheit diejenige Zeit, in der die gesellschaftlichen Idealvorstellungen bereits einmal realisiert waren. Die als veränderungsbedürftig oder defizitär erfahrene Gegenwart wird im Hinblick auf ein in der Vergangenheit bereits einmal realisiertes Vorbild, eben die Erinnerung, konzipiert und an diesem Vorbild gemessen.“ Das mythische ‚goldene Geschlecht‘ bzw. ‚goldene Zeitalter‘ erweist sich als ein Referenzpunkt bereits einmal realisierter Idealvorstellungen. Die in eine mythische Vergangenheit transzendierten Utopien von Überfluss, Reichtum, Gleichheit usw. haben in der historischen Vergangenheit mit dem Freiheitskampf der Griechen ihr Äquivalent.
3 PLUTARCHS ‚PRAECEPTA GERENDAE REIPUBLICAE‘ Plutarchs ‚Politische Ratschläge‘1 enthalten bemerkenswerte Reflexionen sowohl über die politische Situation der Griechen im Imperium Romanum, die Verhältnisse der Poleis untereinander als auch zu den Römern und nicht zuletzt zum Verhältnis der Griechen zu ihrer eigenen Vergangenheit. Die Schrift ist ein Essay in Briefform über die Frage, wie man als Grieche in der römischen Kaiserzeit eine politische Karriere innerhalb der Polis beginnt, wohlgemerkt nicht im Dienste des Imperium Romanum. Sie ist konkret adressiert an einen gewissen Menemachos2 aus Sardis, generell aber auch an die griechischen Honoratioren in den östlichen Poleis3 und wurde geschrieben zwischen 96 und 114 n. Chr.4 Dem aus Epidauros stammenden Ritter Cn. Cornelius Pulcher war sie bekannt,5 was bedeutet, dass die provinziale Elite sie tatsächlich rezipierte. Die Schrift interveniert in der Debatte zwischen einerseits lokalorientierten und andererseits Rom-orientierten griechischen Provinzialen. 3.1 DEFIZIENZERFAHRUNG DURCH VERGANGENHEITSBEZÜGE In den politischen Schriften Plutarchs können wir immer dann Aussagen über die defizitäre Situation der Griechen der Gegenwart finden, wenn Plutarch Vergangenheitsbezüge herstellt. Das normative Bild der Vergangenheit erzeugt somit durch den Vergleich zwischen Gegenwart und Vergangenheit ein Gefühl der Defizienz. 1
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Die Schrift wird von mehreren Autoren in den Sammelbänden jüngeren Datums von Nikolaidis 2008 und de Blois et al. 2004/5 behandelt. Hervorzuheben ist die Arbeit von Cook 2004. Swain 1996, 166–168 liefert eine sehr gute Analyse. Pabst 2010 ist grundlegend für mein Verständnis vom Text. Vgl. Halfmann 2002, 83 Anm. 1 mit der älteren Literatur. Hierbei hervorzuheben sind Renoirte 1951 und Valgiglio 1976. Speziell zu den Vergangenheitsbezügen vgl. Prandi 2000 und Carpanelli 1991. Zuletzt van der Stockt 2013, 25–27 über das Verhältnis von Griechen und Römern in den Praecepta gerendae reipublicae. Außerdem Massaro 1995 über ‚Realpolitik‘ in dieser Schrift. Menemachos’ Wunsch nach einem Leitfaden politischen Handelns ist nur der Anlass der Schrift, so wie Plutarch z. B. die Schrift de recta ratione audiendo einem gewissen Nikander widmet (Plut. de aud. 37c). In Wirklichkeit ist de recta ratione audiendo die Publikation eines Vortrags. Zu Menemachos vgl. Renoirte 1951, 69–79. Jones 1971, 110 Anm. 4. Puech 1992, 4859. Swain 1996, 163 f. vermutet, dass Plutarchs Freund Cn. Cornelius Pulcher, der bei Sardis Grundbesitz hatte (IGR IV 1492), die Verbindung zu Menemachos darstellt. Vielleicht ist er auch in Plut. de exilio 600a gemeint. Van der Stockt 2013, 25. Renoirte 1951. Jones 1966, 72. Bowersock 1965b, 270 nimmt ebenfalls als spätestes Datum 114 n. Chr. an. Vgl. Aalders/de Blois, 3386 Anm. 9 für detailliertere aber gleichzeitig unsicherere Abfassungsdaten. Plut. De cap. ex inim. ut. 86b–d. Zu Cn. Cornelius Pulcher vgl. PIR2 C 1424. Pflaum 1960–61, Nr. 81. Camia 2008, 32 f.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
Für Plutarch verhält sich die Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit mit ihren ‚ernsten‘ politischen Problemen wie ein Spiel:6 […] ἡμεῖς δ’ οἱ νῦν τρυφῶντες ἐν πολιτείαις, μὴ τυραννίδα μὴ πόλεμόν τινα μὴ πολιορκίαν ἐχούσαις, ἀπολέμους δ’ ἁμίλλας καὶ φιλοτιμίας νόμῳ τὰ πολλὰ καὶ λόγῳ μετὰ δίκης περαινομένας ἀποδειλιῶμεν; οὐ μόνον στρατηγῶν τῶν τότε καὶ δημαγωγῶν, ἀλλὰ καὶ ποιητῶν καὶ σοφιστῶν καὶ ὑποκριτῶν ὁμολογοῦντες εἶναι κακίους· Wir, die wir spielend Politik treiben, in Städten ohne Tyrannen, ohne Krieg, ohne Belagerungen, mit friedlichen Kämpfen und Streitigkeiten, die sich meistens durch Gesetz und rechtliche Austragung erledigen lassen, wir sollten uns kleinmütig zurückziehen lassen? Sollten uns schwächer bekennen nicht bloß als die damaligen Feldherren und Volksführer, sondern auch als die alten Dichter, Sophisten und Schauspieler?7
Bemerkenswert ist, dass Plutarch nicht bei der Defizienzerfahrung erzeugenden Orientierung an den Griechen der Vergangenheit8 stehen bleibt, sondern diese Konstellation als Herausforderung sieht. Der alternde Politiker wird von Plutarch aufgerufen, seine Ämter weiterzuführen, so wie es ein Cato, Augustus, Perikles oder Agesilaos taten. Textlich markiert Plutarch eine Dichotomie zwischen den politischen und kulturellen Akteuren (Strategen und Demagogen auf der einen Seite; Dichter, Sophisten und Schauspieler auf der anderen), womit er das Selbstverständnis unterstreicht, dass den Griechen in der Gegenwart nicht allein die kulturelle Sphäre zuzuordnen ist. Tatsächlich sieht er reale Aufgaben eines angehenden Polispolitikers, der sich selbstbewusst gegenüber dem Herrscher geben soll (παρρησία πρὸς ἡγεμόνα): νῦν οὖν ὅτε τὰ πράγματα τῶν πόλεων οὐκ ἔχει πολέμων ἡγεμονίας οὐδὲ τυραννίδων καταλύσεις οὐδὲ συμμαχικὰς πράξεις, τίν’ ἄν τις ἀρχὴν ἐπιφανοῦς λάβοι καὶ λαμπρᾶς πολιτείας; αἱ δίκαι τε λείπονται αἱ δημόσιαι καὶ πρεσβεῖαι πρὸς αὐτοκράτορα ἀνδρὸς διαπύρου καὶ θάρσος
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Auch Lukian. Rh. Pr. 10 bezweifelt den Nutzen von politischen Reden in der Gegenwart mit dem gleichen Argument, dass es keine ‚ernsten‘ politischen Probleme mehr zu lösen gäbe: […] καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ μήτε Φιλίππου ἐπιόντος μήτε Ἀλεξάνδρου ἐπιτάττοντος, ὅπου τὰ ἐκείνων ἴσως ἐδόκει χρήσιμα, […]. („[…] und dies zu Friedenszeiten, wo weder Philipp anrückt noch Alexander Befehle erteilt, Umstände unter welchen deren Reden vielleicht noch nützlich schienen […].“). Plut. an seni 784 f.–785a. Bei jeglicher Herausforderung des Lebens rät Plutarch in de prof. virt. 85a, sei es ein Geschäft, ein zu übernehmendes Amt oder ein Unglück, soll man sich fragen, was andere rechtschaffene Männer getan hätten: τί δ' ἂν ἔπραξεν ἐν τούτῳ Πλάτων, τί δ' ἂν εἶπεν Ἐπαμεινώνδας, ποῖος δ' ἂν ὤφθη Λυκοῦργος ἢ Ἀγησίλαος („Was würde in einem solche Falle Platon getan, was würde Epameinondas gesagt, wie würde Lykurg oder Agesilaos dabei sich benommen haben.“). Vgl. Swain 1996, 85 Anm. 55. Generell über die Erinnerung der Vergangenheit und wie sie Genügsamkeit/Zufriedenheit generiert vgl. Plut. Marius 46,2. mor. 473b–e. 536c. Vgl. auch Sen. Ep. 11,8: Accipe, et quidem utilem ac salutarem, quam te affigere animo volo: ‚aliquis vir bonus nobis diligendus est ac semper ante oculos habendus, ut sic tamquam illo spectante vivamus et omnia tamquam illo vidente faciamus‘. („Vernimm es, und zwar ein nutzbringendes und hilfreiches, von dem ich mir wünsche, daß Du es Dir fest einprägst: ‚Irgendeinen vorzüglichen Mann müssen wir hochschätzen und stets vor Augen haben, um so zu leben, als blicke er auf uns, und in allem so zu handeln, als sähe er es.‘“).
3.1 Defizienzerfahrung durch Vergangenheitsbezüge
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ἅμα καὶ νοῦν ἔχοντος δεόμεναι. πολλὰ δ’ ἔστι καὶ τῶν παρειμένων ἐν ταῖς πόλεσι καλῶν ἀναλαμβάνοντα καὶ τῶν ἐξ ἔθους φαύλου παραδυομένων ἐπ’ αἰσχύνῃ τινὶ τῆς πόλεως ἢ βλάβῃ μεθιστάντα πρὸς αὑτὸν ἐπιστρέφειν. ἤδη δὲ καὶ δίκη μεγάλη καλῶς δικασθεῖσα καὶ πίστις ἐν συνηγορίᾳ πρὸς ἀντίδικον ἰσχυρὸν ὑπὲρ ἀσθενοῦς καὶ παρρησία πρὸς ἡγεμόνα μοχθηρὸν ὑπὲρ τοῦ δικαίου κατέστησεν ἐνίους εἰς ἀρχὴν πολιτείας ἔνδοξον. Zu unserer Zeit nun, wo es in den kleinen Staaten keine Heere mehr anzuführen, keinen Tyrannen zu stürzen, keine Bündnisse zu stiften gibt, womit kann wohl Einer eine hervorragende und glänzende politische Laufbahn eröffnen? Es sind noch übrig die öffentlichen Gerichte und die Gesandtschaften an den Kaiser, welche einen feurigen Mut und verständigen Sinn zugleich erfordern. Auch gibt es vielfache Gelegenheit [b] durch Wiederherstellung guter in Vergessenheit geratener Einrichtungen oder durch Abschaffung von Missbräuchen, welche zur Schande oder zum Nachteil des Staates sich eingeschlichen haben, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Manchem hat auch schon ein glücklich geführter großer Prozess, eine wackere Verteidigung eines Schwachen gegen einen stärkeren Gegner, ein freies Wort für das Recht gegen einen übelgesinnten Statthalter zu einer angesehenen Stelle im Staat geholfen.9
Die Aufgaben sind auf drei Ebenen angesiedelt: Innerhalb der Polis, auf der Provinzebene und auf der Ebene der Reichsdiplomatie, wobei stets die Polis im Mittelpunkt der Politik steht. Die städtischen Institutionen, die er auch gegen allzu leichtfertig herbeigeführte römische Interventionen verteidigt wissen will,10 sollen gepflegt werden, um den verbliebenen Rest Autonomie nicht zu gefährden.11 Angesichts des Gesagten ist zu bedenken, wogegen Plutarch eigentlich anschreibt. Offensichtlich waren viele griechische Politiker entmutigt angesichts der römischen Herrschaft: Sowohl aufgrund der römischen Ansicht, die Griechen seien für die Kultur zuständig, als auch angesichts der ‚Schwäche des Griechentums‘12 vor dem Hintergrund der als normativ verbindlich empfundenen Vergangenheit. In den Augen Plutarchs delegierten griechische Politiker deshalb zu viele Entscheidungen an die Statthalter, wohingegen er gerade wegen der Vergangenheit ein stärkeres Selbstbewusstsein der Griechen einfordert.
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Plut. praec. ger. reip. 805a–b. Vgl. Dion Chrys. or. 31,161 f., wo für die Gegenwart lediglich die städtische Selbstverwaltung, Ratssitzungen, Rechtspflege, Opfern und das Feiern von Festen verbleibt. Nicht mehr möglich sind Hegemonie, Hilfe für Bedrängte, Erwerb von Bundesgenossen, Städtegründungen und Kriegsgewinn. S. u. Kap. 3.2. Tatsächlich griffen die Römer mit curatores rei publicae bzw. λογισταί zunehmend in die städtische Finanzverwaltung ab dem Ende des 1. Jh. ein. Vgl. die erste Erwähnung bei Philostr. soph. 512 zur Zeit des Niketes von Smyrna: ἀνὴρ ὕπατος, ᾧ ὄνομα Ῥοῦφος, τοὺς Σμυρναίους ἐλογίστευε πικρῶς καὶ δυστρόπως. („Ein Konsul mit Namen Rufus verwaltete Smyrna kleinlich und eigensinnig.“). Rufus erinnerte sich später einer Kränkung des Niketes und ließ ihn zu sich nach Gallien kommen um über ihn zu richten. Rufus war von der Rede des Niketes so berührt, dass sie sich versöhnten. Die Datierung des Vorfalls in die Zeit Nervas ist unsicher, weil in den Handschriften auch Nero statt Nerva auftaucht, vgl. Bowie 1970, 38 Anm. 106 und Eck 1979, 198 Anm. 10. Plut. praec. ger. reip. 824e und s. u. ad Anm. 31 (Kap. 3.2).
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
3.2 UMGANG MIT DER RÖMISCHEN HERRSCHAFT Die Vermeidung von Staseis und Aufrechterhaltung der Homonoia ist Plutarchs Hauptziel mit den Praecepta gerendae reipublicae,13 was nicht zuletzt die prominente Platzierung des zeitgenössischen Beispiels vom Streit des Pardalas14 und Tyrrhenos15 am Ende der Schrift verdeutlicht. Dem vorangestellt ist die Geschichte zweier Syrakusaner, deren privater Streit jedoch die Verfassung der ganzen Polis vernichtete (ἐκ τούτου στασιάσαντες ἐπὶ συμφοραῖς μεγάλαις τὴν ἀρίστην πολιτείαν).16 Der private Streit des Pardalas mit Tyrrhenos führte für Sardis zu Abfall und Krieg,17 womit Plutarch die Griechen darauf aufmerksam machen möchte, 13
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Plut. praec. ger. reip. 824b: οὐ μὴν ἀναίσθητον οὐδ' ἀνάλγητον ἐν στάσει καθῆσθαι προσήκει τὴν περὶ αὑτὸν ἀταραξίαν ὑμνοῦντα καὶ τὸν ἀπράγμονα καὶ μακάριον βίον, ἐν ἑτέροις ἐπιτερπόμενον ἀγνωμονοῦσιν· („Das Beste ist freilich zum Voraus zu verhüten, dass kein Aufruhr entsteht, und das ist wirklich als das größte und schönste Meisterstück der Politik zu betrachten.“). Und ebd. 824d: Λείπεται δὴ τῷ πολιτικῷ μόνον ἐκ τῶν ὑποκειμένων ἔργων, ὃ μηδενὸς ἔλαττόν ἐστι τῶν ἀγαθῶν, ὁμόνοιαν ἐμποιεῖν καὶ φιλίαν ἀεὶ τοῖς συνοικοῦσιν, ἔριδας δὲ καὶ διχοφροσύνας καὶ δυσμένειαν ἐξαιρεῖν ἅπασαν, […]. („Es bleibt also dem Staatsmann von allen obigen Aufgaben die einzige, die aber an Wert und Verdienst keiner der übrigen nachsteht, unter seinen Mitbürgern Frieden und Eintracht ungestört zu erhalten und jede Zänkerei, Entzweiung und Missgunst zu verbannen.“). Vgl. auch die Homonoia-Emissionen und dazu Franke/Nollé 1997. Kampmann 1996. Theriault 1996. Sheppard 1984–1986. Pardalas selbst ist nicht bezeugt, jedoch seine in Sardis ansässige Familie. Ein C. Iulius Pardalas erscheint als Priester des Augustus und der Roma in IvE 7,2 3825 (gefunden in Hypaipa), ein Ti. Iulius Pardalas auf einem Militärdiplom (ILS 1988), ein Iulius Pardalas als idiologus Aegypti im Jahr 123 n. Chr. (PIR2 I 448), ein Claudius Pardalas (PIR2 C 951) als Freund des Aelius Aristides (Aristeid. or. 50,27. 87). Letzterer war Stratege und Tempelwärter in Pergamon. In einer Weihinschrift erscheint er in der Funktion eines περιθύτης (AvP VIII,3 Nr. 140). Vgl. Habicht 1969, 142 mehr über Pardalas und seine Familie aus Sardeis. Vgl. auch IGR IV 238. ‚Tyrrhenos‘ könnte entweder der originäre Eigenname eines Lyders oder ein von Plutarch atthisierter ‚Tuscus‘ sein. Vgl. Plut. qu. R. 53 p. 277c mit der Frage: „Warum bietet man noch jetzt bei der Feier der Capitolinischen Spiele Sarder zum Verkauf aus und führt einen Greis mit der sogenannten Bulla, einem Halsschmuck der Kinder, zum Spott vor?“ Nach dem Sieg des Romulus über Veji (vgl. Plut. Rom. 25, dort müsste es eigentlich Camillus heißen, vgl. Liv. 6,21– 23.), ließ man viele Gefangene und den König öffentlich verkaufen, wobei man sie verspottete. Plutarch greift auf Hdt. 1,51 und 94 zurück (vgl. auch Strab. 5,2,2 p. 219), wenn er behauptet, die Etrusker seien ursprünglich Lydier gewesen. Die Hauptstadt von Lydien war Sardis, weswegen man die Vejenter unter dem Namen Sarder verkaufte und dies in Plutarchs Zeiten noch so durchführe. Vielleicht kannte Plutarch den Namen des politischen Gegners von Pardalas gar nicht und hat der Person einen sprechenden Namen gegeben. Entweder haben wir es bei dem Konflikt zwischen dem indigenen (mit römischem Bürgerrecht ausgestatteten) Pardalas mit einem ‚etruskischen‘ oder einem indigenen Tyrrhenos zu tun. Vgl. auch Tac. Ann. 4,55, wo die Geschichte von Atys, Tyrrhenus und Lydus erzählt wird, womit die Sardier zeigen, dass sie eine Beziehung zu Rom über die Etrusker haben. Plut. praec. ger. reip. 825c. Vgl. Aristot. Pol. 5,4 (1303 b 20 f.) mit der gleichen Geschichte. Plut. praec. ger. reip. 825d: ἔχεις δὲ δήπου καὶ αὐτὸς οἰκεῖα παραδείγματα, τὴν Παρδάλα πρὸς Τυρρηνὸν ἔχθραν, ὡς ὀλίγον ἐδέησεν ἀνελεῖν τὰς Σάρδεις, ἐξ αἰτιῶν μικρῶν καὶ ἰδίων εἰς ἀπόστασιν καὶ πόλεμον ἐμβαλοῦσα. („Doch du hast ja selbst auch ein einheimisches Beispiel vor dir, den Zwist des Pardalas mit Tyrrhenos, der, von kleinlichem persönlichem Zank ausgegangen, Sardes in Aufruhr und Krieg verwickelte und an den Rand des Verderbens brachte.“). Vgl. Jones 1971, 110 ff. bes. 117. Halfmann 2002, 84 spricht von „bürgerkriegsähnliche[n]
3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft
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dass ‚innenpolitische‘ Auseinandersetzungen innerhalb der Polis zu ‚außenpolitischen‘ Auseinandersetzungen mit den Römern führen können. Insofern ist die Reihenfolge der Ereignisse: στάσις, ἀπόστασις und πόλεμος. Bereits Louis Robert hatte vermutet, dass vier bei Philostrat überlieferte Apollonios-Briefe auf das gleiche Ereignis in Sardis Bezug nehmen.18 Die Briefe 56 und 75 enthalten wie bei Plutarch den Hinweis auf die vergangene Macht der Lyder. Während jedoch der besiegte Lyder-König Kroisos zum Berater seines Eroberers Kyros aufstieg, biete der gegenwärtige πόλεμος keine Chance auf Waffenstillstand, Verträge und Versöhnung. Brief 75a deutet an, dass die Familien der Polis unterschiedliche Vorstellungen von νόμος, φύσις und ἔθος hätten. Mit Brief 76 bietet Apollonios dann seine Mediation an, indem er die Vorstellungen dieser drei Aspekte innerhalb der Polis in eins setzen würde. Den Abschluss bildet ein PlatonZitat, wonach στάσις schlimmer als πόλεμος sei.19 Das Verhältnis von Griechen und Römern wird von Plutarch in einer für diese Arbeit zentralen Stelle als das vom Schauspieler zum Suffleur bestimmt, wobei auf Fehltritte eine physische Bestrafung folge: ἰσιόντα δ’ εἰς ἅπασαν ἀρχὴν οὐ μόνον ἐκείνους δεῖ προχειρίζεσθαι τοὺς λογισμούς, οὓς ὁ Περικλῆς αὑτὸν ὑπεμίμνησκεν ἀναλαμβάνων τὴν χλαμύδα, “πρόσεχε, Περίκλεις· ἐλευθέρων ἄρχεις, Ἑλλήνων ἄρχεις, πολιτῶν Ἀθη ναίων”· ἀλλὰ κἀκεῖνο λέγειν πρὸς ἑαυτόν, “ἀρχόμενος ἄρχεις, ὑποτεταγμένης πόλεως ἀνθυπάτοις, ἐπιτρόποις Καίσαρος· ‘οὐ ταῦτα λόγχη πεδιάς,’ οὐδ’ αἱ παλαιαὶ Σάρδεις οὐδ’ ἡ Λυδῶν ἐκείνη δύναμις”· εὐσταλεστέραν δεῖ τὴν χλαμύδα ποιεῖν, καὶ βλέπειν ἀπὸ τοῦ στρατηγίου πρὸς τὸ βῆμα, καὶ τῷ στεφάνῳ μὴ πολὺ φρονεῖν μηδὲ πιστεύειν, ὁρῶντα τοὺς καλτίους ἐπάνω τῆς κεφαλῆς· ἀλλὰ μιμεῖσθαι τοὺς ὑποκριτάς, πάθος μὲν ἴδιον καὶ ἦθος καὶ ἀξίωμα τῷ ἀγῶνι προστιθέντας, τοῦ δ’ ὑποβολέως ἀκούοντας καὶ μὴ παρεκβαίνοντας τοὺς ῥυθμοὺς καὶ τὰ μέτρα τῆς διδομένης ἐξουσίας ὑπὸ τῶν κρατούντων. ἡ γὰρ ἔκπτωσις οὐ φέρει συριγμὸν οὐδὲ χλευασμὸν οὐδὲ κλωγμόν, ἀλλὰ πολλοῖς μὲν ἐπέβη δεινὸς κολαστὴς πέλεκυς αὐχένος τομεύς, ὡς τοῖς περὶ Παρδάλαν τὸν ὑμέτερον ἐκλαθομένοις τῶν ὅρων· ὁ δέ τις ἐκριφεὶς εἰς νῆσον γέγονε κατὰ τὸν Σόλωνα Φολεγάνδριος ἢ Σικινήτης, ἀντί γ’ Ἀθηναίου πατρίδ’ ἀμειψάμενος. Bei jedem Amtsantritt aber muss man nicht nur jene Betrachtungen sich vergegenwärtigen welche Perikles anstellte so oft er den Feldherrenmantel anlegte: „Bedenke, Perikles, du befiehlst über freie Männer, über Hellenen, über athenische Bürger!“20 Man muss sich auch sagen: Als Beherrschter herrschst du eine den Prokonsuln und kaiserlichen [e] Procuratoren untergebene Stadt; da ist nicht mehr „die über das Blachfeld geworfene Lanze“,21 nicht mehr das alte Sardis, nicht mehr die Macht der Lyder; jetzt musst du das Amtskleid knapper zusammenziehen, deine Blicke von der Rednerbühne auf das Prätorium richten und dir nicht viel auf den Kranz einbil-
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interne[n] Auseinandersetzungen“. ἀπόστασις καὶ πόλεμος sind jedoch kein Bürgerkrieg, sondern ‚Abfall von‘ und ‚Krieg mit den Römern‘. Philostr. Epist. Apoll. 56. 75. 75a und 76. Vgl. Robert 1973, 485 f. Zur Historizität des Briefcorpus vgl. Meyer 1917. Platon Leg. 629d. Noch zweimal nutzt Plutarch das Perikles-Zitat als Versatzstück in anderen Kontexten, jedoch ohne den Zusatz des Gegenwartsbezuges (186c und 620c). Vgl. zur Interpretation des PeriklesZitats auch Cantanzaro 2009, 84 f. und van der Stockt 2013, 25 Anm. 36. Vgl. Soph. Trach. 1058.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘ den, da du die Stiefel22 (der Prokonsuln, Anm. FU) über deinem Kopf siehst. Du musst vielmehr die Schauspieler nachahmen, die zwar jede Handlung mit ihrem eigenen Gefühl, Ethos und Würde begleiten, dabei aber immer auf Rhythmus und Grenzen des Suffleurs hören, und du darfst nie die Grenzen der gegebenen Macht der Herrscher überschreiten. Ein Verstoß dagegen zieht nicht mehr bloß [f] Zischen und Gelächter nach sich, sondern Manchen traf schon Der halsdurchschneidende scharfe Züchtiger, das Beil,23 wie euren Pardalas, der die Grenzen seiner Macht vergaß; Mancher ist auf eine Insel verstoßen und, wie Solon sagt, „aus einem Athener ein Pholegandrier oder Sikinete“ [814a] geworden.24
Offensichtlich wurde Pardalas vom Prokonsul hingerichtet,25 weil er die Grenzen seines Handlungsspielraums angesichts der römischen Herrschaft missachtete. Insofern kann ein Zuviel an Selbstbewusstsein wiederum schädlich sein, weshalb Plutarch daran erinnert, dass die ‚Macht der Lyder‘ vergangen ist und man als Redner nun auf die Römer Rücksicht nehmen muss. Trotzdem bleibt eine Reihe von Idealen, von denen aber ausgerechnet die das Selbstbild des griechischen Politikers prägenden (Krieg und Frieden,26 Freiheit) nicht mehr in seiner Hand liegen: ὅρα γὰρ ὅτι τῶν μεγίστων ἀγαθῶν ταῖς πόλεσιν, εἰρήνης ἐλευθερίας εὐετηρίας εὐανδρίας ὁμονοίας, πρὸς μὲν εἰρήνην οὐδὲν οἱ δῆμοι τῶν πολιτικῶν ἔν γε τῷ παρόντι χρόνῳ δέονται· πέφευγε γὰρ ἐξ ἡμῶν καὶ ἠφάνισται πᾶς μὲν Ἕλλην πᾶς δὲ βάρβαρος πόλεμος· ἐλευθερίας δ’ ὅσον οἱ κρατοῦντες νέμουσι τοῖς δήμοις μέτεστι καὶ τὸ πλέον ἴσως οὐκ ἄμεινον· εὐφορίαν δὲ γῆς ἄφθονον εὐμενῆ τε κρᾶσιν ὡρῶν καὶ τίκτειν γυναῖκας “ἐοικότα τέκνα γονεῦσι” καὶ σωτηρίαν τοῖς γεννωμένοις εὐχόμενος ὅ γε σώφρων αἰτήσεται παρὰ θεῶν τοῖς ἑαυτοῦ πολίταις. Siehe einmal, dass von den höchsten Gütern in den Poleis die da sind Frieden, Freiheit, reiche Ernten, zahlreiche Bevölkerung und Eintracht, was den Frieden anbelangt die Bürger die Politiker in der Gegenwart nicht brauchen. Von uns geflohen ist und verlassen hat uns nämlich sämtlicher Krieg sowohl mit Hellenen als auch mit Barbaren. An der Freiheit haben die Bürgerschaften nur soviel Anteil, wie ihnen die Herrschenden zuteilen, und ein Mehr wäre vielleicht nicht besser. Fruchtbarkeit des Bodens, welche Überfluss erzeugt, gesunde Witterung und, dass die Frauen gebären „den Vätern ähnliche Kinder“, Gedeihen der Neugeborenen, das Alles wird der Besonnene seinen Poleis von den Göttern erbitten.27
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Apelt übersetzt καλτίους richtig mit „Patrizierschuhe“. Vgl. Plut. Aem. 5, wo καλτίον (lat. calceus) die Schuhe eines Patriziers und nicht die eines einfachen Soldaten sind. Für Swain 1996, 166 Anm. 93. 387 Anm. 40. Jones 1971, 133 und Fowler 1991 (Loeb Classical Library) sind es die Schuhe des Prokonsuls. Hingegen de Blois 2004, 59 denkt an Schuhe von Soldaten (wie Bowie 1970, 18 Anm. 49: „legionaries’ boots“). Seine gesamte Argumentation baut auf diesem Fehler auf und führt zur Ansicht, Plutarch ginge es darum, die wahren Machtstrukturen angesichts des römischen Militärs zu beschreiben. Vgl. Kokkinia 2006, die ausgehend von Plutarchs Bemerkung zu den Stiefeln des Statthalters in ihrer Untersuchung zu Plutarch, Dion Chrysostomos und Aelius Aristides zu einer sehr versöhnlichen Schlussfolgerung kommt, die allerdings die Distanz zwischen Griechen und Römern überhaupt nicht berücksichtigt. Nauck2 TGF Trag. adesp. fr. 412 = TrGF 2 Kannicht-Snell adesp. 412. Vgl. Arr. Epict. Diss. 4,1,60. Plut. praec. ger. reip. 813d–814a. Außerdem erinnert Plutarch an die Möglichkeit des Exils als Strafe, dazu Stini 2011. Van der Stockt 2013, 27 möchte in der ‚Abwesenheit von Krieg‘ die pax Romana sehen, insofern eine positive Konnotation der Stelle. Er verweist auch auf Plut. an seni 784 f. praec. 805a. de Pyth. orac. 408b–c. de tranqu. animi 469e. Plut. praec. ger. reip. 824c.
3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft
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Dass den griechischen Poleis ‚vielleicht‘ nicht noch mehr Freiheit gut tun würde, ist eine Bemerkung Plutarchs, die wegen seiner Offenheit für Diskussionen in der Forschung sorgte.28 Auf der einen Seite scheint er zu befürchten, dass sich die Griechen bei einem Mehr an Freiheit in ihrem alten Streit verlieren würden. Auf der anderen Seite ist er aber ein Befürworter der griechischen Freiheit, wie seine positiven Bemerkungen über die Freiheitserklärungen des Flamininus und Nero zeigen.29 Das relativierende ἴσως weist darauf hin, dass Plutarch eine Stellungnahme des Lesers zu dieser Frage einfordert. Dem Politiker bleibt realpolitisch die Rolle eines Mediators, der den Streit zwischen verfeindeten Polisparteiungen zu schlichten hat.30 ἔπειτα καὶ καθ’ ἕνα καὶ κοινῇ διδάσκοντα καὶ φράζοντα τὴν τῶν Ἑλληνικῶν πραγμάτων ἀσθένειαν, ἧς ἓν ἀπολαῦσαι ἄμεινόν ἐστι τοῖς εὖ φρονοῦσι, μεθ’ ἡσυχίας καὶ ὁμονοίας καταβιῶναι, μηδὲν ἐν μέσῳ τῆς τύχης ἆθλον ὑπολελοιπυίας. τίς γὰρ ἡγεμονία, τίς δόξα τοῖς περιγενομένοις; Endlich wird er den Einzelnen und Alle zusammen belehren, in welcher Schwäche sich Griechenland befindet, und wie es für den Verständigen besser ist, die Vorteile derselben (Lage, Anm. FU) zu nutzen und in Ruhe und Eintracht zu leben, da ja das Schicksal keinen Kampfpreis übrig gelassen hat. Welche Herrschaft, welchen Ruhm haben denn die etwaigen Sieger zu hoffen?31
Wenn es Plutarch für nötig hält, dass der Politiker seinen Mitbürgern stets die Schwäche des Griechentums in Erinnerung rufen soll (ἀσθένεια τῶν Ἑλληνικῶν πραγμάτων), scheinen die Griechen dies bisweilen vergessen zu haben (wie Pardalas). Angesichts der römischen Herrschaft sieht Plutarch offensichtlich aber keine Perspektive für ein freies Griechenland. Allein graduelle Veränderungen sind möglich, die er dem Politiker auch aufzeigt. Trotzdem hält er das Ideal der Freiheit hoch und weiß gleichzeitig, dass es in der Gegenwart nicht mehr einzulösen ist. Genau dieser Widerspruch zwischen Gegenwartsdiagnose, düsterer Prognose und dem bereits in der Vergangenheit einmal realisierten Ideal der Freiheit Griechenlands musste bei Plutarch solange bestehen, bis er ihn mit der neu definierten Rolle der Griechen im Imperium Romanum aufzulösen wusste. Plutarch stellt die römische Herrschaft in den Praecepta gerendae reipublicae keinesfalls positiv dar, da er den Eingriff in die Autonomie der Polis stets als Defizit sieht.32 Damit die Römer nicht intervenieren, müssen sich der griechische Politiker 28 29 30 31 32
Aalders 1982, 54 sieht Resignation, Renoirte 1951, 48 politischen Realismus. Caiazza 1993, 285 vermutet, dass die Zeit der römischen Republik für die Griechen in den Augen Plutarchs auch nicht besser als die Gegenwart war. S. u. Kap. 5.1. Plut. praec. ger. reip. 824d. Plut. praec. ger. reip. 824e. Tatsächlich weist auch Dion Chrys. or. 46,14 darauf hin, dass den Römern interne Streitigkeiten nicht verborgen bleiben: καὶ μηδεὶς νομίσῃ ὡς ἐγὼ ὑπὲρ ἐμαυτοῦ ἀγανακτῶν ταῦτα εἴρηκα μᾶλλον ἢ ὑπὲρ ὑμῶν δεδιὼς μήποτε ἄρα διαβληθῆτε ὡς βίαιοι καὶ παράνομοι. οὐ γὰρ λανθάνει τῶν ἐν ταῖς πόλεσιν οὐδὲν τοὺς ἡγεμόνας (λέγω δὲ τοὺς μείζους ἡγεμόνας τῶν ἐνθάδε) ἀλλ' ὥσπερ τῶν παιδίων τῶν ἀτακτοτέρων οἴκοι πρὸς τοὺς διδασκάλους κατηγοροῦσιν οἱ προσήκοντες, οὑτωσὶ καὶ τὰ τῶν δήμων ἁμαρτήματα πρὸς ἐκείνους ἀπαγγέλλεται. („Glaube nur niemand, ich hätte das aus Unwillen über meine eigene Lage gesagt und nicht, weil ich
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
und seine Heimatpolis schuldlos gegenüber den Herrschern halten.33 Anlass zu einem Eingriff der Römer geben demnach vor allem interne Spannungen, die deshalb unbedingt zu vermeiden sind. Die interne Entspannung wird somit auch als das Ziel römischer Intervention mit gewaltsamen Mitteln erkannt: αἱ δὲ δι’ ὅλων ἀναταραχθεῖσαι πόλεις κομιδῇ διεφθάρησαν, ἂν μή τινος ἀνάγκης ἔξωθεν τυχοῦσαι καὶ κολάσεως ὑπὸ κακῶν βίᾳ σωφρονήσωσιν. Staaten, die in eine völlige Zerrüttung geraten sind, gehen jedenfalls zu Grunde, wenn nicht eine fremde Macht eingreift und sie, durch äußere Gewalt und durch Unglücksfälle gewitzt, zur Vernunft kommen.34
Der griechische Politiker muss in jedem Fall auf den römischen Souffleur hören und darf wie ein Schauspieler die Grenzen des gespielten Stückes nicht überschreiten, um Plutarchs eigenes Bild zu gebrauchen.35 Dies ist im Rahmen des Problems griechischer Identität unter römischer Herrschaft im Übrigen ein Hinweis darauf, dass sich Plutarch eine griechische Identität vorstellt, die im römischen Kontext lediglich eine ‚gespielte Rolle‘ übernimmt. Dabei erscheint die römische Interventionsfreude durchaus als eine für den Griechen nicht zu berechnende Größe: „Was will eine Macht heißen, die eine Verfügung des Prokonsuls vernichten oder auf einen Andern übertragen kann?“36 In de exilio zieht Plutarch vor dem Hintergrund von Statthalterinterventionen37 das Exil sogar dem politischen Leben vor, was aber nur gelingt, indem er die Muße sowie die Pflege griechischer Traditionen als alternative Lebensweise idealisiert.38 Wem es vergönnt sei, sich auf eine In-
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fürchte, ihr könntet in den Ruf von gewalttätigen und gesetzlosen Leuten kommen (Mitbürger hatten versucht Dions Haus anzuzünden, Anm. FU). Denn nichts, was in den Städten vorgeht, bleibt den Prokonsuln – ich meine die mächtigeren in andereren Gegenden – verborgen. Wie die Angehörigen Kinder, die zu Hause allzu ungezogen sind, den Lehrern melden, so werden auch die Fehler der Gemeinden diesen Prokonsuln hinterbracht.“). Plut. praec. ger. reip. 814c: δεῖ παρέχειν αὑτόν τε καὶ τὴν πατρίδα πρὸς τοὺς ἡγεμόνας ἀναίτιον. Plut. praec. ger. reip. 824a. Plut. praec. ger. reip. 813e: ἀλλὰ μιμεῖσθαι τοὺς ὑποκριτάς, πάθος μὲν ἴδιον καὶ ἦθος καὶ ἀξίωμα τῷ ἀγῶνι προστιθέντας, τοῦ δ' ὑποβολέως ἀκούοντας καὶ μὴ παρεκβαίνοντας τοὺς ῥυθμοὺς καὶ τὰ μέτρα τῆς διδομένης ἐξουσίας ὑπὸ τῶν κρατούντων. („Du musst vielmehr die Schauspieler nachahmen, die zwar jede Handlung mit ihrem eigenen Gefühl, Ethos und Würde begleiten, dabei aber immer auf Rhythmus und Grenzen des Suffleurs hören, und du darfst nie die Grenzen der gegebenen Macht der Herrscher überschreiten.“). Plut. praec. ger. reip. 824e: ποία δύναμις, ἣν μικρὸν ἀνθυπάτου διάταγμα κατέλυσεν ἢ μετέστησεν εἰς ἄλλον, οὐδὲν οὐδ' ἂν παραμένῃ σπουδῆς ἄξιον ἔχουσαν; Vgl. Plut. de exilio 604b: ἀλλὰ μὴν τῷ ‘οὐκ ἄρχομεν οὐδὲ βουλεύομεν οὐδ' ἀγωνοθετοῦμεν’ ἀντίθες τό ‘οὐ στασιάζομεν οὐδ' ἀναλίσκομεν οὐδὲ προςηρτήμεθα θύραις ἡγεμόνος· οὐδὲν νῦν μέλει, ὅστις ὁ κεκληρωμένος τὴν ἐπαρχίαν ἐστίν, εἰ ἀκράχολος εἰ ἐπαχθής.’ („Wolltest du aber etwas vorbringen: Ich habe kein Amt, bin nicht Ratsmitglied, nicht Kampfrichter, so halte dem Folgendes entgegen: Ich lebe nicht unter bürgerlichen Unruhen, brauche keinen Aufwand zu machen, bin nicht an die Tür eines Gebieters gebannt, und es kümmert mich nicht, wer durch das Los Statthalter geworden, und ob er ein jähzorniger oder gewalttätiger Mann ist.“). Vgl. Plut. de exilio 604c: ἔξεστι δήπου καὶ τῷ μεθεστῶτι μυστηρίοις ἐν Ἐλευσῖνι διατρίβειν, Διονυσίοις ἐν ἄστει πανηγυρίζειν, Πυθίων ἀγομένων εἰς Δελφοὺς παρελθεῖν, Ἰσθμίων εἰς Κόρινθον, ἄνπερ ᾖ φιλοθέωρος· εἰ δὲ μή, σχολὴ περίπατος ἀνάγνωσις ὕπνος ἀθορύβητος […]. („So steht es nun den Verbannten frei, während der Mysterienfeier in Eleusis sich aufzuhalten,
3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft
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sel39 zurückzuziehen, solle sich ein Pindar-Zitat vorsagen, wonach man zwar ein kleines Feld nur besitze aber heiter, frei von Kummer und vom Streit der Parteien sei.40 Die vita contemplativa ist somit nur zum Preis der Aufgabe der vita activa zu haben. Sie hat aber für Plutarch folgende Vorteile: Man sei im Exil auch frei von Statthalterbefehlen, von Leistungen für den Bedarf des Staates und den schwer zu umgehenden Diensten für diesen.41 Es fällt auf, dass die von Plutarch angeführten Nachteile der vita activa erst im Verhältnis zu Rom als Nachteile auftreten (wo sie sich nicht auf die Liturgien in der Polis beziehen) und, dass außerdem die Strafe der Römer in eine Belohnung umgedeutet wird: ἑλοῦ πόλιν τὴν ἀρίστην καὶ ἡδίστην, πατρίδα δ’ αὐτὴν ὁ χρόνος ποιήσει, καὶ πατρίδα μὴ περισπῶσαν μὴ ἐνοχλοῦσαν μὴ προστάττουσαν εἰσένεγκε, πρέσβευσον εἰς Ῥώμην, ὑπόδεξαι τὸν ἡγεμόνα, λειτούργησον. ἂν γὰρ τούτων τις μνημονεύῃ φρένας ἔχων καὶ μὴ παντάπασι τετυφωμένος, αἱρήσεται καὶ νῆσον οἰκεῖν […]. Wähle die beste und angenehmste Stadt, die Zeit wird sie dir schon zur Heimat machen, und zwar zu einer Heimat, die dich nicht zerstreut, nicht belästigt, und dir nicht befiehlt: Zahle Steuer, gehe als Gesandter nach Rom, nimm den Statthalter ins Haus, besorge ein Staatsgeschäft. Wenn ein vernünftiger Mann dies bedenkt, so wird er, wenn er nicht ganz verblendet ist, in der Verbannung wohl auch eine Insel zu seinem Wohnsitz wählen […].42
Diese Aussagen Plutarchs lassen auf bedeutende Kritikpotenziale im Verhältnis zwischen Griechen und Römern schließen, was die Forschung zugunsten wachsender Annäherung zwischen Griechen und Römern bisweilen nicht zur Kenntnis nehmen will. Auch wenn Plutarch den römischen Geschmack nach ‚altem Griechischen‘ bediente,43 neutralisiert dies nicht seine Kritik am Umgang mit der römischen Herrschaft: Die politische Situation der Griechen erkennt er mit pragmatischem Realismus,44 sodass seine Kritik nicht mehr auf das ‚ob‘ sondern auf das ‚wie‘ zielt. Diese Differenzierung hat weitreichende Konsequenzen für die Bewertung von Plutarchs Standpunkt gegenüber dem Verhältnis von Griechen und Römern. Da etwa seit Augustus das ‚ob‘ der römischen Herrschaft nicht mehr zur Debatte
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dem Dionysosfest in Athen und den Nemeen in Argos beizuwohnen, zur Feier der Pythien in Delphi, der Isthmien nach Korinth zu reisen, wenn man nämlich eine Freude an solchen Schaustücken hat; bei wem dies aber nicht der Fall ist, dem bleibt das Stillleben, Spazierengehen, Lesen und ein ungestörter Schlaf […].“). Vgl. Plut. de exilio 603 f: ἀλλὰ πεττεύοντας καὶ ἀποκρυπτομένους οἴκοι συκοφάνται καὶ πολυπράγμονες ἐξιχνεύοντες καὶ διώκοντες ἐκ τῶν προαστίων καὶ τῶν κήπων εἰς ἀγορὰν καὶ εἰς αὐλὴν βίᾳ κατάγουσιν, εἰς δὲ νῆσον οὐκ ἐνοχλῶν τις οὐκ αἰτῶν οὐ δανειζόμενος οὐκ ἐγγυήσασθαι παρακαλῶν οὐ συναρχαιρεσιάσαι, δι' εὔνοιαν δὲ καὶ πόθον οἱ βέλτιστοι τῶν ἀναγκαίων καὶ οἰκείων πλέουσιν, […]. („Zu Hause, wenn wir Brett spielen und allein sein wollen, spüren uns Spione aus, jagen uns aus Landsitzen und Gärten auf und treiben uns mit Gewalt auf den Markt und an den Hof. Auf eine Insel dagegen kommt Niemand, der uns belästigt oder bettelt oder Geld entlehnen will, oder um Bürgerschaften oder Wahl-Stimmen nachsucht, sondern nur die liebsten Verwandten und Freunde treibt Wohlwollen und Sehnsucht dahin.“). Plut. de exilio 602e. Ebd. Vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 2002. Plut. de exilio 602c. Plutarch widmet die Schrift Adversus Colotem L. Herennius Saturninus, dem Prokonsul von Achaia 98–99 n. Chr. Er wird mit φιλάρχαιον angeredet als Liebhaber alles Alten (1107d–e). Van der Stockt 2013, 25. Caiazza 1993, 244. Carrière/Cuvigny 1984, 54.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
stand, haben wir mit Plutarch einen der ersten griechischen Provinzialen, der sich dem ‚wie‘ zuwendet, d. h. dem Umgang mit der römischen Herrschaft von Seiten der griechischen Provinzialen. Wie auch die meisten seiner Zeit- und Standesgenossen war Plutarch selber mit hochstehenden Römern verbunden45 und der Ansicht, diese Freundschaften zu großen Staatsmännern seien dem finanziellen Gewinn einer Statthalterschaft vorzuziehen.46 Dahinter steht die Überzeugung, eine pragmatische Freundschaft zu Römern solle der Polis dienen, was wiederum der Übernahme römischer Ämter entgegen gesetzt wird. Tatsächlich sieht er den zunehmenden Trend des Abwanderns der städtischen Eliten in den cursus honorum des Imperium Romanum kritisch, da die Patris einen höheren Stellenwert habe.47 Wie bereits ausgeführt, ist es durchaus bezeichnend, dass die Praecepta keine Anleitung für eine römische Karriere enthalten, sondern für eine griechische auf Polis-Ebene.
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Plutarchs römische Bekanntschaften sind hochrangig: Q. Iunius Arulenus Rusticus (cos. 92 n. Chr., Plut. de curiositate 522d–e), L. Mestrius Florus, Sosius Senecio (Freund Trajans, dreimaliger Konsul), Minucius Fundanus (cos. 107 n. Chr.), Herennius Saturninus (Prokonsul von Achaia 98/99 n. Chr. und cos. suff. 100 n. Chr.). Vgl. Ziegler 1951, 687–694 und Puech 1992 mit einem Überblick über Plutarchs römische Freunde. Vielleicht war die Verbindung von Trajan und Plutarch tatsächlich eng, wie der den Regum et imperatorum apophtegmata vorangestellte Brief an Trajan suggeriert. Babbit 1968, 5 f. und Beck 2002 sprechen sich für die Authentizität aus, Ziegler 1951, 658. 863 f. dagegen. Vgl. Stadter 2015, 45–55 zu Plutarchs Viten und ihren römischen Lesern, hier 55: „[… H]e allows his readers to discover fundamental guidelines in the life histories of great men, and invites them to consider the implications of their stories for their own action in the contemporary world.“ Plutarch war mit seiner Patris Chaironeia zeitlebens verbunden. Auch literarisch zeigt sich die Heimatverbundenheit: Die Epameinondas-Vita war vermutlich seine erste Vita. Zudem verfasste er noch andere Schriften speziell über Böotien, vgl. Hirzl 1912, 18 f. Plut. praec. ger. reip. 814d: ἆρά γ' ἄξιον τῇ χάριτι ταύτῃ παραβαλεῖν τὰς πολυταλάντους ἐπιτροπὰς καὶ διοικήσεις τῶν ἐπαρχιῶν, ἃς διώκοντες οἱ πολλοὶ γηράσκουσι πρὸς ἀλλοτρίαις θύραις, τὰ οἴκοι προλιπόντες· („Dürfen wohl einer solchen Gunst jene einträglichen Statthaltereien und Verwaltungen in den Provinzen an die Seite gestellt werden, um welche die Mehrzahl sich so eifrig bewirbt, die ihre Heimat hintansetzt, um vor fremden Türen alt zu werden?“). Vgl. auch Plut. de tranq. animi 470c: ἄλλος δέ τις Χῖος, ἄλλος δὲ Γαλάτης ἢ Βιθυνὸς οὐκ ἀγαπῶν, εἴ τινος μερίδος ἢ δόξαν ἢ δύναμιν ἐν τοῖς ἑαυτοῦ πολίταις εἴληχεν, ἀλλὰ κλαίων ὅτι μὴ φορεῖ πατρικίους· ἐὰν δὲ καὶ φορῇ, ὅτι μηδέπω στρατηγεῖ Ῥωμαίων· ἐὰν δὲ καὶ στρατηγῇ, ὅτι μὴ ὑπατεύει· καὶ ὑπατεύων, ὅτι μὴ πρῶτος ἀλλ' ὕστερος ἀνηγορεύθη. („Aber es gibt auch andere, Chier, Galater, Bithynier, die unzufrieden mit dem Ansehen und der Macht, welche sie unter ihren Mitbürgern besitzen, sich beklagen, dass sie noch keinen patrizischen Rock tragen, und dann, wenn sie diesen tragen, dass sie noch nicht zur Prätur gelangt sind; und wenn sie Dieses erreicht, dass sie noch nicht Konsul geworden, und wenn sie Dieses geworden, dass sie nicht zuerst, sondern in der zweiten Stelle ausgerufen worden sind.“). Dass Galater und Bithynier von Plutarch als ‚echte Griechen‘ angesehen werden, ist fragwürdig; wohl eher als griechischsprachige Provinziale. In an vitiositas 489c kritisiert er die Vernachlässigung des eigenen Hauswesens zugunsten einer Beschäftigung am Kaiserhof. Mit dem ‚patrizischen Rock‘ könnten auch die Patrizierschuhe gemeint sein als Standesabzeichen. ‚An zweiter Stelle‘ vgl. Cic. pro Murena 8,18 (renuntiatio). Vgl. auch Dion Chrys. or. 34,29. Vgl. Kriekhaus 2006, der zeigt, wie die patris bei den Provinzialen tatsächlich einen höheren Stellenwert hat als bei den Italikern.
3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft
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Dabei ist es für Plutarch von größter Wichtigkeit, dass die verbliebenen städtischen Institutionen nicht ihren Wert verlieren, indem ‚Übereifrige‘ jede kleine Entscheidung vom Statthalter treffen lassen. Durch das Umgehen der eigenen Institutionen stellt sich nämlich die Frage, welche Bereiche sie überhaupt regulieren sollen, wenn die Römer diese Funktion erfüllen. Plutarch sieht die Gefahr darin, dass dieser Zustand ab einer gewissen Regelmäßigkeit zur Normalität wird und keine Chance mehr besteht, zum vorherigen Zustand zurückzukehren. Darüber hinaus sieht er, dass die Römer von sich aus überhaupt nicht in dem Maße miteinbezogen werden wollen, wie sie müssen, wenn sie offizielle Anfragen beantworten. Ποιοῦντα μέντοι καὶ παρέχοντα τοῖς κρατοῦσιν εὐπειθῆ τὴν πατρίδα δεῖ μὴ προσεκταπεινοῦν, μηδὲ τοῦ σκέλους δεδεμένου προσυποβάλλειν καὶ τὸν τράχηλον, ὥσπερ ἔνιοι, καὶ μικρὰ καὶ μείζω φέροντες ἐπὶ τοὺς ἡγεμόνας ἐξονειδίζουσι τὴν δουλείαν, μᾶλλον δ’ ὅλως τὴν πολιτείαν ἀναιροῦσι, καταπλῆγα καὶ περιδεᾶ καὶ πάντων ἄκυρον ποιοῦντες. […] οὕτως οἱ παντὶ δόγματι καὶ συνεδρίῳ καὶ χάριτι καὶ διοικήσει προσάγοντες ἡγεμονικὴν κρίσιν ἀναγκάζουσιν ἑαυτῶν μᾶλλον ἢ βούλονται δεσπότας εἶναι τοὺς ἡγουμένους. αἰτία δὲ τούτου μάλιστα πλεονεξία καὶ φιλονεικία τῶν πρώτων· ἢ γὰρ ἐν οἷς βλάπτουσι τοὺς ἐλάττονας ἐκβιάζονται φεύγειν τὴν πόλιν ἢ περὶ ὧν διαφέρονται πρὸς ἀλλήλους οὐκ ἀξιοῦντες ἐν τοῖς πολίταις ἔχειν ἔλαττον ἐπάγονται τοὺς κρείττονας· ἐκ τούτου δὲ καὶ βουλὴ καὶ δῆμος καὶ δικαστήρια καὶ ἀρχὴ πᾶσα τὴν ἐξουσίαν ἀπόλλυσι. […] νῦν δ’ ὅπως μὴ πολίταις καὶ φυλέταις οἴκοι καὶ γείτοσι καὶ συνάρχουσιν ἀνθυπείξωσι μετὰ τιμῆς καὶ χάριτος, ἐπὶ ῥητόρων θύρας καὶ πραγματικῶν χεῖρας ἐκφέρουσι σὺν πολλῇ βλάβῃ καὶ αἰσχύνῃ τὰς διαφοράς. Indem man aber sein Vaterland im Gehorsam gegen die Herrscher erhält, darf man es nicht noch mehr erniedrigen. Nicht, weil das Bein gefesselt ist, die Kette auch noch um den Hals legen, so wie Manche es tun, die Kleines und Großes an den Statthalter bringen, denn das heißt die Sklaverei verstärken, vielmehr noch die ganze Verwaltung aufgeben [f] durch ihr scheues, ängstliches und unmächtiges Verhalten. […] Wer zu jedem Dekret, jeder Beratung, Bewilligung oder Anordnung die höhere Entscheidung einholt, der nötigt die Herrscher noch unumschränktere Herren über uns zu werden als sie selbst wollen. [815a] Die Ursache davon liegt hauptsächlich in der Hab- und Ehrsucht der Ersten: Entweder bringen sie es in Fällen wo sie den Geringeren schaden dahin, dass sie die Stadt verlassen, oder sie ziehen die Herrscher in ihre Streitigkeiten hinein, weil sie nicht geringer sein wollen als ihre Mitbürger. Dies hat zur Folge, dass Rat und Volksversammlung und Gerichte und die ganze Regierung all ihr Ansehen verlieren. […] Jetzt freilich trägt man seine Streitigkeiten, um daheim nicht seinen Mitbürgern und Stammverwandten, Nachbarn und Amtsgenossen nachgeben zu müssen, was mit Ehre und Anerkennung geschehen würde, lieber mit Schaden und Schande48 zu den Türen der Redner und Anwälte.49
Wenn also aufgrund innerer Parteikämpfe die Römer immer mehr in interne Polisentscheidungen involviert werden, entwertet dies die Institutionen und die Autonomie der Polis. Generell auffällig ist hier die Wahl von peiorativen und relativen Anschlüssen (‚noch mehr erniedrigen‘, ‚den Schimpf größer machen‘, ‚unumschränktere Herren‘). Plutarch hat das Bild vom gefesselten Bein den Historien des Polybios entnommen und verwendet es ein zweites Mal in der Flamininus-Vita.50 Dort warnen die Aitoler die Achaier:
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Vgl. Dion Chrys. or. 38,38. 34,10. 40. Aristeid. or. 3,693 (griechischer Streit als Makel). Plut. praec. ger. reip. 814e–815b. Vgl. Polyb. 18,45.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘ τὸν μὲν Τίτον κελεύοντες τὰς πέδας τῆς Ἑλλάδος λύειν (οὕτω γὰρ ὁ Φίλιππος εἰώθει τὰς προειρημένας πόλεις ὀνομάζειν), τοὺς δ’ Ἕλληνας ἐρωτῶντες, εἰ κλοιὸν ἔχοντες βαρύτερον μὲν λειότερον δὲ τοῦ πάλαι τὸν νῦν χαίρουσι, καὶ θαυμάζουσι τὸν Τίτον ὡς εὐεργέτην, ὅτι τοῦ ποδὸς λύσας τὴν Ἑλλάδα τοῦ τραχήλου δέδεκεν. An Titus richteten sie die Forderung, Griechenlands Fesseln zu lösen (so pflegte Philipp die drei Städte [Korinth, Chalkis und Demetrias, Anm. FU] zu bezeichnen), die Griechen aber fragten sie, ob sie Freude hätten an ihrem Halseisen, das allerdings glatter sei als das frühere, dafür um so schwerer wiege, und ob ihre Bewunderung für den Wohltäter Titus anhalte, der Griechenland die Fesseln vom Fuße gelöst und stattdessen um den Hals gelegt habe.51
Es lässt sich also ein von Plutarch bewusst hergestellter Zusammenhang zwischen der Fremdherrschaft der Makedonen und der zeitgenössischen römischen Herrschaft beobachten. Auf zwei Ebenen muss der Politiker deshalb agieren: Einerseits soll er Homonoia innerhalb der politischen Schicht der Polis herstellen und Staseis vermeiden (815b). Andererseits soll er seine Macht nicht gegenüber der Bürgerschaft unter Ausnutzung der Römer missbrauchen (815b). Die Bürgerschaft soll aber gleichzeitig auf die Weisungen des Politikers hören, das es „[…] kein schöneres und nützlicheres Studium [gibt] als der Obrigkeit zu gehorchen, auch wenn sie mit geringerem Einfluss und Ansehen ausgerüstet sein sollte.“52 Falls doch einmal die Bürgerschaft in Aufruhr gerät, soll der Politiker der Polis „wie ein Notanker beistehen“53 und die Schuld nicht auf andere abwälzen, sondern auf sich nehmen, indem er selbst eine Gesandtschaft zum Kaiser unternimmt und dort auf Nachsicht hofft. Plutarch tritt somit für eine selbstbewusste Politik gegenüber den Römern ein und verurteilt implizit das Gebaren derjenigen, die im Dienste der Römer eine indirekte Herrschaft über die Griechen ausüben. Er führt drei Beispiele für Gelegenheiten an, in denen Politiker die Verantwortung für Vergehen ihrer Bürgerschaft hätten übernehmen sollen: Die Pergamener unter Nero, die Rhodier unter Domitian und die Thessaler unter Augustus, als sie einen gewissen Petreius lebendig verbrannten.54 […] οὐδὲ κινεῖν τὴν πόλιν ἐπισφαλῶς, σφαλλομένῃ δὲ καὶ κινδυνευούσῃ βοηθεῖν, ὥσπερ ἄγκυραν ἱερὰν ἀράμενον ἐξ αὐτοῦ τὴν παρρησίαν ἐπὶ τοῖς μεγίστοις· οἷα Περγαμηνοὺς ἐπὶ Νέρωνος κατέλαβε πράγματα, καὶ Ῥοδίους ἔναγχος ἐπὶ Δομετιανοῦ, καὶ Θεσσαλοὺς πρότερον ἐπὶ τοῦ Σεβαστοῦ Πετραῖον ζῶντα κατακαύσαντας. ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις οὐδὲ καταπτώσσοντα τὸν ἀληθῶς πολιτικὸν οὐδ’ αἰτιώμενον ἑτέρους αὑτὸν δὲ τῶν δεινῶν ἔξω τιθέμενον, ἀλλὰ καὶ πρεσβεύοντα καὶ πλέοντα καὶ λέγοντα πρῶτον οὐ μόνον ἥκομεν οἱ κτείναντες, ἀπότρεπε λοιγόν, Ἄπολλον, ἀλλά, κἂν τῆς ἁμαρτίας μὴ μετάσχῃ τοῖς πολλοῖς, τοὺς κινδύνους ὑπὲρ αὐτῶν ἀναδεχόμενον. καὶ γὰρ καλὸν τοῦτο καὶ πρὸς τῷ καλῷ πολλάκις ἑνὸς ἀνδρὸς ἀρετὴ καὶ φρόνημα θαυμασθὲν ἠμαύρωσε τὴν πρὸς πάντας ὀργὴν καὶ διεσκέδασε τὸ φοβερὸν καὶ πικρὸν τῆς ἀπειλῆς·
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Plut. Flam. 10,2. Plut. praec. ger. reip. 820 f. Diese Aussage könnte eine versteckte Kritik an den Römern sein, deren Herrschaft Plutarch zumindest in den Praecepta gerendae reipublicae äußerst kritisch gegenübersteht. Vgl. auch Aristeid. or. 26,64, wo die Rom-orientierten griechischen Notabeln im Dienste der Römer ihre Mitbürger überwachen. Vgl. Pabst 2014a, 406 Anm. 42. Plut. praec. ger. reip. 815d. Plut. praec. ger. reip. 815d.
3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft
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[…] Den Staat darf man nicht in gefährliche Aufregung versetzen, aber wenn er schwankt und in Gefahr kommt [d] so muss er (der Politiker, Anm. FU) ihm zu Hilfe eilen und seine freimütige Rede (Parrhesia, Anm. FU) wie ein heiliger Anker einsetzen. In eine solche Lage gerieten die Pergamener unter Nero, die Rhodier jüngst unter Domitian, früher die Thessaler unter Augustus, als sie den Petreios lebendig verbrannt hatten. Da wird man den wahren Staatsmann nicht schlummern sehen und nicht beben, er wird die Schuld nicht auf Andere wälzen, um sich selbst außer Gefahr zu setzen, sondern er übernimmt die Gesandtschaft (an den Kaiser), schifft sich ein und gesteht dann nicht blos: Siehe da sind wir, die Mörder; erbarme dich unser, Apollon!55 [e] Sondern er nimmt, wenn er auch an dem Vergehen der Menge keinen Anteil hat, doch die Gefahr für dasselbe auf sich. Das ist edel, und zu der edlen Tat hat oft schon die Tugend und Besonnenheit eines einzigen Mannes durch die sie erregende Bewunderung den Zorn des Machthabers gegen das ganze Volk besänftigt und die furchtbarsten und bittersten Folgen abgewendet.56
Bowersock hat den sonst unbekannten Petreius identifiziert und den Fall rekonstruiert.57 Plutarch hatte einen L. Cassius Petreius aus Hypata in Thessalien zum Freund, der mit ihm Delphi in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. wieder aufbaute.58 Ein Vorfahre dieses Petreius gehörte der caesarianischen Partei an.59 Der augusteische Petreius ist vermutlich der eponyme Strategos zweier Sklavenfreilassungslisten, der von Augustus eingesetzt wurde.60 Augustus selbst war nun Vorsitzender in einem Prozess gegen die Thessaler wegen der Verbrennung des Petreius,61 die eine Folge von inneren Parteiaufständen in Thessalien war. Augustus hatte dem thessalischen Bund, dessen Bundesleiter er 27/6 v. Chr. honoris causa war,62 ursprünglich das Recht einer civitas libera verliehen, welches ihm vermutlich nach dem Petreius-Prozess entzogen wurde, da bei Plinius nichts mehr von diesem Status erwähnt ist.63 Somit ist Petreius ein Beispiel dafür, dass Streit innerhalb einer Polis zu einer aus Sicht der Polis nicht wünschenswerten Intervention der Römer führt. In Pergamon war man nach dem Rombrand 64 n. Chr. unter dem Prokonsulat des Q. Marcius Barea Soranus gegen Acratus,64 einen Freigelassenen Neros, 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Hom. Il. 4,223. Plut. praec. ger. reip. 815d–e. Bowersock 1996b, 50–52. SIG3 825 A. Plut. de pyth. orac. 409c. Vgl. Robert 1940, 122 Anm. 2. Er erhielt von Caesars Legat L. Cassius Longinus das römische Bürgerrecht, wurde aber 43 v. Chr. von Antonius hingerichtet. Caes. Bell. Civ. 3,35. Cic. Phil. 13,33. Vgl. Münzer 1937, 1181. IG IX 2,1042, Z. 21 f. und JHS 33 (1943), 323, Z. 3–5. Suet. Tib. 8. Jones 1940, 324 Anm. 63. IG IX 2,415b. Ἀρχ. Ἐφημ. 1917, 149. Bowersock 1996b, 51. 52: „Wenn man alle Einzelheiten zusammennimmt, kommt man zum wahrscheinlichsten Ergebnis, nämlich daß diese Zurückziehung und die Zwistigkeiten, die zum Tode des Petreius führten, zusammenhängen.“ Neben Acratus wurde auch Secundus Caprinas (oder Carrinas), letzterer nach Tacitus sogar in griechischer Bildung bewandert, nach Achaia und Asia geschickt um Geld für Nero aufzutreiben (Tac. Ann. 15,45: enimvero per Asiam atque Achaiam non dona tantum sed simulacra numinum abripiebantur, missis in eas provincias Acrato ac Secundo Carrinate. ille libertus cuicumque flagitio promptus, hic Graeca doctrina ore tenus exercitus animum bonis artibus non
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
gewalttätig geworden als dieser in der Stadt Kunstschätze für den Wiederaufbau Roms beschaffen sollte.65 Dem Barea Soranus, der die nicht näher bestimmte Gewalttätigkeit ungestraft ließ, wurde 66 n. Chr. unter dem Vorwand eines geplanten Aufstandes der Provinz Asia von Nero der Prozess gemacht.66 Dass die (wenn auch fingierte) Anschuldigung der Planung eines Aufstandes in Asia als denkbarer Grund herhalten musste, ist bezeichnend für die römische Einschätzung des Konflikt- und Widerstandspotenzials bei den Griechen. Über die Rhodier ist aus Cassius Dio nur bekannt, dass sie zur Zeit des Kaisers Claudius römische Bürger gepfählt hatten,67 sodass sich Plutarch mit der Datierung unter Domitian entweder geirrt hat oder wir von dem jüngeren Ereignis anderweitig keine Kenntnis haben. Plutarchs drei Beispiele und die weiteren in Kap. 6.3 zusammengestellten zeigen deutlich, dass das Verhältnis zwischen Griechen und Römern keinesfalls frei von Spannungen war und wir diese als Thema innergriechischer Debatten ernst nehmen müssen. In allen drei von Plutarch angeführten Fällen haben wir es vermutlich mit Verfehlungen der Bürgerschaft gegen die Römer zu tun, nicht der Honoratioren. Plutarchs Punkt ist genau der, auf den wesentlichen Einfluss der Honoratioren auf die Bürgerschaft hinzuweisen, damit deren Gewaltpotenzial nicht zur Entfaltung kommt und die Römer intervenieren müssen – dann auch zum Nachteil der Honoratioren, die ihre Mitbürger nicht unter Kontrolle bringen konnten. Diese haben jedoch dadurch einen großen Anteil an den Interventionen der Römer, dass sie bei zweifelhaften Rechtsfällen und aus Opportunismus viel zu oft die Römer einschalteten.68 In Kleinasien und der Provinz Achaia bildeten die Honoratioren ein ständisches Kollegium mit Dauermitgliedschaft als Stadtregierung. Hier versammelten sich die liturgiepflichtigen, reichen Bürger, die sich mehr an den Römern als an ihren är-
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induerat.). Dion Chrys. or. 31,149 zu den Rhodiern: ἴστε γὰρ Ἄκρατον ἐκεῖνον, ὃς τὴν οἰκουμένην σχεδὸν ἅπασαν περιελθὼν τούτου χάριν καὶ μηδὲ κώμην παρεὶς μηδεμίαν, ὡς κἀνθάδε ἧκε. λυπουμένων δ' ὑμῶν, ὅπερ εἰκός, κατὰ θέαν ἔφη παρεῖναι· („Ihr kennt ja wohl noch den gefürchteten Akratos, der in Neros Auftrag beinah die ganze bewohnte Erde durchzog und kein Dorf ausließ. So kam er auch zu euch. Als ihr ganz natürlich in Sorge darüber wart, sagte er, er sei nur zum Sehen gekommen und dürfe hier nichts antasten.“). Vgl. Suet. Nero 38: conlationibusque non receptis modo verum et efflagitatis provincias privatorumque census prope exhausit. („Nicht zufrieden mit freiwilligen Spenden, forderte er sogar solche, wodurch Provinzen und Private fast ruiniert wurden.“). Vgl. auch in gleicher Weise Cass. Dio 62,18,5. Vgl. Tac. Ann. 16,23. Vgl. Cass. Dio 60,24,4, nach Pekary 1987, 139 44 n. Chr. Vgl. Hertzberg 1868, 181: „Die Römer hatten aber guten Grund, mit diesem Manne Freundschaft zu pflegen. Plutarch imponirte ihnen nicht bloß als Philosoph und Gelehrter, er nahm auch eine politische Stellung ein, wie sie den Römern nur zusagen konnte. Bei seinem lebendigen Interesse für das Wohl seines Volkes hat Plutarch sich nicht damit begnügt, in verschiedenen Broschürem eine Reihe schlimmer sittlicher und sozialer Mißstände in dem Leben seiner griechischen Zeitgenossen zu bekämpfen; er hat sich auch wiederholt bemüht, seine Landsleute zu verständiger Würdigung der Zeitverhältnisse zu bestimmen, und ihnen die Wege vorzuzeichnen, auf denen sie – unter der römischen Herrschaft – noch immer eine sehr ehrenwerte Unabhänigkeit bewahren konnten.“
3.2 Umgang mit der römischen Herrschaft
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meren Polis-Mitbürgern orientierten. Deswegen verlaufen die Konfliktlinien auch nicht stereotyp zwischen Griechen und Römern, sondern haben auch soziale und ökonomische Grenzverläufe: Zwischen römischen Bürgern und ‚Polisbürgern‘, zwischen Armen und Reichen.69 Durch seine Untersuchung der Honoratiorenschicht der Poleis des griechischen Ostens unterstützt Quaß diesen Befund.70 Die römischen Eingriffe dienten der Behebung von Missständen wobei die Initiative oft von den Städten selber ausging. Die Eingriffe führten offensichtlich aber zu einem „fortschreitenden Macht- und Autoritätsverlust“ der städtischen Institutionen. Dadurch ging die städtische Verwaltungsautonomie sukzessive zugunsten der römischen Städteverwaltung verloren. Die Eingriffe der Römer in die Poleis finden ausgehend von zwei Ebenen statt, vom Statthalter und vom Kaiser. Der Kaiser entsandte λογισταί (Logisten) bzw. curatores reipublicae zur Ordnung städtischer Finanzen,71 stiftete öffentliche Bauten oder spendete Nahrungsmittel bei akuten Versorgungsproblemen, verpflichtete Personen zu oder dispensierte sie von Liturgien. Die Statthalter konnten direkt in den städtischen Willensbildungsprozess eingreifen oder eingeschaltet werden, wozu Eirenarchen ernannt wurden.72 Vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer und bürgerrechtlicher Konfliktlinien werden Plutarchs Ratschläge aus den Praecepta gerendae reipublicae erst adäquat deutbar: Der Polispolitiker muss einen Spagat finden zwischen den Ansprüchen der Römer (Statthalter und Kaiser), den städtischen Honoratioren und den Polisbürgern. Das schwächste Glied in der Kette sind die Polisbürger, die vor allem ruhig gehalten werden müssen, etwa mit einer besonnenen Erinnerungskultur. Unter den städtischen Honoratioren ist Eintracht zu stiften, damit die Poleis ihre Autonomie bewahren können. Zudem sollen sie im Krisenfall solidarisch mit der Bürgerschaft sein oder selbst Verantwortung übernehmen. Interventionen der Römer sind zu vermeiden während man sie sich gleichzeitig zu Freunden machen soll, um das Schlimmste zu verhindern. Dabei wurden gerade die Statthalter keineswegs als Vertreter des Rechts, sondern als ‚gewalttätig‘ und das Recht ignorierend und willkürlich gezeichnet.73
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Marx/Engels 1845–1846, 126 über die Verachtung, die griechischen Philosophen von ‚römischen Kapitalisten‘ entgegenschlug. Swain 1996, 315. Jones 1986, 78–89. Dubuisson 1984– 1986. Hall 1981, 221–251. Baldwin 1973, 114. Palm 1959, 44 ff. wollen nicht erkennen, dass sich Lukian einem ‚marxistischen Ansatz‘ hingibt und Klassenunterschiede sowie ökonomische Differenzen thematisiert. Vgl. aber Lukian. merc. cond., Nigr. und die ep. Sat.! Vgl. Quaß 1993, 423. Vgl. Eck 1979, 198–230 zu den Aufgaben der italischen curatores reipublicae, sowie den epigraphischen und juristischen Quellen (etwa Dig. 50,8,2,4 u. ö. ebd.). Vgl. außerdem Burton 1979, 479 f. Vgl. Dig. 50,4,18,7: irenarchae quoque, qui disciplinae publicae et corrigendis moribus proficiuntur und die Literatur bei Meyer-Zwiffelhoffer 2002, 121 Anm. 18. Vgl. Plut. praec. ger. reip. 805b. 824c–e. de exilio 604b.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
3.3 GRIECHISCHER FREIHEITSKAMPF Wie sich der Umgang mit der griechischen Vergangenheit angesichts der römischen Herrschaft gestalten sollte, spielt Plutarch in den Praecepta gerendae reipublicae am Beispiel Athens durch. Τὰ μὲν γὰρ μικρὰ παιδία τῶν πατέρων ὁρῶντες ἐπιχειροῦντα τὰς κρηπῖδας ὑποδεῖσθαι καὶ τοὺς στεφάνους περιτίθεσθαι μετὰ παιδιᾶς γελῶμεν, οἱ δ’ ἄρχοντες ἐν ταῖς πόλεσιν ἀνοήτως τὰ τῶν προγόνων ἔργα καὶ φρονήματα καὶ πράξεις ἀσυμμέτρους τοῖς παροῦσι καιροῖς καὶ πράγμασιν οὔσας μιμεῖσθαι κελεύοντες ἐξαίρουσι τὰ πλήθη, γέλωτά τε ποιοῦντες οὐκέτι γέλωτος ἄξια πάσχουσιν, ἂν μὴ πάνυ καταφρονηθῶσι. πολλὰ γὰρ ἔστιν ἄλλα τῶν πρότερον [b] Ἑλλήνων διεξιόντα τοῖς νῦν ἠθοποιεῖν καὶ σωφρονίζειν, ὡς Ἀθήνησιν ὑπομιμνήσκοντα μὴ τῶν πολεμικῶν, ἀλλ’ οἷόν ἐστι τὸ ψήφισμα τὸ τῆς ἀμνηστίας ἐπὶ τοῖς τριάκοντα· καὶ τὸ ζημιῶσαι Φρύνιχον τραγῳδίᾳ διδάξαντα τὴν Μιλήτου ἅλωσιν· καὶ ὅτι, Θήβας Κασάνδρου κτίζοντος, ἐστεφανηφόρησαν· τὸν δ’ ἐν Ἄργει πυθόμενοι σκυταλισμόν, ἐν ᾧ πεντακοσίους καὶ χιλίους ἀνῃρήκεσαν ἐξ αὑτῶν οἱ Ἀργεῖοι, περιενεγκεῖν καθάρσιον περὶ τὴν ἐκκλησίαν ἐκέλευσαν· ἐν δὲ τοῖς Ἁρπαλείοις τὰς οἰκίας ἐρευνῶντες μόνην τὴν τοῦ γεγαμηκότος νεωστὶ παρῆλθον. ταῦτα γὰρ καὶ νῦν ἔξεστι ζηλοῦντας ἐξομοιοῦσθαι τοῖς προγόνοις· [c] τὸν δὲ Μαραθῶνα καὶ τὸν Εὐρυμέδοντα καὶ τὰς Πλαταιάς, καὶ ὅσα τῶν παραδειγμάτων οἰδεῖν ποιεῖ καὶ φρυάττεσθαι διακενῆς τοὺς πολλούς, ἀπολιπόντας ἐν ταῖς σχολαῖς τῶν σοφιστῶν. Wenn kleine Kinder im Spiel die Stiefel ihrer Väter anziehen und ihre Kränze aufsetzen, so lachen wir. Wenn aber die Archonten in den Städten unverständig genug sind, ihre Mitbürger aufzufordern, die Werke, Gesinnungen und Taten ihrer Vorfahren nachzuahmen, die jedoch unangemessen für die jetzigen Zeiten und Umstände sind, und dadurch die Massen anstacheln, so tun sie zwar etwas Lächerliches, aber sie erleiden dafür gar nichts Lächerliches, wenn sie nicht gänzlich verachtet werden. Es gibt ja noch viele andere Handlungen der alten [b] Hellenen, die man den jetzigen darbringen kann um sie charakterlich zu bilden und besonnen zu machen: die Athener [beispielsweise] braucht man nicht an Kriegerisches zu erinnern, sondern man kann sie an den Amnestiebeschluss (nach Vertreibung, Anm. FU) der 30 Tyrannen erinnern; auch an die Bestrafung des Phrynichos wegen der Tragödie über die Zerstörung von Milet; auch daran, dass sie sich bekränzten als Kassander Theben erneut gründete; dass sie auf die Nachricht von dem Massaker in Argos, bei der die Argiver 1500 ihrer Mitbürger ermordet hatten, ein Reinigungsopfer um die Volksversammlung herumtragen ließen; dass sie während der HarpalosAffäre, als sie die Häuser durchsuchten, allein das eines Neuverheirateten übergingen. Diese (Taten, Anm. FU) den Vorfahren eifrig nachzuahmen, ist heute noch erlaubt. [c] Aber Marathon, den Eurymedon, Plataiai und die übrigen Beispiele, die die Menge zwecklos anschwellen lassen und stolz machen, sollen in den Schulen der Sophisten bleiben.74
Die Erwähnung der siegreichen Perserkriegsschlachten von Marathon, Plataiai und Eurymedon durch die Archonten mache die Bevölkerung Athens (τὰ πλήθη, τοὺς πολλούς) stolz und wild.75 Diese historischen Exempla (ἔργα, φρονήματα und πράξεις der προγόνοι) seien aber nicht mehr angemessen (ἀσυμμέτρους).76 In Analogie zu Kindern, die sich der zu großen Kleidung ihrer Eltern bedienen, seien die kontrapräsentischen Vergangenheitsbezüge an Kriegerisches zwar auch
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Plut. praec. ger. reip. 814a–c. Vgl. Aristeid. or. 1,110, wonach allein die Erwähnung von ‚Marathon‘ nicht nur die Seele hebe, man das Wort begrüße, sondern es auch mit Freude ehre, wie nichts sonst! Vgl. hingegen Diod. 11,11,2, der die rhetorische Frage stellt, wer von den Spätgeborenen nicht der Tapferkeit der Thermopylenkämpfer nacheifern wolle.
3.3 Griechischer Freiheitskampf
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lächerlich,77 deren Folgen jedoch nicht. Ihre Erwähnung führe letztlich zu Unruhen gegenüber den Römern,78 weil sie an einen wichtigen Faktor griechischer Identität rühren: dem Freiheitskampf. Deswegen fordert Plutarch die Politiker Athens auf, den Freiheitskampf nicht mehr gegenüber der Menge im politischen Raum zu erwähnen. Das ist bemerkenswert angesichts der ebenfalls überwiegend klassischen Themen der sophistischen Reden in der Zeit der Zweiten Sophistik,79 da damit der Stoff evoziert wird, den Plutarch von der Menge fernhalten will. Nicht ganz außer Acht zu lassen ist hierbei auch Plutarchs generelle Ablehnung der Sophisten.80 Doch der eigentliche Grund scheint vielmehr darin zu liegen, dass der Raum, in dem spezifische historische Inhalte geäußert werden, als nicht adäquat angesehen wird. Der Stolz auf die griechische Vergangenheit sei nach Plutarch in den Sophistenschulen besser aufgehoben. In diesem unpolitischen Raum81 machen die Vergangenheitsbezüge für ihn offensichtlich keine Probleme, sondern nur, wenn sie in politischem Kontext und von politischen Funktionsträgern eingesetzt werden.82 Das zeigt Plutarchs Bewusstsein darüber, dass die Kommunikationssituation 77 78
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Vgl. zur Kinder-Metapher allerdings mit anderer Intention Dion Chrys. or. 32,72 (die Alexandriner als Kinder) und 46,14 (die Griechen als Kinder und die Prokonsuln von Asia, respektive Römer, als Eltern). So auch Gabba 1991b, 251: „Hier weist Plutarch den nach politischer Betätigung strebenden jungen Griechen in vernünftige Schranken: er soll sich ausschließlich der Verwaltung der eigenen Stadt widmen und dort für Eintracht zwischen den Klassen sorgen; er soll alle Vorstellungen von der vergangenen Größe ablegen und sich ganz bewusst sein, dass eine höhere politische Autorität eine verstärkte Kontrolle über die griechischen Städte ausübt und dass es, da es dumm wäre, sie zu provozieren, zugleich gut ist, nicht ihre Interventionen herbeizuführen.“ Gabba weist darauf hin, dass Plutarch mit seiner Betonung größtmöglicher Autonomie der Poleis noch nicht an eine Direktbeteiligung der jungen Politiker in der Reichsverwaltung denkt. Seine ablehnende Haltung gegenüber einer Karriere im Imperium Romanum ist dafür jedoch der Grund, vgl. Anm. 47 (Kap. 3.2). Seit Claudius 48 n. Chr. Gallier in den Senat aufnahm, stand auch den östlichen Provinzialen eine ‚Reichskarriere‘ offen (CIL XIII 1668 = ILS 212); s. o. Anm. 63 (Kap. 1.2). Vgl. auch Cass. Dio 60,17,3–6. Philostratus’ Vitae Sophistarum geben Zeugnis von den historischen Themen der sophistischen Reden, die sich größtenteils auf die klassische Zeit und damit kontextuell auf den Freiheitskampf der Griechen beziehen. Vgl. Bowie 2004, 82 f. Bowie 1970. Jeuckens 1907, 53 diskutiert das Material und kommt zum Schluss, dass Plutarch alles Sophistische ablehnt. Vgl. auch Mestre 1999, 383–388. Dass die Sophistenschulen für Plutarch unpolitisch sind, wird aus einer Anekdote über Iphikrates deutlich. Vgl. Plut. praec. ger. reip. 812e, wo Iphikrates zuhause Reden übt, ihm allerdings geraten wird, er solle Waffen anlegen und die Schulen den Sophisten überlassen. Damit haben wir eine Gegenüberstellung des politisch-militärischen und unpolitisch-rhetorischen Raumes. Ähnlich schon Cic. Brut. 37: Demetrius von Phaleron unterhielt die Athener mehr, als dass er sie entflammte. Er wird negativ abgesetzt gegen Hypereides, Aischines und Lykurg. Er sei weniger in den Waffen ausgebildet als in der Palaistra. Er kam nicht aus dem Feldherrenzelt, sondern aus der schattigen Studierstube des Theophrast. Dass Vergangenheitsbezüge in politischen Reden benutzt werden sollen, entwickelt Plut. in praec. ger. reip. capp. 7–9, vgl. insbesondere 803a: δέχεται δ' ὁ πολιτικὸς λόγος δικανικοῦ μᾶλλον καὶ γνωμολογίας καὶ ἱστορίας καὶ μύθους καὶ μεταφοράς, αἷς μάλιστα κινοῦσιν οἱ χρώμενοι μετρίως καὶ κατὰ καιρόν· („Die politische Beredsamkeit lässt noch mehr als die gerichtliche Sprüche, Geschichten, Mythen und Metaphern zu, welche um so mehr Wirkung entfalten je sparsamer und passender man sie verwendet.“). Vgl. Quint. 3,8,65 f.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
über den Inhalt von Reden und Texten mitbestimmt, mithin auch, dass er je nach Adressat seiner Schriften andere Akzente setzte.83 Offensichtlich kam es bisweilen vor, dass ein rhetorisch gebildeter Archont in einer öffentlichen Rede die Sphären (bewusst oder unbewusst) verwechselte und Stoff aus der Rhetorikausbildung verwendete. Die kontextsensitive Verwendung von Vergangenheitsbezügen stellt sich somit als Plutarchs Hauptgedanke einer alternativen Erinnerungskultur dar. Um die Menge charakterlich zu bilden und bei ihr Besonnenheit zu erzeugen (ἠθοποιεῖν καὶ σωφρονίζειν)84 entwirft Plutarch eine Alternative zu einer ordnungsgefährdenden Erinnerungskultur, die den griechischen Freiheitskampf im öffentlich-politischen Raum betont. Das heißt aber auch, dass die Perserkriege von Plutarch in anderen Kontexten durchaus gewürdigt werden.85 Im Vergleich der 83 84
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Vgl. van der Stockt 2013, 46–49 über Widmungen, Adressaten und Leserschaft mit den Diskussionsbeiträgen von Gärtner, Whitmarsh, Heller. Plutarchs Haltung gegenüber der Menge ist generell negativ, vgl. Saïd 2005, 7–25. Die Menge ist sowohl eigensinnig und gewaltbereit (801e: αὔθαδες καὶ βίαιον) als auch wie ein zweifelhaftes und wechselhaftes Tier (800c). Vgl. Saïd 2005, 18–24 mit Parallelstellen aus Plutarchs anderen Werken. Deswegen muss ihr Charakter erst umgebildet werden, vgl. 800a: Τὸ μὲν οὖν τῶν πολιτῶν ἦθος ἰσχύοντα δεῖ καὶ πιστευόμενον ἤδη πειρᾶσθαι ῥυθμίζειν ἀτρέμα πρὸς τὸ βέλτιον ὑπάγοντα καὶ πράως μεταχειριζόμενον· ἐργώδης γὰρ ἡ μετάθεσις τῶν πολλῶν. („Den Charakter des Volkes zu bilden darf man also erst unternehmen, wenn man bereits gehöriges Ansehen und Vertrauen besitzt, indem man ihn allmählich zum Besseren hinleitet und auf gelinde Weise ihn umzustimmen sucht, denn die Umbildung der Masse ist eine schwierige Aufgabe.“). Diese Umbildung hält Plutarch also für möglich. Im Übrigen ist es auch Dions Ziel, mit Vergangenheitsbezügen den Charakter seiner Mitbürger zu bessern und ihnen ein hellenisches Ethos zu geben. Dion Chrys. or. 43,3: μάλιστα μὲν οὖν ὑμᾶς βούλομαι τὸ ἦθος Ἑλληνικὸν ἔχειν καὶ μήτε ἀχαρίστους μήτε ἀξυνέτους · εἰ δὲ μή, λόγων γε τοιούτων ἀκούειν οὐ χεῖρόν ἐστιν, ἐξ ὧν μοι δοκεῖτε καὶ τοῖς ἤθεσιν ἀμείνους ἂν γενέσθαι. („Ich möchte eben am liebsten, dass ihr eurem Wesen nach Griechen seid, nicht undankbar und nicht unverständig. Sollte das aber zuviel verlangt sein, ist es auch kein Schaden, auf solche Worte zu hören, die wie ich glaube, euren Charakter bessern können.“). Die Bezüge gehen dann auf Epameinondas (43,4 f.) und Sokrates (43,9–12). Vgl. auch zum Nachahmen des Vorbildlichen: Dion Chrys. or. 31,128 (Bestrafung des Leptines wegen Einbringung eines schlechten Gesetzes). Fehler vermeiden: 31,116 (öffentliche Ehrung für deren unwürdige Gestalten). Auch die sophistischen Reden ‚funktionieren‘ nur, wenn das Auditorium die Vergangenheitsbezüge der Redner ‚versteht‘. Schmitz 1999, 81–86 hat untersucht, wie eine Rede gelingen oder fehlschlagen kann und kommt zu dem Ergebnis, dass eine gelingende Rede die emotionalen Bande zwischen dem Redner und seiner Zuhörerschaft bemüht, indem er beispielsweise das Griechentum des Auditoriums hervorhebt, vgl. Aristeid. or. 24,23 und Dion Chrys. or. 31. Offensichtlich waren die öffentlich gemachten Vergangenheitsbezüge zu den Perserkriegen noch zu Lukians Zeiten üblich, wie aus Lukian. Rh. Pr. 18 hervorgeht: κἂν περὶ ὑβριστοῦ τινος ἢ μοιχοῦ λέγῃς Ἀθήνησι, τὰ ἐν Ἰνδοῖς καὶ Ἐκβατάνοις λεγέσθω. ἐπὶ πᾶσι δὲ ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος, ὧν οὐκ ἄν τι ἄνευ γένοιτο. καὶ ἀεὶ ὁ Ἄθως πλείσθω καὶ ὁ Ἑλλήσποντος πεζευέσθω καὶ ὁ ἥλιος ὑπὸ τῶν Μηδικῶν βελῶν σκεπέσθω καὶ Ξέρξης φευγέτω καὶ Λεωνίδας θαυμαζέσθω καὶ τὰ Ὀθρυάδου γράμματα ἀναγιγνωσκέσθω, καὶ ἡ Σαλαμὶς καὶ τὸ Ἀρτεμίσιον καὶ αἱ Πλαταιαὶ πολλὰ ταῦτα καὶ πυκνά. καὶ ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα ἐπιπολαζέτω καὶ ἐπανθείτω, καὶ συνεχὲς τὸ ἄττα καὶ τὸ δήπουθεν, κἂν μηδὲν αὐτῶν δέῃ· καλὰ γάρ ἐστι καὶ εἰκῆ λεγόμενα. („Wenn du beispielsweise über einen Frevler oder Ehebrecher in Athen sprichst, erwähne die Vorfälle in Indien und Ekbatana. Füge zu jedem Thema Marathon und Kynegeiros hinzu, ohne die überhaupt nichts geht. Auch soll jedes Mal der Athos durchsegelt, der Hellespont zu Fuß überschritten werden, die Sonne sich wegen der Medergeschosse verfinstern, Xerxes fliehen
3.3 Griechischer Freiheitskampf
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Viten des Aristides und Catos spricht er von Marathon, Salamis und Plataiai als den τὰ κάλλιστα καὶ λαμπρότατα καὶ πρῶτα τῶν Ἑλληνικῶν ἔργων (die schönsten, leuchtendsten und besten Taten der Hellenen).86 Die Athener hätten mit Salamis, Mykale und Plataiai die Freiheit Griechenlands hergestellt und der ganzen Menschheit übergeben.87 In der Flamininus-Vita figurieren die Siege bei Marathon, Salamis, Plataiai, an den Thermopylen, am Eurymedon und Kimons Taten vor Cypern – kurz: Die Perserkriege – als leuchtende positive Ausnahmen im Gegensatz zu den negativ konnotierten Kriegen unter den Griechen.88 Letztere hätten immer nur dazu gedient, sich selbst zu versklaven und die Tropaia seien keine Sieges-, sondern Unglückszeichen. Die Perserkriege sind im restlichen Werk Plutarchs also durchweg positiv konnotiert und mit dem griechischen Freiheitskampf verbunden. Als ἔργα sollen sie gemäß den Praecepta gerendae reipublicae aber nicht mehr nachahmbar sein, sondern nur noch als rhetorische παραδείγματα in den Sophistenschulen Verwendung finden. Ein athenischer Archont, vielleicht ein Tiberius Claudius Novius,89 teilte dieses Bewusstsein offenbar nicht und präsentierte den Stoff aus den Sophistenschulen in einer öffentlichen Rede vor der Menge als nachahmbare ἔργα. Wie Jung bereits festgestellt hatte, diente die Perserkriegserinnerung Anfang der 60er-Jahre den Römern zur propagandistischen Vorbereitung eines neuen Partherfeldzuges.90 Diese Propaganda mag ein Novius in Erfüllung einer römischen Perspektive vorgetragen haben. An welchen athenischen Politiker Plutarch gedacht hat, lässt sich nicht mehr eruieren. Was ein Novius wohl auf Anraten philhellenischer Römer hervorhob, hatte auf die griechische Menge eine andere Wirkung, weswegen Plutarch mit seinem Essay in seiner Zeit hier vermutlich regulierend eingegriffen hat. Auch wenn Spawforth hervorhebt, dass die Römer die historischen Perser mit den zeitgenössischen Parthern gleichgesetzt haben,91 ist dies lediglich die römische Perspektive, die das griechische Publikum Plutarchs jedoch nicht teilte. Insofern diente die römische Perser-Parther-Gleichsetzung im Osten nicht wie im Westen herrschaftsideologischen Zwecken, sondern wirkte eher eskalierend. Somit kann auch festgehalten werden, dass Novius’ Rom-Orientierung mit den Vorstellungen seiner griechischen Mitwelt konfligierte.
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und Leonidas bewundert werden, die Inschrift von Othryadas vorgelesen werden, und auf Salamis, Artemision, Plataiai musst du oft und in dichter Abfolge anspielen. Und auf allem sollen jene paar attische Wörter wie Blüten schwimmen, immer wieder ein ἄττα und ein δήπυοθεν, auch wenn es gar nichts davon braucht; sie sind nämlich auch aufs Geratewohl gesprochen schön.“). Vgl. dazu detaillierter ad Anm. 88 (Kap. 4.1.4). Plut. comp. Arist. et Cato. maj. 5,1. Plut. de glor. Ath. 350b. Plut. Flam. 11,6. Zu Novius und seiner Karriere vgl. Kap. 4.1.3 und Kap. 6.3. Jung 2006, 363 und s. o. Anm. 208 (Kap. 2.4). Spawforth 1994, 233–247.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
3.4 ALTERNATIVE ERINNERUNGSKULTUR Was aber ist Plutarchs alternative Erinnerungskultur und welche Funktion hat sie? Die fünf Alternativen in den Praecepta gerendae reipublicae 814a-c zielen auf die Erinnerung nichtkriegerischer politischer Handlungsweisen (μὴ τῶν πολεμικῶν), welcher sich die Griechen nach Kriegen und Krisen mit ehemaligen Feinden bedienten. Es wird jeweils der rechte Umgang mit auswärtigen Feinden betont.92 Ihre Nachahmbarkeit wird ausdrücklich hervorgehoben, während die Erinnerung an kriegerische Großtaten nicht mehr angemessen ist vor dem Hintergrund der Gegenwartsanalyse, die durchweg mit der Depravation im Vergleich zur Vergangenheit operiert.93 Der Forschung haben die fünf Beispiele Probleme bereitet, insofern sie vermeintlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wären, obwohl Plutarch klar sagt, dass an Nicht-Kriegerisches erinnert werden soll. Cook diskutiert die Beispiele vor dem Hintergrund griechischer Politik in der Kaiserzeit und sieht Selbstkontrolle und Bescheidenheit des griechischen Politikers als die verbindenden Glieder an.94 Die Beispiele seien zwar sorgsam gewählt, unterdessen aber wenig bekannt gewesen.95 Während Cook dafür plädiert, Parallelen in Plutarchs eigenem Werk für die Analyse der Beispiele heranzuziehen, erscheint es sinnvoller, in der zeitgenössischen Publizistik der Hohen Kaiserzeit nach deren Verwendung zu suchen, weil die exempla bekannt gewesen sein müssen, da die Menge als Adressat in der von Plutarch hier fingierten Redesituation sie sonst nicht hätte verstehen können. Es ist das eine, was Plutarch ausdrücken wollte, das andere, wie der Verständnishorizont des Adressaten von Vergangenheitsbezügen beschaffen war und wie er somit mitentscheidet, was gesagt werden kann. Tatsächlich beschäftigen sich alle Beispiele mit unterschiedlichen Aspekten des besonnenen Umgangs mit Krieg, Krise, Sieg oder Niederlage, die von äußeren Mächten herbeigeführt werden (oligarchischer Staat, Perser, Makedonen, argivische Bürgerkriegspartei und Alexander). Ich möchte sie vor dem Hintergrund der Beziehung zwischen Griechen und Römern in der Kaiserzeit verstanden wissen, da die Römer als jetzige äußere Macht offensichtlich der implizite Bezugspunkt sind. Die Nachahmbarkeit von Verhaltensweisen gegenüber ehemaligen Feinden würde sonst ins Leere laufen. Die Amnestie bzw. die Herrschaft der Dreißig und die Bestrafung des Phrynichos stehen für die Unterdrückung ‚schlimmer Erinnerung‘ (im Vergleichsfall heißt das also: die Eroberung Griechenlands), Theben und Argos für Mitleid mit ehemaligen Feinden und Harpalos für die Aufrechterhaltung 92 93 94 95
Vgl. Ursin 2014b, 294. S. o. Kap. 3.1 und Plut. praec. ger. reip. 824c–e. Vgl. hingegen Paus. 8,52,3, dass Kimon viel Nachahmenswertes für die Griechen getan hat (Κίμωνι δὶ πολλὰ καὶ ἄξια ζήλου κατειργασμένα ἐστὶν ὑπὲρ τῶν Ἑλλήνων). Cook 2004, 201. Ebd.: „[they] are not so great or famous – one might call them obscure.“ Er nahm weiterhin an, dass sie Plutarch „[…] in explicit opposition to the standard, famous, well-known episodes from the glory days of Hellas […]“ gewählt hätte. Prandi 2000, 96 sieht die Beispiele unter dem Leitmotiv „riconciliazione o la condanna di una contesa civile“.
3.4 Alternative Erinnerungskultur
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der eigenen Werte gegenüber einer Fremdherrschaft. Die Beispiele bilden insofern eine Klimax, als mit dem letzten Glied die Grenzen einer versöhnungsorientierten Politik thematisiert werden. Insofern möchte Plutarch eher das Selbstbewusstsein der Griechen gegenüber den Römern stärken. Das erste Beispiel ist die Amnestie nach der Herrschaft der Dreißig 403/2 v. Chr.,96 die Plutarch offensichtlich als ein ‚Vergessen‘ verstand.97 Das ‚Nicht-Erinnern‘ (μὴ μνησικακεῖν) ‚schlimmer Vergangenheit‘ war bei den Griechen schon lange eine gängige Praxis nach Kriegen und Bürgerkriegen gewesen.98 Plutarch möchte also eine Erinnerungskultur des Vergessens ‚schlimmer Vergangenheit‘ etablieren, da er alle Beispiele als heute noch nachahmbar anspricht. Zu denken wäre hier an die Zerstörung Korinths durch die Römer; eine Erinnerung, die für die Griechen transgenerational traumatisierend wirkte.99 Ein weiteres Verbot des Erinnerns an „Schlimmes/Schlechtes“ (κακός) repräsentiert das zweite Beispiel mit der Bestrafung des Phrynichos, der eine Tragödie über die Zerstörung Milets im Ionischen Aufstand verfasst hatte.100 Bei der Aufführung in Athen brach die Bevölkerung aus Mitleid mit den Milesiern in Tränen aus, woraufhin weitere Aufführungen des Stücks verboten wurden und Phrynichos eine Geldstrafe von 1000 Drachmen akzeptieren musste,101 weil er an ‚eigenes Unheil‘ 96
Gegen persönlich ausgeführte Morde konnte man nach der Amnestie vorgehen, davon abgesehen aber sei es „keinem der Rückkehrer gestattet, gegen keinen das Schlimme zu erinnern außer gegen die Dreißig selbst.“ (Aristot. Ath. pol. 39,6). Vgl. auch Isokr. 18,2 f. wo der Beklagte das Recht hatte, der Klageschrift „beizuschreiben“, die Klage „sei nicht einführbar“ (μὴ εἰσαγώγιμον εἶναι), vgl. Meier 2010, 21. Freilich wurden die Eide nicht immer eingehalten. So konnte im Dokimasie-Verfahren, einer Eignungsprüfung designierter Amtsträger, die Zeit der Dreißig zur Sprache kommen. Daraufhin brachte Archinos ein Gesetz ein, das wegen der Amnestie eigentlich unzulässige Klagen ausschließen sollte, die Παραγραφή (ein Ankläger konnte wegen ungesetzlicher Anklagen verurteilt werden, vgl. Meier 2010, 24 f.). Isokrates spricht bald von den „Vertrauensbeweisen, die man sich gegenseitig gab.“ Man konnte wieder „gut und gemeinsam Bürger sein“ (Isokr. 18,46). Vgl. allgemein noch Xen. Hell. 2,4,43 und Nepos Thrasyb. 3,2. 97 Vgl. Ciceros Aussage (Plut. Cic. 42,3), dass der Senat die Athener mit ihrem Dekret der Amnestie nachahmen sollte: Ἀντώνιος μὲν ὑπατεύων τὴν βουλὴν συνήγαγε καὶ βραχέα διελέχθη περὶ ὁμονοίας, Κικέρων δὲ πολλὰ πρὸς τὸν καιρὸν οἰκείως διελθών, ἔπεισε τὴν σύγκλητον Ἀθηναίους μιμησαμένην ἀμνηστίαν τῶν ἐπὶ Καίσαρι ψηφίσασθαι, νεῖμαι δὲ τοῖς περὶ Κάσσιον καὶ Βροῦτον ἐπαρχίας. Cook 2004, 203 mit Anm. 12 geht davon aus, dass Plutarch Ciceros oblivio als Amnestia verstand. Weitere Verwendungen von ἀμνεστία sind Plut. Anton. 14,3. Brutus 19,1. Caesar 67,8. 98 Vgl. Meier 2010, 9 f. Der früheste Beleg ist Hdt. 8,29,8, wo die Phoker 50 Talente Silber für den Frieden mit den Thessalern bezahlen sollten, sodass diese die ‚schlimmen Dinge‘ vergessen, die ihnen von den Phokern angetan wurden (480 v. Chr.). Vgl. auch die Inschriften bei Werner/ Bengtson 1975, Nr. 187. Weitere Beispiele sind ebd., Nr. 204 (emendiert), 215 (= Xen. Hell. 2,4,43) und 289, Z. 82. Vgl. zuletzt zur Amnestie die vielfältigen Beiträge in Harter-Uibopuu/ Mitthof 2013. 99 Vgl. Kap. 4.3.3. 100 Die Zerstörung Milets war nach Hdt. 5,97,3 der „Anfang des Unheils zwischen Griechen und Barbaren“. Analog könnte Plutarch die Zerstörung Korinths durch die Römer als ‚Anfang des Unheils zwischen Griechen und Römern‘ verstanden haben. 101 Hdt. 6,21,2: Ἀθηναῖοι μὲν γὰρ δῆλον ἐποίησαν ὑπεραχθεσθέντες τῇ Μιλήτου ἁλώσι τῇ τε ἄλλῃ πολλαχῇ καὶ δὴ καὶ ποιήσαντι Φρυνίχῳ δρᾶμα Μιλήτου ἅλωσιν καὶ διδάξαντι ἐς δάκρυά τε
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
(οἰκήια κακὰ) erinnert habe.102 Plutarch muss an die Zerstörung Korinths durch Mummius103 oder die Einnahme und teilweise Zerstörung Athens durch Sulla104 gedacht haben, wenn er die Bestrafung der Erinnerung an ‚eigenes Unheil‘ und damit ein Vergessen desselben in seiner Zeit nachgeahmt wissen will. Diodor hatte bereits nur widerwillig an die Zerstörung Korinths erinnert: „Ich selbst weiß wohl, wie abstoßend es ist, an das Unglück der Griechen zu erinnern und der Nachwelt zum ewigen Gedächtnis zu überliefern, was sich ereignet hat.“105 Ein Grund für Sullas Leidenschaft, Athen zu erobern, sei nach Plutarch eine Art „Zorn gegen den Schatten des früheren Ruhms“ der Stadt gewesen.106 Daraus erklärt Plutarch auch Sullas ablehnende Haltung gegenüber den auf früheren Ruhm zielenden Vergangenheitsbezügen, die von einer athenischen Gesandtschaft gegenüber ihm gemacht wurden:
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ἔπεσε τὸ θέητρον καὶ ἐζημίωσάν μιν ὡς ἀναμνήσαντα οἰκήια κακὰ χιλίῃσι δραχμῇσι, καὶ ἐπέταξαν μηκέτι μηδένα χρᾶσθαι τούτῳ τῷ δράματι. („Die Athener gaben ihrem Schmerz über den Fall Milets auf verschiedene Weise Ausdruck. So dichtete Phrynichos ein Drama „Der Fall Milets“. Als es zur Aufführung gelangte, weinten alle Hörer im Theater. Phrynichos mußte 1000 Drachmen Strafe zahlen, weil er das Unglück ihres eigenen Stammes wieder aufgerührt hatte. Weiterhin bestimmten die Athener, niemand dürfe mehr dieses Drama aufführen.“). Vgl. ferner Aelian. v. h. 13,17. Außerdem gibt es keine weitere antike Überlieferung zu dem Stück (nicht einmal ein Fragment), was zeigt, dass das Verbot der Wiederaufführung offensichtlich eingehalten wurde. Was οἰκήια bedeutet, wird in der Forschung weiterhin diskutiert. Normalerweise wird die Tragödie in das Archontat des Themistokles datiert (493/2 v. Chr., frühe Datierung), weil dieser Chorege für ein weiteres Stück des Phrynichos 476 v. Chr. war (Plut. Them. 5). Weil sich die Athener und Milesier als ‚sozio-politische Einheit‘ mit einer gemeinsamen Identität sahen (Cook 2005, 205), wäre die Zerstörung Milets für die Athener ‚geteiltes Leid‘. Roisman 1998, 17–19 geht dagegen davon aus, dass οἰκήια das Leid der Athener über die Zerstörung ihrer eigenen Stadt war und deswegen das Stück später datiert werden müsse (auf 480/79 v. Chr). Die These vom ‚geteilten Leid‘ ist gegenüber der des ‚eigenen Leids‘ und damit der Spätdatierung vorzuziehen, weil der Kontext bei Hdt. 6,21,1 vom ‚geteilten Leid‘ handelt und die PhrynichosEpisode bei ihm nur eine weitere Ergänzung des gleichen Themas darstellt. Dort tadelt er die Sybariten, eben weil sie nicht um die Milesier getrauert haben, obwohl dies die Milesier anlässlich der Zerstörung von Sybaris 510 v. Chr. getan haben. Vgl. Paus. 1,17,1, der als Besonderheit der Athener ihren Altar für das Mitleid erwähnt. Plut. Philop. 21: die verheerenden Tage Griechenlands nach dem Fall von Korinth. Vgl. auch Strab. 8,6,23 p. 381 f. (= Polyb. 39,2) und Diodor 32,26 f. (= Exc. sent. 379 f.) und Kap. 4.3.3. Plut. Sulla 13 f. über Sullas Grausamkeit und die Erinnerungspflege der Athener zu seiner Zeit, vgl. Anm. 108 (Kap. 3.4). Vgl. Paus. 1,20,4–7 (Griechenland blühte erst seit Hadrian wieder auf) und 9,33,6. App. Mithr. 38 f. berichtet von Sullas unrühmlicher Eroberung Athens, da die Einwohner schwach waren, weil sie an Hunger litten. Der Leser kann schließen, dass es nicht Sullas Stärke, sondern die Schwäche der Athener war, die zur Niederlage der Stadt führte. Der Piraeus wurde zerstört und erreichte danach nie wieder seine frühere Funktion, vgl. Habicht 1995, 306–310. Diod. 32,26,1 (= Exc. sent. 379): ἐγὼ δὲ οὐκ ἀγνοῶ μὲν ὅτι πρόσαντές ἐστιν μεμνῆσθαι τῶν Ἑλληνικῶν ἀτυχημάτων καὶ τοῖς ἐπιγινομένοις διὰ τῆς γραφῆς παραδιδόναι τὰ πραχθέντα πρὸς αἰώνιον μνήμην· Plut. Sulla 13,1.
3.4 Alternative Erinnerungskultur
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ὀψὲ δὲ ἤδη που μόλις ἐξέπεμψεν ὑπὲρ εἰρήνης δύο ἢ τρεῖς τῶν συμποτῶν· πρὸς οὓς οὐδὲν ἀξιοῦντας σωτήριον, ἀλλὰ τὸν Θησέα καὶ τὸν Εὔμολπον καὶ τὰ Μηδικὰ σεμνολογουμένους ὁ Σύλλας “Ἄπιτε,” εἶπεν, “ὦ μακάριοι, τοὺς λόγους τούτους ἀναλαβόντες· ἐγὼ γὰρ οὐ φιλομαθήσων εἰς Ἀθήνας ὑπὸ Ῥωμαίων ἐπέμφθην, ἀλλὰ τοὺς ἀφισταμένους καταστρεψόμενος.” Sehr spät endlich schickte er (Aristion, Anm. FU) zwei oder drei seiner Zechgenossen zu Übergabeverhandlungen hinaus. Da diese aber keine vernünftigen Vorschläge machten, sondern nur große Reden über Theseus, Eumolpos und die Perserkriege führten, sagte Sulla: „Geht nach Hause, ihr Narren, und nehmt eure Reden wieder mit. Ich bin von den Römern nicht nach Athen geschickt worden, um Geschichte zu lernen, sondern um Abtrünnige zur Räson zu bringen.“107
Die Erinnerung an Sullas Einnahme Athens war zu Plutarchs Zeiten immer noch gegenwärtig,108 und konnte vermutlich für Konflikte zwischen Griechen und Römern sorgen. Vor diesem Hintergrund macht ein Vergessen dieser Ereignisse durchaus Sinn, da damit potentielle Konflikte neutralisiert werden konnten. Theben war 336 v. Chr. von Alexander dem Großen zerstört und von Kassander 316 v. Chr. wieder aufgebaut worden.109 Die Athener zeigten Anteilnahme am Schicksal der Thebaner und beteiligten sich deshalb auch am Wiederaufbau.110 Wenn sie sich bekränzten,111 bekundeten sie damit ihre Freude für die Thebaner,112 mit denen sie seit jeher aufgrund der Nachbarschaftssituation im Konflikt standen. Neben Pausanias war auch Philostrat die Episode noch bekannt, der als Thema einer Rede erwähnt, warum die Megalopoliten nicht die heimatlosen Thebaner aufge-
107 Plut. Sulla 13,4. Vgl. Chaniotis 2008, 162, der zeigt, dass „die Berufung auf die Geschichte […] ein in der griechischen Diplomatie akzeptiertes Ritual“ war. Diesem ‚Ritual‘ wollte sich Sulla nicht öffnen. Die Szene wird zudem davon überlagert, dass Plutarch in seiner ablehnenden Darstellung den Athener Aristion als Tyrannen bezeichnet (Plut. Sulla 13,1). Vgl. auch App. Civ. 2,88 über Caesar nach Pharsalos zu den Athenern (die auf Pompeius’ Seite standen): „Wie oft wird der Ruhm eurer Ahnen euch noch vor der Selbstzerstörung retten?“ 108 Die ältesten Athener würden immer noch die Stelle kennen, an der Sulla die Mauer nahm (Plut. Sulla 14,2), und bis in Plutarchs Zeit ist die Zahl der Erschlagenen nur durch den Raum bestimmbar, der durch ihr Blut bedeckt wurde (Plut. Sulla 14,3). 109 Diod. 19,53,2–54,2. Paus. 4,27,10. 9,3,6. 7,1 f. 4. Marm. Par. B 17 ep 14. IG VII 2419 (= Syll.2 176 = Syll.3 337). Vgl. Stähelin 1919, 2299 f. Plutarchs Haltung gegenüber Kassander ist ähnlich der gegenüber Nero: die Wiedergründung Thebens wird als Ausgleich für seine Untaten gewertet. Genau genommen wurde Kassanders Bestrafung durch die Götter aufgeschoben, damit er Theben wieder aufbauen konnte, Plut. de sera 552e. Nero habe für seine Taten bereits gebüßt und die Götter seien ihm für seine Freiheitserklärung gegenüber den Griechen auch eine Belohnung schuldig, Plut. de sera 567e–568a. Vgl. Scholten 2009. 110 Plut. Alex. 13,1 (Anteilnahme) und Diod. 19,54,2: συνεπελάβοντο δὲ καὶ τῶν Ἑλληνίδων πόλεων τοῦ συνοικισμοῦ πολλαὶ διά τε τὸν πρὸς τοὺς ἠτυχηκότας ἔλεον καὶ διὰ τὴν δόξαν τῆς πόλεως· („Auch von den Griechenstädten beteiligten sich viele, aus Mitleid mit den Unglücklichen und wegen des Ansehens der Stadt, an ihrer Wiederbesiedlung.“). Vgl. Aristeid. or. 1,59, wonach die Athener einige Thebaner nach der Zerstörung der Stadt aufnahmen. Vgl. Paus. 9,7,1 f. über die athenische Hilfe beim Wiederaufbau. Nach Diod. 19,54,2 bauten die Athener einen Großteil der Mauer wieder auf. 111 Alle Beispiele sind aus athenischer Perspektive konstruiert und Apelt 1927, 103 übersetzt deswegen unsauber: „[…] daß sich die Thebaner bekränzten, als Kassander Theben […].“ 112 Demosthenes bekränzt sich aus Freude über die (für ihn gute) Nachricht, dass Philipp II. gestorben sei, Plut. Dem. 22. Vgl. Ganszyniec 1922, 1590.
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
nommen hätten.113 Für Aristides ist das Theben-Beispiel wie bei Plutarch der Nachweis dafür, dass die Athener frühere Feinde zu Freunden gemacht haben, nachdem diesen ein Unglück widerfahren war.114 Analog zu Kassanders Wiederaufbau Thebens kann die Neugründung Korinths als Veteranenkolonie Caesars betrachtet werden. Die Griechen bemerkten, dass es sich bei Korinth um eine römische Stadt handelte, die auch von römischen Siedlern bewohnt war: Mummius zerstörte Korinth, Caesar besiedelte es wieder, wie es Pausanias auf den Punkt bringt.115 Die Römer sind somit die ehemaligen Feinde, welche die Stadt der Korinther wieder aufgebaut haben. Das Gleiche gilt für das Argos-Beispiel. Diodor berichtet von einem Bürgerkrieg furchtbaren Ausmaßes zwischen der demokratischen und oligarchischen Partei in Argos 370 v. Chr.116 Es war in Athen üblich, die Volksversammlung mit einem Katharsion zu beginnen.117 Die demokratischen Athener vollzogen aber noch ein zweites Reinigungsopfer als sie von dem Tod der 1500 argivischen Oligarchen hörten obwohl sie schon mit der Volksversammlung begonnen hatten.118 Cook überbetont allerdings die etwas andere Verwendung des Argos-Beispiels bei Dionysius von Halikarnassus und folgert, die Athener würden sich mit diesem apotropäischen Akt davor bewahren wollen, selber in Bürgerkrieg zu verfallen.119 Die Nachahmung der Praxis des Katharsions in Plutarchs Gegenwart zielt jedoch wie das Theben-Beispiel auf den besonnenen Umgang mit dem Feind, hier konkret, wie das demokratische Athen mit den argivischen Oligarchen umgeht.
113 Philostr. soph. 596. Diskutiert wird eine Rede des Sophisten Ptolemaios von Naukratis, für die ihn Philostrat gegen seine Kritiker in Schutz nimmt. Die ‚Kritik‘ hat sich auf das Thema bezogen (nicht die Form der Rede), sodass er zwei rechtfertigende Erklärungen für die historische Situation beibringt, um das Thema plausibel zu machen. Entweder waren auch die Messenier nicht gegen den Schrecken der Zerstörung Thebens immun wie auch der Rest Griechenlands (historische Situation nach Alexanders Tod) oder aber sie hatten Angst vor Alexander, dass er auch ihre Stadt zerstören könnte (zu seinen Lebzeiten). 114 Aristeid. or. 1,60. 115 Korinth wurde zunächst von den Griechen als römische Stadt wahrgenommen (Paus. 2,1,2: Korinth wird nicht mehr von den alten Korinthern bewohnt, sondern nur noch von Rom geschickten Kolonisten), auch wenn es sich mit der Zeit an seine griechische Umgebung anpasste, vgl. Dion Chrys. or. 37,26 (Favorinus) und König 2001. In der ebenfalls römischen Kolonie Butrint finden wir erst am Ende des 2. Jh. n. Chr. wieder griechische Inschriften, in Korinth bereits seit Hadrian. Vgl. Bergemann 1998, 123 Anm. 463 f. mit Literatur. 116 Diod. 15,57,3–58,4. Isokrates forderte von Philipp II., die Griechen zu retten, die ihre angesehenen und reichen Bürger töten würden (Isokr. or. 5,52). Bei Aristeid. or. 24,27 rät eine athenische Gesandtschaft den Argivern, eine Amnestie anlässlich des Bürgerkrieges zu erlassen. 117 Vgl. Aeschin. 1,23 und Harpokr. s. v. καθάρσιον. 118 Vgl. Parker 1996, 21: es war eine „vivid symbolic action“. Sich von Blutschuld reinigen wie in Hdt. 1,44 (καθαιρῶ, Ζεύς καθάρσιος). Vgl. Parker 1996, 104–143. 119 Dionysios möchte die Römer mit dem argivischen Beispiel vor Bürgerkrieg bewahren (Dion. Hal. ant. 7,66,5). Cook 2004, 208: „With this fourth exemplum, then, Plutarch stresses the governmental means whereby the benefits of the first three exempla can be maintained and protected.“ In Cooks Modell bauen die Beispiele aufeinander auf und steigern sich in ihrer Intensität, was aber eine Interpretation ist, die in die Quellen hineingetragen wird und nicht aus ihnen herausgelesen ist.
3.5 Aristides’ Panathenaïkos als Einlösung alternativer Erinnerungskultur?
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Harpalos, Schatzmeister Alexanders des Großen, hatte athenische Politiker mit gestohlenem Geld bestochen – unter ihnen mutmaßlich auch Demosthenes, was in der Zeit der Zweiten Sophistik Gegenstand vieler Reden war.120 Wenn das Haus von Neuvermählten bei den Durchsuchungen im Zuge der Aufdeckung der Harpalos-Affäre verschont blieb, zeugt das in den Augen Plutarchs von der Integrität der Athener, die nicht blind den Anordnungen Alexanders folgten, sondern ihre eigenen kulturellen Werte und heiligen Gesetze bewahrten.121 Die eigene Tradition wird somit gegen den fremden Machthaber geschützt, so wie es Plutarch auch bei der Pflege der städtischen Institutionen einfordert, die nicht zugunsten römischer Interventionen aufgegeben werden sollten. Darüber hinaus sollten sogar alte Traditionen neu belebt werden. 3.5 ARISTIDES’ PANATHENAÏKOS ALS EINLÖSUNG ALTERNATIVER ERINNERUNGSKULTUR? Es lässt sich nun fragen, ob Plutarchs alternative Erinnerungskultur tatsächlich bei den Griechen Anwendung fand. Saïd meint, mit Aelius Aristides’ Panathenaïkos hätten wir ein Beispiel dafür.122 Aristides preise Athen für seine friedlichen Errungenschaften, wie den attischen Dialekt123 oder das Verhalten nach der Tyrannis der Dreißig.124 Die Perserkriege würden von Aristides nicht im Kontext ihrer politischen und militärischen Bedeutung behandelt (es seien keine nachahmbaren ἔργα mehr), sondern würden als Paradeigmata der Tugenden der Nachahmung dienen.125 Die athenischen Unternehmungen seien nicht mehr Argumente für die imperialen 120 Zu den sechs berühmtesten Reden des Polemon von Laodikeia zählt Philostr. soph. 542 f. allein drei über Demosthenes. Eine handelte davon, dass er für sich selbst den Tod nach der HarpalosAffäre forderte. Eines der Themen, die Polemon vor Herodes deklamierte, war, dass Demosthenes schwört, nicht die 50 Talente angenommen zu haben, obwohl Alexander dies aus den Rechnungsbüchern des Dareios erfahren hatte. Pausanias setzt sich in der Schuldfrage des Demosthenes für ihn ein und berichtet von einer späteren Tradition, deren Quelle er nicht angibt, vgl. Paus. 2,33,3–5. 121 Vgl. Plut. Dem. 25,8, wo er eine detailliertere Version des Vorgangs bringt (die neuvermählte Gattin des Kallikles, Sohn des Arrheneides, befand sich gerade im Haus, welches durchsucht werden sollte), die auf Theophrast oder Theopompos zurückgehe, vgl. Cook 2001. 122 Vgl. Saïd 2006, 58 und bereits Prandi 2000, 96 Anm. 18. 123 Aristeid. or. 1,15. 124 Aristeid. or. 1,253. 255. 260. 125 Saïd 2006, 59 nimmt Aristeid. or. 1,89 (δείγματα τῆς […] φιλανθρωπίας) als Beleg für ihre These, wobei sich diese Stelle auf die mythische Vorzeit bezieht und nicht auf die Perserkriege. Aristides gewinnt zwar den Perserkriegsschlachten einen symbolischen Wert ab, markiert damit aber Athens Vorrangstellung. So wird Marathon zum Kampf zwischen Arete und Reichtum, der hellenischen Vernunft und barbarischen Masse (107). Entschieden wurde die Schlacht aber nicht durch Beredsamkeit, sondern durch Taten! Vgl. hingegen Liv. 31,6. 14. 26. 44, wonach die Athener lediglich mit Briefen und Worten gegen Philipp Krieg geführt hätten – die einzigen Dinge, in denen sie sich auszeichnen. Bei Aristides wird der symbolische Wert der MarathonSchlacht als Paradeigma für alle späteren Taten der Griechen eigens betont, die Schlacht war der Samen der Griechen (111, aus Plat. Mx. 240de); übrigens auch, was Saïd übergeht, der Anfang aller kriegerischen Taten. Damit ist der Freiheitskampf wie bei anderen griechischen
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3 Plutarchs ‚Praecepta gerendae reipublicae‘
Ansprüche, sondern kulturelle Leistungen der Lehrer und Ziehväter jedes Menschen, der als Grieche gelten möchte.126 Athen sei nicht mehr politischer und militärischer Hegemon, sondern ein kultureller. Damit betone Aristides die friedlichen Taten und deute die militärischen um in kulturelle Errungenschaften. Zunächst ist der Panathenaïkos keine Rede eines athenischen Archons (wenngleich wohl 155 n. Chr. in Athen bei den Panathenäen gehalten)127 und erweist sich neben den Sophistenschulen und der politischen Rede vor der Bürgerschaft als ein dritter Ort, an dem freilich die Perserkriegserinnerung auch einen besonnenen Umgang fordert –, jedoch nicht so stark wie bei einer politischen Ansprache. So friedlich und harmonisiernd, wie es Saïd Aristides unterstellt, ist die Rede nicht, da sie subtil provoziert. Aristides ‚romanisiert‘ nicht die athenische Vergangenheit,128 sondern verfestigt die athenische und damit griechische Vorrangstellung gegenüber Rom. Die Rede beginnt mit dem Gegensatz von Griechen und Barbaren (selbst bei letzteren sei es üblich, den Vorfahren Dank abzustatten).129 Zunächst lobt Aristides die topografische Lage Athens, was in der Aussage mündet, Athen stelle ein Bollwerk zum Schutz der Griechen dar.130 Von da ist der Weg nicht weit nach Marathon, wo die erste auswärtige Bedrohung der Griechen ihrer gerechten Strafe zugeführt wurde.131 Der Paragraph, der Saïd zum Beweis der friedlichen Errungenschaft des attischen Dialekts dient, enthält aber gleichzeitig den Hinweis darauf, dass Athen von Natur aus der Feind der Barbaren sei und weitere Kolonien als Bollwerk gegen diese errichtet hatte.132 Bis § 75 hat Aristides die friedlichen Taten der Athener geschildert, der weitaus größere Teil der Rede bringt allerdings die kriegerischen (§§ 75–321). Diese Akzentuierung mit dem Übergewicht der kriegerischen Taten (davon mehrheitlich der Freiheitskampf) entspricht nicht Saïds These, Aristides würde Plutarchs Ratschläge aus den Praecepta gerendae reipublicae befolgen und statt an die kriegerischen Taten an die des Friedens erinnern. Vielmehr leistet Aristides implizit einen Beitrag zur Weltreichs- bzw. Leistungsdebatte. Aristides bespricht, worüber sich alle nur gewundert hätten und es übergingen, was aber Erwähnung finden sollte: Dass die Athener ihre Hegemonie vor Salamis an die Spartaner abgegeben hatten. Dies macht er zu einem Beispiel
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Autoren der hohen Kaiserzeit prekäres identitätsstiftendes Moment vor dem Hintergrund der römischen Herrschaft. Aristeid. or. 1,332. Die Rede ist entweder um 167 (Oliver 1968, 34) oder 155 n. Chr. (Behr 1973, 3) für die Panathenäen (230. 404) geschrieben und an die Männer Athens adressiert (1) als ein Geschenk für alle Hellenen gemeinsam (305). Saïd 2006, 49 f. und 60: „But this survey of a few instances is sufficient demonstration of the way in which Athenian history was transformed and ‚Romanised‘ by one of the major representatives of the Second Sophistic.“ Aristeid. or. 1,1. Vgl. auch 1,14. Aristeid. or. 1,8 f. Vgl. auch Aristeid. or. 1,64, wo die athenischen Kolonien (auch und vor allem im Westen) als Bollwerke gegen die Barbaren angesehen werden. Die Barbaren im Westen sind schwerlich die Perser (Behr 1986, 429 Anm. 2), sondern die Karthager und Italiker. Aristeid. or. 1,13. Aristeid. or. 1,15.
3.5 Aristides’ Panathenaïkos als Einlösung alternativer Erinnerungskultur?
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für πραότης und μεγαλοψυχία.133 Die Aufgabe der Hegemonie war für Aristides der Preis für die wahre und überlegene Hegemonie, nämlich die Griechen zu Freiheit und Rettung geführt zu haben.134 Auf die Gegenwart angewendet bedeutet das, dass die Römer ihre Tugend damit beweisen könnten, die politische und militärische Hegemonie über Griechenland aufzugeben und damit die griechische Freiheit wieder herzustellen, womit sie ihre ‚wahre Hegemonie‘ demonstrieren würden. Wenn die Athener die ‚Freiheit und Rettung‘ Griechenlands (ἐλευθερία καὶ σωτηρία)135 übrigens schon mit Marathon begonnen haben und daraufhin Zeus Eleutherios verehrten, erinnert Aristides damit an den Ursprung des Kultes im Freiheitskampf entgegen der zeitgenössischen Verwässerung durch die Römer. Alcock beschrieb die Interessenskonvergenz führender griechischer Familien und der römischen Administration hinsichtlich des Versuchs, von römischer Seite Perser und Parther miteinander zu identifizieren.136 Auch Spawforth sieht kein Loyalitätsproblem beim Stolz führender Griechen auf ihre Vergangenheit und der durch sie bestimmten Identität.137 Jung beobachtet, dass die in Plataiai „[…] gepflegte Perserkriegserinnerung mit der römischen Politik prinzipiell vereinbar war und die dort versammelte Führungsschicht aus den griechischen Poleis gegenüber dieser Politik loyal war.“138 Dass Alcock, Spawforth und Jung die Rom-orientierte Elite im Blick haben und die literarische Debatten viel kritischer und distanzierter sind, wird von ihnen nicht reflektiert. Wenn Aristides resümiert, dass der einzige Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart darin bestehe, dass Athen heute nicht mehr in gefahrvolle Situationen komme und die Stadt fast (μικροῦ) genauso glücklich ist wie damals, als sie Griechenland beherrschte, sollte uns dies aufhorchen lassen: Den alten Status wünsche man sich auch nicht leichtfertig (μὴ ῥᾳδίως) zurück.139 Bei dieser Art von Aussagen will Aristides den Hörer zwischen den Zeilen lesen lassen, überträgt ihm die Deutung und markiert durch den Hinweis auf denkbare Alternativen einen offenen Möglichkeitenraum. Die griechische Debatte über den Umgang mit der römischen Herrschaft müssen wir uns auf dieser impliziten Ebene vorstellen. Diese Stelle ist im Panathenaïkos der einzige Hinweis auf die Gegenwart. Aristides hat die komplette folgende Geschichte Athens nach Chaironeia ausgelassen, weil genau hier die römische Herrschaft zu schildern gewesen wäre, die zu konkreter Kritik provoziert hätte, weil Chaironeia den Endpunkt der griechischen Freiheit und damit den Startpunkt von Fremdherrschaft markiert.
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Aristeid. or. 1,137. Aristeid. or. 1,146. Aristeid. or. 1,110. Alcock 2002, 82 f. Spawforth 1994, 246. Jung 2006, 362. Vgl. ebd., 366. Aristeid. or. 1,332. 335 mit Pernot 2008, 192.
4 GRIECHISCHE VERGANGENHEIT IN EINER RÖMISCHEN GEGENWART Die Ruinen der Perserkriege wurden bereits von Isokrates und Lykurg als ὑπόμνημα τοῖς ἐπιγιγνομένοις τῆς τῶν βαρβάρων ἀσεβείας bezeichnet, also als Denkmal der Gottlosigkeit der Barbaren für die Nachkommen.1 Noch Pausanias nennt diese seiner Ansicht nach bewusst nicht wieder aufgebauten Tempel aus der Perserkriegszeit „Denkmäler des Hasses für die Zukunft“ um an den Freiheitskampf zu erinnern,2 was deren Bedeutung als kaiserzeitliche Erinnerungsorte unterstreicht. Wenn in Anschlag gebracht wird, dass es sich im konkreten Fall zwar um die Perser in der Vergangenheit, allgemeiner aber um auswärtige Invasoren handelt, entfaltet die fortgeschriebene Deutung auch eine zeitgenössische Wirkung in Bezug auf die Römer. Es ist also durchaus als brisant zu bezeichnen, dass Pausanias diese Deutung in seiner Gegenwart fortschreibt. Nach der Analyse von Plutarchs Praecepta gerendae reipublicae (Kap. 3) soll nun das aus der Periegese des Pausanias angeführte Beispiel im Folgenden in den Kontext griechischer Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit eingebettet werden. Von Interesse sind dabei die Akteure, Medien, Formen und Funktionen von Vergangenheitsbezügen. Eine verbreitete Forschungsposition besagt, dass die Vergangenheitsbezüge ein Elitenphänomen darstellen.3 In Kap. 4.1 soll dieses Bild jedoch dahingehend korrigiert werden, dass zusätzlich auch die breite Masse aufgrund der vielen Lokaltraditionen, Feste und des Besuchs sophistischer Vorträge einen größeren Anteil an der Erinnerungskultur hatte, als bisher angenommen wurde. Die ideengeschichtliche Verortung des Umgangs der Griechen mit ihrer Vergangenheit erfolgt anschließend durch die Analyse weltgeschichtlicher Periodisierungen und Geschichtsbilder (Kap. 4.2). Hierbei sind die Vorstellungen von Weltaltern und die Abfolge von Weltreichen von Bedeutung, da griechische Hegemonien zwar nie als Weltreich galten, ihr Status jedoch stets im Kontext der Weltreichslisten diskutiert wurde. Der Umgang mit den Weltaltervorstellungen ist insofern instruktiv, als das griechische Depravationsmotiv mit der römischen Vorstellung eines gegenwärtigen goldenen Zeitalters konfligierte. Vor dem Hintergrund der griechischen Geschichtsbilder und Periodisierungen folgt die Diskussion der durch Gegenwart-Vergangenheits-Vergleiche hergestellten zeitgenössischen Defizienzerfahrung griechischer Autoren der Hohen Kaiserzeit (Kap. 4.3). Somit wird die 1 2 3
Lykurg. Leocr. 81. Isokr. or. 4,156. Vgl. auch Diod. 11,29,2 und Hartmann 2010, 181. Paus. 1,2,4 f. und 10,35,2 mit einer Liste von weiteren Orten: Tempel bei Haliartos, Tempel der Hera in Athen (vgl. 1,1,5 Mardonios soll den Tempel verbrannt haben), Tempel der Demeter in Phaleron. Meißner/Nebelin/Nebelin 2012. Kuhn 2012. Jung 2006, 223. Schmitz 1999, 80 sieht eine Monopolisierung des öffentlichen Diskurses durch die Eliten. Alcock 2002, 86 ist ausgewogener und sieht die Erinnerungslandschaft Achaias im Spannungsfeld der Eliten und des Demos.
4.1 Erinnerungskultur im römischen Achaia
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Analyse von Plutarch durch die Kontextualisierung der griechischen Reflexionen über den Gang der Geschichte und in welcher historischen Situation man sich im 2. und 3. Jh. n. Chr. unter römischer Herrschaft befand in den erinnerungskulturellen Kontext eingebettet. 4.1 ERINNERUNGSKULTUR IM RÖMISCHEN ACHAIA 4.1.1 Vergangenheitswissen der ‚breiten Masse‘ Obwohl die Griechen schon immer eine Obsession für ihre eigene Vergangenheit hatten, intensivierte sich diese noch einmal in der Zeit der Zweiten Sophistik.4 Jung hat die Erinnerung an die Schlachten von Marathon und Plataiai bis in die römische Kaiserzeit verfolgt und auch deren Bedeutung für die griechische Identität im 2. Jh. n. Chr. betont.5 Die Perserkriegserinnerung zeige sich dabei als „[…] ein Diskurs der Eliten […], der von diesen mit klaren Zielsetzungen gepflegt wurde.“6 Wie jedoch Plutarchs Praecepta gerendae reipublicae demonstrieren, ist die Erinnerung an den griechischen Freiheitskampf nicht nur ein Elitenphänomen, sondern bewegte auch die breite Masse.7 Pausanias beschreibt zahlreiche Erinnerungsorte und Lokaltraditionen, die für eine lebendige Erinnerungskultur der Griechen in der römischen Kaiserzeit sprechen.8 Die an vergangene Siege erinnernden öffentlichen Feste wurden außerdem nicht nur im kleinen Kreis gefeiert.9 Athen und Sparta inszenierten sich als lebendige Museen, die griechische wie auch römische Touristen anzogen.10 Beispielsweise hat auch Plutarch Athen auf4 5 6
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Swain 1996, 87. Jung 2006, 205–224. Ebd., 223. Er hebt dabei vor allem auf die „Betonung der Bedeutung einzelner Persönlichkeiten innerhalb der Erinnerung ab. Vor allem Miltiades, daneben aber auch Kallimachos und Kynaigeiros wurden ähnlich wie die Protagonisten anderer Perserschlachten zu herausregenden Helden gestaltet. Der ihnen zugeschriebene Anteil am Sieg ließ die Bedeutung des Bürgerheeres deutlich dahinter zurücktreten und betonte die positiven individuellen Eigenschaften. […] Die Erinnerung wirkt insofern unmittelbar funktional im Sinne der Sicherung einer sozial und politisch privilegierten Stellung dieser Provinzialen Eliten.“ Plut. praec. ger. reip. 814a–c: τὰ πλήθη und τοὺς πολλούς. Als Pausanias mit seiner Darstellung am ‚geteilten Weg‘ in Phokis ankommt, bemerkt er, dass die Erinnerungsmale des Ödipus über ganz Griechenland verteilt seien: In Plataiai am Kithairon sei er ausgesetzt worden, in Korinth verbrachte er seine Jugend, am ‚geteilten Weg‘ fand der Vatermord statt und in Theben erlebte er seine Ehe (Paus. 10,5,3). Vgl. auch Paus. 9,25,2 (Säule mit Schild und Stein, wo die Ödipus-Söhne im Zweikampf gefallen seien). Vgl. Porter 2001, 69–72 darüber, wie Pausanias Achaia mit seinen Bauwerken und Denkmälern als Erinnerungslandschaft betrachtet. S. u. Kap. 4.1.3. Vgl. Hutton 2005a, 38, der den Griechen eine relativ passive Rolle zuweist, nach der sie von philhellenischen Barbaren überrannt wurden und sich selbst kaum für ihr schwer lastendes Erbe interessiert haben. Achaia wurde unterdessen zu einem Freilichtmuseum für den Vergangenheitstourismus. Genauso Swain 1996, 74. Für Livius war Griechenland bereits das Ziel von Bildungsreisen und ein ‚Museum‘ klassischer Vergangenheit, vgl. Liv. 45,27,5–28,6 (Reise des Aemilius Paullus). Plut. Aem. 28,1 hat die Reise des Paullus auch als Besichtigungsreise auf-
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grund seiner Vergangenheit oder Sparta wegen des altertümlichen Festes der Artemis Orthia besucht.11 Im Gegensatz zu den prosperierenderen Provinzen Kleinasiens konnte Achaia seinen Besuchern lediglich seine Vergangenheit bieten, die von professionellen Deutern und Erklärern präsentiert wurde.12 Diese Exegetai oder Periegetai wurden von den griechischen Autoren durchweg kritisch gesehen – auch (oder gerade) weil sie beim breiten Publikum überaus beliebt waren.13 Plutarch kritisiert, sie würden ihren festgelegten Vortrag bis zum Schluss halten und die Bitten ignorieren, ihre Ausführungen abzukürzen oder die Mehrzahl der Inschriften auszulassen.14 Lukian beanstandet, dass ganze Poleis und Völker den Fremden („Touristen“) Lügenmärchen erzählen würden.15 Die Dichter und Poleis dürften aber mit Nachsicht rechnen, weil sie ihre Städte ehrenvoller erscheinen lassen würden. Lukian hat also Verständnis für die Erinnerungkultur der Griechen, weil sie zeitgenössischem Prestigegewinn diente: εἰ γοῦν τις ἀφέλοι τὰ μυθώδη ταῦτα ἐκ τῆς Ἑλλάδος, οὐδὲν ἂν κωλύσειε λιμῷ τοὺς περιηγητὰς αὐτῶν διαφθαρῆναι μηδὲ ἀμισθὶ τῶν ξένων τἀληθὲς ἀκούειν ἐθελησάντων. Wenn nun einer diese Mythen aus Griechenland wegnähme, so würde nichts es verhindern können, dass ihre Fremdenführer an Hunger zugrunde gehen, weil die Fremden die Wahrheit nicht einmal kostenlos hören wollen.16
Die Kritik zielt bei Lukian auf die Touristen anstatt auf die Fremdenführer. Ähnlich sagt es Pausanias, wenn er für Argos feststellt, dass die Fremdenführer die Wahrheit zwar kennen würden, die Menge aber das hören wolle, was sie vorher schon wusste.17 Athen und die kleinasiatischen Metropolen waren Ausbildungsstätten für die Sophisten und Rhetoren, die für ihre Heimatpoleis politisch tätig waren und in ihren Reden vor allem die klassische griechische Vergangenheit thematisierten.18 Ein breites Vergangenheitswissen dürfte bei den sophistischen Vorträgen vom Publikum
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gefasst, vgl. Hartmann 2010, 210–213 und Casson 1974, 230. Plin. Epist. 8,20,1 f. kritisiert die Römer dafür, dass sie zu den Sehenswürdigkeiten in den Osten fahren, sich aber für Rom und Italien kaum interessieren würden, vgl. auch Paus. 9,36,5 mit dem gleichen Topos. Plut. Lyc. 18. Arist. 17 (Sparta). Per. 13 (Athen). Vgl. Swain 1996, 66 Anm. 2 mit der Literatur. Paus. 1,34,4 berichtet von einem gewissen Iophon aus Knosos, einem Exegeten, der Orakel in Hexametern herausgegeben hat: „Diese Gedichte ziehen die Menge an.“ Vgl. Frateantonio 2009, 94 zur Stelle. Generell zu den Exegeten Frateantonio 2010. Jones 2001. Dazu auch Whitmarsh 2010, 14 f. Insgesamt erwähnt Pausanias 22 mal Exegeten. Plut. de pyth. orac. 395a. 396c. Vgl. Casson 1979, 308–315 über „antike Fremdenführer“. Lukian. Philops. 4. Lukian. Philops. 4. Paus. 2,23,6. Die Exegetai der Argiver wissen, dass sie nicht alles wahrheitsgemäß erzählen. Sie erzählen es aber doch, weil es nicht einfach ist, die Menge vom Gegenteil zu überzeugen (von dem abzubringen, was sie glaubt). Frateantonio 2010, 93 stellt heraus, dass sich Pausanias als Hyper-Exeget gibt, der stets mehr wisse als die ortsansässigen Exegeten. Den Sophisten, ihren öffentlichen Auftritten und ihrem Publikum widmen sich Korenjak 2000 und Schmitz 1997. Die Sophisten als Vermittler zwischen Poleis: Dion Chrys. or. 38–51. Aristeid. or. 23 f. Gesandtschaften zu Kaisern: Philostr. soph. 520 f. 530 f. 570. Dion und Polemon waren Berater von Kaisern. Vgl. auch Bowersock 1979, Kap. 4 und Quaß 1993, 163–182.
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erwartet worden sein. In der Forschung ist hingegen umstritten, wer die Adressaten der öffentlichen sophistischen Reden waren und wie deren Vergangenheitswissen beschaffen war. Dichotomisch zugespitzt muss man sich demnach zwischen der gebildeten Elite und der ungebildeten Masse entscheiden.19 Es kann davon ausgegangen werden, dass der griechische Demos eine rudimentäre Geschichtskenntnis hatte, die es ihm ermöglichte, den Reden zu folgen auch wenn er nicht jede historische oder literarische Anspielung deuten konnte.20 Wenn Dion Chrysostomos, Aelius Aristides und Lukian ihre Reden vor einem griechischen Publikum hielten, mussten sie im Hinblick auf eine gelingende Rede bestimmte Erwartungen ihrer Adressaten erfüllen. Die vorgetragenen politischen Positionen und Vergangenheitsdeutungen waren daher nicht nur die private Meinung des Redners, sondern spiegelten auch das Weltbild der Zuhörerschaft. Die Rezeption der publizierten Reden war hingegen offener, sodass hier auch Römer als Leserschaft bzw. Griechen für Aristides’ Rom-Rede in Frage kamen. Im Hinblick sowohl auf diese Offenheit der Kommunikationssituation bezüglich möglicher Rezipienten, als auch auf die Rücksichtnahme gegenüber griechischen Befindlichkeiten müssen wir auf der Ebene des Wortlauts mit einem paradoxen Befund rechnen, der einerseits implizite Kritik an der römischen Herrschaft und andererseits opportunistische Aussagen bereithielt. Dass die Geschichtskenntnis der breiten Masse weniger entwickelt war als die der gebildeten Oberschicht ist offensichtlich und bisweilen von Vertretern der Oberschicht kritisiert worden. Beispielsweise beklagt Dion, dass obwohl man nach den Perserkriegen alles aufgeschrieben hatte, manche die Chronologie durcheinander brächten: „Wenn der erste etwas für wahr hält, gilt es als unsinnig, es nicht zu glauben.“21 Pausanias bedauert, dass die Exegeten der Argiver wissen, dass sie 19
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Schmitz 1997, 161 f. führt die Stellen an, die ein großes ungebildetes Publikum der Sophisten nahelegen. Interessant ist insbesondere Aristeid. or. 33,42, der die Gebildeten und die Masse unterscheidet. Ebd., 167 vermutet Schmitz, dass die Häufigkeit der Auftritte der Sophisten und der von den μελέται behandelte enge historische Zeitrahmen der ‚Masse‘ ein inhaltliches Verständnis ermöglichte. Nesselrath 1998 bezweifelt die Aufnahmefähigkeit der ungebildeten ‚Masse‘: „It may be just as possible that the really uneducated people (just as today) didn’t give a damn about all those busy cultural activities going on so far above their heads, because they had enough to do just to cope with their own lives.“ Korenjak 2000, 220 kommt hingegen vor allem auf Grundlage der rhetorisch-theoretischen Schriften Plutarchs zu dem Ergebnis: „Das Publikum dieser Darbietungen rekrutiert sich zum größten Teil aus Angehörigen der gebildeten Oberschicht, unter denen sich wiederum ein hoher Prozentsatz von Personen befindet, die man als Konkurrenten des Redners ansprechen kann, nämlich andere Sophisten und Rhetorikschüler.“ Dies ergibt sich allein aus der im Laufe des Lebens erworbenen historischen Allgemeinbildung, vgl. Marrou 1956. Dion Chrys. or. 11,147: τοῦ γὰρ πρώτου καταλαβόντος, ὥσπερ εἴωθεν, ἄτοπον τὸ πεισθῆναί ἐστι. Dions Beispiele aus der hier zitierten Rede, die das Thema hat, dass Troja nicht erobert worden sei, spielen mit ironischer Inversion. So gibt Dion eigentlich die richtigen Sachverhalte wider wie beispielsweise, dass Uranos von Kronos und dieser von Zeus der Herrschaft beraubt worden sei, die Schlacht von Salamis vor Plataiai stattgefunden hat sowie, dass Harmodios und Aristogeiton die höchsten Ehren erwiesen wurden, weil sie Athen von einem Tyrannen befreit hatten.
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nicht alles wahrheitsgemäß erzählen. Sie erzählen es aber doch, weil es nicht einfach ist, die Menge vom Gegenteil zu überzeugen bzw. von dem abzubringen, was sie glaubt oder bereits weiß.22 Anlässlich der Inschrift in der athenischen Stoa des Zeus Eleutherios, die besagt, dass Theseus die Demokratie eingeführt habe, bemerkt Pausanias, es sei verbreitete Meinung, dass Athen seit Theseus bis zu Peisistratos demokratisch verfasst gewesen sei.23 Von der geschichtsunkundigen Menge werde viel Unwahres erzählt, was sie in Chorliedern und Tragödien von Kindheit an höre.24 Was nach dem Zeugnis des Pausanias die Massen in höchstem Maße anziehe, seien die von Iophon von Knossos in Hexametern herausgegebenen Orakel, von denen er behauptet, Amphiaraos habe sie den gegen Theben ziehenden Argivern erteilt.25 Die Distanz zur ‚Masse‘ wird auch dadurch deutlich, dass Pausanias sich mit Spezialthemen beschäftigt, die nur im Kreise von Experten auf Interesse stoßen dürften. Wenn er auf Spezialexkurse wie beispielsweise Hesiods und Homers umstrittene Lebensalter verzichtet, hat dies eher mit der Streitsucht zeitgenössischer Epenkenner zu tun.26 All diese Beispiele zeigen aber, dass die Menge keinesfalls geschichtsunkundig war, sondern in den Augen der Experten ein zwar sachlich fragwürdiges und unzureichendes, aber immerhin ein Vergangenheitswissen hatte. 4.1.2 Lokaltraditionen Chronologisch angefangen von Plutarchs Symposion über Athenaios’ Deipnosophistai, Clemens’ Stromateis, Gellius’ Noctes Atticae bis hin zu Macrobius’ Saturnalia zeigt sich das große Interesse der gelehrten Leserschaft an der griechischen Vergangenheit. Auch Pausanias bedient den Bedarf an griechischem Vergangenheitswissen, stellt jedoch insofern eine Besonderheit dar, als er sein ‚Bücherwissen‘27 vor Ort per Autopsie überprüft. Dabei kommt er in Kontakt mit Einheimi22 23 24 25 26 27
Paus. 2,23,6. Paus. 1,3,2. Vgl. Horst 2010 allgemein zur politischen Funktion des Demokratiebegriffs in der Kaiserzeit. Paus. 1,3,2 fühlt sich daraufhin genötigt, den Sachverhalt zu korrigieren. Sein Einwand ist, dass noch vier Generationen bis Menestheus die Nachkommen des Theseus als Könige herrschten und wenn er Gefallen an Genealogie hätte, könne er weitere Könige bis Kleidikos aufzählen. Paus. 1,34,4. Paus. 9,30,3 hat sich über diese Frage genau unterrichtet, spricht aber nicht darüber, weil er von der Streitsucht der zeitgenössischen Epenkenner weiß. Vgl. Arafat 1996, 45. Kindstrand 1973. Sämtliche der etwa 120 zitierten Autoren werden vor 150 v. Chr. datiert, vgl Index auctorum bei Rocha-Pereira 1989, 252–259. Philosophen sind so gut wie nicht vertreten außer ein paar Anspielungen auf Platon, Aristoteles, Zenon, Chrysipp, Diogenes den Kyniker und Arkesilaos. Vom Drama bringt er ebenso wenig: Aischylos und Euripides sind ein paarmal erwähnt und zitiert – außer ihnen noch Sophokles, Aristophanes, Phrynichos, Eupolis und Menander. Herodot ist sein stilistisches Vorbild (vgl. Robert 1909, 10), danach kommen Thukydides und einige Historiker des 5. und 4. Jhs. Polybios erscheint bei ihm mehr als Politiker (8,9,1. 30,8. 37,2. 44,5. 48,8. Vgl. IvO 302. 449. 450. 486. 487 und vgl. Habicht 1985, 135) anstatt als Historiker. Dies hat vermutungsweise damit zu tun, dass Polybios sich politisch für die Griechen eingesetzt hat und Pausanias damit sympathisiert. Im historische Exkurs zum Achäischen Bund und zum Achäischem Krieg liegen Polybios’ Historien jedoch implizit zugrunde.
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schen, Exegeten, Inschriften sowie Lokal- und Familientraditionen,28 von denen er Auskunft über die jeweils lokale Geschichte erwartet. Zur Imprägnierung gegen Missverständnisse sei hinzugesetzt, dass Bücher wie Pretzlers „Travel Writing in Ancient Greece“ oder Alcocks, Cherrys und Elsners „Travel and Memory in Roman Greece“ zwar das Reisen im Titel tragen, die überwiegende Zahl der Autoren aber davon ausgeht, dass Pausanias obwohl er die beschriebenen Orte selbst bereist hat, sein Werk aber nicht für den Reisenden konzipiert hat.29 Bei der Periegesis handelt es sich nicht um einen Reiseführer im modernen Sinn. Für diese Funktion ist sie zu unpraktisch, da kein Gastgewerbe erwähnt wird, kaum Entfernungsangaben gemacht, keine Reiseempfehlungen abhängig von Witterung, Jahreszeit oder körperlicher Konstitution des Reisenden gegeben werden. Auch die Landschaft mit ihren Wäldern, Bergen und Flussläufen spielt eine untergeordnete Rolle. Die beschriebenen Wege sind dem didaktischen und mnemonischen Ordnungsprinzip der Periegese geschuldet.30 Demnach ist die Periegese des Pausanias eher für die heimische Lektüre statt als mobiler Exeget der Altertümer Achaias zu gebrauchen. Römer können nicht sein primärer Adressat gewesen sein, da er sonst die tria nomina nicht hätte erläutern müssen.31 An anderer Stelle erklärt Pausanias, dass der Augustus-Gegner Marcus Antonius ein Römer war.32 Das müsste einem Römer nicht erklärt werden, sondern vielmehr den Griechen, die in ihm nach seinem Auftreten im Osten vielleicht eine Art hellenistischen König sahen, der mit der hellenistischen Königin Kleopatra VII. verbunden war. Als Beleg für die griechischen Adressaten kann weiterhin angeführt werden, dass Pausanias seinen Sardinien-Exkurs dem Buch über Phokis hinzugefügt habe, weil „die Griechen“ über diese Insel besonders wenig wüssten.33 Deswegen, so kann daraus gefolgert werden, muss er es „den Griechen“, seiner avisierten Leserschaft, berichten.34 Auch wenn Pausanias in der zeitgenössischen Literatur allein bei Aelian namentlich zitiert wurde, hat die Forschung einige Reminiszenzen in der griechischen kaiserzeitlichen Literatur identifizieren können,35 was bedeutet, dass er breiter rezipiert wurde, als bisher angenommen. 28 29 30 31 32 33 34 35
In Troizen erwähnt er eine Familientradition, wonach die Nachkommen der Entsühner des Orestes an bestimmten Tagen hier zusammenkommen würden, vgl. Paus. 2,31,8. Pretzler 2013. Alcock/Cherry/Elsner 2001. Pretzler 2004. Elsner 2003. Paus. 7,7,8. Paus. 4,31,1. Paus. 10,17,13. Regenbogen 1956, 1013. 1032. 1048. 1093 vermutet speziell kleinasiatische Griechen. Ursprünglich dachte man, Pausanias sei nicht viel gelesen worden von seinen Zeitgenossen ausser der Notiz bei Aelian. v. h. 12,61 mit Bezug zu Paus. 8,36,6 (dazu Bowie 2001, 29 f.). Griechen rezipierten ihn aber auch: Philostr. Ap. 6,10 f. mit Paus. 10,5,9–13 bei Dickie 1997, 15–20. Longos Daphnis und Chloe 2,25,4–26,1 mit Paus. 10,23,1–7 bei Bowie 2001, 30–32. Lukian. Syr. Dea 13,23,60 mit Paus. 1,18,7. 1,22,1. 2,32,1 bei Lightfoot 2003, 218 mit Anm. 612. Athenagoras Leg. 17 mit Paus. 1,26,4 bei Snodgrass 2003. Pollux 7,37 mit Paus. 5,14,5 bei Hanell 1938, 1560. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption des Pausanias auch Pretzler 2007, 27.
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Pausanias führt zahlreiche Lokaltraditionen an, die er auf seinen Reisen kennengelernt hat. Wegen der schwarzen Demeter war er nach Phigaleia gekommen. Die Statue war aber nicht mehr vorhanden und ein alter Mann berichtete, dass drei Generationen vor ihm Steinblöcke aus der Decke des Tempels auf die Statue gefallen seien und sie zerstört hätten. Pausanias hat selber noch ebendort geopfert.36 Diese Episode deutet darauf hin, dass Pausanias die Orte seines ‚Bücherwissens‘ abschreitet und von den Einheimischen Erklärungen bei Widersprüchen einfordert. Gleichzeitig zeigt sie auch, dass er in Achaia mit einer lebendigen Erinnerungskultur konfrontiert war, derer er sich bediente, die er aber auch oft korrigierte. Weil Pausanias feststellen musste, dass die Griechen in ihren Versionen voneinander abwichen,37 stellte er selber auch kritische Nachforschungen an.38 Dabei zeigt er auch ein Bewusstsein für nicht mehr erhaltene Quellen, nach denen er offensichtlich gesucht hat.39 Er vergleicht Lokaltraditionen und literarische Quellen miteinander: Die Thebaner würden das in Trümmern liegende Gemach der Alkmene im Haus des Amphitryon und Gräber der Heraklessöhne zeigen sowie von einer verlorenen Inschrift berichten.40 Pausanias stellt fest, dass die Thebaner aber nichts anderes erzählen würden als die Dichter Stesichoros und Panyassis.41 Diese Feststellung ist keinesfalls ein Lob, sondern vielmehr ein Makel, insofern die Thebaner nichts Neueres, Unbekannteres zu berichten haben als die alten Texte. Im Gegensatz dazu erfährt Pausanias auf Nachfragen bezüglich des Grabes von Ödipus in Athen, dass dessen Gebeine von Theben hierher überführt worden seien, was er zugunsten der Version des Homer gegen Sophokles auch glaubt.42 Die Megarer verschweigen absichtlich die wahre Version ihrer frühen Stadtgeschichte gegen besseres Wissen (und die literarische Tradition bei Alkman und Pindar), damit ihre Frühzeit ruhmreicher erscheine.43 Die Phigaliäer, die alte Schriften konsultiert hätten, sagten, Erynome sei Tochter des Okeanos, wie auch Homer bezeuge.44 36 37
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Paus. 8,42,11. Paus. 8,53,5: οἱ μὲν δὴ Ἑλλήνων λόγοι διάφοροι τὰ πλέονα καὶ οὐχ ἥκιστα ἐπὶ τοῖς γένεσίν εἰσι· („Die Sagen der Griechen weichen jedoch meistens voneinander ab und nicht zuletzt bei den Genealogien.“). Paus. 9,16,7: Die Thebaner würden über das Grab der Alkmene nicht mit den Megarern übereinstimmen: διάφορα δὲ καὶ τὰ λοιπὰ ὡς τὸ πολὺ ἀλλήλοις λέγουσιν Ἕλληνες. („Auch sonst erzählen ja die Griechen meist verschieden voneinander.“). Was Kimon von der Mauer in Athen nicht baute, sondern noch von den Pelasgern war, fand Pausanias durch seine Nachforschungen (Paus. 1,28,3). Bei der Recherche taten sich Schwierigkeiten auf, sodass für ihn die Lebenszeit und Abstammung des homerischen Proteus nur schwierig zu erfahren war (Paus. 9,8,4). Das Daidalafest würde nach den einheimischen Erklärern jedes 7. Jahr gefeiert, doch als Pausanias nachzählte konnte er es nicht sicher feststellen (Paus. 9,3,3). Linos habe keine Gedichte verfasst oder sie seien nicht überliefert (Paus. 9,29,9). Bei dem Korinther Kallippos fand Pausanias ein Gedicht des Hegesinos zitiert, das aber schon vor seiner Geburt nicht mehr vorhanden war (Paus. 9,29,1 f.). Bei eben diesem wäre auch das ChersiasEpos erwähnt, an das es keinerlei Erinnerung mehr gebe (Paus. 9,38,10). Paus. 9,11,1. Paus. 9,11,2. Paus. 1,28,7. Paus. 1,41,5. Paus. 8,41,5.
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Oft werden unbestimmte Einheimische wie „die um Salamis herumwohnenden“,45 die Athener46 oder andere Kollektive als Zeugen für eine Geschichte herangezogen.47 Die landläufige Identifikation von Statuen, so gesteht Pausanias zu, wird bisweilen von den ‚Altertumskundigen‘ vor Ort korrigiert.48 Manchmal wissen sie aber bei Nachfragen auch nicht mehr.49 Pausanias befragte beispielsweise Priester in Athen,50 oft auch unbestimmte Einzelpersonen51 oder Spezialisten.52 Bei seinen weiten Reisen kam Pausanias auch mit Seefahrern ins Gespräch, die er über die Natur von Satyrn befragte, weil er „mehr wissen wollte als manch anderer.“53 Nach Auskunft seines Gastgebers in Larisa hätten die Makedonen in Dion erst nach dem Untergang der Libethreer die Gebeine des Orpheus bei sich beigesetzt.54 Besonders kritisch zeigt er sich gegenüber nicht-griechischen Alternativerzählungen.55 Die griechische Version wird stets als authentischer angesehen als etwa die syrische, wobei das Alter von Überlieferungen und Monumenten nicht per se mehr Authentizität beansprucht.56 45 46 47
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Paus. 1,35,4. Den Mythos von Nisos (König von Megara) und Minos berichten die Athener (Paus. 1,19,4). Diitrephes tat noch anderes wovon die Athener erzählen (Paus. 1,23,3). Pausanias will in Übereinstimmung mit den Megarern berichten, sieht aber nicht, wie es sich im Einzelnen verhält (Paus. 1,41,4). Von Hippolyte wird berichtet, was die Megarer erzählen (Paus. 1,41,7). Es gibt keine Inschriften und keine Auskünfte über die Gräber vorm arkadischen Orchomenos seitens der Orchomenier (Paus. 8,13,3). Die Pheneaten behaupten, dass die eleusinischen Weihespiele auch bei ihnen von Naos, dem dritten Nachkommen Eumpolpos’ eingerichtet worden seien (Paus. 8,15,1). Die Athener zeigen eine Statue des Erechtheus und Eumolpos, doch die ‚Altertumskundigen‘ (Ἀθηναίων ὅσοι τὰ ἀρχαῖα ἴσασιν) wissen, dass es Immarados war, der Sohn des Eumolpos (Paus. 1,27,4). In Temenoutherai in Oberlydien wurde ein ‚falscher‘ Geryoneus gefunden. Die Exegeten der Lyder förderten allerdings die wahre Sage zu Tage: der Tote sei Hyllos (Paus. 1,35,7). Altertumskundige Thebaner behaupten bei drei unbearbeiteten Steinen liege Tydeus begraben und sie führen dazu einen Ilias-Vers an (Paus. 9,18,2). Paus. 1,31,5: bei Nachforschungen im Demos Athmonia stellte sich heraus, dass die Exegeten nichts Genaueres über die amarousische Artemis wissen. Paus. 1,22,3: über die Beinamen von Ge Kourotrophos und Demeter Chloe kann man sich bei den Priestern erkundigen. Paus. 1,35,5 (ein mysischer Mann erzählt von der Größe des Aias, der Kniescheiben wie so groß wie Diskoi hatte). 1,41,2 (ein einheimischer Führer führte ihn). Paus. 1,42,5 hat von einem Kräuterkundigen etwas über das Ebenholz als Wurzel gehört. In einem Abschnitt über aus Griechenland geraubte Kunstgegenstände erwähnt Pausanias, dass die ‚Aufseher über die Sehenswürdigkeiten‘ (οἱ ἐπὶ τοῖς θαύμασιν) sagten, dass von den Zähnen des Kalydonischen Ebers einer zerbrochen sei, der andere befinde sich in den Gärten des Kaisers in einem Dionysos-Heiligtum (8,46,5). Paus. 1,23,5 zitiert namentlich einen karischen Seefahrer namens Euphemos (der gut Redende). Paus. 9,30,11. Paus. 8,20,2: τοῦ λόγου δὲ τοῦ ἐς Δάφνην τὰ μὲν Σύροις τοῖς οἰκοῦσιν ἐπὶ Ὀρόντῃ ποταμῷ παρίημι, λέγεται δὲ καὶ ἄλλα τοιάδε ὑπὸ Ἀρκάδων καὶ Ἠλείων. („Bei der Sage von Daphne übergehe ich das, was die am Orontes lebenden Syrer erzählen, denn von den Arkadern und Eleern wird anders darüber berichtet.“). Arafat 1996, 45 ist der Ansicht, dass die ‚appropriateness‘ für Pausanias’ Auswahl und Kritik eine entscheidende Rolle gespielt habe. Es komme auch darauf an, wie angemessen, wie passend ein Heiligtum in seiner Umgebung stehe. Demnach wirke Älteres dort natürlicher als Neues.
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In einen Graubereich gelangen wir, wenn Pausanias auf die Ptolemäer und Ägypter zu sprechen kommt, deren beider Bild ausgesprochen negativ besetzt ist. Nach Frateantonio weiß Pausanias um das Alter der ägyptischen Kultur und Religion, was er aber nicht in sein Ägyptenbild mit einbeziehe bzw. wo er es tut, das Alter kein positives Argument darstelle.57 Der alleinige Fokus auf die Alter-Diskussion ist aber ein unsauberer Ansatzpunkt, da Frateantonio zum einen nicht Pausanias’ Auswahlkriterien berücksichtigt und zum anderen die entscheidende Stelle Paus. 1,14,2 unterschlägt. Dort bemerkt er, dass sich unter den Griechen Athen und Argos am meisten über Alter und Gaben der Götter streiten würden, unter den Barbaren Ägypter und Phryger. Insofern ist offensichtlich, dass er das Griechische vom Barbarischen als Vergleichsobjekt trennt.58 So räumt Pausanias dem Griechischen explizit den Vorrang vor dem Barbarischen ein und es ist für ihn keine Frage, dass er von einem Sidonier in Bezug auf Asklepios nichts lernen kann, weil dieser die falschen Vorstellungen vom Gott hatte.59 Pausanias lässt sich auch von professionellen ‚Touristenführern‘ (Exegeten) Auskünfte erteilen.60 Deren Existenz spricht für die große Nachfrage nach historischem Wissen in Achaia. Frateantonio stellt heraus, Pausanias gebe sich als Hyper-Exeget, der stets mehr wisse als die lokalen Exegeten.61 Die Exegeten im Demos Athmonia wussten nichts über die amarousische Artemis, sodass er seine eigenen Erklärungen anbringt.62 Pausanias kritisiert lydische Exegeten, die nach seinem Insistieren die wahre Geschichte von den übermenschlichen Knochen des Hyllos erzählten, die sie zunächst verschwiegen hatten.63 In der Megaris weiß eine Gruppe von Exegeten nichts über das Athena Aiantis Heiligtum.64 In Sikyon kennen die Exegeten zwar das Kultaition, aber nicht die Art des Baumes, der darin eine Rolle spielt und ihnen direkt vor Augen steht.65 Pausanias hat sich herumführen und bestimmte Monumente zeigen lassen, wobei er für seine Darstellung das ‚Wichtigste‘ auswählte.66 Pausanias greift auch auf Texte von Exegeten zurück, die nach seinem Zeugnis eine große Breitenwirkung erzielen. Beispielsweise habe Iophon von Knossos Orakel in Hexametern herausgegeben, die Amphiaraos den gegen Theben ziehenden Argivern erteilt habe. Diese Gedichte würden die Masse in höchstem Maße anziehen.67 Der argivische Exeget Lykeas, Erklärer einheimischer Merkwürdigkeiten 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Frateantonio 2009, 103. Vgl. Paus. 1,7,1: Ptolemaios II. verliebte sich in seine Schwester Arsinoe und hat sie wider makedonischer Sitte geheiratet – aber in Übereinstimmung mit der der Ägypter, über die er nun herrschte. Paus. 8,22,6. Die lokalen Exegeten als Quelle für Pausanias wurden bereits von Jones 2001 und Frateantonio 2010 ausgiebig untersucht. 22 Mal werden Exegeten in der Periegese erwähnt. Dazu auch Whitmarsh 2010, 14 f. Vgl. Frateantonio 2010, 93. Paus. 1,31,5. Paus. 1,35,8. Paus. 1,42,4. Paus. 2,9,8. Paus. 2,13,3. Paus. 1,34,4.
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(ὁ τῶν ἐπιχωρίων ἐξηγητὴς), dichtete (in Übereinstimmung mit dem, was die Argiver erzählen), Pyrrhos sei von Demeter in der Gestalt einer Frau von einem Stein tödlich am Kopf getroffen worden.68 4.1.3 Feste Auffallend viele Feste, an deren Feierlichkeiten sich auch die breite Masse beteiligte, erinnern in der Kaiserzeit an „[…] den Sieg in einer für die Freiheit der Polis oder aller Griechen entscheidenden Schlacht […]“,69 also an den griechischen Freiheitskampf: In Athen wurde am 6. Boedromion der Sieg von Marathon erinnert,70 am 16. Munichion von Salamis71 und am 3. Boedromion von Plataiai.72 Chaniotis kommt nach der Analyse griechischer Feste in der römischen Kaiserzeit zu dem Ergebnis, dass sie überwiegend einen aggressiven Charakter aufweisen. Die Bürgerschaft erinnert sich zumeist an einen Sieg gegen eine fremde Macht oder einen inneren Feind.73 Die seit 427 v. Chr. alle vier Jahre in Plataiai stattfindenden Eleutherien zur Ehrung der bei der Schlacht gegen die Perser 479 v. Chr. gefallenen Griechen werden bis in das 3. Jh. n. Chr. hinein gefeiert.74 Im 3. Jh. v. Chr. wurde dort bewusst die seit dem 5. Jh. v. Chr. etablierte Deutung des Freiheitskampfes im Kontext der Auseinandersetzungen mit den Makedonen aktualisiert, womit das Fest gleichzeitig mit der Einführung der Homonoia in den Kult des Zeus Eleutherius zu einem panhellenischen Fest wurde.75 Plutarch liefert uns eine Beschreibung der Eleutherien zu seiner Zeit. Demnach wurden die Grabsteine der Gefallenen abgewaschen und mit Myrrhenöl gesalbt. Nach dem Opfern wurden die tapferen Männer, die für Griechenland gefallen waren, symbolisch zum Mahl und zum Blutschmaus gerufen. Zuletzt wurde ein Krug 68 69 70
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Paus. 1,13,8. Chaniotis 1991, 124. IG II2 1006, 26 ff. Plut. de gloria Ath. 349e. Isokr. 4,158. Plut. de malign. Herodot. 862a: Bei aller Liebe zu Athen verschweige Herodot, dass die Athener einen Festzug für den Dank am Sieg bei Marathon nach Agrai (am Ilissos unweit Athens mit einem Tempel der Artemis Agrotera) durchführen. Plutarch stellt fest, dass dieser Festzug noch heute jedes Jahr durchgeführt wird. Beim Fest der Aianteia in Salamis und beim Opfer für Zeus Tropaios, vgl. IG II2 1006, 28 ff. 71 ff. Plut. de gloria Ath. 349 f. Mikalson 1975, 143 f. Plut. de gloria Ath. 349 f. Chaniotis 1991, 127. Paus. 9,2,6. Plut. Arist. 21,3–6 und de gloria Ath. 349 f. über die Feier der Eleutherien. IG VII 49 (Liste mit Siegern in Wettkämpfen aus der Zeit Antoninus Pius’). IG III 127 (gymnische und hippische Agone). Weitere Inschriften sind IG VII 49. 1711. 1856. Dittenberger Syll.2 676,11. Keil Inscr. Boeot. 32. Vgl. auch Strab. 9,632. Paus. 9,2,4. Vgl. vor allem Jung 2006 zu den Eleutherien und zu deren Deutungsgeschichte. Vgl. Hdt. 9,81. Thuk. 2,71. 3,58,3 f. Anth. Gr. 6,50 (Simonidesverse auf dem Altar = Sim. frg. 15 Page). Diod. 11,29,1. Poseid. frg. 31 Kassel. Plut. Arist. 20,4–6. Paus. 9,2,5–7. Vgl. Jung 2006, 340–343. Für die hellenistische Zeit ist das sogenannte Glaukon-Dekret von Bedeutung (Text bei Roesch 1979, Übersetzung bei Jung 2006, 300).
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Wein gemischt, dann ausgegossen und dazu gesprochen: „Ich trinke den Männern zu, die für die Freiheit der Griechen gestorben sind.“76 Neben dem Kult gab es auch den Agon, den Pausanias kurz beschreibt: οὐ πόρρω δὲ ἀπὸ τοῦ κοινοῦ τῶν Ἑλλήνων Διός ἐστιν Ἐλευθερίου βωμὸς […]. ἄγουσι δὲ καὶ νῦν ἔτι ἀγῶνα διὰ ἔτους πέμπτου τὰ [δὲ] Ἐλευθέρια, ἐν ᾧ μέγιστα γέρα πρόκειται δρόμου· θέουσι δὲ ὡπλισμένοι πρὸ τοῦ βωμοῦ. Nicht weit vom gemeinsamen Grab der Griechen steht ein Altar des Zeus Eleutherios […]. Noch jetzt feierte man dort jedes fünfte Jahr einen Wettkampf, die Eleutherien, an dem höchste Preise für Wettlauf ausgesetzt sind; sie laufen aber in Waffenrüstung vor dem Altar.77
Desweiteren gab es in Plataiai den sogenannten Dialogos zwischen athenischen und spartanischen Epheben, eine Art Rededuell, bei dem vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Leistungen in den Perserkriegen historisch argumentiert wurde.78 Der Gewinner des Dialogos durfte den nächsten Festumzug anführen. Das Pikante an dieser kaiserzeitlichen Aktualisierung des griechischen Freiheitskampfes ist, dass der Dialogos von Priestern des Kaiserkultes ausgerichtet wurde. In der Person des athenischen Politikers Tiberius Claudius Novius vereinen sich diese Widersprüche, über die er selbst wohl hinwegsah. Novius war in seiner Jugend Sieger im Waffenlauf bei den Eleutherien, später ebendort sowohl Priester des Kultes von Plataiai als auch des Kaiserkultes.79 Er war Epimelet in Athen auf Lebenszeit, achtmal Hopliten-Stratege, Priester des delischen Apollon, Epimelet des delischen Heiligtums, Oberpriester des Kaiserhauses und Nomothet. Nicht nur durch seine zahlreichen Priesterämter sondern auch durch seine Ehe mit der Spartanerin Damosthenia hatte er Verbindungen über die ganze Provinz Achaia.80 Mit Novius tritt uns eine widersprüchliche Figur entgegen: Freiheitskämpfer bei den Eleutherien in Plataiai und Priester des Kaiserkultes ebendort. Wie ist das miteinander in Einklang zu bringen? Nach Spawforth neutralisierten die romfreundlichen Eliten die subversive Bedrohung der Perserkriegserinnerung durch römische Aneignung, d. h. durch Implementierung des Kaiserkultes und durch Umdeutungen.81 Das Beispiel Novius zeige, dass er als Vertreter der politischen Oberschicht den Stolz auf die Perserkriege mit der Loyalität zu Rom als kompatibel erachtet habe. Spawforth weist in diesem Zusammenhang allerdings auch auf die Praecepta gerendae reipublicae hin, wo Plutarch die griechischen Polis-Politiker davor warnt, mit Hilfe der Perserkriegs76 77 78 79 80 81
Plut. Arist. 20 f., hier 21,6: ‘προπίνω τοῖς ἀνδράσι τοῖς ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας τῶν Ἑλλήνων ἀποθανοῦσι’. Paus. 9,2,5 f. Vgl. auch Philostr. Gymn. 8 zum Waffenlauf. SEG 36,252 (= IG II2 3189 Addenda). IG II2 2086. 2089. 2113. 2130. Vgl. Jung 2006, 351–360. Alcock 2002, 83. Robertson 1986, 99–101. Vgl. Lukian. amor. 18. Dion Chrys. or. 38,38 kritisiert den Dialogos aus einer römischen Perspektive. IG II2 1990. Zur Person Geagan 1979. IG V 1,509. Spawforth 1994, 245. Vgl. Paus. 1,3,1 f., der im Kerameikos eine Statue des Zeus Eleutherios und wohl in unmittelbarer Umgebung eine Hadrians erwähnt, […] ἐς ἄλλους τε ὧν ἦρχεν εὐεργεσίας καὶ ἐς τὴν πόλιν μάλιστα ἀποδειξάμενος τὴν Ἀθηναίων. („[…] der außer manchen anderen seiner Untertanen besonders der Stadt Athen Wohltaten erwies.“).
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erinnerung die οἱ πολλοί zu erregen.82 Dies zeige, dass zynische Politiker um das Jahr 100 n. Chr. herum die ‚törichte‘ Beschwörung der Erinnerung an den griechischen Widerstand gegen auswärtige Feinde benutzten. Spawforth gesteht ein, dass die Perserkriegserinnerung eine subversive Resonanz unter den Griechen fand. Die Adressierung an Menemachos zeige, dass auch in Kleinasien die Perserkriege in der Kaiserzeit noch als die Befreiung von Fremdherrschaft verstanden wurden. Spawforth gibt allerdings zu bedenken, dass wir es nicht mehr mit dem klassischen Demos zu tun haben, sondern die Politiker ihre Reden nur vor einer kleinen Gruppe von wohlhabenden, privilegierten Ekklesiasten gehalten hätten.83 Auch wenn es sich wohl eher um den Rat und nicht die Volksversammlung gehandelt hat, ist der Hinweis auf die politischen Partizipanten wichtig. Jung billigt dahingehend zwar, dass die Verfassungen der Poleis in der Kaiserzeit einen aristokratisch-oligarchischen Charakter besaßen, wendet aber seinerseits ein, dass die großen Staatsreden auch an ein breiteres Publikum adressiert waren, „und dass der Demos als Gruppe durchaus politisch agierte.“84 Plutarch zumindest stellt sich die Rede vor der Menge vor, auch wenn diese nicht zu einer Beschlussfassung zusammengekommen ist. Dem muss hinzugefügt werden, dass sich Plutarchs Warnung vor der öffentlichen Verwendung der Perserkriegserinnerung exakt gegen den Kontrollverlust der Politiker gegenüber der Menge richtet und insofern der Demos von ihm politisch ernst genommen wird. 4.1.4 Sophistischer Kontext Beim Blick auf die kaiserzeitlichen Sophistenschulen wird deutlich, dass sich Plutarch und Lukian innerhalb der kaiserzeitlichen griechischen Literatur durch ihre Distinktion von und Kritik an den zeitgenössischen Sophisten speziell in Bezug auf die Ausbildung exponieren. Während Plutarch in der platonischen Tradition hierzu die Dialektik zwischen Form und Inhalt einer Rede bemüht, kritisiert Lukian die Übertreibungen eines Kulturbetriebs, dessen Protagonist er selber ist. Plutarch fordert in de recta ratione audiendi eine für die Erziehung nützliche Rede in den Sophistenschulen zu lehren und erst danach ein Augenmerk auf Ausdruck und Form zu legen. Selbst wenn der Ausdruck nicht attisch sei, solle man zuerst auf den Inhalt der Rede schauen.85 Der Anfang eines ‚guten Lebens‘ ist aber gemäß dem Grundthema von de recta ratione audiendi gut zuzuhören, damit der Schüler nicht eine bloß sophistische oder historische Bildung habe, sondern ein philosophisches Wissen.86 Plutarch reagiert mit der Emphase für die ‚richtigen‘ Bildungsinhalte offensichtlich auf die Tendenz seiner Zeit, in den Sophistenschulen ‚bloße‘ attische Form zu lehren. Das ist auch ein Kritikpunkt in Lukians Rhetorum Praeceptor. Dort gibt der ‚schlechte Rhetoriklehrer‘, anhand dessen Lukian die von ihm kritisierte zeit-
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Plut. praec. ger. reip. 814a–c. Spawforth 1994, 246. Jung 2006, 366 Anm. 103. Plut. de rect. rat. aud. 42a–e. Plut. de rect. rat. aud. 48d.
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genössische Praxis zeigen will, den Rat, jede Rede mit ein paar attischen Wörtern zu garnieren.87 κἂν περὶ ὑβριστοῦ τινος ἢ μοιχοῦ λέγῃς Ἀθήνησι, τὰ ἐν Ἰνδοῖς καὶ Ἐκβατάνοις λεγέσθω. ἐπὶ πᾶσι δὲ ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος, ὧν οὐκ ἄν τι ἄνευ γένοιτο. καὶ ἀεὶ ὁ Ἄθως πλείσθω καὶ ὁ Ἑλλήσποντος πεζευέσθω καὶ ὁ ἥλιος ὑπὸ τῶν Μηδικῶν βελῶν σκεπέσθω καὶ Ξέρξης φευγέτω καὶ Λεωνίδας θαυμαζέσθω καὶ τὰ Ὀθρυάδου γράμματα ἀναγιγνωσκέσθω, καὶ ἡ Σαλαμὶς καὶ τὸ Ἀρτεμίσιον καὶ αἱ Πλαταιαὶ πολλὰ ταῦτα καὶ πυκνά. καὶ ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα ἐπιπολαζέτω καὶ ἐπανθείτω, καὶ συνεχὲς τὸ ἄττα καὶ τὸ δήπουθεν, κἂν μηδὲν αὐτῶν δέῃ· καλὰ γάρ ἐστι καὶ εἰκῆ λεγόμενα. Wenn du beispielsweise über einen Frevler oder Ehebrecher in Athen sprichst, erwähne die Vorfälle in Indien und Ekbatana. Füge zu jedem Thema Marathon und Kynegeiros hinzu, ohne die überhaupt nichts geht. Auch soll jedes Mal der Athos durchsegelt, der Hellespont zu Fuß überschritten werden, die Sonne sich wegen der Medergeschosse verfinstern, Xerxes fliehen und Leonidas bewundert werden, die Inschrift von Othryadas vorgelesen werden, und auf Salamis, Artemision, Plataiai musst du oft und in dichter Abfolge anspielen. Und auf allem sollen jene paar attische Wörter wie Blüten schwimmen, immer wieder ein ἄττα und ein δήπουθεν, auch wenn es gar nichts davon braucht; sie sind nämlich auch aufs Geratewohl gesprochen schön.88
Dass die Rede ausgerechnet in Athen situiert wird, hängt damit zusammen, dass die Polis als Bildungsort bekannt war, der auch viel auf seine Vergangenheit gab.89 Inhaltliche und formale Vergangenheitsbezüge werden hier gleichermaßen berücksichtigt. Mit Indien und Ekbatana zu beginnen, obwohl diese fernen Orte nichts mit dem vorliegenden Fall zu tun haben, verschafft dem Redner zunächst Zeit, seine weitere Rede gedanklich zu planen.90 Die folgenden Beispiele außer Othryadas sind thematisch den Perserkriegen, und damit dem griechischen Freiheitskampf, entnommen.91 87 88 89
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Lukian. Rh. Pr. 16. Der Fall einer Gerichtsrede über einen Frevler oder Ehebrecher in Athen ist vermutlich deswegen gewählt, weil sich dieser Lehrer und sein Schüler generell durch ihr sittenloses Verhalten auszeichnen und sich daher mit solch einem Fall auskennen. Lukian. Rh. Pr. 18. Vgl. den Kommentar von Zweimüller 2008, 353–356. Philostr. soph. 535: Es gefalle den Athenern, dass man sie oder ihre Vergangenheit lobt. Anstatt die Athener oder sich selber in einer Rede zu loben wollte Polemon jedoch herausfinden, ob sie gute Richter in der Rhetorik seien. Philostr. soph. 572: Der Sophist Alexander hält eine Panegyris auf Athen mit einer Apologie, um zu erklären, warum er noch nie dort war. Philostr. soph.: 586 f.: Adrian von Tyros machte sich in Athen viele zu Freunden als Rhetorikprofessor weil er sich integrierte: er hat Spiele gestiftet, Wein-Partys gegeben und an hellenischen Festen teilgenommen. Er ging nach seinen Reden nie allein nach Hause, sondern umgegeben von Vielen aus aller Welt, die die hellenische Kultur mochten. Vgl. Plut. praec. ger. reip. 799c: Wer die Athener lobt, bringe ihnen die meiste Freude. Vgl. auch Zweimüller 2008, 353, die auch die bekannte „Prozesssucht“ der Athener ins Spiel bringt, vgl. Aristoph. Eq. 50 f. 225–257. Av. 27–48. Thuk. 1,77,1 und für die Kaiserzeit Chariton 1,11,5–7. Indien und Ekbatana sind mit Wunder- und Lügengeschichten verbunden, vgl. Strab. 2,1,9. Das Publikum konnte mit diesen Bezügen beeindruckt werden, weil es darüber nichts wusste, vgl. Zweimüller 2008, 345 f. Othryadas war ein spartanischer General, der nach Hdt. 1,82 f. als einziger Spartaner in einer Schlacht gegen die Argiver um 550 v. Chr. überlebte – neben einem einzigen Argiver. Er tötete sich selbst aus Scham, als einziger Überlebender nach Sparta zurückkehren zu müssen. Lukian folgt hier aber einer anderen Überlieferung (Anth. Gr. 7,430. 431. Stob. Antholog. 3,7,68),
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Ὅπως δὲ καὶ τὸ πλῆθος τῶν λόγων θαυμάζωσιν, ἀπὸ τῶν Ἰλιακῶν ἀρξάμενος ἢ καὶ νὴ Δία ἀπὸ τῶν Δευκαλίωνος καὶ Πύρρας γάμων, ἢν δοκῇ, καταβίβαζε τὸν λόγον ἐπὶ τὰ νῦν καθεστῶτα. Damit die Menge auch die Fülle deiner Rede bewundert, beginne bei den Vorfällen um Troja oder – bei Zeus! – auch bei der Heirat von Deukalion und Pyrrha, wenn es dir passend scheint, und führe deine Darstellung bis zur Gegenwart weiter.92
Inwieweit den Zeitgenossen der artifizielle Charakter dieser exzessiven Vergangenheitsbezüge bewusst war, wird durch die ironisierende Kritik Lukians am chronologischen Rahmen der Vergangenheitsbezüge nicht zwingend klar. Der Vorschlag ‚am Anfang‘ bei der Erschaffung der Menschen zu beginnen ist das ultimum möglicher Vergangenheitsbezüge.93 Der Rat, die Darstellung bis in die Gegenwart herabzuführen, irritiert zunächst, da die sophistische Rhetorik es pflegte, nicht über Alexander hinauszugehen, womit die römische Eroberung Griechenlands für gewöhnlich ausgeblendet war.94 Das sophistische Muster eines chronologischen Abrisses ist damit aber getroffen, wie wir an Aristides’ Eleusinios oder Panathenaïkos überprüfen können. Auch wenn chronologisch nicht bis zur Konfrontation mit den Römern vorgedrungen wird, birgt das Thema des Freiheitskampfes – angefangen bei den Perserkriegen bis zur Invasion Philipps II. – für sich jedoch schon eine implizite kritische Auseinandersetzung mit der römischen Eroberung Griechenlands. Zwar wird sie weder offen ausgesprochen, noch wird ein Gegenwartsbezug hergestellt, aber die Themen der Deklamationen regen „[…] zumindest zur Reflexion über die eigene Vergangenheit und Gegenwart an […].“95 Doch nicht nur in den Reden der Sophisten kritisiert Lukian den übertriebenen Attizismus, sondern auch z. B. in der zeitgenössischen Historiographie, wo er einen Geschichtsschreiber ausmacht, der „in seinem eifrigen Bemühen, nur das reinste Attisch zu schreiben, […] sogar die römischen Eigennamen änder[te] und ins Griechische übertragen zu müssen [glaubte].“96 Die Kritik am attischen ‚Altertümeln‘ wird im Demonax regelrecht transzendiert: Demonax stellte einem Mann eine Frage, die dieser beantwortete, wie man zu Zeiten Agamemnons sprach.97
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wonach Othryadas mit seinem Blut auf ein Tropaion noch eine Inschrift aufbrachte, bevor er starb (so auch noch bei Lukian. Char. 24. Max. Tyr. or. 23,2. 32,10. Lib. Decl. 24,22. Sen. suas. 2,2. 16.). Die Anknüpfung geschieht über die 300 Spartaner des Leonidas, deren Anzahl auch Othryadas bei sich hat. Lukian. Rh. Pr. 20. Vgl. den Kommentar von Zweimüller 2008, 371 f. Deukalion und Pyrrha waren die Schöpfer der Menschen, indem sie Steine hinter ihren Rücken warfen (Akusilaos FGrHist 2 fr. 35. Pindar O. 9,41–46. Ovid Met. 381–399). In einer anderen Version sind sie die Eltern des Hellen, des Stammvaters aller Hellenen (Hesiod fr. 2. Hellanikos FGrHist 323a fr. 23). In beiden Fällen entspricht die Formulierung etwa „bei Adam und Eva anfangen“ (Zweimüller 2008, 372). Es gibt auch eine Verbindung als Überlebende der Sintflut, vgl. Gen. 6–8. Plat. Tim. 22a. Ovid Met. 318–329. Zu den Gegenwartsbezügen vgl. Russell 1983, 108 f. und Schmitz 1997, 201–205. Zweimüller 2008, 412 mit Bezug auf Lukian. Rh. Pr. 18–22. Lukian. hist. conscr. 21: ὑπὸ γὰρ τοῦ κομιδῇ Ἀττικὸς εἶναι καὶ ἀποκεκαθάρθαι τὴν φωνὴν ἐς τὸ ἀκριβέστατον ἠξίωσεν οὗτος καὶ τὰ ὀνόματα μεταποιῆσαι τὰ Ῥωμαίων καὶ μεταγράψαι ἐς τὸ Ἑλληνικόν, […]. Vgl. zuletzt Free 2015 zur Schrift „Wie man Geschichte schreiben soll“ und Kemezis 2010. Lukian. Dem. 26. Vgl. auch Lukian. Lex. 20.
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Sophisten ahmten nicht nur Sprache und Form ihrer klassischen Vorbilder nach, sondern auch deren Habitus und Gestik. Philostrat beschreibt Männer, die sich wie Hippias oder Kritias gaben, was er im Gegensatz zu Plutarch bewundert.98 Dieser fand es lächerlich Aristoteles’ Lippen, Platons Buckel und Alexanders verdrehten Hals zu imitieren.99 Whitmarsh weist darauf hin, dass die μίμησις nicht lediglich in die Vergangenheit weist durch die Nachahmung der alten Formen, sondern auch in die Gegewart durch die moderne Transformation der alten Muster.100 Insofern kommt der Nachahmung älterer Vorbilder immer auch eine zeitgenössische Funktion zu, die in gesellschaftlicher Distinktion, Inklusion, Exklusion oder Legitimation zu suchen sein wird. Entscheidend war aber auch, dass das Publikum die Vergagenheitsbezüge überhaupt entschlüsseln konnte.101 Die kreative und originelle Mimesis der klassischen Vorbilder unterlag einem regelrechten Wettbewerb, wie wir Philostrats Sophistenviten entnehmen können.102 Die Mimesis war immer eine Gratwanderung zwischen reiner Imitation und entstellender Transformation bis hin zur Unkenntlichkeit. Die historische Genauigkeit und Plausibilität war dabei allerdings nicht entscheidend, wobei gleichwohl beim Kontrahenten nachgewiesene Fehler herabwürdigend waren. Die Herabwürdigung geschah jedoch mit der Offenlegung von Fehlern vor allem formaler Natur, wie Barbarismen und Solözismen.103 In der Rede ‚Von der Schönheit‘ entwickelt Dion Chrysostomos in ganz anderer Weise als Plutarch und Lukian seine Kritik an der Praxis des übermäßigen Gebrauchs von Vergangenheitsbezügen. Die Vorbildlichkeit rezenter Redner und der Vorrang zeitgenössischer Themen werden gegen einen negativ verstandenen Antiquarismus gesetzt, der sogar zur Fälschung vermeintlich alter Bücher führe. Als Einstieg dient ihm dabei zunächst die durch Depravation hervorgerufene Diagnose der Defizienz zeitgenössischer Kunstwerke: {Δ.} Ὡς ὑψηλὸς ὁ νεανίσκος καὶ ὡραῖος· ἔτι δὲ ἀρχαῖον αὐτοῦ τὸ εἶδος, οἷον ἐγὼ οὐχ ἑώρακα τῶν νῦν, ἀλλ’ ἢ τῶν Ὀλυμπίασιν ἀνακειμένων τῶν πάνυ παλαιῶν· αἱ δὲ τῶν ὕστερον εἰκόνες ἀεὶ χείρους καὶ ἀγεννεστέρων φαίνονται, τὸ μέν τι ὑπὸ τῶν δημιουργῶν, τὸ δὲ πλέον καὶ αὐτοὶ τοιοῦτοί εἰσιν. Dion: Wie schlank und anmutig der Jüngling ist! Eine Erscheinung aus vergangenen Zeiten, wie ich sie unter den heutigen Menschen noch nicht gesehen habe, höchstens bei den ganz
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Vgl. Philostr. soph. 565 (Herodes Atticus schwärmt für Kritias und imitiert ihn). 603 (Prokolos von Naukratis imitiert Hippias). Plut. mor. 26b. 53c–d. Whitmarsh 2004, 27. Connolly 2007, 32: „This was not simply the ‚use‘ of the Athenian past, but a visual and auditory enactment of it before a formidably knowledgeable and demanding audience of peers.“ Φιλοτιμία war ein zentrales Konzept der Zweiten Sophistik, vgl. Swain 2007b, 129. Der Wettbewerb wurde aber auch kritisch gesehen, vgl. Dion Chrys. or. 38,41. Plut. praec. ger. reip. cap. 30 f. Zu den Bedeutungsvarianten der Φιλοτιμία vgl. Veligianni-Terzi 2010. Vgl. Philostr. soph. 541 (Polemon in Olympia). 564 (Herodes und Peregrinos). 594 (Pausanias von Caesarea in Kappadokien hatte einen starken kappadokischen Akzent; vgl. Lukian. Epigram. 43, der sagt, es sei schwer, überhaupt einen angesehenen kappadokischen Redner zu finden; vgl. auch Philostr. Ap. 1,7 über Akzente).
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alten Weihestatuen in Olympia. Die Darstellungen späterer Zeit werden immer hässlicher und unedler, was zum Teil an den Künstlern liegen mag, in erster Linie aber doch wohl auf die dargestellten Menschen selbst zurückzuführen ist, die eben nicht mehr so schön sind.104
Wie wir noch sehen werden, wendet Plutarch die gleichen Deutungsmuster in seinen pythischen Schriften an, wenn er nach den Ursachen der Depravation im religiösen Bereich fragt.105 Konkret bei Dion hat sich entweder die τέχνη der Künstler oder haben sich die in der bildenden Kunst darzustellenden Menschen ästhetisch von einem idealen Zustand ausgehend bis in die Gegenwart verschlechtert.106 Soweit ist Dion konventionell, was sich in der Rede an der Stelle ändert, als er auf zeitgenössische Nachrichten darüber zu sprechen kommt, dass Kaiser Nero gar nicht gestorben sei.107 (10) ἐπεὶ τῶν γε ἄλλων ἕνεκεν οὐδὲν ἐκώλυεν αὐτὸν βασιλεύειν τὸν ἅπαντα χρόνον, γε καὶ νῦν ἔτι πάντες ἐπιθυμοῦσι ζῆν. οἱ δὲ πλεῖστοι καὶ οἴονται, καίπερ τρόπον τινὰ οὐχ ἅπαξ αὐτοῦ τεθνηκότος, ἀλλὰ πολλάκις μετὰ τῶν σφόδρα οἰηθέντων αὐτὸν ζῆν. {–} Σὺ μὲν ἀεὶ λόγους ἀνευρίσκεις, ὥστε διασύρειν τὰ τῶν ἀνθρώπων, καὶ νῦν ἐξ οὐδενός, ὡς εἰπεῖν, ἐπὶ ταῦτα ἦλθες. ὃ δὲ ἐβουλόμην ἐρέσθαι, οὐκ εἴασας. (11) {– Δ.} Ἴσως γάρ μου καταφρονεῖς καὶ ἡγῇ με ληρεῖν, ὅτι οὐ περὶ Κύρου καὶ Ἀλκιβιάδου λέγω, ὥσπερ οἱ σοφοὶ, ἔτι καὶ νῦν, ἀλλὰ Νέρωνος καὶ τοιούτων πραγμάτων νεωτέρων τε καὶ ἀδόξων [ὧν] μνημονεύω. τούτου δὲ αἴτιον τὸ μὴ πάνυ φιλεῖν τοὺς τραγῳδοὺς μηδὲ ζηλοῦν· ἐπεὶ οἶδα ὅτι αἰσχρόν ἐστιν ἐν τραγῳδίᾳ τοὺς νῦν ὄντας ὀνομάζειν, ἀλλ’ ἀρχαίου τινὸς δεῖ πράγματος καὶ οὐδὲ πάνυ πιστοῦ. οἱ μὲν οὖν ἔμπροσθεν οὐκ ᾐσχύνοντο τοὺς τότε ὄντας ὀνομάζειν καὶ λέγοντες καὶ γράφοντες· οἱ δὲ νῦν ἐκείνους ἐξ ἅπαντος ὀνομάζειν ζητοῦσιν. (12) ᾗτινι δὲ τῇ σοφίᾳ πράττουσιν αὐτὸ ἐγώ σοι ἐρῶ – καὶ μὴ πάντα φλυαρεῖν με φῇς· ἀλλ’ ἴσως πολλοῦ δέω – πάντως γάρ τινι τῶν βιβλιοπωλῶν προσέσχηκας. {–} Διὰ τί δὴ τοῦτό με ἐρωτᾷς;
104 Dion Chrys. or. 21,1. 105 Vgl. Kap. 4.3.4. 106 In Plutarchs de musica ist der Grundtenor, dass man weg muss von der verdorbenen und verweichlichten Musik der Gegenwart hin zur strengen Einfachheit der klassischen Kunst. Schon die älteren Platoniker und Peripatetiker hätten die allmähliche Verschlimmerung der Musik beschrieben. Am Anfang der Schrift werden die frühesten Anfänge der Musik bei den Griechen geschildert und als anzustrebendes Ideal hingestellt. Beim Vergleich des damaligen und gegenwärtigen Gebrauchs von Kompositions- und Stilformen wird allerdings festgestellt, dass damals bereits rhythmische Variationen geschätzt wurden und man den Nichtgebrauch von anderen Kompositionsformen nicht als Unkenntnis deuten könne. Allerdings würde man im Gegensatz dazu in der Gegenwart den Ruhm in der Behandlung von Mythen suchen. Ein weiterer Unterschied im Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestehe darin, dass man sich heute lediglich der Theatermusik zuwende. In den ältesten Zeiten, als es noch gar keine Theater gab, soll die Musik allein der Jugenderziehung und Götterverehrung gedient haben. Θέατρον und θεωρεῖν sollen etymologisch gar von θεός kommen. Die sonst in der Antike negativ konnotierten ‚Neuerungen‘ wurden auch in der Musik gemacht, womit Plutarch der geschichtlichen Entwicklung eine gewisse Dynamik zuschreibt. Diese ‚Neuerungen‘ seien aber mit Würde und Anstand vereinbar, also nur graduelle Änderungen des bereits Bestehenden. Die ‚Alten‘ hätten sogar mit Rücksicht auf die sittliche Wirkung der Musik die Kunstlosigkeit der alten Musik bewahren wollen, indem sie Abweichungen unter Strafe stellten (1144e). 107 S. u. Kap. 7.2.2.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart {– Δ.} Ὅτι εἰδότες τὰ ἀρχαῖα τῶν βιβλίων σπουδαζόμενα, ὡς ἄμεινον γεγραμμένα καὶ ἐν κρείττοσι βυβλίοις, οἱ δὲ τὰ φαυλότατα τῶν νῦν καταθέντες εἰς σῖτον, ὅπως τό γε χρῶμα ὅμοια γένηται τοῖς παλαιοῖς, καὶ προσδιαφθείροντες ἀποδίδονται ὡς παλαιά. (10) Dion: Denn soweit es von allem übrigen abhing, hätte Nero nichts gehindert, bis in alle Ewigkeit zu herrschen, wünscht sich doch bis zum heutigen Tag jedermann, Nero wäre noch am Leben. Die meisten glauben sogar, daß er noch lebt, obwohl er nicht nur einmal, sondern in gewisser Weise viele Male gestorben ist, gleich denen, die fest daran glaubten, dass er noch lebe. Partner: Immer findest du Worte, um die Menschen lächerlich zu machen, und auch jetzt wieder bist du auf diese Dinge zu sprechen gekommen, man könnte sagen, ohne jeden Grund. Zu der Frage aber, die ich stellen wollte, hast du mir keine Gelegenheit gegeben. (11) Dion: Das ist richtig, und vielleicht denkst du jetzt schlecht von mir und glaubst, ich redete dummes Zeug, weil ich nicht, wie die gebildeten Leute noch heutzutage tun, über Kyros und Alkibiades spreche, sondern über Nero und ähnliche Themen aus der jüngsten Vergangenheit, die zwar wenig ruhmvoll sind, an die ich mich aber erinnern kann. Ich tue das deshalb, weil ich die Tragiker nicht so sehr liebe und es ihnen nicht nachmachen will, denn ich weiß, dass es gegen den guten Ton verstößt, in einer Tragödie Menschen unserer Tage zu nennen; die Tragödie braucht einen Stoff aus alten Zeiten, der nicht einmal ganz glaubwürdig sein darf. Die Alten hatten keine Bedenken, in Wort und Schrift ihre Zeitgenossen zu nennen, heutzutage dagegen will man um jeden Preis jene alten Namen zitieren. (12) In welcher weisen Absicht man das tut, will ich dir sagen – und behaupte nicht, ich redete nur Unsinn! Vielleicht, das heißt ganz gewiß, hast du schon einmal auf die Praktiken des Buchhändlers geachtet? Partner: Weshalb fragst du mich danach? Dion: Sie wissen ganz genau, daß die alten Bücher gefragter sind, weil sie besser und auf haltbarerem Papier geschrieben sind. Deshalb legen sie die minderwertigen Exemplare aus unserer Zeit in Mehl, damit sie dieselbe Farbe wie die alten Bücher bekommen, verderben sie so auch noch obendrein und verkaufen sie als alt.108
Die ‚weisen Zeitgenossen‘ (οἱ σοφοί) würden über ruhmvolle Themen wie Kyros und Alkibiades reden, während Zeitgenössisches keine Rolle spiele. Dion nimmt dazu die kontradiktorische Gegenposition ein, indem er ein viel diskutiertes Thema der rezenten Vergangenheit zum Gegenstand seiner Reden macht. Erst durch diese Gegenposition wird die sonst allgemein anerkannte Praxis der Vergangenheitsbezüge deutlich, wobei auch Dion sich in der Begründung wieder einer historischen Argumentation bedient. Auf Kyros und Alkibiades im Modus des Tragischen Bezug zu nehmen, erfüllt das angeführte Kriterium entfernter Vergangenheit und wird vor dem Hintergrund der gegenwärtigen römischen Herrschaft und angesichts zeitgenössischer Defizienzerfahrung verständlich. Den Bedarf an historischen Artefakten109 verdeutlicht Dion mit der gängigen Praxis des Fälschens von alten Papyrusrollen, für die es offensichtlich einen Markt gab. Während Dion für die Erweiterung des Vergangenheitswissens auf den rezenten Bereich plädiert, zeigen Plutarch und Pausanias auch ähnliche Tendenzen. Plutarch kritisierte Vergangenheitsbezüge, die im öffentlichen Raum ausschließlich auf die kriegerischen Großtaten der Griechen zielten und möchte stattdessen das Erinnern an den besonnenen Umgang mit ehemaligen Feinden beim Demos stär108 Dion Chrys. or. 21,10 f. 109 Generell sei hier verwiesen auf den römischen Kunstgeschmack, der z. B. korinthische Bronzen bevorzugte. Vgl. Strab. 8,6,23. Sen. de brev. vit. 12. Zum Statuenraub vgl. Ursin 2014a, 63–66.
4.1 Erinnerungskultur im römischen Achaia
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ken.110 Der griechische Freiheitskampf ist hingegen der thematische Schwerpunkt sowohl bei Plutarch als auch bei Pausanias, der genau wie jener auch die Diadochenzeit hervorhebt, damit sie nicht in Vergessenheit gerate.111 4.1.5 Römische Kritik an griechischer Erinnerungskultur Aus der Perspektive römischer Autoren sind Griechen außerordentlich selbstbezogen in Bezug auf ihre Erinnerungskultur. Beispielsweise übt Tacitus am Ende des Nachrufs auf Arminius an der zeitgenössischen Erinnerungskultur Kritik.112 Arminius wird als Befreier Germaniens bezeichnet, der die Römer nicht in ihren schwachen Anfängen, sondern in der Blüte ihrer Macht herausgefordert hatte. Noch in Tacitus’ Zeiten würden ihn die Barbarenvölker besingen, während er den griechischen Geschichtswerken unbekannt sei. Diese würden nur für die Taten des eigenen Volkes Bewunderung finden. Dass diese Kritik nicht ins Leere lief und auch breitere Schichten dem Gedenken an den Freiheitskampf verfallen waren, kann beispielsweise daran beobachtet werden, dass die Megarer „bis auf unsere Tage“ einen Stier am Kenotaph zur Erinnerung ihrer Gefallenen bei Plataiai opferten.113 In Athen feierte man einen ‚neuen Themistokles‘, der die Insel Salamis wieder für die Stadt gewann.114 Noch bei Julian stellten die Argiver angesichts ihres Medismos während der Perserkriege heraus, dass sie die Griechen im Trojanischen Krieg angeführt hatten und um nichts weniger rühmlich als die Athener und Spartaner in den Perserkriegen gekämpft hatten.115 In Senecas De brevitate vitae finden wir eine differenziertere Kritik antiquarisch-historischer Bildung der Griechen als bei Tacitus.116 Für Seneca ist das philosophische Leben in Muße (otium), welches die Lehren und Schriften vergangener Philosophen in die Gegenwart holt, das Ideal.117 Muße sei es allerdings nicht, korinthische Bronzen zu restaurieren oder kleine Knaben in griechischen Ringschulen zu beobachten. Diesen ‚griechischen Lastern‘ stellt Seneca die unnütze Gelehrsamkeit an die Seite,118 die sich von Griechenland kommend mittlerweile auch in Rom breit mache: Wie viele Ruderer hatte Odysseus, ist die Ilias oder die Odyssee früher abgefasst oder stammen beide Werke vom gleichen Dichter?119 Senecas Kritik zielt allerdings eher auf die Zurschaustellung von Gelehrsamkeit im kleineren Kreis als auf die öffentlichen Reden vor einem breiten Publikum. 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119
Plut. praec. ger. reip. 814a–c. Vgl. Kap. 3.4. Paus. 1,6,1. Tac. Ann. 2,88. Tod I2 Nr. 20, Z. 15. Vgl. Spawforth 1994, 243. Spawforth/Walker 1989, 190–193. Entweder unter Augustus oder 61/62 n. Chr. Für das Datum vgl. Jones 1978b. Geagan 1979, 281 Anm. 13. Ps.-Julian Ep. 198,407b–c. Vgl. zum Datum Spawforth 1994, 243. Vgl. Bengtson 1982, 309. Sen. de brev. vit. 14. Oder auch „müßige Betriebsamkeit“ (desidiosa occupatio), Sen. de brev. vit. 12. Sen. de brev. vit. 13. Diese Fragen, still bedacht, würden das Selbstbewusstsein nicht heben, laut geäußert aber lästig werden.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
In Rom würde nun auch Überflüssiges erlernt (supervacua discendi): Dass der erste Sieger in einer Seeschlacht Duilius war, dass Curius Dentatus als Erster Elefanten im Triumph mitgeführt hat, dass Sulla als erster im Circus Löwen aufführen ließ, die vorher immer angekettet waren oder, dass Pompeius als erster im Circus einen Kampf gegen 18 Elefanten zeigte.120 Es lässt sich fragen, was hier der Unterschied zwischen griechischem und römischem Vergangenheitswissen ist. Die gebildeten Griechen interessieren sich in der Darstellung Senecas für Details ihrer Literaturgeschichte, ihre römischen Pendants hingegen einerseits für ihre Militärgeschichte und andererseits für fundierende Vergangenheitsbezüge zu zeitgenössischen Kulturpraktiken (hier: die Spiele im Circus). Letzteres besitzt auch eine Parallele im griechischen Bereich. Philostrat überliefert das Thema einer Rede samt einer Kurzbeschreibung des Sophisten Pollux von Naukratis, in der es um die „Inselbewohner, die ihre Kinder verkaufen mussten um ihre Steuer zu bezahlen“ ging.121 Der Protagonist der Rede ist ein in die Sklaverei verkaufter und kastrierter Sohn eines der Inselbewohner. Der Eunuch erbittet von seinem Vater Daten der griechischen Feste, für die sich der persische Königshof interessiere. Denn das sei das einzige, womit er die Meder, bei denen er gefangen sei, erfreuen könne. Die Rede wurde vor Griechen gehalten, deren Interesse an den fundierenden Vergangenheitsbezügen offensichtlich widergespiegelt wird.122 4.2 GESCHICHTSBILDER UND PERIODISIERUNGEN 4.2.1 Weltalter und goldene Zeit Wie griechische und römische Geschichtsbilder konfligierten wird am Beispiel von Weltalterabfolgen deutlich. Während Hesiods Metallmythos die griechische Vorstellung einer kontinuierlichen Deszendenz geprägt hat, kennzeichnet die römische Vorstellung seit Vergil eine Aszendez bis zu einem gegenwärtigen Goldenen Zeitalter.123 Angesichts der griechischen Defizienzerfahrung in der Hohen Kaiserzeit konfligierte also eine positive mit einer negativen Gegenwartsdeutung. Diesen Konflikt greift Aristides am Schluss seiner Rom-Rede auf und formuliert eine kon-
120 Obwohl bisweilen interessant, bringe solch ‚antiquarisches‘ Wissen keinen Nutzen. Nach diesem Statement ergeht sich Seneca selber in der Präsentation antiquarisch-etymologischen Wissens: als erster Römer bestieg Claudius Caudex ein Schiff, so benannt, weil ein aus Brettern zusammengesetztes Gefüge caudex hieß. Codices waren die öffentlich aufgestellten Gesetzestafeln und die Frachtschiffe des Tibers hießen codicariae. Dieser kurze Exkurs Senecas könnte auch von Aulus Gellius stammen. 121 Philostr. soph. 593. 122 Vgl. weitere Beispiele etwa von Sulla und Piso in Kap. 6.3. 123 Ennius hat die Version vom Exil Saturns/Kronos’ in Italien von Euhemeros übernommen, worauf wiederum Vergil aufbaute. Vgl. Johnston 1978. In der Aeneis (Verg. Aen. 6,791–805) wird Augustus als derjenige dargestellt, der ein neues Goldenes Zeitalter herbeiführe. Bereits in der 4. Ekloge ist bei Vergil davon die Rede, dass ein neugeborener Knabe das eiserne Zeitalter beenden und das goldene anstoßen wird.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
123
fligierende Vereinigung griechischer und römischer Vorstellungen, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Bevor die Griechen ein Bewusstsein einer Weltreichsabfolge zeigen, findet sich bereits bei Hesiod im Metall-Mythos eine Weltalterabfolge im Sinne einer Abfolge von Menschengeschlechtern.124 Später wurde Hesiods Periodisierung zur Bewertung historischer Abläufe herangezogen,125 indem man sein Degenerations- und Perversionsmotiv über die Genealogie seiner Geschlechter stellte. Das Perversionsmotiv bezeichnet dabei die Auflösung familiärer und gesellschaftlicher Ordnungen als ein Symptom von Endzeitprophezeiungen.126 Degeneration hingegen zeigt sich darin, dass alle Dinge, Feldfrüchte und Menschen in der Frühzeit größer waren als sie es in der Gegenwart sind. Degeneration und Perversion verbindet die lineare Depravation, die letztlich in die Apokalypse führt. Platon,127 Arat,128 Cicero129 und Ovid130 sahen wohl nicht unmittelbar das Ende der Welt gekommen, konnten aber mit Hilfe des Metallmythos Gegenwartskritik betreiben. Schon Hesiod setzte die Vergangenheit in Relation zur Gegenwart, bleibt beim drohenden Weltuntergang aber im Futur. Ovid ersetzt die Futura Hesiods jedoch durch das Praesens, womit innerhalb des Perversionsmotivs des ehernen Geschlechts unmittelbar Gegenwartskritik betrieben wird.131 Auffällig ist, dass das goldene Geschlecht schon bei Hesiod kontrapräsentisch charakterisiert wird, indem ihm das Fehlen negativer Gegenwartserscheinungen zugeschrieben wird.132 In der gleichen Weise charakterisiert auch Ovid das goldene Zeitalter.133 Gatz bemerkt dazu: 124 Hes. Op. 106–201. Vgl. dazu Gatz 1967, 104. Ausgenommen das goldene und silberne Geschlecht (Weltalter) spiegelt Hesiods Periodisierung der Geschichte deren tatsächlichen Verlauf wider (Bronze- und Eisenzeit). 125 Gatz 1967, 105. 126 Hes. Op. 182–196. Vgl. Gatz 1967, 21 f. 127 Platon Crat. 397e–398b. Rep. 415. 468e. 547. Platon zitiert außer in Rep. 415 ausdrücklich Hesiod als Quelle für den Metallmythos. 128 Aratos von Soloi war der Verfasser des astronomischen Lehrgedichts Phainomena, vgl. letzte Ausgabe von Martin 1998 und die zweisprachige Ausgabe von Erren 2009. Das goldene Geschlecht z. B. in Arat. 114 ohne Hesiod zu zitieren. Vgl. Gatz 1967, 58 f.: „Arat steht in derselben engen Nachfolge Hesiods wie Platon, nur dass das Vorbild nicht im Zitat und in der persönlichen Berufung, sondern in der sachlichen Beziehung sichtbar wird.“ 129 Cicero hatte die Phainomena Arats wortgetreu übersetzt, vgl. Cic. de nat. deor. 1,104. Ebenfalls eine lateinische Übertragung hatte Germanicus angefertigt (Aratea des Germanicus, Text ebenfalls bei Erren 2009). 130 Ov. Met. 1,89 ff. 131 Gatz 1967, 72: „Es gibt kein ovidisches Werk, wo die Sage (vom Goldenen Zeitalter, Anm. FU) nicht in irgendeiner Form begegnet, aber an keiner Stelle spricht Ovid von einer Wiederkehr der goldenen Zeit. Das ist um so auffälliger, als der Goldaltermythos im kaiserzeitlichen Rom fast ausschließlich nur noch unter diesem Blickpunkt verstanden wurde. Was ließe sich anderes daraus schließen, als dass sich auf diese Weise ein Unbehagen Ovids an der eigenen Zeit ausdrückt? Zwar gibt es auch Stellen, an denen Ovid seine Zeit bejaht, aber dann ist es immer die Bejahung der Kultur und des Lebensstandards, niemals sozialer, moralischer oder politischer Verhältnisse. Bei vorsichtiger Beurteilung wird man also den Ausführungen über die eiserne Zeit ein persönliches Engagement des Dichters nicht ganz absprechen können.“ 132 Hes. Op. 90–93. 225–237. 133 Ovid Met. 1,89–112.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart Sie sind Verneinungen der gegenwärtigen Lebenssphäre. Die Vorzeit kann nicht aus sich selbst verstanden werden, kann nicht autonomer Begriff sein. Sie erhält ihre Farben durch den Kontrast zur Gegenwart. Es zeigt sich immer wieder, wie fremd die allmähliche Stufendekadenz der antiken Vorstellungsweise ist. Die antithetische Sicht von vollkommener Urzeit und unvollkommener Gegenwart ist so fest gegründet, dass sie selbst in Zeiten differenzierten Denkens nie ganz verleugnet werden konnte.134
Eine ‚allmähliche Stufendekadenz‘ finde man deswegen nicht, weil die Abfolge der Geschlechter im Metallmythos sich jeweils im Kontrapunkt bzw. unkomplizierten Gegensatz verhält und nicht „vom motivischen Aspekt her gesehen [… eine] mehrgliedrige Kontinuität vorhanden [ist].“135 Nach Hesiod erstarrte der Metallmythos zusehends, indem die Mittelglieder ohne Funktion nur noch aufgezählt wurden und zuletzt allein die Polarität der Rahmenstufen erhalten blieb.136 Juvenal transzendiert das Deutungsmuster der Metalle als Deszendenz sogar insofern er sagt, dass für die Gegenwart als neuntem Zeitalter gar kein Metall mehr verfügbar sei.137 Lukian lässt den Saturnpriester in seinen Saturnalischen Briefen feststellen, dass die Menschen einst aus Gold bestanden hätten, die gegenwärtigen aber nicht einmal aus Blei.138 Es muss unterschieden werden zwischen dem paradiesischen ‚Kronosleben‘, wie es Lukian in den Saturnalien zeichnet, und dem Metallmythos, der nach Hesiod ausschließlich als bewertendes Deutungsmuster gebraucht wurde.139 Nach der Säkularisierung des Gold-Eisen-Gegensatzes werden damit u. a. Kaiser charakterisiert oder miteinander verglichen.140 Gleichwohl findet sich die Rede vom Goldenen Zeitalter auch in der Herrscherpanegyrik, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Eine Besonderheit findet sich in der Historiographie, die an sich nur die Abfolge von Weltreichen und nicht von Lebensaltern kennt. Florus legt ein Lebensalterschema141 zugrunde und bezeichnet sein drittes Lebensalter, die Zeit der römischen Expansion bis zur Zerstörung Karthagos, als aurei anni, die Zeit danach als ferrei anni,142 worin deutlich wird, dass das Weltalterschema zur Bewertung und nicht zur Periodisierung benutzt wurde. Es kann festgehalten werden, dass das gegenwartskritische Potenzial von Weltalter- und Geschlechterabfolgen hoch ist. Dass das goldene Zeitalter wiederkehren würde, findet sich das erste Mal bei Vergil in der 4. Ekloge, wenn ultima aetas wirklich das vielleicht zehnte Zeitalter
134 135 136 137 138 139 140 141 142
Gatz 1967, 74. Gatz 1967, 75. Gatz 1967, 83. Iuv. Sat. 13,28. Gatz 1967, 84: die antike Metallliste enthielt nur acht Metalle (Gold, Silber, Elektron, Bronze, Kupfer, Zinn, Blei und Eisen). Lukian. ep. Sat. 20. Gatz 1967, 201 f. Tiberius (Suet. Tib. 59). Mark Aurel mit Commodus (Cass. Dio 72,36,4); Diokletian mit Maximian (SHA Heliog. 35,2 ff.); Konstantin mit Nero (Sidonius Apollinaris ep. 5,8,2). Flor. 1 prooem. 4–8. Nach Gatz 1967, 109 war Cato der erste Römer, der auf die römische Republik vier Lebensalter anwandte (Cic. de rep. 2,2). Seneca kannte wohl fünf oder sechs Lebensalter (Lact. div. inst. 7,15-14-16), Ammianus Marcellinus sechs (Amm. Marc. 14,6,4). Flor. 1,34,18 und 1,47. Vgl. Gatz 1967, 86. 105.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
125
nach sibyllinischer Vorstellung ist.143 Seitdem ist das Goldene Zeitalter ein vertrautes Motiv in der römischen Herrscherpanegyrik.144 Hadrian hatte 121 n. Chr. ein saeculum aureum verkündet, was sich in den Münzlegenden auch widerspiegelt.145 Klein glaubt, dass Aristides darauf Bezug nimmt im vorletzten Paragraphen der Romrede, wo er Homer und Hesiod zitiert.146 δοκεῖ δέ μοι καὶ Ἡσίοδος, εἰ ὁμοίως Ὁμήρῳ τέλειος ἦν τὰ ποιητικὰ καὶ μαντικὸς, ὥσπερ ἐκεῖνος οὐκ ἠγνόησε τὴν ὑμετέραν ἀρχὴν ἐσομένην, ἀλλὰ προεῖδε καὶ ἀνεφθέγξατο ἐν τοῖς ἔπεσιν, οὕτως καὶ αὐτὸς οὐκ ἂν ὥσπερ νῦν ἀπὸ χρυσοῦ γένους ἄρξασθαι γενεαλογῶν, οὐδ’ εἰ δὴ ταύτην ἀρχὴν ἐνεστήσατο, περί γε τοῦ τελευταίου καὶ σιδηροῦ γένους διαλεγόμενος τοῦτον ἂν αὐτοῦ φάναι γενέσθαι τὸν ὄλεθρον, Εὖτ’ ἂν γεινόμενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν, ἀλλ’ ἡνίκα ἂν ἡ ὑμετέρα προστασία τε καὶ ἀρχὴ καταστῇ, τότ’ ἂν φάναι φθαρῆναι τὸ σιδηροῦν φῦλον ἐν τῇ γῇ, καὶ Δίκῃ δὲ καὶ Αἰδοῖ τότ’ ἂν ἀποδοθῆναι κάθοδον εἰς ἀνθρώπους, καὶ οἰκτεῖραι τοὺς πρὸ ὑμῶν γενομένους. Wenn Hesiod ein ebenso vollkommener Dichter und Seher gewesen wäre wie Homer – dieser wusste sehr wohl, dass euer Reich einst kommen werde, ja er ahnte es voraus und prophezeite es in Versen –,147 so hätte er, wie mir scheint, bei der Aufzählung der Geschlechter nicht mit dem goldenen Geschlecht angefangen, wie er es tatsächlich tut. Er hätte auch nicht, nachdem er damit begonnen hatte, bei der Behandlung des letzten, des eisernen Geschlechtes, erklärt, dass dieses dann untergehen werde, wenn Menschen mit grauen Schläfen zur Welt kämen. Vielmehr hätte er gesagt, erst dann, wenn eure Führung und eure Herrschaft vorhanden seien, werde das eiserne Geschlecht auf der Erde vernichtet, und erst dann hätte er der Gerechtigkeit sowie der Scham die Rückkehr zu den Menschen gestattet. Er hätte deshalb die bedauert, welche vor eurer Zeit geboren wurden.148
Die von Aristides vorgenommenen Umdeutungen sind für einen Griechen exzeptionell und deuten darauf hin, dass Aristides die griechischen Vorstellungen gewaltsam mit den römischen zu verbinden sucht. Wenn Aristides sagt, dass vor Zeus’ Herrschaft Stasis, Thorybos und Ataxia geherrscht habe, widerspricht dies der 143 Gatz 1967, 90. 95. Vgl. Orac. Sibyll. 3,158–161 (2. oder ausgehendes 1. Jh. v. Chr.): (Kronos), Ägypten, Persien, Medien, Aithiopien, Assyrien, Makedonien, Ägypten, Rom (,Messianisches Reich‘). Hingegen im 4. Buch der Sibyllinischen Weissagungen liegt das Vier-Reiche-Schema zugrunde (abgeschlossen um 80 n. Chr.), vgl. auch Wiesehöfer/Rollinger 2012, 84. 144 Calpurnius Siculus preist als Anhänger Neros die Gegenwart als aurea aetas (Calp. ecl. 1,36– 88). Vgl. dazu die vermutliche Parodie der ebenfalls aus neronischer Zeit stammenden Carmina Einsidlensia (2) und Sen. Apocol. 4,1. Cass. Dio 73,15,6 und SHA Comm. 14,3 zu Commodus. Eumenius (Pan. 9,18,5 Nixon/Rodgers) anlässlich der Wiederherstellung der Rhetorenschule von Augustodonum 297/298 n. Chr.: Adeo, ut res est, aurea illa saecula, quae non diu quondam Saturno rege viguerunt, nunc aeternis auspiciis Iovis et Herculis renascuntur. („Daher wird dieses gar goldene Zeitalter, das einstmals unter Saturns Herrschaft kurz aufblühte, jetzt unter der unsterblichen Führung des Jupiter und des Herkules wiedergeboren.“). Vgl. Nicholson 1984, 266: „The Golden Age was a recurrent leitmotif of the Tetrarchs’ publicity.“. 145 Strack 1933, 105 ff. 178 ff. Vgl. Bellen 1997. 146 Klein 1983, 120 f. Anm. 145. Vgl. auch Klein 1995. 147 Aristides spielt an auf Hom. Il. 20,307 f. 148 Aristeid. or. 26,106.
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Vorstellung wonach zuvor Kronos seine Segensherrschaft ausgeübt hatte. Dass die Römer mit ihrem Eintritt in die Weltgeschichte Ordnung gestiftet hätten,149 steht griechischen Vorstellungen kontradiktorisch entgegen. Aristides markiert seine Umdeutung des hesiodschen Mythos sprachlich als die Invertierung griechischer Vorstellungen: Der Mythos müsse heute lauten, dass erst mit der Herrschaft der Römer das eiserne Geschlecht besiegt und somit das goldene aufgetreten sei, sodass alle zu bedauern seien, die vor der römischen Herrschaft gelebt hätten. Es ist offensichtlich, dass Aristides nicht nur den Metallmythos schlicht umkehrt, sondern sich bewusst ist, dass er mit Degeneration und Perversion verbunden worden war. Das von ihm vorher in der Rom-Rede gezeichnete Bild seiner Gegenwart wäre damit überhaupt nicht in Übereinstimmung zu bringen. Aristides verortet das Goldene Zeitalter gemäß der offiziellen römischen Deutung in der Gegenwart, was den Gegensatz zu griechischen Deszendenzvorstellungen darstellt. Die Römer hatten seit Augustus aus dem hesiodischen goldenen Geschlecht ein goldenes Zeitalter geformt, das in der Gegenwart zu finden war.150 Insofern wird am Ende von Aristides’ Rom-Rede die dezidiert römisch-kaiserzeitliche Vorstellung vom Verlauf der Geschichte, nämlich nicht als Deszendenz, sondern als Aszendenz sichtbar. Das erklärt, warum Hesiod mit seiner griechischen Vorstellung von Aristides angesichts seiner römischen Adressaten kritisiert und gegen Homer abgehoben wird, der der römischen Vorstellung von einer Verbindung der Stadt mit Aeneas viel näherlag. In anderen griechischen Texten dieser Zeit findet sich weder diese Deutung noch die römische Vorstellung vom gegenwärtigen goldenen Zeitalter. 4.2.2 Weltreichslisten Daraus, welchen Platz sich die Griechen innerhalb der antiken Weltgeschichte gegeben haben und wie sie sich angesichts weitaus größerer und länger währender Weltreiche zwischen diesen eingeordnet haben,151 lässt sich ableiten, wie sie sich 149 Aristeid. or. 26,103: ἀτεχνῶς δὲ, ὥσπερ οἱ ποιηταὶ λέγουσι, πρὸ τῆς Διὸς ἀρχῆς ἅπαντα στάσεως καὶ θορύβου καὶ ἀταξίας εἶναι μεστὰ, ἐλθόντος δὲ ἐπὶ τὴν ἀρχὴν Διὸς πάντα δὴ καταστῆναι, καὶ τοὺς Τιτᾶνας εἰς τοὺς κατωτάτους μυχοὺς τῆς γῆς ἀπελθεῖν, συνωσθέντας ὑπ' αὐτοῦ τε καὶ τῶν σὺν αὐτῷ θεῶν, οὕτως ἄν τις καὶ περὶ τῶν πρὸ ὑμῶν τε καὶ ἐφ' ὑμῶν πραγμάτων λογιζόμενος ὑπολάβοι, ὡς πρὸ μὲν τῆς ὑμετέρας ἀρχῆς ἄνω καὶ κάτω συνετετάρακτο καὶ εἰκῆ ἐφέρετο, ἐπιστάντων δὲ ὑμῶν ταραχαὶ καὶ στάσεις ἔληξαν, τάξις δὲ πάντων καὶ φῶς λαμπρὸν εἰσῆλθε βίου καὶ πολιτείας, νόμοι τε ἐξεφάνησαν καὶ θεῶν βωμοὶ πίστιν ἔλαβον. („Vor der Herrschaft des Zeus war, gerade wie die Dichter sagen, alles erfüllt von Aufruhr, Unruhe und Unordnung, als Zeus jedoch an die Macht gelangte, trat überall Ruhe ein, und die Titanen suchten die untersten Winkel der Erde auf, nachdem sie alle von ihm und den Göttern auf seiner Seite vertrieben worden waren. So könnte einer, der die Welt vor und zu eurer Zeit betrachtet, zur Überzeugung kommen, dass vor eurer Herrschaft das Unterste zu oberst gekehrt war und alles in blindem Zufall sich bewegte, seit eurem Auftreten aber Verwirrung und Aufruhr ein Ende fanden. Überall kehrte Ordnung ein und helles Licht im Leben und im Staat, Gesetze kamen auf und den Altären der Götter vertraute man sich an.“). 150 Gatz 1967, 206. 151 Die Weltreichslisten vor allem von Polybios und Dionysios werden diskutiert von AlonsoNúñez 1983. Außerdem Weißenberger 2002 unter Hinzunahme von Appian, dem sich außer-
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
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ins Verhältnis zur zeitgenössischen römischen Herrschaft setzten. Denkbar ist ein Spektrum zwischen marginalen und selbstbewussten Positionen. Um das paradoxe Ergebnis hinsichtlich der Griechen vorweg zu nehmen: Die meisten Autoren marginalisieren die Rolle der Griechen im Kontext anderer Weltreiche, was nicht verwundert aufgrund der geringen Bedeutung griechischer Hegemonien angesichts ungleich länger währender und viel größerer antiker Weltreiche. Angesicht eines mit ‚Anspruch auf Ewigkeit‘152 auftretendem Imperium Romanum werden die Griechen zu einer welthistorischen Miniatur. Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass die meisten Texte zu Weltreichsabfolgen dennoch die Griechen in ihren Listen führen und deren Rolle innerhalb der antiken Weltgeschichte jeweils kommentieren. Begründenswert erscheint den meisten Autoren, warum die Griechen nicht unter die Weltreiche zu zählen sind. Das deutet darauf hin, dass der selbstbewusste Umgang der Griechen mit ihrer eigenen Vergangenheit Reaktionen seitens der Römer provozierte und Fragen nach ihrer historischen Bedeutung aufwarf. Im Folgenden werden die Vorstellungen von Weltreichsabfolgen in der griechischen Literatur der Hohen Kaiserzeit beschrieben und mit dem Fokus auf die Stellung der Griechen innerhalb dieser Weltreichsabfolgen analysiert. Zuvor ist ein Rückblick auf die vorrömischen griechischen Vorstellungen von der Abfolge der Weltreiche angezeigt, um herauszuarbeiten, worauf die kaiserzeitlichen Griechen aufbauten oder wovon sie sich abgrenzten. Die bei Herodot zu findende klassische Abfolge dreier Weltreiche (Assyrien, Medien, Persien)153 wird von Demetrios von Phaleron in der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. um die Makedonen ergänzt.154 Polybios stand vor der Herausforderung, die klassische Weltreichsliste mit der römischen Gegenwart in Einklang zu bringen. Vor dem Hintergrund seiner Vorgänger Herodot und Ktesias fügt Polybios Rom in die Abfolge der orientalischen und makedonischen Weltreiche ein.155 Weder wendet Polybios wirtschaftliche oder soziale Kriterien an, noch fügt er das Imperium Romanum einfach als fünftes Element den vier vorangehenden Weltreichen an. Polybios entwickelt eine eigene Konzeption, wonach ein Weltreich den bekannten geographischen Raum beherrschen muss, um als solches zu gelten; d. h. Rom wird als eine absolute Macht
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dem Pabst 2010, 131–135 widmet. Die Deutung vom Traum des Nebukadnezar durch den Propheten Daniel (AT Dan. 2,31–45) spielt hier insofern keine Rolle als die Vier-Reiche-Abfolge Griechen und Römer im hier untersuchten Zeitraum nicht beeinflusst hat. Allgemein zu den Weltreichsvorstellungen der Antike Schwabl 1978. Gatz 1967. Goez 1958, 4–36 und 148. Alonso-Núñez 1983, 425 f. betont, dass die Weltaltervorstellung in der Tradition eines Hesiod, die Vorstellung von einem goldenen Zeitalter und die Weltreichsabfolgen jeweils scharf voneinander zu trennen sind. Zu Roma aeterna grundlegend Paschoud 1967. Andrés Pérez 2011 darüber, wie sich die Idee von Roma aeterna über die Provinzen verbreitete. Mols 2003 speziell über die Zeit Hadrians. Alonso-Núñez 1993 zur Spätantike. Vgl. außerdem Caínzos/Dolores 1998. Hdt. 1,95. 130. Dem folgt auch Ktesias (FGrHist 688 F 1. 5), vgl. Wiesehöfer/Rollinger 2012, 81 f. Polyb. 29,21. Alonso-Núñez 1983, 425.
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konstruiert, die Land und See kontrolliert.156 Die Meder und Assyrer werden bei ihm überhaupt nicht genannt. Die Perser kamen aus seiner griechischen Perspektive mit ihrer Herrschaft nicht über Asien hinaus. Die Spartaner beherrschten lediglich für zwölf Jahre Griechenland und die Makedonen kannten die Völker Westeuropas überhaupt nicht.157 Im römischen Bereich ist der früheste Hinweis auf eine Abfolge von fünf Weltreichen bei Aemilius Sura zu finden (als Fragment im Geschichtswerk des Velleius Paterculus).158 Kanonisch war seitdem die Weltreichsabfolge: Assyrer, Meder, Perser, Makedonen und schließlich Rom, wobei man die Punischen Kriege überging und sich direkt an die hellenistischen Herrscher anschloss. Die Fünferfolge ist zu finden bei Dionysios, Trogus, Tacitus, Appian, Aelius Aristides bis hin zu Claudian und Rutilius Namatianus.159 Für die Griechen ist in dieser Weltreichsabfolge kein Platz vorgesehen. Das Lemma Ἀσσύριοι in der Suda bietet eine Synopse der antiken Weltreichsabfolgen und fasst die geläufigen Vorstellungen zusammen: Die Fünferfolge unter Ausschluss der Griechen (Athener, Lakedaimonier, Thebaner), Diadochen und Karthager.160 Die Übernahme des Territoriums der Vorgängerreiche bildet hier das Kontinuitätskriterium. Der Autor der Suda führt aus, dass die Griechen es nicht wert seien in der Reihe der Weltreiche erwähnt zu werden, da sie entweder sehr kurz oder nur über einen kleinen geographischen Bereich geherrscht haben. Bemerkenswert ist, dass dies extra hervorgehoben wird, da der Ausschluss der Griechen aus den Weltreichslisten offensichtlich Fragen nach deren Verbleib produzierte. Wie der Wechsel der hegemonialen Weltreiche vonstattenging, entscheidet mithin auch über die Anzahl der Weltreiche. Wenn in Plutarchs161 Konzeption die Tyche ihren wechselnden Wohnsitz bei unterschiedlichen Völkern nimmt, wird die Weltreichsabfolge zu einer Liste unverbundener Glieder. Bei Pompeius Trogus ist indes die Herrschaftsabfolge besonders ausgeprägt als translatio impe156 Polyb. 1,2,5 und 7 spricht von der Herrschaft über ‚fast die ganze Oikumene‘, was jedoch im 2. Jh. stark übertrieben ist, aber für das Konzept der Weltherrschaft behauptet werden muss, vgl. Weißenberger 2002, 265. App. praef. 5 (18) ist hingegen bewusst, dass Rom nicht über die gesamte Oikumene herrscht, sondern dass es noch bewohnte Gebiete außerhalb des Imperium Romanum gibt. Jedoch beschränke sich Rom auf die Herrschaft über den besten Teil. 157 Polyb. 1,2,2–7. Zur Stelle Walbank 1999, 40–42. Alonso-Núñez 1983, 412 f. und bereits Kaibel 1885, der die Abhängigkeit des Aristides und Appian von Polybios betont. Dass Theben und Athen ausgeschlossen sind erklärt sich wohl einerseits durch Polybios’ persönliche Beziehung zu Achaia und andererseits durch das hellenistische Konzept einer totalen Macht, die sowohl zu Lande als auch zu Wasser herrscht, was lediglich für 12 Jahre für Sparta zutreffe, vgl. Ferrary 1976, 283–289. Demnach war auch Karthago ausgeschlossen, weil es lediglich eine Seemacht war. 158 Vgl. Vell. Pat. 1,6,6. Sura wird datiert zwischen den römischen Siegen über Antiochus III. von Syrien (190 v. Chr. bei Magnesia am Sipylos) und Perseus von Makedonien (168 v. Chr. bei Pydna), vgl. Schumacher 2000, 280. 159 Dion. Hal. ant. 1,2,2–3,5. Iust. 41,1. Tac. hist. 5,8, App. praef. 9 (34 f.), Aristeid. or. 1,335. 26,91. Claud. Stil. 3,159–166. Rut. Nam. 1,81–92. 160 Suda s. v. Ἀσσύριοι. Vgl. auch ebd. s. v. Ῥωμαίων ἀρχή, wo die Römer die Reiche der Assyrer, Perser und Makedonen (ohne Meder) beerbten. 161 Plut. de fort. Rom. 317 f.
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rii.162 Alexander beerbte demnach die Großreiche der Assyrer, Meder und Perser und fügte dem imperium Europae das imperium Asiae hinzu.163 Damit war er als erster rex terrarum omnium et mundi.164 Die Römer und Parther beerbten letztlich das imperium Macedonicum und teilten den Erdkreis.165 Im Gegensatz zu der Konzeption absoluter Weltmacht bei Polybios oder bei Trogus’ Zeitgenossen Dionysios ist hier Rom lediglich eine relative Weltmacht, d. h. Rom herrscht im Westen und die Parther im Osten.166 Dies konterkariert Roms Weltherrschaftsanspruch und entfaltet weitaus kritischere Deutungsmöglichkeiten im Sinne diskursiven Widerstandes. Dionysios von Halikarnassos stellt einen Weltreichs-Vergleich an, um die historische Rolle der Römer zu verdeutlichen.167 Dabei wird bei den Vorgängerreichen immer ein charakteristisches Defizit in den Vordergrund gestellt: Die Assyrer hatten nur einen kleinen Teil von Asien in Besitz. Das Reich der Meder dauerte danach nicht lange. Die Perser wurden Herren von ganz Asia, doch als sie die Völker Europas angriffen, konnten sie sie nicht erobern und herrschten nur 200 Jahre. Die Makedonen übertrafen alle ihre Vorgänger an Macht, die jeweils den eigenen Vorgänger besiegt hatten. Mit dem Tode Alexanders begann aber sofort ihr Niedergang. Obwohl die Diadochen ihre jeweiligen Reiche über Generationen weitergaben, wurden diese immer schwächer bis sie von den Römern beseitigt wurden. Noch nicht einmal die Makedonen unterwarfen alle Länder.168 Sie waren weder in Libyen – außer dem kleinen Stück Ägypten – noch in ganz Europa, im Norden herrschten sie bis Thrakien, im Westen bis zur Adria. Die griechischen Mächte seien nach Dionysios mit den oben aufgezählten überhaupt nicht vergleichbar, weil sie weder die Größe der Herrschaft noch die Dauer mit ihnen teilten.169 Die Athener beherrschten nur die Küste über 68 Jahre,170 die Lakedaimonier waren Herren der Peloponnes und des Restes von Griechenland bis Makedonien. Sie wurden jedoch von den Thebanern nach 30 Jahren gestoppt. Nachdem Rom die Karthager und Makedonen besiegt hatte, gab es keine rivalisierende barbarische oder griechische Macht mehr.171 Bei Dionysios bilden die Griechen der klassischen Zeit kein Weltreich, werden marginalisiert aber in der Liste der Weltreiche trotzdem diskutiert. Es kann gefolgert werden, dass sich ein Weltreich wie das Römische der Gegenwart in der Konzeption des Dionysios durch Größe, Dauer und Durchsetzungskraft gegenüber seinen vorherigen Konkurrenten auszeichnet. Von gegenwärtigen Konkurrenten ist bei Dionysios im Gegensatz zu Trogus nicht die Rede. Obwohl die Zerstörung Korinths nicht erwähnt wird, setzt 162 Vgl. Goez 1958, 3 definiert die translatio imperii folgendermaßen: „Einem Volke wird die Vormacht genommen und einem anderen gegeben.“ 163 Iust. 12,16,5. 11,14,6. 164 Iust. 12,16,9. 165 Iust. 41,1,1: divisio orbis. 166 Alonso-Núñez 1983, 426. 167 Dion. Hal. ant. 1,2,2–3,5. Dazu Alonso-Núñez 1983, 413–415. 168 Dion. Hal. ant. 1,2,4. 169 Dion. Hal. ant. 1,3,1. 170 Dion. Hal. ant. 1,3,2. 171 Dion. Hal. ant. 1,3,5.
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Dionysios mit dem römischen Sieg über Karthago und die Makedonen in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. (wohl Pydna 168 v. Chr.) den Punkt, an dem Rom keine ebenbürtigen griechischen Gegner mehr gehabt habe. Ob er dies auch als Endpunkt griechischer Geschichte angesehen hat, wäre zu überdenken. Im Gegensatz zu Dionysios erwähnt Plutarch in De fortuna Romanorum die Griechen nicht, wenn er die Weltreiche vor den Römern aufzählt. Die Glieder der Aufzählung und die Metaphorik einer geflügelten und umherfliegenden Tyche sind bei ihm im Vergleich zu allen anderen Weltreichsabfolgen eigentümlich. Demnach flog die Tyche von Assyrien und Persien aus rasch über Makedonien, ging durch Ägypten und Syrien und oftmals umkehrend über Karthago bis sie auf dem Palatin heimisch wurde.172 Dort legte sie die Flügel ab, zog die Schuhe aus und stieg von ihrer als trügerisch und unstet charakterisierten Kugel herab.173 Plutarch ordnet der Tyche des Weiteren das Horn der Amaltheia zu, was mit anderen Darstellungen übereinstimmt. Bei Galen wird die Tyche indessen mit verbundenen Augen dargestellt, einem Ruder in der Hand und den Füßen auf einem runden Sockel, was ihre Unbeständigkeit symbolisiert.174 Die Tyche als Daimon ist nach Galen wankelmütig und unverständig, geht an verdienten Menschen vorüber und macht diejenigen reich (aber auch nicht für immer), die es nicht verdient haben. Dion Chrysostomos diskutiert ebenfalls die Attribute der Tyche: Einmal sei sie auf Messers Schneide dargestellt (ἐπὶ ξυροῦ ἔστησαν), ein andermal auf einer Kugel (ἐπὶ σφαίρας), mit einem Ruder oder Paddel (πηδάλιον) und dem Horn der Amaltheia.175 Die Kugel deutet Dion dahingehend, dass das Göttliche immer in Bewegung ist und er verwahrt sich im Gegensatz zu Galen dagegen, dass die Tyche auch etwas Schlechtes brächte. In diesem Deutungsspektrum bewegt sich auch Plutarchs unberechenbare – weil auf einer Kugel stehenden – Tyche. Geflügelt sind indessen weder Galens noch Dions Tyche im Gegensatz zu der Plutarchs. Jäger hat beobachtet, dass für die hellenistische Zeit eine geflügelte Tyche nicht direkt nachgewiesen werden kann und, dass sich Plutarch wohl auf Darstellungen Pindars bezieht, den er im Anschluss an die Schilderung der Tychewanderung zitiert.176 Es mag zu einer Übertragung des geflügelten Niketyps auf die Tyche gekommen sein (Τύχη νικηφόρος), derer sich Plutarch hier bedient, da sich auf den Münzen des 1. Jh. n. Chr. ausschließlich geflügelte Darstellungen der Victoria/Nike finden lassen, jedoch keine der Fortuna/Tyche. Jäger sieht daher in der ihre Flügel ablegenden Tyche Plutarchs eine Fortuna Manens.177 172 Plut. de fort. Rom. 317f–318a: τῷ δὲ Παλατίῳ προσερχομένη καὶ διαβαίνουσα τὸν Θύμβριν ὡς ἔοικεν έθηκε τὰς πτέρυγας, ἐξέβη τῶν πεδίλων, ἀπέλιπε τὴν ἄπιστον καὶ παλίμβολον σφαῖραν. οὕτως εἰσῆλθεν εἰς Ῥώμην ὡς μενοῦσα καὶ τοιαύτη πάρεστιν [ὡς] ἐπὶ τὴν δίκην. („Darauf [hat die Tyche sich, Anm. FU] dem Palatium genähert und ist über den Tiber geschritten, hat die Flügel abgelegt, die Schuhe ausgezogen, und die unzuverlässige und stets sich wendende Kugel verlassen. So ist sie in Rom eingezogen um zu bleiben und Recht zu sprechen.“). 173 Vgl. Hor. carm. 1,34. Dion Chrys. or. 63. 174 Gal. Protrept. 2 = 1,1,3 Kühn = CMG 5,1,1,2. 175 Dion Chrys. or. 63,7. 176 Jaeger 1913, 447. Plut. de fort. rom. 318a. Pindar fr. 39–41 Christ = Poet. Lyr. Graec. 1,382 Bergk. 177 Jaeger 1913, 447.
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Anders als alle anderen Autoren übergeht Plutarch die Meder (nur Polybios verschweigt auch die Meder) und differenziert unter den Diadochen Ägypter und Syrer. Karthago wird außer bei Plutarch und Orosius nur bei Dionysios noch erwähnt, dort aber als Weltreich nicht anerkannt.178 Plutarchs Weltreichsabfolge ist neben der eigentümlich Darstellung der Tyche/Nike damit singulär, wobei sich die größte Deckung noch mit Dionysios ergibt. Bei Dion Chrysostomos finden wir lediglich im Rahmen einer Tryphe-Debatte eine Folge von Weltreichen, die – durch das Thema bedingt – die Lyder mit umfasst und bis zu den Makedonen reicht.179 Aufgrund ihrer üppigen Lebensweise seien die Lyder, Assyrer, Meder und schließlich die Makedonen untergegangen. Den Luxus der Römer kommentiert er hier nicht; wohl aber in or. 13. Dort will er die Römer zum Verzicht auf Gold, Silber, Elfenbein, Leckereien, Parfüm und Liebeslust erziehen. All dies brauche man nach einer griechischen Erziehung nicht mehr: τότε γάρ […] ἔσται ὑμῶν ἡ πόλις μεγάλη καὶ ἰσχυρὰ καὶ ἄρχουσα κατ’ ἀλήθειαν· ὡς τό γε νῦν τὸ μέγεθος αὐτῆς ὕποπτον καὶ οὐ πάνυ ἀσφαλές. ὅσῳ γὰρ ἄν […] πλείων ἥ τε ἀνδρεία καὶ ἡ δικαιοσύνη καὶ ἡ σωφροσύνη γίγνηται παρ’ ὑμῖν, τοσούτῳ ἔλαττον ἔσται τό τε ἀργύριον καὶ τὸ χρυσίον […]· […] dann erst […] ist eure Stadt groß und mächtig und in Wahrheit eine Herrscherin, denn ihre jetzige Größe ist verdächtig und keineswegs festgegründet. Je mehr Tapferkeit, Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung bei euch gelten, desto weniger Silber und Gold wird es geben.180
Die Behauptung der unsicheren (ἀσφαλές) Begründung der römischen Herrschaft durch Dion Chrysostomos kritisiert diese Herrschaft zwar im Rahmen einer Weltreichsabfolge, sie bezieht sich jedoch auch auf rezente Beobachtungen innerhalb der Tryphe-Debatte während Plutarchs Geschichtsbild einer unsteten Tyche Kritik im Modus des Vergangenheitsbezugs äußert. Im Panathenaïkos nennt Aristides fünf Weltreiche,181 die er als βασιλείαι bezeichnet, derer nicht mehr werden sollen (μὴ γένοιτο δὲ πλειόνων).182 Nur das der Assyrer nennt er beim Namen, die anderen nummeriert er und bespricht jeweils Athens Rolle in ihnen. All das Göttliche Betreffende gehört demnach unter die Assyrer, unter dem zweiten Weltreich wuchs Athen (Meder), das Dritte eroberte die Stadt vollständig (die Perser) und während des Vierten war sie die einzige, die Widerstand leistete (gegen die Makedonen): Ihr Ende war darin das Beste, verglichen mit allen anderen. In dem jetzigen Weltreich, dem besten und größten, genieße Athen den Vorrang vor allem anderen Griechischen in einem Maße, „dass man sich nicht leichtfertig das Alte anstatt dem Gegenwärtigen wünschen würde.“183 Aris178 Orosius bietet eine, gemessen am hier präsentierten Befund, ebenfalls eigentümliche Weltreichsabfolge von Assyrern, Makedonen, Karthagern und Römern. Vgl. Alonso-Núñez 1993. 179 Dion Chrys. or. 33,26. Vgl. außerdem die düstere Analyse des Machtverfalls der Makedonen in or. 33,36, was vom zeitgenössischen Hörer der Rede ohne Weiteres auf die gegenwärtigen Römer applizierbar wäre. 180 Dion Chrys. or. 13,34. 181 Vgl. Oliver 1968, 143. 182 Aristeid. or. 1,335. 183 Aristeid. or. 1,335: τούτων δ' ἐπὶ μὲν τῆς Ἀσσυρίων τῆς πρεσβυτάτης αἱ πρῶται τῆς πόλεώς εἰσιν πράξεις, καὶ ὅσα τῶν θείων, εἰς τοῦτον ἐμπίπτει τὸν χρόνον· ἐπὶ δὲ τῆς δευτέρας ᾔρετο ἡ
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tides formuliert hier implizit Alternativen ohne sie auszusprechen, indem er beim Hörer oder Leser Fragen evoziert: Ist das römische Weltreiche wirklich das Letzte? Warum ist das jetzige Weltreich für andere Poleis außer Athen nicht das Beste? Wenn man sich nicht leichtfertig den früheren Status Athens zurückwünsche, ist der damalige Status trotzdem wünschenswert? Obwohl die Griechen der klassischen Zeit nicht als Weltreich in der hohen Kaiserzeit ernst genommen wurden, bespricht Aelius Aristides ihre welthistorische Situation in der Romrede ausdauernd im Vergleich mit den anderen Weltreichen. Anlässlich der Einordnung römischer Herrschaft unter die anderen Weltreiche nennt Aristides die Fünfer-Reihe aus Assyrern, Medern, Persern, Makedonen und Römern.184 Obwohl die Griechen in dieser Weltreichsliste nicht genannt werden ist ihre Nicht-Nennung aber erklärungsbedürftig. Beim detaillierten Durchgang durch die Weltreiche beginnt Aristides mit den Persern, deren Reich „bei den Griechen in hohem Ansehen stand“,185 wobei er die „weniger bedeutenden“ Vorgängerreiche der Assyrer und Meder auslässt. Als seine Bewertungskriterien benennt er: Größe des Reiches, was sich jeweils zutrug (historische Taten), Nutzen der Herrscher von ihrem Besitz und die Behandlung der Untertanen. Die Herrschaft des Perserreiches wird in Bezug auf die Griechen analysiert: Die Grenzen des Perserreiches reichten bis zu den Ioniern und Äolern (mal mehr und mal weniger weit) und die Heere des Agesilaos und Klearchs marschierten bis nach Phrygien wie durch eigenes Land bzw. über den Euphrat wie durch menschenleeres Gebiet.186 Weil er die Behandlung der Untertanen ins Spiel bringt, gewinnt dieser Aspekt für die römische Gegenwart auch an Bedeutung. Die implizite Botschaft an den Leser/Hörer besagt, dass auch die Römer darüber reflektieren sollten, wie sie die Griechen vor dem Hintergrund der Vergangenheit behandeln. Im Anschluss an das Perserreich wird kurz Alexanders makedonisches Weltreich diskutiert, das für Aristides einen ephemeren Charakter besitzt.187 Noch kürzer fällt die Diskussion der Diadochen-Reiche aus.188 Den weitaus größten Teil der Rede innerhalb der Diskussion der Weltreiche nehmen die Griechen ein,189 obwohl oder gerade weil Aristides die Diskussion ihrer weltgeschichtlichen Stellung glaubt begründen zu müssen. Die Darstellung des griechischen ‚Nicht-Weltreiches‘ arbeitet analog zum Wechsel der Weltreiche mit Übergängen der Herrschaft von Athenern zu Spartanern und Thebanern. Die Römer passen bei Aristides nicht in das Weltreichswechselschema, weil sie als Herrscher κατὰ φύσιν dargestellt werden.
184 185 186 187 188 189
πόλις· τὴν δὲ τρίτην διὰ τέλους ἐνίκησεν· ἐν δὲ τῇ τετάρτῃ μόνη μὲν ἀντέσχεν, ἄριστα δὲ ἀπήλλαξεν τῶν ἄλλων. ἐπὶ δὲ τῆς πάντα ἀρίστης καὶ μεγίστης τῆς νυνὶ καθεστηκυίας τὰ πρεσβεῖα παντὸς ἔχει τοῦ Ἑλληνικοῦ καὶ πέπραγεν οὕτως, ὥστε μὴ ῥᾳδίως (Unterstreichung FU) ἄν τινα αὐτῇ τἀρχαῖα ἀντὶ τῶν παρόντων συνεύξασθαι. Aristeid. or. 26,91. Aristeid. or. 26,15. Aristeid. or. 26,16 f. Aristeid. or. 26,24–26. Aristeid. or. 26,27. Aristeid. or. 26,40–57.
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Alle vorangegangenen Weltreiche waren abwechselnd Herren und Sklaven, „indem sie ihre Plätze wechselten wie bei einem Ballspiel.“190 Aristides’ Prämisse ist, dass das Imperium Romanum weltgeschichtlich einzigartig in Bezug auf seine Größe und Bedeutung ist. Die römischen Leistungen der Gegenwart kann er nicht mit gleichwertigen Leistungen aus der Vergangenheit vergleichen, sondern nur mit geringeren,191 sodass er nach diesem Konzept insbesondere die griechische Vergangenheit in ihrer Bedeutung geringer darstellen muss als die römische Gegenwart, was er explizit bedauert. Da er sich aber „[…] gezwungen [sieht, sich …] der vorhandenen [Beispiele] zu bedienen,“192 – als gäbe es keine anderen – spielt er mit Umwertungen historischer Leistungen. Es ist ein schmaler Grat, einerseits den Römern mit der Rom-Rede zu gefallen und andererseits die Sympathien der Griechen nicht zu verlieren, weshalb Aristides einige programmatische Bemerkungen tätigt: Ἐρυθριῶ δῆτα, εἰ τοσούτων καὶ τηλικούτων εἰρημένων, εἶτα μὴ ἔχοντος τοῦ λόγου, φανοῦμαι μεμνημένος ἢ βαρβαρικῆς τινος ἀρχῆς ἢ Ἑλληνικῆς δυνάμεως καὶ δοκῶ τοὐναντίον ποιήσειν τοῖς Αἰολεῦσι ποιηταῖς. ἐκεῖνοι μὲν γὰρ ἐπειδάν τι βούλωνται τῶν καθ’ αὑτοὺς φαυλίσαι, μεγάλῳ αὐτὸ παρέβαλον καὶ παρ’ ἀρχαίῳ περιφανεῖ, ἡγούμενοι μάλιστ’ ἂν οὕτως ἐξελέγξειν, ἐγὼ δὲ τὰ ὑμέτερα οὐκ ἔχων ἐπιδεικνύειν ἄλλως ὅσῳ ὑπερέχει, παραβαλῶ μικροῖς ἀρχαίοις· πάντα γὰρ ὑμεῖς καὶ τὰ μέγιστα μικρότατα ἀπεφήνατε ταῖς ὑπερβολαῖς. Nachdem ich über so viele bedeutende Dinge gesprochen habe, muß ich wahrhaftig erröten, wenn ich den Anschein erwecke, daß ich irgendeiner barbarischen Herrschaft oder einer griechischen Macht gedenke, als ob meine Rede weiter nichts zu bieten hätte, und es könnte aussehen, als ob ich das Gegenteil von dem tue, was die äolischen Dichter taten. Wenn immer diese etwas aus ihrer Zeit verächtlich machen wollten, so verglichen sie es mit einem großen und glänzenden Ereignis der Vergangenheit, weil sie meinten, es so am besten entlarven zu können. Da es für mich aber keinen anderen Weg gibt, womit ich zeigen könnte, wie sehr eure Leistungen herausragen, werde ich sie jetzt mit geringeren aus früherer Zeit vergleichen; denn ihr habt durch eure überragenden Taten alle anderen Erfolge, auch die größten, sehr gering erscheinen lassen.193
In Bezug auf die Herausforderung, das große Rom mit dem kleinen Griechenland vergleichen zu wollen, äußert Aristides Bedenken, die Römer (ὑμεῖς) könnten glauben, er wolle sich einerseits über sie und andererseits über die griechische Vergangenheit lustig machen. Auch den auf ihre Vergangenheit stolzen griechischen Zuhörern oder späteren Lesern mag Aristides’ Verfahren, auf Kosten der Griechen der Vergangenheit die Römer der Gegenwart aufzuwerten, nicht gefallen haben. Gegenüber seinen griechischen Landsleuten entschuldigt er sich damit, dass er die Beispiele nicht gesammelt habe, um die Griechen allgemein anzuklagen.194 Viel190 191 192 193 194
Aristeid. or. 26,91. Aristeid. or. 26,14. 40. Aristeid. or. 26,40: ἀλλ' οὐκ ὄντων ἑτέρων παραδειγμάτων ἀναγκάζομαι τοῖς οὖσι χρῆσθαι. Aristeid. or. 26,14. Aristeid. or. 26,51. Die Anklage – in Parenthese, wie der „bewundernswerte Verfasser des Trikaranos“ (Anaximenes von Lampsakos, FGrHist 72) – bezieht sich auf die Unfähigkeit Athens, Spartas und Thebens aufgrund ihres fortwährenden Streits bis zur makedonischen Hegemonie, die Herrschaft über Griechenland behauptet zu haben. Aristides mag Anaximenes θαυμαστός genannt haben aufgrund seiner treffenden Charakterisierung des griechischen Streits oder sei-
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mehr ginge es ihm darum, zu zeigen, dass vor den Römern die Kunst des Herrschens (τὸ ἄρχειν) noch nicht entdeckt war, […] εἰ γὰρ ἦν, ἐν τοῖς Ἕλλησιν ἦν ἂν, οἳ πλεῖστον δή που τῶν γε ἄλλων σοφίᾳ διήνεγκαν· ἀλλὰ καὶ τοῦτο ὑμέτερόν ἐστιν εὕρημα καὶ ὁμοῦ τοῖς ἄλλοις ἐπεισελθόν. […] denn wenn es sie gegeben hätte, dann müsste man sie bei den Griechen finden, die sich durch Klugheit doch wohl am meisten vor allen anderen Völkern ausgezeichnet haben. Aber auch dieses ist eine Entdeckung, die von euch stammt und durch euch zugleich mit den anderen Dingen (in die Welt) gekommen ist.195
Auch wenn Aristides betont, dass die historische Leistung der Griechen klein war, weil ihr Herrschaftsbereich klein war,196 ist die Größe des Herrschaftsbereichs nicht das Kriterium, für das sich die Griechen historische Größe zugeschrieben haben. Aristides sagt selber, dass sie sich dadurch auszeichneten, „[…] gegen Herrscher Widerstand zu leisten, die Perser und Lyder zu besiegen, ihren Reichtum zu opfern und Mühen zu ertragen […],“197 durch σοφία und σωφροσύνη,198 also charakterlich-intellektuelle Tugenden.199 Durch einen Vergleich der Größe der Herrschaftsbereiche mussten sich die Griechen also überhaupt nicht provoziert fühlen. Aristides erreicht damit im Paragraphen 51 der Rom-Rede den Höhepunkt seiner impliziten Kritik an der römischen Herrschaft, wenn er die ‚Kunst des Herrschens‘ als eine Entdeckung (εὕρημα) der Römer bezeichnet.200 Der Terminus εὕρημα bezeichnet einen glücklichen, unerwarteten Fund und ist mit unverhofftem Glück verbunden.201 Während die Römer also zufällig die Kunst des Herrschens entdeckten, wären die Griechen aufgrund ihrer Weisheit in der Lage gewesen, diese Kunst zu erfinden. Diese Erfindung haben sie jedoch nicht getätigt, weil sie ihre historische Leistung im Widerstand gegen auswärtige Mächte sahen und die Kunst des Herrschens nicht benötigten. Die implizite Kritik des Aristides lautet also: Die Römer haben bis auf die Kunst des Herrschens nichts erfunden, und selbst diese Kunst war eher ein glücklicher Zufallsfund. Wenn jemand die Kunst des Herrschens habe planvoll erfinden wollen, wären es die Griechen gewesen, die sich jedoch als erfolgreiche Abwehrer auswärtiger Mächte ausgezeichnet haben.202 Während Polybios unter dem Eindruck römischer Expansion stand und Dionysios vor dem Hintergrund der pax Augusta schrieb, bildeten für Appian nach nochmals etwa 150 Jahren römischer Herrschaft (wie bei Aristides aber nur in Be-
195 196 197 198 199 200 201 202
ner sprachlichen Qualitäten wegen (vgl. Paus. 6,18,5 f., Anaximenes imitierte Theopomps Stil und gab den Trikaranos unter dessen Namen heraus; er war der erste, der Stehgreifreden hielt). Aristeid. or. 26,51. Klein übersetzt εὕρημα nicht mit „Entdeckung“, sondern mit „Erfindung“. Behr übersetzt mit „invention“. S. u. Anm. 201 (Kap. 4.2.2). Aristeid. or. 26,41 f. Aristeid. or. 26,51: τοῖς μὲν ἄρχουσιν ἀντιστῆναι καὶ κρατῆσαι Πέρσας καὶ Λυδοὺς καὶ πλοῦτον καὶ πόνους ὑπενεγκεῖν ἀγαθοὶ παντὸς μᾶλλον ἦσαν […]. Aristeid. or. 26,41. Aristeid. or. 26,101: Das gesittete Leben habe von den Athenern seinen Ausgang genommen, jedoch sei es von den Römern dauerhaft begründet worden. Aristeid. or. 26,51. Vgl. LSJ s. v. εὕρημα II. Tatsächlich ist das Wort doppeldeutig. Gerade weil es zugleich Erfindung oder Entdeckung bedeuten kann, lässt Aristides’ Wortwahl implizite Kritik zu. Vgl. auch die allgemeine Diskussion um das Erfinden oder Adapatieren im Kap. 6.3.
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zug auf Rom) Größe und Dauer die Kriterien für ein Weltreich, worin Rom von keinem Vorgängerreich übertroffen wurde:203 Selbst wenn man die athenische, lakedaimonische und thebanische Vorherrschaft addiere, die dem Feldzug des Dareios als ruhmvollster Epoche ihrer Geschichte folgte, und auch noch die Herrschaft Philipps II. über Griechenland hinzurechne, komme man nur auf wenige Jahre, schreibt Appian. Appian wendet aber ein, dass es bei diesen Kämpfen nicht um den Erwerb eines Reiches, sondern lediglich um agonale Rivalität ging. Die glänzendsten Schlachten wurden zur Verteidigung der Freiheit gegen fremde Angreifermächte geschlagen.204 Als die Athener nach Sizilien fuhren, erlitten sie allerdings einen Misserfolg und auch Agesilaos musste in Asien bald umkehren. Die Macht der Griechen wurde niemals über Griechenland ausgeweitet, obwohl sie so leidenschaftlich um die Vorherrschaft stritten. Sowohl in der Anerkennung der Verteidigungsleistung als auch in der Diagnose der Unfähigkeit, ein Reich aufzubauen, gleichen sich Appian und Aristides.205 Die nicht vorhandene Kunst des Herrschens ist dabei jedoch kein Makel, sondern findet ihren Kontrapunkt im Widerstand. Lange Zeit hatten die Griechen ihre Heimat frei und unbesiegt gehalten, aber seit Philipp und Alexander würden sie für Appian einen ruhmlosen Eindruck machen und führten ein ihnen unwürdiges Dasein.206 Hier wird der vergangene Freiheitskampf unmittelbar zum Maßstab und Vorbild für die Gegenwart erhoben, was wir bei Dionysios oder Strabon so nicht finden. Während bei Dionysios die Griechen der Vergangenheit aufgrund mangelnder Größe und Dauer ihrer Herrschaft als vernachlässigbare Größe abgehandelt werden, finden sie bei Appian Anerkennung wegen der lange bewahrten Freiheit und ihrem Widerstandswillen gegen auswärtige Mächte, wie Pabst gezeigt hat.207 Außerdem macht sie deutlich, dass für Appian das beherrschte Griechenland kein erstrebenswertes Ideal darstellt und er in seiner Darstellung zwar Roms Stärken, aber auch und vor allem die Stärken der Kontrahenten würdigt, insbesondere wenn es um ihr Durchhaltevermögen geht.208 Die Ursachen von Roms Aufstieg sieht Appian demnach folgerichtig vor allem in der φερεπονία (dem Ertragen von Übeln),209 eine Qualität, die eben auch bei den Kontrahenten vorhanden ist. 203 App. praef. 8 (29). Vgl. ebd. 9 (34): Die Dauer der größten Reiche vor Alexander (Assyrer, Meder und Perser) währte 900 Jahre, was die Römer bereits erreicht haben. Zu den Abweichungen Appians bezüglich gängiger Chronologien vgl. Hahn 1993, 366–368. 204 App. praef. 8 (30): οἵ τε ἀγῶνες αὐτοῖς ἐγένοντο οὐκ ἐπὶ ἀρχῆς περικτήσει μᾶλλον ἢ φιλοτιμίᾳ πρὸς ἀλλήλους, καὶ οἱ λαμπρότατοι περὶ τῆς αὐτῶν ἐλευθερίας πρὸς ἀρχὰς ἄλλας ἐπιούσας. („Ihre Kämpfe wurden nicht aufgrund des Erwerbs der Herrschaft geführt, sondern vielmehr aufgrund gegenseitiger Rivalität, und die glänzendsten [Kämpfe, Anm. FU] wurden ausgefochten [zum Erhalt, Anm. FU] ihrer Freiheit gegen fremde Herrschaften.“). 205 Vgl. Aristeid. or. 26,51. Pabst 2014a, 406. 206 App. praef. 8 (31). 207 Dion. Hal. ant. 1,3,2. Pabst 2010, 132. Dies. 2014, 406. 208 Pabst 2010, 132. Vgl. App. praef. 3 (8). 8 (30 f.) Bei den Römern rechnet Appian darüber hinaus bisweilen mit purem Glück, bei den Kontrahenten neben Schwäche auch mit Durchhaltevermögen. Vgl. Hose 1994, 159 f. 183. 211. 230. 209 App. praef. 7 (26). 11 (43).
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Die Herrschaft der Makedonen und der Diadochen wird bei Appian im Gegensatz zu Dionysios nicht zugunsten der Römer abgewertet, was vor dem Hintergrund der antiken Tradition exzeptionell ist:210 Zwar seien die Makedonen vor Philipp sogar von den Persern und Athenern beherrscht und ihre Geschichte sehr bescheiden gewesen, Alexanders Reich gleiche aber einem leuchtenden Blitz und selbst als es sich in die einzelnen Satrapien teilte, erstrahlten die Teile noch im hellsten Glanz.211 Ein Teil des Alexanderreiches war auch Ägypten, das an Machtmitteln gegenüber den anderen Teilen nicht weit zurückstand.212 Die folgende Aufzählung der militärischen Ressourcen der Ptolemäer entspringt nicht einfach dem Stolz auf die Heimat Appians,213 sondern wird virtuell gegen die Heeresmacht der Römer aufgerechnet um implizit die Überlegenheit der Diadochenreiche gegenüber zunächst einmal dem damaligen Rom zu verdeutlichen, wie Pabst ausführlich gezeigt hat.214 Auf zwei Ebenen schafft Appian hier eine kontrafaktische Situation. Einerseits setzt er die Größe der damaligen Reiche gegen die gegenwärtige Größe des römischen Reiches und andererseits deutet er an, dass die Diadochen es mit Rom hätten aufnehmen können, wenn sie Einigkeit demonstriert hätten. Dazu passt, dass ausgerechnet Appian an die Geschichte erinnert, die ursprünglich Polybios in seinen Historien von Scipios Worten beim Anblick des brennenden 210 Pabst 2010, 133. Gemessen an der Dauer sei das makedonische Reich der bisherige Rekordhalter (App. praef. 12 (45)), was wir so in der antiken Literatur überhaupt nicht finden (vgl. ganz anders Polyb. 1,2 oder Aristeid. or. 26,27), vgl. Hahn 1993, 366. Wenn Appian die betreffende Passage wirklich unter dem Einfluss des Dionysios geschrieben hat, wie Gabba 1991a, 183 Anm. 10 vermutet, ist die Abweichung nach Pabst 2010, 132 f. Anm. 89 eine bewusste Entscheidung. 211 App. praef. 10 (37 f.). 212 App. praef. 10 (42). 213 Diese Deutung bei Weißenberger 2002, 171. Swain 1996, 251. Forte 1972, 361. Palm 1959, 76. Appian bezeichnet sich selbst als „Appian, der Alexandriner“ (App. praef. 15 (63)), die Könige ‚seines‘ Landes waren die Ptolemäer (App. praef. 10 (39)). Zum Namen Hahn 1993, 396 f. Pabst 2010, 134 stellt heraus, dass Appian sich sehr deutlich von den Römern abgrenzt. Dies geschieht historisch fundiert im Bereich des Politischen und nicht etwa Kulturellen. Immerhin erkennt Weißenberger 2002, 271 f. die Neuartigkeit der Position Appians gegenüber der augusteischen Zeit: „Während also noch Polybios resignierend und Dionysios nahezu emphatisch die eigene Unterlegenheit anerkannten, scheint aus Appian ein neues Selbstbewußtsein, ein neuer Stolz der Provinz auf ihre eigene Geschichte zu sprechen. Es wäre abwegig, Appian deswegen anti-römische Tendenzen zu unterstellen; vielmehr schafft dieses neue Selbstgefühl erst die Voraussetzung dafür, daß die Provinz Roms Imperium als eine Art von glorreicher Fortsetzung der eigenen Geschichte empfinden und so ihrerseits allmählich in eine römische Identität hineinwachsen kann: Wir erkennen hier die Anfänge eines Bewußtseinswandels, der eine Entwicklung ermöglichte, die über die constitutio Antoniniana und mehrere Reichsteilungen eines Tages das Entstehen eines Römerreiches ohne Rom und Italien möglich machen sollte.“ 214 Pabst 2010, 133 f. App. praef. 10 (39 f.) rechnet 600 000 Fußsoldaten aller ‚Satrapien‘ plus Reservetruppen, die z. B. die 250 000 Fußsoldaten eines Pompeius (App. Mithr. 119) weit übertreffen. Er weist am Ende der Praefatio darauf hin (App. praef. 10 (61)), dass er die gegenwärtige Truppenstärke der Römer im (verlorenen) letzten Buch der Romaïka ausführlich aufrechnet. Polyb. 2,24 hatte für das republikanische Rom eine Gesamttruppenstärke von 700 000 bei Generalmobilmachung angegeben. Für Liv. 9,19 ist im Rahmen einer kontrafaktischen Überlegung u. a. die Truppenstärke ausschlaggebend für einen Sieg der Römer gegen Alexander.
Assyrien
Medien
Persien
Assyrien
Medien
Persien
Maked.
Demetr. v. Phal. ap. Polyb. 29,21.
Hdt. 1,95 130.
Maked.
Rom
Rom
Persien
Medien
Assyrien
Aem. Sura ap. Vell. Pat. 1,6,6.
Maked.
Laked.
Persien
Polyb. 1,2,2–7.
Rom/ Parth.
Maked.
Persien
Medien
Assyrien
Iust. 41,1
Rom
(Karthago)
Diad.
Maked.
(Theben)
(Laked.)
(Athen)
Persien
Medien
Assyrien
Dion. Hal. ant. 1,2,2–3,5.
Rom
Karthago
Syrien
Ägypten
Maked. (Alex.)
Persien
Assyrien
Plut. de fort. rom. 317 f.–318a.
Ägypten
Maked. (Alex.)
Persien
Medien
Assyrien
App. praef. 9 f. (34–38).
Römer
Maked.
Perser
Meder
Assyrer
Aristeid. or. 26,91.
Tab. 2: Antike Weltreichslisten
(Rom)
(Maked.)
(Persien)
(Medien)
Assyrien
Aristeid. or. 1,335.
Römer
Maked.
Perser
Meder
Assyrer
Tac. hist. 5,8
Römer
Maked.
Laked.
Athener
Perser
Meder
Assyrer
Amp. 10
Römer
Maked.
Perser
Meder
Assyrer
Claud. Stil. 3,159–166
Römer
Maked.
Perser
Meder
Assyrer
Rut. Nam. 1,81–92
Römer
(Diad.)
Maked.
(Theben)
(Laked.)
(Athen)
Perser
Meder
Assyrer
Suda s. v. Ἁσσύριοι
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
137
138
4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Karthagos berichtet hatte.215 Scipio hatte einen Homervers zitiert, der die Niederlage Trojas prophezeite.216 Auf die Nachfrage des anwesenden Polybios (der der Lehrer Scipios gewesen war), was das Zitat bedeuten solle, antwortete Scipio, er habe an das Schicksal Ilions, Assyriens, Mediens und Persiens gedacht und fürchte für Rom, dass es auch einst untergehen werde. Am Beginn seines Werkes war sich Polybios noch sicher, dass sich keine frühere Macht mit Rom messen könne und keine spätere es übertreffen werde.217 Nach der Erfahrung der Zerstörungen von Karthago und Korinth (146 v. Chr.) sowie Numantia (133 v. Chr.) verfinsterte sich jedoch Polybios’ Erwartungshorizont was die Zukunft des Imperium Romanum anbelangte, da brutale Gewalt als Konfliktlösungsstrategie diejenigen politischen Tugenden der Römer unterminierte, welche in seinen Augen die Grundlage ihrer Machtstellung bildeten.218 Appians bewusste Erinnerung an die Position des Polybios enthüllt das Kritikpotenzial von Weltreichslisten (Tab. 2). 4.2.3 Periodisierungen griechischer Geschichte Bei der Diskussion der Frage, wie sich die Griechen im Kontext antiker Weltreiche verortet haben, wurde deutlich, dass sie periodisierende Zäsuren gesetzt haben. Eine dieser Zäsuren ist die Zerstörung Korinths 146 v. Chr., die von der modernen Forschung als der Endpunkt griechischer Geschichte angesehen wird.219 Das Nachdenken über Zäsuren und die Periodisierungen griechischer Vergangenheit findet sich in den kaiserzeitlichen griechischen Texten. Außer in den Proömien der Historiker (etwa bei Dionysios oder Appian) wird die griechische Vergangenheit aus der Perspektive der kaiserzeitlichen Griechen nur von Pausanias und Aelius Aristides detaillierter differenziert.220 Zwar fächert auch Plutarch die hellenistische Geschichte weiter auf als jeder andere Autor; da seine Angaben aber lediglich Aufzählungscharakter besitzen und nicht kommentiert werden, entziehen sie sich einer detaillierten Auswertung.221 Zunächst ist es ratsam, nach den Zäsuren Ausschau zu halten um dann im Folgenden die einschlägigen Periodisierungsversuche zu diskutieren. Dabei soll die Frage leiten, ob sich die Griechen in der Kaiserzeit überhaupt noch als ein historisches Subjekt wahrnahmen, welches in der Lage war, autonome politische Handlungen zu vollziehen. Arafat hatte bereits untersucht, welche Kriterien Pausanias angibt, um etwas als ‚alt‘ oder ‚sehr alt‘ zu bezeichnen und inwieweit er überhaupt Phasen der Ver215 216 217 218
App. Lib. 132 = Polyb. 38,22. Hom. Il. 6,448 f. Polyb. 1,2,7. Vgl. Engels 1999, 152. Petzold 1983, 241–263. Diod. 32,2 und 4 mit Heldmann 1993, 77–92. Vgl. auch Sen. ad Polyb. cons. 1, der Numantia, Karthago und Korinth ebenfalls zusammenstellt. 219 Derow 1989 und Scullard 1980. 220 S. o. Kap. 4.2.2. 221 S. o. Tab. 2.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
139
gangenheit unterscheidet.222 Sidebottom möchte als einzige Periodisierung der Vergangenheit bei Pausanias eine Dreiteilung annehmen: pre-heroic, heroic und post-heroic.223 Pausanias spricht etwa vom heroischen Zeitalter, was der vorhistorischen Zeit entspricht.224 Diese vorhistorische Zeit stellt die glücklichste Episode griechischer Vergangenheit dar, was im direkten Vergleich mit dem Tiefpunkt, der Zerstörung Korinths durch Mummius, gleich zu Anfang des folgenden Abschnitts kontrastiert wird. ἐς ἅπαν δὲ ἀσθενείας τότε μάλιστα κατῆλθεν ἡ Ἑλλάς, λυμανθεῖσα κατὰ μέρη καὶ διαπορθηθεῖσα ἐξ ἀρχῆς ὑπὸ τοῦ δαίμονος. Ἄργος μέν, ἐς πλεῖστον ἀφικομένην δυνάμεως πόλιν ἐπὶ τῶν καλουμένων ἡρώων, ὁμοῦ τῇ μεταβολῇ τῇ ἐς Δωριέας ἐπέλιπε τὸ ἐκ τῆς τύχης εὐμενές· τὸ δὲ ἔθνος τὸ Ἀττικόν, ἀπὸ τοῦ Πελοποννησίων πολέμου καὶ νόσου τῆς λοιμώδους ἀνενεγκόν τε καὶ αὖθις ἀνανηξάμενον, ἔτεσιν ἔμελλεν οὐ πολλοῖς ὕστερον ἡ Μακεδόνων ἀκμὴ καθαιρήσειν· κατέσκηψε δὲ ἐκ Μακεδονίας καὶ ἐς τὰς Βοιωτίας Θήβας τὸ Ἀλεξάνδρου μήνιμα. Λακεδαιμονίοις δὲ Ἐπαμινώνδας ὁ Θηβαῖος καὶ αὖθις ὁ Ἀχαιῶν πόλεμος ἐγένετο· ὅτε δὲ καὶ μόγις, ἅτε ἐκ δένδρου λελωβημένου καὶ αὔου τὰ πλείονα, ἀνεβλάστησεν ἐκ τῆς Ἑλλάδος τὸ Ἀχαϊκόν, καὶ αὐτὸ ἡ κακία τῶν στρατηγησάντων ἐκόλουσεν ἔτι αὐξανόμενον. χρόνῳ δὲ ὕστερον ἐς Νέρωνα ἡ βασιλεία περιῆλθεν ἡ Ῥωμαίων, καὶ ἐλεύθερον ὁ Νέρων ἀφίησιν ἁπάντων, ἀλλαγὴν πρὸς δῆμον ποιησάμενος τὸν Ῥωμαίων· Σαρδὼ γὰρ τὴν νῆσον ἐς τὰ μάλιστα εὐδαίμονα ἀντὶ Ἑλλάδος σφίσιν ἀντέδωκεν. ἀπιδόντι οὖν ἐς τοῦτό μοι τοῦ Νέρωνος τὸ ἔργον ὀρθότατα εἰρηκέναι Πλάτων ἐφαίνετο ὁ Ἀρίστωνος, ὁπόσα ἀδικήματα μεγέθει καὶ τολμήματί ἐστιν ὑπερηρκότα, οὐ τῶν ἐπιτυχόντων εἶναι ταῦτα ἀνθρώπων, ψυχῆς δὲ γενναίας ὑπὸ ἀτόπου παιδείας διεφθαρμένης. οὐ μὴν Ἕλλησί γε ἐξεγένετο ὄνασθαι τοῦ δώρου· Οὐεσπασιανοῦ γὰρ μετὰ Νέρωνα ἄρξαντος ἐς ἐμφύλιον στάσιν προήχθησαν, καὶ σφᾶς ὑποτελεῖς τε αὖθις ὁ Οὐεσπασιανὸς εἶναι φόρων καὶ ἀκούειν ἐκέλευσεν ἡγεμόνος, ἀπομεμαθηκέναι φήσας τὴν ἐλευθερίαν τὸ Ἑλληνικόν. τάδε μὲν οὕτω συμβάντα εὕρισκον· Damals war Griechenland zu völliger Schwäche herabgekommen, in seinen Teilen zerrüttet und von Grund auf vom Daimon verwüstet. Argos, das in der Zeit der sogenannten Heroen in seiner höchsten Kraftentfaltung stand, verließ die Gunst des Glückes mit dem Wechsel zu den Dorern. Das attische Volk, das sich nach dem Peloponnesischen Krieg und der Seuche wieder erholt hatte, sollte nicht viele Jahre später von der Macht der Makedonen vernichtet werden. Der Zorn des Alexandros traf von Makedonien her auch das booitische Theben. Über die Lakedaimonier kam Epameinondas von Theben und dann der Achäische Krieg. Und als dann unter Mühen, wie bei einem verstümmelten und größtenteils dürren Baum, aus Griechenland der Achäische Bund erwuchs, vernichtete diesen, bei bestem Gedeihen, die Schlechtigkeit seiner Anführer. In späteren Zeiten kam die Kaiserwürde an Nero, und dieser entließ alle in die Freiheit, nachdem er mit dem römischen Volk einen Tausch vereinbart hatte. Er gab ihnen die äußerst fruchtbare Insel Sardinien anstelle von Griechenland. Wenn ich die Handlungsweise des Nero betrachte, so scheint mir Platon, der Sohn des Ariston, ganz richtig festgestellt zu haben, dass Unrecht dieser Größenordnung und Kühnheit nicht von gewöhnlichen Menschen ausgeht, sondern von einer edlen Seele, die durch eine mißratene Erziehung verdorben ist. Indessen konnten die Griechen des Geschenkes nicht froh werden. Unter Vespasian, der nach Nero herrschte, gerieten sie wieder in innere Zwiste. Vespasian ordnete an, dass sie wieder
222 Arafat 1996, 45 geht dabei jedoch von den von Pausanias beschriebenen Objekten aus, während hier die historischen Exkurse im Mittelpunkt stehen. 223 Sidebottom 2002, 494. 224 Paus. 7,17,1 und 9,9,1 (die „Sieben gegen Theben“ war der denkwürdigste Krieg von Griechen gegen Griechen im heroischen Zeitalter). Vgl. Arafat 1996, 59.
140
4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart tributpflichtig werden und einem Statthalter gehorchen sollten, indem er sagte, die Griechen hätten die Freiheit verlernt. Das habe ich so über die Ereignisse gefunden.225
Die Zäsuren werden bei der ‚dorischen Wanderung‘, beim Peloponnesischen Krieg, Epameinondas’ und Philopoimens Sieg über Sparta, Thebens Zerstörung durch Alexander, der Schlacht von Chaironeia und dem Achäischen Krieg gegen die Römer gesetzt. Zwischen der Zerstörung Korinths und Neros Freiheitserklärung226 klafft eine Lücke von 212 Jahren, in welche die Mithridatischen Kriege, Sullas Feldzüge und die römischen Bürgerkriege – ausgetragen in Griechenland – fallen. Die an anderer Stelle erwähnten Perserkriege und der Galatereinfall werden hier nicht berücksichtigt, obwohl die äußeren Bedrohungen durch die Makedonen und Römer erwähnt werden. Pausaunias scheint die Freiheitserklärung Neros so zu deuten, dass damit die autonome Geschichte Griechenlands wieder einsetzt (ἐλεύθερον ὁ Νέρων ἀφίησιν ἁπάντων). Die Übereignung Sardiniens an das römische Volk als ‚senatorische Provinz‘ im Tausch gegen Achaia scheint in Pausanias’ Deutung der Freigabe Griechenlands in vollständige Autonomie gleichzukommen, da Achaia nun weder als senatorische noch als kaiserliche Provinz zu gelten hat. Als vorläufiges Ergebnis kann festgehalten werden, dass die unterkomplexen Periodisierungen von Arafat und Sidebottom nicht der detaillierten Differenzierung griechischer Geschichte bei Pausanias entsprechen. Es stellt sich aber die Frage, wann Pausanias das Ende griechischer Geschichte angesetzt und welche Kriterien er dafür angelegt hat. Vermutungsweise fällt das Ende griechischer Geschichte zusammen mit dem Ende autonomer griechischer Politik. Tab. 3: Periodisierung griechischer Vergangenheit nach Paus. 7,17,1–4 Zeit/Ort
Ereignis
Kommentar
Argos
Heroenzeit
Mit den Dorern vom Glück verlassen (ὁμοῦ τῇ μεταβολῇ τῇ ἐς Δωριέας ἐπέλιπε τὸ ἐκ τῆς τύχης εὐμενές·)
Athen
Chaironeia (nach Peloponnesischem Krieg)
Wieder erholt und dann von makedonischer Blüte (ἡ Μακεδόνων ἀκμὴ) wieder vernichtet
Theben
Zerstörung durch Alexander
Alexanders Rache (τὸ Ἀλεξάνδρου μήνιμα)
Lakedaimonier
Epameinondas und Achäischer Krieg (Philopoimen)
k. A.
Achäischer Bund
Zerstörung durch Mummius
Beim besten Gedeihen von Schlechtigkeit der Anführer vernichtet (καὶ αὐτὸ ἡ κακία τῶν στρατηγησάντων ἐκόλουσεν ἔτι αὐξανόμενον)
Nero
Freiheitserklärung
Wiedereinsetzen autonomer Geschichte
Vespasian
Freiheitsentzug
Tributpflichtigkeit der Griechen wieder eingeführt; Statthalter; Griechen hätten ihre Freiheit verlernt (ἀπομεμαθηκέναι φήσας τὴν ἐλευθερίαν τὸ Ἑλληνικόν)
225 Paus. 7,17,1–4. 226 Das Problem der Freiheitserklärung Neros und der Tausch von Sardininen und Achaia werden im Kap. 5.1 behandelt.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
141
Nach Habicht endet für Pausanias die griechische Geschichte mit der römischen Eroberung Achaias und der Zerstörung Korinths im Jahr 146 v. Chr.: Für Pausanias sind die Römer wie die Perser, die Makedonen, Gallier oder König Mithridates Fremde, die nicht nach Griechenland gehören und dort nicht herrschen sollten. Sie haben nichts zu dem beigetragen, was Pausanias als die spezifischen Werte Griechenlands ansieht: Religion, Literatur, Kunst, Philosophie oder, in einem Wort, die griechische Kultur. Daher endet für ihn die griechische Geschichte im Jahre 146, mit der Katastrophe Achaias und der Zerstörung Korinths.227
Habicht hebt ab auf den Kampf der Griechen gegen auswärtige Mächte, der im Denken des Pausanias tatsächlich eine überragende Stellung einnimmt und das integrale Ordnungsprinzip seiner historischen Exkurse darstellt, wie auch Akujärvi herausgearbeitet hat.228 Die politische Zäsur, die nach Habicht in den Augen des Pausanias das historische Ende und damit jenes der Beschäftigung mit der griechischen Vergangenheit innerhalb seiner historischen Exkurse darstellt, sei das Ende des Achäischen Bundes, der im Krieg gegen Rom 146 v. Chr. unterlag.229 Habicht rekurriert hier auf die panhellenische Perspektive, wobei er offen lässt, ob einzelne Poleis eine Ausnahme bilden konnten. Zwar orientiert sich Pausanias in seinen historischen Exkursen an den Kämpfen gegen Perser, Makedonen und Römer – politische Ereignisse nach der Zerstörung Korinths werden partiell jedoch wahrgenommen. Zu denken wäre hier aus der Zeit nach 146 n. Chr. an Sulla, gegen den die Athener mit militärischer Unterstützung des Mithridates zwar erfolglos, aber immerhin hartnäckig Widerstand geleistet haben.230 Außerdem bildet der historische Exkurs zur kriegerischen Geschichte des phokischen Elateia eine weitere Ausnahme.231 Die in den Perserkriegen zerstörte Polis teile sich bis auf einige Ausnahmen die gemeinsame Geschichte mit den Phokern.232 Mit der Unterstützung des athenischen Strategen Olympiodoros hatte die Stadt 301 v. Chr. die Belagerung des Makedonen Kassander abgewehrt. 207 v. Chr. hat Philipp V. die Stadt allerdings durch „Furcht und Bestechung“ besetzen können. Als Flamininus mit dem Auftrag kam, Griechenland zu befreien, schickte er Boten mit der Aufforderung, von den Makedonen abzufallen. Das Volk oder die Regierung waren jedoch uneinsichtig, sodass die Stadt den Makedonen treu blieb, wor227 Habicht 1985, 124. Swain 1996, 331: „Above all he is interested in Greece’s antiquity. He gives a good deal of historical background information for the areas he covered, information which is virtually restricted to the archaic, classical, or Hellenistic period. […] He includes hardly any monuments later than the third century BC.“ Eckstein 2001 [1986], 470 n. 75: „Im übrigen zeigt sich der Autor stets auf die große Vergangenheit Griechenlands in archaischer und klassischer Zeit orientiert, dessen Götter, Heroen und Kultplätze er nicht müde wird, im einzelnen aufzuführen.“ 228 Akujärvi 2005, 232. 229 Swain 1996, 333 hat gezeigt, dass Pausanias über die römische Eroberung Griechenlands während republikanischer Zeit verärgert war. Er selbst artikuliert dies nicht direkt, man könne es aber aus seinen Bewertungen der historischen Protagonisten schließen. 230 Plut. Sulla 12 f. Paus. 1,20,7 darüber, dass Athen erst unter Hadrian nach Sullas Zerstörungen wieder aufblühte. Vgl. Kap. 5.3.2 mit weiteren Stellen. 231 Paus. 10,34,1–5. 232 Vgl. Paus. 10,1,3–3,4.
142
4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
aufhin sie von den Römern belagert wurde. Nach dieser Episode springt Pausanias zum Krieg der Römer gegen Mithridates, der maßgeblich in Griechenland ausgetragen wurde. Elateia habe dem mithridatischen General Taxilos 86 v. Chr. widerstanden, weshalb die Römer der Stadt die Freiheit schenkten und Abgabenfreiheit gewährten. Bemerkenswert ist der letzte zeitgenössische Abschnitt des Exkurses zur kriegerischen Geschichte Elateias, in dem die Stadt unter Führung des Olympiasiegers Mnesibulos die Kostoboken abgewehrt hat, die 171 n. Chr. von Norden plündernd über die Provinz Achaia hereinbrachen und bis nach Eleusis vordrangen, das sie zerstörten.233 Elateia hat selbständig Widerstand geleistet, wobei die Römer vollständig ignoriert werden. Es ist Pirenne-Delforge zuzustimmen, der hier eine Ausnahme von der Regel sieht, dass es nach 146 v. Chr. keine politische Geschichte Achaias mehr zu schreiben gebe.234 Was hier andeutungsweise hervorscheint kann auch als ein Kommentar zu Vespasians Vorwurf gelesen werden, dass die Griechen die Freiheit verlernt hätten. Das Beispiel des Elateia-Exkurses macht deutlich, dass Pausanias die griechische Geschichte zwar an den Konnex von Freiheit und Widerstand knüpft, autonome Politik aber immer noch ohne römische Interventionen möglich ist. Pausanias stellt fest, dass nach der Galater-Invasion keiner der Griechen mehr mächtig gewesen war außer den Achaiern, die ihre Stellung aufgrund mangelnden Zusammenhalts unter den Griechen erringen konnten.235 Was auf diese Aussage folgt, ist eine Aufzählung der Widerfahrnisse der im 4. Jh. v. Chr. um die Hegemonie in Griechenland streitenden Mittelmächte: Die Lakedaimonier wurden durch die Niederlage von Leuktra, die arkadische Gründung von Megalopolis und die Messenier daran gehindert, ihre alte Macht wieder zu erlangen; die Wiedergründung durch Kassander konnte Thebens Zerstörung durch Alexander nicht wieder ausgleichen, sodass sie nicht in der Lage waren, ihre Heimat zu verteidigen; Athen konnte sich von den makedonischen Kriegen nicht erholen. Die Achaier wurden daraufhin die mächtigsten, weil ihre Städte stets frei waren, sie also keine Tyrannen hatten (außer in Pellene), Krieg und Pest fast keine Auswirkungen zeigten und sie eine gemeinsame Bundesversammlung besaßen. Freiheit von Fremdherrschaft und der panhellenische Zusammenhalt sind demnach für Pausanias die Kriterien autonomen politischen Handelns. Das bedeutet aber, dass auch Neros Freiheitserklärung an die Griechen von Pausanias als ein Wiedereinsetzen autonomer griechischer Politik gedeutet wurde, da er sie sonst nicht im Kontext seiner Periodisierung griechischer Geschichte erwähnt hätte. Dies geht über die konventionelle Ansicht der Forschung bei Habicht oder Bowie hinaus, wonach die Geschichte Griechenlands nach 146 v. Chr. von Pausanias gar nicht mehr berücksichtigt werden konnte, da das Schreiben einer politischen Geschichte mangels der griechischen Freiheit nicht mehr möglich war:
233 Vgl. Aristeid. or. 22. 234 Pirenne-Delforge 2008, 92 n. 242. 235 Paus. 7,6,8 f. 7,1.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
143
History, different from antiquarianism, had to deal with politically independent units – cities, kingdoms and empires. The pattern had been established in the fifth century by Herodotus and Thucydides in an age when autonomous powers were thick on the ground. By this criterion, there was no contemporary history of the Greek world to be written.236
Friedenszeiten wären nach dem Verständnis antiker Historiographie ein geschichtsloser Bereich des Lebens, über den es nichts zu berichten gebe, was Strasburger explizit auf die kaiserzeitliche Historiographie angewendet hat.237 Einzig die Konflikte in Rom um das Herrscherhaus sowie die Kriege an den Grenzen des Reiches würden demnach eine Rolle in der kaiserzeitlichen Geschichtsschreibung spielen. Tatsächlich entschuldigt sich Tacitus nach seinem Bericht über die Regierungszeit des Tiberius vorsorglich dafür, dass er keine bedeutenden Dinge mehr zu berichten habe verglichen mit den älteren Geschichtswerken.238 Außerdem seien „gute Zeiten“ schlecht für die Beredsamkeit und damit auch todbringend für die Geschichtsschreibung.239 Lukian schreibt in seiner Schrift über die Geschichtsschreibung, dass er bei vielen πεπαιδευμένοι wegen des Partherkrieges des Lucius Verus 162–165 n. Chr. ein Fieber für die συγγραφή entdeckt habe.240 Da jetzt Frieden herrsche und es keiner wagen würde, gegen die Römer einen Krieg zu beginnen, nachdem sie wieder siegreich waren, bleibe als Gegenstand künftiger Geschichtsschreibung nur, Kriege zwischen Barbaren und Barbaren zu schildern.241 Die Fehler, die ein zeitgenössischer Geschichtsschreiber vermeiden sollte, sind ἱστορίαι als ἐγκώμιον anzusehen und sie mit ‚Zierrat wie Mythos und Lobrede und den dazugehörigen Übertreibungen‘ auszustatten.242 Stattdessen sollte für die Geschichtsschreibung die Wirkung auf die Nachfahren der Maßstab sein.243 Lukian kritisiert an der Zeitgeschichtsschreibung beispielsweise fehlende Autopsie,244 einen Kurzschreiber, der nur 500 Zeilen für die Darstellung des Krieges benötigt,245 utopische Romane,246
236 237 238 239
240 241 242 243 244 245 246
Vgl. Bowie 1974, 182. Vgl. Strasburger 1966, 26. Vgl. Tac. Ann. 4,32. Vgl. Tac. dialog. de orat. 41. Vgl. Strasburger 1966, 27 Anm. 4. Nach Ps.-Longin. de subl. 44,2–11 befähige die moralische Defizienz der Gegenwart nicht mehr zu großen Taten, obwohl sie grundsätzlich möglich seien: dazu bedürfe man nur einer gewissen Anstrengung. Heute gebe es aber nur noch Huldigungsrhetorik. Vgl. Vgl. Möllendorf 2000a, 6 Anm. 15. Dies kann man entweder zeitdiagnostisch als Kommentar zur Defizienz der Gegenwart lesen oder als Kritik an der Beliebtheit bestimmter Genres und Stilmittel in der Rhetorik, um die es Ps.-Longin in seiner Schrift ja auch grunsätzlich geht. Dazu gehört die Niederlage bei Elegeia 162 n. Chr. und die Wiedereroberung Armeniens 163 n. Chr. Vgl. Lukian. hist. conscr. 1 f. Aristeid. or. 26,70 (erfolgreiche römische Kriege gegen Geten, Libyer und ‚diejenigen am Roten Meer‘, vgl. dazu Behr 1981, 376 Anm. 77). Vgl. Lukian. hist. conscr. 5, zwischen Kelten und Indern, Indern und Baktriern. Vgl. Lukian. hist. conscr. 7 f. Vgl. Lukian. hist. conscr. 9 mit einer Anspielung auf Thuk. 1,22,4, das sogenannte „Methodenkapitel“. Vgl. Lukian. hist. conscr. 29. Er kritisiert einen Korinther, der nie Exerzitien sah, geschweige denn Parthien, die Gegend, von der sein Geschichtswerk handelt. Vgl. Lukian. hist. conscr. 30. Vgl. Lukian. hist. conscr. 31.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
übertriebenen Attizismus247 oder Herodot-248 und Thukydides-Imitationen249 für eine Pestbeschreibung. Lukian wendet sich nicht gegen Vergangenheitsbezüge im Rahmen der Historiographie an sich, sondern speziell gegen Depravationen des zeitgenössischen Literaturbetriebs, der die Mimesis der Klassiker ohne ein Mindestmaß an kreativer Originalität betreibt. Pausanias hingegen interessieren weder die römischen Grenzkriege noch die Intrigen am Kaiserhof, was einerseits mit seinen Auswahlkriterien und andererseits mit dem Genre der Periegese zusammenhängt.250 Er interessiert sich für die aktuelle Gestalt Achaias vor dem Hintergrund der Vergangenheit, die er ordnenden Prinzipien unterwirft. Sidebottom meint hingegen, Pausanias würde bei der Konstruktion linearer Sequenzen wie in 7,17,1–4 an frei wählbaren Punkten starten und enden und so eine flexible ad-hoc-Strukturierung der Vergangenheit herstellen.251 Dem muss widersprochen werden, da Pausanias in den historischen Exkursen die immer gleichen politischen und militärischen Ereignisse als strukturbildendes Gerüst abschreitet und für das jeweilige Ethnos bzw. das Individuum seinen Bezug dazu kommentiert.252 Dieses Grundgerüst besteht aus Ilion, Plataiai, der Pentekontaetie, dem Peloponnesischen Krieg, Delion, Koroneia, Leuktra, dem 3. Heiligen Krieg, Chaironeia, Lamia, Krannon, dem Einfall der Galater, dem Ende des Achäischen Bundes, Flamininus und Mithridates. Pausanias geht es dabei vor allem um die Teilnahme an panhellenischen Schlachten zur Verteidigung der griechischen Freiheit und den Gründen für ein eventuelles Fernbleiben davon.253 Innerhalb von Pausanias’ Periegese können mehrere katalogartige Aufzählungen ausgemacht werden, 247 Vgl. Lukian. hist. conscr. 21,1–5: ὑπὸ γὰρ τοῦ κομιδῇ Ἀττικὸς εἶναι καὶ ἀποκεκαθάρθαι τὴν φωνὴν ἐς τὸ ἀκριβέστατον ἠξίωσεν οὗτος καὶ τὰ ὀνόματα μεταποιῆσαι τὰ Ῥωμαίων καὶ μεταγράψαι ἐς τὸ Ἑλληνικόν […]. („In seinem eifrigen Bemühen, nur das reinste Attisch zu schreiben, glaubte er, sogar die römischen Eigennamen ändern und ins Griechische übertragen zu müssen […].“). 248 Vgl. Lukian. hist. conscr. 18. 249 Vgl. Lukian. hist. conscr. 26,1–6: Εἶτ' ἐπειδὴ Θουκυδίδης ἐπιτάφιόν τινα εἶπε τοῖς πρώτοις τοῦ πολέμου ἐκείνου νεκροῖς καὶ αὐτὸς ἡγήσατο χρῆναι ἐπειπεῖν τῷ Σευηριανῷ. ἅπασι γὰρ αὐτοῖς πρὸς τὸν οὐδὲν αἴτιον τῶν ἐν Ἀρμενίᾳ κακῶν τὸν Θουκυδίδην ἡ ἅμιλλα. („Da nun Thukydides ein Epitaph für die ersten in dem bekannten Krieg Gefallenen verfasst hat, so glaubte auch unser Autor dem Severian einen Nachruf schuldig zu sein; alle wetteifern nämlich mit Thukydides, der doch in keiner Weise an den unglücklichen Ereignissen in Armenien schuld ist.“). Vgl. auch ebd. 15,10–15 eine Thukydides-Imitatio: ὁποῖα ἐν Ἀρμενίᾳ ἐδημηγόρησεν τὸν Κερκυραῖον αὐτὸν ῥήτορα παραστησάμενος, ἢ οἷον Νισιβηνοῖς λοιμὸν τοῖς μὴ τὰ Ῥωμαίων αἱρουμένοις ἐπήγαγεν παρὰ Θουκυδίδου χρησάμενος ὅλον ἄρδην πλὴν μόνου τοῦ Πελασγικοῦ καὶ τῶν τειχῶν τῶν μακρῶν, ἐν οἷς οἱ τότε λοιμώξαντες ᾤκησαν; („Wie er z. B. den Redner aus Kerkyra in eigener Person in Armenien auftreten und eine Rede halten ließ, oder wie er den Einwohnern von Nisibis, die nicht auf Seiten der Römer standen, eine Seuche schickte, wobei er die ganze Beschreibung einfach aus Thukydides übernahm, mit Ausnahme des Passus über das Pelasgikon und die ‚langen Mauern‘, wo die an der Seuche Erkrankten sich damals aufhielten.“). 250 Vgl. Kap. 5.3.1. 251 Sidebottom 2002, 496: „When constructing such linear sequences Pausanias can start and stop at different suitable points, thus creating a flexible, ad hoc structuring of the past.“ 252 Näheres dazu in Kap. 5.3.3. 253 Swain 1996, 334 Anm. 16. Akujärvi 2005, 234 und s. u. Kap. 5.3.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
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die außer dem Thema Freiheitskampf jeweils unter einem bestimmten Gesichtspunkt zusammengestellt wurden. Zu denken ist hier etwa an den ‚Verräter-Katalog‘ oder den ‚Statuenräuber-Katalog‘.254 In chronologischer Ordnung präsentieren sie historische ‚Fakten‘, sodass sie neben dem historischen Beweis einer These auch die griechische Vergangenheit ordnen. Die oben zitierte Stelle 7,17,1–4 ist demnach ebenfalls als solch ein Katalog anzusprechen, der entlang des historischen Rasters eine Auswahl der Zäsuren vornimmt. Auberger hat bei Pausanias beobachtet, dass er über den üblichen Rahmen seiner Zeitgenossen der Zweiten Sophistik hinaus einen weiteren Zeitraum griechischer Vergangenheit in den Blick nimmt.255 Während die Autoren der Zweiten Sophistik die Perserkriege, Philipp II., Alexander den Großen und Demosthenes betrachten, beschäftigt sich Pausanias auch mit der Zeit, in der die Römer in die griechische Geschichte eintreten. Das zeigt sich exemplarisch an der Liste von Wohltätern Griechenlands, die die oben angeführte Periodisierung sowohl in ihrer chronologischen Ausdifferenzierung als auch durch den Aspekt der Konzentration auf Personen ergänzt. Pausanias beschließt sowohl sein arkadisches Buch als auch den historischen Exkurs zu Philopoimen mit dieser Liste: Miltiades, Leonidas, Themistokles, Xanthippos, Leotychides, Kimon, Konon, Epameinondas, Aratos und Philopoimen als letzter Wohltäter.256 Verbindendes Element zwischen den meisten von ihnen ist, dass sie gegen auswärtige Feinde Widerstand geleistet haben. καὶ ἤδη τὸ μετὰ τοῦτο ἐς ἀνδρῶν ἀγαθῶν φορὰν ἔληξεν ἡ Ἑλλάς. Μιλτιάδης μὲν γὰρ ὁ Κίμωνος τούς τε ἐς Μαραθῶνα ἀποβάντας τῶν βαρβάρων κρατήσας μάχῃ καὶ τοῦ πρόσω τὸν Μήδων ἐπισχὼν στόλον ἐγένετο εὐεργέτης πρῶτος κοινῇ τῆς Ἑλλάδος, Φιλοποίμην δὲ ὁ Κραύγιδος ἔσχατος· οἱ δὲ πρότερον Μιλτιάδου λαμπρὰ ἔργα ἀποδειξάμενοι, Κόδρος τε ὁ Μελάνθου καὶ ὁ Σπαρτιάτης Πολύδωρος καὶ Ἀριστομένης ὁ Μεσσήνιος καὶ εἰ δή τις ἄλλος, πατρίδας ἕκαστοι τὰς αὑτῶν καὶ οὐκ ἀθρόαν φανοῦνται τὴν Ἑλλάδα ὠφελήσαντες. Μιλτιάδου δὲ ὕστερον Λεωνίδας ὁ Ἀναξανδρίδου καὶ Θεμιστοκλῆς ὁ Νεοκλέους ἀπώσαντο ἐκ τῆς Ἑλλάδος Ξέρξην, ὁ μὲν ταῖς ναυμαχίαις ἀμφοτέραις, Λεωνίδας δὲ ἀγῶνι τῷ ἐν Θερμοπύλαις. Ἀριστείδην δὲ τὸν Λυσιμάχου καὶ Παυσανίαν τὸν Κλεομβρότου Πλαταιᾶσιν ἡγησαμένους, τὸν μὲν τὰ ὕστερον ἀφείλετο ἀδικήματα εὐεργέτην μὴ ὀνομασθῆναι τῆς Ἑλλάδος, Ἀριστείδην δὲ ὅτι ἔταξε φόρους τοῖς τὰς νήσους ἔχουσιν Ἕλλησι· πρὸ Ἀριστείδου δὲ ἦν ἅπαν τὸ Ἑλληνικὸν ἀτελὲς φόρων. Ξάνθιππος δὲ ὁ Ἀρίφρονος καὶ Κίμων, ὁ μὲν ὁμοῦ Λεωτυχίδῃ τῷ βασιλεύοντι ἐν Σπάρτῃ τὸ Μήδων ναυτικὸν ἔφθειρεν ἐν Μυκάλῃ, Κίμωνι δὶ πολλὰ καὶ ἄξια ζήλου κατειργασμένα ἐστὶν ὑπὲρ τῶν Ἑλλήνων. τοὺς δὲ ἐπὶ τοῦ Πελοποννησιακοῦ πρὸς Ἀθηναίους πολέμου, καὶ μάλιστα αὐτῶν τοὺς εὐδοκιμήσαντας, φαίη τις ἂν αὐτόχειρας καὶ ὅτι ἐγγύτατα καταποντιστὰς εἶναι 254 ‚Statuenräuber-Katalog‘ bei Paus. 8,46,2–4 und der ‚Verräter-Katalog‘ bei Paus. 7,10,1–5. Andere Kataloge zu unterschiedlichsten Themen sind häufig zu finden: Dichter, die zu Königen gingen (Paus. 1,2,3); kein Grieche vor Pyrrhos habe die Römer bekämpft (Paus. 1,11,7); keine Niederlage der Lakedaimonier vor Leuktra (Paus. 1,13,5); Vergleich des Schicksals der drei Aiakiden (Paus. 1,13,9); Verbreitung des Bogenschießens bei den Griechen (Paus. 1,23,4); Heroen (Paus. 1,34,2); tapferste Griechen (Paus. 8,9,10); Eingreifen der Götter in Schlachten (Paus. 8,10,9); große Gräber (Paus. 8,16,4); große Griechen (Paus. 8,51,1–52,5); bemerkenswerte innergriechische Kriege (Paus. 9,9,1); Unsühnbarkeit der Rache der Kabeiren (Paus. 9,25,9); Eros-Verehrung in Griechenland (Paus. 9,27,1); ‚Heimsucher‘ Delphis (Paus. 10,7,1); weissagende Frauen (Paus. 10,12,8–10); Frevel Einheimischer (Paus. 10,33,2). 255 Auberger 2011. 256 Paus. 8,52,1–5. Außerdem wird 1,25,5 Leosthenes gelobt, weil er als athenischer Feldherr sich auch um alle Griechen verdient gemacht habe. Vgl. Swain 1996, 335.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart σφᾶς τῆς Ἑλλάδος. κεκακωμένον δὲ ἤδη τὸ Ἑλληνικὸν Κόνων ὁ Τιμοθέου καὶ Ἐπαμινώνδας ἀνεκτήσατο ὁ Πολύμνιδος, ὁ μὲν ἐκ τῶν νήσων καὶ ὅσα ἐγγυτάτω θαλάσσης, Ἐπαμινώνδας δὲ ἐκ τῶν πόλεων τῶν ἀπὸ θαλάσσης ἄνω Λακεδαιμονίων τὰς φρουρὰς καὶ ἁρμοστὰς ἐκβαλόντες καὶ δεκαδαρχίας καταπαύσαντες· Ἐπαμινώνδας δὲ καὶ πόλεσιν οὐκ ἀφανέσι, Μεσσήνῃ καὶ Μεγάλῃ πόλει τῇ Ἀρκάδων, λογιμωτέραν τὴν Ἑλλάδα ἐποίησεν. εἶναι δὲ ἁπάντων Ἑλλήνων καὶ Λεωσθένην τίθεμαι καὶ Ἄρατον εὐεργέτας· ὁ μέν γε τὸ Ἑλλήνων μισθοφορικὸν [καὶ] ἐν Πέρσαις περὶ πέντε που μυριάδας ἐπὶ θάλασσαν καταβάντας ναυσὶν ἐς τὴν Ἑλλάδα ἀνέσωσε καὶ ἄκοντος Ἀλεξάνδρου· τὰ δὲ ἐς Ἄρατον ἐδήλωσε δή μοι τοῦ λόγου τὰ ἐς Σικυωνίους. Mit diesem (Philopoimen, Anm. FU) aber hörte Griechenland auf, vortreffliche Männer hervorzubringen. Denn Miltiades, der Sohn des Kimon, der die bei Marathon an Land gehenden Barbaren besiegte und sich dem Vordringen der Meder widersetzte, war der erste Wohltäter für die Gesamtheit von Hellas, Philopoimen, der Sohn des Kraugis, aber der letzte. Diejenigen aber, die vor Miltiades glänzende Taten verrichtet haben, Kodros, der Sohn des Melanthos, der Spartiate Polydoros und der Messenier Aristomenes und wer auch sonst, können nur als Förderer ihres jeweiligen Vaterlandes gelten und nicht von ganz Hellas. 2. Nach Miltiades aber haben Leonidas, der Sohn Anaxandridas’, und Themistokles, der Sohn des Neokles, Xerxes aus Griechenland vertrieben, der eine durch die beiden Seeschlachten, Leonidas durch den Kampf an den Thermopylen. Was aber Aristides, den Sohn des Lysimachos, und Pausanias, den Sohn des Kleombrotos, den Führer in der Schlacht von Plataiai, angeht, haben letzterem seine späteren Ungerechtigkeiten den Titel eines Wohltäters von Griechenland entzogen, während Aristides den Griechen auf den Inseln Steuern auferlegte; vor Aristides aber war ganz Griechenland steuerfrei. 3. Xanthippos aber, der Sohn des Ariphron, vernichtete zusammen mit dem lakedaimonischen König Leotychides die medische Flotte an der Mykale; Kimon aber hat viel Nachahmenswertes für die Griechen getan. Die am Krieg der Peloponnesier gegen die Athener Beteiligten und zumal die Berühmteren sollte man eher Selbstmörder nennen, weil sie Hellas beinahe zugrunde gerichtet haben. 4. Das mißhandelte griechische Volk haben Konon, der Sohn des Timotheos, und Epameinondas, der Sohn des Polymnis, wiederaufgerichtet; der eine, indem er von den Inseln und den Küstengebieten, Epameinondas aber indem er aus den Binnestädten die Besatzungen und Harmosten der Lakedaimonier vertrieb und die Dekadarchie beendete. Auch hat Epameinondas mit nicht unansehnlichen Städten, mit Messene sowie Megalopolis in Arkadien Griechenland noch bedeutender gemacht. 5. Auch zählen für mich Leosthenes und Aratos zu den Wohltätern von ganz Griechenland, der eine, weil er das griechische Söldnerheer in Persien, etwa fünfzigtausend Mann, welche zum Meer gelangt waren, sogar gegen den Willen Alexandros’ mit seinen Schiffen nach Griechenland rettete; die Taten des Aratos habe ich schon bei der Beschreibung Sikyons dargelegt.257
Neben der oben angeführten Aussage, dass nach der erfolgreichen Abwehr der Galater 279 v. Chr. keine griechische Polis für sich mehr mächtig gewesen war, und der Zerstörung Korinths bildet Philopoimen für Pausanias die dritte maßgebliche Zäsur. Philopoimen zeichnet sich besonders durch seinen Widerstand gegen die Römer aus, was die ‚Verräter Griechenlands‘ nicht von sich behaupten konnten. Arats Verdienst lag im Zurückdrängen der makedonischen Könige.258 Wenn wir dieses Bild mit der augusteischen Zeit kontrastieren, erkennen wir die Brisanz von Pausanias’ Geschichtsbild. Für Strabon stand der Achäische Bund auf dem Höhepunkt seiner Macht als Arat Stratege war, Akrokorinth von Antigonos nahm, seine Heimat Sikyon, Megara, Argos, Hermione, Phlious und Megalopolis dem Bund einverleibte und Gewaltherrschaften ein Ende bereitete.259 Bis zu Philopoimens 257 Paus. 8,52,1–5. 258 Vgl. Paus. 2,8,1. Dazu Ameling 1996, 140. 259 Strab. 8,7,3.
4.2 Geschichtsbilder und Periodisierungen
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Heerführerschaft hätten sich die Achaier sehr gut gehalten. Danach zerfiel der Bund allmählich, da die Römer Griechenland in Besitz hatten und nicht alle Griechen gleich behandelten. Hiermit wird lediglich angedeutet, dass es pro- und anti-römische Gruppierungen unter den Griechen gab. Philopoimens und Arats Widerstand wird bei Strabon nicht explizit thematisiert. Bei Pausanias sind es jedoch nicht die Römer, die Griechenland ein Ende gemacht haben, sondern sowohl die ‚Verräter‘ in den eigenen Reihen als auch die Makedonen:260 Bereits der Peloponnesische Krieg habe Griechenland schon schwach und morsch gemacht, Philipp habe es aber ganz zugrunde gerichtet;261 Hellas war bei der Kelteninvasion durch Philipp und Alexander geschwächt;262 die Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.) war eine Glücklosigkeit, der Anfang des Übels für alle Griechen und hat alle zu Sklaven gemacht, die es mit den Makedonen hielten.263 Man hätte erwartet, dass die Makedonen diejenigen ‚versklavten‘ (im Sinne von beherrschten), die sie besiegt haben. Stattdessen haben es die Kollaborateure in Pausanias’ Augen am schlechtesten getroffen. Dass Griechenland seit Philopoimen keine vortrefflichen Männer mehr hervorgebracht habe, bedeutet also, dass Pausanias in seiner Gegenwart lediglich mit pro-römischen Kollaborateuren bzw. Rom-orientierten Griechen rechnet. Tatsächlich ist auch die Philopoimen-Vita des Plutarch chronologisch gesehen die jüngste eines Griechen.264 Bei Pausanias überlagern sich verschiedene Aspekte mit einer je eigenen Chronologie des Niedergangs: Politik, Materielles, Religion und Kultur (= Kunst und Literatur). Die folgende Übersicht greift an dieser Stelle Dinge auf, die erst in den Kapp. 4.3.2 und 4.3.4 diskutiert werden. (1) Politisch gesehen endet die griechische Geschichte für Pausanias nicht mit der Zerstörung Korinths durch die Römer (7,17,1), obgleich sie nach der Schwächung durch die Makedonen, den Galatereinfall und Philopoimen die vierte maßgebliche Zäsur bildet. In der Gegenwart ist lediglich punktuell mit der Freiheitserklärung Neros oder dem Widerstand Elateias eine politische Geschichte Griechenlands zu schreiben. (2) Materiell gesehen schuf Hadrians Euergetismus in den Metropolen Griechenlands wieder Prosperität (vor allem in Athen).265 Die ländlichen Gebiete, wie Arkadien, sind davon nicht berührt. (3) Religiös gesehen wird ein kontinuierlicher Niedergang bis zur Gegenwart konstatiert.266
260 261 262 263 264 265 266
Vgl. Pretzler 2007, 28. Palm 1959, 64. Philostr. Ap. 7,3. Max. Tyr. 41,3a. Paus. 3,7,11. Paus. 1,4,1. Paus. 1,25,3. Vgl. auch 9,6,5: für alle Griechen ein Unglück. Schrott 2014, 265. Paus. 1,20,7. Paus. 8,10,3: Früher hätte ein Wollfaden ausgereicht, um den Zugang zu einem Heiligtum zu sperren, da die Menschen noch Ehrfurcht vor dem Göttlichen hatten. 8,2,5: Zu seiner Zeit habe die Schlechtigkeit den höchsten Grad erreicht, sodass kein Mensch mehr zu einem Gott werde, außer dem Namen nach. Vgl. Ursin 2014a, 60 und s. u. Kap. 4.3.4.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
(4) Kunsthistorisch gesehen endet die Reihe der von Pausanias als bedeutsam angesehenen Künstler um 150 v. Chr.267 Wie Aristides die griechische Vergangenheit periodisiert, sehen wir verdichtet im Eleusinios, einer Monodie über die Zerstörung von Eleusis im Kostobokeneinfall von 170 n. Chr.268 Die Paragraphen drei und vier berichten von der mythischen Fundierung des Ortes mit seiner Beziehung zu Athen. Nach der Erwähnung der Rückkehr der Herakliden (die Dorer verschonten Eleusis aus Scham oder Angst),269 die zur Besiedlung Ioniens führte, kommen wir anschließend mit den Perserkriegen in historische Zeit, wo Eleusis wiederum verschont blieb,270 genauso im Peloponnesischen Krieg.271 Während verschiedene Festfrieden gebrochen wurden, geschah dies während des Mysterienfriedens nie: „Nur während der Eleusinien befand sich Griechenland in gesundem Zustand, und so war aufs deutlichste dieses Fest Reinigungsmittel für Wahnsinn und jegliches sinnlose Unglück.“272 In hellenistischer Zeit ließen Philipp, Alexander, Antipatros und die nachfolgenden Dynasten Eleusis in Ruhe. Sogar die ‚letzte‘ Invasion (die der Kelten) verschonte das Heiligtum,273 das allein ein ὑπόμνημα (Denkmal) an die alte Glückseligkeit blieb. Die Gegenwart Griechenlands wird nun damit charakterisiert, dass Nebel und Finsternis es besetzt haben.274 Wechselhaft seien ferner Kriegsglück, Gesetze, Verfassungen, Gesinnungen und Sprache, allein dauerhaft seien die Mysterien.275 Gleich zu anfangs bedauerte Aristides, dass er lieber früher Eleusis besungen hätte als jetzt.276 Das späteste von Aristides erwähnte Ereignis ist der ‚letzte‘ Barbareneinfall der Kelten 279 v. Chr. Auf die jüngere Zeit spielt er allein damit an, dass die nachfolgenden Dynasten der Makedonen ebenfalls Eleusis unangetastet ließen. Die römische Herrschaft wird im Gegensatz zu Pausanias überhaupt nicht erwähnt, womit auch die Zerstörung Korinths als Zäsur entfällt. Die Gegenwart erscheint defizitär im Vergleich mit der Vergangenheit und es wird der Nachweis geführt, dass während der gesamten griechischen Vergangenheit die Integrität des Heiligtums 267 Vgl. Ameling 1996, 130 sah zwar auch die zeitliche Koinzidenz der kunsthistorischen Wertschätzung mit dem Ende der politischen Geschichte Griechenlands, glaubt beide Aspekte aber im Denken des Pausanias als getrennte Einheiten erkennen zu können. 268 Allgemein zum Eleusionios (or. 22) vgl. Humbel 1994. Die Rede ist wohl 171 n. Chr. in Smyrna gehalten worden, zur Datierung vgl. ausführlich Humbel 1994, 45–52. Zur Kostoboken-Invasion vgl. Gerov 1977, 118–122. Motschmann 2002, 181–183. Popa 2007. Im Jahr 2008 wurde das Grab von Marcus Nonius Macrinus (PIR2 N 140) in Rom gefunden (AE 2007, 257. AE 2010, 212), der nach der Subscription der Rede während ihrer Abfassung Prokonsul von Asia (170–171 n. Chr., cursus honorum in IvE 3029 = ILS 8830) war. 269 Aristeid. or. 22,5. 270 Aristeid. or. 22,6. 271 Aristeid. or. 22,7. 272 Aristeid. or. 22,7: μόνοις Ἐλευσινίοις ὑγίαινεν ἡ Ἑλλάς, καὶ σαφέστατα δὴ πανήγυρις αὕτη καθάρσιον ἦν καὶ μανιῶν καὶ πάσης ἀτόπου συμφορᾶς. 273 Aristeid. or. 22,8: καὶ σιωπῶ Κελτοὺς τοὺς τὰ τελευταῖα ἐπεισκωμάσαντας τῇ Ἑλλάδι. 274 Aristeid. or. 22,11: ὦ νεφέλη καὶ σκοτόμαινα, ἣ νῦν ἐπέχεις τὴν Ἑλλάδα. 275 Aristeid. or. 22,8: ναυμαχίαι μὲν γὰρ καὶ πεζομαχίαι καὶ νόμοι καὶ πολιτεῖαι καὶ φρονήματα καὶ φωναὶ καὶ πάνθ' ὡς εἰπεῖν ἐπέλιπεν, ἀντεῖχε δὲ τὰ μυστήρια. 276 Aristeid. or. 22,1: Ὦ πάλαι ποτὲ ἡδίων ᾄδειν Ἐλευσὶς ἐμοὶ.
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bewahrt blieb, außer in der unmittelbaren Gegenwart, die mit Nebel und Finsternis charakterisiert wird. Im Panathenaïkos endet Aristides bei seinem Durchgang durch Athens friedliche und militärische Vergangenheit mit Chaironeia, sodass hier wiederum die makedonische und römische Herrschaft nicht explizit genannt wird.277 Soweit unterscheidet sich Aristides nicht von anderen griechischen Autoren der Hohen Kaiserzeit.278 Interessant wird es, wenn Aristides Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung setzt, wobei er den Unterschied für Athen heute darin sieht, dass die Stadt nicht mehr in gefahrvolle Situationen komme.279 Sonst sei die Stadt fast genauso glücklich wie damals, als sie Griechenland beherrschte. Unter der ‚jetzigen besten und größten Herrschaft‘ habe Athen den Vorzug gegenüber allem anderen Griechischen und ist so vorgegangen, dass niemand sich den alten Status leichtfertig anstatt dem jetzigen zurückwünschen würde. Pernot legt das Augenmerk auf μὴ ῥᾳδίως (nicht leichtfertig) und μικροῦ (fast) um zu zeigen, dass Aristides den Hörer zwischen den Zeilen lesen lassen will.280 Tatsächlich überträgt Aristides die Deutungsleistung von ‚fast‘ und ‚nicht leichtfertig‘ auf den Hörer respektive Leser und enthält sich selbst damit eines eindeutigen Urteils. Hier liegt die Deutung nahe, dass es in Analogie zum Eleusinios Athen in der Vergangenheit besser erging und die Wiederherstellung dieses Zustandes heute wünschenswert ist. Nach der Aufzählung der Geschichte der athenischen Militärerfolge bis Chaironeia präsentiert Aristides als eine Neuheit seine These, dass der wahre Sieg der Athener die Übernahme ihrer Lebensweise und Sprache durch die gesamte Menschheit sei.281 In dem Moment also, in dem die Rede über militärische Erfolge prekär werden würde, schwenkt er auf das Feld kultureller Hegemonie, der sich also implizit auch die Römer unterworfen haben. Sein Kommentar zur gegenwärtigen Stellung Athens betont die hohen Ehren und die Freiheit von Tributen: Als die griechische Macht noch florierte war Athen Griechen und Barbaren überlegen. Unter der einzigen Macht, der die Stadt in späterer Zeit militärisch unterlegen war (impliziter Bezug auf Rom), war ihr Ende besser und glücklicher als für alle anderen griechischen Städte, von denen einige sogar verschwanden.282 Hiermit wird auf die Zerstörungen von Sulla (Athen) und Mummius (Korinth) hingewiesen. Auch Aristides’ Rom-Rede muss nun entgegen der älteren Forschung mit der von Pernot für den Panathenaïkos vorgeschlagenen Sensibilisierung für subtile Andeutungen und unter Berücksichtigung des Verschwiegenen gedeutet werden.283 Die bisher positive Bewertung der Rede etwa von Bengtson in Hinsicht auf Aristi277 Aristeid. or. 1,331. 278 Bowie 1970, 8: „A very high proportion of the themes mentioned in the Lives by Philostratus derives from Greek history, and all these from the period before 326 B. C.“ 279 Aristeid. or. 1,332. 335. 280 Pernot 2008, 192. 281 Aristeid. or. 1,322: ἅπασαι γὰρ αἱ πόλεις καὶ πάντα τὰ τῶν ἀνθρώπων γένη πρὸς ὑμᾶς καὶ τὴν ὑμετέραν δίαιταν καὶ φωνὴν ἀπέκλινε. 282 Aristeid. or. 1,333. 283 Aristides charakterisiere die Mechanismen zeitgenössischer römischer Herrschaft treffend: Bengtson 1982, 234. Bengtson 1974, 561–564. Oliver 1969. Bleicken 1966. Klein 1981, 160– 172 mit einem Überblick über die ältere Forschung zur Rom-Rede. Vgl. Pernot 2015, 101–120
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
des’ persönlichen Standpunkt muss differenziert werden.284 Dass vom Volumen her über die Hälfte der zum Lobe Roms verfassten Rede den Griechen gewidmet ist, hätte die Forschung schon viel früher verwundern müssen. Pernot tritt dafür ein, Aristides eine ambivalente Haltung gegenüber Rom zuzutrauen, die weder als frontale Attacke, noch in den Kategorien pro- oder anti-römisch zu bestimmen sei.285 Die Bewertung der Rede wird erschwert durch ihre Form des Enkomions.286 Inhaltlich lassen sich aber eine Reihe von Hinweisen auf anti-römische Positionen anführen, da vom üblichen Inhalt eines Enkomions abgewichen wird: Aristides verschweigt die Ursprünge Roms und seine Geschichte. Er erwähnt weder Kunst, Literatur, Architektur oder Monumente der Stadt. Die großen Gestalten Romulus, Scipio, Caesar und Augustus kommen nicht vor. Kein römischer Name oder ein lateinisches Wort werden erwähnt. Aristides beschränkt sich einzig auf die Gegenwart, was für ein Enkomion untypisch und insofern bemerkenswert ist, da er im Panathenaïkos gezeigt hat, dass er die Wiedergabe langer Kaskaden von Vergangenheitsbezügen durchaus beherrscht. Lediglich Roms administrative Stärken in den Provinzen mit dem Fokus auf den griechisch-sprachigen Osten werden angeführt. Wie die Herrschaft über Griechenland und den Osten zustande kam, wird hingegen nicht erwähnt. Es findet sich lediglich die Andeutung, dass Roms Herrschaft über Griechenland notwendig war, um Ordnung unter die stets streitenden Griechen zu bringen. In einigen Punkten kleidet Aristides seine eigenen normativen Ansprüche in pseudo-analytische Aussagen. Die vornehmsten der Griechen, die unter ihnen einstmals eine Führerstellung innehatten, erhielten Freiheit und Unabhängigkeit, die Übrigen würden maßvoll, mit Schonung und Umsicht regiert.287 Wenn er weiters etwa behauptet, die Römer würden sich um die Griechen wie um ihre Pflegeeltern sorgen, sie schützen und aufrichten, wenn sie darniederliegen, stellt dies einen Akt affirmativen Forderns dar, diese Praxis zugunsten aller Griechen zukünftig auch beizubehalten.288 Zugleich erzeugt das Bild von den Griechen als Eltern aber eine Hierarchie, der sich die Römer unterzuordnen haben. Dass ein „höchst angenehmes und ruhiges Leben, das einem geräuschlos dahinfließenden Wasser ähnlich ist“289
284
285 286 287 288
289
zu den impliziten Aussagen antiker Enkomiastik. Vgl. das Konzept des safe criticism bei Ahl 1984 und safe praise zuletzt bei Cordes 2017. Bengtson 1974, 563: „Selbst wenn man das literarische Genos der Rede gebührend berücksichtigt und nicht vergißt, daß es sich um ein Enkomion mit einer großen Zahl von konventionellen Wendungen handelt, so bleibt dennoch für den Historiker genug Interessantes und Positives. Zunächst besteht gar kein Zweifel, daß es Aristides mit seiner Lobrede ganz aufrichtig gemeint hat.“ Pernot 2008, 177. Pernot 2008, 188. Aristeid. or. 26,96. Vgl. Seelentag 2004, 30 in Bezug zur Panegyrik: „Eine von einem Kommunikationspartner zur Diskussion gestellte Facette der Herrschaftsdarstellung wird von den Aussagen eines Gegenübers reflektiert, damit demonstrativ akzeptiert, zugleich aber mit einer bestimmten Verhaltensanforderung verknüpft, die sich aus dem Gegenstand des soeben Akzeptierten und aus dem Akt des Akzeptierens an sich ableitet.“ S. u. Kap. 4.3.4 für weitere Fälle. Aristeid. or. 26,69.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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zwar aus römischer Perspektive als wünschenswert hinsichtlich der Ruhe und Ordnung unter den beherrschten Griechen angesehen wird, ist verständlich. Anstatt um Herrschaft und den ersten Rang zu streiten, seien die Griechen von Mühen und Leiden befreit und von der Reue erfüllt, dass sie vergeblich um Schattenbilder gekämpft hätten. Für den Griechen, der sich vor allem durch die Verteidigung seiner Freiheit auszeichnet, untergräbt diese Beschreibung indes seine historisch fundierte Identität. Pernot beobachtet richtig, dass Rom im Grunde zu nichts mehr als einer Ordnungsmacht reduziert und gleichzeitig dem Hellenozentrismus Vorschub geleistet wird.290 Die Rede ist also weniger schmeichelhaft, als bisher angenommen wurde. Aristides deutet an, dass das Imperium Romanum ein von außen den Griechen aufgestülptes Herrschaftssystem darstellt, dem die Griechen zugestimmt haben wegen des ‚Gesetzes der Herrschaft des Stärkeren‘. Aristides fühlt keinerlei Bewunderung für die römische Zivilisation und Kultur. Die römische Herrschaft wird mit ausdauerndem Pragmatismus ertragen. 4.3 DEFIZIENZERFAHRUNG DURCH GEGENWART-VERGANGENHEIT-VERGLEICHE Das in Ruinen liegende, entvölkerte, arme und politisch bedeutungslose Achaia war ein „Leitmotiv“ der griechischen Literatur von Augustus bis ins 3. Jh. n. Chr.291 Diese Gegenwartswahrnehmung wurde aber nicht nur konstatiert und absolut gesetzt, sondern erscheint immer dann, wenn von den Autoren Vergleiche zwischen der als Maßstab gesetzten griechischen Vergangenheit und der Gegenwart gemacht werden.292 Angesichts des immer wiederkehrenden Motivs wurde von der Forschung vermutet, dass das Depravationsmotiv lediglich einer seit Polybios etablierten literarischen Topik entspringe, die sich bis in die Kaiserzeit gehalten habe.293 Dementsprechend kamen von archäologischer Seite Einwände, dass die römische Provinz Achaia in der Kaiserzeit keinesfalls wirtschaftlich derart geschwächt sei, wie es die literarischen Quellen behaupten würden.294
290 Pernot 2008, 189. 291 Sartre 1991, 211–215. Achaia und Asia waren verarmt und bescheiden, vgl. Plut. Sulla 12,5– 14. 25,4 f. Sert. 24,5. Luc. 7,6 f. 20,1–4. Cim. 1,3–2,2. Ant. 24,5–8. 62,1. 68,6–8. Vgl. auch Kahrstedt 1954. 292 Alcock 2002, 38: „In either reconstruction, the vitality of a glorious past (one that lay, by the second century AD at a distance of some six or seven centuries) overwhelms and sadly highlights the deficiencies of the present.“ 293 Zuletzt hat Biesinger 2016 die römischen Dekadenzdiskurse literaturhistorisch untersucht. Er weist ebd., 13 aber darauf hin, dass es eine bewusste Entscheidung eines Autors ist, die Gegenwart als schlechter als die Vergangenheit auszuweisen, womit er zeitspezifische Veränderungen seiner eigenen Gesellschaft mit realen Wirkungsabsichten kommentiere. 294 Alcock 1993, 8: „The past tyranny of the orthodox documentary sources is circumvented, while treating landscapes as equally valid ‚social documents‘ allows alternative histories to be constructed.“
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Jedoch zeigen insbesondere Surveys des ländlichen Raumes, dass lokale Verschiebungen stattgefunden haben:295 Die Landschaft zwischen einigen prosperierenden Städten weist eine relative Verlassenheit auf, wovon insbesondere kleinere Grundbesitzer betroffen waren. Dies korrespondiert mit der Abnahme bäuerlicher bzw. ländlicher Kultaktivität. Es kann eine Verschiebung der Eigentümerschaft zugunsten der Wohlhabenden beobachtet werden, die vornehmlich Römer waren. Demnach war die römische Raumpolitik, die auf die Stärkung und Bevölkerungskonzentration in größeren Städten zielte und sich seit Augustus etwa mit der Neugründung von Nikopolis oder Wiedergründung von Patrai als Veteranenkolonie zeigte, dafür verantwortlich.296 Bevölkerungsschwund, Änderungen in den Formen des Landbesitzes und Kriegsfolgen wurden für das Verschwinden von Poleis in Achaia geltend gemacht.297 Wenn sie nicht in der Vergangenheit militärischen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen waren, erlebten einige kleinere Städte einen Niedergang, weil sie einer ausreichenden ökonomischen Basis oder einer glorreichen Vergangenheit entbehrten, die sie zum Anziehungspunkt von touristischen Besuchern gemacht hätte. Den völlig zerstörten griechischen Städten wie Theben oder Megalopolis standen Athen und Sparta gegenüber, die es im Rahmen ihres „Stadtmarketings“ verstanden, in großem Maße Besucher anzuziehen. Daneben stehen florierende römische Kolonien wie Nicopolis (streng genommen nicht in Achaia, sondern in Epirus), Patrai und nicht zuletzt Korinth als Statthaltersitz von Achaia. Es muss hier also unterschieden werden zwischen griechischen und römischen Städten im römischen Griechenland. Hinsichtlich der Defizienzerfahrung griechischer Städte deckt sich die Gegenwartswahrnehmung der Römer weitgehend mit der der Griechen, da beide das freie Griechenland der klassischen Zeit als Vergleichsmaßstab heranziehen. Die Römer registrieren jedoch lediglich auf einer analytischen Ebene die beobachtbare Depravation als Kuriosität innerhalb ihres Reiches. Die Griechen hingegen konnten die Defizienzerfahrung mit einem kritischen Potenzial aufladen, da die römische Herrschaft und die Aufgabe des Freiheitskampfes zu den Verhältnissen der Gegenwart geführt haben. Im Folgenden sollen drei Dimensionen griechischer Defizienzerfahrung näher betrachtet werden: Die politische (Kap. 4.3.1), materielle (Kap. 4.3.2) und religiöse Defizienzerfahrung (Kap. 4.3.4). Wie die kaiserzeitlichen Griechen mit der Zerstörung Korinths umgegangen sind, soll als Beispiel für eine Defizienzerfahrung dienen, die an einen konkreten Erinnerurngsort gebunden ist (Kap. 4.3.3).
295 Alcock 2002, 48. Vgl. auch Alcock 1997. 1993. Weiteres beruht ebenfalls auf Alcock. 296 Vgl. Strauch 1996 ausführlich zu Nikopolis und Patrai. Pritchett 1999, 206 Anm. 11. Generell Kahrstedt 1950. 297 Alcock 1993, 146.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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4.3.1 Eskapismus als Antwort auf politische Defizienzerfahrung? Die griechische Oberschicht musste verarbeiten, dass die Römer ihren Vorfahren die Freiheit genommen hatten und gleichzeitig ihre gegenwärtige privilegierte Position von der Kooperation der Vorfahren mit den Römern abhängig war.298 Eine weitere Schwierigkeit bestand zudem darin, dass die Griechen sich den Römern kulturell überlegen fühlten und sich die Römer gleichzeitig für die griechische Vergangenheit interessierten.299 Letzteres bewog die städtischen Eliten einmal mehr dazu, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, woraufhin sie wiederum unweigerlich den Unterschied feststellen mussten zwischen der freien Polis der Vergangenheit und dem Leben in einer römischen Provinz. Wenn die Vergangenheit kontrapräsentisch gegen die Gegenwart ausgespielt wird, erzeugt dies nicht nur Defizienzerfahrung, sondern auch ein hohes Kritikpotenzial für die Gegenwart. Dadurch, dass die Griechen sich ihrer Vergangenheit instrumentativ bedienten, haben sie Gegenbilder zur gegenwärtigen römischen Herrschaft aufzeigen können. Insbesondere die politische Freiheit und der Freiheitskampf seit dem 5. Jh. v. Chr. bildeten für das römische Griechenland die Bezugspunkte, die im Gegensatz zur politischen Situation der Gegenwart des 2. Jh. n. Chr. standen. Diese Konstellation materialisiert sich etwa in einem Satz Dions gegenüber den Rhodiern, dass die heutigen Athener ihrer Stadt und des Ruhmes ihrer Vorfahren unwürdig seien.300 Für Appian führen die Griechen der Gegenwart seit Philipp und Alexander ebenfalls ein ihnen – gemessen an ihrer Vergangenheit – unwürdiges Leben und machen ihm einen ruhmlosen Eindruck, da sie ihre Heimat lange Zeit frei und unbesiegt gehalten hatten und genau das ihre spezielle Qualität gewesen war.301 Bleicken und Bengtson waren davon ausgegangen, dass die Griechen dem ‚römischen Frieden‘ positiv gegenüber standen und die materiellen Vorteile gerne angenommen haben.302 In den Quellen finden wir jedoch politische Defizienzerfahrungen hinsichtlich des ‚römischen Friedens‘, der militärische Aktionen seitens der Griechen per se ausschließt, was als Makel empfunden wird.303 In einer 298 Pretzler 2007, 29. 299 Whitmarsh 2004, 1–17. Saïd 2001, 286–295. Swain 1996, 9–13. 65–89. Zanker 1995, 206– 242. Woolf 1994. Bedenkenswert sind die Überlegungen von Alcock 2002, 42, die Rosaldos Konzept einer „imperialist nostalgia“ auf Rom appliziert, vgl. Rosaldo 1989a, 69 f. und 1989b, 107–110. Demnach sind die Römer in Vergangenheit und Gegenwart mit den Griechen brutal umgegangen und haben in einem Akt ‚imperialistischer Nostalgie‘ versucht, die Griechen wieder auf ihre Seite zu ziehen. 300 Dion Chrys. or. 31,117. 301 App. praef. 8 (31). 302 Bengtson 1982, 324 zu Aristides’ Rom-Rede: „Jede Zeile der Rede gibt das Gefühl der Sicherheit, der Sekurität, wieder, das in der Tat das vorwiegende Kennzeichen der Hohen Kaiserzeit gewesen ist.“ Aristides stehe damit auch stellvertretend für seine Standesgenossen, die von der Friedenszeit beglückt waren. Bleicken 1966, 230: „Die Vorteile des Friedens und der kaiserlichen Fürsorge nach den Notzeiten der Republik mögen die Aktivität gelähmt, die Unabänderlichkeit der römischen Macht die Flucht in die große Vergangenheit gefördert haben.“ Vgl. auch Pernot 2008, 190. 303 Vgl. Akujärvi 2005, 299 mit dem Befund, dass es für Pausanias eine normale Praxis war, dass sich Griechen untereinander bekriegten, wenn sie die Freiheit hatten, das zu tun, was sie wollten.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Homonoia-Rede hält Dion den Streit zwischen Nikomedeia und Nikaia um Ehrentitel für verfehlt im Vergleich mit dem Streit zwischen den Athenern und Spartanern beim Siegesfestzug in Plataiai nach der Schlacht im Perserkrieg: „Aber ich sagte wohl schon an früherer Stelle, daß ihre Auseinandersetzungen nicht leerer Wahn waren, sondern daß es bei ihnen wirklich um Macht ging.“304 Wie bereits erwähnt, hat Plutarch den angehenden Politiker daran erinnert, dass er jetzt keine militärische Macht mehr hat und die Weisungen der Römer zu befolgen habe.305 Für Plutarch bietet der Frieden nur noch die Möglichkeit, sich als Politiker um die eigene Polis zu kümmern.306 Sein Urgroßvater habe sich noch an kriegerische Auseinandersetzungen erinnern können, wie die zwischen den Triumvirn – jedoch nicht mehr zwischen griechischen Poleis.307 Um Frieden herzustellen, bedarf es heute keiner Staatsmänner mehr – lediglich für die Eintracht in und zwischen den Poleis, schreibt Plutarch.308 Gemessen an der klassischen und hellenistischen Zeit, in der man gegen Tyrannen und Makedonen kämpfte,309 empfand er die Betätigung der Griechen lediglich in der Kommunalpolitik aber als defizitär. Bei Lukian zielt im Rhetorum Praeceptor der ‚schlechte‘ Lehrer der Rhetorik darauf ab, dass das Studium der klassischen rhetorischen Vorlagen insofern nichts nütze als die politischen Umstände in der Gegenwart sich nicht glichen. Der Nutzen der politischen Reden von Demosthenes und Aeschines wird von ihm bezweifelt, da es keine ‚ernsthaften‘ politischen Probleme mehr zu lösen gäbe.310 […] καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ μήτε Φιλίππου ἐπιόντος μήτε Ἀλεξάνδρου ἐπιτάττοντος, ὅπου τὰ ἐκείνων ἴσως ἐδόκει χρήσιμα […]. […] und dies zu Friedenszeiten, wo weder Philipp anrückt noch Alexander Befehle erteilt, Umstände unter welchen deren Reden vielleicht noch nützlich schienen […].311
304 Dion Chrys. or. 38,38: τὰ δὲ ἐκείνων εἶπον ἤδη που καὶ πρότερον ὅτι μὴ κενόδοξα ἦν, ἀλλ' ὑπὲρ ἀρχῆς ἀληθοῦς ἀγών· 305 S. o. Anm. 24 (Kap. 3.2). Plut. praec. ger. reip. 813e. 306 Plut. an seni 784 f. Die friedliche Gegenwart in Plut. de tranqu. an. 469e. 307 Plut. de Pyth. orac. 408b. de def. or. 413 f. 308 Plut. praec. ger. reip. 824c. 309 Vgl. Dion Chrys. or. 32,48: τοῦτο δ' ἐστὶ θαυμαστὸν ἐπ' ὀνείδει καὶ καταγέλωτι τῆς πόλεως, εἰ παρὰ μὲν τοῖς ἄλλοις ἀριστεῖς καὶ τυραννοκτόνοι μνημονεύονται, σωτηρίας ἕνεκεν τῶν πατρίδων ἐπιδιδόντες αὑτούς· παρὰ δὲ ὑμῖν ὑπὲρ χορδῆς τοῦτο πάσχουσι καὶ δι' ἡδονὴν μικράν, μᾶλλον δὲ δόξαν κενήν. („Aber das ist doch eine merkwürdige Sache (den Tod suchen, um sich ein längeres Nachleben zu sichern, Anm. FU), die Schande und Gelächter über die Stadt bringt, wenn anderswo Helden und Tyrannenmörder, die ihr Leben für die Rettung des Vaterlandes geopfert haben, im Gedächtnis fortleben, während man bei euch diesen Lohn bekommt für das Saitenspiel, um einer kleinen Freude, besser, um eitlen Ruhmes willen.“). 310 Vgl. Dion. Hal. Dem. 22, der die kraftvollen Reden des Demosthenes mit den eher schläfrigen des Isokrates vergleicht. Dionysios reflektiert darüber, wie Demosthenes ihn enthusiasmiert und wie ungleich stärker die Wirkung auf die Athener des 4. Jhs. gewesen sein muss. Anlass seiner Reflexion ist Dem. Olynth. 3,23–32, wo Demosthenes einen Vergleich zwischen den Zeitgenossen und den Vorvätern im Modus der Dekadenz vornimmt. 311 Lukian. Rh. Pr. 10. Vgl. auch Aristeid. or. 23,53, der die Irrelevanz seiner klassischen Beispiele für Friedenszeiten konstatiert.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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Bezeichnenderweise spielt Lukian auf die Hegemonie Philipps II. und Alexanders des Großen über Griechenland an, womit der Eindruck entsteht, dass Rhetorik nur im Freiheitskampf sinnvoll ist. Dass es der ‚schlechte‘ Lehrer der Rhetorik ist, der auf die Defizienz hinweist, hat den Grund, dass er den kurzen und schnellen Weg der Rhetorikausbildung propagiert und nicht wie der ‚gute‘ Lehrer den längeren Weg über die Nachahmung der klassischen Vorbilder geht.312 Wenn Dion davor warnt, keine patriotischen Gefühle bezüglich des Trojanischen Krieges zu zeigen, da die Bewohner Asias und die Griechen heute von anderen beherrscht würden,313 zeigt dies doch, dass es einen politischen Patriotismus gab, der die römische Herrschaft infrage stellte. Wie nun ist der Umgang der Griechen mit der politischen Defizienzerfahrung zu verstehen? Bowie hat die Eskapismus-These ins Spiel gebracht, die besagt, dass die griechische Literatur der Kaiserzeit den Versuch repräsentiere, der politischen Unterordnung der Gegenwart zu entkommen indem man den vergangenen Ruhm des freien Griechenland in Erinnerung rufe.314 Bowie zielt hierbei auf die nunmehr fehlende Möglichkeit der griechischen Poleis, ihre Konflikte untereinander diplomatisch oder militärisch zu regeln und stattdessen Gesandtschaften zum Kaiser, seinem Legat oder dem Prokonsul entsenden zu müssen.315 Bowie hat in seiner 312 Lukian. Rh. Pr. 16: ἔπειτα πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας ποθὲν ἀκριβῶς ἐκμελετήσας, πρόχειρα ἐπ' ἄκρας τῆς γλώττης ἔχε – τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἀμηγέπη καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα, – καὶ ἐν ἅπαντι λόγῳ καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν. („Wähle dir dann von irgendwoher fünfzehn oder höchstens zwanzig attische Wörter aus, lerne sie sorgfältig auswendig und trage sie stets abrufbereit auf der Zungenspitze – ἄττα, κᾆτα, μῶν, ἀμηγέπη, λῷστε und Ähnliches – und streue bei jeder Rede von diesen Wörtern etwas ein wie ein Gewürz.“). 17: ἀλλὰ καὶ ἀναγίγνωσκε τὰ παλαιὰ μὲν μὴ σύ γε, μηδὲ εἴ τι ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων, ἀλλὰ τοὺς τῶν ὀλίγον πρὸ ἡμῶν λόγους καὶ ἅς φασι ταύτας μελέτας, ὡς ἔχῃς ἀπ' ἐκείνων ἐπισιτισάμενος ἐν καιρῷ καταχρῆσθαι καθάπερ ἐκ ταμιείου προαιρῶν. („Aber die Alten sollst du auf keinen Fall lesen – auch nicht etwa den Schwätzer Isokrates oder den eleganzlosen Demosthenes oder den frostigen Platon –, sondern die Reden derer, die kurz vor unserer Zeit lebten, und diejenigen Schriften, die sie ‚Deklamationen‘ nennen, damit du von ihnen, weil du dir daraus einen Vorrat angelegt hast, bei Gelegenheit Gebrauch machen kannst, indem du sie hervorholst wie aus einer Speisekammer.“). 313 Dion Chrys. or. 11,150: ἴσως ἂν οὖν εἴποι τις ἀνήκοος, Οὐκ ὀρθῶς Ἕλληνας καθαιρεῖς. ἀλλ' οὐδὲν ἔστιν ἔτι τοιοῦτον, οὐδὲ ἔστι δέος μή ποτε ἐπιστρατεύσωνται ἐπὶ τὴν Ἑλλάδα τῶν ἐκ τῆς Ἀσίας τινές· ἥ τε γὰρ Ἑλλὰς ὑφ' ἑτέροις ἐστὶν ἥ τε Ἀσία. τὸ δὲ ἀληθὲς οὐκ ὀλίγου ἄξιον. („Es könnte nun vielleicht ein Unkundiger einwenden: Es ist nicht recht, dass du die Hellenen so herabsetzt. Nein, so verhält es sich nicht, und es ist nicht zu befürchten, dass je ein Feind aus Asien gegen Hellas ziehe; denn es sind andere, die jetzt über Hellas und Asien gebieten.“). 314 Bowie 1970, 18: „For a Greek, the paradeigmatic political animal, the contemporary balance of politics was profoundly unsatisfactory. This is, what led orators to declaim on the happier days of Marathon and Salamis and historians to forget the period after Alexander.“ Mit anderer Gewichtung vgl. Bowie 1991 und noch Bowie 2014, 63 f. mit größerer Emphase für die Kompensations-These. Zur Kritik an der Eskapismus-These vgl. Zweimüller 2008, 342–345. Möllendorff 2000a, 6. Veyne 1999, 510–567. Schmitz 1997, 18–26. Anderson 1993, 101–132. Branham 1989, 214. Gabba 1982, 43–65. Touloumakos 1971, 75 Anm. 156. 315 Bowie 1970, 18 verweist auf Dions politische Reden in seiner Heimatstadt Prusa (or. 38–51) und Plutarchs Gegenwartsanalyse in praec. ger. reip. 813d–e.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Studie über „The Greeks and their Past in the Second Sophistic“ zwar die Bezugspunkte und Formen von Vergangenheitsbezügen seitens der Griechen in der Hohen Kaiserzeit vorbildlich herausgearbeitet, überbewertet aber die vermeintliche Resignation der Griechen, von der er seine Interpretation leiten lässt. Das zeigt sich bspw. an seiner Bewertung des Pausanias: In einem Amalgam aus fragwürdigen Annahmen (Desinteresse an allem nach 150 v. Chr.) und richtigen Beobachtungen (Pausanias spiegelt auch das Interesse seiner Adressaten) reproduziert Bowie die von den spätrepublikanisch-frühkaiserzeitlichen Römern geprägte Dichotomie zwischen römischer Herrschaft und griechischer Kultur.316 Der Niedergang der politischen Geschichte habe demnach den Aufstieg der Kulturgeschichte beeinflusst. Diese Ansicht kulminiert in der These: The political and cultural achievements of classical Greece, and particularly Athens, were very closely woven together in the Greek memory of the past, and this may well have fostered the illusion in some that a cultural resurgence would somehow bring with it a restoration of political power and independence.317
Bowie hat hier absurderweise seine Eskapismus-These mit dem Gegenteil transzendiert: Wenn die Griechen sich nur beharrlich ihrer Kultur erinnerten, würde die mit ihr verbundene Herrschaft restauriert. Das logische Problem besteht hier darin, dass man der zeitgenössischen Defizienzerfahrung gerade nicht dadurch entkommt, dass man immer mehr kontrapräsentische Vergangenheitsbezüge herstellt, da diese die Defizienzerfahrung noch weiter verstärken würden. Die Motivation für die sowohl quantitativ als auch qualitativ intensivierten Vergangenheitsbezüge seitens der Griechen in der Hohen Kaiserzeit muss also anders begründet sein. Ist es überhaupt möglich, im Zusammenhang mit Eskapismus von politischer Restauration zu sprechen? Beim Eskapismus haben wir es nämlich mit einem ‚harmlosen‘ Phänomen zu tun, da das Subjekt seine Energien nicht in die Veränderung der Gegenwart, sondern in die Betrachtung der vermeintlich besseren Vergangenheit investiert.318 Zwar mag der Eskapist etwa die Restauration seiner imaginierten Vergangenheit sprachlich verfolgen, aufgrund seines konservativen und kontemplativen Wesens wird er sie aber nicht in reformatorische Impulse für die Gegenwart umsetzen. Dass die Herstellung von vermeintlich eskapistischen Vergangenheitsbezügen in bestimmten Kontexten nicht harmlos ist, sehen wir bspw. bei Plutarchs Warnung vor einer politisch-restaurativen Deutung durch den Demos.319 Zwar hält es Plutarch einerseits für lächerlich, wenn griechische Politiker zur Nachahmung des griechischen Freiheitskampfes des 5. Jh. v. Chr. aufrufen, sieht auf der anderen Seite aber die ernsthaften Folgen einer gewaltsamen Intervention seitens der Römer in den griechischen Poleis. 316 S. u. Kap. 6.3. 317 Bowie 1970, 23. 318 Vgl. die konventionellen negativen Definitionen bei Henke 2008, 155–157, die darauf hinauslaufen, dass Eskapismus eine Flucht vor der Wirklichkeit in imaginierte Scheinwelten ist. Der verwandte Terminus der ‚Nostalgie‘ stammt ursprünglich aus der Medizin und wurde von Johann Jakob Harder als Krankheitsentität im Sinne von ‚Heimweh‘ beschrieben, welches er bei Soldaten beobachtet hat, vgl. Harder 1688 und Cassin 2016. 319 Plut. praec. ger. reip. 814c.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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Anstatt sich einem rein negativen nostalgischen Eskapismus zu ergeben, haben sich die Griechen vielmehr einer positiv zu verstehenden Utopie bereits einmal in der Vergangenheit realisierter Ideale zugewandt, die allerdings aufgrund der wahrgenommenen Unabänderlichkeit der römischen Herrschaft nicht für die Zukunft antizipiert werden konnte. Wir haben es also nicht mit einer Flucht in die Vergangenheit zu tun, sondern sollten den Blick für komplexe Funktionalisierungen von Vergangenheitsbezügen weiten, die offensichtlich in einem noch näher zu bestimmenden Verhältnis zur römischen Herrschaft stehen. Schmitz hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass für die kaiserzeitliche griechische Gesellschaft die Zweite Sophistik die wichtigste öffentliche Institution zur Produktion von Geschichte war.320 Sophisten waren zwar keine Historiker, mussten sich aber auch an die Grundzüge des Geschehenen halten. Sie propagierten jedoch eine Geschichtsdeutung, die sie und das Publikum zu einer Gemeinschaft (auch mit den klassischen Griechen) zusammenzog. Sophistische Darbietungen waren deswegen keine nostalgische Form von Eskapismus, sondern dienten nach Schmitz vielmehr gesellschaftlichen Zwecken. Dass nun ausgerechnet der literarische Attizismus eines Arrian von Bowie als ‚archaistische Tendenz‘ und somit als ‚Flucht in die Vergangenheit‘ bezeichnet wird,321 ist absurd wenn man die zeitgenössischen Funktionen inhaltlicher und formaler Vergangenheitsbezüge berücksichtigt. Schmitz versteht die sophistischen Meletai als ‚performance‘322 mit der Funktion gesellschaftlicher Distinktion in sprachlicher Hinsicht323 und die Mimesis klassischer Redner als Produktion von Autorität.324 Was von den Reden gilt, sollte auch auf die Prosaliteratur angewendet werden dürfen.
320 Schmitz 1999, 91 f. Schmitz 1997. 321 Bowie 1970, 28: „To a certain extent the archaistic tendencies must be taken as a flight from the present. With the autonomy of Greek cities only nominal those Greeks who felt that in a different age they might have wielded political power in a Greek context must needs be dissatisfied with the present and attempt to convert it to the past where their ideal world lay.“ 322 Schmitz 1999, 74. 323 Für Aristides ist das korrekte Sprechen, d. h. attisches Griechisch, die Defintion von Paideia (Kultur/Bildung, Aristeid. or. 1,326), während die Kyniker, die ‚mehr Fehler als Wörter machen‘ (Aristeid. or. 3,664) ‚sprachloser erscheinen als ihr eigener Schatten‘ (Aristeid. or. 3,672). Durch die Wiederholung und Ritualisierung solcher Aussagen über das Feld der Sprache schafften die sophistischen Darbietungen ihren eigenen privilegierten Status und monopolisierten den öffentlichen Diskurs für die gesellschaftlichen Eliten. Vgl. Pernot 2015, 66–100. 324 Schmitz 1999, 75 f. 92. Durch die Nachahmung der Klassiker wurden die Sophisten selber klassisch. Wenn das Publikum den Redner ernst nahm, konnte er mit der so erzeugten Autorität seinen Vergangenheitsbezügen Sinn verleihen. Die Sophisten konnten allerdings bisweilen ihren Anspruch der Gleichheit gegenüber der klassischen Norm nicht erfüllen, wie Lukian von einem Redner in Olympia berichtet, der eine Stehgreifrede imitierte, die er aber auswendig vortrug. Die Anwesenden machten sich über ihn lustig, indem sie seine (ihnen bekannte Rede) in Teilen laut mitsprachen (Lukian. Pseudolog. 5 f.). Herodes Atticus konnte nicht Demosthenes sein, sondern lediglich wie Demosthenes (Philostr. soph. 539). Er vergleicht sich lieber mit dem Zeitgenossen Polemon. Die Imitation klassischer Redner bewegte sich allerdings nicht nur auf thematischer und sprachlicher Ebene, sondern auch auf gestischer und mimischer, vgl. Plut. mor. 26b. 53c–d und s. o. Kap. 4.1.4.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Eine weitere Funktion liegt in der Konstruktion einer vergangenheitsbegründeten Identität. Es ist auffällig, dass die sophistischen Reden über einen langen Zeitraum etwa seit dem Ende des 1. Jh. n. Chr. bis weit über Philostrat (3. Jh. n. Chr.) hinaus ihr Publikum gewannen. Schmitz hat herausgearbeitet, dass die Bemühung einer emotionalen Verbindung zwischen Redner und Zuhörerschaft zur Attraktivität der Reden beitrugen.325 Indem die Redner das Griechentum ihrer Selbst und das ihres Publikums gleichermaßen mithilfe der Vergangenheit begründeten, stärkten sie damit die ethnische und kulturelle Identität der kaiserzeitlichen Griechen.326 Das Angebot bestand in der Identifikation mit dem Griechenland der Vergangenheit und dies war der Grund dafür, dass die sophistischen Reden über einen langen Zeitraum hinweg ‚gelangen‘. Hätte das Auditorium die Identifikation der Redner mit ihren klassischen Vorgängern zurückgewiesen, hätten auch sie ihre eigene historisch fundierte Identität zurückgewiesen. 4.3.2 Ruinen als Zeichen materieller Defizienzerfahrung Pausanias ist die Erinnerungsorte der Griechen in Achaia abgeschritten, um ihre gegenwärtige Verfassung zu dokumentieren. Nach der Lektüre der Periegese hatte der kaiserzeitliche Grieche nicht nur genügend Material, um seine Mitbürger an die politische ‚Schwäche‘ zu erinnern, wie es Plutarch in den Praecepta gerendae reipublicae gefordert hatte,327 sondern auch an die materielle Defizienz. Letztere wird evoziert durch Vergleiche zwischen dem einstmaligen und dem jetzigen Zustand von Poleis, Heiligtümern oder deren Weihegaben. Die ἀσθένεια (Schwäche) in politischer oder finanzieller Hinsicht wird dabei meist als Ursache für den Niedergang ausgemacht, was im Folgenden anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll. Ledon in Phokis, einst eine Stadt, sei nach Pausanias heute aus Schwäche verlassen.328 Es würden lediglich noch 70 Menschen dort am Kephisos wohnen, die den Namen der alten Stadt übernommen hätten. Sie haben einen Sitz im Bund der Phoker wie auch die Panopeer. Pausanias sagt, er würde Panopeus aufgrund seiner Größe nicht mehr als Polis bezeichnen. Nachdem der Tyrann Alexander von Pherai 371/70 v. Chr. die Polis Skotousa zerstört hatte, kehrte ein Teil der Bewohner zurück, verließ die Polis aber wieder aus Schwäche, „[…] als der Gott allen Griechen
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Schmitz 1999, 84. Gegenüber den Rhodiern machen dies Aristeid. or. 24,23 und Dion Chrys. or. 31. Vgl. Plut. praec. ger. reip. 824e. Paus. 10,33,1: πόλις δέ ποτε ἐνομίζετο καὶ αὕτη, κατ' ἐμὲ δὲ ὑπὸ ἀσθενείας ἐξελελοίπεσαν οἱ Λεδόντιοι τὴν πόλιν, καὶ ἄνθρωποι περὶ ἑβδομήκοντα οἱ οἰκοῦντες ἦσαν ἐπὶ τῷ Κηφισῷ· Λέδων δ' οὖν ὄνομα ταῖς οἰκήσεσίν ἐστιν αὐτῶν, καὶ ἐς τὸν Φωκέων σύλλογον κοινὸν τελεῖν ἠξίωνται καὶ οὗτοι, καθάπερ γε καὶ οἱ Πανοπεῖς. („Einst wurde auch [Ledon, Anm. FU] als Stadt betrachtet, zu meiner Zeit aber hatten die Ledontier aus Schwäche die Stadt verlassen, und nur noch etwa 70 Menschen wohnten am Kephisos; ihre Siedlung heißt nun Ledon, und auch sie sind als Mitglieder des Bundes der Phoker anerkannt, ebenso wie die Panopeer.“). Vgl. auch das böotische Akraiphia, das so schwach war, dass es seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen konnte, vgl. Oliver 1971 ad IG VII 2712.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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bescherte, zum zweitenmal im Kriege gegen die Makedonen zu unterliegen.“329 Die Bewohner von Olenos hätten mit der Zeit ihre Stadt aus Schwäche verlassen und seien nach Peirai und Euryteiai gezogen.330 In der Nähe des achäischen Krathis lag einst die Stadt Aigai, die mit der Zeit aus Mangel verlassen worden war.331 Parapotamoi wurde von Xerxes zerstört und nicht wieder aufgebaut; man wisse nicht, wo die Stadt gelegen habe; Bürger hätten sich aus Schwäche und Geldmangel auf die übrigen Städte verteilt.332 Pausanias wendet das Schwäche-Konzept jedoch nicht nur auf einzelne Poleis an, sondern auch kollektiv auf die Griechen, worauf später zurück zu kommen sein wird.333 William Prittchet zählt allein im arkadischen Buch 36 Ruinen (ἐρείπια) oder in Ruinen liegende Städte,334 was mit Abstand Rekord ist bei sonst unter 10 Erwähnungen in den anderen Büchern. Ruinen sind bei Pausanias keine lediglich zerstörten oder verfallenen Stätten, sondern zentrale Artefakte, die als Erinnerungsorte seine Periegese strukturieren.335 Am Beispiel des arkadischen Megalopolis wird deutlich, wie Pausanias historische Exkurse oder Reflexionen an Überreste bindet, die in seiner Gegenwart gar nicht mehr oder nur noch unvollständig erhalten sind.336 Megalopolis als die jüngste der Griechenstädte337 liege heute darnieder, obwohl es einst mit großem Eifer gegründet wurde: εἰ δὲ ἡ Μεγάλη πόλις προθυμίᾳ τε τῇ πάσῃ συνοικισθεῖσα ὑπὸ Ἀρκάδων καὶ ἐπὶ μεγίσταις τῶν Ἑλλήνων ἐλπίσιν ἐς αὐτὴν κόσμον τὸν ἅπαντα καὶ εὐδαιμονίαν τὴν ἀρχαίαν ἀφῄρηται καὶ τὰ πολλά ἐστιν αὐτῆς ἐρείπια ἐφ’ ἡμῶν, θαῦμα οὐδὲν ἐποιησάμην, εἰδὼς τὸ δαιμόνιον νεώτερα
329 Paus. 6,5,3: καὶ ὀλίγον τε ἔμενε τὸ διαφυγὸν τῶν Σκοτουσσαίων καὶ αὖθις ὑπὸ ἀσθενείας ἐξέλιπον καὶ οὗτοι τὴν πόλιν, ὅτε καὶ τοῖς πᾶσιν Ἕλλησι προσπταῖσαι δεύτερα ἐν τῷ πρὸς Μακεδόνας πολέμῳ παρεσκεύασεν ὁ δαίμων. Vorher schrieb Pausanias bereits, dass Skotousa zu seiner Zeit nicht mehr bewohnt war. 330 Paus. 7,18,1: ἀνὰ χρόνον δὲ τοὺς οἰκήτορας ἐκλιπεῖν ὑπὸ ἀσθενείας φασὶ τὴν Ὤλενον καὶ ἐς Πειράς τε καὶ ἐς Εὐρυτειὰς ἀποχωρῆσαι. 331 Paus. 7,25,12: πρὸς δὲ τῇ Ἀχαϊκῇ Κράθιδι Ἀχαιῶν ποτε ᾠκεῖτο Αἰγαὶ πόλις· ἐκλειφθῆναι δὲ αὐτὴν ἀνὰ χρόνον ὑπὸ ἀσθενείας λέγουσι. 332 Paus. 10,33,8: οὐ μέντοι οἱ Παραποτάμιοί γε ὑπὸ Ἀθηναίων καὶ Βοιωτῶν ἀνῳκίσθησαν, ἀλλὰ ἐς τὰς ἄλλας πόλεις οἱ ἄνθρωποι κατενεμήθησαν ὑπό τε ἀσθενείας καὶ σπάνει χρημάτων. („Allerdings wurde Parapotamioi von den Athenern und Böotern nicht wieder aufgebaut, sondern seine Bürger wurden aus Schwäche und Geldmangel den übrigen Städten zugeteilt.“). 333 Zentral für sein Schwäche-Konzept ist Paus. 7,17,1. Vgl. außerdem Paus. 1,4,1. 7,7,7. 14,6. 10,3,3. 14,4. 19,8. S. u. Kap. 6.3. 334 Pritchett 1999, 200. Insgesamt benutzt Pausanias 96 mal das Wort ἐρείπια (ebd., 197). Alcock 1993, 146 Tab. 7 bietet eine nicht vollständige tabellarische Übersicht über die von Pausanias genannten Ruinen. 335 Ruinen als Denkmäler: Paus. 1,38,9. 1,1,5. 2,15,2 f. 2,16,5 f. 3,24,6 f. 4,31,2. 8,35,5–7. 8,44,1–3. 8,53,11. 10,35,2 f. Ruinen als Zeichen des Verlustes: 2,9,7. 2,11,1. 2,11,2. 2,25,9. 2,36,2. 3,24,1. 6,22,1 f. 7,25,12. 8,14,4. 8,17,6. 8,24,6. 8,25,3. 8,32,2 f. 9,7,6. 9,29,2. Nicht einmal Ruinen blieben: 5,5,5 f. 5,6,2. 8,18,8. Dazu Akujärvi 2005, 76–89. Hartog 2001, 143–146. Über die Haltungen zu Ruinen generell Woodward 2001. 336 Deutlich wird dies z. B. am Philopoimen-Exkurs, der anlässlich einer Statuenbasis entwickelt wird, auf der keine Statue mehr stand (Paus. 8,49,1). 337 Paus. 8,27,1. Megalopolis wurde nach der Schlacht von Leuktra durch Synoikismos gegründet, wodurch die umliegenden Poleis verlassen wurden. Vgl. Pritchett 1999, 204 Anm. 7.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart ἀεί τινα ἐθέλον ἐργάζεσθαι, καὶ ὁμοίως τὰ πάντα τά τε ἐχυρὰ καὶ τὰ ἀσθενῆ καὶ τὰ γινόμενά τε καὶ ὁπόσα ἀπόλλυνται μεταβάλλουσαν τὴν τύχην, καὶ ὅπως ἂν αὐτῇ παριστῆται μετὰ ἰσχυρᾶς ἀνάγκης ἄγουσαν. Wenn Megalopolis, das mit allem Eifer gegründet wurde von den Arkadern und mit den größten Hoffnungen der Griechen darauf, seine ganze Ausstattung und seinen alten Wohlstand verloren hat und zu unserer Zeit größtenteils in Ruinen liegt, so habe ich mich darüber gar nicht gewundert, da ich weiß, dass die Gottheit immer etwas Neueres schaffen will und die Tyche alles, das Starke wie das Schwache, das Werdende und schon Vergangene, verändert und mit starker Gewalt lenkt, wie es sein Wille ist.338
Auch Strabon hatte schon von einer Depopulation Arkadiens in augusteischer Zeit berichtet, die in der Vergangenheit vor allem durch die ständigen Kriege herbeigeführt wurde: δοκεῖ δὲ παλαιότατα ἔθνη τῶν Ἑλλήνων εἶναι τὰ Ἀρκαδικά […]. διὰ δὲ τὴν τῆς χώρας παντελῆ κάκωσιν οὐκ ἂν προσήκοι μακρολογεῖν περὶ αὐτῶν· αἵ τε γὰρ πόλεις ὑπὸ τῶν συνεχῶν πολέμων ἠφανίσθησαν ἔνδοξοι γενόμεναι πρότερον, τήν τε χώραν οἱ γεωργήσαντες ἐκλελοίπασιν ἐξ ἐκείνων ἔτι τῶν χρόνων ἐξ ὧν εἰς τὴν προσαγορευθεῖσαν Μεγάλην πόλιν αἱ πλεῖσται συνῳκίσθησαν. Man hält die arkadischen Völker für die ältesten der Griechen […], doch wegen der völligen Verelendung des Landes wäre es unangebracht sich lange über sie zu verbreiten. Sind doch die Städte, die früher einen großen Namen hatten, durch die ständigen Kriege vom Erdboden verschwunden, und ist das Land von seinen Bebauern schon in der Zeit verlassen worden, als die meisten Städte zu der sogenannten Großen Stadt zusammengelegt wurden.339
Pausanias reflektiert im Gegensatz zu Strabon die Ursachen des Niedergangs, dessen Verantwortung nicht bei den Megalopoliten, sondern im göttlichen Wirkungsbereich liege. Außerdem könne in der Zukunft auch das im Aufschwung Befindliche getroffen werden. Demgegenüber beendet Strabon seinen kurzen Exkurs zu Megalopolis sogar despektierlich mit dem Witz eines ungenannten Dramatikers: Megalopolis, die Große Stadt, sei heute eine große Wüste.340 Als Beispiele für die in Zusammenhang mit Megalopolis vom Daimon hervorgerufenen Veränderungen führt Pausanias im Anschluss das einst mächtige Mykene an, das die Griechen im Trojanischen Krieg gegen Ilion geführt hatte; außerdem Ninos, die einstige Königsstadt der Assyrer und das böotische Theben, das vormals die Führung Griechenlands beansprucht hatte. Die Stadt sei heute vollkommen verödet und nur noch ein paar Menschen würden auf der Kadmeia leben.341
338 Paus. 8,33,1. 339 Strab. 8,8,1. 340 Strab. 8,8,1: νυνὶ δὲ καὶ αὐτὴ ἡ Μεγάλη πόλις τὸ τοῦ κωμικοῦ πέπονθε καὶ “ἐρημία μεγάλη 'στὶν ἡ Μεγάλη πόλις.” Ebd. 8,8,2 heißt es außerdem, das hochberühmte Mantineia und andere Städte existieren entweder nicht mehr oder es sind kaum noch Reste von ihnen zu sehen. Die von Homer genannten Städte Rhipe, Stratie und Enispe seien schwer zu finden, und falls man sie fände, hätte man wegen der Ödnis nichts davon. Vgl. Paus. 8,6,2 f. mit Pritchett 1999, 220, der zeigt, wie Pausanias nach Orten sucht, die bei Homer erwähnt werden. 341 Paus. 8,33,2. Vgl. Robert 1909, 22 Anm. 3, dass Daimon und Tyche bei Pausanias synonym gebraucht werden und nur aufgrund stilistischer Überlegungen der eine oder andere Terminus Verwendung gefunden haben.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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Städte mit einst überragendem Reichtum seien heute weniger reich als ein mittel-begüterter Privatmann.342 Auch hier führt er Beispiele an: Das ägyptische Theben oder das minyische Orchomenos. Delos war einst gemeinsamer Handelsplatz der Griechen und heute würden nur noch einige Leute von Athen zur Bewachung des Heiligtums dorthin geschickt.343 Von Babylon sei nur noch das Heiligtum des Baal übrig und nicht einmal die Mauer der einstmals größten Stadt.344 Das Gleiche gelte für das argolische Tiryns. In Dions Euboïkos findet das von Pausanias gezeichnete Bild teilweise Bestätigung, wobei noch andere Aspekte hinzukommen. Als der Protagonist der Erzählung in die Stadt kommt, wird ihm mitgeteilt, dass zwei Drittel des Landes brach liegen würden, den Großgrundbesitzern mangele es an Menschen, die ihr Land bestellten, vor der Stadt finde sich eine hässliche Wildnis, während innerhalb der Stadtmauern der größte Teil als Saat- und Weideland genutzt werde.345 Auf der Agora weide das Vieh und das Gymnasion werde beackert, wo das wachsende Getreide Statuen von Herakles, weiteren Heroen und Göttern verdecke. In der rhodischen Rede leitet Dion aus dem Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart normative Forderungen ab. Er beschwört dort das Griechentum der Rhodier, die neben den Athenern, Spartanern, Thebanern, Korinthern und in früheren Zeiten den Argivern Griechenland groß gemacht hatten.346 Die Rhodier seien die letzten Griechen, denen es obliegt, das Ansehen früherer Zeiten zu bewahren und nicht etwa durch die Umwidmung von Statuenbasen das Gedächtnis an früheren Ruhm auszutilgen.347 Insofern ergeht Dions Forderung nach einer Vorbildfunktion der Rhodier für alle anderen Griechen, von denen einige glauben würden, sie lebten gegenwärtig vorteilhaft und in Luxus. Diese werden als ‚die Unverständigen‘ bezeichnet – wohl, weil sie sich der griechischen Vergangenheit unbewusst sind und lediglich die Segnungen der pax romana genössen. νυνὶ δὲ τὸ μὲν τῶν ἄλλων οὐθέν ἐστιν. οἱ μὲν γὰρ αὐτῶν ὅλως ἀνῄρηνται καὶ ἀπολώλασιν, οἱ δὲ ἀσχημονοῦσι πράττοντες οἷα ἀκούετε καὶ πάντα τρόπον τὴν παλαιὰν δόξαν ἀφανίζοντες, οἰόμενοι τρυφᾶν οἱ ἀνόητοι καὶ κέρδος ἀριθμοῦντες τὸ μηθένα κωλύειν αὐτοὺς ἁμαρτάνοντας. λοιποὶ δὲ ὑμεῖς ἐστε· καὶ γὰρ μόνοις ὑμῖν ὑπάρχει τὸ δοκεῖν ὄντως τινὰς γεγονέναι καὶ μὴ τελέως καταπεφρονῆσθαι. διὰ μὲν γὰρ τοὺς οὕτω χρωμένους ταῖς ἑαυτῶν πατρίσιν, ὡς ἀληθεύοντες ἔνιοι λέγουσιν, οὐθὲν ἐκώλυε πάλαι Φρυγῶν πάντας ἢ Θρᾳκῶν ἀτιμοτέρους γεγονέναι τοὺς Ἕλληνας. Jetzt ist es mit allen übrigen vorbei: Ein Teil von ihnen ist restlos vernichtet, andere benehmen sich derartig, dass sie solche Dinge tun, wie ihr hört, und jedes Mittel recht ist, den alten Ruf zunichte zu machen. Sie glauben, herrlich und in Freuden zu leben, die Toren, und rechnen 342 343 344 345
Paus. 8,33,2. Vgl. Paus. 3,23,3 und weiterführend zu Delos Pritchett 1999, 205 Anm. 8. Paus. 8,33,3. Dion Chrys. or. 7,34–39. 38: τὰ δέ γε ἐντὸς τείχους σπείρεται τὰ πλεῖστα καὶ κατανέμεται. […] τοὺς δὲ τὸ γυμνάσιον γεωργοῦντας καὶ τὴν ἀγορὰν κατανέμοντας […]. Alcock 1996, 30 meint, dass die Rede nicht „actual contemporary conditions but rather (and equally importantly) contemporary perceptions and concerns“ widerspiegle, mithin einen Topos bediene. 346 Dion Chrys. or. 31,157. 347 Dion Chrys. or. 31,155 f. Statuen-Recycling auch bei Paus. 1,18,3: Miltiades- und Themistokles-Statuen hat man auf einen Römer und Thraker umbenannt.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart es sich als Gewinn an, dass niemand sie an ihrem verkehrten Treiben hindert. Ihr seid übriggeblieben, denn von euch allein glaubt man noch, dass ihr wirklich etwas darstellt und nicht vollkommen verachtet seid. Denn da die Griechen mit ihren Vaterstädten so umsprangen, wie hier und da der Wahrheit gemäß berichtet wird, war es unvermeidlich, dass sie insgesamt schon längst in ihrem Ansehen unter die Phryger und Thraker gesunken sind.348
Dions Forderung ist eine konstante Erinnerung an die sittliche349 und politische Vergangenheit der Griechen, die für ihn kontrapräsentisch ausfällt und somit zeitgenössische Defizenzerfahrung anzeigt. Er konstatiert: „Mit Griechenlands Herrlichkeit aber ist es aus und vorbei, schmählich und erbärmlich in jeder Weise ist sie untergegangen.“350 Einzig die Steine und die Trümmer der Gebäude würden noch von Glanz und Größe Griechenlands zeugen.351 Den ganz zerstörten Städten komme dabei ein besseres Los als den depravierten zu, da ihr Gedächtnis unversehrt fortlebt und nicht die jämmerliche Gegenwart „das Ansehen der tüchtigen Männer früherer Zeiten“352 entstellt. Für die Gegenwart bleibt wie bei Plutarch lediglich die städtische Selbstverwaltung, Ratssitzungen, Rechtspflege, Opfern und das Feiern von Festen. Nicht mehr möglich sind politische Hegemonie, Hilfe für Bedrängte, Erwerb von Bundesgenossen, Städtegründungen und Kriegsgewinn.353 Den Bewohnern von Tarsos macht Dion deutlich, dass er ihnen als Philosoph keinen sophistischen Panegyrikos vortragen wird, der abhebt auf περί τε Περσέως καὶ Ἡρακλέους καὶ τοῦ Ἀπόλλωνος τῆς τριαίνης καὶ περὶ χρησμῶν τῶν γενομένων, καὶ ὥς ἐστε Ἕλληνες καὶ Ἀργεῖοι καὶ ἔτι βελτίους, καὶ ἀρχηγοὺς ἔχετε ἥρωας καὶ 348 Dion Chrys. or. 31,158. 349 Dion Chrys. or. 31,162 f.: Der Gang, Haarschnitt und das gesetzte Wesen der Rhodier etwa bei den Beifallsbekundungen im Theater entsprechen dem altgriechischen Wesen in den Sitten (ὑμᾶς κοσμεῖ τὸ ἐν τοῖς ἔθεσιν ἀρχαῖον καὶ Ἑλληνικόν). Vgl. Dion Chrys. or. 32, 40: Er weist darauf hin, dass die Alexandriner von der ganzen Welt beobachtet werden und somit darauf, dass sie sich im Theater und beim Wagenrennen geordnet verhalten sollen. Dion Chrys. or. 32,48: Die Alexandriner verhalten sich närrisch bei den Schaustellern, wenn sie in einer Gruppe zusammenkommen. 350 Dion Chrys. or. 31,159: τὰ δὲ ἐκείνης οἴχεται καὶ πάντα τρόπον αἰσχρῶς καὶ ἐλεεινῶς διέφθαρται· 351 Dion Chrys. or. 31,160: ἀλλ' οἱ λίθοι μᾶλλον ἐμφαίνουσι τὴν σεμνότητα καὶ τὸ μέγεθος τῆς Ἑλλάδος καὶ τὰ ἐρείπια τῶν οἰκοδομημάτων· 352 Dion Chrys. or. 31,160. 353 Dion Chrys. or. 31,161 f.: εἰκότως ἂν οὖν πρόσχοιτε αὑτοῖς καὶ πάντα τὰ τοιαῦτα ἐξετάζοιτε ἀκριβέστερον τῶν προγόνων. ἐκείνοις μὲν γὰρ ἐν πολλοῖς ὑπῆρχεν ἑτέροις ἡ τῆς ἀρετῆς ἐπίδειξις, ἐν τῷ προεστάναι τῶν ἄλλων, ἐν τῷ βοηθεῖν τοῖς ἀδικουμένοις, ἐν τῷ συμμάχους κτᾶσθαι, πόλεις οἰκίζειν, νικᾶν πολεμοῦντας· ὑμῖν δὲ τοιοῦτον μὲν οὐθὲν πράττειν ἔνεστι, καταλείπεται δ' οἶμαι τὸ ἑαυτῶν προεστάναι καὶ τὴν πόλιν διοικεῖν καὶ τὸ τιμῆσαί τινα καὶ κροταλίσαι μὴ τοῖς πολλοῖς ὁμοίως καὶ τὸ βουλεύσασθαι καὶ τὸ δικάσαι καὶ τὸ τοῖς θεοῖς θῦσαι καὶ τὸ ἄγειν ἑορτήν· („Vernünftigerweise werdet ihr also auf euch selbst achtgeben und alle diese Fragen sorgfältiger prüfen als eure Vorfahren. Denn ihnen war es noch möglich, ihre Tüchtigkeit auf vielen anderen Gebieten zu beweisen: Sie konnten eine führende Stellung unter den andern einnehmen, den Bedrängten helfen, Bundesgenossen erwerben, Städte gründen, Kriege gewinnen. Ihr aber könnt nichts mehr von all dem tun. Nach meiner Meinung bleibt euch nur übrig, euch selbst zu leiten, eure Stadt zu verwalten, diesen oder jenen zu ehren und ihm Beifall zu klatschen – aber nicht nach Art der großen Menge –, im Rat zu sitzen, das Recht zu pflegen, den Göttern zu opfern und Feste zu feiern.“). Vgl. Plut. praec. ger. reip. 805a–b.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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ἡμιθέους, μᾶλλον δὲ Τιτᾶνας· ἔτι δὲ οἶμαι περί τε τῆς χώρας καὶ τῶν ὀρῶν τῶν κατ’ αὐτὴν καὶ τοῦδε τοῦ Κύδνου, ὡς δεξιώτατος ἁπάντων ποταμῶν καὶ κάλλιστος, οἵ τε ἀπ’ αὐτοῦ πίνοντες ἀφνειοὶ καὶ μακάριοι καθ’ Ὅμηρον. […] Perseus, Herakles und den Dreizack Apollons, auf die Orakelsprüche, die euch zuteil geworden sind, auf die Tatsache, dass ihr Griechen und Argiver oder gar noch etwas Besseres seid, dass ihr Heroen und Halbgötter, noch genauer, Titanen zu Ahnherren habt. Vielleicht auch auf das Land mit seinen Bergen und den Kydnos hier? Dass er der segensreichste und schönste unter allen Flüssen ist, dass die aus ihm trinken, reich und glücklich sind, wie Homer sagt?354
Stattdessen will er den philosophischen Mahner geben, indem er kontrapräsentische Vergangenheitsbezüge anbringt: „Fließt nicht der Peneus durch ein ödes Thessalien? Der Ladon nicht durch ein Arkadien, das von seinen Einwohnern verlassen ist?“355 Trifft Dion hingegen nur absolute Aussagen über die Gegenwart ohne einen Vergleich mit der Vergangenheit anzustellen, fällt das Bild positiv aus: ἡγεῖσθε μὲν γάρ, ὦ ἄνδρες, εὐδαίμονας ἑαυτοὺς καὶ μακαρίους, ἐπειδὴ πόλιν τε μεγάλην οἰκεῖτε καὶ χώραν ἀγαθὴν νέμεσθε καὶ πλεῖστα δὴ καὶ ἀφθονώτατα παρ’ αὑτοῖς ὁρᾶτε τὰ ἐπιτήδεια, καὶ ποταμὸς ὑμῖν οὗτος διὰ μέσης διαρρεῖ τῆς πόλεως, πρὸς τούτοις δὲ μητρόπολις ἡ Ταρσὸς τῶν κατὰ Κιλικίαν. Ihr haltet euch ja für wohlhabend und glücklich, da ihr in einer großen Stadt wohnt, gutes Land euer eigen nennt und alles zum Leben Notwendige in Hülle und Fülle bei euch vorhanden seht; da dieser Fluss hier mitten durch eure Stadt fließt und Tarsos obendrein die Hauptstadt von ganz Kilikien ist.356
Dass eine Stadt aber nicht aufgrund äußerer Merkmale, sondern aufgrund der in ihr lebenden tugendhaften Menschen zu loben sei, illustriert er an den verödeten Griechenstädten Italiens. Diese und alle den Römern vorangegangen Weltreiche seien am Luxus zugrunde gegangen.357 Komme man heute ins makedonische Pella, sehe man lediglich einen großen Trümmerhaufen von Ziegeln und kein Zeichen der alten Stadt.358 In Lukians Totendialogen kommt ein Mann in die Unterwelt, der bei Eleutherai von Räubern überfallen und getötet wurde.359 Dieses Setting kann nur funktionieren, wenn es für den Zeitgenossen vorstellbar ist, inmitten eines im ländlichen Raum menschenleeren Achaias unweit von Athen von Räubern beraubt und ermordet zu werden. Pritchett zeigt sich jedoch skeptisch gegenüber Dion und Lukian, weil sie im Gegensatz zu Pausanias keine „Geographen“ sondern Rhetoren seien, die den Topos des Niedergangs und einstiger Größe übertrieben.360 Dass etwa Dion Defizienzerfahrung mithilfe von kontrapräsentischen Vergangenheitsbezügen bewusst herbeiführen kann, hat der Vergleich mit den absoluten Aussagen über seine 354 Dion Chrys. or. 33,1 f. Vgl. 33,41. Zu den Tarsischen Reden vgl. neuerdings Bost-Pouderon 2006a (neuedierter Text) und Dies. 2006b (Kommentar). 355 Dion Chrys. or. 33,25: οὐχ ὁ Πηνειὸς δι' ἐρήμου ῥεῖ Θετταλίας; οὐχ ὁ Λάδων διὰ τῆς Ἀρκαδίας ἀναστάτου γενομένης; 356 Dion Chrys. or. 33,17. Vgl. 33,28. 357 Dion Chrys. or. 33,25: Sybaris, Kroton, Thurioi, Metapont und Tarent. 358 Dion Chrys. or. 33,27. 359 Lukian. dial. mort. 22,27. 360 Pritchett 1999, 196.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Gegenwart gezeigt. Insofern ist ein bewusst eingesetzter Topos etwas Artifizielles und kann gelöst von der historischen Realität existieren. Während es Pritchett jedoch darauf ankam, die historische Realität des materiellen Zustandes Achaias mithilfe der literarischen Quellen zu rekonstruieren, hebt die vorliegende Untersuchung darauf ab, die Funktionen von Vergangenheitsbezügen bei den kaiserzeitlichen Griechen zu evaluieren. Die Fragestellung ist also eine andere und der Vorwurf der Unbrauchbarkeit von Topoi für den Historiker trifft eine Untersuchung nicht, welche die historischen Debatten über topische Deutungsmuster untersucht. Naturkatastrophen im Osten des römischen Reiches taten ihr Übriges um die Defizienzerfahrung der Griechen zu verstärken.361 Aelius Aristides trat mit mehreren Reden hervor, um sich nach einem verheerenden Erdbeben für den Wiederaufbau Smyrnas bei Marc Aurel einzusetzen.362 Dabei diente ihm der Rückgriff auf Mythen und die Prosperität der Vergangenheit als Maßstab für die jeweils geforderte Restauration der Stadt. Auch bei den Römern ist die Prosperität der Vergangenheit der Maßstab für die Gegenwart. Nero bedauert in seiner Freiheitserklärung, dass er sie lieber in einer prosperierenderen Zeit gemacht hätte.363 Seneca fragt: Siehst du nicht, wie Achaia und die meisten Städte zu einem Nichts zusammengesunken sind?364 In einem Brief an Cicero anlässlich des Todes seiner Tochter Tullia ruft Servius Sulpicius Rufus ihm die Vergänglichkeit des Menschen und seiner Werke im Lauf der Geschichte in Erinnerung.365 Er berichtet, wie er aus Asien kommend von Aegina nach Megara fahrend die Ruinen von sowohl jenem Aegina und Megara als auch von Korinth und Piräus vor Augen hatte: Städte die einst blühten und nun zerstört am Boden liegen. Das Tröstende daran sei lediglich, dass man sich als Mensch seiner kurzen Zeit auf Erden bewusst werden müsse angesichts der langen Zeitspanne der Vergangenheit. In seiner Jugend reiste Cicero selber durch Griechenland und kam mit Leuten zusammen, die er Corinthios nannte. Sie waren ebenso von den Ruinen Korinths erschüttert wie er.366 Wie selektiv trotzdem die Wahrnehmung sein kann, erkennt man an Ciceros Verhältnis zu dem von Sulla teilweise zerstörten Athen: Dem Piso tritt Platon vor das innere Auge als er die Akademie sieht.367 Danach entwickelt sich ein Gespräch über andere Orte in Athen, die mit bedeutenden Persönlichkeiten verbunden sind: „Wo immer wir hintreten, setzen wir unseren Fuß auf historischen Boden.“368 Die Zerstörungen werden jedoch verschwiegen. 361 Vgl. Sonnabend 1999. Olshausen 1998. 362 Aristeid. or. 18–21: ᾿Επί Σμυρνῃ μονωδία, ᾿Επιστολὴ περὶ Σμύρνης πρὸς τοὺς βασιλέας, Παλινῳδία ἐπὶ Σμύρνῃ und προσφονετικὸς ἐν Σμυρναικός. Es gab vier Erdbeben in Kleinasien, die in die Lebenszeit des Aristides gehören: 142, 149, 161 und 177 n. Chr. Die smyrnäischen Reden beziehen sich auf das Beben von 177 n. Chr. 363 ILS 8794. IG VII 2713. 364 Sen. epist. 91,10. 365 Cic. ad fam. 4,5,4. März 45 v. Chr. 366 Cic. Tusc. 3,22,53. 367 Cic. de fin. 5,2,7. 368 Cic. de fin. 5,5,11 f.: quacumque enim ingredimur, in aliqua historia vestigium ponimus. Vgl. Alcock 2002, 66.
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An anderer Stelle kritisiert Cicero die Herrschaft des Mobs in zeitgenössischen griechischen Volksversammlungen.369 Das heutige Griechenland habe sich durch seine demokratisch zustandegekommenen Beschlüsse heruntergewirtschaftet: Einst sei es reich, mächtig und angesehen gewesen. Die grenzenlosen Befugnisse und die Zügellosigkeit der Volksversammlungen seien für die Beschlüsse unnötiger Kriege und die Verbannungen der verdientesten Mitbürger verantwortlich gewesen und hätten so zum Niedergang geführt.370 Doch nicht allen Römern war die griechische Vergangenheit allgegenwärtig,371 sodass Cicero seinen Bruder Quintus daran erinnern musste, dass er als Statthalter von Asia nicht über Barbaren372 herrsche, und Plinius seinen Freund Maximus daran, dass die Griechen den Römern einst die humanitas brachten. Maximus solle darüber hinaus das Altertum der Griechen, ihre gewaltigen Leistungen, sowie auch ihre Sagenwelt ehren.373 4.3.3 Der Umgang mit der Zerstörung Korinths Das punische Karthago und das griechische Korinth verbinden zwei bemerkenswerte zeitliche Koinzidenzen: 146 v. Chr. wurden sie von den Römern zerstört und 46 v. Chr. wurde auf ihrem Territorium von Iulius Caesar eine römische colonia errichtet.374 Im Folgenden soll es um den Umgang der Griechen mit der Zerstörung Korinths durch Lucius Mummius gehen.375 Das Thema böte den Griechen Anlass zu eifriger Kritik an der römischen Griechenlandpolitik. Es überwiegt aber das Ent369 Cic. pro Flac. 15–19. 370 Vgl. auch Liv. 31,29,15, der bemerkt, dass die Griechen immer im Krieg sein werden mit Fremden und Barbaren. 371 Ovid. Met. 15,426–430 über den Niedergang Spartas, Thebens, Athens und Mykenes. Hor. Epist. 2,2,81–86 über seinen Studienaufenthalt in Athen. Vgl. für das 2. Jh. n. Chr. Sandy 1993. 372 Vgl. Cic. Q. fr. 1,1,27: quod si te sors Afris aut Hispanis aut Gallis praefecisset, immanibus ac barbaris nationibus, tamen esset humanitatis tuae consulere eorum commodis et utilitati salutique servire; cum vero ei generi hominum praesimus non modo in quo ipsa sit sed etiam a quo ad alios pervenisse putetur humanitas, certe iis eam potissimum tribuere debemus a quibus accepimus. 373 Plin. ep. 8,24,3: Sit apud te honor antiquitati, sit ingentibus factis, sit fabulis quoque. S. o. Anm. 73 (Kap. 2.2). 374 Paus. 2,1,2 bemerkt, dass Caesar sowohl die heutige Verfassung Roms herstellte, als auch Korinth und Karthago wieder besiedelte. Vgl. Arafat 1996, 205: Caesars Wiedergründung Korinths ist die kontrapunktische Handlung zu Mummius’ Zerstörung. Vgl. auch Paus. 5,1,2: die ‚neuen‘ Korinther haben ihr Land vom Basileus erhalten. Vgl. ferner Plut. Caesar 57,8. Cass. Dio 43,50,3–5. Paus. 7,16,7 f. 375 Vgl. Gebhard/Dickie 2003 zum Ausmaß der Zerstörung Korinths, die von den antiken Autoren wohl übertrieben dargestellt worden ist. Mummius ließ in Rom inschriftlich verlauten, dass er Korinth zerstört hat, vgl. CIL I2 626 = CLE 3: duct(u) auspicio imperioque eius Achaia capt(a) / Corinto deleto Romam redicit triumphans. / ob hasce res bene gestas quod in bello voverat. / hanc aedem et signu Herculis Vovoris / imperator dedicat. Vgl. Liv. Perioch. 52. Iustin. 34,2,6. Gebhard/Dickie 2003, 277 stellen heraus, dass Korinth nach Mummius’ Zerstörungen noch bewohnbar war und es sich in der Literatur daher um einen Topos handele („Corinth’s destruction was a set theme.“). Dies gibt indes Anlass, nach den Funktionen dieses Topos zu fragen.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
setzen der Griechen über die Zerstörung, die höchstens in der Zerstörung Thebens durch Alexander eine Parallele findet. Den Griechen war es in ihrer Kriegführung fremd gewesen, feindliche Städte komplett zu zerstören, sodass die makedonischen und römischen Zerstörungen für sie eine exzeptionelle Erfahrung darstellten. Die ersten Reaktionen auf die Zerstörung Korinths finden wir in einigen griechischen Epigrammen aus der Zeit zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr., die Meyer und Wirbelauer gesammelt und kommentiert haben.376 Der Epigrammatiker Polystratos stellt einen Vergangenheitsbezug her, indem er Korinths Zerstörung als eine ‚Rache‘ der Trojaner an den Griechen darstellt. Τὸν μέγαν Ἀκροκόρινθον, Ἀχαιικὸν Ἑλλάδος ἄστρον καὶ διπλῆν Ἰσθμοῦ σύνδρομον ἠιόνα, Λεύκιος ἐστυφέλιξε· δοριπτοίητα δὲ νεκρῶν ὀστέα σωρευθεὶς εἷς ἐπέχει σκόπελος. τοὺς δὲ δόμον Πριάμοιο πυρὶ πρήσαντας Ἀχαιοὺς ἀκλαύστους κτερέων νόσφισαν Αἰνεάδαι. Stern von Hellas, Akrokorinth, Achaias gewaltige Feste, Kreuzweg am Isthmos, allwo doppelt der Strand sich erstreckt, Lucius schlug es in Trümmer. Vom Speer sind die Leiber zerrissen, und ein riesiger Berg fasst nun der Toten Gebein. Die an des Priamos Haus einst Feuer gelegt, die Achaier, ohne Tränen und Grab ließ sie Aineias’ Geschlecht.377
Über die Verbindung Troja-Aineias-Rom wird zusammen mit einer drastisch-gewaltsamen Metaphorik die Zerstörung Korinths durch Mummius konstruiert. Dieser fundierende Vergangenheitsbezug schafft dabei zwar eine legitimierende Erklärung für das Handeln der Römer, lässt griechische Handlungsmotive jedoch unkommentiert. Hingegen betont Antipater von Sidon (2./1. Jh. v. Chr.), ein Zeitgenosse der Zerstörung, kontrapräsentisch diejenigen Monumente, die verloren gegangen sind. Ποῦ τὸ περίβλεπτον κάλλος σέο, Δωρὶ Κόρινθε; ποῦ στεφάναι πύργων, ποῦ τὰ πάλαι κτέανα; ποῦ νηοὶ μακάρων, ποῦ δώματα, ποῦ δὲ δάμαρτες Σισύφιαι λαῶν θ’ αἵ ποτε μυριάδες; οὐδὲ γὰρ οὐδ’ ἴχνος, πολυκάμμορε, σεῖο λέλειπται, πάντα δὲ συμμάρψας ἐξέφαγεν πόλεμος· μοῦναι ἀπόρθητοι Νηρηίδες Ὠκεανοῖο κοῦραι, σῶν ἀχέων μίμνομεν ἁλκυόνες. Dorisches Prachtstück Korinth, wo verblieb dir die strahlende Schönheit? Wo dein Befestigungskranz? Wo dein ererbter Besitz? Wo die Tempel der Selige, Schlösser, des Sisyphos Töchter? Wo das unzählbare Heer unverwandt, wimmelnden Volks? Keinerlei Spuren verblieben von dir, du von Schicksal Zerstörte. Alles entraffte der Krieg, schlang es vernichtend hinab. Lediglich wir Nereiden, unsterblich, Okeanostöchter, leben noch, singen dein Leid, innig, den Eisvögeln gleich.378 376 Vgl. Meyer/Wirbelauer 2007. 377 Anth. Gr. 7,297 (Polystratos). 378 Anth. Gr. 9,151 (Antipater von Sidon).
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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Defizienzerfahrung wird hierbei durch den Verlust typischer Elemente, wie baulichen Eigenheiten, Mythos und der Bevölkerung erzeugt. Antipater von Thessalonike hat in augusteischer Zeit dagegen eine Art Grabepigramm verfasst, das die tragische Geschichte vom verzweifelten Mord einer Mutter an ihrer Tochter und dem anschließenden Selbstmord der Mutter angesichts der heranrückenden Römer dramatisiert. Der drohenden Sklaverei zogen sie den Freitod vor. Οὐ νούσῳ Ῥοδόπα τε καὶ ἁ γενέτειρα Βοΐσκα οὐδ’ ὑπὸ δυσμενέων δούρατι κεκλίμεθα, ἀλλ’ αὐταί, πάτρας ὁπότ’ ἔφλεγεν ἄστυ Κορίνθου γοργὸς Ἄρης, Ἀίδαν ἄλκιμον εἱλόμεθα. ἔκτανε γὰρ μάτηρ με διασφακτῆρι σιδάρῳ, οὐδ’ ἰδίου φειδὼ δύσμορος ἔσχε βίου, ἇψε δ’ ἐναυχένιον δειρᾷ βρόχον· ἦς γὰρ ἀμείνων δουλοσύνας ἁμῖν πότμος ἐλευθέριος. Rhodope war ich; mich raffte zusammen mit Mutter Boïska nicht der Feinde Geschoss, auch keine Krankheit hinweg, selber haben wir einst, als der furchtbare Ares die Heimat, unser Korinthos, verbrannt, mutig den Tod uns erwählt. Denn es tötete mich die Mutter mit mordendem Stahle, aber sie schonte dabei auch nicht den eigenen Leib, sondern die Arme, sie hat um den Hals sich die Schlinge gewunden: schöner als Knechtschaftslos schien uns freiwilliger Tod.379
Freiheit und Knechtschaft sind hier die bestimmenden Kontrapunkte der letzten Zeile. Dass die Römer lediglich angedeutet werden, findet sich ebenso in einem Epigramm des Krinagoras (1. Jh. v. Chr.). Οἵους ἀνθ’ οἵων οἰκήτορας, ὦ ἐλεεινή, εὕραο· φεῦ μεγάλης Ἑλλάδος ἀμμορίης· αὐτίκα καὶ γαίης χθαμαλωτέρη εἴθε, Κόρινθε, κεῖσθαι καὶ Λιβυκῆς ψάμμου ἐρημοτέρη, ἢ τοίοις διὰ πᾶσα παλιμπρήτοισι δοθεῖσα θλίβειν ἀρχαίων ὀστέα Βακχιαδῶν. Welche Bewohner bekamst du, o Ärmste, für welche Bewohner! Ach, ein furchtbares Los traf das hellenische Land! Wenn du, Korinthos, doch gleich am Boden lägest, vernichtet mehr als Aigeira und wüst mehr als der libysche Sand, statt diesem Auswurf von Sklaven als Opfer zu dienen und eine Last für das Adelsgebein der Bakchiaden zu sein.380
In diesem späten Zeugnis tritt das Bedauern über die Wiederbesiedlung Korinths durch die Römer deutlich zutage. Im Gegensatz zum noch späteren Pausanias wird hier keine Erklärung der Wiederbesiedlung gegeben. Pausanias fasst im 2. Buch in Vorwegnahme der ausführlichen Schilderung des Achäischen Krieges des 7. Buches die Ereignisse kurz zusammen.381 Anlass ist ihm die Beobachtung, dass Korinth nicht mehr von den alten Korinthern bewohnt wird, sondern von aus Rom 379 Anth. Gr. 7,493 (Antipater von Thessalonike). 380 Anth. Gr. 9,284 (Krinagoras). 381 Paus. 2,1,2.
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geschickten Kolonisten. Der Achäische Bund sei daran Schuld, weil Kritolaos die Achaier und Bewohner außerhalb der Peloponnes zum Aufstand bewegte. Die Römer siegten und nahmen den Griechen Waffen und Mauern, Mummius zerstörte Korinth, Caesar besiedelte es wieder. Pausanias ist sich also wohl bewusst, dass Korinth in seiner Zeit eine römische colonia mit römischen Bewohnern ist. Anders als von der Forschung beobachtet und wiederholt behauptet,382 ignoriert Pausanias die römische Präsenz in Griechenland also nicht. Er erklärt in seinem Exkurs zum Achäischen Krieg sogar, wie es zu ihr kam. Elsner begründet das vermutete Verschweigen bzw. Ignorieren der römischen Herrschaft damit, dass ein historischer Klassizismus für Pausanias und seine Zeitgenossen deswegen attraktiv gewesen sein soll, weil er über die Existenz der römischen Herrschaft und damit des Untertanen-Seins hinwegzusehen half.383 Der Text des Pausanias ist jedoch nicht das Ergebnis von negativer Ignoranz, sondern positiver Auswahlkriterien: Römisches ist aufgrund dessen in seinem Text gar nicht zu erwarten.384 Eher ist es erklärungsbedürftig, wenn Römisches von ihm bewusst erwähnt wird. Die Zerstörung von Karthago, Numantia und Korinth veranlasste Polybios eine finstere Zukunftsprognose für die römische Herrschaft zu stellen.385 Er hatte, wie Strabon betont, den Schrecken sowohl der Korinther als auch der Griechen über dieses Ereignis plastisch und mit Anteilnahme beschrieben.386 Er bedauerte auch, dass er die Zerstörung und Plünderung Korinths nicht verhindern konnte. Hingegen sieht Strabon als Autor der augusteischen Zeit die Zerstörung Korinths „offen romfreundlich-apologetisch“,387 weil sich die Korinther nach seiner Darstellung gegenüber den Römern despektierlich benahmen und für dieses Vergehen von ihnen bestraft wurden, sodass sie unter deren Herrschaft gelangten. Die Weihegaben und Kunstschätze der Stadt wurden nach Rom verschleppt oder an die Soldaten verteilt. Der attalidische General Philopoimen wurde von Mummius ebenfalls beschenkt. Noch zu Pausanias’ Zeit würde man in Pergamon deswegen korinthische Beute finden,388 was zweifelsohne die Griechen an die Zerstörung der Stadt erinnern musste. Neben der ökonomisch günstigen Lage Korinths wird in der Antike die Fruchtbarkeit des Umlandes als Grund für die Neugründung gesehen. Cicero spricht von dem Gebiet um Korinth als dem besten und fruchtbarsten Acker.389 Offensichtlich 382 Das Verschweigen des Tempels der Roma und des Augustus auf Athens Akropolis ist der locus classicus, vgl. Hartmann 2010, 512. Zwar werden römische Bauten in Korinth (Torelli 2001), Patrai (Auffarth 1997) und Delphi (Auffarth 2004) ignoriert, aber nicht alles Römische an sich. Arafat 1996, 211–213 über die Gründe des Verschweigens von römischen aber auch klassischen griechischen Monumenten. 383 Elsner 1992, 17–20. 384 S. u. Kap. 5.3.1. 385 Polyb. 33,28b,1–4. Vgl. Sen. Polyb. consol. 1, der ebenfalls die Zerstörung von Karthago, Numantia und Korinths zusammen betrachtet. 386 Polyb. 39,2 = Strab. 8,6,28 p. 381. 387 Engels 1999, 152. Strab. 8,6,23 p. 381 f. 388 Paus. 7,16,8. 389 Cic. de leg. agr. 1,5. 2,51.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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wurde dieser ager publicus bebaut und in der Ruinenstadt lebten Menschen, die von den Ruinen ebenso erschüttert waren wie Cicero, als er sie in seiner Jugend besuchte.390 Neben dem Fragment aus Strabon gibt es noch einige direkt überlieferte Bemerkungen aus Polybios’ Historien. Darin betont er vor allem die Aufgabe zukünftiger Griechen, mit der traumatischen Erfahrung der Zerstörung zurechtzukommen.391 Niemand könne ohne Tränen bleiben, der dieses Unglück Griechenlands entweder historiographisch bearbeite oder es später lese. Polybios habe es abgestoßen, an das Unglück der Griechen zu erinnern und es der Nachwelt zum ewigen Gedächtnis zu überlassen. Er hoffe jedoch, dass Spätere aus dieser Erfahrung lernen würden. Diodor betont ebenfalls die Reaktionen und Emotionen, die das zerstörte Korinth bei den Griechen erzeugte: Ὅτι περὶ τῆς Κορίνθου καὶ οἱ ποιηταὶ προειρηκότες ἦσαν Κόρινθος ἄστρον οὐκ ἄσημον Ἑλλάδος. αὕτη πρὸς κατάπληξιν τῶν μεταγενεστέρων ὑπὸ τῶν κρατούντων ἠφανίσθη. οὐ μόνον δὲ κατὰ τὸν τῆς καταστροφῆς καιρὸν ἡ πόλις ἔτυχε παρὰ τοῖς ὁρῶσι μεγάλης συμπαθείας, ἀλλὰ καὶ κατὰ τοὺς ὕστερον χρόνους εἰς ἔδαφος κατερριμμένη πολὺν ἐποίει τοῖς ἀεὶ θεωροῦσιν αὐτὴν ἔλεον. οὐδεὶς γὰρ τῶν παροδευόντων αὐτὴν παρῆλθεν ἄδακρυς, καίπερ ὁρῶν λείψανα βραχέα τῆς περὶ αὐτὴν γεγενημένης εὐδαιμονίας τε καὶ δόξης. διὸ καὶ κατὰ τοὺς τῆς παλαιᾶς ἡλικίας καιρούς, διεληλυθότων χρόνων σχεδὸν ἑκατόν, θεασάμενος αὐτὴν Γάϊος Ἰούλιος Καῖσαρ ὁ διὰ τὰς πράξεις ὀνομασθεὶς θεὸς ταύτην ἀνέστησεν. Über Korinth hatten auch die älteren Dichter geurteilt: Korinth ist ein Gestirn Griechenlands, nicht ohne Glanz. Dieses wurde zum Schrecken der Späteren von den Siegern zerstört. Und nicht nur zur Zeit ihrer Vernichtung erweckte die Stadt bei allen Mitleid, die dies miterlebten, sondern, bis auf die Grundmauern niedergerissen, erregte sie stets auch danach bei denen ein Jammern, die diese sahen. Und keiner, der dort durchreiste, ging ohne Tränen davon, auch wenn er nur noch kümmerliche Reste ihres einstigen Wohlstandes und ihres Ansehens zu erkennen vermochte. Als nach diesen Zeiten früherer Generationen fast hundert Jahre vergangen waren, aber sah sie Gaius Iulius Caesar, der wegen seiner Taten zum Gott erhoben wurde, und ordnete an, sie wieder aufzubauen.392
In der Überlieferung überwiegt die Betonung der transgenerationalen Traumatisierung der Griechen durch die Zerstörung Korinths. Es wurde zunächst erwogen, die Erinnerung an dieses Ereignis zu verschweigen. Tatsächlich lassen sich relativ wenige Quellen in der Zeit der Zweiten Sophistik finden, die die Zerstörung Korinths erinnern. Vor diesem Hintergrund erscheint Pausanias’ bewusste Erinnerung exzeptionell innerhalb der griechischen Tradition. 390 Cic. Tusc. 3,22,53. Cic. ad fam. 4,5,4 (Brief des Servius Sulpicius Rufus) erwähnt lediglich die Ruinen Korinths und reflektiert, dass einst blühende Städte heute zerstört am Boden liegen. Das Tröstende daran sei, dass man sich als Mensch seiner kurzen Zeit auf Erden bewusst werden müsse angesichts der langen Zeitspanne der Vergangenheit. Man sei als Mensch geboren und eben sterblich. S. o. Kap. 4.3.2. 391 Polyb. 32,26 (= Exc. sent. 379–380). 392 Diod. 32,27,1 (= Const. Exc. 4 p. 380).
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
4.3.4 „Zu meiner Zeit aber hat die Schlechtigkeit …“ (Paus. 8,2,5) Für Pausanias haben Eusebeia und Asebeia eine große Bedeutung im Rahmen seiner Bewertung von Herrscherpersönlichkeiten.393 Dies macht darauf aufmerksam, dass er insbesondere im religiösen Bereich sensibel für Defizienzerfahrung ist, sodass wir gerade bei ihm mit kontrapräsentischen Vergangenheitsbezügen in diesem Bereich rechnen müssen: „Die älteren Griechen hielten nämlich die Feier in Eleusis viel höher in Ehren als alles, was sonst zur Eusebeia gehört, genauso wie man Götter mehr ehrt als Heroen.“394 Der Bereich der Religion ist darüber hinaus interessant, weil Pausanias beispielsweise im ‚Katalog der Statuenräuber‘ das Verhalten von Griechen, Römern und Persern vergleicht.395 Das macht den religiösen Bereich bei Pausanias zu einem ausgezeichneten Untersuchungsgebiet, das in herausragender Weise Gegenwartskritik durch kontrapräsentische Vergangenheitsbezüge erwarten lässt.396 Wie wichtig Pausanias ein gutes Verhältnis der Menschen zu den Göttern ist, zeigen zwei Beispiele des Lobes. In Athen hat Pausanias den sogenannten Altar des Mitleids gesehen, der einzigartig sei bei allen Griechen, da das Mitleid am nützlichsten für das menschliche Leben und die Wandlungen des Geschicks sei.397 Diese Gelegenheit bringt ihn zu der Aussage, dass die Athener die Götter mehr als alle anderen ehren würden. Ein ähnliches Lob hat er nur noch für die Tanagraier, die gegenüber den Göttern seiner Meinung nach von den Griechen die beste Gesinnung haben.398 393 Vgl. Ursin 2014a. Arafat 1996, 203. 394 Paus. 10,31,11: οἱ γὰρ ἀρχαιότεροι τῶν Ἑλλήνων τελετὴν τὴν Ἐλευσινίαν πάντων ὁπόσα ἐς εὐσέβειαν ἥκει τοσούτῳ ἦγον ἐντιμότερον ὅσῳ καὶ θεοὺς ἐπίπροσθεν ἡρώων. 395 Vgl. Paus. 8,46,2. Zur Stelle vgl. Ursin 2014a, 64. Hutton 2008, 623 Anm. 4. Pretzler 2007, 28 n. 82, 87. Moggi/Osanna 2003, 502. Swain 1996, 345. Arafat 1996, 128. 396 Auch Jost 2006 hat bei Pausanias festgestellt, dass alles Religiöse, obwohl es sich jeweils um lokal sehr verschiedene Befunde handelt, die panhellenische Identität fördert. Pausanias steht somit in einem Spannungsfeld zwischen Einheit und Vielfalt, womit er freilich auch die in Achaia vorgefundenen Tendenzen widerspiegelt. 397 Paus. 1,17,1: Ἀθηναίοις δὲ ἐν τῇ ἀγορᾷ καὶ ἄλλα ἐστὶν οὐκ ἐς ἅπαντας ἐπίσημα καὶ Ἐλέου βωμός, ᾧ μάλιστα θεῶν ἐς ἀνθρώπινον βίον καὶ μεταβολὰς πραγμάτων ὄντι ὠφελίμῳ μόνοι τιμὰς Ἑλλήνων νέμουσιν Ἀθηναῖοι. τούτοις δὲ οὐ τὰ ἐς φιλανθρωπίαν μόνον καθέστηκεν, ἀλλὰ καὶ θεοὺς εὐσεβοῦσιν ἄλλων πλέον, καὶ γὰρ Αἰδοῦς σφισι βωμός ἐστι καὶ Φήμης καὶ Ὁρμῆς· δῆλά τε ἐναργῶς, ὅσοις πλέον τι ἑτέρων εὐσεβείας μέτεστιν, ἴσον σφίσι παρὸν τύχης χρηστῆς. („Auf der Agora in Athen steht außer anderen Dingen, die nicht bei allen Menschen bekannt sind, auch ein Altar des Mitleids, dem die Athener als dem Gott, der am meisten für das menschliche Leben und die Wandlungen des Geschicks nützlich sei, allein von den Griechen Ehren erweisen. Bei ihnen existiert aber nicht nur Menschenfreundlichkeit, sondern sie ehren auch die Götter mehr als andere; es gibt bei ihnen sogar einen Altar der Aidos (‚sittliche Scheu‘) und der Pheme (‚göttliche Stimme‘) und der Horme (‚Trieb‘). Und es ist ganz deutlich, dass diejenigen, die mehr Frömmigkeit haben als die anderen, auch mehr Wohlergehen genießen“). Vgl. Plut. praec. ger. reip. 799c: Die Athener würden sich rasch in Zorn aber auch Mitleid bringen lassen. 398 Paus. 8,22,2: εὖ δέ μοι Ταναγραῖοι νομίσαι τὰ ἐς τοὺς θεοὺς μάλιστα δοκοῦσιν Ἑλλήνων· χωρὶς μὲν γὰρ αἱ οἰκίαι σφίσι, χωρὶς δὲ τὰ ἱερὰ ὑπὲρ αὐτὰς ἐν καθαρῷ τέ ἐστι καὶ ἐκτὸς ἀνθρώπων. Sie hätten ihre Häuser für sich, und für sich auch die Heiligtümer jenseits von ihnen auf einem
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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Nachdem viele Städte in Phokis während der Perserkriege zerstört worden waren, traf sie dieses Unglück erneut nach dem 3. Heiligen Krieg (356–346 v. Chr.). Sie plünderten die Schätze Delphis, um damit ein riesiges Söldnerheer gegen Theben aufzustellen. Die darauffolgende Niederlage der Phoker stellt Pausanias als eine Rache der Götter für ihre Asebeia dar und erwähnt ausdrücklich die Polis Abai, die sich an der Plünderung Delphis nicht beteiligt hatte und deswegen auch verschont blieb. Als dann die Galater einfielen, wehrten die Phoker die Galater am mutigsten ab – aus Verehrung für den Gott in Delphi – zur Wiedergutmachung ihrer früheren Vergehen.399 Die Römer ehrten den Apollon von Abai vor allem als Orakelgeber. θεῷ δὲ τῷ ἐν Ἄβαις οὐχ ὁμοίως Ῥωμαῖοί τε ἀπένειμαν τὰ ἐς τιμὴν καὶ ὁ Πέρσης· ἀλλὰ Ῥωμαῖοι μὲν εὐσεβείᾳ τῇ ἐς τὸν Ἀπόλλωνα Ἀβαίοις δεδώκασιν αὐτονόμους σφᾶς εἶναι, στρατιὰ δὲ ἡ μετὰ Ξέρξου κατέπρησε καὶ τὸ ἐν Ἄβαις ἱερόν. Dem Gott in Abai erwiesen die Römer und die Perser nicht die gleiche Ehre, sondern die Römer gewährten aus Ehrfurcht gegen Apollon den Abaiern die Selbstverwaltung, das Heer des Xerxes verbrannte auch das Heiligtum in Abai.400
Hier erscheinen die Römer und Perser in direktem Vergleich. Während Xerxes das Heiligtum verbrannt hat,401 zeigten die Römer ihre Eusebeia indem sie die Selbstverwaltung gestatteten. Es ist interessant zu beobachten, wie Pausanias sich gegenüber einem zeitgenössischen Römer verhält, der die Eusebeia als Epitheton im Namen trägt.402 Pausanias bietet zwei Deutungen für pius (was er als εὐσεβής übersetzt) des Kaisers Antoninus Pius an. Auffällig dabei ist, dass beide Deutungen überhaupt keinen Bezug zur römischen Vorstellungswelt beinhalten. Oberflächlich betrachtet konventionell mutet die erste Erklärung an, wonach Pius darauf deute, dass Antoninus die Götter ehrte, er mithin so seine Frömmigkeit unter Beweis stellte.403 Einen ganzen Katalog von Erklärungen bietet die Historia Augusta,404 die allesamt nicht auf den religiösen Bereich zielen, aus dem Pausanias seine Deutung bezieht. Die meisten dieser Erklärungen sind gegen Hadrian gerichtet. Eine der Deutungen, nämlich die pietas als normenkonformes Verhalten eines Sohnes ge-
399 400 401 402 403 404
reinen Platz und außerhalb der Menschen. Es ist bedenkenswert, ob dies bewusst gegen den Anspruch der Römer platziert ist, das frommste aller Völker zu sein, vgl. etwa Sall. Cat. 12. Paus. 10,3,4. Paus. 10,35,2. Niemeier 2013, 40–42 zu den Perserzerstörungen im antiken Abai bzw. modernen Kalapodi, der Kultkontinuität und der Chronologie des Wiederaufbaus. Außerdem zum Umgang mit den Ruinen vgl. Hartmann 2010, 182. Vgl. Ursin 2014a, 58. Paus. 8,43,5: τοῦτον Εὐσεβῆ τὸν βασιλέα ἐκάλεσαν οἱ Ῥωμαῖοι, διότι τῇ ἐς τὸ θεῖον τιμῇ μάλιστα ἐφαίνετο χρώμενος· („Die Römer nannten diesen König den ‚Frommen‘/‚Eusebes‘/ ‚Pius‘, da er die Götter am meisten ehrte.“). Vgl. SHA Ant. Pius 2,3–7: Pius cognominatus est a senatu, vel quod soceri fessi iam aetatem manu praesente senatu levaret […] (4) vel quod eos quos Hadrianus per malam valetudinem occidi iusserat, reservavit, (5) vel quod Hadriano contra omnium studia post mortem infinitos atque inmensos honores decrevit, (6) vel quod cum se Hadrianus interimere vellit ingenti custodia et diligentia fecit ne id posset admittere, (7) vel quod vere natura clementissimus et nihil temporibus suis asperum fecit.
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genüber dem (Adoptiv-)Vater Hadrian, wird auch von Cassius Dio ins Spiel gebracht.405 Obwohl Pausanias die „Frommen von Katane“ als das Paradebeispiel der römischen pietas kennt, wendet er diese Erklärung nicht an.406 Pausanias würde ihn lieber – das ist die zweite Deutung – wie den älteren Kyros „Vater der Menschen“ nennen.407 Die Wendung πατὴρ ἀνθρώπων geht auf Herodot zurück,408 bei dem Kyros mit Kambyses und Dareios in einer Reihe erscheint. Kambyses gilt ihm als Despot wegen seiner Kriege, Dareios als Händler wegen seiner von ihm erhobenen Steuern und Kyros sei Vater genannt worden, weil bei ihm ‚alles gut wurde‘. Auch wenn Pausanias einen positiven Aspekt des Persers Kyros betont und auf Antoninus Pius übertragen will, vergleicht er hier jedoch einen Römer und einen Perser und macht somit unterschwellig deutlich, dass beide ein und derselben Kategorie Herrscher angehören – nämlich der einer äußeren, nichtgriechischen Macht. Pausanias verbildlicht das religiöse Defizit seiner Gegenwart gegenüber der Vergangenheit an einem Wollfaden. Früher hätte ein Wollfaden vor dem Heiligtum des Poseidon Hippios in Arkadien ausgereicht, um den Zugang zum Heiligtum zu versperren, denn die Menschen hatten noch Ehrfurcht vor dem Göttlichen.409 Zuvor stellte er ebenfalls im arkadischen Buch fest, dass die Menschen vormals wegen ihrer δικαιοσύνη und εὐσέβεια Gastfreunde der Götter waren und gegebenenfalls belohnt wurden, was allerdings in vorhistorischer Zeit liegt.410 Pausanias glaubt außerdem auch an das Eingreifen von Göttern in Schlachten, als z. B. die Galater bei Delphi von Göttern und sichtbaren Daimones vernichtet wurden.411 Dann fügt er an: 405 Vgl. Cass. Dio 70,1,2 f., Antoninus sorgt dafür, dass sein „Vater“ Hadrian vom Senat die üblichen Ehrungen zugestanden bekommt. Außerdem Xiph. 256,6–28 R.St. in 2(1), dass Antoninus bei Regierungsantritt niemanden hinrichten ließ und deswegen den Titel Pius bekam. In der römischen Vorstellung zeigt sich die pietas sonst immer als Verantwortung gegenüber Vater und Familie und kaum als Motiv bezüglich des Vaterlandes wie auf dem clupeus des Augustus (vgl. Aug. RG 34), bzw. genauer auf dessen Ausfertigung von Arles (AE 1952, 165: pietas erga deos patriamque), vgl. dazu Pabst 2014b. 406 Paus. 10,28,4. Bei einem Ausbruch des Ätna nahmen zwei Jünglinge ihre Eltern auf ihre Schultern und beschützten sie vor dem nahenden Feuer. Als die Flammen sie erreichten, teilten sie sich und flossen an ihnen vorbei. Noch zu seinen Zeiten würden sie bei den Katanaiern verehrt. 407 Paus. 8,43,5: δόξῃ δὲ ἐμῇ καὶ τὸ ὄνομα τὸ Κύρου φέροιτο ἂν τοῦ πρεσβυτέρου, πατὴρ ἀνθρώπων καλούμενος. 408 Vgl. Hdt. 3,89,3. Sonst wird in der griechischen Literatur nur Zeus oft als Vater der Menschen (und Götter) bezeichnet. Vgl. Dion Chrys. or. 53,12. 409 Paus. 8,10,3. 410 Paus. 8,2,4: οἱ γὰρ δὴ τότε ἄνθρωποι ξένοι καὶ ὁμοτράπεζοι θεοῖς ἦσαν ὑπὸ δικαιοσύνης καὶ εὐσεβείας, καί σφισιν ἐναργῶς ἀπήντα παρὰ τῶν θεῶν τιμή τε οὖσιν ἀγαθοῖς καὶ ἀδικήσασιν ὡσαύτως ἡ ὀργή, ἐπεί τοι καὶ θεοὶ τότε ἐγίνοντο ἐξ ἀνθρώπων, οἳ γέρα καὶ ἐς τόδε ἔτι ἔχουσιν ὡς Ἀρισταῖος καὶ Βριτόμαρτις ἡ Κρητικὴ καὶ Ἡρακλῆς ὁ Ἀλκμήνης καὶ Ἀμφιάραος ὁ Ὀικλέους, ἐπὶ δὲ αὐτοῖς Πολυδεύκης τε καὶ Κάστωρ. („Die Menschen waren damals nämlich wegen ihrer Gerechtigkeit und Frömmigkeit Gastfreunde und Tischgenossen der Götter, und wenn sie gut waren, wurde ihnen sichtlich von den Göttern jedwede Ehre zuteil, wenn sie aber Unrecht taten, traf sie deren Zorn. Wie ja damals sogar aus Menschen Götter wurden, welche bis heute verehrt werden, etwa Aristaios, die kretische Britomartis, Herakles, der Sohn der Alkmene, und Amphiaraos, der Sohn des Oikles, sowie Polydeukes und Kastor.“). 411 Paus. 8,10,9.
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ἐπ’ ἐμοῦ δὲ – κακία γὰρ δὴ ἐπὶ πλεῖστον ηὔξετο καὶ γῆν τε ἐπενέμετο πᾶσαν καὶ πόλεις πάσας – οὔτε θεὸς ἐγίνετο οὐδεὶς ἔτι ἐξ ἀνθρώπου, πλὴν ὅσον λόγῳ καὶ κολακείᾳ πρὸς τὸ ὑπερέχον, καὶ ἀδίκοις τὸ μήνιμα τὸ ἐκ τῶν θεῶν ὀψέ τε καὶ ἀπελθοῦσιν ἐνθένδε ἀπόκειται. Zu meiner Zeit aber hat die Schlechtigkeit den höchsten Grad erreicht und alle Länder und alle Städte erfasst, so dass kein Mensch mehr zum Gott wird, außer dem Namen nach und aus Schmeichelei gegenüber einem Hochstehenden, und auch die Ungerechten erreicht der Zorn der Götter spät und erst, wenn sie von hier abgetreten sind.412
Offensichtlich tritt hier Kritik an der Divinisierung römischer Kaiser zutage. Wohl deswegen finden wir bei Pausanias kaum Aussagen über den Kaiserkult außer der gelegentlichen Erwähnung einiger Kaiserstatuen oder dem Kaiser geweihter Bezirke.413 Andere Aspekte religiöser Defizienzerfahrung werden bei Plutarch in de defectu oraculorum diskutiert, etwa warum die Orakel in der Gegenwart quantitativ als auch qualitativ abgenommen haben. Das einst für Orakel berühmte Böotien könne nur noch dasjenige zu Lebadeia vorweisen,414 in ganz Griechenland hätten bis auf zwei oder drei alle anderen aufgehört, Weissagungen zu erteilen.415 Bevor die Protagonisten des aus der Perspektive von Plutarchs Bruder Lamprias geschilderten Gesprächs auf die Erörterung der Ursachen für die beobachtete Depravation 412 Paus. 8,2,5. Vgl. Habicht 1998, 152, der auf ἐπ' ἐμοῦ δὲ („zu meiner Zeit“) hinweist. 413 In diesem Zusammenhang fallen zwei von Elsner für ironisch erachtete Passagen auf. So stößt Pausanias in Sikyon auf einen Bezirk, der den römischen Kaisern geweiht ist, vorher aber dem Tyrannen Kleon von Sikyon gehörte (Paus. 2,8,1). Daran schließt er direkt Arats Geschichte der Befreiung Korinths von der makedonischen Besatzung an (Paus. 2,8,2–6). Elsner hatte es überrascht, dass die Sikyoner den Kaiserkult in einem Tyrannenhaus abhielten. Elsner 1992, 19 f.: „In both these cases the conflict, the ambiguity, of past and present as they clashed in the identity of the viewer emerged as irony. In all such instances it was the viewer’s identity itself which was at stake in the act of interpreting a work of art.“ Steinhart 2002a, 95 f. weist nach, dass die Stelle nicht im Sinne Elsners als ironisch zu verstehen ist, indem er zeigt, dass Pausanias öfter Vorbesitzer von Häusern erwähnt. Dem von Pausanias sehr geschätzten Philopoimen werden wegen seiner Verteidigung der griechischen Freiheit von den Spartanern das Haus des Tyrannen Nabis und 100 Talente geschenkt (Paus. 8,51,2). Das Geld verschmähte er, vom Verbleib des Hauses in seinem Besitz hören wir nichts mehr, könnten also davon ausgehen, dass er es nicht zurückwies. Zweitens sichtet Pausanias in Argos eine dem Augustus geweihte Statue. Die Einwohner sagen ihm jedoch, dass es eigentlich der Muttermörder Orest sei, den die Statue darstelle (Paus. 2,17,3). Zur Orestes-/Augustus-Statue macht Cecioni 1993, aufbauend auf Dewar 1988 eine Verbindung in Vergils Aeneis zwischen Augustus und Orest ausfindig, der sich Arafat 1996, 127 Anm. 72 nicht anschließt. In diesem Fall handelt es sich wohl einfach um die Wiederverwendung einer alten Statue, die mit einer neuen Inschrift auf der Basis versehen wurde, was nicht ungewöhnlich war, vgl. Dion Chrys. or. 31,43. Das Problem mit der Ironie besteht darin, dass keinerlei Anknüpfungspunkte für eine Analogie bestehen. Bei Pausanias figuriert Orestes nicht als Muttermörder und Augustus ließ seine Mutter anders als z. B. Nero bekanntlich nicht ermorden. Pausanias verfolgt die Wanderungen des Orestes: Paus. 2,31,4. 8 f. 3,22,1. 7,25,7. 8,5,4. 8,34,1–4. Neros Mord an seiner Mutter z. B. Plut. Anton. 87. 414 Zu Lebadeia vgl. Paus. 9,39. Verschwunden seien die des Ptous und Amphiareus (Plut. de def. or. 411 f.–412a). Das Orakel von Tegyrai wird als wichtig apostrophiert, weil Apollon durch dieses den Griechen den Sieg über die Perser verhieß (412b). Es sei ‚vor nicht sehr langer Zeit‘ eingegangen (Plut. Pelop. 16,5–8). 415 Plut. de def. or. 411e.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
kommen,416 tritt der Kyniker Didymos Planetiades auf. Er wirft provokant ein, dass bereits bei Hesiod „Scham und Scheu das menschliche Leben verlassen haben“,417 und es eher die Frage sei, warum Apollon überhaupt noch Weissagungen erteile. Diesen radikalen Defizienzbefund wollen die anderen Teilnehmer am Gespräch aber nicht teilen. Ammonios’ Lösung ist der Hinweis auf Angebot und Nachfrage.418 Das Verschwinden so vieler Orakel sei lediglich ein Zeichen für den Bevölkerungsmangel in Griechenland. Schuld sei die allgemeine Entvölkerung des ganzen Erdkreises, unter der Griechenland aber besonders gelitten habe.419 Daraus wird deutlich, dass Ammonios die Bürgerkriege der späten Republik meint, da die entscheidenden Schlachten allesamt in Griechenland geschlagen wurden (Pharsalos, Philippi, Actium). Bei dieser absoluten Aussage hätte es Plutarch/Ammonios belassen können, fügt aber noch ein Detail aus den Perserkriegen hinzu, denn ganz Griechenland könne heute nicht 3000 Hopliten stellen – eine Zahl, die allein die Polis Megara einst nach Plataiai entsandte.420 Damit stellt er wieder einen kontrapräsentischen Vergangenheitsbezug her, der seine zeitgenössische Defizienzerfahrung verfestigt. Früher hatten die Weissagungen der Pythia einen Doppelsinn und waren dunkel, was daran lag, dass nicht ‚gemeine Leute‘ kamen, die das Orakel zum Kauf von Sklaven oder über ein Gewerbe befragten, sondern mächtige Städte, Könige und Tyrannen.421 Das Orakel passe sich nämlich der Wichtigkeit und Weisheit des Orakelsuchenden an.422 „Freilich fragt man jetzt den Gott über ganz andere Dinge, womit ich auch ganz wohl zufrieden bin,“ sagt Theon am Ende von de Pythiae ora416 Der gelehrte und weitgereiste Kleombrotos hatte von den Priestern des Zeus Ammon erfahren, dass jedes Jahr immer weniger Öl für das nie verlöschende Feuer im Heiligtum benötigt würde (Plut. de def. or. 410b). Daraus hatten sie geschlossen, dass die Jahre kürzer und damit weniger Öl verbraucht würde. Es wird zunächst diskutiert, ob äußere Faktoren auf das Öl wirken könnten, wie veränderte Umweltbedingungen oder eine andere Qualität des Öls. Lamprias bringt dann aber die Deutung ein, dass sich das Orakel im Niedergang befände (414d), woraufhin der Grammatiker Demetrios einwandte, dass man nicht den Niedergang ferner Orakel, sondern der griechischen diskutieren könnte. 417 Plut. de def. or. 413a. Vgl. Hes. Erga 198. 418 Während früher zwei Seherinnen Weissagungen erteilten, sei es heute nur noch eine, die aber der Nachfrage genüge (414b). In Tegyrai oder auf dem Berg Prous, wo es einst Orakel gab, würde man heute kaum einen Hirten antreffen (414a). Somit, so wird impliziert, mache ein Orakelbetrieb dort auch keinen Sinn. 419 Plut. de def. or. 413 f.–414a. Vgl. schon Polyb. 36,17,5–9 der für seine Zeit den Rückgang der Bevölkerung Griechenlands diagnostiziert, obwohl weder längerer Krieg noch Seuchen gewirkt hätten. Dies sei nicht der Tyche zuzuschreiben, sondern der Tatsache, dass die Menschen dem Luxus verfallen seien und höchstens zwei Kinder bekämen, von denen eines der Krieg, das andere eine Krankheit töte. 420 Dass Plutarch ausgerechnet Megara erwähnt, könnte damit zusammenhängen, dass es besonders dieser Polis an positiver ökonomischer Entwicklung mangelte. Vgl. Paus. 1,36,3: als einzige unter den Griechen führte die Regierung Hadrians für die Megarer zu keinem Aufschwung. Megaras fehlende Prosperität mag an der Nähe zu Korinth gelegen haben, vgl. Alcock 1993, 160. 421 Plut. de Pyth. or. 407c–d. 422 Plut. de Pyth. or. 406 f.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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culis.423 Resignation bzw. ‚das Gute am Schlechten zu sehen‘ ist somit auch eine pragmatische Position im Umgang mit der römischen Gegenwart. Es lässt sich nun abschließend fragen, ob die Griechen der Gegenwart auch etwas Positives abringen konnten. Plutarch äußert sich sehr allgemein über die Segnungen der Gegenwart, was eher auf ein Bewusstmachen alltäglicher Dinge hinweist. δεῖ δὲ καὶ τὰ κοινὰ μὴ παρορᾶν ἀλλ’ ἔν τινι λόγῳ τίθεσθαι καὶ χάριν ἔχειν, ὅτι ζῶμεν ὑγιαίνομεν τὸν ἥλιον ὁρῶμεν· οὐ πόλεμος οὐ στάσις ἐστίν· ἀλλὰ καὶ ἡ γῆ παρέχει γεωργεῖν καὶ θάλασσα πλεῖν ἀδεῶς τοῖς βουλομένοις· καὶ λέγειν ἔξεστι καὶ πράττειν καὶ σιωπᾶνκαὶ σχολάζειν. Wir dürfen selbst solche Dinge, die wir mit Andern gemein haben, nicht übersehen, sondern müssen dabei auch berücksichtigen, dass wir noch leben, gesund sind, dass wir die Sonne sehen, dass kein Krieg und Bürgerkrieg herrscht, sondern von Jedem die Erde sich bebauen und das Meer mit Sicherheit befahren lässt, wie wir wollen; und dass es erlaubt ist, dass wir sprechen und schweigen, tätig und müßig sein können.424
Die Anerkennung des römischen Friedens ist konventionell und findet sich auch an anderer Stelle bei Plutarch, in Aristides’ Rom-Rede oder etwa bei Epiktet: Ὁρᾶτε γάρ, ὅτι εἰρήνην μεγάλην ὁ Καῖσαρ ἡμῖν δοκεῖ παρέχειν, ὅτι οὐκ εἰσὶν οὐκέτι πόλεμοι οὐδὲ μάχαι οὐδὲ λῃστήρια μεγάλα οὐδὲ πειρατικά, ἀλλ’ ἔξεστιν πάσῃ ὥρᾳ ὁδεύειν, πλεῖν ἀπ’ ἀνατολῶν ἐπὶ δυσμάς. Siehe nun, dass der Kaiser uns mit großem Frieden zu bedenken scheint, dass es keine Kriege mehr gibt und keine Kämpfe, kein Räuberunwesen in großem Umfang, keine Piraterie. Sondern es ist möglich zu jeder Zeit über Land zu reisen oder vom Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang.425 423 Plut. de Pyth. or. 408b–c: πολλὴ γὰρ εἰρήνη καὶ ἡσυχία, πέπαυται δὲ πόλεμος, καὶ πλάναι καὶ στάσεις οὐκ εἰσὶν οὐδὲ τυραννίδες, οὐδ' ἄλλα νοσήματα καὶ κακὰ τῆς Ἑλλάδος ὥσπερ πολυφαρμάκων δυνάμεων χρῄζοντα καὶ περιττῶν. ὅπου δὲ ποικίλον οὐδὲν οὐδ' ἀπόρρητον οὐδὲ δεινόν, ἀλλ' ἐπὶ πράγμασι μικροῖς καὶ δημοτικοῖς ἐρωτήσεις οἷον ἐν σχολῇ προτάσεις ‘εἰ γαμητέον’ ‘εἰ πλευστέον’ ‘εἰ δανειστέον,’ τὰ δὲ μέγιστα πόλεων μαντεύματα φορᾶς καρπῶν πέρι καὶ βοτῶν ἐπιγονῆς καὶ σωμάτων ὑγείας, ἐνταῦθα περιβάλλειν μέτρα καὶ πλάττειν περιφράσεις καὶ γλώσσας ἐπάγειν πύσμασιν ἁπλῆς καὶ συντόμου δεομένοις ἀποκρίσεως, ἔργον ἐστὶ φιλοτίμου σοφιστοῦ καλλωπίζοντος ἐπὶ δόξῃ χρηστήριον· ἡ δὲ Πυθία καὶ καθ' αὑτὴν μέν ἐστι γενναία τὸ ἦθος, ὅταν δ' ἐκεῖ κατέλθῃ καὶ γένηται παρὰ τῷ θεῷ, πλέον … ἢ † ἐκείνῃ μέλει δόξης καὶ ἀνθρώπων ἐπαινούντων ἢ ψεγόντων.’ („Es herrscht jetzt überall Friede und Ruhe, der Krieg ist zu Ende, man findet weder Umherzüge [von Völkern] noch Aufstand, man sieht keine Tyrannenherrschaft, und es herrschen in Griechenland keine Krankheiten oder Übel, welche kräftige und starke Heilmittel erfordern. Daher fragt man jetzt nicht mehr über verwickelte, [c] geheimnisvolle und gefährliche Dinge, sondern über geringfügige und allgemeine, ähnlich denen, welche in den Schulen vorkommen: ob man heiraten, oder zu Schiffe gehen solle, man fragt über das Wachstum der Früchte und des Futters, oder über die Gesundheit der Menschen; hier nun ein Silbenmaß anzuwenden, Umschreibungen zu machen, veraltete Wörter zu gebrauchen bei Fragen, welche eine einfache und kurze Antwort erfordern, könnte nur das Geschäft eines ehrgeizigen Sophisten sein, der, um zu prunken, das Orakel ausschmückte.“). Vgl. auch Plut. de E 386c für typische Fragen an das Orakel: ob man (in einem Prozess) siegt, ob man eine Ehe eingehen soll, ob man mit Erfolg eine Schiffsfahrt unternimmt, das Feld bebaut oder eine Reise macht. 424 Plut. mor. 469e. 425 Arr. Diss. Epict. 3,13,9.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
Epiktet dient das Aufzeigen des durch den Kaiser bewahrten Friedens im Imperium Romanum im Folgenden aber auch dazu, festzustellen, dass der Kaiser gleichzeitig nicht vor Krankheit, Schiffbruch, Trauer usw. beschützen kann. Bei Plutarch finden sich die konkreten positiven Aussagen über die Gegenwart lediglich im Zusammenhang mit Delphi: ὁρᾶτε δήπουθεν αὐτοὶ πολλὰ μὲν ἐπεκτισμένα τῶν πρότερον οὐκ ὄντων, πολλὰ δ’ ἀνειλημμένα τῶν συγκεχυμένων καὶ διεφθαρμένων. ὡς δὲ τοῖς εὐθαλέσι τῶν δένδρων ἕτερα παραβλαστάνει, καὶ τοῖς Δελφοῖς ἡ Πυλαία συνηβᾷ καὶ συναναβόσκεται διὰ τὰς ἐντεῦθεν εὐπορίας σχῆμα λαμβάνουσα καὶ μορφὴν καὶ κόσμον ἱερῶν καὶ συνεδρίων καὶ ὑδάτων οἷον ἐν χιλίοις ἔτεσι τοῖς πρότερον οὐκ ἔλαβεν. Ihr seht ja selbst Vieles, was nachher gegründet wurde und früher nicht da war, Vieles wieder hergestellt, was zusammengefallen und zu Grunde gegangen war. So wie nun neben saftreichen Bäumen andere emportreiben, so blüht auch mit Delphi die Pylaia auf und gedeiht, indem sie durch den Reichtum von Delphi eine neue Gestalt annimmt und einen Schmuck der Tempel, Versammlungsorte und Quellen erhält, wie sie ihn in den tausend vorhergehenden Jahren nicht besaß.426
Plutarch bindet die positive Entwicklung in Delphi an sich persönlich und an ein göttliches Zutun, weil es ihm wohl unglaublich erscheinen musste, dass sich etwas Positives in der Gegenwart finden lässt: ἡμῖν δὲ λαμπρότερα καὶ κρείττονα καὶ σαφέστερα σημεῖα τούτων ἀναδίδωσιν, ὥσπερ ἐξ αὐχμοῦ τῆς πρόσθεν ἐρημίας καὶ πενίας εὐπορίαν καὶ λαμπρότητα καὶ τιμὴν πεποιηκώς. καίτοι φιλῶ μὲν ἐμαυτὸν ἐφ’ οἷς ἐγενόμην εἰς τὰ πράγματα ταῦτα πρόθυμος καὶ χρήσιμος μετὰ Πολυκράτους καὶ Πετραίου, φιλῶ δὲ τὸν καθηγεμόνα ταύτης τῆς πολιτείας γενόμενον ἡμῖν καὶ τὰ πλεῖστα τούτων ἐκφροντίζοντα καὶ παρασκευάζοντα … ἀλλ’ οὐκ ἔστιν [ἄλλως ὅτι] τηλικαύτην καὶ τοσαύτην μεταβολὴν ἐν ὀλίγῳ χρόνῳ γενέσθαι δι’ ἀνθρωπίνης ἐπιμελείας, μὴ θεοῦ παρόντος ἐνταῦθα καὶ συνεπιθειάζοντος τὸ χρηστήριον. Uns aber gibt Apollon noch glänzendere und bessere Zeichen als diese, indem er aus der früheren Trockenheit, Wüste und Armut uns Überfluss, Glanz und Ehre verliehen hat. Obschon ich nun mit mir selbst zufrieden bin, dass ich mit Polykrates und Petraios427 eifrig dazu mitgewirkt, obschon ich den Gründer dieser Einrichtung, der das Meiste davon ausgedacht und ausgeführt hat, liebe, so hätte doch eine so bedeutende Veränderung in kurzer Zeit nicht zu Stande kommen können bloß durch menschliche Tätigkeit, ohne Gegenwart eines Gottes, der dem Orakel die göttliche Kraft verlieh.428
Aristides’ positiv wirkende Gegenwartsdeutung, die bei genauerer Betrachtung wohl eher als invertierte Defizienzerfahrung anzusprechen ist und durch die Realität in der griechischen Welt konterkariert wird, lässt sich in der Rom-Rede an drei Stellen exemplarisch beobachten. Eine Verbindung lässt sich jeweils damit herstellen, dass die römische Perspektive mit absoluten Aussagen über die Gegenwart präsentiert wird ohne mit komparativen Vergangenheitsbezügen zu arbeiten. Die erste Stelle betrifft die vermeintliche Prosperität Achaias und der griechischen Kunst. 426 Plut. de Pyth. orac. 409a. 427 L. Cassius Petraeus (Syll.3 825A–C) war ein Freund Plutarchs und Agonothet in Delphi (Plut. symp. 5,2,1), gebürtig aus Hypata, Thessalien. Vgl. Stein 1937, 1179. Es ist wahrscheinlich, dass er ein Nachfahre des von M. Brutus hingerichteten Caesarianers ist (Cic. Phil. 13,33). Vgl. Plut. praec. ger. reip. 815d. 428 Plut. de Pyth. orac. 409b–c.
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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νῦν ἅπασαι μὲν αἱ Ἑλληνικαὶ πόλεις ἐφ’ ὑμῶν ἀνέχουσι καὶ τὰ ἐν αὐταῖς ἀναθήματα καὶ τέχναι καὶ κόσμοι πάντες ὑμῖν ἔχουσι φιλοτιμίαν, ὥσπερ ἐν προαστείῳ κόσμος· ἐκπεπλήρωνται δὲ ἀκταί τε παράλιοι καὶ μεσόγειαι πόλεσι, ταῖς μὲν οἰκισθείσαις, ταῖς δὲ αὐξηθείσαις ἐφ’ ὑμῶν τε καὶ ὑφ’ ὑμῶν. Nun blühen alle Städte der Griechen unter eurer Führung auf und ihre Weihegeschenke, Kunstwerke und all ihre Kostbarkeiten, die sie haben, tragen bei zu eurer Ehre wie der Schmuck in einer Vorstadt. Die Vorgebirge, die Küsten des Meeres und das Binnenland sind reich besetzt mit Städten, die teils neu gegründet, teils unter euch und von euch gefördert wurden.429
Tatsächlich blühten weder alle griechischen Poleis auf, noch waren die Neugründungen griechisch, da es sich um römische coloniae oder civitates handelte. Menander Rhetor macht auf das Problem neugegründeter Städte aufmerksam, wonach die Betonung ihres geringen Alters nichts Positives darstellt.430 Wenn die Stadt zu einer der ältesten gehört, sei sie am meisten zu ehren. Wenn sie der mittleren Zeit entstammt, solle man sagen, dass sie weder herabgesunken, gealtert, geschwächt noch neu gegründet ist. Diese Exklusiv-Definition deutet umgekehrt auf die möglichen Negativ-Attribute einer Stadt hin: Wenn sie herabgesunken, gealtert, geschwächt und jüngst gegründet wurde, kann man sie nicht loben. Eine unter den Römern gegründete Stadt ist also an sich nichts Positives, weswegen sich Menander mit einem Kunstgriff helfen muss und das Gute am Schlechten identifiziert, indem er empfiehlt: ‚In ihrer Blüte ist sie wie ein Mädchen in ihrer Jugend‘ oder ‚Das Stadtleben lässt mehr und Besseres erhoffen‘. Dass die griechischen Kunstwerke „wie Kleinodien in einer Vorstadt“ Rom schmücken würden, ist außerdem euphemistisch angesichts des gewaltigen Ausmaßes römischen Kunstraubes in Achaia und Asia.431 Die zweite Stelle betrifft die relative Autonomie griechischer Poleis, die aber von römischer Seite zunehmend gemindert wurde. διατελεῖτε δὲ τῶν μὲν Ἑλλήνων ὥσπερ τροφέων ἐπιμελόμενοι, χεῖρά τε ὑπερέχοντες καὶ οἷον κειμένους ἀνιστάντες, τοὺς μὲν ἀρίστους καὶ πάλαι ἡγεμόνας ἐλευθέρους καὶ αὐτονόμους ἀφιέντες αὐτῶν, τῶν δ’ ἄλλων μετρίως καὶ κατὰ πολλὴν φειδώ τε καὶ πρόνοιαν ἐξηγούμενοι, τοὺς δὲ βαρβάρους πρὸς τὴν ἑκάστοις αὐτῶν οὖσαν φύσιν παιδεύοντες πραότερόν τε καὶ σφοδρότερον, ὥσπερ εἰκὸς ἵππων ἐπιστατῶν μὴ εἶναι χείρους, ἀνδρῶν ὄντας ἄρχοντας, ἀλλ’ ἐξητακέναι τὰς φύσεις, καὶ πρὸς ταύτας ἄγειν. Fortwährend sorgt ihr für die Griechen wie für eure Pflegeeltern, haltet eure Hand über sie und richtet sie gleichsam auf, wenn sie darniederliegen. Diejenigen unter ihnen, welche einst die Vornehmsten waren und eine Führerstellung innehatten, erlangten von euch Freiheit und Unabhängigkeit, die übrigen regiert ihr maßvoll mit großer Schonung und Umsicht. Die Barbaren aber erzieht ihr entsprechend ihrer jeweiligen Natur entweder mit größerer Milde oder Strenge; denn da ihr über Menschen herrscht, ist es natürlich, dass ihr nicht hinter Pferdebändigern zurücksteht, sondern die Anlagen der Untertanen erforscht habt und sie danach behandelt.432
Ab dem Ende des 1. Jh. n. Chr. sandten die Römer zunehmend curatores reipublicae bzw. λογισταί in griechische Poleis,433 um dort die Finanzverwaltung zu 429 430 431 432 433
Aristeid. or. 26,94. Men. Rhet. 355,1–11. Vgl. Ursin 2014a, 63–66. Aristeid. or. 26,96. Cod. Iust. 1,54,3: c. rei publicae, qui graeco vocabulo logista nuncupatur.
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4 Griechische Vergangenheit in einer römischen Gegenwart
überwachen.434 Da dies vor allem die nicht direkt dem Prokonsul unterstellten civitates liberae betraf, muss man von einem zunehmenden Schwund städtischer Autonomie ausgehen und tatsächlich wurde dieses zunächst sporadische Amt im 3. Jh. flächendeckend regulär. Das Gleiche gilt für die kaiserlichen Kommissäre ad corrigendum statum liberarum civitatium, die sogenannten correctores,435 die zumeist Römer waren.436 Seitens der Griechen wird in dem Zusammenhang immer wieder die Forderung laut, zumindest des Griechischen mächtige Statthalter in ihre Provinzen zu entsenden, was darauf hindeutet, dass es auf der sprachlichen Ebene bereits Probleme gegeben hat.437 In Dions zweiter tarsischer Rede haben die Provinzialen kein gutes Verhältnis zum Statthalter.438 Plutarch tröstet in seiner Schrift de exilio den Adressaten damit, dass dieser im Exil von der statthalterlichen Willkürherrschaft ausgenommen ist.439 An anderer Stelle in Plutarchs Praecepta gerendae reipublicae gewinnt man den Eindruck, dass der Frieden der Gegenwart eher mit einer ‚Totenstille‘ und dem Mangel an politischer Autonomie assoziiert wird, anstatt mit einer positiven Gegenwartswahrnehmung. Dort heißt es, dass die Poleis in Bezug auf Frieden keiner Staatsmänner bedürften, da jeder Gedanke an Krieg unter den Griechen oder mit Barbaren verschwunden sei.440 Es muss sich an der angesprochenen Stelle der Romrede von Seiten des Aristides also um einen Akt affirmativer Forderung handeln, d. h. er präsentiert ein normatives Ideal der Wirklichkeit, mit der Hoffnung, die Römer als Adressaten mögen diesem Ideal entsprechen.441 434 Vgl. zuletzt speziell zu den ägyptischen curatores Scheuble-Reiter 2016 und generell Eck 1979, 198–230. Burton 1979. Kornemann 1901. Liebenam 1897. Die curatores reipublicae sind kaiserliche Regierungsbeamte, die für einzelne oder mehrere Gemeinden zur Beaufsichtigung der städtischen Finanzverwaltung bestellt werden. Ihre Tätigkeit wird durch über 400 Inschriften dokumentiert, die seit Traian einsetzen. Es sind Ritter und Senatoren und bisweilen sogar Plebeier. Vgl. Philostr. soph. 512. SHA M. Aur. 11. 435 Vgl. Liebenam 1900, 482 f. Premerstein 1901. Auch ihr Amt wurde unter Diokletian zu einer ständigen Einrichtung. 436 Das Amt des correctors hatten vor allem Römer inne. Der erste war Sex. Quinctilius Valerius Maximus (Plin. ep. 8,24,2. CIL III 6103. Arr. diss. Epict. 3,7,1 ff.), Großvater von Sex. Quintilius Maximus und Condianus (PIR2 Q 21. 27. Halfmann 1979, Nr. 75. 76. Philostr. soph. 559), von denen ebenfalls einer corrector Achaiae während des Prokonsulats des anderen war. Oliver 1973, 403–405 zählte bis zum letzten Kommissar L. Egnatius Victor Lollianus (CIG 1624, CIA III 632, IG VII 2510) insgesamt 14 correctores bzw. legati Augusti. Guerber 1997 listet neuerdings 25 Würdenträger, die vor allem in Italien und den civitates liberae des griechischsprachigen Ostens eingesetzt wurden, hier vor allem Achaia, vgl. von Premerstein 1901, 1646. Die correctores revidierten im griechischen Osten nicht nur die städtischen Finanzen, sondern besaßen auch ein imperium und fasces. In Asia finden wir lediglich Herodes Atticus als corrector für die freien Städte und für eine gesamte Provinz Plinius in Pontus et Bithynia, vgl. ebd. 1647. 437 Vgl. Philostr. Ap. 5,36 und s. u. Kap. 7.1. 438 Dion Chrys. or. 34,29. 439 Plut. de exilo 602e: Wem es vergönnt sei, sich auf eine Insel zurückzuziehen, solle sich ein Pindar-Zitat vorsagen, wonach man zwar ein kleines Feld nur besitze aber heiter, frei von Kummer und vom Streit der Parteien sei. Plutarch fügt an: auch frei von Statthalterbefehlen, von Leistungen für den Bedarf des Staates und den schwer zu umgehenden Diensten für diesen. 440 Plut. praec. ger. reip. 824c. Zur Interpretation dieser Stelle sei verwiesen auf Kap. 3.2 bezüglich politischer Defizienzerfahrung. 441 Vgl. Seelentag 2004, 30 zum affirmativen Fordern in der Panegyrik. S. o. Anm. 70 (Kap. 4.2.3).
4.3 Defizienzerfahrung durch Gegenwart-Vergangenheit-Vergleiche
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Die dritte Stelle bei Aristides befasst sich mit der Abwesenheit von Streit unter den Griechen. καὶ αἱ μὲν ἄλλαι πᾶσαι φιλονεικίαι τὰς πράξεις ἐπιλελοίπασι, μία δὲ αὕτη κατέχει πάσας ἔρις, ὅπως ὅτι καλλίστη καὶ ἡδίστη αὐτὴ ἑκάστη φανεῖται. πάντα δὲ μεστὰ γυμνασίων, κρηνῶν, προπυλαίων, νεῶν, δημιουργιῶν, διδασκάλων, ἐπιστημόνως τε ἔξεστιν εἰπεῖν οἷον πεπονηκυῖαν ἐξ ἀρχῆς ἀνακεκομίσθαι τὴν οἰκουμένην. Jeder andere Streit ist den Städten fremd geworden, sie alle beherrscht nur dieser eine Ehrgeiz, dass jede von ihnen möglichst schön und einladend erscheine. Überall gibt es Gymnasien, Brunnen, Vorhallen, Tempel, Werkstätten und Schulen. Mit einem klugen Vergleich könnte man sagen, dass der am Anfang gleichsam kranke Erdkreis gesund geworden ist.442
Abgesehen davon, dass der geradezu topische ‚griechische Streit‘ selbst in der Rom-Rede thematisiert wird,443 zeigen die sogenannten Homonoia-Münzen444 eindrucksvoll, dass zwischen den griechischen Poleis keine Eintracht herrschte, da sonst die Eintracht nicht hätte proklamiert werden müssen. Dass Aristides gegenüber den Römern behauptet, dass zwischen den griechischen Poleis Eintracht herrsche, muss im Zusammenhang mit Plutarchs Bemerkungen in den Praecepta gerendae reipublicae betrachtet werden. Dort wies er darauf hin, dass man sich als Grieche gegenüber den Römern schuldlos halten sollte, sie nicht in die Angelegenheit der Polis hineinziehen und Staseis vermeiden sollte um römische Interventionen weitestgehend zu verhindern. Die Streitigkeiten um Neokorien, um die Rangfolge der Städte innerhalb der Provinz Asia oder die Gebietsstreitigkeiten zwischen griechischen Poleis zeigen, dass sich die Griechen fortwährend gestritten haben.445 Zusammengefasst ist festzuhalten, dass sich weder für Plutarch, Dion Chrysostomos, Aristides und Pausanias die römische Gegenwart positiv darstellt. Diese Autoren zeichnet stattdessen eine massive Defizienzerfahrung aus.
442 Aristeid. or. 26,97. 443 Aristeid. or. 26,51: Trikaranos, vgl. Anm. 194 (Kap. 4.2.2). Vgl. ferner die konventionelle Ansicht Plutarchs, dass die Siegeszeichen der Kriege unter Griechen als Zeichen des Unglücks gelten und sich Griechenland meistens durch die κακία und φιλονικία seiner Anführer im Kreise drehte (Plut. Flam. 11,6 mit dem Kommentar von Schrott 2014, 638–644). Außer bei den Kriegen um die eigene Freiheit habe sich Griechenland durch innere Kriege stets selbst versklavt (Plut. Flam. 11,3. 6). Weil sie Hellas beinahe zugrunde gerichtet hätten, solle man nach Pausanias die am Peloponnesischen Krieg beteiligten eher Selbstmörder nennen (Paus. 8,52,3). 444 Vgl. Franke/Nollé 1997. Kampmann 1996. Theriault 1996. Sheppard 1984–1986. 445 Vgl. Dion Chrys. or. 38,37–39 und Aristeid. or. 26,69 mit Kritik am Rangstreit der Städte Asias. Vgl. dazu Robert 1977 und Millar 1977, 375–456. Dion Chrys. or. 34,27 über Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten und die Behauptung, die Tarsier hätten andere Städte bedrängt. Vgl. Friesen 1993 und Burrell 2004 zu den Neokorien.
5 FREIHEIT Der Beginn griechischer Freiheitstopik liegt in den Perserkriegen, dem Widerstand gegen eine auswärtige Macht und – mit Raaflaub gesprochen – der „Entdeckung der Freiheit“ im 5. Jh. v. Chr.1 Während des Peloponnesischen Krieges finden wir bereits eine politische Instrumentalisierung des Freiheitsbegriffs, der ursprünglich die Freiheit aller Griechen gegenüber den Persern bedeutet hatte. Nun propagierte Sparta die Freiheit der Griechen von der athenischen Tyrannei. Diese Verwendung des Freiheitsbegriffs setzt sich im 4. Jh. v. Chr. fort, in dem Athen, Sparta und Theben ihn für ihre jeweiligen Hegemonialansprüche benutzten und Alexander den offiziellen Auftrag ausrufen ließ, in formaler Fortführung des Freiheitsgedankens die kleinasiatischen Griechen zu befreien.2 In der Folgezeit konkurrierten die Römer und hellenistischen Monarchien jeweils um die Sympathien der Griechen, indem sie ihnen wie Flamininus die Freiheit erklärten.3 Der ursprüngliche Freiheitsbegriff, der den Widerstand gegen die auswärtigen Mächte der Perser, Makedonen, Galater und Römer zu einem integralen Aspekt griechischer Identität machte, wurde jedoch nie aufgegeben: weder nach der Niederlage bei Chaironeia 338 v. Chr. gegen die Makedonen, nach der Zerstörung Korinths 146 v. Chr. durch Mummius oder nach Sullas Eroberung Athens 86 v. Chr im Krieg gegen Mithridates.4 Bemerkenswert für die späte Freiheitshoffnung der Athener ist eine Notiz bei Cassius Dio, dass den Caesar-Mördern Cassius und Brutus im August 44 v. Chr. bronzene Standbilder neben denen von Harmodios und Aristogeiton errichtet wurden, weil sie deren Vorbild nachgeeifert hätten.5 Brutus gewann demnach Griechenland mühelos, weil die Bevölkerung ihm wegen seiner ruhmvollen Taten zugetan war und für ihr Land ähnliche Dienste erwartete. Von den römischen Tyrannenmördern erhofften sich die Athener die politische Freiheit offensichtlich noch relativ kurz vor der Einrichtung der Provinz Achaia 27 v. Chr. und wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch darüber hinaus.
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Vgl. Raaflaub 1985 und dazu Jung 2006, 27–125. Vgl. hingegen die interessante Parallele bei Aristeid. or. 26,51, dass die Kunst des Herrschens eine Entdeckung (εὕρημα) der Römer sei (und die Kunst der Freiheit eine Entdeckung der Griechen). Vgl. Diod. 16,91,2. Vgl. Dmitriev 2011. Ferrary 1988. Gruen 1984, 132–157. Wilcken 1973, 266. Zur Freiheit, Sulla und Mithridates vgl. App. Mith. 20–23. 28 f. Für die Phase des (politischen) Widerstands gegen Rom von 217 bis 86 v. Chr. vgl. Deininger 1971. Gschnitzer 2003, 392–394 mit der älteren Literatur zum faktischen Ende griechischer Gemeindefreiheit (d. i. die Autonomie der Polis) nach Chaironeia. Ob die Griechen ihre Autonomie faktisch im 4. oder erst im 2. Jh. v. Chr. verloren (ebd., 403) ist allerdings nicht entscheidend für das Selbstbild der Griechen als Freiheitskämpfer. Cass. Dio 47,20,4. 21,2 f.
5.1 Die politische Deutung von Neros Freiheitserklärung
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5.1 DIE POLITISCHE DEUTUNG VON NEROS FREIHEITSERKLÄRUNG Plutarch bringt in seiner Flamininus-Vita die Freiheitserklärung des Titus Quinctius Flamininus von 196 v. Chr. an die Griechen in einen Zusammenhang mit der Neros 67 n. Chr.6 Die Makedonen hatten im frühen 2. Jh. v. Chr., also zu Flamininus’ Zeit, Korinth, Chalkis und Demetrias besetzt gehalten, was von den Griechen als äußerst drückend empfunden worden war und auch noch wiederholt von Pausanias missbilligt wurde.7 Flamininus wollte nach Plutarchs Worten diese drei Städte nun mit römischen Truppen besetzen als Bastionen gegen Antiochos,8 der drohte, nach Griechenland einzufallen, was er später auch tat. Griechenland sollte indessen die Freiheit erhalten. Die Aitoler machten in den Griechenstädten deutlich, dass die „Fuß-Fesseln Griechenlands“ der Makedonen nun einfach gegen die „Hals-Fesseln“ der Römer eingetauscht würden.9 Dieses Fessel-Motiv taucht auch in den Praecepta gerendae reipublicae an der Stelle auf, an der Plutarch vom griechischen Politiker größtmögliche Autonomie und die Aufrechterhaltung der Polisinstitutionen fordert.10 Der romkritische Kommentar der Aitoler wird von Plutarch also nicht nur als historisches Dokument vorgebracht, sondern auch im Rahmen der innergriechischen Debatten über das Verhalten gegenüber der römischen Herrschaft aktualisiert. Aus der Retrospektive betont Plutarch im Rahmen der Schilderung der Freiheitserklärung des Flamininus beim Übergang des Antiochos nach Griechenland den Missbrauch der „Freiheit der Griechen“ als politisches Schlagwort.11 Als Antiochus gegen Rom ziehen wollte, machte er sich die Aitoler zu Verbündeten, die ihm rieten, die Befreiung Griechenlands als Vorwand für einen Krieg gegen Rom zu nutzen. Plutarch bemerkt dazu, dass die Griechen gar keine Befreiung nötig gehabt hätten, da sie ja schon frei gewesen seien und Antiochos in Ermangelung besserer Gründe das edelste aller Worte für seine Zwecke missbrauche. Die Inanspruchnahme der „Befreiung Griechenlands“ von Seiten der Aitoler, Römer und Seleukiden im 2. Jh. v. Chr. zeigt jedoch weniger die Entwertung des Begriffs als vielmehr dessen zeitgenössische Fruchtbarkeit. Plutarch gibt – literarisch gesehen – einen inneren Monolog des Publikums von Flamininus’ Freiheitserklärung in Korinth wieder. Mit Swain nehme ich an, dass dieser Monolog Plutarchs eigenen Ansichten entspricht:12 6
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Weitere Quellen zu Flamininus am Isthmos: Polyb. 18,46. Livius 33,32. Plut. Philop. 15. Mikalson 1998, 111–113 über die hellenistischen Freiheitserklärungen und deren Rezeption. Zu Flamininus umfassend Pfeilschifter 2005. Der Kommentar zu Plut. Flam. bei Schrott 2014, zur Freiheitserklärung bes. 615–637. Zur Datierung von Neros Freiheitserklärung s. o. Anm. 69 (Kap. 1.3). Paus. 7,7,6 (Philipp V. nannte die drei in Griechenland besetzten Städte die „Schlüssel für Griechenland“). Paus. 2,8,2–6 anerkennend über Arats Befreiung Akrokorinths 243 v. Chr. von der makedonischen Besatzung. Dazu auch Plut. Arat. 16,2. 18,5. 7. 21,1–22,9. Plut. Flam. 10. In der gleichen Weise schon Polyb. 18,45. Vgl. auch Plut. praec. ger. reip. 814e und s. o. Kap. 5.1. Plut. Flam. 15. Vgl. ausführlich Gruen 1984, 132–157, Eckstein 1990 und Dmitriev 2011. Swain 1995, 231 Anm. 5.
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5 Freiheit Ἐν ᾧ καὶ μᾶλλον ὡς εἰκὸς ἡδομένοις ἐπῄει λογίζεσθαι καὶ διαλέγεσθαι περὶ τῆς Ἑλλάδος, ὅσους πολεμήσασα πολέμους διὰ τὴν ἐλευθερίαν, οὔπω τύχοι βεβαιότερον οὐδ’ ἥδιον αὐτῆς, ἑτέρων προαγωνισαμένων ὀλίγου δεῖν ἀναίμακτος αὐτὴ καὶ ἀπενθὴς φερομένη τὸ κάλλιστον καὶ περιμαχητότατον ἆθλον. ἦν δ’ ἄρα σπάνιον μὲν ἀνδρεία καὶ φρόνησις ἐν ἀνθρώποις, σπανιώτατον δὲ τῶν ἄλλων ἀγαθῶν ὁ δίκαιος. οἱ γὰρ Ἀγησίλαοι καὶ Λύσανδροι καὶ οἱ Νικίαι καὶ οἱ Ἀλκιβιάδαι πολέμους μὲν εὖ διέπειν καὶ μάχας νικᾶν κατά τε γῆν καὶ θάλασσαν ἄρχοντες ἠπίσταντο, χρῆσθαι δὲ πρὸς χάριν εὐγενῆ καὶ τὸ καλὸν οἷς κατώρθουν οὐκ ἔγνωσαν, ἀλλ’ εἰ τὸ Μαραθώνιόν τις ἔργον ἀφέλοι, καὶ τὴν ἐν Σαλαμῖνι ναυμαχίαν, καὶ Πλαταιὰς καὶ Θερμοπύλας, καὶ τὰ πρὸς Εὐρυμέδοντι καὶ τὰ περὶ Κύπρον Κίμωνος ἔργα, πάσας τὰς μάχας ἡ Ἑλλὰς ἐπὶ δουλείᾳ μεμάχηται πρὸς αὑτήν, καὶ πᾶν τρόπαιον αὐτῆς συμφορὰ καὶ ὄνειδος [ἐπ’ αὐτὴν] ἕστηκε, τὰ πλεῖστα κακίᾳ καὶ φιλονικίᾳ τῶν ἡγουμένων περιτραπείσης. ἀλλόφυλοι δ’ ἄνδρες, ἐναύσματα μικρὰ καὶ γλίσχρα κοινωνήματα παλαιοῦ γένους ἔχειν δοκοῦντες, ἀφ’ ὧν καὶ λόγῳ τι καὶ γνώμῃ τῶν χρησίμων ὑπάρξαι τῇ Ἑλλάδι θαυμαστὸν ἦν, οὗτοι τοῖς μεγίστοις κινδύνοις καὶ πόνοις ἐξελόμενοι τὴν Ἑλλάδα δεσποτῶν χαλεπῶν καὶ τυράννων ἐλευθεροῦσι. Währenddessen dachten sie in ihrer übermäßigen Freude über Griechenland nach und sprachen darüber, wie viele Kriege es um seine Freiheit geführt hatte. Trotzdem hatte es sie noch nie beständiger und angenehmer erreicht als jetzt, da andere dafür kämpften, und Griechenland beinahe ohne Blutvergießen und Leid den schönsten und umkämpftesten Kampfpreis davontrage. Denn ein seltenes Gut war die Tapferkeit und Vernunft unter den Menschen, das seltenste unter den übrigen Gütern aber ein gerechter Mensch. Denn Männer wie Agesilaos, Lysander, Nikias und Alkibiades verstanden als Anführer Kriege gut zu führen und Schlachten zu Lande und zu Wasser zu gewinnen, aber sie beschlossen nicht, ihre Taten zu edler Gunst und zum Guten zu gebrauchen. Wenn man die Tat bei Marathon, die Seeschlacht bei Salamis, dazu Plataiai und die Thermopylen und die Taten des Kimon am Eurymedon und bei Zypern beiseite lässt, hat Griechenland alle Schlachten nur geschlagen, um sich selbst zu versklaven, und jedes Siegeszeichen steht als Zeichen des Unglücks und als Vorwurf gegen Griechenland, das sich meistens durch die Schlechtigkeit und Ehrsucht der Anführer im Kreise drehte. Aber diese andersstämmigen Männer, die nur geringe Spuren und schwache Gemeinsamkeiten der alten Abstammung aufzuweisen scheinen, für die es schon eine erstaunliche Tat gewesen wäre, für Griechenland mit einem Wort oder einem nützlichen Rat einzutreten, retteten Griechenland unter größten Gefahren und Mühen und befreiten es von der drückenden Last der Herrscher und Tyrannen.13
Die Kämpfe zwischen Griechen tadelt Plutarch; einzig die Perserkriegsschlachten, die er in seiner Gegenwart – d. h. in einem Moment ohne Freiheit – im politischen Kontext vor dem Demos nicht mehr erwähnt wissen will, lässt er hier gelten. Die Führer der Griechen haben in ihrem Kampf untereinander Griechenland versklavt, womit wir das gleiche Deutungsmuster wie bei Josephus und Pausanias erkennen.14 Bei der Verwandtschaft zwischen Griechen und Römern ist Plutarch weniger radikal als es noch Dionysios von Halikarnassos war, der die Römer direkt zu Nachfahren von Griechen gemacht hatte. Hierin können wir aber direkt die gewachsene Distanz zu den Römern greifen, die Buszard ebenfalls für die Numa- und RomulusVita herausgearbeitet hat.15 Außerdem wirft der letzte Abschnitt die Frage auf, warum die Römer Griechenland in der Gegenwart beherrschen, wenn ihre historische Leistung darin besteht, unterdrückte Völker zu befreien. Warum erklären die Römer den Griechen also nicht wieder die Freiheit?
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Plut. Flam. 11,3–7. S. u. Kap. 5.2. Vgl. Buszard 2011 und s. u. Anm. 87 (Kap. 6.3).
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Plutarch weist entsprechend auf die Freiheitsproklamation Neros im Jahr 67 n. Chr. hin, die er im Alter von etwa Anfang 20 Jahren bewusst miterlebt hat.16 Der Vergangenheitsbezug zu Flamininus wird sowohl von Plutarch, als auch von Nero hergestellt. Nero hatte bei den Isthmien Griechenland Freiheit und Unabhängigkeit verkündet. Seine Rede ist inschriftlich überliefert, hier der entsprechende Auszug: πάντες οἱ τὴν Ἀχαΐαν καὶ τὴν ἕως νῦν Πελοπόννησον κατοικοῦντες Ἕλληνες λάβετ’ ἐλευθερίαν ἀνισφορίαν, ἣν οὐδ’ ἐν τοῖς εὐτυχεστάτοις ὑμῶν πάντες χρόνοις ἔσχετε· ἢ γὰρ ἀλλοτρίοις ἢ ἀλλήλοις ἐδουλεύσατε. εἴθε μὲν οὖν ἀκμαζούσης τῆς Ἑλλάδος παρειχόμην ταύτην τὴν δωρεάν, ἵνα μου πλείονες ἀπολαύωσι τῆς χάριτος· διὸ καὶ μέμφομαι τὸν αἰῶνα προδαπανήσαντά μου τὸ μέγεθος τῆς χάριτος. All ihr Griechen, die ihr Achaia und die bisherige Peloponnes bewohnt, empfanget Freiheit und Steuerfreiheit, die ihr nicht einmal in euren glücklichsten Zeiten alle besessen habt; denn entweder dientet ihr Fremden oder einander. O daß ich doch in der Blütezeit Griechenlands dieses Geschenk gewährt hätte, damit mehr meine Gnade hätten genießen können! Deshalb tadle ich auch die Zeit, die mir die Größe der Gnade weggenommen hat.17
Die Freiheitserklärung Neros wurde von den Griechen allgemein positiv aufgenommen.18 Plutarch schont Nero in seiner Schrift ‚Von der späten Rache der Gottheit‘, „[…] weil er die Hellenen, das beste und Gott gefälligste Volk unter seinen Untertanen, in Freiheit gesetzt [hatte].“19 Auch bei Pausanias wird Nero mit der Freiheitserklärung für seine sonstigen Verfehlungen exkulpiert, indem ihm eine edle Seele bescheinigt wird, die lediglich durch eine missratene Erziehung verdorben wurde.20 Philostrats Apollonios äußert sich ebenfalls positiv: Νέρων ἐλευθέραν ἀφῆκε τὴν Ἑλλάδα σωφρονέστερόν τι ἑαυτοῦ γνούς, καὶ ἐπανῆλθον αἱ πόλεις ἐς ἤθη Δωρικὰ καὶ Ἀττικὰ πάντα τε ἀνήβησε ξὺν ὁμονοίᾳ τῶν πόλεων, ὃ μηδὲ πάλαι ἡ Ἑλλὰς εἶχεν, Οὐεσπασιανὸς δὲ ἀφικόμενος ἀφείλετο αὐτὴν τοῦτο στάσεις προβαλλόμενος καὶ ἄλλα οὔπω τῆς ἐπὶ τοσόνδε ὀργῆς· ταῦτ’ οὖν οὐ μόνον τοῖς παθοῦσιν, ἀλλὰ καὶ τῷ Ἀπολλωνίῳ πικρότερα τοῦ τῆς βασιλείας ἤθους ἔδοξεν, ὅθεν ἐπέστειλε τῷ βασιλεῖ ὧδε· Nero hatte Hellas freigegeben durch einen weisen Beschluss, in dem er weit über sich hinausgegangen war. Die Städte kehrten nun zu den dorischen und attischen Sitten zurück, und alles lebte wieder auf in der Eintracht der Städte, wie es Griechenland lange nicht mehr erlebt hatte. Vespasian aber entzog ihnen diese Freiheit bei seiner Ankunft wieder, und zwar unter dem Vorwand von Aufständen und aus anderen unzureichenden Gründen, die eine solche Strenge nicht rechtfertigten. Diese Härte schien nicht nur den unmittelbar Betroffenen, sondern auch dem Apollonios als dem Ethos der Monarchie unangemessen.21 16
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Vgl. Plut. mor. 385b. 358 f. Flam. 12,13 und Anton. 87: οὗτος ἄρξας ἐφ' ἡμῶν ἀπέκτεινε τὴν μητέρα καὶ μικρὸν ἐδέησεν ὑπ' ἐμπληξίας καὶ παραφροσύνης ἀνατρέψαι τὴν Ῥωμαίων ἡγεμονίαν, […]. („Dieser (Nero, Anm. FU) hat noch zu unserer Zeit regiert, seine Mutter ermorden lassen und in seiner Unbesonnenheit und Verrücktheit die römische Herrschaft fast ins Verderben gestürzt, […].“). Syll.3 814 B 11–20 (= IG VII 2713). Übers. Pfohl 1980, 137. Vgl. auch Oliver 1971. Vgl. Alcock 1994, 103–107. Warmington 1969, 118. Plut. de sera 32 = 567e–568a: ὅτι τῶν ὑπηκόων τὸ βέλτιστον καὶ θεοφιλέστατον γένος ἠλευθέρωσε [τὴν Ἑλλάδα]. Vgl. Scholten 2009. Paus. 7,17,3. Vgl. Plat. rep. 491e. Paus. 1,30,3 über die Verehrung Platons, der heraussticht unter den sonst bei ihm allgemein wenig genannten Philosophen. Philostr. Ap. 5,41.
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Plutarch, Pausanias und Apollonios (Philostrat) als Griechen anerkennen Nero für seine Freiheitserklärung. Terminologisch greifen alle drei Autoren die ἐλευθερία aus Neros Rede auf. Insbesondere Apollonios weist sowohl auf die Rückkehr zu den dorischen und attischen Sitten als auch auf die ὁμόνοια unter den Poleis hin, womit er eine politische Deutung der neronischen Freiheitserklärung nahelegt. Alcock hat jüngst herausgestellt, dass die Freiheitserklärung im Grunde überflüssig war, da das arme Griechenland auch aufgrund der hohen Zahl von Poleis mit dem Status einer civitas libera ac immunis ohnehin schon so wenige Steuern zahlte, dass man sie ihm auch ganz erlassen konnte.22 Neben der Anführung fiskalpolitischer Entlastungen sieht die Forschung die Freiheitserklärung im Kontext einer veränderten römischen Politik, die durch Verzicht auf eine intensive Verwaltung und Einmischung in innere Angelegenheiten die Spielräume der Provinzialen erweiterte. Die römische Perspektive des Cassius Dio betont andere Aspekte wie die Ausplünderung Achaias durch Nero, sowie die Ermordung zahlreicher Römer und die Konfiskation ihrer Vermögen.23 Außerdem hält Dio das Auftreten Neros in Griechenland nicht würdig für einen Römer, da er nicht aus militärischen, sondern im weitesten Sinn aus kulturellen Gründen nach Griechenland gekommen sei.24 Dass die griechische Anerkennung für Nero relativ groß war trotz seines in größerem Maßstab betriebenen Kunstraubs25 und der Änderung der Olympiadenzählung, um selbst bei den olympischen Spielen anzutreten, verdeutlicht die hohe Bewertung der Freiheitserklärung.26 Sueton suggeriert im Gegensatz zu Philostrats Apollonios, dass sich die freien Städte untereinander gestritten hätten und es in Achaia zu Aufständen gekommen
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Alcock, 1994, 103. Vgl. auch Malitz 1999, 97 f. Garzetti 1977, 184. Zu den direkten Auswirkungen für die Provinzialen vgl. Kaplan 1990, 343–347. Cass. Dio 63,11. Cass. Dio 63,10,2. Vgl. 63,11,1: ungeachtet dessen, dass er Griechenland die Freiheit geschenkt hatte, plünderte er es aus. 63,8,2 kritisiert er, dass Nero nicht wie Flamininus, Mummius, Agrippa oder Augustus nach Griechenland übergesetzt sei (d. h. nicht mit militärischen Absichten), sondern um als Wagenlenker und Leierspieler aufzutreten. Der kontrapräsentische Vergangenheitsbezug wird dahingehend noch gesteigert, dass Cass. Dio 63,8,4 bemerkt, dass Neros Gefolge bei musischen Wettkämpfen gegen einen Terpnos, Diodoros oder Pammenes siegte und nicht gegen einen Philipp, Perseus oder Antiochos. Dass sich Römer in der Kriegführung anstatt in der Kultur auszuzeichnen haben, bemerkt Cassius Dio in 63,9,3: τίς δὲ νίκη ἀτοπωτέρα. ἐν ᾗ τὸν κότινον ἢ τὴν δάφνην ἢ τὸ σέλινον ἢ τὴν πίτυν λαβὼν ἀπώλεσε τὸν πολιτικόν; („Welcher Sieg ist wohl sinnloser als jener, bei dem er den Ölzweig, den Lorbeer, den Eppich oder den Fichtenkranz empfing, den politischen Kranz aber verlor?“). Vgl. Paus. 10,7,1. 19,2. 9,27,3 f. Neben dem berühmte Eros von Thespiai habe Nero mindestens 500 Statuen aus Delphi geraubt, vgl. Ursin 2014a, 64. Paus. 10,36,9 berichtet im Gymnasion von Antikyra von einer Inschrift des Xenodamos, dass er in der 211. Olympiade den Ölzweig erhielt. Diese Olympiade sei in Elis aber nicht mitgezählt worden (um Nero nicht für die Änderung der Chronologie zu ehren). Nero hatte die 211. Olympiade von 65 auf 67 n. Chr. verschoben.
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sei, sodass sich Vespasian gezwungen sah, die Freiheitserklärung wieder rückgängig zu machen:27 Achaiam, Lyciam, Rhodum, Byzantium, Samum libertate adempta, item Trachiam Ciliciam et Commagenen dicionis regiae usque ad id tempus, in prouinciarum formam redegit. Cappadociae propter adsiduos barbarorum incursus legiones addidit consularemque rectorem imposuit pro eq. R. Achaia, Lykien, Rhodos, Byzanz und Samos raubte er die Freiheit, auch Kilikia Trachia und Kommagene, die bis dahin Könige regiert hatten, machte er wieder zu Provinzen. Nach Kappadokien legte er (Vespasian, Anm. FU) der häufigen Barbareneinfälle wegen einige Legionen zur Verstärkung und bestimmte an Stelle eines römischen Ritters einen Mann konsularischen Ranges zum Statthalter.28
Beachtenswert ist die Wortwahl Suetons, dass Achaia und andere Gegenden wieder in den Status einer römischen Provinz versetzt wurden (in prouinciarum formam redegit). Es kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden, ob Nero in seinem Philhellenismus mit seiner Freiheitserklärung an die Griechen – wie durch den Wortlaut Suetons suggeriert – den Status Achaias als Provinz tatsächlich aufgehoben hatte; denn nur damit wäre zu erklären, warum Sueton sagt, Achaia sei ‚wieder‘ (re-d-egit) in eine Provinz verwandelt worden. Nur bei Pausanias findet sich die Bemerkung Vespasians zitiert, die Griechen hätten die Freiheit verlernt: οὐ μὴν Ἕλλησί γε ἐξεγένετο ὄνασθαι τοῦ δώρου· Οὐεσπασιανοῦ γὰρ μετὰ Νέρωνα ἄρξαντος ἐς ἐμφύλιον στάσιν προήχθησαν, καὶ σφᾶς ὑποτελεῖς τε αὖθις ὁ Οὐεσπασιανὸς εἶναι φόρων καὶ ἀκούειν ἐκέλευσεν ἡγεμόνος, ἀπομεμαθηκέναι φήσας τὴν ἐλευθερίαν τὸ Ἑλληνικόν. τάδε μὲν οὕτω συμβάντα εὕρισκον· Indessen konnten die Griechen des Geschenkes nicht froh werden. Unter Vespasian, der nach Nero herrschte, gerieten sie wieder in inneren Streit/Bürgerkrieg. Vespasian ordnete an, dass sie wieder tributpflichtig werden und einem Statthalter gehorchen sollten, indem er sagte, die Griechen hätten die Freiheit verlernt. Das habe ich so über die Ereignisse gefunden.29
Pausanias distanziert sich bewusst von Vespasians Begründung einer ἐμφύλιον στάσιν, da er seinen Exkurs mit einem τάδε μὲν οὕτω συμβάντα εὕρισκον abschließt. Daher glaubt Pausanias auch nicht, dass die Griechen ihre Freiheit verlernt hätten. Im übrigen zeigt die Tatsache, dass er im achäischen Logos zuvor
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Suet. Vesp. 8,2: sed et prouinciae ciuitatesque liberae, nec non et regna quaedam tumultuosius inter se agebant („Aber auch die Provinzen und freien Städte, ja sogar einige Königreiche lagen miteinander im Streit.“). Suet. Vesp. 8,4. Paus. 7,17,4. Vgl. Moggi/Osanna 2000 zur Stelle. Swain 1996, 340 hätte im Anschluss eine Bemerkung vermutet, die dennoch die gute Behandlung Griechenlands durch die Römer in der Gegenwart konstatiert. Vgl. Zon. 9,31,8 mit Polyb. 33,18,8 f., dass die Eroberung Korinths durch die Römer der Beginn zukünftigen Glücks für die Griechen bedeutete, da sie nicht gerettet worden wären, wenn man sie nicht erobert hätte (da sie sich sonst selbst vernichtet hätten). Die Forschung nimmt an, dass Pausanias Vespasians Analyse teilt, vgl. Palm 1959, 67. Heer 1979, 67. Habicht 1985, 123. Arafat 1996, 155. Jacquemin 1996, 35.
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nirgendwo die Freiheitserklärung des Flamininus erwähnt hat, dass er die Römer nicht als Befreier, sondern als Besatzer ansah.30 Akujärvi glaubt hingegen, dass die Griechen sofort das getan haben, was ihre Geschichte auszeichnet: Krieg gegen einander zu führen.31 Es stellt sich jedoch die Frage, mit welchen Truppen im demilitarisierten Achaia die Griechen gegeneinander Krieg hätten führen sollen. Das von Philostrats Apollonios evozierte Szenario der Eintracht griechischer Poleis könnte direkt auf die Diagnose Vespasians geantwortet haben, dass die Griechen die Freiheit verlernt hätten, sodass der Freiheitsentzug auf dem Vorwand von vermeintlichen Aufständen beruhe. Denkbar ist, dass Poleis in Konflikt miteinander gerieten, weil sie verschiedene Usurpatoren im Vier-Kaiserjahr favorisierten. Außerdem könnten mitunter Rom- und nicht Romorientierte Griechen miteinander gestritten haben. Wenn es zwischen Neros Tod und der Rücknahme der neronischen Freiheitserklärung Aufstände in Achaia gab (s. u. Kap. 7.2), dürften diese im Zusammenhang mit den Thronwirren nach Neros Tod, dem Vierkaiserjahr und der letzendlichen Durchsetzung Vespasians gestanden haben. Damit ließen sich die von Sueton suggerierten innergriechischen Auseinandersetzungen erklären, die demnach dadurch eskalierten, dass die Griechen sich nunmehr wieder als politisch autonom betrachteten, was durch ein gewisses Machtvakuum zwischen Neros Tod und Vespasians Festigung seiner Herrschaft noch begünstigt wurde. Die Griechen haben die Freiheitserklärung Neros also ganz im Sinne ihrer Tradition politisch verstanden und nicht (nur) ökonomisch, wie sie aus römischer Perspektive (Steuerfreiheit) auch gemeint war. 5.2 ARGUMENTE GEGEN DEN FREIHEITSKAMPF In seinem Werk über den Jüdischen Krieg (66–70/73 n. Chr.) befasst sich Flavius Josephus mit den Ursachen, Anlässen, Motivationen und dem Verlauf dieses dezidiert als Freiheitskampf verstandenen Konflikts zwischen Juden und Römern. In diesem Zusammenhang wird in der Rede des Agrippa am Vorabend des Krieges der Blick geweitet und die Situation anderer ebenfalls von den Römern beherrschter Völker thematisiert.32 Da sich Josephus zur Ausfertigung seiner Schrift griechi30
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Swain 1996, 337–339, hier 339. Vgl. auch Palm 1959, 65, der die Erwähnung von Titus Flamininus in Paus. 10,34,4 (Titus sei nach Griechenland geschickt worden, um Griechenland zu befreien) als Grundlage seiner These nimmt, dass Pausanias die Römer doch als Befreier ansah. Akujärvi 2005, 280 zieht in Betracht, dass lediglich drei der vormals von Philipp V. beherrschten und von Flamininus für frei erklärten Gemeinwesen innerhalb der Grenzen Griechenlands lagen, wie sie Pausanias in der Periegese annimmt. Freiheitserklärungen seien zudem so konventionell gewesen, dass diese eine von Pausanias schlicht übergangen worden sei. Akujärvi 2005, 282. Ios. BJ 2,345–402. Kommentar zur Rede mit eigenem Exkurs bei Mason 2008, 265–268. Die Wiedergabe der Verteilung der Legionen spiegelt den Stand Mitte der 70er Jahre wieder, obwohl teilweise der Stand von 66 n. Chr. hinzu gemischt ist. Die Rede ist, wie viele antike Reden in der Historiographie, so nicht gehalten worden. Sie zeigt aber die Sichtweise des Josephus in der Retrospektive mit seinen Argumenten, die nur teilweise von Agrippa stammen dürften.
5.2 Argumente gegen den Freiheitskampf
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scher Mitarbeiter bediente,33 sind insbesondere der Blick auf die Griechen und die Argumente gegen einen Freiheitskampf von Interesse. Als Caveat ist zu Bedenken, dass nicht in jedem Fall zu trennen ist, welche Aussagen auf Josephus und welche auf die griechischen Mitarbeiter zurückzuführen sind. Die folgenden Ausführungen können daher lediglich die Herausarbeitung der im Umlauf befindlichen Argumente leisten. Josephus verteidigt zu Beginn seines Geschichtswerkes zunächst seine eigene Rolle im Jüdischen Krieg und möchte ihr gegen gewisse Vorwürfe seiner Landsleute etwas Positives abringen. Den Vorwurf des Opportunismus, zuerst als jüdischer Freiheitskämpfer aufgetreten zu sein und dann die römischen Zerstörer Jerusalems beraten zu haben,34 formuliert er positiv als zuträglich für den Wahrheitsgehalt seines Geschichtswerkes: Anstatt nur die Memoiren der Imperatoren gelesen zu haben, sei er nicht nur Augenzeuge im römischen Lager, sondern vorher auch auf der Gegenseite gewesen.35 Aufschlussreich ist, wie Josephus (und seine griechischen Mitarbeiter) die zeitgenössischen griechischen Gelehrten wahrnahmen.36 Dabei wird Josphus’ Autopsie herausgestrichen, die ihn gegenüber denjenigen griechischen Gelehrten auszeichne, die zwar rhetorisch ihren klassischen Vorbildern überlegen seien, ihnen an Sachkenntnis aber nachstehen würden.37 In Wirtschafts- und Rechtssachen würden die griechischen Gelehrten zwar viel und gut sprechen, aber in der Historiographie, worin man die Wahrheit sagen müsse, würden sie verstummen und dieses Feld weniger Gebildeten überlassen. Wahre Historie (historische Forschung) stehe bei Josephus in Ehren, während sie von den Griechen vernachlässigt werde. Dies sollte nicht als Kritik an der Vergangenheitsorientiertheit der Griechen aufgefasst werden, sondern an der (ausschließlich) rhetorischen Geschichtsschreibung, die den Stoff älterer Geschichten nur in neuem Gewand umschrieb, mithin vielleicht der beginnenden Zweiten Sophistik. Einerseits deutet dies darauf hin,
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Zum ‚Jüdischen Krieg‘ als Aufstand mit einer differenzierten Analyse der Motivationen vgl. Gambash 2015. Rudich 2015. Popović 2011. Goodman 1991. Speziell zu den Aufständen in Ägypten jetzt Schaub 2014, 149–151 und Pfeiffer 2008. Vgl. Thackerey 1973. Vgl. Ios. BJ. 1,3. Er entstammte einer vornehmen Priester-Familie aus Jerusalem und wirkte selbst mit im Jüdischen Krieg. Als Verteidiger der Bergstadt Jotapata geriet er in die Hände der Römer und weissagte Vespasian sein späteres Kaisertum. BJ 3,393–402. Suet. Vesp. 5,6. Cass. Dio 66,1. Zu dem umstrittenen Übertritt des Josephus als eines jüdischen Priesters und Soldaten hin zu den Römern vgl. Michel/Bauernfeind 1982, XV–XVII. Mit den Flaviern blieb er in Verbindung, reiste mit Vespasian nach Ägypten und ging im Gefolge des Titus nach Palästina, um Jerusalem zur Aufgabe gegenüber den Römern im Jüdischen Krieg zu bringen. Nach Ende des Krieges ging Josephus nach Rom, erhielt das römische Bürgerrecht und eine jährliche Pension, die ihm die Schriftstellerei ermöglichte. Ganz sachlich stellt er es in C. Apion. 1,48 dar. Vgl. jüngst den Hollander 2014. Ios. C. Apion. 1,53–56. Ios. BJ 1,13–16: Ἑλλήνων λόγιοι. Die Taten der Assyrer und Meder würden sie beschreiben, als seien sie von ihren Vorgängern nur schlecht überliefert. Damit bezieht er sich auf Nikolaos von Damaskus, der in seiner Weltgeschichte im 1. Buch die Assyrer und im 2. Buch die Meder behandelte. FHG III 345. Vgl. Michel/Bauernfeind 1982, XXVI.
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5 Freiheit
dass Josephus die Beschäftigung der Griechen mit ihrer Vergangenheit sehr wohl wahrnimmt. Andererseits stellt er seine eigene Stärke auf der Ebene der Historiographie heraus – wohl vor allem, weil er auf rhetorischer Ebene mit den sophistisch-rhetorischen Historiographen nicht konkurrieren kann. Dieses Defizit haben seine griechischen Mitarbeiter – wie wir noch sehen werden – ausgeglichen. Der Titel ‚Jüdischer Krieg‘ spiegelt im Gegensatz zu der aramäischen ersten Fassung die römische Perspektive wider.38 Die griechische Version hatte Josephus, wie bereits erwähnt, mit griechischen Mitarbeitern erarbeitet.39 Diese Mitarbeiter brauchte er nach eigener Aussage, um die Geschichte des Jüdischen Krieges für Griechen und Römer gefällig aufzubereiten.40 Vespasian und Titus hatte er das Werk zuerst vorgelegt, danach kauften es auch ‚ebenfalls‘ hellenisch gebildete Männer.41 Wir kommen zu der Frage, welche Deutungen von Josephus und welche von seinen griechischen Mitarbeitern Eingang in das Manuskript gefunden haben. Neben den inhaltlichen Vergangenheitsbezügen in der Rede Agrippas II. und der Übernahme von Wendungen aus Homer und Herodot42 finden wir verstreut formale Vergangenheitsbezüge, die sich klassischer Vorbilder bedienen.43 Das Proömium klingt an das des Thukydides an,44 die Rede des Herodes an seine Truppen hat die Rede des Perikles zum Vorbild,45 die Bewohner Jerusalems nehmen den Fall Jotapatas ähnlich auf wie die Athener die Niederlage in Sizilien,46 für die Einnahme Jotapatas stand Vergils Schilderung des Falls von Troja Pate47 und der Gegner des Josephus, Johannes von Gischala, trägt ähnliche Züge wie Sallusts Catilina.48 Thackeray hat für die thukydideischen Anklänge die griechischen Gehilfen des Josephus als Urheber ausgemacht.49 Das ist schwerlich zu bestreiten, da Josephus weder in seiner 38
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Zu denken ist hier an ‚De Bello Gallico‘ oder ‚De Bello Jugurthino‘, vgl. Michel/Bauernfeind 1982, XIX. Der „Jüdische Krieg“ wurde von Josephus selbst so betitelt, auch wenn spätere Autoren die Schrift als περὶ ἁλώσις ansprechen. Es ist deswegen durchaus möglich, dass Josephus selbst zwei Titel verwendet hat: zum einen „Über die Zerstörung“ (des Tempels von Jerusalem) im aramäischen Original, das an die Juden adressiert war und zum anderen die Übersetzung ins Griechische πόλεμος πρὸς Ίουδαίους, die eindeutig an das hellenistische Publikum und den kaiserlichen Hof adressiert war. Ios. BJ 1,3. Vgl. Michel/Bauernfeind 1982, XIX f. Ios. C. Apion. 1,50. Thackeray 1929, 106 hat auf Grundlage stilkritischer Untersuchungen zwei griechische Mitarbeiter ausgemacht. Von einer bloßen Übersetzung darf im Grunde aber nicht gesprochen werden, da wir in der uns überlieferten Schrift keine Semitismen finden. Die Mitarbeiter des Josephus scheinen durch ihren griechischen Hintergrund dem ursprünglichen Text eine eigene Prägung gegeben zu haben, was auch geschehen musste, da der Adressatenkreis ein anderer war als der des aramäischen Originals. Ios. BJ 1,16. Ios. C. Apion. 1,51: καὶ τῆς Ἑλληνικῆς σοφίας μετεσχηκόσιν, wie Julios Archelaos (Schwiegersohn Agrippas I.), Herodes (vielleicht der Enkel Herodes’ des Großen) und König Agrippa II. Vgl. Labow 2005, 39 Anm. 106–108. Gesammelt bei Ricciotti 1949, 54. Vgl. Thackeray 1929, 43. 117 ff. Ios. BJ 1,4. Thuk. 1,1. Ios. BJ 1,373 ff. Thuk. 2,60 ff. Ios. BJ 3,432. Thuk. 8,1. Ios. BJ 3,317 ff. Verg. Aen. 2,250 ff. Ios. BJ 2,585 ff. 4,208. Sall. Cat. 5. Thackeray 1973.
5.2 Argumente gegen den Freiheitskampf
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Jugend noch während seiner Zeit in Rom sich selbst das stilistische Rüstzeug für die Thukydides-Imitation angeeignet haben konnte. Dass es in Rom einen gewissen Trend zur Thukyides-Imitation gab, zeigt bereits Cicero, der die ‚unverständlich redenden‘ Thukydides-Nachahmer kritisiert.50 Noch Lukian stellt die übertriebene zeitgenössische Thukydides-Imitation bloß.51 Die Rede Agrippas II. am Vorabend des Jüdischen Krieges ist eine von sieben programmatischen Reden im Bellum Judaicum des Flavius Josephus. Die Rede prophezeit 66 n. Chr. die Vergeblichkeit des jüdischen Freiheitskampfes und den Ausgang des Krieges.52 Agrippa/Josephus will zwei miteinander verbundene Argumente der Kriegsbefürworter entwirren, nämlich zum einen die Hybris des Statthalters und zum anderen das Lob der Freiheit. Das Argument des Leidens unter dem Statthalter Gessius Florus wird dadurch entkräftet, dass dieser nicht für immer bei ihnen sein werde, sondern bald von einem anderen, mäßigeren abgelöst werden wird. Zudem dürfe man sich nicht der Illusion hingeben, man könne nur gegen den Statthalter Florus Krieg führen, sondern angegriffen werde dann die gesamte Macht der Römer und des Kaisers, welche zu stark sei um gegen sie siegen zu können. Zu diesem Zweck listet Agrippa/Josephus vollständig die Verteilung der römischen Legionen in den Provinzen zur Zeit Vespasians auf, womit auf die Stärke der Römer hingewiesen wird. Anstatt die Herrscher zu schmähen, müsse man sie sich gewogen machen, was Plutarch auch in seinen Praecepta gerendae reipublicae empfiehlt.53 Bezüglich der Freiheit54 wird hingegen historisch argumentiert: Man hätte schon eher für sie streiten müssen, nämlich bevor man sie verlor.55 Die δουλεία (Sklaverei) sei zwar hart, der Kampf gegen sie aber δίκαιος (gerecht), was im Grunde ein Argument für den Freiheitskampf darstellt. Diesen Kampf hätten jedoch die Vorfahren mit Pompeius führen müssen und obwohl sie den heutigen Juden an Geldmitteln, Körperkraft und Seelenstärke überlegen waren, hatten sie es nicht geschafft. Bei einem jetzigen Abfall hätte man lediglich den Status eines abfallenden Sklaven und nicht den eines Freiheitskämpfers (φιλελεύθερος).56 Zum Nachweis, dass auch andere Völker als die Juden ihre gegenwärtige Defizienzerfahrung ertrügen, werden drei Vergangenheitsbezüge hergestellt, wobei die Griechen als Freiheitskämpfer schlechthin figurieren: Die Athener überließen ihre Stadt dem Feuer als sie für die Freiheit der Griechen kämpften. Sie verfolgten den flüchtenden Xerxes und zerbrachen bei Salamis die Macht des mächtigen Asiens, während sie heute den Römern dienen. Athen, das einst die Herrin Griechenlands war, höre jetzt auf die Weisungen Italiens.57 Sogar die Lakedaimonier, die bei den Thermopylen und Plataiai Heldentaten vollbrachten und mit Agesilaos durch Asien
50 51 52 53 54 55 56 57
Cic. orat. 9,30. Lukian. hist. conscr. 15. Ios. BJ 2,345–402. S. o. Anm. 32 (Kap. 5.2). Vgl. Plut. praec. ger. reip. 814c. Zum Freiheitsbegriff bei Josephus vgl. Schwartz 2002. Ios. BJ 2,355. Ios. BJ 2,356. Ios. BJ 2,358.
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5 Freiheit
zogen, würden heute die Römer als Herren lieben.58 Die Makedonen, die noch heute (!) von Philipp träumen und die Tyche vor Augen haben, die mit Alexander die Saat eines Weltreiches ausstreute, ertragen den Wechsel der Tyche.59 Es wird gesondert darauf hingewiesen, dass die δουλεία besonders für die Griechen als hart gelte,60 weil diese die klassischen Freiheitskämpfer seien. Dieser Hinweis legt die Deutung nahe, dass die Griechen entweder von Josephus oder seinen griechischen Mitarbeitern noch als Freiheitskämpfer wahrgenommen wurden. Es wird dann nachgeschoben, dass die Griehcen zwar alle anderen Völker an edler Abkunft übertreffen würden, aber auch sie beugten sich vor den sechs Rutenbündeln der Römer, womit die sechs Liktoren des römischen Prokonsuls von Achaia gemeint sind. Auch die Makedonen hätte noch mehr Recht als die Juden, nach der Freiheit zu streben, doch auch sie würden sich den Römern unterwerfen.61 Selbst die städtereiche Provinz Asia beuge sich dem Prokonsul, obwohl sie keine römische Besatzung beherberge. Weiterhin zählt Agrippa/Josephus die Bithynier, Kappadokier, Pamphylier, Lykier und Kilikier auf, die ebenso viel für ihre Freiheit vorzubringen hätten.62 Damit erzeugt er das Bild der Isolation der Juden, die angesichts der römischen Stärke, der eigenen Schwäche und des Kontextes aller anderen von den Römern beherrschten Völker der Freiheit als nicht mehr zeitgemäßes Ideal nachtrachten. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass Josephus in der Rede des Agrippa den Juden die Vergeblichkeit des Freiheitskampfes sowohl mit der Beschreibung der römischen Herrschaft über andere Völker (römische Stärke) als auch mit Vergangenheitsbezügen (eigene Schwäche) verdeutlicht. Sowohl die Athener und Lakedaimonier im Perserkrieg als auch Philipp und Alexander dienen ihm hierbei als Referenzpunkte. Sie sollen zeigen, dass selbst die als Freiheitskämpfer geltenden Griechen der Gegenwart ihre Defizienzerfahrung im Vergleich mit der großen Vergangenheit tolerierten. Es kann nicht entschieden werden, ob die Charakterisierung der Griechen als Freiheitskämpfer eine Zutat des Josephus oder seiner griechischen Mitarbeiter war. Es wäre allerdings plausibel anzunehmen, dass diese ihr historisch fundiertes 58 59
60 61 62
Ios. BJ 2,359: ἀγαπῶσιν τοὺς αὐτοὺς δεσπότας. Vgl. Plut. Flam. 2,5, dass die Griechen die römische Herrschaft nicht so schnell lieben gelernt hätten, wenn die Römer nicht so gerecht mit ihnen umgegangen wären. Ios. BJ 2,360. Vgl. Spawforth 2006, 22. 25: Die östlichen Gemeinwesen sahen ihre Abkunft von Alexander und seinen Nachfolgern durchweg in positivem Licht. Insbesondere makedonische Gründungen, wie Alexandreia oder Antiocheia, aber auch wohl Ephesos und Smyrna waren stolz auf ihre historische Verbindung mit Alexander. Die Quellen für diesen Stolz sieht Spawforth in der lokalen Polis-Tradition, in den Bemühungen der lokalen Eliten, ihre Abstammung von Graeco-Makedonen herabzuführen und einer gewissen Nostalgie bezüglich des Macedonicum imperium in Ägypten oder Makedonien. Spawforth verschweigt aber z. B. die Ressentiments Pausanias’ oder Plutarchs gegenüber den Makedonen. Die Herrschaft über Griechenland wird ihnen genauso nachgetragen wie später den Römern. Die Lichtgestalt Alexanders überstrahlt(e) diesen negativen Aspekt freilich nicht nur in der modernen Forschung. Ios. BJ 2,365. Ios. BJ 2,366. Ios. BJ 2,368.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
191
Selbstbild formuliert haben, das Jospehus mit seiner eigenen Erfahrung des Besiegtwerdens, der Aufgabe des Freiheitskampfes und der Hinwendung zu den Flaviern kombiniert hat. Josephus hätte sich demnach dafür entschieden, das Besiegtsein mit affirmativer Hinwendung zum Sieger zu akzeptieren.63 5.3 FREIHEITSKAMPF IN DEN HISTORISCHEN EXKURSEN DES PAUSANIAS Bisher wurde in einer ersten Annäherung herausgearbeitet, was das inzentive Moment der Griechen für die Beschäftigung mit ihrer Freiheit war (Neros Freiheitserklärung und die Rücknahme durch Vespasian, s. o. Kap. 5.1) und lediglich, dass in der Kaiserzeit das Bild vom Griechen als Freiheitskämpfer (φιλελεύθερος) existierte. Es soll nun am Beispiel von Pausanias’ Periegese gezeigt werden, dass der Freiheitskampf ein zentrales Thema speziell dieses Textes und darüber hinaus der griechischen Literatur der Hohen Kaiserzeit darstellte. Die Forschung sieht den griechischen Freiheitskampf bei Pausanias zwar als Thema angeschnitten, jedoch längst nicht als ein zentrales Thema seines Werkes. Habicht hatte lediglich beobachtet, dass chronologisch fast ausschließlich das unabhängige Griechenland für Pausanias von historischem Interesse war. Er beschrieb eine gewisse Affinität des Pausanias zur vergangenen Freiheit Griechenlands.64 Habicht schränkt aber ein, dass die Freiheit Griechenlands zu Pausanias’ Zeit kein Thema mehr gewesen sei und folgert daraus, dass er sich dazu entschlossen hätte, diesen Tatbestand zu ignorieren. Elsner hingegen hatte argumentiert, dass die römische Eroberung Griechenlands und der Verlust der Freiheit für Pausanias’ Geschichtsbild bestimmend gewesen war.65 Die römische Herrschaft habe demnach erst die Möglichkeit für Pausanias geschaffen, in der römischen Kaiserzeit ein freies Griechenland jenseits von Fremdherrschaft zu konstruieren. Elsner folgt also nicht Habicht, insofern er nicht von einer Verdrängung des Themas der verlorenen Freiheit seitens Pausanias ausgeht. Im Folgenden soll über diese Positionen hinausgehend dafür argumentiert werden, dass Pausanias seine historischen Exkurse anhand bedeutender Momente des griechischen Freiheitskampfes ausgewählt hat –, die Freiheit Griechenlands also das zentrale Thema seiner Periegese darstellt. Dadurch wäre es ihm möglich, nicht über den Verlust der Freiheit klagen zu müssen, sondern den steten Kampf für die 63 64 65
S. u. Kap. 6.5 für einen Vergleich des Josephus mit Polybios. Habicht 1985, 101 und 104. Vgl. Elsner 1992, 19: „And yet it was precisely the conquest of Greece by Rome which constituted the possibility for the myth of a free Greece in the past. Greece could only be one whole when it was a province in an empire whose various cities were united through having lost their freedom. For the Pausanian project to be possible, all the places, whose stories and sanctities he so carefully enumerated, had no longer to be free and at war (as they were in the myth Pausanias retails), but had to be united by and within a larger power. The very attempt to invent and justify a myth-history of ‚Greece‘ was simultaneously the evidence for its defeat: Greece could only exist in the invention, in the myth of Rome. The condition for the Pausanian description of Greece was that the Greece which his description described no longer existed.“
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5 Freiheit
Freiheit als spezifisches Charakteristikum griechischer Vergangenheit normativ auch für seine Gegenwart zu setzen und damit identitätsstiftend zu wirken. In einem ersten Schritt werden zunächst die Auswahlkriterien des Erinnerungswürdigen bei Pausanias analysiert (Kap. 5.3.1). Darauf aufbauend werden in einem zweiten Schritt die Denkmäler aufgeführt, die Pausanias in seiner Gegenwart als Erinnerungsorte an den Freiheitskampf knüpft (Kap. 5.3.2). In einem dritten Schritt werden die historischen Exkurse auf ihren Bezug zum Freiheitskampf hin überprüft, was in einem vierten Schritt für militärische Aktionen ebenfalls nachvollzogen werden soll (Kap. 5.3.3). 5.3.1 Auswahlkriterien des Erinnerungswürdigen Habicht deutet an, was bisher in der Forschung nur oberflächlich gestreift oder von Pretzler sogar negiert wurde,66 nämlich dass Pausanias spezifische Auswahlkriterien für seine historischen λόγοι zugrundelegt, über die er auch reflektiert.67 Frateantonio ist hingegen der Ansicht, Pausanias habe Auswahlkriterien, die er allerdings nur auf eine sehr unspezifische Weise nennt, indem er lediglich eine Auswahl des ‚Wichtigsten‘ getroffen habe.68 Tatsächlich geht Pausanias sehr viel differenzierter vor und nennt auch seine Kriterien. Diese Kriterien sind von besonderem Interesse, weil sie Auskunft darüber geben, an was die Adressaten der Periegese erinnert werden sollen. Pausanias hat es sich ausdrücklich zum Programm69 erklärt, von dem Erinnerungswürdigen vor allem das Unbekanntere zu berichten, wozu er neue Deutungen beitragen kann.70 Bekanntes unterschlägt er, handelt es nur kurz ab71 oder beruft sich auf Darstellungen von besserer Qualität, mit denen er nicht konkurrieren will, worunter insbesondere Herodot fällt. Die Forschung hat ein Desinteresse für römische Monumente zu Tage gefördert, was sich darin zeige, dass Pausanias etwa den Tempel des Augustus und der 66 67 68 69
70 71
Pretzler 2007, 9: „It seems impossible to establish consistent criteria, and it is never made explicit what makes a story or monument ‚worth recording‘.“ Generell zur Vergangenheit bei Pausanias Frazer 1898, XXXIII f. Regenbogen 1956, 1090. Bowie 1974, 188. Habicht 1985, 130–137. Differenziertere Ansichten bei Arafat 1996, 36–42 und Hutton 2005b. Paus. 1,23,4. 35,5. 39,3. 3,11,1 u. ö. Vgl. Frateantonio 2010, 87. Ähnlich Pretzler 2007, 9. Hier soll von einem Programm die Rede sein, da die Auswahl der historischen Exkurse nicht dem Zufall folgt, wie noch Reichardt 1848, 1259 im alten RE-Band 5 schrieb: „Die Auswahl des Historischen das er aufgenommen ist durch keine Norm, sondern durch seine augenblicklichen Einfälle und manchmal durch die entfernteste Ideenassociation bestimmt […];“ Swain 1996, 332, dass Pausanias bei der Auswahl der λόγοι und θεωρήματα vergessene und unklare Versionen bevorzugt herausstellt. Der Parthenon in Athen wird nur kurz abgehandelt, weil er den meisten wohl bekannt war, vgl. Regenbogen 1956, 1089. Ebenso verhält es sich wohl mit der Pnyx in Athen, obwohl Meyer 1954, 564 annahm, das hänge mit seiner Abneigung gegenüber der Demokratie zusammen, was so nicht stimmen kann, weil ihm z. B. Thrasyboulos ein großer Held ist. Weiterhin wird der Apollon-Tempel in Delphi ebenfalls nur sehr kurz abgehandelt (Paus. 10,19,4).
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
193
Roma auf der Akropolis in Athen verschweigt.72 Wenn er aber πάντα τὰ Ἑλληνικά in seinem Werk, gegliedert in λόγοι καὶ θεωρήματα beschreiben wollte, davon dann das γνωριμώτατα auswählte, das wert ist, erinnert zu werden, erstaunt es nicht, dass er römische Monumente weitgehend ausblendet: τοσαῦτα κατὰ γνώμην τὴν ἐμὴν Ἀθηναίοις γνωριμώτατα ἦν ἔν τε λόγοις καὶ θεωρήμασιν, ἀπέκρινε δὲ ἀπὸ τῶν πολλῶν ἐξ ἀρχῆς ὁ λόγος μοι τὰ ἐς συγγραφὴν ἀνήκοντα. Das waren nach meiner Meinung bei den Athenern an Geschichten und Sehenswürdigkeiten die bedeutendsten. Von Anfang an habe ich aus dem vielen ausgewählt, was wert ist, aufgezeichnet zu werden.73 δεῖ δέ με ἀφικέσθαι τοῦ λόγου πρόσω, πάντα ὁμοίως ἐπεξιόντα τὰ Ἑλληνικά. Doch ich muß weiterkommen in meinem Buch, wenn ich alle griechischen Dinge gleichermaßen behandeln will.74
Wie im Athenischen Buch will er im Lakedaimonischen das Merkwürdigste auswählen und nicht alles vollständig der Reihe nach nennen.75 Als er das achte Buch abschließt, schreibt er, vom Peloponnes habe er in jedem Teil und jeder Stadt an die bemerkenswertesten Dinge erinnert.76 Die πἀντα τὰ Ἑλληνικά77 können und müssen überdies nicht nur historisch verstanden werden, sondern auch topographisch als ‚ganz Griechenland‘, wobei dann zu fragen ist, was für Pausanias in der römischen Kaiserzeit Griechenland war. Offensichtlich orientierte er sich nicht an den Grenzen der römischen Provinzen Epirus, Macedonia und Achaia oder der Delphischen Amphiktyonie, sondern verfolgte ein durch Homer umschriebenes Griechenland, wobei er aber auch Gebiete wie Teile von Lokris, Thessalien oder Aitolien ausließ.78 Pausanias’ historisches Interesse liegt vor der römischen Eroberung Griechenlands, insbesondere bei der hellenistischen Geschichte,79 was in Kap. 5.3.3 detaillierter dargelegt wird. Chronologisch etwas anders situiert sind freilich seine kunsthistorischen Interessen. Hier müssen die Monumente besonders alt sein und vor ca. 150 v. Chr. geschaffen sein, damit sie es wert sind, erwähnt zu werden.80 So 72
73 74 75 76 77 78 79 80
Römische Bauten werden teilweise ignoriert, aber nicht alles Römische, vgl. Pretzler 2007, 9. Hutton 2005a, 299–317. Arafat 1996, 37 f. Habicht 1985, 134–136. Vgl. Arafat 1996, 211–213 über die Gründe des Verschweigens von römischen aber auch klassischen griechischen Monumenten. Paus. 1,39,3. Paus. 1,26,4. Paus. 3,11,1: ἀποκρῖναι τὰ ἀξιολογώτατα. Paus. 8,54,7: τὰ ἀξιολογώτατά ἐστιν ἐς μνήμην. Paus. 1,26,4. Vgl. Pretzler 2007, 6 f. Bearzot 1988. Habicht 1985, 16. Pretzler 2007, 95–99. Ameling 1994. Bearzot 1992. Vgl. Ameling 1996, 129. Arafat 1992, 387–409. Habicht 1985, 133 f. Von 179 erwähnten Bildhauern schätzt er einige Stücke des 6. Jhs., uneingeschränkt die des 5. Jhs. und etwas weniger begeistert die des 4. Jhs. Allein Damophon von Messene (2. Jh. v. Chr.) gilt ihm als namhaftester messenischer Bildhauer, von dem er weiß (Paus. 4,31,10). Pausanias erwähnt 16 Maler. Polygnot von Thasos widmet er zwei große Ekphraseis (Stoa Poikile und Halle der Knidier). Die von ihm am höchsten geschätzten Bauwerke stammen aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr.
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5 Freiheit
weist er extra darauf hin, dass zwischen den neueren Statuen auch Altertümer im hadrianischen Olympieion in Athen zu sehen sind.81 In diesem speziellen Beispiel überschneiden sich die Interessen. Das Olympieion als den Tempel des Zeus hat Hadrian, der sich selbst im Osten auch Zeus nennen ließ, im Grunde nur vollendet, was Pausanias aber nicht erwähnt.82 Zunächst wird das Olympieion also als ein neuer Bau vorgestellt, wie bspw. auch das Stadion des Herodes Atticus.83 Pausanias fügt nach Whitmarsh in diesem Zusammenhang subtil Lokaltradition in den Kontext römisch-imperialer Repräsentation ein, indem er den Selbstmord des Isokrates erwähnt, der sich anlässlich der in Chaironeia 338 v. Chr. verlorenen Schlacht um die griechische Freiheit das Leben genommen haben soll. Pausanias beschreibt auch die uralten Vergangenheitsbezüge des hadrianischen Baus zu Deukalion, Kronos und Rhea. Imperiale und lokale Standpunkte prallen hier also nicht nur vor dem Hintergrund des Kunstgeschmacks des Pausanias aufeinander, sondern lassen den Rezipienten implizit am diskursiven Widerstand teilhaben.84 Bei der Auswahl kunsthistorischer Monumente zeigt sich Pausanias kritisch und kennt die Kategorien des aufgrund seines Alters an sich Besonderen und des kunstreich Ausgeführten.85 In Athens Theater seien Statuen von meistens unbedeutenden Tragödien- und Komödiendichtern zu sehen, die er übergeht und nur die bedeutendsten drei nennt: Menander, Euripides und Sophokles.86 Die weniger wichtigen Bildwerke in der Nähe des Diitrephes in Athen will er nicht aufzählen.87 In der Altis in Olympia fordert die schiere Menge an Monumenten von Pausanias ein Ordnungsprinzip, das er auch kundtut: τὸ δὲ ἀπὸ τούτου μοι πρόεισιν ὁ λόγος ἔς τε τῶν ἀνδριάντων καὶ ἐς τῶν ἀναθημάτων ἐξήγησιν. ἀναμῖξαι δὲ οὐκ ἀρεστὰ ἦν μοι τὸν ἐπ’ αὐτοῖς λόγον. ἐν ἀκροπόλει μὲν γὰρ τῇ Ἀθήνῃσιν οἵ τε ἀνδριάντες καὶ ὁπόσα ἄλλα, τὰ πάντα ἐστὶν ὁμοίως ἀναθήματα· ἐν δὲ τῇ Ἄλτει τὰ μὲν τιμῇ τῇ ἐς τὸ θεῖον ἀνάκεινται, οἱ δὲ ἀνδριάντες τῶν νικώντων ἐν ἄθλου λόγῳ σφίσι καὶ οὗτοι δίδονται. τῶν μὲν δὴ ἀνδριάντων ποιησόμεθα καὶ ὕστερον μνήμην· ἐς δὲ τὰ ἀναθήματα ἡμῖν τραπήσεται πρότερα ὁ λόγος, τὰ ἀξιολογώτατα αὐτῶν ἐπερχομένοις. Von nun an wendet sich mein Bericht der Beschreibung der Statuen und Weihgeschenke zu; es behagte mir aber nicht, ihre Beschreibung miteinander zu verbinden. Denn auf der Akropolis von Athen sind die Statuen und alles Sonstige alles gleichermaßen Weihgeschenke. In der Altis sind aber die einen zu Ehren der Gottheit aufgestellt, die Siegerstatuen jedoch werden ihnen noch als Teil des Siegespreises gegeben. Die Siegerstatuen werde ich später noch erwähnen, zuerst werde ich mich nun den Weihgeschenken zuwenden, indem ich die wichtigsten von ihnen durchgehe.88 81 82 83 84 85
86 87 88
Paus. 1,18,6–8. Begonnen wurde das Olympieion bereits im 6. Jh. v. Chr., vgl. Arafat 1996, 173. Paus. 1,19,6. Vgl. Whitmarsh 2013b, 63 und 66, der diese Episode unter dem Stichwort ‚diskursiver Widerstand‘ verhandelt. Paus. 1,24,3: ὅστις δὲ τὰ σὺν τέχνῃ πεποιημένα ἐπίπροσθε τίθεται τῶν ἐς ἀρχαιότητα ἡκόντων, καὶ τάδε ἔστιν οἱ θεάσασθαι. („Wer das kunstreich Ausgeführte dem Altüberlieferten vorzieht, der darf dieses nicht übersehen.“). Das älteste Steinbildwerk, das er in Griechenland sah, war das Koroibos-Grab (Paus. 1,43,8). Paus. 1,21,1. Paus. 1,23,4. Paus. 5,21,1.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
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Beispielsweise im 10. Buch sagt er, dass er die Athleten und Teilnehmer in musischen Wettkämpfen, die von den meisten anderen Autoren vernachlässigt würden, auch nicht für erwähnenswert hält.89 Die ruhmvollen Athleten habe er aber in der Beschreibung von Elis, die wir hier vor uns haben, bereits genannt. An späterer Stelle reflektiert er erneut über seine Vorgehensweise: τούτους ἐκέλευσεν ἀφεῖναί με ὁ λόγος, ὅτι οὐ κατάλογός ἐστιν ἀθλητῶν ὁπόσοις γεγόνασιν Ὀλυμπικαὶ νῖκαι, ἀναθημάτων δὲ ἄλλων τε καὶ εἰκόνων συγγραφή. οὐδὲ ὁπόσων ἑστήκασιν ἀνδριάντες, οὐδὲ τούτοις πᾶσιν ἐπέξειμι, ἐπιστάμενος ὅσοι τῷ παραλόγῳ τοῦ κλήρου καὶ οὐχ ὑπὸ ἰσχύος ἀνείλοντο ἤδη τὸν κότινον· ὁπόσοις δὲ ἢ αὐτοῖς εἶχεν ἐς δόξαν ἢ καὶ τοῖς ἀνδριᾶσιν ὑπῆρχεν ἄμεινον ἑτέρων πεποιῆσθαι, τοσαῦτα καὶ αὐτὸς μνησθήσομαι. Mein Bericht verlangte, diese fortzulassen, da er ja kein Verzeichnis der Wettkämpfer ist, die olympische Siege errungen haben, sondern eine Geschichte der Weihgeschenke und sonstigen Standbilder. Aber auch die Statuen derer, die dastehen, auch diese werde ich nicht alle nennen, da ich weiß, wie viele schon durch den Zufall des Loses und nicht durch ihre Kraft den Kotinos errungen haben. Die aber entweder selber Rühmenswertes geleistet haben oder deren Statuen besser als andere gearbeitet sind, das werde auch ich erwähnen.90
Wiederum bemüht Pausanias die ‚Wichtigkeit‘ der Weihgeschenke und sonstigen Standbilder als Kriterium für seine Auswahl, denn auf Vollständigkeit kommt es ihm erklärtermaßen nicht an. Die Kriterien für die ‚Wichtigkeit‘ sind entweder die ruhmvollen Taten des Stifters oder die Qualität der Weihgabe – das Alter spielt hier keine Rolle. Ausschlusskriterium ist das unkalkulierbare Element des Loses, was er in Gegensatz zur Leistung aus eigener Kraft stellt. Diese seine Ansicht ist auch wichtig für die Beurteilung historischer Erfolge allgemein, dem Sieg der Römer im Achäischen Krieg im Besonderen: Ein Sieg, der nicht auf eigener Leistung beruht, ist demnach nicht ‚wichtig‘. Bei den Auswahlkriterien des Erwähnenswerten innerhalb seiner historischen Logoi sind zu unterscheiden: 1. Absichtliches Verschweigen von Bekanntem, umgekehrt dazu: 2. Bewusstes Erinnern von Vergessenem und deswegen Unbekanntem, sowie das 3. Einbringen neuer Informationen oder Deutungen bereits bekannter Sachverhalte. Zu 1.) Absichtlich verschweigt Pausanias die Todesart des Euripides mit der Begründung, dass sie viele andere Autoren erzählten.91 Den Grund, warum Harmodios und Aristogeiton Hipparch ermordeten, haben ebenfalls andere berichtet.92 Die Geschichte des Hermolykos und Phormions verschweigt er, weil andere (Herodot) darüber geschrieben haben, wobei er zu Phormion aber noch etwas zu ergänzen hat.93 Herodot hatte auch bereits über die Epidaurier berichtet, sodass Pausanias etwas so gut Erzähltes nicht noch einmal wiederholen würde.94 89 90 91 92 93 94
Paus. 10,9,1. Paus. 6,1,2. Vgl. auch 10,9,1 f. Paus. 1,2,2. Paus. 1,8,5. Paus. 1,23,10. Vgl. Hdt. 9,105. Paus. 2,30,4.
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Über Alexander und Philipp II. könne er nicht nur nebenbei sprechen, weil ihre Taten zu groß seien, weshalb er lieber gar nicht von beiden spricht.95 Als Pausanias zur Einnahme Athens durch Sulla kommt, muss er auch den Mithridatischen Krieg berühren, berichtet aber nur das Athen Betreffende: Wer sich für den Anlass und Verlauf des Krieges interessiere, solle sich mit der Geschichte des Mithridates beschäftigen.96 Die Geschichte des Theseus (Enkel des Pittheus) berichtet er nicht, weil sie gut bekannt sei.97 Bei der Beschreibung von Reliefs verzichtet er darauf, sie im Einzelnen zu beschreiben.98 Das wäre dem Leser nur lästig; das meiste der mythischen Szenen sei ohnehin bekannt. Pausanias führt die Geschichten über Teiresias nicht aus, weil sie alle vom Hörensagen kennen würden.99 Warum für die Demeter in Phigalia etwas gebaut wurde, sei jedem klar, der intelligent und gut in der Kenntnis der Tradition sei.100 Keinen Grund nennt er, als er die Legende über die Koureten und Korybanten übergeht, obwohl er sagt, dass er sie kennt:101 Vielleicht war sie heilig oder eben allen bekannt. Aus ungenannten Gründen will er die Geschichte der Medusa nicht im attischen Buch behandeln.102 Pausanias berichtet das beim Opfer des Zeus Polieus Übliche, jedoch nicht dessen angegebene Ursache (weil er sie vielleicht nicht glaubte?).103 Ariste und Kalliste seien Beinamen der Artemis, wie in den Epen des Pamphos zu lesen ist – eine andere Version, die er kennt, übergeht er.104 Ein Ausschlusskriterium ist auch, dass ihm manche Erklärungen nicht gefielen: „Hier steht auch eine Bronzestatue des Aineias, und ein Platz namens Delta ist da; weshalb er so heißt, übergehe ich absichtlich, da mir die Angaben darüber nicht zusagten.“105 Zu 2.) Bewusst erinnert Pausanias an das Wissen über Attalos und Ptolemaios, da es nicht mehr lebendig sei und schon ihre Zeitgenossen sie oder vielmehr die Berichte über sie früher nicht mehr beachtet hatten,106 und an Dinge auf der Agora in Athen, die nicht allen Menschen bekannt sind.107 Er hat einen Sardinien-Exkurs dem Buch über Phokis hinzugefügt, weil die Griechen darüber so wenig wüssten.108 Bestimmte Dinge hält er für verbindliches Vergangenheitswissen: „Dass 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108
Paus. 1,9,4. Paus. 1,20,4. Beim Thronwechsel Kassanders berichtet er auch nur das Athen Betreffende (Paus. 1,25,6). Paus. 2,30,9. Paus. 3,18,10. Paus. 9,33,2. Paus. 8,42,4. Paus. 8,37,5. Paus. 1,22,6. Er erwähnt sie bereits 1,21,3. Später noch 1,23,7. 24,7. 2,20,7. 21,5. 27,2. 3,17,3. 18,11. 5,10,4. 18,5. 8,47,6. 9,24,2. 10,26,9. Paus. 1,24,4. Paus. 1,29,2. Paus. 2,21,1: καὶ Αἰνείου ἐνταῦθα χαλκοῦς ἀνδριάς ἐστι καὶ χωρίον καλούμενον Δέλτα· ἐφ' ὅτῳ δέ – οὐ γάρ μοι τὰ λεγόμενα ἤρεσκεν –, ἑκὼν παρίημι. Vgl. Frateantonio 2009, 102. Paus. 1,6,1. Paus. 1,17,1. Paus. 10,17,13. Das relevante Wissen besteht aus der Frühzeit, Besiedlung, Flora, Fauna und dem Klima chronologisch bis zur karthagischen Eroberung ca. 500 v. Chr.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
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dieses sich so ereignet hat, sollte man wissen.“109 Im 10. Buch, mithin auch dem jüngsten erhaltenen, bekundet Pausanias, dass von allem Gesehenen ihm die Korykische Grotte am sehenswertesten schien.110 Damit gibt er einen Hinweis darauf, dass nicht nur an bestimmte Geschichten, sondern auch an bestimmte Orte zu erinnern ist, die sonst in Vergessenheit geraten würden (vgl. Kap. 5.3.2). Thrasyboulos war ihm der beste Athener von allen, die vor ihm lebten;111 d. h. bis zu Thrasyboulos war keiner so gut wie dieser und nach ihm gab es wohl noch herausragende Athener, aber Pausanias nennt keine Namen. Beim Beweis dieser These lässt er aber das meiste seiner Taten weg und die Beseitigung der Dreißig wird in nur einem Satz erwähnt. Hier hätte man einen biographischen Exkurs erwartet, wie er ihn für Philopoimen oder Aratos geliefert hat. Das Ausbleiben eines solchen Exkurses kann nur bedeuten, dass allen Lesern Thrasyboulos ausreichend bekannt war, während beide hellenistischen Feldherren unbekannter waren, weshalb Pausanias auch deren Biographie glaubte berichten zu müssen. Es ist bezeichnend, dass den unbekannteren griechischen Politikern wie Arat, Polybios und Epameinondas biographische Exkurse zugebilligt werden, während sie für die Persönlichkeiten des 5. und 4. Jh. v. Chr. zumeist ausbleiben. Zu. 3.) Pausanias berichtet etwas über den Zorn des Hippias wegen der Ermordung seines Bruders, was zwar von den Athenern erzählt wird, bisher aber noch nicht aufgeschrieben war.112 Die Geschichte des Lakedaimoniers Pausanias sei bekannt, doch will Pausanias das hinzufügen, was er von einem Mann in Byzantion über die Blutschuld an einer Jungfrau gehört hatte.113 Bei der Behandlung Thespiais streut Pausanias ein, dass der Eros am meisten dort verehrt wird.114 Wer das bestimmt hatte, weiß er aber nicht zu sagen, was bedeutet, dass er nach dieser unbekannten Tatsache gesucht hat. Bezüglich zweier Arrhephoroi genannten Jungfrauen sagt er: „Was mich aber am meisten in Staunen versetzte, ist nicht allen bekannt, und ich will daher berichten, was geschieht.“115 Einige Vermutungen in der Forschung, wie die „Abqualifizierung Ägyptens“ bei Frateantonio würden sich erledigen, wenn Pausanias’ Auswahlkriterien umfassend berücksichtigt würden.116 Frateantonio hat die Periegesis des Pausanias als kaschiertes Städtelob, respektive -tadel im Medium der Religion beschrieben, wobei Pausanias eine Hierarchisierung griechischer Poleis vornehme.117 „Pausanias hat 109 110 111 112 113 114
Paus. 10,23,14: ταῦτα μὲν δὴ οὕτω γενόμενα ἴστω τις· Paus. 10,32,2. Paus. 1,29,3. Paus. 1,23,2. Paus. 3,17,7. Paus. 9,27,1. Strabon hebt zwar auch den praxitelischen Eros in Thespiai hervor, indes die Stadt sei nicht sehenswert. Ohnehin seien Thespiai und Tanagra die einzigen Städte Böotiens, die überdauerten, während alle anderen in Ruinen liegen würden, Strab. 9,2,25. Diese beiden sind nicht zufällig auch die einzigen civitates liberae in dieser Gegend, vgl. Alcock 1993, 146. 115 Paus. 1,27,3. 116 Frateantonio 2009, 96. 117 Insbesondere in seinen Mysterienbeschreibungen sei eine Hierarchisierung der Griechen zu beobachten. Frateantonio 2010, 93: „Keine Kritik an Athen, dafür bis auf die Ausnahme Messenien, an fast allen anderen, besonders im 2. Buch.“ Dazu auch Frateantonio 2007, 80 ff. Da-
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5 Freiheit
konsequent, d. h. die gesamte Periegese hindurch die Ptolemäer, also Griechen oder zumindest doch Ägypter griechischer Herkunft, konsequent zu Ägyptern stilisiert, indem er sie Ägypter und eben nicht Griechen nennt.“118 Frateantonio liefert für ihre These in Anm. 143 zwar Belege, die aber alle ins Leere laufen, weil die von Frateantonio verschwiegene Stelle Paus. 10,7,8 nicht berücksichtigt ist, nämlich dass die Könige in Ägypten es liebten, Makedonen genannt zu werden, „[…] was sie ja auch waren.“119 Ägypten bildete nicht sein Hauptinteresse, weil es nicht in Griechenland lag.120 Es ist Pausanias also nicht vorzuwerfen, dass er bestimmte Sachverhalte verschweigt (wie auch den Tempel des Augustus und der Roma auf der athenischen Akropolis), da sie aufgrund seiner Auswahlkriterien nicht in seinem Interesse lagen. Viel interessanter als Pausanias’ Verhältnis zu Ägypten ist allerdings dasjenige zu den Römern – eine Frage, die Jones für nicht lösbar und deshalb für erledigt erachtet hatte.121 Doch auch hier kann die Analyse seiner Auswahlkriterien von Nutzen sein. Festzuhalten ist zunächst, dass Pausanias politisch und kulturell mit den unabhängigen Griechen der Vergangenheit verbunden ist, was zu einer komplexen Haltung gegenüber den Römern führt, die gekennzeichnet ist durch „eine Haltung des Widerstands, die abgemildert ist durch die Bereitschaft, deren Griechenland erwiesene Wohltaten anzuerkennen.“122 Arafat meint, dass vor allem Eusebeia und Asebeia die Haltung zu den Römern formen, und er nicht per se negativ gegenüber ihnen eingestellt sei.123 Die Konsistenz im religiösen Aspekt kann bestätigt werden,124 jedoch stellt sich die Frage, wie sich Pausanias in politischer Hinsicht verhält. Caesars Wiedergründung Korinths sieht er als die kontrapunktische Handlung zu Mummius’ Zerstörung, Sulla wird zweimal vom römischen Charakter
118 119
120
121 122 123 124
gegen ist es denkbar, dass wir es hier mit einer zeittypischen Vereinfachung der Kaiserzeit zu tun haben, indem auf der einen Seite Rom für die Römer und Athen für die Griechen steht. Vgl. Lamberton 1997, 157, der darauf hinweist, dass die Theseus- und Romulus-Viten am Anfang der klassischen Reihenfolge von Plutarchs Parallelbiographien stehen. Athenozentrismus ist z. B. bei Plutarch und Aristides nichts Ungewöhnliches. Vgl. Lamberton 1997, 156, der aufrechnet, dass den 24 römischen 10 athenische Viten gegenüberstehen. Vgl. Pernot 2008, 189 (Aristides ist hellenozentrisch in der Rom-Rede) und 192 (zu Aristeid. or. 1,332. 335: Athen genießt den Vorzug gegenüber allen anderen griechischen Städten der Gegenwart). Frateantonio 2010, 93. Bei Frateantonio 2010, 103 heißt es weiter dazu: „Pausanias weiß also offensichtlich um das Alter der ägyptischen Kultur und Religion, bezieht dies aber nicht in sein eigenes Ägyptenbild ein bzw. dort, wo er es tut, ist das Alter ägyptischer Religion und Kultur kein positives Argument.“ S.o Kap. 4.1.3. Akujärvi 2011 hat in ihrer Rezension zu Frateantonio 2009 die postulierte Zweitrangigkeit ägyptischer, kleinasiatischer und sizilischer Griechen zu Recht bemängelt: „This is a problematic conclusion given that they are far from the centre of interest in the Periegesis and that they are discussed only in asides and not in their own right.“ Jones 1996b, 462 möchte diese längst überflüssige Frage in die Rente schicken (in einer Rezension zu Arafats Pausanias-Buch). Donohue 2000, 447. Arafat 1996, 202 f. Ursin 2014a.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
199
distanziert,125 über Augustus spricht er nach Hadrian, unter dem Achaia aufblühte, am häufigsten.126 Bemerkenswert ist, dass Pausanias vor allem die führenden Römer der Vergangenheit kritisiert, während die Kaiser der Gegenwart fast ausschließlich Lob erhalten. Das mag entweder mit der Anerkennung ihres Philhellenismus oder aber unterdrückter Kritik zu tun haben. Es wäre verständlich, wenn Pausanias sich mit der Kritik an den zeitgenössischen Kaisern zurückhält, um nicht eventuellen Sanktionen zu unterliegen. Um sein Verhältnis zu den Römern zu enthüllen, sei es nach Swain notwendig, zwei Dinge zu berücksichtigen: Erstens Pausanias’ Interesse am politischen Niedergang Griechenlands und zweitens der Mangel an Interesse für alles Zeitgenössische. Zwar dokumentiert der lange Exkurs über das Ende des Achäischen Bundes sein Interesse am Niedergang Griechenlands, aber dem entgegen steht das Lob des Aufschwungs für die städtischen Zentren in der Regierungszeit Hadrians.127 Wenn wir berücksichtigen, dass es für die Griechen nur noch punktuell eine politische Geschichte Griechenlands nach der römischen Eroberung in ihrem Geschichtsbild gab, wird einmal mehr offensichtlich, warum Pausanias die jüngere Vergangenheit relativ spärlich behandelt. Ausnahmen bilden hier Neros Freiheitserklärung, die erwähnten Wohltaten Hadrians oder die selbständige Abwehr der Kostoboken durch die Polis Elateia.128 Dass er sie komplett ausblendet ist falsch und der Mangel an Interesse (nicht die Missachtung) für alles Zeitgenössische kann mit seinen Auswahlkriterien erklärt werden. 5.3.2 Erinnerungsorte des Freiheitskampfes Pausanias interessiert sich zwar für das Alte, jedoch beschreibt er es in seiner gegenwärtigen Gestalt mit dem Bewusstsein der Differenz zur Vergangenheit.129 Es ist von der Anlage seines Werkes her, seines Interesses und seiner Auswahlkriterien verständlich, dass er kaum Zeitgeschichtliches bringt. Er unterzieht sein Bücherwissen einer Autopsie und schreitet die Orte seines Vergangenheitswissens ab.130 125 Paus. 1,20,7. 9,33,6. 126 Arafat 1996, 205–208. 127 Megara ex negativo und in Athen offensichtlich. Hadrian trotzdem als Wohltäter und zweiter Gründer Megaras in IG VII 70–74. Vgl. Paus. 1,5,5. 20,7. 36,3. 7,17,1–4. Vgl. Arafat 1996, 142 gegen Elsner 1992, 19: „a sense of inevitable decline and fall“. Mit Mummius haben die Griechen ihren Tiefpunkt und mit Hadrian den Höhepunkt ihrer Geschichte erreicht. Megaras fehlende Prosperität mag an der Nähe zu Korinth gelegen haben, vgl. Alcock 1993, 160. 128 S. o. Kap. 4.2.3. 129 Zwar ist für Pausanias die Vergangenheit interessanter als die Gegenwart, die Radikaltität eines Maximos von Tyros, der alles post-klassische verschweigt, hat er jedoch nicht, vgl. Gabba 1982, 64. Pausanias ignoriert die Gegenwart aber nicht gänzlich, sondern konzentriert sich – anders als die meisten seiner sophistischen Zeitgenossen – nicht nur auf das 5. und 4. Jh. v. Chr., sondern differenziert so stark wie möglich unterschiedliche Phasen der griechischen Geschichte, vgl. Arafat 1996, 213. Vgl. Dalfen 1996 mit anderer Akzentsetzung darüber, was Pausanias verschweigt. 130 Beispielsweise hat ihn das Grab des Aipytos besonders interessiert, weil Homer ihn erwähnt hat (Hom. Il. 2,603. Paus. 8,16,3). Auch Arafat 1996, 214 bringt die Autopsie ins Spiel: Die
200
5 Freiheit
Pausanias’ Periegese kann somit als das Produkt einer Reise zu Erinnerungsorten und der Dokumentation ihrer aktuellen Gestalt gesehen werden. Deswegen erwähnt er die Ruinen Arkadiens, beschreibt wo einstmals Städte lagen, wie viele Einwohner (nur noch) in Theben lebten, welche Tempel in Delphi leer standen und wo die Statuen verblieben sind, die römische Kaiser raubten.131 Pausanias zeigt für eine Gruppe von Denkmälern, die an den griechischen Freiheitskampf erinnern, ein auffälliges Interesse. In Athen erwähnt er die Statue des Zeus Soter auf der Agora, die seit den Perserkriegen auch den Beinamen Eleutherios trug.132 Dahinter befindet sich die Stoa des Zeus Eleutherios, wo man die Schilde von gefallenen Verteidigern des Vaterlandes aufgehängt hat.133 Diese Schilde ließ Sulla allerdings später abnehmen.134 Pausanias ruft somit etwas in Erinnerung, was gar nicht mehr vorhanden war, nach dem er aber gesucht hat, um einerseits sein eigenes Interesse und andererseits das seiner Leserschaft zu befriedigen und um daran bewusst zu erinnern. Wenn wir die Periegese nach für Pausanias relevanten Monumenten (ὑπομνήματα) durchsuchen, bilden sich bei den Denkmälern zur Erinnerung an Kriege zwei Schwerpunkte: Einerseits werden Kriege von Griechen gegen Griechen135 und andererseits von Griechen gegen auswärtige Mächte wie beispielsweise die Perser,136 Makedonen, Galater oder Kostoboken erinnert.137 Mo-
131 132 133 134 135
136
137
Monumente, die Pausanias sah und an denen er seine Logoi aufhing, waren eine physische Realität in der Gegenwart und keine rhetorische Fiktion oder eine idealisierende Konstruktion. Tatsächlich ist ein Unterschied denkbar zwischen der Präsentation von ausschließlichem Bücherwissen und Wissen aus Autopsie und Befragungen vor Ort. S. o. Kap. 3.2 und Kap. 4.1.2. Zur Wichtigkeit des Statuenraubs und eventueller Restitution bei Pausanias vgl. Ursin 2014a, 63–66. Paus. 1,3,2. Isokr. 9,57. In Troizen erwähnt er außerdem einen Altar des Helios Eleutherios, der nach der Perserabwehr gestiftet wurde, vgl. Paus. 2,31,5. Paus. 1,26,2. 10,21,5. Paus. 10,21,6. Innergriechische Kriege: pechbestrichene Bronzeschilde (zur Verlängerung der Haltbarkeit) der Skionaier und Lakedaimonier von Sphakteria (Paus. 1,15,4); Grab des Epameinondas: alte Stele mit böotischer Inschrift und eine neue mit Hadrians Dichtung (Paus. 8,11,8. 49,1); bei Gortyn war das Paraibasion als Denkmal der Schlacht der Megalopoliten gegen Kleomenes gleichzeitig ein Denkmal gegen die Übertretung von Verträgen (Paus. 8,27,15. 28,7); Fesseln der Lakedaimonier (Hdt. 1,66) seien noch im Tempel der Athena Alea zu sehen (Paus. 8,47,2). Perserkriege: Theseus-Heiligtum von Kimon (Paus. 1,17,6); Grab des Themistokles im Peiraieus (Paus. 1,1,2); Tempel der Eukleia aus der Marathonbeute (Paus. 1,15,5); Nachahmung des Xerxes-Zeltes (das erste war von Sulla bei der Einnahme Athens verbrannt worden, Paus. 1,20,4); Dolch des Mardonios im Athena Polias Tempel (Paus. 1,27,1); Ölbaum, der von den Persern verbrannt wurde, am selben Tag aber wieder aufgeschossen sei (Paus. 1,27,2); Gemälde in der Stoa Poikile (Paus. 1,15,1); Schlangensäule in Delphi (Paus. 10,13,9); aus der Mederbeute nach den Seeschlachten von Artemision und Salamis wurde ein bronzener Zeus in Olympia und ein Apollon in Delphi geweiht (Paus. 10,14,5); Verzeichnis von Weihgaben, die aus Kriegsbeute aufgestellt wurden (Paus. 10,15,1). Galater und Kostoboken: an Südmauer der Akropolis Attalos-Statuen (Gigantenkampf in Thrakien und Pallene, Amazonenkampf, Marathonschlacht und Galater-Vernichtung in Mysien, Paus. 1,25,2); Gemälde in Athens Bouleuterion mit Kallippos, der die Athener bei den Thermopylen gegen den Galliereinfall führte (Paus. 1,3,4); Gemälde in Eleusis von Olympiodoros, der Athen von den Makedonen befreite (Paus. 1,26,3); Athena-Statue in Elateia, da die Göttin gegen Taxilos geholfen habe (Paus. 10,34,6).
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
201
numente, die an den Krieg gegen die Römer erinnern, lassen sich jedoch kaum finden.138 Hartmann hat in seiner Untersuchung zu objektbezogenen Erinnerungspraktiken drei Funktionen von Relikten (hier: ὑπομνήματα im weitesten Sinne von materiellen und immateriellen Erinnerungsorten) ausgemacht:139 1. stiften Relikte Identität durch die Repräsentation einer fundierenden mythhistorischen Vergangenheit, wie z. B. die Akropolis von Athen,140 die Tempelchronik von Lindos oder die Periegese des Pausanias; 2. bieten Relikte Schutz als Unterpfand für die Anwesenheit einer Gottheit bzw. eines mächtigen Toten; 3. legitimieren sie durch ihre materielle Konkretisierung echte oder auch nur postulierte historische Kontinuitäten. Unabhängig von der Diskussion, ob Pausanias nun pro- oder anti-römisch eingestellt war, legen die von ihm präsentierten Monumente als Erinnerungsorte mit der Aktualisierung des Freiheitskampfes gegen auswärtige Feinde die Interpretation nahe, dass diese Vergangenheitsdeutung in ganz Achaia breiten Bevölkerungsschichten zugänglich war. Die griechische Erinnerungskultur war im 2. Jh. n. Chr. noch immer geprägt vom Aspekt des Freiheitskampfes als integralem Bestandteil ihrer Identität. 5.3.3 Historische Exkurse Wenn wir uns nun von den Monumenten ab- und den historischen Exkursen zuwenden, die einen großen Teil der Periegese ausmachen,141 kann die oben angebrachte Interpretation noch mehr gefestigt werden. Es lassen sich zwei Gruppen von historischen Exkursen bilden: Einerseits geben sie einen strukturierten Überblick zur Geschichte von Kollektiven wie griechischen Ethne oder Poleis, andererseits von Individuen.142 Pausanias integriert sie kunstvoll in die Beschreibung der Örtlich138 Paus. 5,24,4, dass kein römischer Privatmann oder Senator früher als Mummius ein Weihgeschenk in ein griechisches Heiligtum weihte. Zum Zeus des Mummius und anderen Weihgaben in Olympia vgl. Tzifopoulos 1993. 139 Hartmann 2010, 497. 140 Aischin. 2,74 berichtet, die politischen Redner hätten das Volk aufgefordert, zu den Propylaia der Akropolis aufzuschauen und sich der Perserschlacht von Salamis zu erinnern und der Gräber der Vorfahren und ihrer Siegesmale. Ruinen und Steine sind die Zeugen der einstigen Größe Griechenlands, vgl. Plut. Per. 12,1. 141 Zu den historischen Exkursen generell Habicht 1985, 93–117 und Bearzot 1992. Holleaux 1895, 1898 kritisierte die Fehler in der Darstellung des Pausanias, dazu auch Habicht 1985, 98–100. Swain 1996, 333 wendet aber ein, dass Pausanias von seiner Erinnerung und nicht von eigenen Forschungen her seine historischen Exkurse schrieb. So ließen sich einige Fehler erklären. Jedoch sollte die Gedächtnisleistung nicht unterschätzt werden, sodass „aus Erinnerung schreiben“ kein abqualifizierendes Argument darstellt. Vgl. Heusch 2011, 101–105 und bes. 152 f. über die Fehlerhaftigkeit von Gedächtniszitaten. 142 Kollektive: Galater I (Paus. 1,4,1–4,6), Galater II (Paus. 10,19,5–23,14). Landschaften: Messenien (Paus. 4,4,1–29,13), Achaia (Paus. 7,6,3–9,7), Achäischer Bund (Paus. 7,7,1–16,19), Sardinien und Korsika (Paus. 10,7,1–13), Arkadien (Paus. 8,6,1–3), Phokis (Paus. 10,1,3–3,4). Städte: Chaironeia (Paus. 1,25,2–26,3), Orchomenos (Paus. 9,32,5–10), Plataiai (Paus. 9,1,3– 2,8), Theben (Paus. 9,6,1–7,6), Elateia (Paus. 10,34,1–5). Individuen: hellenistische Könige
202
5 Freiheit
keiten und nimmt meistens ein vorhandenes oder auch nicht mehr vorhandenes Monument zum Anlass für die historischen λόγοι.143 Pausanias’ historisches Interesse ist im Bereich vor der römischen Eroberung Griechenlands anzusetzen. In seinen historischen Exkursen zeigt er sich sehr interessiert vor allem an der hellenistischen Geschichte.144 Bis auf die in archaischer und klassischer Zeit angesiedelten messenischen Kriege145 und den Exkurs zu Epameinondas146 behandeln alle anderen großen historischen Exkurse die Zeit des Hellenismus (Tab. 4). Tab. 4: Historische Exkurse bei Pausanias Exkurs
Belegstellen bei Pausanias
Galaterinvasion Chaironeia/Olympiodoros Aratos Philopoimen Ende des Achäischen Bundes Hellenistische Monarchien Ptolemaier Attalos Lysimachos u. a. Pyrrhos Seleukos
1,4,1–4,6. 10,19,5–23,14 1,25,2–26,3 2,8,2–9,5 8,49,1–52,6 7,7,1–16,10 1,6,1–7,3. 9,1–4 1,6,2–7,3 1,8,1 1,9,3–10,5 1,11,1–13,9 1,16,1–3
Der Beweggrund, über die hellenistische Zeit zu schreiben, liegt nach Pausanias eigener Auskunft darin, dass die Kunde dieser älteren Zeit nicht mehr lebendig ist und auch die Zeitgenossen von Attalos oder Ptolemaios, die ihre Taten beschrieben hatten, früher schon nicht beachtet wurden.147 Pausanias will sich also gezielt gegen das Vergessen erinnerungswürdiger Taten stellen. Das Pikante daran ist, dass sich die meisten Exkurse mit der Abwehr äußerer Bedrohungen für die Griechen beschäftigen, besonders die Episoden der Galaterinvasion und des Achäischen Krieges.
143
144 145 146 147
(Paus. 1,6,1–7,3. 9,1–4), Ptolemaier (Paus. 1,6,2–7,3), Attalos (Paus. 1,8,1), Lysimachos u. a. (Paus. 1,9,3–10,5), Pyrrhos (Paus. 1,11,1–13,9), Seleukos (Paus. 1,16,1–3), Olympiodoros (Paus. 1,25,2–26,3), Arat (Paus. 2,8,2–9,5), Philopoimen (Paus. 8,49,1–52,6), Epameinondas (Paus. 9,13,1–15,6), Lysander (Paus. 9,32,5–10). Der Philopoimen-Exkurs wird anlässlich einer Statuenbasis entwickelt, auf der keine Statue mehr stand (Paus. 8,49,1). Das Standbild des Epameinondas in Theben (Paus. 9,13,1) gibt Pausanias den Anlass, einen Exkurs über dessen Leben einzuschieben bis 9,15,6, wo er die Elegie auf der Basis zitiert. Das Arateion in Sikyon vor dem „Haus des Tyrannen“ steht am Anfang des Aratos-Exkurses (Paus. 2,8,1). Vgl. bereits Robert 1909, 8, dass die mythischen und historischen Exkurse den größten Teil der Periegese einnehmen und zumindest im ersten Buch noch an einzelne Monumente gebunden sind. Pretzler 2007, 95–99. Ameling 1994. Bearzot 1992. Paus. 4,4,1–29,13. Paus. 9,13,1–15,6. Paus. 1,6,1.
203
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
Vergleicht man die Exkurse, fällt das ‚historische Raster‘ auf, das er zu Anfang der jeweiligen Bücher auf die Geschichte des jeweiligen Ethnos bzw. der Individuen legt: Ilion, Plataiai, Peloponnesischer Krieg, Leuktra, Chaironeia, Lamia, Krannon, Galatereinfall, Achäischer Krieg, Mithridatischer Krieg und der Kostobokeneinfall, um nur die markantesten Zäsuren zu nennen. Dieses Raster wird der jeweils vorgefundenen Vergangenheit angepasst, wobei Pausanias explizit nach Gründen sucht, warum sich eine Polis oder ein Ethnos an einem panhellenischen Krieg zur Verteidigung der griechischen Freiheit nicht beteiligt hat.148 Die relevanten Ereignisse sind der Trojanische Krieg, die Perserkriege, Chaironeia, der Lamische (und Chremonideische) Krieg sowie der Galatereinfall.149 Tab. 5: Beteiligung an panhellenischen Kriegen nach Akujärvi 2005, 234. Buch
I
III
IV
V/VI
VIII
IX
X
Trojanischer Krieg
Ja
–
–
Ja
Ja
Ja
Ja
Perserkriege
Ja
Ja
–
Ja
Ja
Ja/g. G.
Ja/g. G.
Chaironeia
Ja
–
Nein
Ja/g. G.
Nein
Ja
Ja
Lamischer Krieg
Ja
–
Ja
Ja
Nein
–
Ja
Galatereinfall
Ja
–/Nein
Nein
–
Nein
–
Ja
Ja: Beteiligung am Krieg Ja/g. G.: Beteiligung am Krieg, aber gegen die Griechen Nein: Keine Beteiligung am Krieg –: keine Erwähnung
Bestimmte Erklärungen oder Entschuldigungen für das Fernbleiben von Schlachten in den Freiheitskriegen gegen die Perser 490–479 v. Chr., gegen Philipp bei Chaironeia 338 v. Chr., gegen die Makedonen im Lamischen Krieg 323/22 v. Chr. und bei der Abwehr der Galater 279 v. Chr. lässt Pausanias gelten, andere verurteilt er jedoch scharf.150 Im Detail lauten die Ergebnisse, gegliedert nach den Exkursen, wie folgt: Die Achaier waren weder mit Leonidas an den Thermopylen noch mit den Athenern und Themistokles bei Euboia und Salamis.151 Sie sind nicht auf dem Siegesweihgeschenk in Olympia verzeichnet, weil sie zu spät zur Schlacht von Plataiai kamen. Pausanias entschuldigt sie aber, weil sie ihre heimatlichen Stätten schützen und nicht von dorischen Lakedaimoniern angeführt werden wollten.152 Das gleiche Argument spielte bei den Arkadern eine Rolle, als sie nicht bei den Thermopylen
148 Swain 1996, 334. Akujärvi 2005, 232–234. 149 Historische Einführungen: Paus. 3,4,7–10. 4,28,2 f. 5,4,7–9. 7,6,3–8. 8,6,1–3. 9,6,1–6. 10,1,3. 2,1. 3,4. Perserkriege: 5,23,1–3 (Plataiai). 10,20,1 f. (Thermopylen). Lamischer Krieg: 1,25,4. Galatereinfall: 10,20,3–5. 150 Vgl. Habicht 1985, 105–109. 151 Paus. 7,6,3. 152 Paus. 7,6,4.
204
5 Freiheit
gegen die Galater kämpften.153 Außerdem waren die Achaier bei Lamia nicht zugegen, weil sie sich von der Schlacht bei Chaironeia noch nicht erholt hatten, was sie entschuldigt.154 Dass die Galater keine Schiffe besaßen, diente den Achaiern als Argument, nur den Isthmos sperren zu müssen um sie abzuwehren, weshalb sich überhaupt kein Peloponnesier an diesem Krieg beteiligte.155 Insgesamt sieht es Pausanias als Pflicht der Hellenen an, sich an panhellenischen Aktionen zur Verteidigung gegen auswärtige Feinde zu beteiligen. Der Schutz der Heimat oder militärische Schwäche exkulpiert von der Teilnahme. Tab. 6: Achaia-Exkurs bei Paus. 7,6,3–7 Achaia
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
7,6,3
Ilion
haben Lakedaimon und Argos bewohnt, größten Teil des gr. Aufgebots gestellt
k. A.
Perser
weder mit Leonidas an den Thermopylen noch mit Athenern und Themistokles bei Euboia und Salamis
k. A.
7,6,4
Plataiai
zu spät gekommen, nicht auf dem Siegesweihgeschenk in Olympia verzeichnet
sie schützten ihre Heimat und dorische Lakedaimonier sollten sie nicht anführen
7,6,3
Pelop. Krieg
weder bei Lakedaimoniern noch Athenern als Bundesgenossen verzeichnet
k. A.
7,6,5
Chaironeia
teilgenommen
k. A.
Lamia
nicht teilgenommen
Achaier haben sich von der böotischen Niederlage (Chaironeia) noch nicht erholt
Galater
nicht teilgenommen, kein Peloponnesier überhaupt
Barbaren hatten keine Schiffe, nur der Isthmos sei zu sperren
7,6,7
Die Thebaner werden von Pausanias vom Medismos freigesprochen, obwohl man bei Plataiai geglaubt hatte, sie seien persisch gesinnt, als sie gegenüber den Athenern aufgestellt waren.156 Das Volk treffe aber keine Schuld, da in Theben die Oligarchie herrschte. Pausanias argumentiert kontrafaktisch, dass, wenn die Meder zur Zeit des Peisistratos nach Athen gekommen wären, die Athener sich auch den Vorwurf des Medismos hätten gefallen lassen müssen. Dies kommt einer Entschuldigung der Thebaner gleich, die – obwohl gegen Griechen kämpfend – aus der Verantwortung genommen werden.
153 154 155 156
Paus. 8,6,3. Paus. 7,6,5. Paus. 7,6,7. Paus. 9,6,2.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
205
Außerdem haben die Thebaner bei Chaironeia später mit gegen die Makedonen gekämpft, was den Vorwurf des Verrats an Griechenland (Medismos) nochmals abschwächt.157 Die Niederlage war für alle Griechen allerdings ein großes Unglück, wobei die Thebaner besonders hart getroffen wurden, weil sie eine makedonische Besatzung erhielten. Im mithridatischen Krieg war Theben auf der Seite des Mithridates aus Freundschaft zu den Athenern. Tab. 7: Theben-Exkurs bei Paus. 9,5,14–7,4 Theben
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
9,5,14 f.
Ilion
teilgenommen
erster Zug unter Thersandros verirrte sich nach Mysien, zweiter Zug unter Peneleos zog nach Ilion
9,6,1
Plataiai (519)
Niederlage gegen Athen
Grenzstreitigkeiten
9,6,2
Plataiai
Athenern gegenüber aufgestellt
Medismos, weil eine Oligarchie und nicht die angestammte Verfassung an der Macht war (vgl. Thuk. 3,62,3)
9,6,3
Pentekontaetie
für Lakedaimonier war Lage in Theben günstig
k. A.
9,6,3
Delion
Sieg gegen Athener
k. A.
9,6,4
Koroneia und Korinth
Niederlagen gegen Lakedaimonier
k. A.
9,6,4
Leuktra
Sieg gegen Lakedaimonier
glänzendster Sieg, der je von Griechen über Griechen errungen wurde
9,5,6
Heiliger Krieg (356–346)
teilgenommen
k. A.
9,6,5
Chaironeia
Niederlage gegen Makedonen
für alle Griechen ein Unglück, Thebaner wurden besonders hart getroffen, weil sie eine Besatzung erhielten
9,6,5
Zerstörung Thebens
anwesend
nach Vertreibung der makedonischen Besatzung
9,7,1
Thebaner von Kassander zurückgeführt (316)
anwesend
aus Hass gegen das gesamte Haus Alexanders
9,7,4
Mithridates
teilgenommen auf Mithridates’ Seite
aus Freundschaft mit athenischem Volk; als Sulla in Böotien stand wurden sie wieder römisch
157 Paus. 9,6,5.
206
5 Freiheit
Wie schon Plutarch tadelt Pausanias die Kämpfe zwischen Griechen und er bezeichnet die berühmteren Gestalten des Peloponnesischen Krieges als ‚Selbstmörder‘, weil sie Hellas fast zugrunde gerichtet hätten.158 Pausanias hält die innergriechischen Kriege für ein Unglück. Der Sieg des Thebaners Epameinondas gegen die Spartaner bei Leuktra 371 v. Chr. ist ihm hingegen der ‚glänzendste Sieg‘, der je von Griechen über Griechen errungen wurde.159 Dies erklärt sich damit, dass die Hegemonie des Gegners beendet wird, hier: Die spartanische Hegemonie. Zu denken ist auch an die messenischen Kriege, deren lange Darstellung im 4. Buch davon handelt, wie Messenien für die Freiheit kämpfte. In Schlachten nicht gegen Griechen eingesetzt zu sein, ist für Pausanias ein wichtiges Kriterium für seine Bewertung historischer Leistungen. Als die Eleer bei Chaironeia im Bund mit Philipp II. standen, konnten sie es nicht über sich bringen, gegen Griechen zu kämpfen. Als Philipp II. dann gegen Sparta zog, beteiligten sie sich aber an dem Unternehmen aus alter Feindschaft gegen die Lakedaimonier.160 Positiv wird außerdem verzeichnet, dass die Arkader in einer Schlacht in Thessalien zwar nicht auf griechischer Seite kämpften, aber auch nicht gegen Griechen eingesetzt wurden161 und die Phoker während der Perserkriege notgedrungen auf Seiten der Perser kämpften, aber bei Plataiai die Seiten wechselten.162 Dass die Arkader die Galater nicht bei den Thermopylen abwehrten um ihre Heimat vor den Spartanern zu schützen,163 wurde bereits erwähnt. Es sei hinzugefügt, dass sich der Aspekt der Feindschaft zu den Spartanern durch die gesamte arkadische Geschichte zieht: Im Peloponnesischen Krieg kämpften sie mehr aus Zwang als aus Neigung auf lakedaimonischer Seite und bei Leuktra kämpften sie zwar auf Spartas Seite, wechselten aber gleich nach dessen Niederlage zu Theben.164 Die anhaltende Feindschaft ist durch die Abwehr der spartanischen Herrschaft bedingt, womit sich aus der Sicht des Pausanias auch auf der Ebene innergriechischer Auseinandersetzungen die Freiheitsliebe der Griechen zeigt. Dass die Arkader im Peloponnesischen Krieg aus Zwang auf lakedaimonischer Seite gekämpft hatten, exkulpiert sie von dem Vorwurf, gegen Griechen gekämpft zu haben. Diese Entschuldigung gilt für die Teilnahme und nicht – wie sonst im Fall des Freiheitskampfes gegen auswärtige Mächte zu beobachten – für das Fernbleiben von Schlachten.
158 Paus. 8,52,3. Vgl. Akujärvi 2005, 216 f. zum Peloponnesischen Krieg bei Pausanias. Vgl. Plut. Flam. 11,3–7 und s. o. Kap. 5.1. 159 Paus. 9,6,4. Aus der Heroenzeit hält Pausanias den Krieg der Argiver gegen die Thebaner für den bemerkenswertesten von Griechen gegen Griechen im Vergleich zu dem von Eleusis gegen Athen und der Thebaner gegen die Minyer, vgl. Paus. 9,9,1. 160 Paus. 5,4,9. 161 Paus. 8,6,2. 162 Paus. 10,2,1. 163 Paus. 8,6,3. 164 Paus. 8,6,2.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
207
Tab. 8: Arkadien-Exkurs bei Paus. 8,6,1–3 Arkadien
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
8,6,1
Ilion
teilgenommen
k. A.
8,5,10
Messen. Krieg
Verteidigung der Messenier gegen die Lakedaimonier
immer schon wohlgesonnen gegenüber Messeniern (Unterstützung ihres Freiheitskampfes)
8,6,1
Plataiai
teilgenommen
k. A.
8,6,2
Pelop. Krieg
teilgenommen
auf lakedaimonischer Seite mehr aus Zwang als aus Neigung
Agesilaos
teilgenommen
mit nach Asien 396
Leuktra
mit Lakedaimoniern, nach der Schlacht gleich zu Theben
Hass gegen Lakedaimonier zeigt sich im Umschwenken
Chaironeia
teilgenommen
k. A.
Thessalien
gegen Antipatros
nicht auf griechischer Seite aber nicht gegen Griechen eingesetzt
Galater
nicht bei Thermopylen
damit Lakedaimonier nicht die Heimat verheerten
Achäischer Bund
eifrige Teilnahme
k. A.
8,6,3
Pausanias’ Erklärung für die Besetzung und Plünderung Delphis durch die Phoker im 3. Heiligen Krieg arbeitet hingegen mit einer anderen externen Ursache für diese ‚frevelhafte Tat‘: eine Gottheit habe ihrem Verstand (γνώμη) geschadet oder sie hätten finanziellen Gewinn (κέρδος) vor Frömmigkeit (ἐυσέβεια) gestellt.165 Dieser Ausschlag ins Negative wurde von den Phokern aber dadurch wieder aufgewogen, dass sie an der Galaterabwehr am mutigsten teilgenommen und somit die griechische Freiheit verteidigt haben: Diesmal aber aus Verehrung für den Gott in Delphi bzw. zur Wiedergutmachung ihrer früheren Taten, nämlich der Plünderung der Schätze von Delphi.166 Tab. 9: Phokis-Exkurs bei Paus. 10,1,3–3,4 Phokis
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
10,1,3
Ilion
teilgenommen
k. A.
10,1,3–11
Thessalien
Krieg, bevor Meder nach Griechenland kamen
k. A.
10,2,1
Xerxes
teilgenommen auf Seite der Perser
notgedrungen
10,2,1
Plataiai
teilgenommen
von Medern zu Griechen übergewechselt
165 Paus. 10,2,3. 166 Paus. 10,3,4. Paus. 5,4,8 bemerkt positiv, dass die Eleer einen Frevel wie den der Phoker verhindern konnten als Agis II. zur Zeit des Bundes zwischen Athen, Argos, Mantineia und Elis in Olympia einfiel.
208
5 Freiheit
Phokis
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
10,2,3
Strafe der Amphiktyionie
Delphi wurde besetzt
Gott hatte ihrem Verstand (γνώμη) geschadet oder weil sie Gewinn (κέρδος) vor Frömmigkeit (ἐυσεβεία) stellten
10,2,4–3,1
Heiliger Krieg
Krieg gegen Theben
k. A.
10,3,4
Lamia
teilgenommen gegen Antipatros
k. A.
10,3,4
Krannon
teilgenommen gegen Antipatros
k. A.
10,3,4
Galater
am mutigsten teilgenommen
aus Verehrung für den Gott in Delphi zur Wiedergutmachung ihrer früheren Taten
Die Eleer kennzeichnen zwei entscheidende Makel: Erstens haben sie zwar ihre Bereitschaft gezeigt, an den Kämpfen gegen die Perser teilzunehmen, kamen aber zu spät zur Schlacht von Plataiai.167 Zweitens haben sie einen Bund mit Philipp II. geschlossen, brachten es dann aber doch nicht über sich, gegen die Griechen zu kämpfen, was sie teilweise rehabilitiert.168 Immerhin haben sie sich am Lamischen Krieg und an den Kämpfen gegen Antipatros beteiligt. Eine weitere Entschuldigung bildet die Betonung ihrer unfreiwilligen Teilnahme am Peloponnesischen Krieg auf Seiten der Lakedaimonier. Tab. 10: Elis-Exkurs bei Paus. 5,4,7–9 Elis
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
5,4,7
Ilion
teilgenommen
k. A.
5,4,7
Plataiai
teilgenommen
aber eigentlich zu spät gekommen
5,4,7
Pelop. Krieg
teilgenommen
mit Peloponnesiern unfreiwillig ins Land der Athener eingefallen
5,4,8
Bund mit Athen
teilgenommen
k. A.
5,4,8
Agis
fällt in Elis ein / Schlacht bei Mantineia
Lakedaimonier wurden aus dem Heiligen Bezirk und dem Heiligtum vertrieben
5,4,9
Chaironeia
teilgenommen
Bund mit Philipp II. trotz innerer Parteikämpfe; konnten es nicht über sich bringen, gegen Griechen zu kämpfen
5,4,9
Philipp II. gg. Sparta
teilgenommen
aus alter Feindschaft gegen Lakedaimonier
5,4,9
Lamia
teilgenommen
k. A.
167 Paus. 5,4,7. 168 Paus. 5,4,9.
5.3 Freiheitskampf in den historischen Exkursen des Pausanias
209
Der Abriss der Geschichte Elateias bildet insofern einen Sonderfall, als er mit der Abwehr der Kostoboken das jüngste bei Pausanias erwähnte historische Ereignis enthält.169 Dass die Bewohner Elateias während der Belagerung durch Flamininus makedonentreu blieben, wird damit erklärt, dass Volk und Regierung uneinsichtig waren und insofern nicht die ‚richtige‘ Seite gewählt haben.170 Nachdem sie sich jedoch gegen Taxilos zur Wehr gesetzt hatten, gewährten die Römer Elateia Freiheit und Abgabenfreiheit.171 Tab. 11: Elateia-Exkurs bei Paus. 10,34,3–5 Elateia
Ereignis
Teilnahme
Kommentar
10,34,3
Xerxes
zerstört worden
k. A.
10,32,2
Kassander
Belagerung abgewehrt mit Hilfe Olympiodoros’ (vgl. 10,24,3)
k. A.
10,34,3
Philipp V.
Besetzung, Furcht und Bestechung
k. A.
10,34,4
Flamininus
Belagerung
Volk und Regierung waren uneinsichtig, sodass sie makedonentreu blieben
10,32,2
Mithridates
vor Taxilos gerettet
Römer gewährten Freiheit und Abgabenfreiheit
10,34,5
Kostoboken
abgewehrt von Mnesibulos
k. A.
Die Ausführungen zu den historischen Exkursen haben gezeigt, dass Pausanias eine Art Konto führt, bei dem ein negatives Saldo durch positive historische Leistungen für die Gesamtheit der Griechen ausgeglichen werden konnte. Das korrespondiert mit der Grundhaltung im ‚Katalog der Wohltäter‘ Griechenlands: Miltiades war der erste, Philopoimen der letzte Wohltäter Griechenlands, weil sie sich um ganz Griechenland verdient gemacht haben.172 Alle anderen historischen Personen in diesem Katalog werden ebenfalls ausschließlich danach beurteilt, ob sie lediglich ihrer eigenen Polis oder ganz Griechenland einen Dienst erwiesen haben.173 Wenn ein Grieche seiner Pflicht zum Freiheitskampf für alle Griechen nicht nachkam, galten manche Gründe wie die Verteidigung der eigenen Heimat oder der spätere Ausgleich dieses Defizits als Entschuldigung. Pausanias hat außerdem beobachtet, dass nach der Galater-Invasion außer den Achaiern keiner der Griechen mehr mächtig gewesen war.174 Die Achaier hatten ihre Stellung aufgrund mangelnder Gemeinsamkeit unter den Griechen errungen.175 Was auf diese Analyse folgt, 169 170 171 172 173 174 175
Paus. 10,34,5. Paus. 10,34,4. Paus. 10,32,2. Paus. 8,52,1–5. S. o. Kap. 4.2.3. Paus. 7,7,8 f. Paus. 7,7,1.
210
5 Freiheit
ist eine Aufzählung der Widerfahrnisse der im 4. Jh. v. Chr. um die Hegemonie in Griechenland streitenden Mittelmächte:176 Die Lakedaimonier wurden durch die Niederlage von Leuktra, die arkadische Gründung von Megalopolis und die Messenier daran gehindert, ihre alte Macht wieder zu erlangen; die Wiedergründung durch Kassander konnte Thebens Zerstörung durch Alexander nicht wieder gut machen; Athen konnte sich von den makedonischen Kriegen nicht mehr erholen. Die Achaier wurden daraufhin die Mächtigsten, weil sie keine Tyrannen hatten (außer in Pellene), Krieg und Pest fast keine Auswirkungen zeigten und sie eine gemeinsame Bundesversammlung besaßen. Einerseits ist bei Pausanias demnach gemeinsames Handeln die Grundlage für den griechischen Freiheitskampf gegen Fremdherrschaft und andererseits ist die Abwehr von Fremdherrschaft das entscheidende Kriterium für eine positive Evaluation historischer Taten. Der innergriechische Kampf wird nur dann akzeptiert, wenn die vorherige Freiheit wiederhergestellt werden soll. Liegt diese Bedingung nicht vor, so erscheint es positiv, an einem innergriechischen Krieg nicht teilgenommen zu haben. Bei einem Krieg gegen auswärtige Mächte ist ein Fernbleiben stets erklärungsbedürftig. 5.4 PHILOPOIMEN ALS LETZTER GRIECHE Wohltäter Griechenlands stehen für Pausanias in einem direkten Zusammenhang mit der griechischen Freiheit. Beispielsweise wird außer Antoninus Pius kein römischer Kaiser von Pausanias als εὐεργέτης bezeichnet, und dieser nur, weil er der Polis Pallantion die Freiheit schenkte.177 Pausanias hat in dem bereits erwähnten Katalog der Wohltäter Griechenlands Philopoimen als den letzten Wohltäter für die Gesamtheit Griechenlands bezeichnet (ἔσχατος εὐεργέτης κοινῇ τῆς Ἑλλάδος), da Griechenland aufgehört habe, vortreffliche Männer hervorzubringen: καὶ ἤδη τὸ μετὰ τοῦτο ἐς ἀνδρῶν ἀγαθῶν φορὰν ἔληξεν ἡ Ἑλλάς. Μιλτιάδης μὲν γὰρ ὁ Κίμωνος τούς τε ἐς Μαραθῶνα ἀποβάντας τῶν βαρβάρων κρατήσας μάχῃ καὶ τοῦ πρόσω τὸν Μήδων ἐπισχὼν στόλον ἐγένετο εὐεργέτης πρῶτος κοινῇ τῆς Ἑλλάδος, Φιλοποίμην δὲ ὁ Κραύγιδος ἔσχατος· Mit diesem aber hörte Griechenland auch schon auf, vortreffliche Männer hervorzubringen. Denn Miltiades, der Sohn des Kimon, der die bei Marathon an Land gehenden Barbaren besiegte und sich dem Vordringen der Meder widersetzte, war der erste Wohltäter für die Gesamtheit von Hellas, Philopoimen, der Sohn des Kraugis, aber der letzte.178
Die Wendung vom letzten Wohltäter, die Pausanias zur Erstellung eines differenzierten Katalogs der Wohltäter Griechenlands angeregt hat, geht auf die Philopoimen-Vita Plutarchs zurück.179 Dort heißt es, dass ein namentlich nicht genannter
176 177 178 179
Paus. 7,7,8 f. Paus. 8,43,3. Paus. 8,52,1. Errington 1969, 238–240.
5.4 Philopoimen als letzter Grieche
211
Römer ihn als letzten Griechen (ἔσχατον Ἑλλήνων) bezeichnete.180 Von der Bezeichnung Philopoimens als εὐεργέτης finden wir dort noch nichts, können aber auch nicht entscheiden, ob sie bereits bei Polybios geprägt wurde, der in seinen Historien anlässlich der Ereignisse von 209 v. Chr. erwähnt hatte, dass er eine Schrift über die Jugend Philopoimens geschrieben habe.181 Damit es nicht zu Doppelungen käme, würde er an dieser Stelle nur Details aus späterer Zeit hinzufügen. Die Biographie bestand aus drei Büchern über Abkunft, Erziehung und Taten Philopoimens. Plutarch hat diese Bücher noch für seine Philopoimen-Vita benutzen können, Pausanias letztere wiederum für seine Periegese. Nach dem Tod Philopoimens wurden ihm auf der Peloponnes Statuen errichtet und ein Kult eingerichtet.182 Die Erinnerung war kurz darauf schon umkämpft, da ein namentlich nicht genannter Römer nach der Zerstörung Korinths diese Statuen niederreißen wollte, weil er ein den Römern übelgesinnter Feind war, wie Plutarch berichtet.183 Polybios setzte sich zugunsten seines Andenkens ein, sodass die Statuen erhalten blieben.184 Er würdigte Philopoimen in seinen Historien vor allem als Widerständler gegen Rom (Rede Philopoimens):185 Wenn man den Römern keinen Widerstand leiste, worin unterscheide man sich dann noch von den Einwohnern Siziliens und Capuas, die schon längst Sklaven geworden seien? Es werde eine Zeit kommen für die Griechen, in der sie gezwungen seien, jedem Befehl zu gehorchen. Philopoimens Politik habe aber darin bestanden, diesen Zeitpunkt so lange wie möglich aufzuschieben. Angesichts dessen ist es durchaus als brisant zu bezeichnen, dass Plutarch und Pausanias die Erinnerung an Philopoimen in der römischen Kaiserzeit erneut aktualisieren. Beispielsweise stellt Pausanias Zusammenhänge zwischen Philopoimen und dem griechischen Freiheitskampf her: Bei den Nemeen in Argos sei Philopoimen zufällig beim Wettkampf der Kitharoiden zu Pylades aus Megalopolis gekommen, der auch bei den pythischen Spielen gewonnen hatte. Pylades sang das Perser-Lied des Timotheos aus Milet, das folgendermaßen beginne: „Gepriesen sei, wer den hehren Schmuck der Freiheit für Hellas gewann.“186 Dann hätten alle Anwesenden zu Philopoimen geblickt, da sie in ihm den Verteidiger der griechischen Freiheit sahen. Pausanias parallelisiert diese Szene im Anschluss außerdem mit Themistokles, dem das Gleiche in Olympia widerfahren sei. Dieser Vergangenheitsbezug mit mehreren Ebenen (Themistokles, Timotheos, Philopoimen) kann fraglos auch als Appell an den Rezipienten der Periegese verstanden werden. 180 Plut. Philop. 1,7. Vgl. Schrott 2014 mit ausführlichem Kommentar sowohl zur Philopoimenund Flamininus-Vita, als auch zur comparatio. 181 Polyb. 10,21. Vgl. dazu Schrott 2014, 57–59. 182 Diod. 19,18. 183 Plut. Philop. 21. 184 Vgl. die Inschriften für Philopoimen (Syll.3 624 (= IG V 2,432). 625 u. a. bei Hoffmann 1941, 93), insbesondere auch die von Paus. 8,52,6 zitierte, in der er als Mehrer der Freiheit figuriert. Für Philopoimen wurden jährliche Opfer und ein Altar von seiner Heimatstadt Megalopolis gestiftet, vgl. Diod. 29,19. Leschhorn 1984, 330 f. Ähnliche Ehrungen wurden für Aratos instituiert (vgl. Leschhorn 1984, 326–331. Malkin 1987, 233–237) und Timoleon (Diod. 16,90. Plut. Tim. 39,5. Leschhorn 1984, 194–198. Malkin 1987, 239 f.). 185 Polyb. 24,15. 186 Paus. 8,50,3: Κλεινὸν ἐλευθερίας τεύχων μέγαν Ἑλλάδι κόσμον.
212
5 Freiheit
Wie nun sind die Aussagen von Philopoimen als letztem Griechen bzw. letztem Wohltäter Griechenlands bei Plutarch und Pausanias zu deuten? Zunächst zu Plutarch, der das Diktum in der Arat- und in der Philopoimen-Vita erwähnt; hier letztere Stelle: Ῥωμαίων δέ τις ἐπαινῶν ἔσχατον αὐτὸν Ἑλλήνων προσεῖπεν, ὡς οὐδένα μέγαν μετὰ τοῦτον ἔτι τῆς Ἑλλάδος ἄνδρα γειναμένης οὐδ’ αὑτῆς ἄξιον. Ein Römer, der ihn loben wollte, nannte ihn daher den letzten der Griechen, gleich als wenn Griechenland nach ihm sonst keinen großen, seiner würdigen Männer erzeugt hätte.187
Entgegen der lediglich kurzen und kursorischen Erwähnung bei Pausanias hat Plutarch im Zuge der Anfertigung seiner Vita offenbar intensiver recherchiert und auch reflektiert. Seine Wertung des Diktums vom letzten Griechen ist daher ergiebiger. Das Diktum wird einem nicht genannten Römer zugeordnet, also der feindlichen Seite, und muss nicht positiv gemeint sein. Der Römer konstatiert, dass Philopoimen der letzte Grieche gewesen sei – wohl in Hinsicht auf seinen Widerstand gegen auswärtige Feinde – und nachher kein Grieche mit dieser Qualtität mehr zu finden sei. Zwar unterstreicht dies die historische Größe Philopoimens, die Geschichte Griechenlands wäre mit seinem Tod 183/182 v. Chr. aber beendet worden. Da Plutarch das Diktum zunächst wörtlich nimmt, muss es ihm unsinnig erscheinen, da Griechenland weiterhin Griechen hervorgebracht hat – auch solche, die als Staatsmänner mit lobenswerten Charaktereigenschaften anzusprechen sind.188 Wie die Analyse der Praecepta gerendae reipublicae gezeigt hat, hatte der griechische Staatsmann unter römischer Herrschaft nach Plutarchs Ansicht jedoch andere Aufgaben und schlechtere Rahmenbedingungen als sein hellenistischer Vorfahre. In der Arat-Vita bekommt das Diktum vom letzten Griechen einen anderen Akzent: Οἱ μὲν οὖν Ῥωμαῖοι τὸν Φιλοποίμενα θαυμάζοντες Ἑλλήνων ἔσχατον προσηγόρευον, ὡς μηδενὸς μεγάλου μετ’ ἐκεῖνον ἐν τοῖς Ἕλλησι γενομένου. ἐγὼ δὲ τῶν Ἑλληνικῶν πράξεων ταύτην ἐσχάτην καὶ νεωτάτην φαίην ἂν πεπρᾶχθαι, τοῦτο μὲν τόλμῃ, τοῦτο δὲ τύχῃ ταῖς ἀρίσταις ἐνάμιλλον, ὡς ἐδήλωσεν εὐθὺς τὰ γινόμενα. Die Römer nennen Philopoimen in ihrer Bewunderung den letzten der Griechen, als wenn nach ihm kein großer Mann in Griechenland mehr geboren wäre. Ich möchte jedoch sagen, dass unter den griechischen Taten diese letzte und jüngste (die Befreiung Akrokorinths von der makedonischen Besatzung, Anm. FU), die sowohl wegen der dabei bewiesenen Kühnheit, wie auch um ihrer glücklichen Folgen willen, den glänzendsten Unternehmungen an die Seite gesetzt zu werden verdient.189
187 Plut. Philop. 1,7. Vgl. Schrott 2014, 264–266. 188 Vgl. Plut. Sulla 17 und 19, wo Sulla nur dank der Hilfe der beiden Chaironeer Homoloichos und Anaxidamos die Schlacht gegen die Truppen des Mithridates gewonnen hat. Sie erhielten ein Siegesmal, auf dem sie wegen ihrer Tapferkeit gerühmt wurden. Nicht nur Befreiung durch andere, respektive Freiheitswunsch der Griechen, sondern auch manche Aktivität griechischer Poleis oder einzelner Griechen: Plut. Kleom. 16. Arat. 8 f. 15 f. 24 f. 33–35. Demetr. 8 f. 23 f. comp. Demetr. et Ant. 2. Philop. 11. 15. 17. 19. Flam. 5. 11 f. comp. Philop. et Flam. 3. Brut. 21. 189 Plut. Arat. 24,2.
5.4 Philopoimen als letzter Grieche
213
Auch hier findet sich erneut die Zuschreibung zu „den Römern“ und die Distanzierung davon „als wenn nach ihm kein großer Mann in Griechenland mehr aufgestanden wäre“.190 Plutarch entwickelt ausgehend von dem Diktum eine eigene Zäsur mit der Befreiung Akrokorinths von der makedonischen Besatzung 243 v. Chr. Nicht die Sikyonier oder Achaier hätten Arat zu dieser Tat angeregt, sondern sie sei aus seinem eigenen Bedürfnis erwachsen, die makedonische Besatzung (τὴν Μακεδόνων φρουράν) zu entfernen, die Griechenland insgesamt unter einer Tyrannis hielt.191 Die Antithese „Mann – Tat“ zeigt an, dass es weiterhin in Griechenland große Männer gebe, die allerdings nicht mehr zu griechischen Taten mit glücklichem Ausgang auf höchstem Niveau in der Lage seien. Die „griechische Tat“ ist im Übrigen eine Befreiungstat gegen eine „fremde, eingedrungene Herrschaft“,192 deren glücklicher Ausgang heute zwar nicht mehr denkbar sei, eine vorbildliche moralische Haltung jedoch sehr wohl. Zwar ist Philopoimen als Freiheitskämpfer anzuerkennen, die historische Tat einer tatsächlichen Befreiung von Fremdherrschaft wie im Falle Arats wird von Plutarch jedoch noch höher geschätzt. Er generalisiert die Rolle Arats im Achäischen Bund so weit, dass bei entsprechender Ordnung, Eintracht und einem passenden Hegemon an der Spitze die griechische Kraft (ἑλληνικὴ ἀλκή) unüberwindlich ist (sic!): ἀλλὰ μάλιστα δὴ διέδειξαν οὗτοι τὴν Ἑλληνικὴν ἀλκὴν ἀπρόσμαχον οὖσαν, ὁσάκις τύχοι κόσμου καὶ συντάξεως ὁμοφρονούσης καὶ νοῦν ἔχοντος ἡγεμόνος, οἳ τῆς μὲν πάλαι τῶν Ἑλλήνων ἀκμῆς οὐδὲν ὡς εἰπεῖν μέρος ὄντες, ἐν δὲ τῷ τότε μιᾶς ἀξιολόγου πόλεως σύμπαντες ὁμοῦ δύναμιν οὐκ ἔχοντες, εὐβουλίᾳ καὶ ὁμονοίᾳ, καὶ ὅτι τῷ πρώτῳ κατ’ ἀρετὴν ἐδύναντο μὴ φθονεῖν, ἀλλὰ πείθεσθαι καὶ ἀκολουθεῖν, οὐ μόνον αὑτοὺς ἐν μέσῳ πόλεων καὶ δυνάμεων τηλικούτων καὶ τυραννίδων διεφύλαξαν ἐλευθέρους, ἀλλὰ καὶ τῶν ἄλλων Ἑλλήνων ὡς πλείστους ἐλευθεροῦντες καὶ σῴζοντες διετέλουν.
190 Es gibt das Dictum vom ‚letzten Griechen‘ auch in der Variation des ‚letzten Römers‘. Laut Plutarch soll Brutus den Cassius so genannt haben, vgl. Plut. Brut. 44: καὶ τὸ μὲν σῶμα περικλαύσας καὶ προσαγορεύσας ἔσχατον ἄνδρα Ῥωμαίων τὸν Κάσσιον, ὡς οὐκέτι τῇ πόλει τηλικούτου φρονήματος ἐγγενέσθαι δυναμένου, περιέστειλε καὶ ἀπέπεμψεν εἰς Θάσον, ὡς μὴ σύγχυσιν αὐτόθι παράσχοι κηδευόμενον. Laut Tac. Ann. 4,34,1 wurde der Geschichtsschreiber Cremutius Cordus unter Tiberius deshalb angeklagt, weil er Brutus gelobt und Cassius den letzten Römer genannt hatte: Romanorum ultimum dixisset. Der Beleg von Tacitus stützt Plutarchs Aussage, das Diktum zu Philopoimen stamme von einem Römer. Tiberius war wohl deswegen so erbost, weil die römische Größe als ähnlich erledigt angesehen wurde, wie das besiegte Griechenland. 191 Plut. Arat. 16,2. Es wird überdies Vergangenheitsbezug mit der Schlacht von Marathon hergestellt, deren „Bruder“ die Befreiung Akrokorinths sei, vgl. Plut. Arat. 16,3 f.: Χάρης μὲν γὰρ ὁ Ἀθηναῖος ἔν τινι μάχῃ πρὸς τοὺς βασιλέως στρατηγοὺς εὐτυχήσας, ἔγραψε τῷ δήμῳ τῶν Ἀθηναίων, ὡς νενικήκοι τῆς ἐν Μαραθῶνι μάχης ἀδελφήν· ταύτην δὲ τὴν πρᾶξιν οὐκ ἂν ἁμάρτοι τις ἀδελφὴν προσειπὼν τῆς Πελοπίδου τοῦ Θηβαίου καὶ Θρασυβούλου τοῦ Ἀθηναίου τυραννοκτονίας, πλὴν ὅτι τῷ μὴ πρὸς Ἕλληνας, ἀλλ' ἐπακτὸν ἀρχὴν γεγονέναι καὶ ἀλλόφυλον αὕτη διήνεγκεν. Zum negativen Klang des Besatzungsbegriffs s. o. Kap. 2.2. 192 Plut. Arat. 16,5: […] μὴ πρὸς Ἕλληνας, ἀλλ' ἐπακτὸν ἀρχὴν γεγονέναι καὶ ἀλλόφυλον αὕτη διήνεγκεν.
214
5 Freiheit Aber dennoch lieferten gerade sie (die Sikyoner, Anm. FU) den deutlichsten Beweis davon, dass die griechische Stärke unüberwindlich ist, so oft ihr das Glück zu Teil wird, Ordnung, einträchtigen Zusammenschluss und einen einsichtsvollen Mann an der Spitze zu haben. Die Achaier, welche von der alten Herrlichkeit der Griechen, so zu sagen, nicht einmal einen Bruchteil ausmachten und in der damaligen Zeit, alle zusammengenommen, nicht die Macht einer einzigen nennenswerten Stadt besaßen, – sie zeigten Überlegung und Eintracht; sie trugen in sich die nötige Kraft, um gegen einen Mann der hervorragendsten Eigenschaften nicht eifersüchtig zu sein, sondern ihm zu gehorchen und zu folgen: dadurch haben sie, umringt von so bedeutenden Staaten, Mächten und Tyranneis, dennoch nicht nur ihre eigene Freiheit gewahrt, sondern fortwährend auch den meisten andern Griechen Freiheit und Hilfe gegen jeden Feind verliehen.193
Es sind also die Haltungen und Charaktereigenschaften eines jeden Griechen gefragt, in einer durch Dahinwelken und Schwäche gekennzeichneten Gegenwart (Ἑλλας φθίνουσα und ἀσθένεια τῶν Ἑλληνικῶν)194 das Selbstbewusstsein gegenüber einer gegenwärtigen Fremdherrschaft aufrechtzuerhalten. 5.5 VERMEINTLICHE VERÄNDERUNGEN DES FREIHEITSBEGRIFFES Nach Nörr erkannten die Griechen einerseites manche Vorzüge der römischen Herrschaft an, während sie aber sehen mussten, dass sie in Knechtschaft lebten. Andererseits mussten sie ihre selbstbildformende Freiheit (nach innen von einer Tyrannis, nach außen von Fremdherrschaft) mit der Knechtschaft harmonisieren.195 Folglich hätten sie den Freiheitsbegriff in dreierlei Hinsicht manipuliert, damit sie die Fiktion der klassischen Freiheit aufrechterhalten konnten. Nörrs vermeintliche Manipulationen des griechischen Freiheitsbegriffs geben jedoch die römische Perspektive wieder. Sie lassen sich mit Quellen aus dem griechischen Kontext widerlegen, was im Folgenden zu zeigen sein wird, da niemand außer den Herrschern die Fiktion der Freiheit aufrechterhalten wollte. Erstens hätten die griechischen Provinzialen nahezu ausschließlich mit der römischen Herrschaft in Gestalt des Statthalters zu tun gehabt. Gegen ihn richtete sich die erste Manipulation des Freiheitsbegriffes, denn der Statthalter war wiederum vom Kaiser abhängig, womit seine Gewalt nicht mehr der einer Tyrannis entsprach. Damit wird paradoxerweise der Kaiser zum Garant der Freiheit, da er die Statthalter kontrolliert. Nörr folgt hier flavischer Herrschaftsideologie, wie wir sie in der Rede 193 Plut. Arat. 9,7,1–11. 194 Plut. comp. Philop. et Flam. 2,1. Vgl. Schrott 2014, 763–768. 195 Nörr 1980, 12–14, hier 10: „Das Bild der Städteherrlichkeit und Städtefreiheit der klassischen Zeit vor Augen, erschöpften sie sich in dem Bemühen, die triste Realität erträglich zu machen. Wenn man sich nicht der Bitterkeit und Resignation stellen wollte, so war man gezwungen, ideologische Umformungen der Realität vorzunehmen.“ Nörrs Ausführungen haben lediglich einen verschriftlichten Vortrag zur Grundlage, vgl. deshalb ausführlicher Nörr 1969. Vgl. neuerdings Ando 2000, 409 f., der den Zusammenhalt des Imperium Romanum als eine „constructed harmony of domination and obedience“ ansieht, die Gerechtigkeit sichert aufgrund „the charismatic power of the imperial office guaranteed the orderly functioning of the Roman bureaucracy.“
5.5 Vermeintliche Veränderungen des Freiheitsbegriffes
215
Agrippas im ‚Jüdischen Krieg‘ des Flavius Josephus finden.196 Die Juden wollten den Statthalter Florus bekriegen. Dies bedeute aber, gegen die Römer, d. h. den Kaiser, Krieg zu führen, wie Agrippa/Josephus insistiert: Das könne man nicht wollen aufgrund der Stärke der Römer. Vielmehr habe man sich an den Kaiser zu wenden bezüglich der Anschuldigungen gegen den Statthalter oder müsse die Situation ertragen, bis ein neuer Statthalter geschickt werde. Bei Plutarch hingegen finden wir ein ganz anderes Bild vom römischen Statthalter: Aufgabe eines griechischen Politikers sei es, „ein freies Wort für das Recht gegen einen übelgesinnten Statthalter“ einzubringen.197 Außerdem ist für Plutarch der Statthalter nicht variabel, er trägt keinen Namen, sondern ist eine absolute Größe, die immer zum Nachteil der Polis interveniert:198 er trifft häufig negative, willkürliche und jähzornige Entscheidungen. Plutarch missbilligt also nicht einen konkreten Statthalter, sondern das System römischer Herrschaft, während Josephus die flavische Herrschaftsideologie distributiert, der Nörr folgt. Außerdem waren Achaia und Asia provinciae populi Romani, d. h. die Statthalter wurden jedenfalls nicht direkt vom Kaiser entsandt und mit mandata versehen. Zweitens sieht Nörr eine Gleichsetzung von Freiheit und rechtlicher Sicherheit. In Knechtschaft lebe nur der, der unter Hybris und Willkür leiden müsse. Garant für die Freiheit sei wieder der Kaiser, da auch er an die allgemeinen Gesetze gebunden sei, mit denen er herrsche. Dem widerspricht wieder Plutarch, nach dem der zeitgenössische Politiker sich bei Amtsantritt der Worte erinnern solle, die sich Perikles sagte, als er den Feldherrenmantel anlegte.199 Nicht nur, dass er die einstmalige Freiheit betont – er weist mit dem Feldherrenmantel explizit auch auf das verloren gegangene militärische Handlungsfeld hin. Den Worten des Perikles müsse man jetzt hinzufügen: „Als Untergebener regierst du jetzt, denn deine Stadt steht unter dem Befehl des Prokonsuls und der kaiserlichen Prokuratoren.“200 Wie ein Schauspieler im Theater müsse man nun auf den römischen Suffleur hören und bei Überschreitung des Versmaßes werde man nicht mehr nur ausgepfiffen, sondern ‚einen Kopf kürzer gemacht‘.201 Plutarch stellt die Frage, ob sich die Griechen denn überhaupt noch als Sieger denken können: „Was hat eine Macht zu bedeuten, die eine einzige Verfügung des Prokonsuls auflösen kann?“202 Hier sehen wir keine garantierte rechtliche Sicherheit, sondern die Willkür des Statthalters. Drittens führt Nörr die These des Aelius Aristides an, dass derjenige, der herrsche frei sei. Da die Römer die Herrschenden sind und immer mehr griechische Provinziale der städtischen Oberschicht qua römischen Bürgerrechtes zu Römern würden, würden sie auch zu Freien. Nörr bezieht sich auf Aristides’ Rom-Rede, wie 196 197 198 199 200
Ios. BJ 2,345–402. Vgl. Kap. 5.2. Plut. praec. ger. reip. 805a–b. Plut. praec. ger. reip. 824a und e. Vgl. Kap. 3.2. Plut. praec. ger. reip. 813d. Vgl. Kap. 3.2. Plut. praec. ger. reip. 813d: ἀρχόμενος ἄρχεις, ὑποτεταγμένης πόλεως ἀνθυπάτοις, ἐπιτρόποις Καίσαρος· 201 Plut. praec. ger. reip. 813e. Vgl. Anm. 35 (Kap. 3.2). 202 Plut. praec. ger. reip. 824e–f: τίς γὰρ ἡγεμονία, τίς δόξα τοῖς περιγενομένοις; ποία δύναμις, ἣν μικρὸν ἀνθυπάτου διάταγμα κατέλυσεν […].
216
5 Freiheit
etwa den Abschnitt, dass man auf der Fahrt durch das Reich als römischer Bürger theoretisch von Vaterstadt zu Vaterstadt komme.203 Dazu Bleicken: Damit hat sich Aristides von der griechischen Vergangenheit distanziert. Er konnte das tun, weil durch die Bürgerrechtspolitik Roms das Problem der Freiheit gelöst schien. Aber er erörtert das neue politische Bild nicht mit dem Blick auf die Vergangenheit der Griechen, sondern auch mit dem Blick auf die Zukunft Roms, das nun die Heimat aller Reichsbewohner ist.204
Tatsächlich sieht Plutarch den Aufstieg in den römischen Machtapparat kritisch: ἆρά γ’ ἄξιον τῇ χάριτι ταύτῃ παραβαλεῖν τὰς πολυταλάντους ἐπιτροπὰς καὶ διοικήσεις τῶν ἐπαρχιῶν, ἃς διώκοντες οἱ πολλοὶ γηράσκουσι πρὸς ἀλλοτρίαις θύραις, τὰ οἴκοι προλιπόντες· Dürfen wohl einer solchen Gunst jene einträglichen Prokuraturen und Statthalterschaften an die Seite gestellt werden, um welche die Mehrzahl sich bewirbt, und damit ihre Heimat zurücklässt, um vor fremden Türen alt zu werden?205
Als Grieche solle man sich zwar die Herrscher gewogen machen und Freundschaften zu hochstehenden Römern pflegen, jedoch nicht deren Ämter übernehmen und bewusst weiterhin Kommunalpolitik betreiben.206 Obwohl Plutarch das römische Bürgerrecht besaß, rechnete er sich nicht zu den Herrschenden. Auch Dion Chrysostomos tritt mit einer Kritik an denjenigen Griechen hervor, die gestützt auf ihre Abkunft und Vermögen, Kränzen, Ehrenplätzen und Purpur nachjagen und dabei auf Lokalpolitik verzichten.207 Plutarch, Dion und Aristides nehmen diejenigen Griechen, die in den römischen Machtapparat wechseln, nicht mehr als Griechen, sondern als Römer wahr.208 Es ist deutlich geworden, dass die vermeintlichen griechischen Konzeptualisierungen bei Nörr und Bleicken stattdessen in die Nähe römischer Herrschaftsideologie gestellt werden müssen. Speziell bei Aristides dürfen wir aufgrund des Literaturgenres der Panegyrik nicht die Präsentation seiner eigenen Ansichten vermuten.209 Stattdessen finden wir dort einerseits die rezenten gesellschaftlichen Werte, Haltungen und Weltbilder, die der Rhetor dem römischen Publikum als Maßstab vorsetzt,210 und andererseits die Kritik an den griechischen Kollaborateuren (die Römer bräuchten eigentlich keine Besatzungen, da diese Aufgabe die lokalen Eliten übernehmen würden). Es muss also unbedingt darauf geachtet werden, wer welche Deutungen mit welchen Zielen in welchem Kontext in Umlauf brachte: Plutarch schrieb an einen angehenden griechischen Politiker in Sardis einen Leitfaden politi203 204 205 206 207
Vgl. Aristeid. or. 26,36. Bleicken 1966, 247. Plut. praec. ger. reip. 814d. Vgl. Anm. 47 (Kap. 3.2). Plut. praec. ger. reip. 814c–e. Vgl. Jones 1971, 39–64 zu Plutarchs römischen Freunden. Dion Chrys. or. 34,28. Purpur steht für den latus clavus, einem breiten Purpurstreifen an der römischen Tunica, und damit den Senatorenstand, vgl. Schulze 1875. 208 Vgl. den Fall des L. Cuspius Pactumeius Rufinus (cos. 142 n. Chr.), ein gebürtiger Pergamener mit nordafrikanischen und italischen Vorfahren, der zugunsten des Aristides ein Schreiben „in seiner Sprache“ abfasste (d. h. als Konsular in der Korrespondenz zwischen ihm und einem anderen römischen Amtsträger vermutlich auf Latein, vgl. Aristeid. hier. log. 4,84: τῇ αὑτοῦ φονῇ γράψας). S. o. Kap. 2.3. Vgl. Pabst 2014a, 407 und Kriekhaus 2006, 176–178. 209 Vgl. Swain 1996, 255. 210 Vgl. Pernot 2015, 66–100 zur epideiktischen Rede und seiner gesellschaftlichen Funktion.
5.5 Vermeintliche Veränderungen des Freiheitsbegriffes
217
schen Handelns unter einer Fremdherrschaft mit dem Ziel der Polis-Politik vor dem Hintergrund einstmaliger Freiheit, Josephus schrieb die Geschichte eines vergeblichen Freiheitskampfes aus der Perspektive der Herrschenden für ein römisches und griechisches Publikum und Aristides sprach über das Weltbild römischer Eliten. Die Adressierung einer Schrift/Rede sowohl an Griechen als auch an Römer macht deren moderne Deutung entsprechend komplex.
6 HERRSCHAFT Dionysios von Halikarnassos behauptet, in seiner Gegenwart gäbe es kein ἔθνος mehr, dass gegen die universelle Herrschaft der Römer Widerstand leiste.1 Dennoch stellt er auf diese Aussage folgend eine Liste griechischer Kritik an der römischen Herrschaft zusammen. Durch die Paraphrase dieser Kritik bei Dionysios und seine Antwort auf sie können zentrale Motive griechischer Kritik an Roms Herrschaft ex negativo identifiziert werden. Wenn wir im Folgenden diesen Motiven bis in die Hohe Kaiserzeit bei den griechischen Autoren nachgehen, werden wir feststellen, dass Dionysios’ euphemistische Diagnose von der Abwesenheit griechischen Widerstands gegen die römische Herrschaft sowohl für seine Gegenwart als auch für die Hohe Kaiserzeit nicht zutreffend ist. Die drei griechischen Kritikpunkte an der römischen Herrschaft lauten wie folgt: 1. Obwohl Rom in der Gegenwart zu solcher Größe herangewachsen ist, waren seine Anfänge sehr bescheiden und seien einer historischen Darstellung nicht wert.2 Aus griechischer Perspektive sei die Geschichte Roms erst seit ein paar Generationen bedeutsam, nämlich erst seit dem endgültigen Sieg über die Makedonen (168 v. Chr.) und Karthago (146 v. Chr.), mithin der (von Dionysios nicht erwähnten) Zerstörung Korinths ebenfalls 146 v. Chr. und dem Beginn der Hegemonie über Griechenland. 2. ‚Einige unter den Griechen‘ würden sich für die frühe Geschichte Roms nicht interessieren und einer Reihe falscher Meinungen aufgrund unwahrer Geschichten anhängen: Umherziehende, barbarische und unfreie Menschen ohne Häuser hätten die Stadt gegründet, die jetzt ein Weltreich beherrsche.3 3. Dieses Weltreich sei weder auf εὐσέβεια, δικαιοσύνη noch irgendeine andere ἀρετή gegründet, sondern auf αὐτοματισμόν τινα καὶ τύχην ἄδικον (irgendeinen Zufall und die ungerechte Tyche).4 Insbesondere die Tyche würde ihre größten Wohltaten denen ausschütten, die es am wenigsten verdienten. Die Kritik des Dionysios richtet sich also auf die griechische Kritik an den bescheidenen Anfängen der römischen Geschichte, dem allgemeinen griechischen Desinteresse an der römischen Geschichte und den Faktoren für die Begründung 1 2 3
4
Dion. Hal. ant. 1,3,5: ἔθνος δὲ οὐδὲν ὡς εἰπεῖν ἐστιν, ὃ περὶ τῆς κοινῆς ἡγεμονίας ἢ τοῦ μὴ ἄρχεσθαι πρὸς αὐτὴν διαφέρεται. Vgl. LSJ s. v. διαφέρω; ein militärischer Aspekt könnte gemeint sein. Dion. Hal. ant. 1,4,1. Dion. Hal. ant. 1,4,2. Dazu Wiater 2011b, 72 f., der feststellt, dass jedes der von Dionysios aufgezählten Elemente das Gegenteil dessen darstellt, was die griechische Identität seit den Perserkriegen ausmacht. Das gleiche Bild finden wir dann aber wieder bei Dion Chrys. or. 25,8 und Plut. Numa 7. Dion. Hal. ant. 1,4,3.
6.1 Lernen durch Scheitern
219
des römischen Weltreiches. Somit wird deutlich, dass Vergangenheitsbezüge das zentrale Mittel der Kritik darstellen. Im Folgenden werden diese Kritikpunkte einer problemorientierten Analyse sowohl innerhalb der griechischen als auch in der lateinischen Literatur der Hohen Kaiserzeit unterzogen. Als ein zentrales Problem wurde bereits bei Dionysios die Diskussion über die Verantwortung der Tyche oder Arete für den Erfolg römischer Herrschaft identifiziert. Dieses Problem wird von weiteren Autoren ventiliert, deren Positionen in dieser Debatte verglichen werden sollen (Kap. 6.2). Drei weitere Problemkomplexe, die zwar nicht direkt von Dionysios angesprochen wurden, aber in der Literatur immer wieder erscheinen, können außerdem beschrieben werden. Es handelt sich erstens um die Frage, ob die Griechen das römische Angebot angenommen haben, nicht mehr für den Bereich der Herrschaft, sondern nur noch für den der Kultur zuständig zu sein (Kap. 6.3). Zweitens werden in der Hohen Kaiserzeit Umwertungen innerhalb der Stärken- und Schwächendebatte diskutiert, was nur teilweise mit der Diskussion um die Tyche und Arete der Römer zusammenhängt (Kap. 6.4): War es die Stärke der Römer (Militär, Verfassung etc.), die zu ihren Siegen führte, oder die Schwäche der Gegner (mangelhafte politische Einigkeit, zu wenige Truppen etc.)? Würde sich herausstellen, dass die Römer über einen schwachen Feind gesiegt hätten, wäre dies kein anerkennenswerter Sieg. Direkt daran anknüpfend lässt sich hier eine Tiefenbohrung durchführen: Waren es tatsächlich die griechischen Anführer, die ihre Heimat an die Römer verraten haben (Kap. 6.5)? Begonnen werden soll die problemgechichtliche Analyse kaiserzeitlicher Debatten über die römische Herrschaft seitens der Griechen jedoch mit einer theoretischen Reflexion. Es werden die Bedigungen thematisiert, die eine griechische Kritik an der römischen Herrschaft überhaupt erst möglich machten: Warum und wozu haben sich die Griechen in der Hohen Kaiserzeit mit der Legitimität der römischen Herrschaft im Medium des Vergangenheitsbezugs beschäftigt (Kap. 6.1)? 6.1 LERNEN DURCH SCHEITERN Angesichts der römischen Herrschaft, der zeitgenössischen Defizienzerfahrung und der in der Hohen Kaiserzeit fortgeführten Debatten über den griechischen Freiheitskampf lässt sich fragen, wie die Griechen mit den dadurch erzeugten Spannungen umgingen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie ihre historische Niederlage gegen die Römer mit nachträglichen Erklärungen in ein für Sieger und Besiegte annehmbares Kompensat umdeuteten, welches zwar nicht die Defizienzerfahrungen der Griechen aufheben, jedoch die Spannungen, welche die Erinnerung an die vormalige Freiheit angesichts der gegenwärtigen römischen Herrschaft erzeugt, reduzieren konnte. In diesem Zusammenhang mussten die historischen Leistungen des Achäischen Bundes und der Römer in ein Verhältnis gebracht werden, welches in der kaiserzeitlichen Gegenwart weder der einen noch der anderen Seite hinsichtlich ihrer historisch fundierten Identität abträglich war.
220
6 Herrschaft
Koselleck entwickelte die Überlegung, dass Geschichte nicht von den Siegern gemacht, sondern von den Besiegten für die Sieger geschrieben werde,5 da die Deutung des geschichtlichen Wandels von der Erfahrung der Besiegten zehre: „Sofern sie überleben, haben sie jene nicht austauschbare Urerfahrung aller Geschichten gemacht, daß sie anders zu verlaufen pflegen als von den Betroffenen intendiert.“6 Die Erfahrung des Besiegtwerdens kann nach Koselleck über den Erfahrungswandel hinweg wieder abrufbar gemacht werden und bietet als geschichtliche Erkenntnis verstehbare Gründe für das Scheitern.7 Die Transformation der Erfahrung geschichtlicher Kontingenz und nicht intendierter Handlungsfolgen in geschichtliche Erkenntnis ist auch auf die Konzeptualisierung der römischen Herrschaft über Griechenland anwendbar. Gerade weil die Griechen im Achäischen Krieg den Römern unterlegen waren, ihr Selbstbild gleichzeitig das eines Freiheitskämpfers war und blieb, der angesichts der Übermacht römischen Militärs seine Grundqualität nicht mehr entfalten konnte, haben die Griechen vor dem Hintergrund der verlorenen Freiheit und der gegenwärtigen Defizienzerfahrung in der Kaiserzeit Deutungen entwickelt, die diesen Widerspruch wenn nicht aufheben, so doch zumindest abmildern sollten. Die konkrete Deutung des Zustandekommens der römischen Herrschaft über das einstmals freie Griechenland konnte sich in verschiedene Richtungen entwickeln, die jeweils weitreichende Implikationen nach sich zogen. Denkbar sind zunächst entweder Entschuldigungen griechischen Fehlverhaltens und damit Erklärungen für Misserfolge oder aber Anklagen, die aus der Ex-post-Perspektive Ratschläge für alternative Handlungsverläufe beinhalten. Letzteres könnte bis zu Überlegungen kontrafaktischer Geschichte getrieben werden. Gründe des eigenen Scheiterns ließen sich auch in der Überlegenheit der Römer suchen, deren Militär und innerstaatliche Verfasstheit der griechischen überlegen waren. Prinzipiell mussten die Griechen entweder plausibilisieren, aufgrund welcher Stärken die Römer gegen sie gewinnen oder aufgrund welcher Schwächen sie unterliegen mussten. Koselleck konstatiert: „Der Historiker auf seiten der Sieger ist leicht geneigt, kurzfristig erzielte Erfolge durch eine langfristige Ex-post-Teleologie auf Dauer
5
6 7
Koselleck 2003 bezieht sich dabei u. a. auf Brecht. Im „Verhör des Lukullus“ (1940) arbeitet sich Brecht an der Auffassung ab, dass die Geschichte vom Sieger gemacht werde, in dem Sinne, dass er seine Geschichte schreibe und auch Gegenstand dieser Geschichte sei. Das Stück ist in dieser Hinsicht jedoch nicht apologetisch, sondern macht Brechts Ansicht stark, dass die Geschichte aus der Perspektive der Arbeiter (die er als Verlierer wahrnahm) erzählt werden sollte, da sie das Subjekt der Geschichte seien. So auch schon in den „Fragen eines lesenden Arbeiters“ von 1935. Dass der Position der Besiegten Gehör verschafft werden muss, wird auch von Walter Benjamin vertreten, vgl. Nebelin 2008 und Nebelin 2007. Koselleck 2003, 77. Zum Verhältnis von Siegern, Besiegten und dem Historiker vgl. ausführlich Nebelin 2012. Einführend zu Koselleck vgl. Daniel 2006. „Scheitern“ kann mit Junge 2004, 16 als „Unverfügbarkeit, Handlungsunfähigkeit“ verstanden werden. Die Griechen mussten realisieren, dass sie nicht nur temporär, sondern dauerhaft gescheitert sind, den Anspruch des Freiheitskämpfers aufrechtzuerhalten. Vgl. auch Nebelin 2012, 54. Ob es sich beim griechischen Scheitern um ein kulturelles Trauma (Alexander 2012) handelt, sei dahingestellt. Äußerst kritisch gegenüber dem Trauma-Begriff zeigt sich Flaig 2011.
6.1 Lernen durch Scheitern
221
auszulegen.“8 Die Besiegten geraten – wenn sie überhaupt methodisch reflektieren – mit der Primärerfahrung, dass Geschichte auch anders zu verlaufen pflegt als geplant, in eine größere Beweisnot. Aber auch hier wird eine Suche nach mitteloder langfristigen Gründen in Gang gesetzt. Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlaß überdauern, gerade wenn der Besiegte genötigt ist, wegen seiner eigenen auch die übergreifende Geschichte umzuschreiben. Zahlreiche Innovationen methodisch neu erschlossener Geschichtsdeutungen, hinter denen ganz persönliche Niederlagen und generationsspezifische Erfahrungsschübe stehen, lassen sich so erklären.9
Koselleck weist auf die aus ihrer Heimat vertriebenen Historiker der Antike wie Herodot, Thukydides und Polybios hin, bei denen sich neue Weisen der Geschichtsdarstellung erst durch den veränderten Blickwinkel erschlossen haben.10 Bereits Plutarch ist das Potenzial der Kontingenzerfahrung eines (erzwungenen) Exils bekannt: καὶ γὰρ νῦν οἱ δοκιμώτατοι καὶ κράτιστοι ζῶσιν ἐπὶ ξένης οὐ μετασταθέντες [605c] ἀλλὰ μεταστάντες οὐδὲ φυγαδευθέντες ἀλλὰ φυγόντες αὐτοὶ πράγματα καὶ περισπασμοὺς καὶ ἀσχολίας, ἃς αἱ πατρίδες φέρουσι. καὶ γὰρ τοῖς παλαιοῖς ὡς ἔοικεν αἱ Μοῦσαι τὰ κάλλιστα τῶν συνταγμάτων καὶ δοκιμώτατα φυγὴν λαβοῦσαι συνεργὸν ἐπετέλεσαν. Θουκυδίδης Ἀθηναῖος συνέγραψε τὸν πόλεμον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων’ ἐν Θρᾴκῃ περὶ τὴν Σκαπτὴν ὕλην, Ξενοφῶν ἐν Σκιλλοῦντι τῆς Ἠλείας, Φίλιστος ἐν Ἠπείρῳ, Τίμαιος ὁ Ταυρομενείτης ἐν Ἀθήναις, Ἀνδροτίων Ἀθηναῖος ἐν Μεγάροις, Βακχυλίδης ὁ Ἰουλιήτης ἐν Πελοποννήσῳ. πάντες οὗτοι καὶ πλείονες ἄλλοι τῶν πατρίδων [605d] ἐκπεσόντες οὐκ ἀπέγνωσαν οὐδ’ ἔρριψαν ἑαυτούς, ἀλλ’ ἐχρήσαντο ταῖς εὐφυΐαις ἐφόδιον παρὰ τῆς τύχης τὴν φυγὴν λαβόντες, δι’ ἣν πανταχοῦ καὶ τεθνηκότες μνημονεύονται· τῶν δ’ ἐκβαλόντων καὶ στασιασάντων οὐδὲ εἷς λόγος οὐδενὸς ἀπολέλειπται. Leben ja selbst auch gegenwärtig die berühmtesten und edelsten Männer im Ausland, nicht in Folge eines Zwangs, sondern aus freier Wahl, und nicht als Verbannte, [605c] sondern weil sie selbst vor den Geschäften und Zerstreuungen und Belästigungen, welche ihre Vaterstädte mit sich bringen, sich flüchteten. Und auch den Alten haben die Musen ihre schönsten und berühmtesten Werke dadurch vollendet, dass sie die Verbannung zu Hilfe nahmen. So hat der Athener Thukydides die Geschichte des Krieges zwischen Peloponnesiern und Athenern zu Skapte Hyle in Thrakien geschrieben, Xenophon verfasste seine Schriften in Skillous in Elis, Philistus in Epirus, Timaios von Tauromenion in Athen, der Athener Androtion in Megara, der Dichter Bakchylides im Peloponnes. Alle diese und noch viel mehr Andere haben, als sie ihr Vaterland [605d] verlassen mussten, sich nicht verloren gegeben und weggeworfen, sondern haben ihre Fähigkeiten nutzbar gemacht, und ihre Verbannung als ein vom Schicksal ihnen verliehenes Hilfsmittel angesehen, in Folge dessen sie überall in unsterblichem Andenken leben, während Denjenigen, welche aus Parteihass ihre Verbannung erwirkten, nicht das geringste Andenken sich erhalten hat.11
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Koselleck 2003, 68. Koselleck 2003, 69. Vgl. auch Christ 1996, 187–218 mit einer ähnlichen Skizze antiker vertriebener Historiker. Vgl. Nebelin 2012, 57: „Thukyides und Sallust beispielsweise waren gescheiterte Politiker.“ Plut. de exilio 605b–d.
222
6 Herrschaft
Herodots Familie wurde vom Tyrannen Lygdamis aus Halikarnassos verbannt.12 Dass das menschliche Glück zu keiner Zeit Bestand habe, ist nicht nur eine persönliche Erfahrung Herodots, sondern auch eine geschichtstheoretische Erkenntnis.13 Thukydides war bei der Entsetzung von Amphipolis als eigentlich zuständiger Feldherr nicht anwesend, woraufhin er verbannt wurde und den Peloponnesischen Krieg auch von Seiten der Spartaner aus verfolgen musste oder konnte.14 Hier war es die reflektierte Distanz des Besiegten und Verbannten, der dies für einen geschichtlichen Erkenntnisgewinn nutzte, nämlich dass Geschichte mehr enthält als die Beteiligten ihr abgewinnen mögen.15 Polybios wurde ebenfalls ein Perspektivwechsel aufgezwungen, als er nach der Niederlage im 3. Makedonischen Krieg als einer der 1000 internierten Kriegsgefangenen aus Achaia nach Rom kam.16 Eine von Polybios entwickelte Erklärung für die Stärke Roms wurde als geschichtliche Erkenntnis auf Dauer gestellt und ist damit immer wieder abrufbar: Der aus dem 6. Buch seiner Historien bekannte Gedanke der Überlegenheit Roms, die auf die römische Mischverfassung und das Heer zurückgeführt wurde,17 lebte bis in die Zeit der Zweiten Sophistik über den Erfahrungswandel hinweg weiter. Aelius Aristides benutzte in der Rom-Rede zwar diese Mischverfassungsthese, musste sie nun aber abwandeln, da er das monarchische Element mit dem guten Kaiser einzupassen hatte.18 Dabei beließ er den republikanischen Anschein und verschwieg, dass es sich hier nicht mehr um ein System von ‚checks and balances‘ handelte. Vielmehr macht er deutlich, dass es sich nun um ein hierarchisches Top-Down-Regime handelt.19 Ein Lob der Verfassung ist
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19
Suda, s. v. Ἡρόδοτος. Vgl. Plut. de exilio 604 f., dass einige „Historien des Herodot von Halikarnassos“ schreiben würden, viele andere aber auch „von Thurioi“, weil er sich dort der Kolonie anschloss. Hdt. 1,5,4. Thuk. 1.1. 5,26. 4,102–108. Koselleck 2003, 69 f. Paus. 7,10,1–5 über die Verräter in der griechischen Geschichte anlässlich der Behandlung des Kallikrates, der hinter der Deportation von ca. 1000 achäischen ‚Geiseln‘ nach Rom stand. Vgl. Liv. 45,31,9–11. Polyb. 30,13,6–11. 32,1–12. 33,1,3–8. 3,1 f. 14,1. 35,6,1–4. Polyb. 6,51: Rom habe über Karthago gesiegt, weil es zu diesem Zeitpunkt die bessere Verfassung hatte. Aristeid. or. 26,90: τὸ δ' ὑμέτερον οὐδὲν ὁμοίως ἔχει, ἀλλ' οἱονεὶ κρᾶσις ἁπασῶν τῶν πολιτειῶν, ἄνευ γε τῆς ἐφ' ἑκάστῃ χείρονος· οὕτω καὶ ‹τὸ› τοιοῦτον εἶδος πολιτείας νενίκηκεν. („[…] Eure Staatsform aber ist mit keiner von diesen zu vergleichen, sondern gewissermaßen eine Mischung aus allen Formen, aber ohne die Mängel, die jede einzelne zeigt. Das ist der Grund, weshalb eine solche Form staatlicher Ordnung die Oberhand gewonnen hat.“). Aristeid. or. 26,90: εἰς δὲ τὸν πάντων τούτων ἔφορόν τε καὶ πρύτανιν βλέψας, παρ' οὗ τῷ τε δήμῳ τὸ τυγχάνειν ὧν βούλεται καὶ τοῖς ὀλίγοις τὸ ἄρχειν καὶ δύνασθαι, τοῦτον ἐκεῖνον ὁρᾷ, τὸν τὴν τελεωτάτην ἔχοντα μοναρχίαν, τυράννου τε κακῶν ἄμοιρον καὶ βασιλέως σεμνότητος μείζονα. („Wenn er aber seinen Blick auf den ‚Ephoren‘ und ‚Prytanen‘ richtet, der über diesen allen steht, von dem das Volk alles erreicht, was es sich wünscht und ‚die wenigen‘ ihre Ämter und ihre Macht empfangen, so sieht er in ihm jenen, der die absoluteste Monarchie ausübt, jedoch ohne die Laster eines Tyrannen und emporgehoben über die Würde eines Königs.“). Vgl. Fontanella 2008, 211.
6.2 Tyche vs. Arete
223
dies nicht, da die Gegenwart von dem lobenswerten Maßstab der Mischverfassung abweicht.20 6.2 TYCHE VS. ARETE Die Suda fasst die kaiserzeitlichen Deutungsmuster römischer Herrschaft im Lemma Ῥωμαίων ἀρχή zusammen indem sie Dexippus zitiert: Die Römer haben ihre Vorgängerreiche übertroffen gemessen an der Menge der Angreifer und deren Mut, ihrer eigenen militärischen Strategie, der Genialität ihrer Belagerungswaffen und der Tugend ihrer Feinde.21 Die Barbaren wurden durch römische Ordnung (σύνταξις), die Griechen durch die römische Natur und Mannhaftigkeit (φύσις und ἀνδρεία) besiegt. Die Tugend der Römer, ihre eigene Stärke, war demnach für ihre Herrschaft verantwortlich, was die pro-römischen Griechen Dionysios von Halikarnassos und Strabon ebenfalls propagierten22 und damit auf teils nicht mehr erhaltene griechische Kritik antworteten. Bei Polybios wurde die Kritik noch genauer verortet: Die Abgesandten des Antiochus warfen den Römern vor, lediglich die Tyche habe den Römern die Herrschaft über die gesamte bewohnte Welt gegeben,23 womit sie die römische Herrschaft delegitimierten. Auch Plutarch und Pausanias nutzen zur Bewertung einer historischen Tat die Tyche-Arete-Dichotomie. Wenn Plutarch schreibt, Philopoimen habe durch seine vielen Siege „[…] dem Glück jeden Vorwand genommen, seine Feldherrenkunst in Zweifel zu ziehen,“24 betont er dessen Tugend als eigene Leistung gegenüber der Tyche. Dem Timotheos hingegen wurde von seinen Kritikern einst der Vorwurf gemacht, seine Erfolge als Feldherr seien nicht sein eigenes Verdienst. Er wurde in einer Karikatur damit verspottet, dass er schlafend gezeichnet wurde, während ihm
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Tatsächlich dient bereits Menander Rhetor Aristides’ Romrede als Beispiel dafür, wie man eine Stadt loben soll, die an sich nicht lobenswert ist. Men. Rhet. 359 f. empfiehlt, wenn eine Stadt eine Tyrannis war, sollte sie als Königsherrschaft beschrieben werden. Analog die Plutokratie als Oligarchie und Laokratie als Demokratie. Wenn es eine Mischverfassung wie Rom oder Sparta war, sollte man sagen, dass sie die ‚besten Merkmale von allen‘ hatte. Platon sage das in seinen Nomoi von Sparta (Platon leg. 712c) und Aristides von Rom in seiner Romrede. Tac. Ann. 4,33,1 meinte aber mit einer Polemik gegen Cicero de re publica (der das polybianische Muster auch aufgenommen hatte), dass ein Staat, der die drei Verfassungsformen in sich vereine, viel besser zu loben als tatsächlich zu verwirklichen sei. Wenn er aber verwirklicht werde, könnte er unmöglich von Dauer sein. Vgl. auch Horst 2010 allgemein zur politischen Funktion des Demokratiebegriffs in der Kaiserzeit. Suda s. v. Ῥωμαίων ἀρχή (= FGrHist 100 F12): […] ὡς ἀναμφίλογοι τῶνδε πρὸς τὰ παλαιὰ αἱ ὑπερβολαί, πλήθει τε χειρὸς τῶν ἐπελθόντων εἰκάζοντι καὶ τόλμαις ἑκατέρων καὶ στρατηγήσεσι καὶ μηχανήσεων ἐπινοίαις καὶ τῶν ἀντιπολεμησάντων ἀρετῇ. Pabst 2014a, 405. Dass die Tugend der Feinde vom Griechen Dexippos eigens hervorgehoben wird, wird im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Rom noch von Interesse sein, s. u. Kap. 7. Polyb. 21,16,8. Plut. comp. Philop. et Flam. 2,1: […] οὐδεμίαν ἀμφισβήτησιν τῇ τύχῃ πρὸς τὴν ἐπιστήμην ἀπολέλοιπεν.
224
6 Herrschaft
die Tyche mit einem Netz bewehrt die Städte einfing.25 Pausanias berichtet, dass die Akarnanen 454 v. Chr. mit ihrem gesamten Heeresaufgebot die zahlenmäßig unterlegenen Messenier in Oiniadai angreifen und belagern wollten: παρίστατο δέ σφισι πρὸ τῆς μελλούσης πολιορκίας ἀγῶνα ἐκ τοῦ φανεροῦ ποιήσασθαι, μηδὲ ὄντας Μεσσηνίους, οἳ μηδὲ Λακεδαιμονίων ἀνδρίᾳ, τύχῃ δὲ ἠλαττώθησαν, καταπεπλῆχθαι τὸν ἥκοντα ὄχλον ἐξ Ἀκαρνανίας· τό τε Ἀθηναίων ἐν Μαραθῶνι ἔργον ἀνεμιμνήσκοντο, ὡς μυριάδες τριάκοντα ἐφθάρησαν τῶν Μήδων ὑπὸ ἀνδρῶν οὐδὲ ἐς μυρίους ἀριθμόν. Vor der Belagerung allerdings wollten sie (Messenier, Anm. FU) noch eine offene Feldschlacht wagen, weil sie als Messenier, die nicht durch die Tapferkeit der Lakedaimonier, sondern durch die Tyche besiegt wurden, sich durch einen aus Akarnanien kommenden Heerhaufen nicht in Furcht und Schrecken versetzen lassen wollten. Auch erinnerten sie sich der Tat der Athener bei Marathon, wo dreihunderttausend Meder von nicht mehr als zehntausend Kriegern vernichtet wurden.26
Es ist für die Deutung und Bewertung eines Ereignisses also entscheidend, ob ein Autor den erfolgten oder erwarteten Erfolg bzw. Misserfolg einer Handlung der Arete oder der Tyche zuweist.27 Der glückliche Ausgang eines Ereignisses ist demnach zu loben, wenn ihn der Protagonist aufgrund eigener Leistung (Arete) herbeigeführt hat. Weniger Anerkennung wird man ernten, wenn die Tyche als externer Faktor beigetragen hat. Der unglückliche Ausgang eines Ereignisses ist zu tadeln, wenn ihn der Protagonist aufgrund eigenen Verschuldens, mithin mangelnder Arete, herbeigeführt hat. Hat hier die Tyche zum Scheitern beigetragen, ist der Protagonist exkulpiert. Auch wenn es sich hierbei um einen polaren Gegensatz der Verantwortungszuschreibung für den Ausgang einer Handlung handelt, erkennen wir abhängig vom Geschichtsbild dennoch unterschiedliche Gewichtungen in der Wirkweise der Tyche bei Polybios, Plutarch und Pausanias.28 Das zeigt sich exemplarisch in Plutarchs Schrift de fortuna, einem Traktat über die Frage, ob Tyche oder Wohlberatenheit (εὐβουλία) als eine Ausgestaltung der Arete das Tun des einzelnen Menschen bestimmen.29 Das Verhalten der hier beispielhaft präsentierten historischen Personen wird als deren eigene Entscheidung charakterisiert, obwohl sie generell von der Tyche begünstigt sind: Aristides (‚der Gerechte‘) bleibt bei der Armut, obwohl er reich sein könnte; Scipio rührt nichts von der Kriegsbeute an, obwohl er könnte; Alexander verhält sich sittlich untadelig gegenüber den gefangenen Perserinnen und verteidigt sie gegen Angriffe, obwohl 25 26 27
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Plut. mor. 187b. Paus. 4,25,5. Beispw. stoppt Plutarch in der Vita des Aristides seine Erzählung für eine Reflexion über das Epitheton ‚der Gerechte‘ (Plut. Arist. 6. Vgl. Bowersock 1996a, 302.). Plutarch kritisiert dort die Apotheose hellenistischer Könige, da hier wie auch in der Romulus-Vita die Vergöttlichung eines Menschen ausgeschlossen wird (Plut. Rom. 28). Nicht durch ein Gesetz einer Stadt, sondern nur durch Tugend könne man eine posthume Divinisierung erreichen. Damit ist eine Tat nur dann ruhmvoll, wenn sie auf die Tugend einer Person zurückgeführt werden kann. Walbank 1999, 16–26 zur Tyche bei Polybios. Brenk 1977, 145–183. Brenk 1987, 305–316. 335 Anm. 133 zu Plutarch. Ursin 2014a, 60–63. Hutton 2005a, 313–317. Porter 2001, 74. Swain 1996, 340 f. Heer 1979, 307–312. Pfundtner 1868 zu Pausanias. Generell zur Tyche Herzog-Hauser 1948. Plut. de fort. 97c.
6.2 Tyche vs. Arete
225
er nicht müsste. Gleichzeitig ist man auch für unsittliches Handeln verantwortlich: Lasthenes und Eutykrates richten Olynth mit ihrem Hedonismus zugrunde; Philokrates kauft mit Philipps II. Geld Prostituierte und teure Speisefische, ergibt sich somit dem Luxus. Nach Plutarch ist es kein Zufall, dass Paris von einem bösen Daimon verfolgt wird und zwei Kontinente in einen Krieg führt, weil es seine Entscheidung war, Helena zu rauben, und es somit eine Strafe einer Gottheit ist, die hier wirkt. Als Rom die – für die Griechen unvermutete – Niederlage großer Monarchien wie in Makedonien oder Syrien bewirkte, begannen die Griechen, über die Ursachen von Roms Aufstieg und den griechischen Niedergang nachzudenken. Weil Panaitios und Poseidonios das Recht des Stärkeren oder Besseren auf Herrschaft geltend machten,30 zog dies nach sich, dass nun begründet werden musste, warum die Römer die besseren waren. Bereits Polybios sah den Grund unabhängig von der Tyche einerseits in der Stärke Roms, namentlich seiner inneren politischen Verfasstheit, andererseits in der Schwäche der Griechen, namentlich der völligen μανία seiner Anführer,31 womit das Spektrum möglicher Deutungen für die Folgezeit vorformuliert war: Innerhalb einer Stärken- und Schwächen-Debatte konnte die Verantwortung für historische Erfolge oder Misserfolge der Tyche oder Arete zugewiesen werden. Dionysios von Halikarnassos, der explizit gegen eine anti-römische Strömung in der griechischen Öffentlichkeit anschrieb,32 löste das Problem damit, dass er Rom von griechischen Nachfahren gegründet wissen wollte.33 Dies würde die Römer vom Makel des Barbaren-Seins befreien, eines im griechischen Denken äußerst negativ besetzten Vorwurfs. Dionysios antizipiert, dass die Konstruktion der griechischen Wurzeln Roms bei den Griechen aber nicht auf breite Akzeptanz stoßen würde, weshalb er eventuellen Zweifeln vorgreift. Selbst wenn die Römer keine Griechen und deswegen der Herrschaft über die Griechen unwürdig seien, hätten diese aber die Vorurteile gegenüber Anderen überwunden und seien deswegen die ‚Besseren‘, womit er die griechische Dichotomie zwischen Griechen und Barbaren kritisiert. Zum Beweis des Überwindens der Vorurteile strengt Dionysios historische Vergleiche an. In einer Sequenz beschreibt er die Verfügungen des Romulus, die zur Eleutheria und Hegemonie der Römer geführt haben sollen.34 Als Vergleichsmaßstab dienen ihm Athen, Sparta und Theben. Als Vorteil der Römer sieht er an, dass sie Siedler in die eroberten Gebiete geschickt und coloniae gegründet haben, während die Griechen entweder die waffenfähigen Männer der Gegner ermordet
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Panaitios und Poseidonios bei Cic. rep. 3,24 (36). Vgl. Bleicken 1966, 228. Volkmann 1954, 465–476. Capelle 1932, 86–113. Gabba 1991a, 242 ff. Walbank 1980, 41–58 (= Walbank 2002, 193–211). Römische Ansichten über den parallelen sittlichen Niedergang der Römer bei Lintott 1972, 626–638. Dion. Hal. ant. 1,4. 89. Gabba 1991b, 246. Dion. Hal. ant. 2,16 f.
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6 Herrschaft
oder versklavt hatten. Durch den klugen Gebrauch der Bürgerrechtspolitik hätten die Römer hingegen andere an ihrem Reich teilhaben lassen.35 Die Lakedaimonier, Thebaner und Athener, die sich ob ihrer Weisheit rühmten, sieht Dionysios den Römern in der Bürgerrechtspolitik unterlegen.36 Die Bürger griechischer Poleis seien stolz auf ihre Geburt, würden nur sehr wenige Fremde in ihre Stadt aufnehmen oder sie sogar vertreiben, was ihnen selbst zum Nachteil gereiche. Nach Leuktra seien die Spartaner nach dem Verlust einer großen Zahl ihrer Bürger nie mehr in die Lage versetzt worden, ihre vorherige Position wieder zu erreichen. Die Thebaner und Athener hätten durch die einzelne Glücklosigkeit (ἀτύχημα) von Chaironeia ihre von den Vorfahren ererbte Freiheit verloren und die Führungsrolle von Griechenland eingebüßt. Rom hingegen, als es sich mehreren Gefahren vor und während der Punischen Kriege ausgesetzt sah, ging aus diesen Bedrohungen sogar gestärkt hervor: Dank der Zahl seiner Soldaten und nicht aufgrund einer wohlwollenden Tyche, wie es einige behaupten würden.37 Strabon nimmt eine ähnliche Position wie Dionysios ein, da bei ihm die Römer durch τὸ πολεμεῖν καὶ πολιτικῶς ἄρχειν ganz Italien eingenommen haben.38 Durch dieselbe Arete (τῇ αὐτῇ ἀρητῇ) haben sie auch die umliegenden Gebiete hinzuerworben, also auch Griechenland. Im Zusammenhang mit dem römischen Heerwesen bemerkt Josephus, dass die Römer den Besitz ihres Reiches „nur ihrer eigenen Tüchtigkeit verdanken und nicht als Geschenk des Glücks […].“39 Diesen drei Positionen ist gemeinsam, dass sie aus einer pro-römischen Perspektive die Arete der Römer betonen und damit auf die weitverbreitete griechische Kritik am Aufstieg Roms reagieren. Diese Kritik hat darin bestanden, den Aufstieg Roms und Sieg über die griechische Welt lediglich auf die Tyche der Römer zurückzuführen und damit zu entwerten. Nach den ausnehmend positiven griechischen Stimmen augusteischer Zeit, die – das muss immer mitbedacht werden – auch eine Reaktion auf anti-römische griechische Kritik darstellen, sehen wir erstmals wieder in der Zeit Plutarchs einen subtilen Angriff auf die römische Herrschaftslegitimation. Über das Verhältnis von Tyche zu Arete bei Plutarch gibt es im Zusammenhang mit den Römern eine lange 35
36 37 38 39
Dion. Hal. ant. 4,24,8. 14,6,3. Gabba 1991b, 249 spekuliert, dass Dionysios die Schlacht von Actium als einen Sieg des Westens über den Osten sah. Wenn dem so war, wird seine Forderung verständlich, auch die ‚Besten‘ der östlichen Provinzen in die Verwaltung des Reiches zu integrieren. Darüber hinaus beeindruckte die liberale Vergabe des römischen Bürgerrechts neben Dionysios auch Aristeid. or. 26,59 und Dion Chrys. or. 41,9. Vgl. zum römischen Bürgerrecht von griechischer Seite allgemein Sherwin-White 1973, 425–444 und Alföldy 2011, 134 f. Spezieller: Oliver 1953, 926 f. Zur Integration der Provinzialen vgl. die Beiträge in De Kleijn/ Benoist 2013. Dion. Hal. ant. 1,17,1. Dion. Hal. ant. 1,17,3. Vgl. auch das fiktive Streitgespräch zwischen Mettius Fufetius (für die Griechen) und Tullius Ostilius (für die Römer) bei Dion. Hal. ant. 3,9–11. Strab. 17,3,24 p. 839. Ios. BJ 3,237: εἰ δέ τις αὐτῶν καὶ εἰς τὴν ἄλλην σύνταξιν τῆς στρατιᾶς ἀπίδοι, γνώσεται τὴν τοσήνδε ἡγεμονίαν αὐτοὺς ἀρετῆς κτῆμα ἔχοντας, οὐ δῶρον τύχης. Vgl. auch Ios. BJ 3,381: Der ἀρητή der Römer unterlagen auch die Kyrenaier, die von lakedaimonischer Abstammung waren, die Marmariden, die Nasamonen, Mauren und das zahlreiche Heer der nordafrikanischen Nomaden.
6.2 Tyche vs. Arete
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Forschungsdiskussion,40 obwohl Plutarch in aller Deutlichkeit seine Standpunkte darlegt. Es wurde versucht die entsprechenden Schriften de fortuna Romanorum, de Alexandri Magni fortuna aut virtute oratio (libri) I et II, de fortuna und de gloria Atheniensium teilweise als Schulübungen seiner Jugend zu deklassieren, um ihn vom vermeintlichen Makel des Anti-Romanismus zu befreien. Swain hat aber nachgewiesen, dass die Verwendung der Tyche in de fortuna Romanorum mit der in seinen als seriös betrachteten Schriften übereinstimmt.41 Die sorgsam komponierten, subtilen und mit reichhaltigen Exempla versehenen Schriften widerlegen durch sich selbst die Behauptung, sie seien lediglich rhetorische Stilübungen. Diese Behauptung soll letztlich nur dazu beitragen, das Bild von Plutarch als besonnenem Vermittler zwischen Griechen und Römern aufrecht zu erhalten. Außerdem wurde bisweilen die Uneindeutigkeit von Plutarchs Standpunkt in der Frage der Verantwortung von Tyche oder Arete in Bezug auf Roms Aufstieg kritisiert. Diese Uneindeutigkeit war aber keine jugendliche Sorglosigkeit, sondern ein Mittel subtil vorgetragener Werturteile über Rom, was im Folgenden zu zeigen sein wird. In de fortuna Romanorum geht es um die Frage, ob Arete oder Tyche für Roms Gründung und den Verlauf seiner Geschichte bedeutender ist. Plutarchs erklärtes Ziel ist die Beseitigung der grassierenden Vorurteile, was in der Zeit vermeintlicher Anerkennung der römischen Herrschaft durch die Griechen Aufmerksamkeit verdient. Die Vorurteile gegenüber der Arete sind, dass sie schön aber unnütz, gegenüber der Tyche, dass sie gut aber unbeständig sei.42 Plutarch trennt beide Prinzipien nicht als wirkmächtige Instanz in der Geschichte, da er sie zwar miteinander kämpfen sieht, sie aber bei Herrschaft und Macht eine Verbindung eingehen.43 Beispielsweise konstatiert er für Romulus: Die Tyche hat den Grund gelegt, die Arete das Projekt Rom aber vollendet.44 Damit ist die Frage obsolet, ob entweder Arete oder Tyche jeweils ausschließlich für Roms Aufstieg zur Weltmacht verantwortlich zeichnen. Nach dem oben Gesagten lässt sich einerseits festhalten, dass Arete auf der personalen Ebene angesiedelt ist, sodass der handelnde Mensch auch für sein Handeln verantwortlich gemacht wird und zweitens, dass die Tyche sowohl auf der personalen als auch auf der kollektiven Ebene wirkt.45 Plutarch lässt die kollektiv wirksame Tyche eine Liste historischer Weltreiche abschreiten, die verglichen mit anderen Weltreichslisten singulär ist.46 Von Persien, Assyrien, Makedonien, Ägypten, Syrien über Karthago wechselte die Tyche ihren Wohnsitz bis sie auf dem Palatin in 40 41 42 43 44 45
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Vgl. zusammenfassend Swain 1989a. Swain 1989b. Plut. de fort. Rom. 316c. Plut. de fort. Rom. 316e–f. Die Gottheit, die Rom gegründet hat, hat Arete und Tyche gemischt und verbunden. Plut. de fort. Rom. 319b. 320a. Nicht nur in de fort. sondern auch hier in de fort. Rom. verfolgt Plutarch den Gedanken einer auf das Individuum bezogenen Tyche. Er gibt 318b–d wieder einen Katalog mit historischen Personen, bei denen die Tyche weilte, äquivalent zu dem Katalog der Weltreiche, vgl. ebd. 317 f.–318a. Vgl. Kap. 4.2.2.
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6 Herrschaft
Rom heimisch wurde.47 Vor Roms Herrschaft habe in den anderen Reichen Chaos geherrscht bis Friede und Ordnung durch Rom in Italien und Übersee geschaffen wurde.48 Der kollektiv wirksamen ‚nationalen‘ Tyche stellt Plutarch die individuelle Tyche einzelner Römer gegenüber: Numa Pompilius und Tarquinius Priscus waren fremd in Rom und die Tyche machte sie zu Königen; Aemilius Paullus, Caecilius Metellus Macedonicus, Aemilius Scaurus zeigten durch verschiedene Manifestationen ihre persönliche Tyche und Sulla bezeichnete sich selbst als Sohn der Tyche.49 Bei Plutarch finden wir also nicht das Recht des Stärkeren auf Herrschaft wie bei Dionysios, sondern Rom als Friedens- und Ordnungsmacht, gestützt auf die ‚kollektive Tyche‘ der Römer als auch auf die ‚individuelle Tyche‘ herausragender römischer Feldherren. Diese Überzeugung findet sich auch in der Schrift über die Tyche Alexanders. Plutarch stellt Alexander dort als Philosophen vor, dessen Aufgabe es gewesen sei, rohe Sitten zu mildern, insofern er die Barbaren hellenisierte, d. h. zivilisierte.50 Die über 70 Städtegründungen Alexanders hätten über Asien die griechische Kultur verbreitetet und überwanden die rohe und wilde Lebensweise der ursprünglichen Bewohner.51 Insbesondere die Metropolen wie Alexandria in Ägypten oder griechische Städte am Kaukasus hätten dafür gesorgt, dass das Schlechte vom Besseren überwältigt wurde. Die von Alexander besiegten Völker seien durch seine Herrschaft glücklicher geworden als die von ihm nicht beherrschten. Griechen und Barbaren solle man nicht nach dem Äußeren trennen, sondern den Griechen an seiner Tugend, den Barbaren an seiner Schlechtigkeit erkennen.52 47
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Plut. de fort. Rom. 317 f.–318a. Das römische Glück wuchs beständig von Anfang an und der μέγας δαίμων atmete bildlich gesprochen nicht nur an einem Tag: wie der Daimon der Makedonen, Lakedaimonier, Athener, Perser und Kolophonier (Plut. de fort. Rom. 324b–c). Die Lakedaimonier hatten zwar nur zu Lande, die Athener nur zu Wasser Glück, militärische Erfolge waren es aber allemal. Der Daimon der Römer bescherte ihnen aber zu Wasser und zu Lande, im Krieg und im Frieden als auch gegen Barbaren und Griechen Erfolg. Plut. de fort. rom. 317b. Ähnlich Aristeid. or. 26,103 mit στάσις, θόρυβος und ἀταχία. Plut. de fort. rom. 318b–d. Aemilius Paullus (im Krieg mit Perseus und den Makedonen), Caecilius Metellus Macedonicus (wegen der vielen konsularischen Söhne), Aemilius Scaurus (aus niedrigem Stand in den Senat gelangt), Sulla (der sich als Sohn der Tyche bezeichnete). Gegenüber den Griechen bezeichnete sich Sulla jedoch mit dem Epitheton ‚Epaphroditos‘, vgl. zur Deutung Eckert 2016, 119–138. Plut. de fort. Alex. 328b–329d. Alexander kultivierte Asien indem er dafür sorgte, dass dort Homer gelesen wurde, die Perser, indem dort die Tragödien des Euripides und Sophokles aufgeführt wurden, vgl. auch Plut. Alex. 8. Plut. de fort. Alex. 328e. Plut. de fort. Alex. 329c: τὸ δ' Ἑλληνικὸν καὶ βαρβαρικὸν μὴ χλαμύδι μηδὲ πέλτῃ μηδ' ἀκινάκῃ μηδὲ κάνδυι διορίζειν, ἀλλὰ τὸ μὲν Ἑλληνικὸν ἀρετῇ τὸ δὲ βαρβαρικὸν κακίᾳ τεκμαίρεσθαι. Vgl. ähnlich bereits Eratosthenes bei Strab. 1,9 p. 66C Z. 26 f.: Menschen solle man auf Grundlage ihrer Tugend (ἀρητή) oder Schlechtigkeit (κακία) einteilen. Angesichts der Tatsache, dass einerseits viele Griechen schlecht und andererseits viele Barbaren zivilisiert seien, habe Alexander die Angesehenen unter den Barbaren allerdings anerkannt. Als Beispiel für zivilisierte Barbaren bringt schon Eratosthenes Inder, Arianer, Karthager und Römer. Badian 1958, 440– 444 hat gezeigt, dass Aristoteles nicht die Quelle für den Rat an Alexander war, die Griechen als Freunde, Barbaren als Feinde zu betrachten. Vgl. Dion. Hal. ant. 14,6,4–6, dass die Römer durch ihre Zivilisiertheit zu wahren Griechen werden, die Griechen hingegen ob ihrer Kämpfe
6.2 Tyche vs. Arete
229
Der von Plutarch hier formulierte Anspruch Alexanders, einerseites durch seine Herrschaft und andererseits durch die Verbreitung der griechischen Zivilisation die Besiegten glücklicher gemacht zu haben, konfligiert mit dem bei Dionysios vorgetragenen römischen Anspruch, dass die römische Herrschaft ihrerseits besser für die Untertanen sei. Wenn wir nicht den Fokus auf diesen Widerspruch legen wollen, könnten wir den Aspekt des affirmativen Forderns53 ausmachen, d. h., dass die Römer die Griechen zu deren Wohl zu beherrschen haben, wenn sie schon über sie herrschen. Doch die evozierte Frage bleibt: Wären die Griechen unter der Herrschaft Alexanders glücklicher als unter der der Römer? Die Konfrontation zwischen Alexander und den Römern wurde tatsächlich bereits in der Antike im Rahmen kontrafaktischer Überlegungen diskutiert. Das Aufzeigen von alternativen Handlungsverläufen dient in der Historiographie meist der Sichtbarmachung des tatsächlichen Handlungsverlaufs,54 eröffnet dadurch aber auch einen Möglichkeitsraum, der Gegenwartskritik im Sinne eines diskursiven Widerstandes ermöglicht.55 Überlegungen zu kontrafaktischer Geschichte trägt Plutarch nicht nur zu einer hypothetischen Begegnung zwischen Alexander und Rom vor, sie beziehen sich explizit auf die bei Dionysios angesprochene Kritik an den Anfängen Roms: Wenn nämlich die Wölfin Romulus und Remus nicht gestillt hätte, gäbe es heute keine Paläste, Tempel, Theater, Spaziergänge, Märkte und Rathäuser, sondern lediglich einige Hütten und Ställe von Hirten, die von Albanern, Etruskern oder Latinern beherrscht wären.56 Plutarch vertritt die von Dionysios bekämpfte Ansicht, dass Roms Anfänge sehr bescheiden sind und keinesfalls Anerkennung verdienen würden: Roms erster Herrscher bildete die Stadt aus Wilden und Hirten (ἐξ ἀγρίων καὶ βοτήρων).57 In einer durch die Tyche vermittelten Phase der Ruhe und des Friedens konnte sich Rom unter Numa, bei dem offensichtlich εὐτυχία waltete,58 festigen. Wäre damals aber ein Porsenna, Marserfürst (Anspielung auf den Bundesgenossenkrieg), Lucaner etc. gekommen, hätte sich der gerade opfernde Philosoph Numa nach Plutarch sehr erschrocken.
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gegeneinander als Barbaren erscheinen. Wie die Athener Samos oder die Lakedaimonier Messenien behandelt haben, sei gleich den grausamsten Misshandlungen, die Barbaren ihren Verwandten zufügten. Dionysios vermeidet es, weitere Beispiele aufzuzählen, da ihn allein die Aufzählung traurig machen würde. Vgl. Seelentag 2004, 30 und s. o. Kap. 4.3.4. Die hypothetische Frage ‚Was wäre geschehen, wenn …?‘ findet sich bereits in der Historiographie des 5. Jh. v. Chr. Hdt. 7,138 benutzt kontrafaktische Überlegungen, um die Rolle der Athener beim Sieg über die Perser zu betonen, vgl. Meister 1997, 128–133 und Weber 2000, 11–13 zur Stelle. Thuk. 2,65 (mit Will 2000, 27–36) sinniert darüber, was passiert wäre, wenn Perikles nicht gestorben wäre und die Athener seinen Kriegsplan durchgeführt hätten. Zur kontrafaktischen Geschichte in der Antike allgemein Demandt 2011. Brodersen 2000. Nesselrath 1992. Nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in der Rhetorik hat die kontrafaktische Geschichte ihren festen Platz, vgl. Walter 2004, 335 Anm. 541 mit entsprechenden Themen für suasoriae. Whitmarsh 2013 und s. u. Kap. 7. Plut. de fort. Rom. 321a. Plut. de fort. Rom. 321e. Plut. de fort. Rom. 321b.
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6 Herrschaft
Durch das kontrafaktische Bild der Römer als fremdbeherrschtem Hirtenvolk hat Plutarch geschickt seine wahre Ansicht über die Anfänge Roms dem Leser offenbart. Ähnliches finden wir auch bei Dion Chrysostomos, der mit Numa die spätere Eudaimonia der Römer entstehen lässt – im Gegensatz zu der recht ärmlichen Verfassung der Stadt vor ihm. Νουμᾶς δὲ τὴν Ῥώμην παραλαβὼν μικρὰν καὶ ἄδοξον, ἔτι δὲ ἐν ἀλλοτρίᾳ χώρᾳ διῳκισμένην καὶ σύγκλυδας καὶ πονηροὺς ἔχουσαν τοὺς ἐνοικοῦντας, ἔτι δὲ τοῖς προσχώροις πᾶσιν ἐχθροὺς καὶ πένητας καὶ ἀγρίους καὶ ἐπικινδύνως ζῶντας τὴν Ῥωμύλου χαλεπότητα, τήν τε γῆν αὐτοὺς βεβαίως ἔχειν ἐποίησε καὶ φίλους εἶναι τοῖς περιοίκοις καὶ νόμους καὶ θεοὺς καὶ πολιτείαν κατεστήσατο, καὶ πάσης αἴτιος ὑπῆρξε τῆς λεγομένης ὕστερον εὐδαιμονίας. Numa hingegen übernahm Rom als kleine und unbedeutende Stadt, in fremdem Land von zusammengespülten Gesindel bewohnt, dazu mit allen Grenznachbarn verfeindet, arm und wild, wegen der Gewalttätigkeit des Romulus ein Leben voller Gefahren lebend. Er nun ermöglichte es den Römern, ihr Land in Sicherheit und in Freundschaft mit den Nachbarn zu bewohnen, gab ihnen Gesetze, Götter und Verfassung und wurde so zum Urheber ihres späteren Glücks, von dem die ganze Welt spricht.59
Plutarch bringt am Ende von de fort. Rom. Alexanders Plan ins Spiel, sich auch nach Westen zu wenden und damit für die Römer eine Gefahr zu werden.60 Der Tod des Alexander von Epirus61 hätte Alexander dem Großen einen Vorwand für den Übergang nach Italien geboten. Glück der Römer sei es gewesen, dass Alexander vorher starb. Alexander habe bereits gehört, τῆς δ’ Ἰταλίας ἐπυνθάνετο τὴν ἐν Ῥώμῃ δύναμιν καὶ ἀλκὴν ὥσπερ στόμωμα προτεταγμένην, ὄνομα γὰρ καὶ δόξα τούτων ἐπιφανεστάτη διεπέμπετο πρὸς αὐτὸν ὥσπερ ἀθλητῶν μυρίοις ἐγγεγυμνασμένων πολέμοις […]. […] dass Roms Stärke und Kraft Italien, gleich einem Schwerte, zur Schutzwehr diene, indem der Name und der Ruhm dieses Volks, wie der eines Athleten, der in unzähligen Kämpfen sich geübt bis zu ihm hindurchgedrungen war.62
Die zwei Homerzitate aus der Odyssee am Schluss der Schrift weisen durch ihren Kontext, aus dem sie entnommen sind, auf die nicht ausgeführte Prognose Plutarchs einer hypothetischen Auseinandersetzung zwischen Rom und Alexander hin. οὐ γὰρ ἀναιμωτί γε διακρινθήμεναι οἴω, συμπεσόντων ὅπλοις ἀνικήτοις φρονημάτων ἀδουλώτων. πλῆθος μὲν γὰρ ἦσαν οὗτοι τρισκαίδεκα μυριάδων οὐκ ἐλάττους, πολεμικοὶ δὲ καὶ ἀνδρώδεις ἅπαντες, ἐπιστάμενοι μὲν ἀφ’ ἵππων ἀνδράσι μάρνασθαι καὶ ὅθι χρὴ πεζὸν ἐόντα.
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Dion Chrys. or. 25,8. Plut. de fort. Rom. 326a–c. Vgl. Liv. 8,3,6. 17. 24. Strab. 6,1,5. Er war Alexanders Onkel, der Bruder von Olympias. Plut. de fort. Rom. 326b–c. Plutarch nimmt hier mit Ῥώμῃ δύναμιν καὶ ἀλκὴν sicher Bezug auf das Wortspiel ῥώμη (Kraft, Gewalt, Heeresmacht) – Ῥώμη (die Stadt). Vgl. auch das Wortspiel Ῥώμη – ῥύμη in Sibyll. Orac. 3,364 (Rom wird eine Gasse sein).
6.2 Tyche vs. Arete
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Denn nicht trennten fürwahr sich ohne Blut auseinander [Beide], wenn es bei ihren unbesiegten Waffen und ungebeugten Mut zum Kampfe gekommen wäre. Denn ihre Menge betrug nicht weniger als dreizehn Myriaden, lauter kriegerische und tapfere Männer geübt vom Rossegeschirre, Und wenn’s galt, auch zu Fuße, den Kampf zu kämpfen mit Männern.63
Dass sich die beiden nicht ohne Blut trennen lassen werden, gehört zu der Prophezeiung, dass die Freier durch Odysseus umkommen werden. Geübt beim Reiten und im Fußkampf sind die Männer, die sich an Odysseus für einen Überfall revanchieren. Beschränkt man sich in der Deutung der Homerzitate nicht darauf, dass die Auseinandersetzung heftig sein würde, muss man mit einer Überlegenheit Alexanders rechnen, der (so Plutarch kurz vorher), bei seinen Eroberungen ebenfalls vom Glück getragen wurde.64 Für Livius hätten die Römer einen möglichen Krieg mit Alexander allerdings aufgrund ihrer militärtechnischen Überlegenheit klar für sich entschieden.65 Ihre Stärke hätte aus seiner Sicht die von ihm in einem Exkurs konstruierte Schwäche Alexanders bezwungen. Zudem wird die Tyche Alexanders vom Römer Livius eher als Makel denn als Auszeichnung gesehen. Eine subtile Spitze Plutarchs ist die Bemerkung, dass der Arete-Tempel im Vergleich zu den ganz frühen Tyche-Tempeln unter Ancus Marcius oder Servius Tullius erst spät in Rom gebaut wurde. Der virtus wurde erst unter Marcellus nach der Eroberung Siziliens und der mens unter Aemilius Scaurus zur Zeit des Kimbernkrieges ein Tempel errichtet.66 Der Unterschied zwischen beiden Tempeln bestünde aber darin, dass der spätere Tempel errichtet wurde, als schon griechische Rhetorik und Sophistik nach Rom gekommen seien. Bis heute hätte man aber keinen Tempel 63 64 65
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Plut. de fort. Rom. 326c. Vgl. die Homerzitete Hom. Od. 9,49 f. 18,148. Plut. de fort. Rom. 326a. Liv. 9,17–19: 250 000 Römer hätten 30 000 Griechen und 4000 thessalischen Reitern gegenüber gestanden; beim Krieg in Italien würden die Bundesgenossen zu Rom stehen, Nachschub wäre immer da, Alexander hätte nur altgediente Soldaten; wenn Inder und Perser dabei wären, wäre dies mehr ein Hindernis als eine Hilfe; Alexander wäre es wie Hannibal ergangen, dem das Heer beim Krieg in einem fremden Land alt und grau geworden wäre; die Makedonen sind ausgerüstet mit Rundschild und Sarissa, die Römer mit Langschild, das besser schützt, und dem Pilum, das beim Stoßen und Werfen wirksamer als die Lanze ist; die makedonische Phalanx war starr und einförmig, die römischen Reihen stärker gegliedert und flexibler; der römische Soldat hält Strapazen eher aus und ist sehr gut beim Schanzen; eine Niederlage hätte Alexander den Krieg verlieren lassen, die Römer haben aber aufgrund ihrer Resilienz die Niederlagen von Caudium und Cannae überstanden; Alexander hätte sich nach Persern, Indern und dem unkriegerischen Asien zurückgesehnt, so wie Alexander von Epirus einst sagte als er tödlich verwundet wurde, dass er bisher nur mit Weibern Krieg geführt habe; der erste punische Krieg hat 24 Jahre gedauert, Alexanders Lebenszeit hätte nicht für einen solchen Krieg ausgereicht; Rom und Karthago hätten sich gegen Alexander verbündet; Rom hat ohne Niederlage und Gefahr für sich später mit den Makedonen Antiochus, Philipp und Perseus Krieg geführt. – Die anderen beiden kontrafaktischen Überlegungen bei Livius sind Liv. 2,1,3–6 (der richtige Zeitpunkt von Brutus’ Beendigung der Königsherrschaft) und Liv. 5,51–54 (Camillus-Rede, dass man nicht nach Veii umziehen sollte). Zu allen drei Stellen vgl. Walter 2004, 336–338. Außerdem Morello 2002 und Oakley 2007, 184–206. Plut. de fort. Rom. 322c–d.
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der Sophia, Sophrosyne, Karteria oder Megalopsyche. Plutarch wertet hier nicht explizit, der geneigte Leser kann aber ohne Schwierigkeiten in dem aufgezeigten römischen Defizit an Tugend-Tempeln eine Wertung vornehmen. Die könnte darin bestehen, dass die Griechen aufgrund ihrer Arete zwar kein Weltreich geschaffen haben, dafür aber die glücklicheren und tugendhafteren Menschen seien. Wenn die römische Arete allein auf militärischer Übermacht beruht, die Römer diesen Vorteil aber nicht weise und besonnen zu ihrer Herrschaft nutzen, sind die Griechen ihnen damit überlegen, da sie diese Qualitäten für sich beanspruchen. Indem nicht nur die Tyche die Römer bei allen Unglücken aufrecht hielt (Gallier, Allia, Camillus etc.),67 sondern bei den meisten ihrer großen Kriege überhaupt erst für den Erfolg sorgte, relativiert Plutarch die militärischen Erfolge der Römer:68 Hannibal wurde durch Neid und Zwietracht seiner Mitbürger in Italien (wie ein Bach) ausgetrocknet; die Heere der Kimbern und Teutonen wurden von der Tyche getrennt, dass Marius sie einzeln besiegen konnte; Antiochus war beschäftigt, als Philipp bekriegt wurde; während des Marserkrieges war Mithridates beschäftigt und Tigranes war durch Verdacht und Neid von ihm getrennt. Als sie sich vereinigten gingen sie gemeinsam unter. Plutarch erwägt die Version des Polybios,69 dass die Gallier nach dem mit Camillus geschlossenen Frieden eine Nachricht erhielten, dass es einen Einfall in ihrer Heimat gab.70 Wenn dem so war, resümiert Plutarch, so war die Tyche die Ursache für Roms Rettung. Somit werden Roms genuine Leistungen sowohl bei der Abwehr von Bedrohungen als auch bei erfolgreichen Kriegen signifikant reduziert, da sie der Schwäche der Feinde geschuldet waren. Pausanias bemerkt anlässlich des in seiner Zeit darniederliegenden Megalopolis, wie einstmals große Städte klein geworden sind: „Der Daimon hat sie zu einem Nichts gemacht.“71 Den erst gestern gegründeten Städten Alexandria in Ägypten und Seleukeia am Orontes wurde im Vergleich zu den älteren Städten Größe (μέγεθος) und Glück (εὐδαιμονία) zu teil, weil es ihnen die Tyche gab (ὅτι σφᾶς ἡ τύχη δεξιοῦται).72 Verantwortlich für historischen Wandel sind bei Pausanias also Daimones und die Tyche gemeinsam, denen er den Vorrang vor individueller Arete zuschreibt:
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Plut. de fort. Rom. 324e–325 f. Plut. de fort. Rom. 324c. Vgl. Polyb. 2,18. 22. In Plutarchs Darstellung ist das römische Geschichtsbild von den Zäsuren durchzogen, die auch die Römer markieren. Plutarch wendet sich in de fort. Rom. 323e von der dunklen Königszeit ab und den Kriegen der Römer zu (d. i. die historische Zeit). Die zweite Zäsur liegt analog zu Liv. 6,1 beim Rombrand nach dem Galliereinfall. Über die Zeit davor könne man nichts mit Bestimmtheit sagen, da die Geschichtsbücher durcheinandergeraten seien. Paus. 8,33,3: ταῦτα μὲν δὴ ἐποίησεν ὁ δαίμων εἶναι τὸ μηδέν· Paus. 8,33,3. Vgl. Hdt. 1,5, der dieselbe Beobachtung hinsichtlich der Dynamik von Stadtentwicklungen macht. Hutton 2005a, 193 und 313 will in Paus. 8,33,1–3 dahingehend eine Imitation Herodots sehen. In Anlehnung an Herodot untermauert Pausanias jedoch lediglich seine geschichtstheoretische These mit Beispielen. Die Abhängigkeit besteht zwar, sollte jedoch nicht als Argument für die These von einer reinen Nacherzählung herodoteischer Vorstellungen von der Historie hergenommen werden. Vgl. Ursin 2014a, 62. Ameling 1996, 145.
6.3 Kulturgriechen und Herrschaftsrömer
233
κεῖνται δὲ καὶ οἱ περὶ Κόρινθον πεσόντες· ἐδήλωσε δὲ οὐχ ἥκιστα ὁ θεὸς ἐνταῦθα καὶ αὖθις ἐν Λεύκτροις τοὺς ὑπὸ Ἑλλήνων καλουμένους ἀνδρείους τὸ μηδὲν ἄνευ Τύχης εἶναι […]. Hier liegen die bei Korinth Gefallenen. Und auch die Gefallenen von Leuktra haben gezeigt, dass diejenigen, die von den Griechen tapfer genannt werden, nichts sind ohne die Tyche.73
Die Spartaner, denen unter allen Griechen am ehesten die Tugend der Andreia zugeschrieben wurde, mussten bei Leuktra gegen den Thebaner Epameinondas eine Niederlage einstecken. Ihre ‚innere Kraft‘ vermochte die Wirkung der ‚äußeren Kraft‘ der Tyche nicht zu kompensieren. Vergleichen wir dies mit Polybios, bei dem das Tyche-Konzept ähnlich stark wie bei Pausanias Verwendung fand, erkennen wir Ähnlichkeiten. Epameinondas oder Philopoimen, die aufgrund ihrer eigenen Tugenden erfolgreich waren, wurden bei Polybios nicht aufgrund eigener Fehler besiegt, sondern von der Tyche.74 Tugenden waren mithin die Grundlage für historische Erfolge, für welche die Tyche einen unabdingbaren Beitrag leistete. Das bedeutet aber auch, dass bei entsprechend tugendhaftem Verhalten eine historische Niederlage in den Bereich der Tyche externalisiert wurde. Damit lag die Niederlage nicht mehr in der Verantwortung der Handelnden, womit sie von diesem Makel freigesprochen waren. 6.3 KULTURGRIECHEN UND HERRSCHAFTSRÖMER In der Forschung wird überwiegend die bereits antike These von den ‚Kulturgriechen‘ vertreten, die ihre Identität mithilfe ihrer Vergangenheit aufrechterhielten und kein Problem mit einer politischen Identität als Römer gehabt hätten.75 Es ist allerdings fragwürdig, ob die fortwährende Erinnerung an den griechischen Freiheitskampf in der Kaiserzeit überhaupt dazu geeignet war, fundierend für eine kulturelle Identität der Griechen zu dienen. Da einerseits kontrapräsentische Erinnerungen vorherrschten und die griechische Identität nicht konfliktfrei neben der römischen Identität stand, ist mit einem deutlich höheren Kritikpotenzial zu rechnen, als dies bisher angenommen wurde. Die römische Perspektive auf die Griechen propagierte seit spätrepublikanischaugusteischer Zeit die These der Teilung in die distinkten Aufgabenbereiche Herrschaft und Kultur. Der locus classicus findet sich in der Prophezeiung des Anchises in Vergils Aeneis.76 Bereits in Ciceros Tusculanen wird das Thema vorgedacht, wonach die Griechen in Kunst und Literatur den Römern überlegen seien, die Römer sich aber sowohl in sozialen und politischen Institutionen auszeichnen als auch in der Kunst des Krieges.77 Die kulturelle Eroberung Roms durch die Griechen bei 73 74 75
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Paus. 1,29,11. Polyb. 9,8,13 zu Epameinondas und 23,12,3 zu Philopoimen. Vgl. Walbank 1999, 18. Vgl. bspw. Peirano 2010, 42. Stephan 2002, 333. Desideri 2002, 223 f. Schmitz 1999, 84. Schmitz 1997, 175–181. Humbert 1991. Bowie 1991. Nikolaidis 1986, 229–244. Palm 1959, 14. Als Belege werden von der Forschung insbesondere Dion. Hal. ant. 14,6,6. Plut. fort. Alex. 329c. Dion Chrys. or. 32,3. Aristeid. or. 1,326 angeführt. Vgl. Kap. 2.1. Verg. Aen. 6,847–853. Cic. Tusc. 1,1–5.
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6 Herrschaft
Horaz ist darüber hinaus eine vollständig harmlose, weil für die römische Herrschaft folgenlose, Ansicht.78 Bei Horaz finden wir ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis von Herrschaft und Kultur. „Kaum hatte das Griechenvolk die Kriegswaffen abgelegt, da griff es zu heiterem Spiel und, vom Glück begünstigt, begann es gleich ins Übermaß zu gleiten.“79 Was bei Horaz darauf folgt, sind allesamt griechisch konnotierte Kulturelemente wie Ringkampf, Wagenrennen, Kunsthandwerk, Gemälde, Musik und Theater (die die Griechen auch vorher in ihrer kriegerischen Zeit praktizierten). Die Römer hätten sich erst spät diesen griechischen Dingen zugewandt, und zwar erst nach den Punischen Kriegen, woraufhin sie sich die Frage stellten, was Sophokles, Thespis und Aischylos ihnen Nützliches zu bieten hätten.80 Horaz fordert die Römer auf: „Nehmt ihr euch zu Mustern die Griechen: nehmt sie zu jeder Zeit zur Hand, bei Tag und Nacht.“81 Er bezieht dies jedoch ausschließlich auf die griechische Literatur. Hieraus ergibt sich, dass sich Krieg und Kultur für Horaz gegenseitig ausschließen. Die Übernahme griechischer Kultur (im Sinne von Bildung) durch die Römer wird auch von Plutarch eigens betont, deren Mangel aber z. B. bei Marius und Coriolan explizit kritisiert.82 Wenn Plutarch in der Numa-Vita – in seinen Augen – abstruse Deutungen präsentiert, von denen er sich explizit distanziert, sollte dies aufmerksam machen. Eine referierte Extremposition besagt dort, dass griechische Bildung schon vor der römischen Eroberung Griechenlands nach Rom gelangt sei, was über Horaz’ These hinaus gehen würde.83 Plutarch kritisiert, dass erst durch die Missachtung der Chronologie der Spartaner Pythagoras den römischen König Numa beeinflusst habe.84 Die Annahme, dass Numa ein Schüler des Philosophen Pythagoras gewesen war, sei dadurch entstanden, dass man einen Olympiasieger Pythagoras mit dem Philosophen gleichgesetzt hatte. Die Distanzierung von dieser z. B. bei Ovid85 anzutreffenden Geschichte macht deutlich, wie sich Plutarch durchaus diplomatisch vom Geschichtsbild der Römer distanziert.86 Sowohl im Numa als auch im Romulus ist Plutarch skeptischer als 78 79 80 81 82 83 84
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Hor. epist. 2,1,156 f. (graecia capta). Hor. epist. 2,1,93 f.: ut primum positis nugari Graecia bellis coepit et in vitium fortuna labier aequa. Hor. epist. 2,1,161–163. Hor. ars 268–274: vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna. Plut. Marius 2. Coriol. 1. Swain 1995, 234 zeigt, dass Plutarch in den römischen Viten ein größeres Augenmerk auf deren Paideia legt als bei den Griechen. S. u. Kap. 6.4. Vgl. van der Stockt 2013, 34–38. Plut. Numa 1. Eigentlich hätte Pythagoras fünf Generationen nach Numa gelebt. Die Chronologie sei durcheinandergekommen nach dem Galliersturm, sodass es möglich sei, einen pythagoreischen Einfluss auf Numa zu behaupten. Zudem sei Numa Sabiner gewesen, die lakedaimonische Kolonisten sein wollen. Aufgrund der Verbindung des Spartaners (!) Pythagoras mit Numa seien deswegen viele lakedaimonische Bräuche nach Rom gekommen. Ov. Met. 15,60. Die Geschichte geht wahrscheinlich auf Valerias Antias zurück, vgl. Beck/ Walter 2001, 279 und Dies. 2004, 179. Die Sache wird ebenfalls diskutiert von Liv. 1,18 und Dion. Hal. ant. 2,59. Plut. Numa 22,4: ὥστε συγγνώμην ἔχειν πολλὴν τοῖς εἰς τὸ αὐτὸ Πυθαγόρᾳ Νομᾶν φιλοτιμουμένοις συνάγειν ἐπὶ τοσαύταις ὁμοιότησιν. („Es ist also sehr verzeihlich, wenn auf
6.3 Kulturgriechen und Herrschaftsrömer
235
seine literarischen Vorgänger bezüglich früher griechisch-römischer Verknüpfungen, vor allem auch auf sprachlichem Gebiet, wie Buszard herausgearbeitet hat.87 Den Zustand Roms vor Numas ‚Reformen‘ beschreiben Plutarch und auch Dion Chrysostomos im Rahmen des Kulturübernahmemodells allerdings wenig schmeichelhaft.88 Numa habe Rom wie Eisen aus kriegerischer Härte hin zu Weichheit und Gerechtigkeit geführt.89 In platonischer Terminologie sei es ein ‚entzündeter Staat‘ gewesen:90 von Anfang an zustande gekommen durch rücksichtslosen Wagemut, durch Krieg genährt. Das so schwankende und verwilderte Volk der Römer zu Ordnung und Frieden zu führen sei kein leichtes Unternehmen für Numa gewesen. Subtil lässt Plutarch seinen Numa die Herrschsucht der Römer kritisieren, als deren König sie eigentlich eines Heerführers und keines Philosophen mit einer angeborenen Liebe zu Frieden und Frömmigkeit bedurft hätten.91 Anders als noch Dionysios von Halikarnassos folgt Plutarch nicht mehr konsequent der These von der gemeinsamen Abstammung der Römer von den Griechen.92 Auch dies ist lediglich ein weiteres Indiz in einer Reihe von Hinweisen, dass die Rede von Plutarchs vermeintlichem ‚Projekt einer Versöhnung zwischen
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Grund so weitgehender Übereinstimmungen manche bestrebt sind, Numa mit Pythagoras in Verbindung zu bringen.“). Vgl. Buszard 2011, der zeigt, dass dies im Kontext der Zweiten Sophistik der Neudefinition einer griechischen Identität zu sehen ist. Vgl. Dion Chrys. or. 25,8: Νουμᾶς δὲ τὴν Ῥώμην παραλαβὼν μικρὰν καὶ ἄδοξον, ἔτι δὲ ἐν ἀλλοτρίᾳ χώρᾳ διῳκισμένην καὶ σύγκλυδας καὶ πονηροὺς ἔχουσαν τοὺς ἐνοικοῦντας, ἔτι δὲ τοῖς προσχώροις πᾶσιν ἐχθροὺς καὶ πένητας καὶ ἀγρίους καὶ ἐπικινδύνως ζῶντας τὴν Ῥωμύλου χαλεπότητα, τήν τε γῆν αὐτοὺς βεβαίως ἔχειν ἐποίησε καὶ φίλους εἶναι τοῖς περιοίκοις καὶ νόμους καὶ θεοὺς καὶ πολιτείαν κατεστήσατο, καὶ πάσης αἴτιος ὑπῆρξε τῆς λεγομένης ὕστερον εὐδαιμονίας. („Numa hingegen übernahm Rom als kleine und noch namenlose Stadt, in fremdem Land von zusammengespülten Gesindel bewohnt, dazu mit allen Grenznachbarn verfeindet, arm und wild, wegen der Gewalttätigkeit des Romulus ein Leben voller Gefahren lebend. Er nun ermöglichte es den Römern, ihr Land in Sicherheit und in Freundschaft mit den Nachbarn zu bewohnen, gab ihnen Gesetze, Götter und Verfassung und wurde so zum Urheber ihres späteren Glücks, von dem die ganze Welt spricht.“). Plut. Numa 8. Vgl. Platon Rep. 2,272e. Plut. Numa 5. Vgl. außerdem Plut. Numa 3, wie sich Numa die eigentlich bei Barbaren anerkannte Gewalttätigkeit und Herrschsucht abgewöhnt hat. Zu Plutarchs Barbarenbild vgl. Schmidt 1999. Dion. Hal. ant. 1,5,1 will den Nachweis geben, dass die Menschen, die später Römer wurden, von ihrem Ursprung her Griechen waren. Im Monolog über das ‚Wunder der Freiheitserklärung‘ durch Flamininus spricht Plutarch (Flam. 11) von den Römern als fremdstämmigen Männern, die schwache Spuren von Stammesverwandtschaft verbinden würden: „ἀλλόφυλοι δ' ἄνδρες, ἐναύσματα μικρὰ καὶ γλίσχρα κοινωνήματα παλαιοῦ γένους ἔχειν δοκοῦντες, ἀφ' ὧν καὶ λόγῳ τι καὶ γνώμῃ τῶν χρησίμων ὑπάρξαι τῇ Ἑλλάδι θαυμαστὸν ἦν, οὗτοι τοῖς μεγίστοις κινδύνοις καὶ πόνοις ἐξελόμενοι τὴν Ἑλλάδα δεσποτῶν χαλεπῶν καὶ τυράννων ἐλευθεροῦσι. („Und nun kommen Männer eines andern Volkes – nur schwache Spuren, kümmerliche Reste alter Stammesverwandschaft scheinen zwischen ihnen und uns zu bestehen, und es wäre des Wunders schon genug gewesen, wenn sie Griechenland mit gutem Rat einen gangbaren Weg gewiesen hätten – diese nehmen Mühen und Gefahren ohne Zahl auf sich, um Hellas von drückender Herrschaft zu erlösen, von den Tyrannen zu befreien.“). Der griechische Ursprung der lateinischen Sprache hat für Plutarch keine Anziehungskraft (Marc. 22,7. Numa 13,9 f.) und er
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Griechen und Römern‘ wie bei van der Stockt grundsätzlich in Frage zu stellen ist.93 Plutarch ist einer der ersten griechischen Autoren in der Hohen Kaiserzeit, die sich mit römischen Vergangenheitsdeutungen nicht mehr einverstanden zeigen. Eine längere Passage in Plutarchs Marcellus-Vita diskutiert den Einfluss griechischer Bildung auf Rom.94 Bei dieser und anderen programmatischen Passagen muss immer bedacht werden, dass zwar die Kontroversen der Vergangenheit wiedergegeben, sie aber durch die Aktualisierung in der Gegenwart gleichzeitig einen Beitrag zu zeitgenössischen Debatten bilden. Die präsentierte Dekadenz- und Luxustopik ist zwar unverkennbar, hat für Plutarch aber keine Geltung als Argument gegen das Griechentum. So entgegnet Plutarch Cato d. Älteren, der meinte, die Römer würden ihre Macht verlieren, wenn sie sich von griechischer Wissenschaft anstecken ließen: „Aber das Unheilsorakel hat die Zeit Lügen gestraft, in der die Stadt zur höchsten Macht emporgestiegen ist, obschon sie zugleich griechische Wissenschaft und Bildung jeder Art in sich aufnahm.“95 Der römischen Kritik am griechischen Einfluss auf Rom begegnet Plutarch also mit der Invertierung der römischen Konklusion, insofern der griechische Einfluss zum Vorteil gereichte. Diese sehr selbstbewusste Position, die ab dem Ende des 1. Jh. auch von anderen griechischen Provinzialen geteilt wurde, reagiert kritisch auf die römische ArbeitsteilungsThese und steht im Gegensatz zu den offen pro-römischen Positionen griechischer Autoren noch vom Anfang des 1. Jh. n. Chr. Plutarch sollte kein Opportunismus unterstellt werden, der darin bestünde, dass er mit den Praecepta gerendae reipublicae für seine römischen Freunde politische Ruhe unter den Griechen herstellt (denn auch dann ergäbe es Sinn, dass er den Griechen von Vergangenheitsbezügen zum Freiheitskampf abrät). Wenn wir mit van der Stockt den Widersprüchen zwischen den Werkaussagen (implizite Kritik an den Römern) und der Biographie (römische Freunde, römisches Bürgerrecht) Plutarchs mit einem ‚deal‘ begegnen, der zu beiderseitigem Vorteil für ihn und die Römer ausfiele,96 bewegen wir uns jedoch lediglich auf dem antiken Niveau der Arbeitsteilungs-These. Nach van der Stockt werde einerseits die römische Religion, Sprache und Geschichte von Plutarch zu einem Teil der griechischen Kultur erklärt, womit der griechische Stolz auf die eigene Vergangenheit gewahrt bleibe. Diese Hellenisierung der römischen Geschichte gereiche außerdem Rom zum Vorteil vor
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macht auch kaum Anstalten, griechische Aitiai für römische Bräuche zu suchen, sondern bietet höchstens Parallelen (qu. R. 5, 254 f. 37, 273d), vgl. Swain 1995, 230. Van der Stockt 2013, 39. Vgl. Hertzberg 1868, 182: „Und beide Männer (Polybios und Plutarch, Anm. FU) mußten den intelligenten Römern werth werden, weil sie bei aller Bewunderung der hellenischen Vergangenheit der romantischen Sympathie mit dem Schatten der Vorzeit abgesagt hatten und der fortschreitenden Ausgleichung zwischen den beiden großen Culturvölkern der klassischen Welt nach besten Kräften die Bahn zu ebenen bestrebt waren.“ Plut. Marc. 21. Vgl. dazu Swain 1995, 239 f. und Polyb. 9,10. Liv. 25,40. Plut. Cato maj. 23: ἀλλὰ ταύτην μὲν αὐτοῦ τὴν δυσφημίαν ὁ χρόνος ἀποδείκνυσι κενήν, ἐν ᾧ τοῖς τε πράγμασιν ἡ πόλις ἤρθη μεγίστη, καὶ πρὸς Ἑλληνικὰ μαθήματα καὶ παιδείαν ἅπασαν ἔσχεν οἰκείως. van der Stockt 2013, 39. Vgl. auch Swain 1996, 137: „There ist absolutly no doubt that Plutarch was very sympathetic towards Romans and highly interested and knowledgeable about Rome’s history and institutions.“
6.3 Kulturgriechen und Herrschaftsrömer
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dem Hintergrund des römischen Philhellenismus und des Abweisens des Barbarenvorwurfs. Aus griechischer Perspektive stelle die Konstruktion andererseits gleichzeitg eine Abhängigkeit des Römischen vom Griechischen her, sodass der Grieche seine Position gestärkt sähe, da griechische Wissenschaft und Bildung Rom erst groß gemacht haben sollen. Van der Stockt überbrückt den Widerspruch der romnahen biographischen Ebene mit der romfernen Werksebene mit einem ‚deal‘, der Griechen und Römern das gebe, wessen sie jeweils bedürfen: Den einen Akzeptanz ihrer Herrschaft, den anderen Stolz auf die Vergangenheit. Wenn die Griechen der römischen Herrschaft gegenüber Akzeptanz zeigten, gereiche es diesen außerdem zum Vorteil. Für Plutarch seien dabei die ornamenta consularia und die Prokuratur Achaias herausgesprungen, deren Historizität jedoch bezweifelt wird.97 Außerdem zeigt sich gerade Plutarch sehr kritisch gegenüber der Übernahme römischer Ämter, weshalb es unsinnig ist, ihm genau dies zuzuschreiben.98 Wie oben dargelegt, geht die Hellenisierung Roms nicht auf den sich davon distanzierenden Plutarch, sondern auf römische Impulse zurück, was die ‚deal‘-These unbrauchbar macht. Am Ende der comparatio zwischen Flamininus, der den Griechen die Freiheit erklärt hatte, und Philopoimen, der die griechische Freiheit verteidigt hatte, abstrahiert Plutarch von den konkreten historischen Personen: Ἐπεὶ δ’ οὕτως ἐξεταζομένων δυσθεώρητος ἡ διαφορά, σκόπει μὴ τῷ μὲν Ἕλληνι τὸν ἐμπειρίας πολεμικῆς καὶ στρατηγίας στέφανον, τῷ δὲ Ῥωμαίῳ τὸν δικαιοσύνης καὶ χρηστότητος ἀποδιδόντες, οὐ φαύλως διαιτᾶν δόξομεν. Da nun nach diesem Vergleich der Unterschied der beiden Männer sich schwer bestimmen läßt, so mag der Leser urteilen, ob ich richtig entschieden habe, wenn ich dem Griechen den Kranz der kriegerischen Erfahrung und der Geschicklichkeit im Befehlen, dem Römer aber den der Gerechtigkeit und Güte zuerkenne.99
Hier wird dem Leser die Entscheidung auferlegt, ob die von Plutarch vorgenommene Deutung den rekapitulierten Fakten entspricht. Damit entzieht sich Plutarch der Verantwortung eines eindeutigen Urteils, fällt es aber doch, da er den Leser als letzte Instanz involviert. Auffällig ist die Anonymisierung der Protagonisten zugunsten der Griechen-Römer-Antithese, die bei den anderen Viten kaum Anwendung findet. Hier ist dann entscheidend, dass dem Griechen die militärische Leistung zuerkannt wird, die definiert wird mit „kriegerische[r] Erfahrung und der Geschicklichkeit im Befehlen“ und nicht durch eine Tugend wie Tapferkeit. Das militärische Wissen und die entsprechende historische Leistung Philopoimens werden den Tugenden δικαιοσύνη und χρηστότης des Flamininus direkt gegenübergestellt. Das ist eine bewusste Umkehrung des konventionellen römischen Konzeptes von den Kulturgriechen und Herrschaftsrömern. 97 98 99
S. o. Anm. 91 (Kap. 1.3). Vgl. Anm. 156 (Kap. 2.3) und 47 (Kap. 3.2) mit den Belegen. Plut. comp. Philop. et Flam. 3,3 mit dem Kommentar von Schrott 2014, 773–775. Zu den comparationes vgl. Duff 1999, 2 Anm. 6 mit Literatur. Duff nimmt an, dass die comparationes gesammelt publiziert wurden, in jedem Fall von Plutarch selbst, bspw. contra Mehl 2001, 158. Duff 1999, 291 betont den kritischen Charakter der comparationes.
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Die Römer machten bereits im 1. Jh. v. Chr. den Griechen das Deutungsangebot einer „Arbeitsteilung“:100 Die Römer bekamen demnach die Sphäre des praktischen Lebens, wie Krieg, Politik und Herrschaft, die Griechen die der Kultur und schönen Künste. Diese Zuordnung sich gegenseitig ausschließender Arbeitsbereiche war zunächst sowohl für Römer als auch für Griechen von Vorteil. Während die Griechen den Verlust ihrer Freiheit kompensieren konnten, legitimierte die Unfähigkeit der Griechen zur Herrschaft und deren ledigliche Zuständigkeit für Kultur den Herrschaftsanspruch der Römer. Diese Konstruktion war allerdings verbunden mit einem Anerkennungsgefälle, da Herrschaft von Griechen und Römern gleichermaßen für höherwertiger erachtet wurde als kulturelle Leistungen. Während die Römer die Arbeitsteilungs-These fortwährend propagierten, wurde sie seit Plutarch von einigen Griechen einer Umkehrung unterzogen, die das bis dahin geltende Anerkennungsgefälle aus griechischer Sicht invertieren sollte. Die intensivierten Vergangenheitsbezüge in der Zeit der Zweiten Sophistik insbesondere zum griechischen Freiheitskampf versetzte die Griechen in den Stand, dass sie aufgrund ihrer historisch fundierten Identität selbstbewusster gegenüber den Römern auftreten konnten. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung soll nach Spawforth paradoxerweise darin gelegen haben, dass die römische Herrschaft einen direkten Einfluss auf das griechische Kulturverhalten in der Kaiserzeit gehabt hatte. Demnach hatten die Griechen ihre Vergangenheitsbezüge intensiviert, um zunächst den Römern zu gefallen und deren Geschmack eines kultur- und vergangenheitsorientierten Hellenismus zu treffen (Graeca adulatio), z. B. mit dem sprachlichen Attizismus.101 Außerdem sei die kulturelle Sphäre nicht von den Römern besetzt gewesen und konnte somit von den Griechen ausgefüllt werden.102 Wenn die griechische Kultur und Vergangenheit nicht im Interesse der Römer gelegen hätten,103 hätten sie auch für die Griechen nie diese Bedeutung in der Kaiserzeit erlangt, wie auch Woolf festhält: „[The Romans] do seem to have bestowed benefits on Greeks for the sake of Hellenism […]. [… The] Hellenisms they promoted were selected and defined in relation 100 Zu den Kämpfen um die Definitionen griechischer und römischer Identität im 1. Jh. v. Chr. vgl. Schmitz/Wiater 2011, 15–45. 101 Vgl. Spawforth 2001, 378. Spawforth 2006, 19. Zur Bedeutung der römischen Perspektive für die Konstruktion griechischer Ethnizität in der Kaiserzeit vgl. Hartmann 2012b, außerdem Hartmann 2012a und Steuernagel 2009. Zur positiven Einstellung der Römer gegenüber griechischer Vergangenheit vgl. Cass. Dio 55,10,7. 61,9,6. Suet. Nero 12. Cal. 19. Vgl. außerdem Kemezis 2014. 102 Vgl. die Beiträge in Cortéz Copete / Lozano Gomez / Muniz Grijalvo 2015, die davon ausgehen, dass entweder die Griechen innerhalb des Imperium Romanum aufgrund ihrer Kultur privilegiert werden, oder sie ihre griechische kulturelle Identität aufgeben zugunsten einer römischen, was einer „barbarisation“ gleichkomme. 103 Von Augustus bis Gordian III. führt Spawforth 1994, 238 f. die Parallelisierungen der Perser mit den Parthern durch die römischen Kaiser an. Darunter z. B. die Naumachie des Augustus von 2 v. Chr. (Res Gestae 23), bei der ‚Athener‘ gegen ‚Perser‘ kämpften (vgl. Cass. Dio 55,10,7. Ovid Ars amat. 1,171 f. verbindet diese Naumachie mit der Abfahrt des Caius nach Osten für eine aggressive Rache-Kampagne gegen Phraates V., König von Parthien), was von Nero 57 oder 58 n. Chr. nachgeahmt wurde, als er die armenische Kampange im Winter 57/58 n. Chr. startete (Cass. Dio 61,9,6. Suet. Nero 12).
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to a range of Roman, rather than Greek, cultural preoccupations.“104 Jüngst hat Spawforth in Konsequenz seiner früheren Arbeiten von einer „Rehellenisierung“ Griechenlands insbesondere in hadrianischer Zeit gesprochen, die auf die Römer – insbesondere Augustus – zurückzuführen sei.105 Die Griechen reagierten demnach ihrerseits auf die römischen Erwartungen, von denen sie ein gemutmaßtes Bild hatten. Ein Beispiel wäre die antike Diskussion über den in Kleinasien projektierten Tiberius-Tempel. Diese Diskussion zeigt jedoch eindrücklich, dass Spawforth’ und Woolfs These vom römischen Einfluss auf die griechische Erinnerungskultur ein undifferenziertes Griechenbild zugrunde liegt. Gemäß der Differenzierung in Romund nicht Rom-orientierte Griechen sind diejenigen, die eine Erlaubnis für die Einrichtung des Kaiserkultes erbeten, als Rom-orientierte Griechen zu identifizieren. Somit ist festzuhalten, dass – wenn überhaupt – lediglich ein Teil der Griechen auf römische Vorstellungen eines kulturellen Hellenismus reagierte. Tiberius wollte nach Tacitus von den Intrigen um die Familie des Germanicus ablenken und begab sich deshalb tagelang in den Senat.106 Dort fanden Anhörungen von 11 Städten der Provinz Asia statt, von denen es einer erlaubt sein sollte, Tiberius einen Tempel zu errichten. Alle brachten im Wesentlichen zwei unterschiedliche Arten von Gründen vor: Hohes Alter ihres Volkes (memorabant de vetustate generis) und die Dienste gegenüber dem römischen Volk in den Kriegen gegen Perseus, Aristonicus und andere Könige (studio in populum Romanum per bella Persi et Aristonici aliorumque regum). Unbedeutend waren in den Augen der Senatoren: Hypaipa, Tralles, Laodikeia und Magnesia. Ilion als Mutterstadt Roms verwies auf Troja, besaß aber nichts weiter als den alten Ruhm, der offensichtlich nicht ausgereicht hat. Halikarnassus war kurz eine Option: Seit 1200 Jahren kein Erdbeben und der neue Tempel stünde unmittelbar auf einem Felsen. Bautechnische Argumente wurden also auch in Erwägung gezogen. Die Pergamener beriefen sich auf den Augustustempel in ihrer Stadt. Das sei aber schon Ehre genug, war das Urteil des Senats. Ephesos und Milet hätten genug mit ihren Diana- und Apollo-Kulten zu tun.107 Die Entscheidung musste zwischen Sardis und Smyrna fallen. Was brachten sie jeweils vor? Sardis führte die schon von Herodot bekannte Geschichte von Atys an, der seinen volkreichen Stamm teilte. Lydos blieb in der Heimat und Tyrrhenus wurde zur Kolonisation ausgeschickt. Die Lyder hätten zudem Kolonisten auch nach Griechenland geschickt, wo (der eigentlich phrygische) Pelops dem Land den Namen gegeben habe (Peloponnes). Außerdem erwähnten sie Erlasse von Feldherren, das im makedonischen Kriege beschlossene Bündnis, die Größe ihrer Flüsse, mildes Klima und die Fruchtbarkeit des Umlandes. Zusammengefasst: Sowohl mythische Beziehung mit Rom über die Etrusker als auch politische sowie militärische Ver-
104 Woolf 1994, 131. 105 Spawforth 2012, 243, dass Hadrian das offizielle augusteische Narrativ von einem Griechenland aufgriff, das sich in den römischen Rahmen einpassen ließ. 106 Vgl. Tac. Ann. 4,55 f. 107 Vgl. Tac. Ann. 4,55: Ephesii Milesiique, hi Apollinis, illi Dianae caerimonia occupavisse civitates visi.
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bindungen, umrahmt von den Vorzügen des Standortes in einer fruchtbaren Landschaft. Offensichtlich reichte das nicht, denn Smyrna bekam den Tempel, indem es das hohe Alter der Stadt (gegründet von Iuppiters Sohn Tantalos, dem göttlichen Theseus oder einer Amazone) und Verdienste um das römische Volk anführte (davon versprachen sie sich am meisten, kommentiert Tacitus):108 Sie hätten Flotten nicht nur für ausländische Kriege, sondern auch für die in Italien geführten geschickt; außerdem hatten sie als erste zur Zeit des Konsulats des M. Porcius [Cato Censorinus] der Stadt Rom einen Tempel gebaut. Rom sei damals zwar schon mächtig, aber noch nicht auf dem Gipfel der Macht gewesen (Karthago existierte noch und in Asien gab es noch Könige). Zuletzt wurde eine Episode um L. Cornelius Sulla angeführt: Sulla stand im Winter mit seinem Heer, das an der Kälte und Kleidungsmangel litt, in der Nähe von Smyrna, woraufhin die Smyrnäer den römischen Soldaten ihre Kleider schickten. Smyrna erhielt damit den Zuschlag. Aber warum? Ausschlaggebend waren nicht die lange Tradition (Was ist die älteste Stadt?), sondern die Verdienste um den populus Romanus und die Beweise von politischer Loyalität gegenüber Rom. Diejenigen Griechenstädte, die lediglich ihr hohes Alter und ihre Mythen präsentierten und hierbei glaubten, römischen Erwartungen entgegenzukommen, verfehlten das Ziel ihrer Argumentation. Darüber hinaus zeigt dieses Beispiel, dass der politischen Vergangenheit Vorteile in der Gegenwart abgerungen werden konnten. Verständlicherweise haben die Griechenstädte nicht ihre Leistungen im Widerstand gegen auswärtige Mächte vorgebracht. Die schon seit längerer Zeit mit Rom kollaborierenden Städte wurden daher bevorzugt. Richtig ist, dass spätestens seit augusteischer Zeit einige Römer als Philhellenen kamen und das Griechenland vorzufinden erwarteten, welches sie von ihrer Ausbildung her kannten und sich vorstellten:109 Romans expected to find the past when they journeyed to Greece in their pursuit of culture. If they did not find it, they could always lament its decline and proceed to reconstruct the Greece they had been taught to imagine […].110
Atticus bewunderte in Athen nicht so sehr die Bau- und Kunstwerke, sondern die Erinnerungsorte großer griechischer Männer, deren Grabmäler er aufsuchte.111 Für Horaz wie auch später für Apuleius war Athen die letzte Station in der literarischen Ausbildung.112 Quintilian gab dem Griechischen beim kleinkindlichen Spracherwerb sogar den Vorzug, da das Lateinische vom Griechischen abgeleitet sei und der
108 Vgl. Tac. Ann. 4,56: quis maxime fidebant, in populum Romanum officiis. 109 Vgl. Horaz epist. 2,2,41, der in seiner Jugend in Rom vom ‚Zorn des Achill‘ (Homers Ilias) hörte. Desweiteren vgl. Horaz epist. 1,11, wo Bullatius offensichtlich eine Tour durch die Ägäis und Kleinasien gemacht hat. Horaz fragt sich, ob Sardis, Smyrna und Kolophon größer seien als ihr Ruf und wie sie in der Gegenwart dastehen, gemessen an Marsfeld und Tiber. 110 Swain 1996, 66. 111 Vgl. Cic. de leg. 2,4. 112 Horaz epist. 2,2,41–48. Apul. Florida 20, vgl. ebd. auch die Dreiteilung des ‚Bildungssystems‘ in den Besuch beim litterator, grammaticus und rhetor. Vgl. Sandy 1993 und Sandy 1997 zu Apuleius.
6.3 Kulturgriechen und Herrschaftsrömer
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Jüngling später ohnehin Latein lerne.113 Im Zuge dessen musste auch griechisches Vergangenheitswissen den Römern bekannt geworden sein. Die Rhetorica ad Herennium beinhalten bereits eine Periodisierung griechischer Geschichte, die sich später auch bei Dionysios wiederfindet.114 Es geht dabei um die jeweilige Hegemonie und deren Abfolge im östlichen Mittelmeerraum mit dem vorläufigen Endpunkt der makedonischen Herrschaft.115 In einer Reihe von Beispielen für Metonymien bringt der Auctor die römische Haltung der „Arbeitsteilung“ auf den Punkt: „Es ist nicht möglich Italien mit Waffen und Griechenland mit Bildung zu besiegen.“116 Cicero wurde nach seinem Studienaufenthalt in Athen und Rhodos, mit den ‚bei den schlimmsten Banausen üblichen Spottnamen Griechennarr (Γραικός) und Schulfuchs (σχολαστικός) bezeichnet‘.117 Ganz im Gegenteil dazu musste es Cicero ungemein geschmeichelt haben, dass sein Rhetoriklehrer Apollonios in Rhodos nach einer von ihm auf Griechisch gehaltenen Übungsrede ausrief: „Dich, Cicero, lobe und bewundere ich; aber ich beklage das Schicksal Griechenlands, da ich sehe, dass die einzigen Vorzüge, die uns noch geblieben waren, nun auch noch durch dich den Römern zugewendet werden: Bildung und Redekunst.“118 Damit dieses Lob für den Römer Cicero funktionierte, musste Apollonios (bzw. Plutarch, der es zitiert) die römische Perspektive miteinbeziehen. Diese hatte darin bestanden, den Griechen lediglich Bildung und Rhetorik zuzubilligen. Cicero distanzierte sich in den Tusculanen bewusst von Poseidonios, der sagte, dass die Überlegenheit der Römer weniger im Erfinden als in der Vervollkommnung fremder Erfindungen gelegen habe.119 Varro hatte noch in diesem Geiste in 113 Quint. Inst. Orat. 1,1,12–14. Es werden durchaus auch Schwierigkeiten darin gesehen, dem Griechischen den Vorzug zu geben. Die richtige Aussprache leide darunter, der Idealfall ist die Gleichwertigkeit beider Sprachen. Vgl. Marrou 1956, 255–264. Adams 2003, 9–18. 114 Dion. Hal. ant. 1,2,2–3,5. Bei Dionysios wird die Hegemonialabfolge aber unter dem Aspekt diskutiert, dass die Griechen nicht der Liste der Weltreiche zuzuordnen sind. Vgl. auch Suda s. v. Ἁσσύριοι. 115 Vgl. Auct. ad Her. 4,34: Imperium Graeciae fuit penes Athenienses, Atheniensium potiti sunt Spartiatae, Spartiatas superavere Thebani, Thebanos Macedones vicerunt, qui ad imperium Graeciae brevi tempore adiunxerunt Asiam bello subactam. („Die Herrschaft über Griechenland lag bei den Athenern, über die Athener gewannen die Spartaner die Macht, die Spartaner unterlagen den Thebanern, über die Thebaner siegten die Makedonen, die Asien in kurzer Zeit durch Krieg unterwarfen und es dem griechischen Reich hinzufügten.“). Die ersten Makedonen wurden von den Römern wegen des Aufbaus eines Weltreiches bewundert: Suet. Aug. 18,1. Lucan. 8,694. Liv. 35,49,8. 36,27,5 f. 40,5,3. Flor. 1,24,8. Vgl. Spawforth 2006, 20. 116 Auct. ad Her. 4,43: Armis Italia non potest vinci nec Graecia disciplinis. 117 Plut. Cic. 5,2: καὶ τόν γε πρῶτον ἐν Ῥώμῃ χρόνον εὐλαβῶς διῆγε καὶ ταῖς ἀρχαῖς ὀκνηρῶς προσῄει καὶ παρημελεῖτο, ταῦτα δὴ τὰ Ῥωμαίων τοῖς βαναυσοτάτοις πρόχειρα καὶ συνήθη ῥήματα Γραικὸς καὶ σχολαστικὸς ἀκούων. 118 Plut. Cic. 4,7: σὲ μὲν ὦ Κικέρων ἐπαινῶ καὶ θαυμάζω, τῆς δ' Ἑλλάδος οἰκτίρω τὴν τύχην, ὁρῶν, ἃ μόνα τῶν καλῶν ἡμῖν ὑπελείπετο, καὶ ταῦτα Ῥωμαίοις διὰ σοῦ προσγινόμενα, παιδείαν καὶ λόγον. 119 Cic. Tusc. 1,1: […] sed meum semper iudicium fuit omnia nostros aut invenisse per se sapientius quam Graecos aut accepta ab illis fecisse meliora, quae quidem digna statuissent, in quibus elaborarent. („Aber ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass unsere Römer seit jeher teils selbständig Besseres geleistet haben als die Griechen, teils verbessert haben, was sie übernommen hatten. Jedenfalls soweit sie es für der Mühe wert hielten, sich mit den Dingen zu
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seinen kulturgeschichtlichen Arbeiten konsequent bei anderen Völkern nach den Voraussetzungen römischer Errungenschaften gesucht.120 Poseidonios und Varro propagierten also gleichermaßen die Abhängigkeits-These, wonach die Errungenschaften der Römer bei anderen Völkern zu suchen waren. Die römischen mores und instituta vitae sieht Cicero als besser gegenüber den Griechischen an.121 Im Kriegswesen zeichne man sich durch virtus und disciplina aus. Das seien alles eigene Leistungen und nicht angelerntes Wissen (natura und nicht litteris adsecuti). Ciceros selbstbewusste Position ist nur verständlich, wenn er gegen die Abhängigkeits-These eines Poseidonius oder Varro anschreibt. Der Propagierung essenzialistischer Qualitäten für die Römer in der Sphäre des Politischen stellt Cicero das Erlernbare griechischer Kultur gegenüber.122 In der Literatur habe Griechenland Rom freilich immer übertroffen durch seinen zeitlichen Vorsprung:123 Homer und Hesiod schrieben vor der Gründung Roms und Archilochos war ein Zeitgenosse des Romulus. Die Dichtkunst war bei den Römern nicht sehr angesehen, aber soweit man etwas vorweisen konnte, war es dem Ruhm Griechenlands ebenbürtig. Wenn es ruhmvoll bei den Römern gewesen wäre, zu malen, hätte man ebenfalls einen Polykleitos oder Parrhasios hervorgebracht. Die höchste Kunst haben die Griechen in der Musik erreicht. Was von Geometrie und Mathematik übernommen wurde, sollte nützlich fürs Messen und Rechnen sein. Die Redekunst wurde rasch von den Römern aufgenommen und man habe den Vorsprung der Griechen fast vollständig eingeholt. Die Philosophie wurde in lateinischer Sprache allerdings vernachlässigt, wobei Cicero nun Abhilfe leisten möchte.124 Abfällige Bemerkungen macht er jedoch über die sogenannten ‚Thukydideaner‘, die ihre Reden nach dem Vorbild des Thukydides formten: „[E]ine neue und bisher unbekannte Gruppe von Nichtwissern“.125 Darin zeigt sich exemplarisch ein durchaus differenzierter römischer Geschmack am Griechischen, der eine bewusste und wertende Auswahl vornimmt.126
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beschäftigen.“). Ennius ließ sich noch von Homer inspirieren während sich Cicero am Anfang seiner Tusculanen gegen die Abhängigkeit vom Griechischen wendet und die Leistung bei den Römern sieht, die mit den Griechen in einen Wettbewerb getreten sind. Pfeiffer/Nickel 2006, 381. Vgl. etwa Varro rust. 1,8–11, der die griechischen Agrarschriftsteller aufführt. Vgl. Cic. Tusc. 1,2. Cic. Tusc. 4,4: multa etiam sunt in nostris institutis ducta ab illis; Quae praetereo, ne ea quae repperisse ipsi putamur, aliunde didicisse videamur. („Ebenso ist in unseren Einrichtungen Vieles von ihnen übernommen. Das übergehe ich, damit es nicht aussehe, als hätten wir anderswo gelernt, was als unsere eigene Erfindung gilt.“). Cic. Tusc. 1,3–5. Vgl. auch Cic. Tusc. 2,5: Cicero möchte der Graecia languens den Ruhm der Philosophie entreißen und ihn nach Rom bringen. Cic. Orat. 9,30: ecce autem aliqui se Thucydidios esse profitentur, novum quoddam imperitorum et inauditum genus. Die Prozessreden eines Lysias seien für die Aushandlung von Rechtsfällen auf dem Forum noch brauchbar, hingegen Thukydides’ Schilderung von Kriegen und Schlachten nicht. Selbst seine berühmten Reden würden unverständliche Sätze enthalten und kein griechischer Redelehrer habe etwas von ihm übernommen. Vgl. die ausführliche und sehr differenzierte Analyse von Secord 2012 zu den von Rom bevorzugten griechischen Gelehrten und den ‚outsiders‘, die sich durch den weitergesteckten chro-
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Horazens Sentenz vom eroberten Griechenland, das seinen bäurischen Eroberer wiederum mit seiner Kultur erobert habe,127 konnte nur funktionieren, wenn die von Cicero propagierte „Arbeitsteilung“ in Herrschafts-Römer und Kultur-Griechen anerkannt wurde. Der zumeist vernachlässigte Nachsatz der graecia capta Sentenz ist außerdem relevant: sed in longum tamen aevum manserunt hodieque manent vestigia ruris. serus enim Graecis admovit acumina chartis et post Punica bella quietus quaerere coepit, quid Sophocles et Thespis et Aeschylos utile ferrent. Denn spät erst wandte der Römer seine scharfen Sinne griechischen Blättern zu; erst in der Ruhezeit nach den Punischen Kriegen stellte er sich die Frage, was Sophokles und Thespis und Aeschylus Nutzbares bieten könnten.128
Erst in der Phase relativer militärischer Ruhe (jedenfalls in der Darstellung Horazens) wandten sich die Römer griechischer Literatur zu, speziell der tragischen. Griechische Historiker scheinen in diesem Zusammenhang nichts Nützliches für die Römer geboten zu haben. Tatsächlich spielten griechische Exempla im öffentlichen politischen Diskurs der späten Republik keine Rolle, wie Bücher nach einer Untersuchung der römischen Exempla-Verwendung festgestellt hat.129 In der römischen Literatur augusteischer Zeit nahm die Bezugnahme auf griechische Vergangenheit und Kultur indessen zu. Die Dichotomie römischer Herrschaft und griechischer Kultur findet sich außerdem prägnant im 6. Buch von Vergils Aeneis: excudent alii spirantia mollius aera (credo equidem), uiuos ducent de marmore uultus, orabunt causas melius, caelique meatus describent radio et surgentia sidera dicent: tu regere imperio populos, Romane, memento (hae tibi erunt artes), pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos. Weicher werden aus Erz einst andere atmend Gebilde treiben (ich glaube es), formen lebendige Züge aus Marmor, führen gewandter das Wort vor Gericht und zeichnen des Himmels Bahnen genau mit dem Stab und künden steigende Sterne: du aber, Römer, gedenk – so wirst du leisten dein Wesen – Völker kraft Amtes zu lenken und Ordnung zu stiften dem Frieden, Unterworf’ne zu schonen und niederzukämpfen Empörer!130
Vergil lässt Anchises zwischen zwei Arten Menschen unterscheiden. Die alii sind die Griechen mit ihrer Kunst, Rhetorik und Astronomie. Die Römer hingegen herrschen mittels imperium. Auch wenn die besiegten Griechen dadurch geschont werden, dass ihnen zur Kompensation ihrer Aufgabe des Freiheitskampfes die Sphäre
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nologischen Rahmen vom 1. Jh. v. Chr. bis ins 2. Jh. n. Chr. auszeichnet und damit die Genese der ‚Zweiten Sophistik‘ überhaupt erst deutlich machen kann. Horaz epist. 2,1,156 f.: Graecia capta ferum victorem cepit et artis intulit agresti Latio. („Griechisch Land ward erobert; erobernd den rauhen Besieger, führt’ es die Kunst in Latium ein, beim Volke der Bauern.“). Vgl. außerdem Cic. Brut. 254 und Liv. 34,4,3 für ähnliche Anklänge. Horaz epist. 2,1,159–163. Bücher 2006, 320: „Die Konzentration auf exempla Romana bedeutet nicht eine willkürliche Auswahl, sondern das griechische Beispiel spielt im öffentlichen politischen Diskurs keine Rolle und gehört ins Bildungsgut der intellektuellen Diskurse der Briefe und Philosophica Ciceros.“ Verg. Aen. 6,847–853. Vgl. Whitmarsh 2004, 15. Fontanella 2008, 208. Lamberton 1997, 152.
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der Kultur angeboten wird, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass alle Griechen dieses Angebot für alle Zeit angenommen haben. Wiater möchte hingegen bei Dionysios von Halikarnassos ein Programm erkennen, dass nicht den Gegensatz zwischen römischer Herrschaft und griechischer Kultur zum Thema habe, sondern darin eine Allianz sehe: Drawing on the classicizing tendencies of contemporary Roman intellectual and political culture, Dionysius defines the Romans and Roman power as the representative of Classical Greek rhetoric and culture: the Romans support the Classicists’ fight against the Barbarian Other and spread πολιτικοί λόγοι over the oikumene. Thus Roman power is defined as the legitimate successor of the Classical Greek past.131
Wiater erkennt zwar, dass griechische und römische Identität konträr konzipiert sind, Dionysios jedoch mit seinem Programm ein versöhnendes Angebot gemacht habe, das den Griechen erlaube, ihre griechische Vergangenheit in eine augusteische Gegenwart zu retten.132 Die Kompensation wird hier aus der römischen Perspektive geschildert, was aber zu einer Vereinnahmung griechischer Kultur und Vergangenheit führen muss, mit der jedoch nicht alle Griechen einverstanden waren. Aalders und de Blois meinten nach der Analyse der Quellen von Plutarchs Auffassungen zu Staat und Staatskunst, dass die griechische Elite äußerst konservativ die bestehenden Verhältnisse bewahren und den inneren Frieden der Poleis erhalten wollte.133 Dabei äußerten sie die Vermutung, dass „[d]ie übermäßige Beschäftigung mit der klassischen griechischen Vergangenheit […] in diesen Kreisen eine Kompensation für das Fehlen wirklicher politischer und militärischer Gewalt geboten haben [könnte].“134 Jedoch hat Plutarch in den Praecepta gerendae reipublicae sorgfältig die politischen Handlungsräume aufgezeigt, die dem zeitgenössischen Polis-Politiker verblieben sind. Sie stimmen zwar nicht mit denen klassischer Zeit überein – auf kulturellem, wissenschaftlichem oder religiösem Gebiet bietet er aber keine Kompensationstechniken an.135 Nach Elsner habe Pausanias die politische Defizienzerfahrung auf religiösem Gebiet kompensiert.136 Anstatt eine sozio-politische Identität als Grieche aufzu131 132 133 134
Wiater 2011a, 118. Wiater 2011a, 107. Aalders/de Blois 1992, 3402. Aalders/de Blois 1992, 3402. Vgl. auch ganz ähnlich Bowersock 1969, 17–29. Bowie 1970. MacMullen 1974, 57 ff. Aalders 1981. 135 Die Idee, den Mangel an politischer Handlungsfreiheit mit anderen Betätigungsfeldern (etwa mit Forschung und Wissenschaft) zu kompensieren, taucht dagegen bei Polyb. 3,59 auf. Vgl. zur wissenschaftlichen Defizienzerfahrung in der Kaiserzeit Plin. nat. 2,117 f., der meint, dass, als früher selbständige Staaten existierten, es 20 Abhandlungen über die Windverhältnisse gab und heute man nicht nur keine mehr anstellt, sondern auch das alte Wissen vergisst. Früher arbeitete man zu keinem anderen Zweck als dem, der Nachwelt zu dienen. Der Bildungsstand der Welt sei gesunken, allerdings nicht der Wert der Bildung selbst. 136 Elsner 1992, 5: „The way Pausanias structured his subject matter reveals an attempt to transcend the historical realities of conflict and division among the Greeks in search of a myth-history which might evoke the image of a free, unified Greece. This vision of the past (apart from being more of a mythical ideal than an historical fact) clearly conflicts with the realities of Pausanias’ own day. In the second century A. D. Greece may have been united, but it was cer-
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bauen und zu pflegen ‚pilgere‘ Pausanias demnach zu den heiligen Stätten und Monumenten Griechenlands, woraus er eine religiöse Identität als Grieche schöpfe. Zwar ist angesichts der Bedeutung des Religiösen für Pausanias Elsners Beobachtung, Pausanias zeige ein auffallendes Interesse für Religiöses, zuzustimmen; der Deutung, dies kompensiere den Mangel an politischer Identität hingegen nicht. Wie die Untersuchung der Auswahlkriterien des historisch Wichtigen (Kap. 5.3.1), der inneren Ordnung griechischer Vergangenheit durch den Freiheitskampf (Kap. 5.3.3) und der alternativen Erinnerungskultur bei Pausanias gezeigt hat (s. o. Kap. 2.4), finden wir hingegen sehr wohl eine historisch fundierte politische Identität beim Periegeten, womit er zweifelsohne auch Bedürfnisse seiner Leserschaft bediente. Bowie hat jüngst die Kompensations-These für den Bereich des Militärs untersucht, wo sich wider Erwarten nicht die gleichen Ergebnisse zeigten wie etwa in der Agonistik oder Rhetorik.137 Ausgegangen war er von der Beobachtung, dass sich die Griechen von jeher um die Präsentation persönlicher ἀρητή bemüht hatten, erworben in militärischen Auseinandersetzungen von der Zeit Homers bis in die Zeit der spätrepublikanischen Bürgerkriege hinein. Demnach sei zu erwarten gewesen, dass auch seit Beginn der Kaiserzeit untere wie auch obere soziale Schichten die Fortsetzung der Akkumulation von kriegerischer Tugend im römischen Militär suchen würden. Tatsächlich lassen sich aber erst seit den 160er Jahren n. Chr. vereinzelt achäische Kontingente im römischen Heer finden.138 Auch die Zahl der griechischen Ritter mit einem römischen Militärkommando ist bemerkenswert gering.139 Die meisten östlichen Militärs kamen aus römischen coloniae und waren Nachfahren von Italikern.140 Bowie führt mehrere Gründe für diesen Befund an. Weil es im römischen Heer relativ wenig Griechen gab, war es für die Griechen nicht attraktiv, sich in eine fremde Umgebung zu wagen, wo darüber hinaus Latein als Kommandosprache galt. Die Römer hatten seit Vergil den Griechen unmissverständlich klar gemacht, dass
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tainly not free. It was a province of the Roman empire. The inevitable tension between this myth of Greek identity and the facts of Roman rule was resolved for Pausanias only by evoking a religious identity, deeper than socio-political realities, which lay in the sacred sites and monuments of Greece.“ Bowie 2014, 39. 63 f. Bowie 2014, 42–44. Sparta beteiligte sich mit einer Kavallerie-Einheit am Partherzug des Lucius Verus 162 n. Chr. (IG V 1,116, Z. 17–18. V 1,44 = SEG 11,486, Z. 4–6. V 1,816. V 1,818. Vgl. Cartledge/Spawforth 2002, 115). Zwischen 168/9 und 172 n. Chr. beteiligt sich eine Gruppe von 80 Thespiern und ein Arzt an einem Feldzug Marc Aurels. Es wird vermutet, dass dies im Zusammenhang mit dem Kostobokeneinfall steht, den Mnesibulos von Elateia mit einer Reihe Freiwilliger erfolgreich abwehrte (Paus. 10,34,5. Syll.3 871 = IG IX 1,146). Marc Aurel rekrutierte für die Donau-Kriege wahrscheinlich auch im griechischen Osten, da er nach der Pest enorme Probleme bei der Rekrutierung hatte (SHA Marcus 21,6–9). Ein Mitglied der Elite von Termessus (wohl ein Lykier) führte ein Kontingent zur Hilfe von Marc Aurel (IGR III 339). Eine Alexander-Imitatio ist die Rekrutierung von Makedonen und Spartanern für eine Kampagne gegen die Parther 214 n. Chr. unter Caracalla (Hdn. 9,603. IG V 1,130). Bowie 2014, 44–53. Vgl. auch ebd. 65–78 die Appendices. Bowie 2014, 51.
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die militärische Sphäre ihnen gehörte, den Griechen lediglich die der Kultur.141 Die griechische Welt Achaias und Asias war in der Wahrnehmung Philostrats, Aristides’ und Plutarchs frei von Militärischem, das ohnehin der Vergangenheit angehörte.142 Aus den genannten Gründen mussten die Griechen attraktivere Kompensationsfelder suchen und hätten sie in der Agonistik und Rhetorik gefunden. Den Titel ἄριστος Ἡλλήνων verdiente man sich als Sieger im Waffenlauf bei den Eleutherien in Plataiai, die an den Sieg gegen die Perser von 479 v. Chr. erinnerten. Bowie führt an, dass das Gebiet mit den wenigsten Rekrutierungen für das römische Heer (Achaia und West-Kleinasien) die meisten Olympiasieger aufzuweisen hat.143 Diese Gegend brachte außerdem die höchste Zahl an neugegründeten Festen in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten hervor. Viele der Sieger waren Mitglieder der städtischen Eliten,144 von denen sich einige außerdem mit öffentlichen Reden befassten: [W]hen the opportunities for that rhetoric were reduced (though certainly not extinguished) the sophistic μελετή offered some virtuoso speakers the chance of being applauded for their μίμησις of speeches delivered in a famous classical context and offered their audiences the chance of imagining that they too were participating in an important debate at a tuning-point in Greek history.145
In diesem Zusammenhang betont Connolly, „that the turn to the Greek past, to what is being formed as ‚classical‘ Greece, did not so much provide imperial Greeks with the material of resistance as it accommodated long-established Roman tastes and Roman values.“146 Auf der einen Seite würden die Griechen den Römern also das liefern, was diese erwarteten, auf der anderen Seite bedeute dies aber keine Gefahr für die römische Herrschaft, da die von den Griechen aktualisierten Erinnerungen kein Widerstandspotenzial aufweisen würden. Connolly versucht, die widersprüchlichen Befunde dialektisch aufzulösen: „The imperial Greek commitment to the literature and culture of ‚ancient Greece‘ thus is as much an act of assimilation as it is an act of self-definition through difference.“147 Partiell mag dies zutreffen, etwa bei Tiberius Claudius Novius, der einerseits Sieger im Waffenlauf bei den Eleutherien in Plataiai war – derjenigen oben erwähnten Veranstaltung, die an den erfolgreichen Freiheitskampf gegen die Perser erinnerte – und der anderseits ebendort später als
141 Verg. Aen. 6,851–853. Militär wird von Aristides in der Romrede als Merkmal römischer Herrschaft gesehen, nie der griechischen. Vgl. auch Aristeid. or. 35,29 f. 142 Bowie 2014, 58–62. In den ‚senatorischen‘ Provinzen standen keine Legionen, vgl. Ios. BJ 2,366: selbst die städtereiche Provinz Asia beuge sich dem Prokonsul, obwohl sie keine Besatzung habe. Genauso die Heniochen, die Kolcher, die Taurer, die Bewohner des Bosporus und alle um das Schwarze Meer herum, wo nur 3000 Schwerbewaffneten und 40 Schiffen den Frieden erhalten würden. 143 Bowie 2014, 63: „With extinction of inter-polis warfare only the latter (die großen panhellenischen Feste, Anm. FU) remained as a measure of physical ἀρετή.“ Vgl. die Karte bei van Nijf 1999, 179. 144 Vgl. van Nijf 1999. 145 Bowie 2014, 64. 146 Connolly 2007, 30. 147 Connolly 2007, 39.
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Priester des Kaiserkultes fungierte.148 Novius zeige nach Spawforth als Vertreter der politischen Oberschicht, dass der Stolz auf die Perserkriege mit der Loyalität zu den Römern kompatibel war,149 die ihrerseits an griechischer Vergangenheit interessiert waren, was sich etwa am römischen „Tourismus“ in Griechenland zeigt.150 Die üblichen Reiserouten durch Griechenland gingen über Delphi, Athen, Korinth, Epidauros, Olympia und Sparta.151 Die Schauplätze des griechischen Freiheitskampfes (Plataiai etc.) lagen nicht auf der Route. Aus der vereinzelten Kritik an der touristischen Praxis kann allerdings der allgemeine Trend des römischen Umgangs mit den griechischen Altertümern gefolgert werden. Plinius der Jüngere schreibt, dass man lange Reisen unternehme, obwohl es um Rom herum viele Dinge gäbe, die man noch nie gesehen habe.152 Wären diese Dinge in Griechenland, Ägypten und Asien, hätte man schon davon gehört, darüber gelesen und sie gesehen. Ein vulkanologisches Lehrgedicht aus neronischer Zeit bietet einen Exkurs zu den Ruinen, Altertümern und Kunstwerken Griechenlands und Kleinasiens.153 Anstatt auf die Wunder der Natur zu schauen würden ‚wir‘ (Römer) „berühmte Prunkwerke und kunstvolle Tempel“ unter Lebensgefahr aufsuchen, weil sie „wegen des Reichtums der Menschen oder wegen des Alters des Kultes in aller Munde sind“. Die „Lügen alter Sagen“ werden ausgegraben und „alle möglichen Völker“ erforscht. Jedoch bezieht sich die dann folgende Aufzählung allein auf die Griechen, deren Monumente mit ausschließlich mythischem Bezug präsentiert werden. Stellvertretend dafür stehen das ogygische Theben, das lykurgische Sparta, das kekropische Athen oder Bezüge zum trojanischen Krieg. Letztlich seien selbst die Gemälde oder Statuen griechischer Künstler es nicht wert, dass man die Gefahren der Reise auf sich nehmen würde um sie zu betrachten. Der Exkurs ist im Ganzen also eher als Kritik am Griechenland-Tourismus zu lesen und zeigt damit aber, dass dies gängige Praxis war. Plutarch bezeugt für Sulla, dass diesen ein wildes Verlangen erfüllte, Athen unter allen Umständen erfolgreich zu belagern, da „[…] er aus einer Art von Eifersucht einen Schattenkampf gegen den alten Ruhm der Stadt führte.“154 Nach der Eroberung bewogen ihn die mitgereisten Mitglieder des römischen Senates, Milde walten zu lassen und tatsächlich soll er „einige lobende Worte auf die alten
148 Zu Novius vgl. Jung 2006, 360–362. Spawforth 1994, 235. Geagan 1979. 149 Spawforth 1994, 246 sieht aber auch mit Blick auf Plutarch, dass die Perserkriegs-Erinnerung eine subversive Resonanz unter den Griechen fand. 150 Vgl. Hartmann 2010, 192–202 zu Zielen und Motiven von Reisen mit Beispielen aus der Kaiserzeit. 151 Vgl. Casson 1979, 298 f. 152 Plin. Epist. 8,20,1 f. Paus. 9,36,5 hält den gleichen Topos bereit: die Griechen würden Ausländisches mehr als das Einheimische bestaunen, sodass es genaueste Beschreibungen der Pyramiden gibt, bei den angesehensten Schriftstellern aber das Schatzhaus des Minyas und die Mauern Tiryns nicht einmal erwähnt sind. 153 Aetna 569–602, überliefert in der Appendix Vergiliana (Clausen 1966), vielleicht von dem jüngeren Lucilius verfasst (vgl. Sen. ep. 79,5). Vgl. Hartmann 2010, 197 f. 154 Plut. Sulla 13.
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Athener“ gesagt haben.155 Nach Caesars Sieg bei Pharsalos gab er den Thessalern die Freiheit, weil sie auf seiner Seite gekämpft hatten. Die Athener flehten indes um Gnade, was Caesar mit der Bemerkung quittierte: „Wie oft wird euch denn noch der Ruhm eurer Vorfahren vor Selbstzerstörung bewahren?“156 Nachdem Germanicus seinen zweiten Konsulat in Nikopolis angetreten hatte, besuchte er Athen. Tacitus deutet es als Zeichen der Wertschätzung, dass er nur einen Liktor mit sich führte. „Die Griechen empfingen ihn mit ausgesuchtesten Ehrungen, wobei sie aus der Vergangenheit Taten und Worte ihrer Landsleute in den Vordergrund stellten, damit die Huldigung umso mehr Würde in sich trage.“157 Da Germanicus auf seiner weiteren Reise über Euböa, Lesbos, Perinth, Byzanz, der Propontis bis zur Mündung des Pontos vom Verlangen getrieben war, „die alten sagenberühmten Orte kennenzulernen“,158 erklärt sich, warum die Athener ‚Taten und Worte‘ der Vergangenheit anführten. Dem Römer Germanicus brachten die Griechen bereitwillig ihre eigene Vergangenheit dar, womit wir hier explizit den römischen Einfluss auf die griechischen Vergangenheitsbezüge beobachten können. Doch der Befund muss differenziert werden, insofern nicht die gesamte römische Oberschicht ein positives Verhältnis zu den Griechen hatte. Cn. Piso schreckte, Germanicus folgend, die Bürger Athens durch seinen stürmischen Einzug auf.159 Die Athener seien durch zahlreiche Niederlagen ausgelöscht und Germanicus habe entgegen der Ehre des römischen Namens dieses heutige Völkergemisch beehrt. Die heutigen Athener seien nämlich die Verbündeten des Mithridates gegen Sulla und des Antonius gegen Augustus. Er warf ihnen auch vergangene Ereignisse vor, ihre unglücklichen Kämpfe gegen die Makedonen und grausames Vorgehen gegen die eigenen Mitbürger.160 Wenn die Athener auch Cn. Piso ihre glorreiche Vergangenheit dargelegt haben, gehörte dies nach Chaniotis zu den Gepflogenheiten griechischer Diplomatie.161 In diesem Fall hätten die Athener allerdings in einem Akt der Vorsicht gegenüber einem Römer nicht gerade ihre Freiheitskämpfe feiern dürfen. Bei Florus findet sich einerseits Kritik am griechischen Umgang mit der Vergangenheit und andererseits tritt bei ihm die römische Geschichte in Konkurrenz zur griechischen. Für Florus gab es keinen Krieg, der beeindruckender war als der 155 Plut. Sulla 14. Flor. Epit. 1,40,10 kolportiert die eigenen Worte Sullas: Postquam domuerat ingratissimos hominum, tamen, ut ipse dixit, in honorem mortuorum sacris suis famaeque donavit. 156 App. civ. 2,88,368. 157 Tac. Ann. 2,53: excepere Graeci quaesitissimis honoribus, vetera suorum facta dictaque praeferentes quo plus dignationis adulatio haberet. 158 Tac. Ann. 2,54: cupidine veteres locos et fama celebratos noscendi. Er besuchte auch noch Ilio quaeque ibi varietate fortunae et nostri origine veneranda („Ilion und alle Stätten, die dort wegen ihres wechselvollen Schicksals und der Herkunft unseres Volkes (d. i. der Römer, Anm. FU) verehrungswürdig sind […].“). Außerdem besuchte er im nächsten Jahr Ägypten um auch dort die Altertümer kennen zulernen, vgl. Tac. Ann. 2,59. 159 Tac. Ann. 2,55. 160 Tac. Ann. 2,55. Vgl. Hartmann 2010, 214. Syme 1958, II, 513. Hoff 1989, 275 f. vermutet, dass Piso die Athener aufgrund der Revolte von 13 n. Chr. derart stark kritisierte. 161 Vgl. Chaniotis 2008 und s. o. Kap. 3.4.
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Syrische Krieg gegen Antiochus – sogar verglichen damit, wie sich die Römer die Perserkriege mit Dareios und Xerxes vorstellten. Athen solle deshalb nicht übermäßig stolz auf seine Rolle in den Perserkriegen sein: „Wir besiegten mit Antiochus unseren Xerxes, mit Aemilius hatten wir unseren Alkibiades, bei Ephesos wetteiferten wir mit Salamis.“162 Die römische Perspektive des Florus zeigt sich auch darin, dass er den Besitz Europas gerechtfertigt sieht durch das Gesetz des Krieges.163 Die Zerstörung Korinths ist ihm quasi spectaculo exposita und sollte als abschreckendes Beispiel dienen.164 Kritisch äußert er sich über Kritolaos, der die Freiheit, welche die Römer den Griechen gaben, gegen sie verwendet und damit den Achäischen Krieg vom Zaun gebrochen habe.165 Sulla hatte im Mithridatischen Krieg Athen verschont ‚zur Ehre der toten Vorväter wegen der Heiligtümer und ihres vergangenen Ruhmes‘.166 Damit will Florus Sulla zitiert haben, was glaubhaft erscheint, da schon Plutarch in seiner Sulla-Vita diesen Grund für die ‚Schonung‘ Athens angibt.167 Außerdem sei erneut an den bereits angeführten Ausspruch Caesars nach dem Sieg bei Pharsalos erinnert.168 Auf Seiten der Römer finden wir ein zweigeteiltes Griechenbild, das einerseits zwischen pejorativen Stereotypen und der positiv konnotierten griechischen Kultur sowie Vergangenheit andererseits oszilliert. Die griechische Vergangenheit wird dabei aber nur selektiv wahrgenommen insofern sie für die Römer ‚unproblematisch‘ ist. Sobald es um militärische Leistungen geht, wird eine Relation zu gleichwertigen römischen Leistungen hergestellt. Plutarch weiß, dass die Römer den griechischen Niedergang mit der griechischen Kultur in Verbindung brachten: Dass sie nichts so sehr in Sklaverei und Verweichlichung geführt habe, wie das trockene Salben (d. i. nicht nach dem Bad) in den Gymnasien und Ringschulen.169 Dort seien Langeweile, Müßiggang, nachteilige Beschäftigung und Knabenliebe verbreitet. Die Griechen seien dadurch unvermerkt der Waffen entwöhnt worden. Statt gute Ringer zu werden, sollten sich die Jünglinge nach Meinung der Römer im Hoplitenkampf oder im Reiten üben. Plutarch macht aber an keiner Stelle eine Verbindung zwischen römischer Degeneration und griechischer Kultur auf, wie es Sallust im Catilina tut,170 wonach Sullas Heer aus Asia die Dekadenz importiert habe,171 oder wie Celsus die Römer durch den Einfluss griechischer desidia und luxuria vermehrt an Krankheiten leiden lässt.172 162 Flor. Epit. 1,24,13: in Antiocho vicimus Xerxen, in Aemilio Alcibiaden aequavimus, Epheso Salamina pensavimus. Salamis wird verglichen mit dem römischen Sieg über Antiochus III. bei Myonnesos (190 v. Chr.). Vgl. Swain 1996, 78 f. 163 Flor. Epit. 1,24,7: Europa iam dubio procul iure belli ad Romanos pertinebat. 164 Flor. Epit. 1,32,1. 165 Flor. Epit. 1,32,2 f. 166 Flor. Epit. 1,40,11: in honorem mortuorum sacris suis famaeque. 167 Flor. Epit. 1,40,10. Plut. Sulla 14. 168 App. Civ. 2,88. 169 Plut. qaest. rom. 274c–d. 170 Sall. Cat. 11,5–7. 171 Ein ähnliches Bild entwirft Dion Chrys. or. 33,26, wo er die Makedonen nach ihren östlichen Feldzügen und der Übernahme orientalischen Luxus’ zugrunde gehen lässt. 172 Cels. pr. 4 f.
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6 Herrschaft
Swain hat gesehen, dass für Plutarch stattdessen Macht für Degeneration verantwortlich war, im griechischen wie auch im römischen Bereich.173 Demnach verschwand Spartas Hegemonie, als seine Generäle zu viel Macht hatten.174 In der römischen Gesellschaft war die Bestechung erst durch ὄγκον καὶ δύναμιν aufgekommen.175 Das bedeutet, dass es für Plutarch darauf ankommt, wie man als Individuum mit Erfolg oder Misserfolg umgeht, d. h. wie man seine Macht gebraucht und nicht, ob eine Schlacht mit Sieg oder Niederlage beendet wurde. Was für das Individuum gilt, kann auch auf die Griechen-Römer-Kontroverse angewendet werden: Die Erfolge eines Flamininus, Mummius und Sulla werden folglich unterschiedlich bewertet. Flamininus erhält von Plutarch Anerkennung für seinen besonnenen und großzügigen Umgang mit den Griechen. Mummius und Sulla werden aufgrund ihrer Zerstörungen von Korinth bzw. Athen schlecht bewertet, obgleich sie Sieger waren, weil ihre Zerstörungstaten den Griechen gegenüber unnötig waren. 6.4 UMWERTUNGEN IN DER STÄRKEN- UND SCHWÄCHENDEBATTE In den vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, dass im Zeitraum zwischen Augustus und Dexippus etwa ab dem Ende des 1. Jh. n. Chr. mit Plutarch eine Phase zunehmender Distanz zwischen Griechen und Römern beobachtet werden kann, die sich in der Kritik an der Dichotomie zwischen Kulturgriechen und Herrschaftsrömern und der Umwertung römischer Herrschaft in eine Fremdherrschaft fassen lässt.176 Zimmermann hat in seiner Untersuchung der Entwicklungslinien kaiserzeitlicher Zeitgeschichtsschreibung ähnliche Beobachtungen bezüglich von Umwertungen gemacht. Er unterteilt drei Phasen, wonach zunächst von den Römern an der politischen Funktion von Geschichtsschreibung festgehalten wurde, was sich im Laufe des 1. Jh. n. Chr. durch soziale Veränderungen in der Führungsschicht und den Einfluss der Panegyrik langsam auflöste.177 Panegyrische Tendenzen sind indes bereits unter den griechischen Provinzialen wie Nikolaos von Damaskus und den bereits erwähnten Dionysios und Strabon bis zu Flavius Josephus zu beobachten. Die zweite Phase bildet das „Aufbäumen“ gegen diese Entwicklung nach der Ermordung des Domitian und unter den Kaisern Trajan und Hadrian. Zuletzt beobachtet er eine mehrere Generationen anhaltende Kapitulation der Zeitgeschichtsschreibung vor dem Kaiserlob des 2. Jh. n. Chr.
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Swain 1995, 231 f. Plut. Cato maj. 4,2 läuft parallel mit Per. 15,1 f. Plut. Arist. 23,7. Plut. comp. Arist. et Cato maj. 1,3. Vgl. z. B. Habicht 1985, 124: „Für Pausanias sind die Römer wie die Perser, die Makedonen, Gallier oder König Mithridates Fremde, die nicht nach Griechenland gehören und dort nicht herrschen sollten. Sie haben nichts zu dem beigetragen, was Pausanias als die spezifischen Werte Griechenlands ansieht: Religion, Literatur, Kunst, Philosophie oder, in einem Wort, die griechische Kultur.“ 177 Zimmermann 1999b, 20.
6.4 Umwertungen in der Stärken- und Schwächendebatte
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Für unsere Thematik ist dabei die beobachtete Zäsur nach dem Tod Domitians von Bedeutung, da die Forschung im Anschluss daran die Zeit der Zweiten Sophistik beginnen lässt und zunehmend philhellenische Kaiser auftreten. Was Zimmermann als ‚Aufbäumen‘ umschreibt ist die Figur der Gegenbewegung, die jede Bewegung dialektisch provoziert. Nach dem anfänglichen Integrationswillen der Griechen stärkten demnach seit Plutarch die Pepaideumenoi das griechische Selbstbewusstsein und erzeugten damit wieder mehr Distanz zu den Römern und ihrer Herrschaft. Bemerkenswert ist, dass die Griechen ihre kritische Distanz zu den Römern nicht im Medium der Zeitgeschichtsschreibung vortrugen, sondern im Medium des Vergangenheitsbezuges. Das mag damit zusammengehangen haben, dass die Vergangenheit zunächst ein gefahrloserer Ort als die Zeitgeschichtsschreibung war, an dem dennoch Kritik und politische Positionen subtil vorgebracht werden konnten. Am Bellum Judaicum des Flavius Jospehus können wir als Dokument flavischer Zeitgeschichtsschreibung sehen, wie aufwändig die Argumentationen im Gegensatz zur Anführung von Vergangenheitsbezügen ablaufen mussten (Kap. 5.2). Josephus bediente sich dabei einer Umwertung in der Stärken-Schwächen-Debatte auf dem Gebiet militärischer Erfolge. Im Vorwort wendet sich Jospehus explizit gegen schon existierende Beschreibungen des Jüdischen Krieges, deren Makel darin bestehe, dass sie den Römern schmeicheln würden.178 Er will explizit gegen diejenigen anschreiben, welche die Römer durch ihre Schmeichelei in ihrer Größe darstellen, wobei er nicht einsieht, warum es ruhmvoll sei, wenn das große Rom das kleine Judäa besiegt habe.179 Josephus steht also vor einer doppelten Schwierigkeit im Gegensatz zu den einfachen Schmeichlern, weil er als ‚flavischer Hofhistoriograph‘ einerseits den Römern schmeicheln muss und andererseits seinen selbst gesetzten historiographischen Normen folgen will. Es ist also seine Aufgabe, die militärische und politische Größe Judaeas aufzubauen, da es keine besondere Leistung der Römer gewesen wäre, wenn sie einen schwachen Feind besiegt hätten: Nur Heldentaten erzeugen Ruhm. Vergleichen wir dies mit einem anderen Rombefürworter, fällt die unterschiedliche Akzentsetzung auf. Dionysios von Halikarnassos bietet sich hier an, da er sich mit seinem Geschichtswerk von den Anfängen Roms in einer ähnlichen hermeneutischen Situation wie Josephus wiederfindet.180 Dionysios sieht es als ein Naturgesetz an, dass die Stärkeren den Schwächeren gebieten. Die Tyche sei nicht anzuklagen, da sie einer unwürdigen Stadt nicht eine so große und lang andauernde Herrschaft gegeben hätte.181 Dionysios führt schlicht das Recht des Stärkeren an, das in seiner Zeit als Konzeptualisierung der römischen Fremdherrschaftslegitimation zwar die Romkritiker nicht überzeugte, für seine historiographische Herme-
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Ios. BJ 1,2. Ios. BJ 1,7. S. o. Kap. 6. Dion. Hal. ant. 1,5,2.
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6 Herrschaft
neutik aber ausgereicht hat. Die Tyche und der Erfolg des Stärkeren entsprechen dabei nicht einmal der römischen Vorstellung eines bellum iustum.182 Wenn wir uns Plutarch mit seinen Parallelbiographien zuwenden, können wir Umwertungen beobachten, die sowohl auf griechische als auch römische Vorstellungen reagieren. Von ihrer Konzeption her zielen die Parallelbiographien nämlich sowohl auf die Beeinflussung der Griechensicht der Römer als auch auf die Selbstsicht der Griechen.183 Den 24 römischen Viten stehen zehn athenische, vier spartanische, zwei makedonische und zwei thebanische (davon eine verloren) gegenüber: Sie reichen chronologisch bis zum letzten Widerstand gegen auswärtige Mächte (Philopoimen). Die Demosthenes- bzw. Philopoimen-Vita bildet den Endpunkt des freien Griechenlands innerhalb der Parallelbiographien.184 Am Anfang der klassischen Reihenfolge der Viten stehen die eher programmatischen Theseusund Romulus-Viten, wodurch Athen und Rom in einen direkten Vergleich gesetzt werden.185 Doch wie wird der Vergleich hergestellt, wenn es sich historisch gesehen um so ungleiche Vergleichspartner handelt?186 Den Griechen wurde vermittelt, dass die Römer nicht nur Feldherren waren, sondern bisweilen auch für (griechische) Bildung enthusiasmierte Gestalten vorzuweisen hatten. In den römischen Viten legt Plutarch tatsächlich ein größeres Augenmerk auf deren Paideia als bei den Griechen.187 Während die polybianische Deutung des Weltgeschehens die griechischen Poleis vor dem Hintergrund des Romzentrismus marginalisierte, entheben Plutarchs ‚ahistorische‘ Biographien188 die Griechen wieder dieser Marginalität, da der Vergleichsmaßstab nicht nur die politische sondern auch eine ethische Dimension aufweist. Die eigentliche Geschichte von Theseus bis Antonius ist durch Plutarchs Viten neutralisiert worden, da die Vergangenheit durch die exemplarischen Werte nachgebaut wurde.189 Doch nicht nur auf der ethischen Ebene stellt er Gleichheit her, was die Griechen gegenüber allen anderen beherrschten Provinzialen aufwertet,190 sondern auch auf politischer und militärischer: Als Staatsmänner, Gesetzgeber und Feldherren sind die Griechen den 182 Bellum iustum bei Cic. off. 1,11,34. rep. 3,34,35. Keller 2012 speziell zu Cicero, allgemeiner Loreto 2001. Mantovani 1990. Clavadetscher 1985. Albert 1980. 183 Lamberton 1997, 155. 184 Gerade Demosthenes ist ein bevorzugtes Thema in den Reden der Zweiten Sophistik. Warum war Demosthenes so beliebt bei den kaiserzeitlichen Griechen (und Römern)? Aus römischer Perspektive stellte Demosthenes den letzten (gescheiterten) Versuch der Abwehr einer fremden Herrschaft über Griechenland dar. Für Pausanias war Philopoimen der ‚letzte Wohltäter der Hellenen‘ aufgrund seines Widerstandes gegen die Römer, vgl. Paus. 8,52,1. 185 Lamberton 1997, 157. 186 Aristides betont in der Rom-Rede mehrfach, wie prekär seine Vergleiche ausfallen, wenn er das große Rom mit dem kleinen, zerstrittenen Griechenland vergleicht. Aristeid. or. 26,4. 9. 14. 40 f. 51. 187 Swain 1995, 234. S. o. Kap 6.3. 188 Plut. Alex. 1,2: οὔτε γὰρ ἱστορίας γράφομεν, ἀλλὰ βίους […]. 189 Lamberton 1997, 158. 190 Die Griechen sahen sich in ihrem Verhältnis gegenüber den Römern verglichen mit anderen Provinzialen immer mit einem Sonderstatus versehen, so etwa Aristeid. or. 26,96, dass sich die Römer um die Griechen fortwährend wie um ‚Pflegeeltern‘ kümmern würden, womit die privilegierte Stellung der Griechen einerseits begründet, andererseits weiterhin gefordert wird.
6.4 Umwertungen in der Stärken- und Schwächendebatte
253
Römern ebenbürtig.191 Die Ebenbürtigkeit bezieht sich jedoch nicht auf historische Großtaten, sondern auf Ethik und Charakter der Protagonisten. Insbesondere der Umgang mit Niederlagen ist für Plutarch von entscheidender Bedeutung für die ethische Bewertung einer Person.192 Dies ließe sich mit Pausanias’ Schilderung von Pyrrhos’ Krieg gegen die Römer parallelisieren, der bekanntlich nicht von Erfolg gekrönt war. Pausanias rühmt Pyrrhos allerdings für seinen Mut und seine Voraussicht, da er als erster Grieche (sic!) die Römer bekämpft habe.193 In de gloria Atheniensium behandelt Plutarch die Frage, ob die Athener berühmter für ihre Kriegstaten oder Leistungen auf dem Gebiet der Weisheit waren. Er kommt zu dem Schluss, dass die militärischen Erfolge die intellektuellen überwogen. Dies stellt nicht nur für uns eine ungewöhnliche Umwertung dar, sondern muss es auch für die Römer gewesen sein.194 Plutarch weiß, dass die Römer den politischen Niedergang Griechenlands mit der griechischen Kultur in Verbindung brachten.195 Er stellt aber keine Verbindung zwischen römischer Degeneration und griechischer Kultur her, wie es noch Sallust oder Celsus getan hatten.196 Stattdessen sah er Machtakkumulation für die Degeneration verantwortlich, im griechischen wie auch im römischen Bereich.197 Die Parallelbiographien haben also hauptsächlich zwei Funktionen: Einerseits bekräftigen sie vor dem Hintergrund des römischen Bildes vom Kulturgriechen die Würde Griechenlands auf politischer und militärischer Ebene und nicht nur auf ästhetischer. Andererseits setzen sie gegen das polybianische Modell mit dem Fokus 191 192 193 194
Lamberton 1997, 155–160. Lamberton 2001, 66. Vgl. Nikolaidis 352: e. g. Plut. Ant. 17,4–5. Aem. 35 f. comp. Aem. et Tim. 2,10. Paus. 1,11,7. Plut. de glor. Ath. 345c. 349b mit Lamberton 1997, 156. Cicero und Plinius der Jüngere geben gleichermaßen die große Vergangenheit des Volkes zu bedenken, über das die Römer jetzt herrschen (Cic. Q. fr. 1,1,27. Plin. ep. 8,24.). Die Griechen werden bei Cicero explizit abgegrenzt gegen barbarische nationes wie Afrika, Spanien oder Gallien. Die Griechen brachten demnach den Römern die humanitas, die man ihnen jetzt auch schulde, wenn man über sie herrsche. 195 Swain 1995, 231. Plut. qu. R. 40 p. 274d: Dem Iuppiter-Priester ist das Salben nach griechischer Sitte, d. h. trocken etwa im Gymnasion und eben nicht nach dem Bad, nicht gestattet: τὸ γὰρ ξηραλοιφεῖν ὑφεωρῶντο Ῥωμαῖοι σφόδρα, καὶ τοῖς Ἕλλησιν οἴονται μηδὲν οὕτως αἴτιον δουλείας γεγονέναι καὶ μαλακίας, ὡς τὰ γυμνάσια καὶ τὰς παλαίστρας, πολὺν ἄλυν καὶ σχολὴν ἐντεκούσας ταῖς πόλεσι καὶ κακοσχολίαν καὶ τὸ παιδεραστεῖν καὶ τὸ διαφθείρειν τὰ σώματα τῶν νέων ὕπνοις καὶ περιπάτοις καὶ κινήσεσιν εὐρύθμοις καὶ διαίταις ἀκριβέσιν, ὑφ' ὧν ἔλαθον ἐκρυέντες τῶν ὅπλων καὶ ἀγαπήσαντες ἀνθ' ὁπλιτῶν καὶ ἱππέων ἀγαθῶν εὐτράπελοι καὶ παλαιστρῖται καὶ καλοὶ λέγεσθαι. („Denn die Römer hatten eine gar schlechte Meinung von dem trockenen Salben, indem nach ihrer Ansicht, die Griechen Nichts so sehr in Sklaverei und Verweichlichung gestürzt hat, als die Gymnasien und Ringschulen, die in den Städten lange Weile, Müßiggang und nachteilige Beschäftigung oder Knabenliebe veranlasst, und die Körper der jungen Leute durch abgemessenen Schlaf, Spazierengehen und Bewegung, so wie durch eine strenge Diät, verdorben, indem sie dadurch unvermerkt der Waffen entwöhnt worden und statt Hopliten und guten Reitern lieber gewandte und tüchtige Ringer heißen wollten.“). 196 Sall. Cat. 11,5–7. 12,9–24. Cels. pr. 4 f. 197 Plut. Cato maj. 4,2 parallel mit Per. 15,1 f. Spartas Hegemonie verschwand, als seine Generäle zu viel Macht hatten (Plut. Arist. 23,7). In der römischen Gesellschaft ist die Bestechung erst durch ὄγκον καὶ δύναμιν gekommen (Plut. comp. Arist. et Cato maj. 1,3).
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6 Herrschaft
auf Rom, der daraus folgenden Marginalisierung Griechenlands aufgrund seiner Lage an der Peripherie und der Unausweichlichkeit der römischen Eroberung, eine Partnerschaft von Gleichen. Als Beispiel für die Inversion gängiger Vorstellungen kann wiederum der Vergleich des Vitenpaars von Philopoimen und Flamininus herhalten. Hier wird sowohl der Widerstandsgeist des Griechen als auch der Philhellenismus des Römers gewürdigt. Wenn man das Augenmerk auf die Wohltaten gegenüber Griechenland lege, so könne man Philopoimen und andere Griechen, die gegen Griechen Krieg geführt haben, Flamininus nicht an die Seite stellen, denn Philopoimen habe als Feldherr der Achaier mehr Griechen getötet als Titus als Nichtgrieche Makedonen, um den Griechen zu helfen.198 Dann ordnet Plutarch beide in den historischen Kontext ein: ἔτι δ’ ὁ μὲν τῇ Ῥωμαίων ἀκμὴν ἐχούσῃ δυνάμει χρησάμενος, ὁ δὲ τῆς Ἑλλάδος ἤδη φθινούσης παρακμασάς, δόξαν ἔσχεν, ὥστε τοῦ μὲν ἴδιον, τοῦ δὲ κοινὸν ἔργον εἶναι τὸ κατορθούμενον· Die Erfolge des Griechen sind sein alleiniges Verdienst, denn er lebte in einer Zeit, als Griechenland dahinwelkte; Titus dagegen gewann seinen Ruhm gemeinsam mit anderen und mit Hilfe der Macht Roms, die auf ihrem Höhepunkt stand.199
Das dahinwelkende Griechenland (Ἑλλὰς φθίνουσα) wurde damals bereits von politischer Schwäche ergriffen (ἀσθένεια τῶν Ἑλληνικῶν πραγμάτων), die der zeitgenössische Politiker nach den Praecepta gerendae reipublicae seinen Landsleuten immer wieder in Erinnerung rufen soll.200 Das Kriterium für den Ruhm Philopoimens ist die Tatsache, dass er in einer historisch schwierigen Situation für Griechenland aus eigener Kraft Widerstand leistete. Hingegen wurde Flamininus getragen von der Macht Roms, die somit seine Leistungen gegenüber denen des Griechen mindert. Das setzt sich fort, als es zur abschließenden Bewertung kommt: γενναῖα μὲν οὖν Τίτου τὰ πρὸς τοὺς Ἕλληνας ἐπιεικῆ καὶ φιλάνθρωπα, γενναιότερα δὲ Φιλοποίμενος τὰ πρὸς τοὺς Ῥωμαίους σκληρὰ καὶ φιλελεύθερα· ῥᾷον γὰρ χαρίζεσθαι τοῖς δεομένοις ἢ λυπεῖν ἀντιτείνοντα τοὺς δυνατωτέρους. Edel war die Milde und Menschenfreundlichkeit des Titus den Griechen gegenüber, noch edler Philopoimens Festigkeit und seine Freiheitsliebe den Römern gegenüber; denn es ist leichter, sich den Bedürftigen freundlich zu erweisen, als die Mächtigeren durch Widerstand zu reizen.201
Hier wird das Bild des Kulturgriechen invertiert, der sich vielmehr durch militärische Leistung auszeichnet, der Römer hingegen durch seine Tugend der Milde. Da Widerstand aus einer inferioren Position heraus jedoch kein Zeichen von Schwäche ist, erhält Philopoimen gegen Flamininus bei Plutarch den Vorzug. Gründe für den Niedergang Griechenlands und den Aufstieg Roms, die gleichermaßen in diese Wertung mit aufgenommen werden, werden jedoch nicht konkret adressiert. Hier, wie auch bei Pausanias, ist nicht die militärische, politische etc. Stärke der Römer für den Niedergang Griechenlands verantwortlich,202 sondern die von 198 199 200 201 202
Plut. comp. Philop. et Flam. 1,1. Plut. comp. Philop. et Flam. 2,1. Plut. praec. ger. reip. 824e. Plut. comp. Philop. et Flam. 3,3. Pretzler 2007, 28.
6.4 Umwertungen in der Stärken- und Schwächendebatte
255
Plutarch bereits angesprochene Schwäche, die Zwietracht und der Verrat unter den Griechen sowie die Machenschaften der Makedonen.203 Damit entheben Pausanias und Plutarch die Römer ihres Siegeserfolges und -ruhmes, da sie Griechenland an seiner eigenen Schwäche haben scheitern lassen und nicht an der Stärke des Siegers. Bereits während des Einfalls der Galater lässt Pausanias deren Anführer Brennos die Schwäche der Griechen diagnostizieren, was gepaart mit der Aussicht auf reiche Beute vor allem aus den Heiligtümern eine günstige Gelegenheit für einen Angriff biete.204 Von den Griechen wurde folglich die eigene Schwäche als Grund für unterbliebene Hilfeleistungen im Kampf gegen die Galater angeführt.205 Zu völliger Schwäche herabgesunken sei Griechenland nach dem verlorenen Achäischen Krieg und der Zerstörung Korinths.206 Pausanias identifiziert nicht etwas Göttliches, die Tyche, die Römer oder ein sonstiges Widerfahrnis, sondern den Verrat des Griechen Kallikrates als den Grund sowohl für den Krieg gegen die Römer, als auch für die Niederlage. Damit setzt er den eigentlichen Grund lange vor den entscheidenden Ereignissen des Achäischen Krieges an, für dessen Protagonisten Kritolaos und Diaios er eine andere Diagnose stellt. τὸ μὲν δὴ ἄνδρα βασιλέα καὶ πόλιν ἀνελέσθαι πόλεμον καὶ μὴ εὐτυχῆσαι συνέβη φθόνῳ μᾶλλον ἔκ του δαιμόνων ἢ τοῖς πολεμήσασι ποιεῖ τὸ ἔγκλημα· θρασύτης δὲ ἡ μετὰ ἀσθενείας μανία μᾶλλον ἢ ἀτυχία καλοῖτο. ὃ δὴ καὶ Κριτόλαον καὶ Ἀχαιοὺς ἔβλαψε. Dass ein König oder eine Stadt einen Krieg begonnen hat und dabei glücklos blieb, wird man mehr dem Neid irgendeiner Gottheit zuschreiben, als man daraus dem Kriegführenden einen Vorwurf machen könnte. Dreistigkeit mit Schwäche verbunden, würde man eher Wahnsinn als Unglück nennen. Dies betraf auch den Kritolaos und die Achaier.207 203 Letzteres: Paus. 3,7,11. 1,25,3. 8,52,3. 204 Paus. 10,19,8: ἔνθα δὴ ὁ Βρέννος πολὺς μὲν ἐν συλλόγοις τοῖς κοινοῖς, πολὺς δὲ καθ' ἕκαστον ἦν τῶν ἐν τέλει Γαλατῶν ἐπὶ τὴν Ἑλλάδα ἐπαίρων στρατεύεσθαι, ἀσθένειάν τε Ἑλλήνων τὴν ἐν τῷ παρόντι διηγούμενος καὶ ὡς χρήματα πολλὰ μὲν ἐν τῷ κοινῷ, πλείονα δὲ ἐν ἱεροῖς τά τε ἀναθήματα καὶ ἄργυρος καὶ χρυσός ἐστιν ἐπίσημος· ἀνέπεισέ τε δὴ τοὺς Γαλάτας ἐλαύνειν ἐπὶ τὴν Ἑλλάδα, καὶ αὑτῷ συνάρχοντας ἄλλους τε προσείλετο τῶν ἐν τέλει καὶ τὸν Ἀκιχώριον. („Da trieb sie Brennos in allgemeinen Voksversammlungen und einzeln, wenn einer bei den Galatern Einfluss hatte, hartnäckig an, gegen Griechenland zu ziehen, in dem er die augenblickliche Schwäche der Griechen, die Größe der Schätze der Gemeinden und vor allem die Weihgeschenke und das geprägte Silber und Gold in den Heiligtümern beschrieb. Dadurch überredete er die Galater, gegen Griechenland zu zieheen, und von den einflussreichen Männern wurde Akichorios zu seinem Mitfeldherrn gewählt.“). 205 Paus. 1,4,1: καὶ ὡς ἐγγὺς Θερμοπυλῶν ἐγίνοντο, ἐνταῦθα οἱ πολλοὶ τῶν Ἑλλήνων ἐς τὴν ἔφοδον ἡσύχαζον τῶν βαρβάρων, ἅτε ὑπὸ Ἀλεξάνδρου μεγάλως καὶ Φιλίππου κακωθέντες πρότερον· καθεῖλε δὲ καὶ Ἀντίπατρος καὶ Κάσσανδρος ὕστερον τὸ Ἑλληνικόν, ὥστε ἕκαστοι δι' ἀσθένειαν οὐδὲν αἰσχρὸν ἐνόμιζον ἀπεῖναι τὸ κατὰ σφᾶς τῆς βοηθείας. („Und wie sie in die Nähe der Thermopylen kamen, da warteten die meisten Griechen in Ruhe das Anrücken der Barbaren ab, weil sie früher schon von Alexander dem Großen und Philipp geschwächt waren. Auch später noch hatten Antipater und Kassander die Griechen gedemütigt, sodass ein jeder es aus Schwäche nicht für schimpflich hielt, sich der Hilfeleistung zu entziehen.“). 206 Paus. 7,17,1: ἐς ἅπαν δὲ ἀσθενείας τότε μάλιστα κατῆλθεν ἡ Ἑλλάς, λυμανθεῖσα κατὰ μέρη καὶ διαπορθηθεῖσα ἐξ ἀρχῆς ὑπὸ τοῦ δαίμονος. („Damals war Griechenland zu völliger Ohnmacht herabgekommen, in seinen Teilen zerrüttet und von Anfang an vom Daimon verwüstet.“). 207 Paus. 7,14,6.
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Dreistigkeit und Schwäche, mithin eine μανία, haben demnach zur Niederlage geführt und nicht ein externes Widerfahrnis.208 An keiner Stelle zieht Pausanias aber in Betracht, dass die Römer einen gerechten Krieg geführt oder aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit gewonnen hätten. Das enthebt sie gänzlich ihres Ruhmes, da der Sieg über einen schwachen Feind keinen Ruhm hervorruft. Appian, der „bei der traditionellen Liste der Weltreiche das römische nicht zuungunsten des makedonischen aufwertet und letzteres an Bürgerkriegen und fehlender Geschlossenheit, mithin der eigenen Schwäche, nicht der Stärke der Sieger zugrunde gehen läßt“,209 beteiligt sich somit auch an der Umwertung römischer Herrschaft. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn die Diadochenreiche ihre Schwäche überwunden und einig gewesen wären, hätten sie den Römern standhalten können. Während die Griechen ihre historische und zeitgenössische Uneinigkeit bedauerten, sind die ἡλλενικὰ ἁρματήματα sprichwörtlich bei den Römern und Gegenstand von Spott.210 Als Athener und Spartaner sich noch gegenseitig den Ruhm streitig machten, ging es nicht um den bloßen Titel der Metropolis oder darum, wer den Festzug anführen dürfe, sondern um wirkliche Macht, wie Dion Chrysostomos bemerkt.211 Dionysios macht schon die Aufzählung von Gelegenheiten traurig, bei denen Griechen gegen Griechen kämpften.212 Plutarch ist überzeugt, dass ungeachtet der Errungenschaften während der Perserkriege, Griechenland immer nur gestritten und sich selbst versklavt hatte.213 Pausanias meint in seiner Aufzählung derjenigen Griechen, die sich um das Gemeinwohl ganz Griechenlands gesorgt hätten, die Berühmteren des Peloponnesischen Krieges solle man Selbstmörder nennen, weil sie Griechenland fast zugrunde gerichtet hätten.214 In der Rom-Rede präsentiert Aristides den Römern eine ähnliche Deutung, die zwar an die Uneinigkeit anknüpft,215 mit der Unfähigkeit zur Herrschaft spielt, letztlich jedoch konstatiert, dass sämtliche Kriege früherer Zeiten unter Griechen 208 Gruen 1976 machte eine falsche Bewertung der Ausgangslage und Kalkulation beider Seiten verantwortlich für den Kriegsausbruch. 209 Pabst 2014a, 406. App. praef. 9 (32–34). Dazu ausführlicher Pabst 2010, 132–134. 210 Dion Chrys. or. 38,38. Aristeid. or. 3,693. Vgl. auch Auctor de Bell. Alex. 15,1 und Tac. hist. 3,47. 211 Dion Chrys. or. 38,38. 212 Dion. Hal. ant. 14,6,4 f., wie die Athener Samos oder die Lakedaimonier Messenien behandelt haben, als sie nach der Herrschaft strebten. 213 Plut. Flam. 11,6. 214 Paus. 8,52,3. 215 Vgl. Aristeid. or. 26,51. Dort diskutiert er den Kampf um die Hegemonie in Griechenland bis Leuktra, woraufhin er sich bei den den zeitgenössischen Griechen entschuldigt, dass er die Beispiele nicht gesammelt habe, um die Griechen anzuklagen wie der „bewundernswerte Verfasser des Trikaranos“. Aristides mag Anaximenes θαυμαστός genannt haben aufgrund seiner treffenden Charakterisierung des griechischen Streits oder seiner sprachlichen Qualitäten wegen (vgl. Paus. 6,18,5 f., Anaximenes imitierte Theopomps Stil und gab den Trikaranos unter dessen Namen heraus; er war der erste, der Stehgreifreden hielt). Anaximenes von Lampsakos, hatte den Trikaranos verfasst, um auf die Unfähigkeit Athens, Spartas und Thebens hinzuweisen, die aufgrund ihres fortwährenden Streits bis zur makedonischen Hegemonie nicht die Herrschaft über Griechenland behaupten konnten. Vgl. auch Varros Satire zum Triumvirat Tricipitinum, Ios. c. Ap. 1,24 mit einem Τριπολιτικὸς und Lukian. Pseudol. 29.
6.5 Die eigenen Anführer als Verräter an der Heimat
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ausgebrochen seien, weil es um die Herrschaft und den ersten Rang ging.216 Zwar sei Herrschaft nicht demjenigen zuträglich, der die Fähigkeit dazu nicht besitze – von Besseren beherrscht zu werden, sei jedoch auch nur die zweitbeste Wahl.217 Wie wir bereits gesehen haben, sei die ‚Kunst des Herrschens‘ eine römische Entdeckung, wenn es sie vor den Römern gegeben hätte, sei sie aber als Erfindung bei den Griechen zu suchen, da diese sich am meisten vor allen anderen Völkern durch Weisheit ausgezeichnet haben.218 6.5 DIE EIGENEN ANFÜHRER ALS VERRÄTER AN DER HEIMAT In der Abschlussreflexion über die römische Eroberung Griechenlands durch die Römer konstatiert Pausanias: Griechenland sei im Ganzen damals am meisten in Schwäche herabgesunken, in seinen Teilen zerrüttet und von Anfang an vom Daimon zu Grunde gerichtet worden.219 Pausanias führt daraufhin eine Liste mit Belegen für seine These an, die bereits in Kap. 4.2.3 diskutiert wurde. Aufmerksamkeit verdient aber wiederholt der letzte Punkt dieser Liste: Den Achäischen Bund habe bei seinem besten Gedeihen schließlich die Schlechtigkeit seiner Anführer vernichtet (ἡ κακία τῶν στρατηγησάντων ἐκόλουσεν ἔτι αὐξανόμενον). Bei allen anderen Aufzählungsgliedern macht Pausanias externe Faktoren für Niederlagen verantwortlich, ausgenommen beim Achäischen Bund. Im Folgenden werden unter besonderer Berücksichtigung des Pausanias die Gründe herausgearbeitet, die nach Ansicht der Autoren unserer Quellenauswahl für die Niederlage der Griechen im Achäischen Krieg verantwortlich waren. Die Perspektive soll chronologisch aber noch erweitert werden, indem die Unterschiede zum Narrativ des Polybios herausgestellt werden, der als Erster über die Gründe reflektierte. Obwohl es sich beim Achäischen Krieg um einen Freiheitskampf handelte, werden von Pausanias der Verrat an Griechenland, deren Mania und die Schlechtigkeit der eigenen Anführer als Grund für die Niederlage angeführt. Letzteres Narra-
216 Aristeid. or. 26,69. Contra Klein 1983, 96 Anm. 83, der meint, dass Aristides „jenen Teil der römischen Herrschaftslegitimation übernommen hat (wie auch Dion, Plutarch u. a.), wonach die römische ἀρχή dadurch notwendig geworden sei, daß vorher die einzelnen Staaten und Völker nicht fähig gewesen seien, sich selbst zu regieren, sondern sich durch unaufhörlichen Bürgerzwist zugrunde gerichtet hätten.“ Vgl. jedoch auch Aristeid. or. 26,51 (die Griechen waren tüchtiger als alle anderen, wenn es galt, gegen Herrscher Widerstand zu leisten, die Perser zu besiegen, ihren Reichtum zu opfern und Mühen zu ertragen; aber selbst zu herrschen, dazu fehlte ihnen noch die Erfahrung, und als sie es versuchten, scheiterten sie). 217 Aristeid. or. 26,68. 218 Aristeid. or. 26,51. 219 Paus. 7,17,1: ἐς ἅπαν δὲ ἀσθενείας τότε μάλιστα κατῆλθεν ἡ Ἑλλάς, λυμανθεῖσα κατὰ μέρη καὶ διαπορθηθεῖσα ἐξ ἀρχῆς ὑπὸ τοῦ δαίμονος. („Damals war Griechenland zu völliger Ohnmacht herabgekommen, in seinen Teilen zerrüttet und von Anfang an vom Daimon verwüstet.“). Folgendes bezieht sich auf Paus. 7,17,1–4.
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6 Herrschaft
tiv enthält, auch wenn es bei Polybios bereits angedeutet ist,220 durch seine Aktualisierung, Zuspitzung und Veränderung durch Pausanias in der Kaiserzeit ein hohes Kritikpotenzial der Griechen gegenüber den Römern.221 Wenn die eigenen Anführer der Griechen die Niederlage herbeigeführt haben, ließe dies keinen Platz mehr für Roms Ruhm als Sieger. Zwar hat bereits Thornton in diesem Zusammenhang betont, dass Pausanias die Geschichte vom Ende des Achäischen Bundes keinesfalls lediglich vom romfreundlichen Polybios abgeschrieben, sondern ihr bewusst innerhalb seiner literarischen Gestaltung eine romkritische Note gegeben hat.222 Aber Pausanias hat – was im Folgenden zu zeigen sein wird – fundamental andere Akzente als Polybios gesetzt, indem er das Ende des freien Griechenlands bereits mit der Gesandtschaft des Römerfreundes Kallikrates 180 v. Chr. beginnen lässt und nicht erst mit den achäischen Strategen im Achäischen Krieg. Wir rekapitulieren kurz die Darstellung des Polybios, der die römische Herrschaft zunächst auch als ein gemeinsames Unglück für die Griechen betrachtete (τὸ κοινὸν ἀτύχημα).223 Anfang und Vollendung dieses Unglücks datiert er mit dem Abfall der Lakedaimonier vom Achäischen Bund (150 v. Chr.). Das ergibt sich daraus, dass die Römer als Vermittler dem Bund Einhalt geboten, als dieser die Lakedaimonier zurück in das Koinon zwingen wollte. Ein Krieg gegen Sparta war gleichbedeutend mit einem Krieg gegen Rom, der in der Zerstörung Korinths 146 v. Chr. seinen Abschluss fand. Polybios hatte angesichts der hegemonialen Macht Roms und seines raschen Aufstiegs innerhalb von nur 53 Jahren zur beherrschenden Macht im Mittelmeerraum eine Perspektive auf seine Heimat Griechenland, welche die römische Herrschaft bereits zur Notwendigkeit machte. Er formulierte als Ziel seiner Historien ausdrücklich, dass sich aus ihnen ergeben soll, ob die römische Herrschaft in der Gegenwart zu bejahen oder abzulehnen ist, für künftige Generationen lobens- und nachahmenswert oder zu tadeln ist.224 Ähnlich wie später Flavius Josephus sah er
220 Vgl. auch Paus. 7,7,8 f., wo die Achaier nach den Galatern die mächtigsten sind, weil sie keine Tyrannen hatten (außer in Pellene), Krieg und Pest fast keine Auswirkungen auf sie hatten und eine gemeinsame Bundesversammlung besaßen. Pausanias folgt damit zunächst dem Urteil des Polybios, der dem Achäischen Bund, bedingt durch dessen demokratische Verfassung, Prosperität bescheinigt (Polyb. 2,37). Dies sagt er vor seinem zweiten Proöm und der Zerstörung Korinths 146 v. Chr. Polybios führt weiter aus, dass die Achaier früher nicht die gemeinsame Freiheit, sondern die eigene Herrschaft bevorzugt hätten. Heute (noch vor der Zerstörung Korinths) erlebten sie sowohl ein überraschendes Wachstum als auch innere Einigkeit. 221 Vgl. Schwertfeger 1974, 3–18 zur Kriegsschuld, die er bei Rom sieht, wonach die Darstellung des Polybios sehr romfreundlich sei. Gruen 1976, 46–69 macht eine falsche Bewertung und Kalkulation beider Seiten verantwortlich für den Krieg. Ähnlich Notmeyer 1995, 163, der „Fehleinschätzung der eigenen politischen Situation“ der Achaier erkennen will. Vgl. jedoch die Grundsatzdebatte bei Polyb. 21,11–13, in der Philopoimen die Machtüberlegenheit Roms deutlich erkennt. Es komme eine Zeit, in der es einen Zwang gebe, römischen Befehlen nachzukommen. Es gelte jedoch, diesen Zustand so lange wie möglich aufzuschieben. 222 Thornton 2005, 215. 223 Polyb. 3,5,6. 224 Polyb. 3,4.
6.5 Die eigenen Anführer als Verräter an der Heimat
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sich deswegen den Vorwürfen des Opportunismus ausgesetzt.225 Beide Historiker vereint die Erfahrung des Besiegtwerdens, da Polybios auf Betreiben des prorömischen Kallikrates als einer der 1000 Achäer im Anschluss an Pydna 167 v. Chr. nach Rom gebracht wurde. Dort wurden er und seine Landsleute 17 Jahre als Geiseln festgesetzt bis 150 v. Chr. nur noch 300 in die Heimat zurückkehrten.226 Polybios entgegnete seinen Kritikern vorsorglich, die ihn eines missgünstigen Urteils über die Griechen bezichtigten, er halte sich als Verfasser eines politischen Geschichtswerkes an die Wahrheit.227 In Notzeiten sei es trotzdem seine Pflicht, als Grieche den Griechen zu helfen durch „Abwehr von Angriffen, durch Entschuldigen, durch den Versuch, den Zorn der Sieger zu besänftigen.“228 Tatsächlich hat er nach der Niederlage des Achäischen Bundes bei den Römern für eine milde Behandlung der Griechen gesorgt. Noch Pausanias erwähnt seine Ehrungen in Achaia und würdigt ihn eher als Politiker anstatt als Historiker.229 Zwar muss Polybios vor 168 v. Chr. in einer Linie mit der römerfeindlichen Partei des Achäischen Bundes, angefangen von Arat über Philopoimen bis Lykortas, gesehen werden; einen offenen Krieg mit den Römern hätte er aber allein schon aus Vernunftgründen nicht angezettelt. Deshalb macht er den Wahnsinn der griechischen Anführer für ihre Handlungen verantwortlich. Die den Krieg vom Zaun brechende Gruppe um Diaios und Kritolaos – „es waren wie absichtlich ausgesucht die Schlechtesten aus jeder Stadt, gottverhasste Menschen, Verderber des Volkes“ – habe vollständig den Verstand verloren.230 Die in Polybios’ Werk transportierte Romfreundlichkeit wird indes augenfällig, wenn er einwirft, dass die Achaier in den Augen der Römer ihre treuesten Bundesgenossen waren, sodass sie ihnen nur einen Schrecken einjagen wollten, keineswegs aber Krieg mit ihnen anfangen und es zum Bruch kommen lassen wollten.231 Trotzdessen, dass die Römer den achäischen Anfeindungen mit Gelassenheit begegneten und eine Umkehr vom Konfrontationskurs möglich schien, verfolgte die Gruppe um Kritolaos weiter ihre unsinnige Politik, was bei der Unerfahrenheit und Schlechtigkeit der Führer des Bundes nicht verwunderlich sei. Sextus kam als Gesandter der Römer mit dem Urteil nach Italien zurück, dass Kritolaos wahnsinnig 225 Dass ein Vergleich von Polybios und Josephus keinesfalls abwegig ist, zeigt Walbank 2003, 258–276. Zu Josephus s. o. Kap. 5.2. 226 Paus. 7,10 aus Plut. Cat. mai. 9. Vgl. Polyb. 31,8. 35,6. 227 Polyb. 38,4. Vgl. Ios. BJ 1,4. 228 Polyb. 38,4. 229 Paus. 8,9,1 Polybios-Statue in Mantineia (insgesamt 5 in Arkadien). 8,30,8 f. Relief an Stele von Polybios Lykortas’ Sohn in Megalopolis mit Epigramm (weitere Inschriften vgl. I. Olympia 302. 449. 450. 486. 487). 8,30,9 Von den Römern bekamen die Poleis des Achäischen Bundes die Erlaubnis, sich von Polybios Politeiai und Nomoi geben zu lassen. Wo man seinem Rat folgte, war man erfolgreich, wo nicht, nicht. 8,37,2 neben anderen Reliefs an der Halle beim Tempel der Despoina ist das vierte das des Polybios mit Inschrift: Griechenland wäre nicht zugrunde gegangen, wenn man auf seinen Rat gehört hätte; nach dem Unglück hat es nur durch ihn Hilfe erhalten. 8,44,5 Statue Polybios’ in Pallantion. 8,48,8 Marmorstele mit Polybios beim Altar der Ge in Tegea. 230 Polyb. 38,10. Vgl. Paus. 7,14,6. 231 Polyb. 38,11.
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6 Herrschaft
und unbelehrbar sei (ἄγνοια und μανία).232 Der Wahnsinn des Kritolaos fiel nach Polybios zudem auf den fruchtbaren Boden der Unbildung in allen Städten. Besonders in Korinth habe es überhaupt nur Pöbel gegeben, der ein berauschter Zuhörer gewesen sei.233 Polybios führt außerdem psychologische Aspekte an. Die täglichen Schreckensnachrichten bekamen die volle Aufmerksamkeit der Menschen, sodass diese nicht mehr an das große Ganze denken konnten: „Daher folgten sie, wie von einem reißenden Gießbach gewaltsam vorwärtsgestoßen und fortgetragen, der Verblendung und dem Irrsinn ihrer Führer.“234 Polybios fragte sich selbst, wieso angesichts solcher ἄγνοια (Unverstand) und ἀκρισία (Mangel an Urteilsfähigkeit) nicht alle Griechen umgekommen seien.235 Er führt hier die Tyche ein, nach deren Plan die Achaier dadurch gerettet wurden, dass die Römer die Griechen schnellstens besiegten. So kam es weder zum Zorn der Sieger über die Besiegten noch zur andauernden – für Griechenland abträglichen – Herrschaft eines Diaios oder Kritolaos. Ein Sprichwort sei damals im Umlauf gewesen: „Wenn wir nicht schnell besiegt worden wären, wären wir nicht gerettet worden.“236 Die Leitgedanken der Erklärung des Polybios sind ἄγνοια, ἀκρισία und μανία, wonach Kritolaos und Diaios zu ihrer Konfrontations-Politik kamen, die Griechen mit populären Geschenken manipulierten und letztlich die römische Herrschaft herbeiführten. Die Schuld wird hier personalisiert. Es ergeben sich drei Deutungsvarianten des polybianischen Erklärungsmodells. Eine romfreundliche Lesart könnte darin bestehen, den Römern die Rolle eines Arztes zuzuweisen, der die Griechen von ihren schlechten Anführern und dem immerwährenden Streit unter den Poleis geheilt habe. Insofern wäre die römische Herrschaft gut für Griechenland. Die romfeindliche Lesart betont das Ausbleiben eines Verdienstes, da es keine Auszeichnung wert ist, einen derart unverständigen, urteilsunfähigen, wahnsinnigen und schwachen Feind besiegt zu haben. Drittens könnte man die Römer dafür tadeln, dass sie die ihnen von der Tyche verliehene Macht dafür gebrauchten, Korinth zerstört und den Griechen die Freiheit genommen zu haben. Betreffs der letzten Deutung (Tyche) könnte man mit Polybios den Blick schweifen lassen und sich einen Überblick der Griechenland widerfahrenen Unglücke verschaffen. Tatsächlich stellt Polybios diese Überlegung an und sucht bei den Unglücken danach, wer für die ἀτυχήματα verantwortlich zeichnet:237 Von den Zerstörungen des Xerxes erholten sich die Athener wieder, sodass sie in Wettstreit mit den Lakedaimoniern um die Hegemonie über Griechenland treten konnten. Die Athener erhielten für die Aufgabe ihrer Stadt höchsten Ruhm, da sie das Unglück 232 Polyb. 38,11. 233 Polyb. 38,12. Walbank 2003, 270 hält soziale Konflikte tatsächlich für eine der Ursachen des Achäischen Krieges. Weitere Stellen sind Polyb. 38,10,6 f. 10,8. 13,6. 234 Polyb. 38,16. 235 Polyb. 38,18. 236 Polyb. 38,18. 237 Buch 38 von Polybios Historien hat die griechische ἀτυχία zum Thema, die noch schwerer wiege als die karthagische, weil die Griechen ihr Unglück mit ansehen mussten und das Elend an die nächsten Generationen weitergaben. Die Karthager jedoch ließen mit den Schrecknissen des Untergangs gleichzeitig ihr Leben.
6.5 Die eigenen Anführer als Verräter an der Heimat
261
mit den übrigen Griechen teilen wollten. Polybios macht den Spartanern Vorwürfe, dass sie nach dem Sieg über Athen im Peloponnesischen Krieg die von der Tyche verliehene Macht mit allzu großer Härte gebrauchten und die Athener zwangen, ihre Mauern zu schleifen. Dass die Spartaner nachher von den Thebanern auf ihr altes Gebiet zurückgeworfen wurden, könne man aber nicht ein ἀτύχημα nennen. Es sei vielmehr ein Missgeschick (σύμπτομα) gewesen.238 Polybios unterscheidet also diejenigen, die ein unerwartetes Missgeschick getroffen hat (ἀκληρούντοι) und diejenigen, die durch ihre schändliche Unvernunft wirkliche Katastrophen herbeiführten.239 Im letzteren Sinne schuldig sieht er die besagten Anführer der Griechen und entschuldigt somit die Römer, weil der Achäische Krieg in seinen Augen für die Achaier kein schuldloses Widerfahrnis, sondern schuldhaft herbeigeführter Unsinn war.240 Wenn wir einen Vergleich zu Josephus ziehen, wird ersichtlich, dass interessanterweise in seinen Augen weder die Juden noch die Römer an dem unglücklichen Krieg Schuld gewesen sein sollen. Eine innere Zwietracht hätte demnach die Heimat des Josephus niedergeworfen.241 Die „Tyrannen der Juden“ hätten die Römer gegen deren Willen zum Eingreifen gezwungen und selbst das Feuer auf den Tempel in Jerusalem geworfen. Ähnlich wie Polybios die Unterwerfung der Achaier durch die Römer einer kleinen Gruppe von Anführern zuschreibt, sind bei Josephus weder alle Juden noch die Römer an dem letztlich als Unglück angesehenen Krieg schuld.242 Zwar möchte Josephus nicht als Lobredner der Römer gelten und akribisch die Geschehnisse auf beiden Seiten berichten, ist jedoch gleichzeitig den Flaviern verpflichtet, die ihn als Überläufer aufgenommen hatten.243 Die Parallelen zwischen Josephus und Polybios sind offensichtlich, sahen sich beide jeweils als Verlierer und hernach in der Hand der Römer, deren Kriege sie historiographisch gestalteten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass beide das gleiche Deutungsmuster verwenden um zu erklären, wie die römische Herrschaft über ihr jeweiliges Volk zustande kam. Kommen wir nun zu Pausanias, der schon rein chronologisch ganz andere Akzente setzt. Als Pausanias auf Kallikrates zu sprechen kommt, bietet er einen ganzen Katalog von ‚Verrätern, die ihre Heimat um eines eigenen Vorteils willen verraten haben‘.244 Dieser Abschnitt ist aufschlussreich, insofern er einerseits (for238 Polyb. 38,2. 239 Polyb. 38,3,5–7, hier 7: ἀκληρεῖν μὲν γὰρ ἅπαντας ἡγητέον καὶ κοινῇ καὶ κατ' ἰδίαν τοὺς παραλόγοις συμφοραῖς περιπίπτοντας, ἀτυχεῖν δὲ μόνους τούτους οἷς διὰ τὴν ἰδίαν ἀβουλίαν ὄνειδος αἱ πράξεις ἐπιφέρουσι. 240 Bereits Thukydides macht den Menschen nicht für ein vom Schicksal gewollten unglücklichen Ausgang eines Ereignisses verantwortlich, sondern maximal für seine Unüberlegtheit, vgl. Thuk. 2,87. 5,111. 241 Ios. BJ 1,10: οἰκεία στάσις. 242 Ios. BJ 1,9: Josephus leidet an den συμφοραί des verlorenen Krieges, am meisten an der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Niemand aus einem fremden Stamm trage die Schuld an dem ἀτύχημα und deswegen sei der Trauer unmöglich beizukommen, vgl. Ios. BJ 1,12. 243 Ios. BJ 1,9. Michel/Bauernfeind 1982, XX. 244 Paus. 7,10,1–5. Das sei in Griechenland chronisch pathologisch; die Beispiele sind: ionischer Aufstand, Eretria, die Aleuaden verraten Thessalien an Xerxes, danach Theben, Peloponnesischer Krieg: Elis und Lakedaimonier, Lysander, Philipp II.: eher durch Verrat als durch Pest,
262
6 Herrschaft
mal gesehen) zum Beweis seiner These einen historischen Katalog bringt,245 der zum anderen (inhaltlich) über sein Geschichtsbild und damit zusammenhängende Zäsuren informiert. In seiner fundierenden Funktion eines negativen Aspekts griechischer Kultur ist dieser ‚Verräter-Katalog‘ dem der ‚Statuenräuber‘ an die Seite zu stellen.246 Angesichts der Fragestellung dieses Kapitels verdient aber Pausanias’ Einführung einer neuen Deutung in die Diskussion um die Verantwortung an der griechischen Niederlage Aufmerksamkeit. Der ‚Verräter-Katalog‘ umfasst den Zeitraum vom Ionischen Aufstand bis zum Endpunkt Kallikrates. Der Anfangspunkt des ‚Unglücks der Achaier‘ bildet Perseus und die Auflösung der makedonischen Herrschaft durch die Römer (ἀρχὴ δέ σφισιν ἐγίνετο κακῶν Περσεὺς καὶ ἡ Μακεδόνων ἀρχὴ καταλυθεῖσα ὑπὸ Ῥωμαίων). Zunächst erscheint es unklar, warum die Beseitigung der makedonischen Fremdherrschaft über Griechenland durch die Römer der Anfang des Unglücks gewesen sein soll. In Kombination mit zwei weiteren Stelle wird die dahinterliegende Konzeption aber deutlich. Auf ganz Griechenland bezogen legt Pausanias an anderer Stelle dar, dass die Niederlage von Chaironeia der Anfang des Übels für alle Griechen war: Zu Sklaven machte diese Niederlage alle, die unbeteiligt waren oder es mit den Makedonen hielten.247 Man hätte an dieser Stelle nicht erwartet, dass Pausanias die auf makedonischer Seite kämpfenden Griechen metaphorisch in den Sklavenstand abgleiten sieht. Tatsächlich konzipiert er Kooperation mit einer nicht-griechischen Macht aber als Vorstufe zum Beherrschtsein. Außerdem verurteilt Pausanias in Bezug auf die Achaier viele Handlungen der Römer auf das Schärfste und sieht sie als Ablösung der Makedonen in der Rolle, den Griechen Befehle zu erteilen.248 Auch Plutarch suggeriert diese Ablösung.249 Nun erklärt sich, warum im ‚VerräterKatalog‘ die Auflösung der makedonischen Herrschaft durch die Römer der Anfang des Übels für die Achaier darstellt. Die Römer werden von Pausanias also mittelbar für den Niedergang Griechenlands verantwortlich gemacht. Dem vorgelagert sind die Machenschaften der Makedonen.250 Außerdem lassen sich zwei weitere Momente beschreiben, nämlich die Zwietracht und der Verrat unter den Griechen. Die Personalisierung der Schuld ist bei
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Alexander hatte Glück und brauchte Verrat nicht, Lamia: Athener veranlassen Besatzungen, Kallikrates und die Römer. Paus. 7,10,1–5. Zu den Katalogen bei Pausanias vgl. Robert 1909, 7: „Nur oberflächliche Betrachtung kann in dieser kettenartigen Aufreihung von λόγοι schriftstellerische Unbeholfenheit oder Geschwätzigkeit sehen. In Wahrheit handelt es sich um die raffinierteste Berechnung.“ Dies wandte sich gegen Kalkmann 1886, 278, der fragte, ob Pausanias wirklich eine Methode hatte. Die in den Periegesen aufgespeicherte Gelehrsamkeit sei ein Konglomerat aus verschiedensten Bestandteilen, weder beherrscht noch durchdacht, nirgends erscheine eine ordnende Persönlichkeit, die alles zu einem organischen Ganzen vereint. Pausanias habe die strengen Anforderungen an ein wissenschaftliches Werk gar nicht erfüllen wollen. Kalkmann 1886, 280 behauptet, Pausanias sei nicht als Perieget zu fassen, sondern ganz als Schriftsteller, als Sophist. Zum ‚Statuenräuber-Katalog‘ (Paus. 8,46,2–4) vgl. Ursin 2014a, 63–66. Paus. 1,25,3. Paus. 7,8,1. Vgl. Plut. Flam. 10,2 und s. o. Kap. 3.2. Vgl. außerdem Paus. 3,7,11. 8,52,3.
6.5 Die eigenen Anführer als Verräter an der Heimat
263
Pausanias so zentral, dass die Schilderung des Achäischen Krieges vom Motiv des Verräters an der eigenen Heimat eingerahmt wird. Darin, dass die Pathologie des Verrats (dass jemand um des eigenen Vorteils willen die Heimat verrät) als ein Grund für das Ende des freien Griechenlands eingeführt wird, unterscheidet sich Pausanias von Polybios, weil „[…] damals ein Achaier mit Namen Kallikrates [die Achaier] völlig unter die Herrschaft der Römer [gebracht hat].“251 Während der Wahnsinn der Romgegner Diaios und Kritolaos bei Polybios der Grund für die Niederlage war, ist es bei Pausanias bereits Kallikrates, der für die pro-römische Gruppe innerhalb des Achäischen Bundes steht und für die Auslieferung der 1000 Kriegsgefangen 167 n. Chr. nach Rom verantwortlich zeichnete. Es ist zwar richtig, dass Polybios die polarisierende Wirkung der achäischen Gesandtschaftsreise nach Rom von 180/179 v. Chr. erkannt hat und somit Kallikrates als Urheber eines großen Übels für die Griechen und insbesondere der Achaier sah,252 dies wird jedoch lediglich in einem Nebensatz erwähnt und setzt einen vollkommen anderen inhaltlichen Schwerpunkt als die Verräter-Topologie des Pausanias, die seinen Logos vom Achäischen Krieg einrahmt. Pausanias identifiziert die Schuld an der Niederlage also bereits bei Kallikrates, sodass die griechischen Anführer zum Zeitpunkt der Niederlage chancenlos waren, da einerseits der Verrat des Kallikrates bereits in der Vergangenheit lag und die Griechen andererseits zu einem ‚falschen Zeitpunkt‘ griechischer Schwäche einen glücklosen Krieg beginnen mussten.253 Den Verlust der griechischen Freiheit markiert Pausanias im ‚Verräter-Katalog‘ noch mit einer anderen Klammer als diejenige exzeptionelle Zäsurerfahrung, an der sich sein Geschichtsbild orientiert: Ἀθηναῖοι γὰρ μετὰ τὸ ἀτύχημα τὸ ἐν Βοιωτοῖς οὐκ ἐγένοντο Φιλίππου κατήκοοι, ἁλόντων μέν σφισι δισχιλίων, ὡς ἐκρατήθησαν, παρὰ τὸ ἔργον, χιλίων δὲ φονευθέντων· ἐν Λαμίᾳ δὲ περὶ διακοσίους πεσόντων καὶ οὐ πλέον τι, Μακεδόσιν ἐδουλώθησαν. οὕτω μὲν οὔποτε τὴν Ἑλλάδα ἐπέλειπον οἱ ἐπὶ προδοσίᾳ νοσήσαντες· Nach dem Unglück in Böotien wurden die Athener nicht Untertanen des Philippos, obgleich sie bei der Niederlage 2000 Gefangene und in der Schlacht 1000 Tote verloren. Bei Lamia waren es 200 Gefangene und nicht mehr, und trotzdem wurden sie Sklaven der Makedonen. So fehlte es in Griechenland nie an Leuten, die an Verräterei erkrankt waren.254
Obwohl bei Lamia weniger Verluste für die Athener zu beklagen waren als bei Chaironeia, gerieten die Athener unter direkte Herrschaft der Makedonen, wofür die makedonischen Besatzungen in Griechenland für Pausanias das Kriterium, und 251 Paus. 7,10,5: Ἀχαιοὺς δὲ ἀνὴρ Ἀχαιὸς Καλλικράτης τηνικαῦτα ἐς ἅπαν ἐποίει Ῥωμαίοις ὑποχειρίους. 252 Polyb. 24,10,8: […] ὅτι μεγάλων κακῶν ἀρχηγὸς (Kallikrates, Anm. FU) γέγονε πᾶσι μὲν τοῖς Ἕλλησι, μάλιστα δὲ τοῖς Ἀχαιοῖς. Vgl. Walbank 2010, 283. Marincola 2001, 142. Derow 1970. 253 Paus. 7,14,6: τὸ μὲν δὴ ἄνδρα βασιλέα καὶ πόλιν ἀνελέσθαι πόλεμον καὶ μὴ εὐτυχῆσαι συνέβη φθόνῳ μᾶλλον ἔκ του δαιμόνων ἢ τοῖς πολεμήσασι ποιεῖ τὸ ἔγκλημα· θρασύτης δὲ ἡ μετὰ ἀσθενείας μανία μᾶλλον ἢ ἀτυχία καλοῖτο. („Dass ein König oder eine Stadt einen Krieg begonnen hat und dabei glücklos blieb, wird man mehr dem Neid irgendeiner Gottheit zuschreiben, als man daraus dem Kriegführenden einen Vorwurf machen könnte. Dreistigkeit mit Schwäche verbunden, würde man eher Tollheit als Unglück nennen.“). 254 Paus. 7,10,5.
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6 Herrschaft
Sklaverei der Begriff ist. Das Bild vom ‚Verrat als Krankheit‘ hält er für eine plausible Erklärung und weist mit seinem ‚Verräter-Katalog‘ das Auftreten dieses anthropologischen Aspekts in der griechischen Vergangenheit nach. Die makedonische und römische Fremdherrschaft wird von Pausanias klar in einen Zusammenhang gebracht als Bedrohung der griechischen Freiheit. Der ‚Verräter-Katalog‘ spiegelt dabei genau die auch sonst zu beobachtenden Grenzen seines historischen Interesses von den Perserkriegen bis zur Zerstörung Korinths wider. Zu beobachten ist, dass er den ‚Anfang des Übels‘ je nach Subjekt differenziert: Für alle Griechen Chaironeia 338 v. Chr., für die Athener Lamia 323/22 v. Chr., für die Achaier Perseus und die Auflösung der makedonischen Herrschaft 168 v. Chr. Pausanias stellt außerdem den Achäischen Krieg in den Kontext des griechischen Freiheitskampfes, was anhand der gemachten Vergangenheitsbezüge deutlich wird. Diaios habe wie das Vorbild Miltiades vor Marathon Sklaven freigelassen, die ihn in seinem Kampf gegen die Römer unterstützen sollten.255 Kritolaos’ Feigheit,256 sich nicht einmal an den Thermopylen aufzustellen wie einst die Lakedaimonier (gegen die Perser) und Athener (gegen die Gallier) wird ebenso erwähnt wie das Strafgericht der Götter über die Arkader, die die Griechen bei Chaironeia gegen Philipp II. im Stich gelassen hatten und jetzt von den Römern ebendort niedergehauen wurden.257 Pausanias ruft also die alten Schlachtorte der Perserkriege und der Kriege gegen die Makedonen bewusst in Erinnerung (Thermopylen, Chaironeia etc.), womit unweigerlich ein Vergleich getroffen wird.258 Damit fügt Pausanias den Achäischen Krieg ein in die Reihe der griechischen Freiheitskriege gegen auswärtige Feinde. Dabei ist nicht entscheidend, ob der jeweilige Krieg von Erfolg gekrönt war. Dafür lässt sich ein Beispiel aus dem Zusammenhang mit Pausanias’ Deutung der Thermopylenkämpfer anführen: Leonidas habe eigentlich gesiegt, nur sein Gefolge hatte nicht ausgereicht.259 Dies behauptet er im Kontext eines Katalogs, der nachweisen soll, dass die Lakedaimonier vor der Niederlage von Leuktra alle Schlachten ohne Ausnahme gewonnen haben.260 Bereits Diodor preiste die Thermopylenkämpfer wegen ihrer Tapferkeit, obwohl sie keinen Erfolg hatten.261 Diodor hätte die 300 Spartaner genausogut dafür tadeln können, dass sie sich unüberlegt, wahnsinnig oder schlecht beraten auf ein ‚Himmelfahrtskommando‘ begeben hatten. Insofern erscheint es als eine bewusste darstellerische Absicht des Pausanias, dass er durch die Einführung der Verratskategorie den historischen Sieg der Römer schmälern wollte.
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Paus. 7,15,7. Zur Bedeutung von Sklaven in Schlachten vgl. auch Paus. 1,32,3 und 10,20,2. Paus. 7,15,3. Paus. 7,15,6. Eckstein 1986/87, 329 Anm. 26. Paus. 1,13,5. Die Niederlage von Sphakteria sei eine athenische Erschleichung eines Sieges gewesen und deshalb nicht zu zählen, vgl. Paus. 1,13,6. Die 1. Niederlage sei Leuktra, die 2. gegen Antipatros, die 3. gegen Demetrios und die 4. gegen Pyrrhos. 261 Diod. 11,11,2.
7 WIDERSTAND Die Forschung zum Umgang der Provinzialen mit der römischen Herrschaft hat in den letzten Jahren zwei Extrempositionen eines weiten Spektrums hervorgebracht. Aus Sicht der Provinzialen stellte sich Rom demnach entweder als ‚gut‘ dar, indem beispielsweise die provinzialen Eliten enorm von Roms Herrschaft profitierten.1 Oder Rom galt als ‚böse‘, da es einerseits agressiv und gewalttäig vorging, sowie andererseits eine Fremdherrschaft darstellt.2 In letzterem Fall sind Aufstands- und Abfallbewegungen seitens der Provinzialen zu erwarten und in vielen Provinzen auch tatsächlich zu beobachten. Für die griechischen Provinzen Achaia und Asia hat sich die Forschung jedoch bisher kaum interessiert,3 obwohl gerade hier die längste Widerstandstradition anzutreffen ist, wollte man chronologisch mit den Perserkriegen einsetzen. Tatsächich wird, wie wir in Kap. 3.3 und 4.1 gesehen haben, an die Perserkriege als Freiheitskriege seitens der Griechen noch in der Hohen Kaiserzeit fortwährend erinnert.4 Beispielsweise stellte sich Apollonios auf den Grabhügel der bei Thermopylai gefallenen Spartaner und sagt angesichts des Berges Oita, der für den höchsten Gipfel von Hellas gehalten wurde, er halte diesen Grabhügel für den höchsten Platz, weil die hier für die Freiheit Gefallenen es auf die gleiche Höhe wie der Oita und darüber hinaus gebracht hätten.5 Die spezifische Leistung der Griechen, die sie vor allen anderen antiken Völkern auszeichnet, ist die „Fähigkeit um ihrer eigenen Freiheit willen gegen auswärtige Herrscher Widerstand zu leisten“ (Unterstreichung FU), wie sich Appian ausdrückt (περὶ τῆς αὐτῶν ἐλευθερίας πρὸς ἀρχὰς ἄλλας ἐπιούσας).6 Ähnlich hat es Aristides in der Rom-Rede gegenüber den Römern formuliert: 1 2
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Vgl. bspw. Woolf 2008 und Ando 2000. Differenzierter zu den Positionen Gambash 2015, 2 f. Zu negativen Haltungen gegenüber römischer Herrschaft vgl. Morley 2010 und Mattingly 2011. Vgl. Grigoropoulos 2017 zum modernen Begriff der Rhomaiokratia, der jedoch auf die antiken Vorstellungen zurückgeht. Vgl. auch Alcock 1993, 1. Lediglich Alcock 1997 hat Griechenland untersucht. Einige wenige Aufstände verzeichnet sie später (Alcock 2002, 85), kennt aber genau wie Spawforth 2011, 263 den Beitrag von Pekary 1987 nicht. Symptomatisch für die Forschung zeigt sich Hutton 2005, 40, der konstatiert, dass die Griechen mehrheitlich in den Reichsdienst gestrebt hätten und weiter ebd., 41: „Conversely, there is no evidence whatsover of any serious organized resistance to Roman rule among the Greek communities in Pausanias’ day.“ Martínez Lacy 1995 hat lediglich die hellenistische Zeit untersucht. Vgl. zur Perserkriegserinnerung grundlegend Jung 2006 und Albertz 2006. Philostr. Ap. 4,23. Auch Salamis wird instrumentalisert, vgl. Philostr. Ap. 3,31. Alcock 2002, 85. App. praef. 8 (30): οἵ τε ἀγῶνες αὐτοῖς ἐγένοντο οὐκ ἐπὶ ἀρχῆς περικτήσει μᾶλλον ἢ φιλοτιμίᾳ πρὸς ἀλλήλους, καὶ οἱ λαμπρότατοι περὶ τῆς αὐτῶν ἐλευθερίας πρὸς ἀρχὰς ἄλλας ἐπιούσας. („Ihre Kämpfe wurden nicht aufgrund des Erwerbs der Herrschaft geführt, sondern vielmehr aufgrund gegenseitiger Rivalität, und die glänzendsten [Kämpfe, Anm. FU] wurden ausgefochten [zum Erhalt, Anm. FU] ihrer Freiheit gegen fremde Herrschaften.“).
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7 Widerstand ἐπεὶ τό γε λεχθὲν ἐπ’ Ἀθηναίων κινδυνεύει καὶ περὶ πάντων εἴ τις εἴποι τῶν Ἑλλήνων ἀληθὲς εἶναι, ἐπεὶ τοῖς μὲν ἄρχουσιν ἀντιστῆναι καὶ κρατῆσαι Πέρσας καὶ Λυδοὺς καὶ πλοῦτον καὶ πόνους ὑπενεγκεῖν ἀγαθοὶ παντὸς μᾶλλον ἦσαν, ἄρχειν δὲ αὐτοὶ ἔτι ἀπαίδευτοι ἦσαν, πειρώμενοί τε ἐσφάλλοντο. Was nämlich von den Athenern gesagt wurde, scheint auch richtig zu sein, wenn man es von allen Griechen sagen wollte; denn sie waren tüchtiger als alle anderen, wenn es galt, gegen Herrscher Widerstand (Unterstreichung FU) zu leisten, die Perser zu besiegen, ihren Reichtum zu opfern und Mühen zu ertragen, aber selbst zu herrschen, dazu fehlte ihnen noch die Erfahrung, und als sie es versuchten, scheiterten sie.7
Im Folgenden sollen die Debatten über Freiheit und Herrschaft unter dem Aspekt des griechischen Widerstandes gegen Rom in der Frühen und Hohen Kaiserzeit zusammengeführt werden. Es ist zu prüfen, ob sich ein qualifizierter Widerstandsbegriff entwickeln lässt, der sich sowohl an den Quellen als auch an modernen Widerstandsbegriffen orientiert.8 Es wird darauf einzugehen sein, wie sich einige Griechen nach einer Phase der Annäherung in augusteischer Zeit seit Plutarch wieder verstärkt von Rom distanzierten, weil sie im 2. Jh. n. Chr. die Erinnerung daran aktualisierten, dass der Widerstand gegen auswärtige Mächte eine ihrer Grundqualitäten war. Zuletzt soll anhand der von Pekáry verzeichneten Aufstände im östlichen Teil des Imperium Romanum geprüft werden, ob diese Widerstands-Debatte einen realen Niederschlag in gewaltsamen Aufständen gegen die römische Ordnung hatte, die somit mittelbar auch durch Vergangenheitsbezüge motiviert waren, wovor Plutarch in den Praecepta gerendae reipublicae gewarnt hatte.9 7.1 DISKURSIVER WIDERSTAND UND KRITISCHE DISTANZ Als sich Dion Chrysostomos in seiner Olympischen Rede rechtfertigt, warum er an die nördliche Reichsgrenze während seines „Exils“ gegangen war, sagte er: „Mich verlangte vielmehr danach, Männer kämpfen zu sehen, die einen für Herrschaft und Macht, die andern für Freiheit und Vaterland.“10 Für die Herrschaft kämpften hier 7 8 9
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Aristeid. or. 26,51. Zuletzt hat Meißner 2012 die antike Widerstandsmetaphorik gegenüber modernen Widerstandsbegriffen betrachtet. Pekáry 1987. Zu Aufständen im Imperium Romanum generell Gambash 2015. Woolf 2011. MacMullen 1992. MacMullen 1985. Dyson 1975. Dyson 1971. Zur Opposition gegen die Kaiser der Prinzipatszeit vgl. die Beiträge in Raaflaub/Giovannini 1987. Speziell zu Ägypten vgl. Schaub 2014. Dion Chrys. or. 12,20: ἀλλ' ἐπιθυμῶν ἰδεῖν ἄνδρας ἀγωνιζομένους ὑπὲρ ἀρχῆς καὶ δυνάμεως, τοὺς δὲ ὑπὲρ ἐλευθερίας τε καὶ πατρίδος· Salmeri 1999, 86 Anm. 162 datiert die Rede mit von Arnim 1898, 405–407. Desideri 1978, 279 Anm. 49. Salmeri 1982, 36 Anm. 119 f. und Russell 1992, 16. 171 auf 105 n. Chr., womit Dion sich auf den 2. Dakischen Krieg Trajans von 105– 106 n. Chr. beziehen muss. Vgl. ferner Sidebottom 1993, 255 f. Sidebottom 1994, 266. Moles 1995, 181–184. Swain 1996, 202. Klauck 2002. Stini 2011, 233. Hingegen Bekker-Nielsen/ Hinge 2015, 754 haben die folgende Chronologie für sein Exil vorschlagen: Dion wurde 83 n. Chr. von Domitian verbannt, er geht nach Delphi und nimmt den Rat des Orakels auf, ‚an das Ende der Welt‘ zu gehen; das Schwarze Meer durchquert er per Schiff und erreicht Borysthenes im Sommer 84 n. Chr.; von Borysthenes aus reist er über Land zu den Skythen und Ge-
7.1 Diskursiver Widerstand und kritische Distanz
267
die Römer, für die Freiheit die Daker. Demnach findet sich nur noch jenseits des befriedeten römischen Reiches der Kampf für die Freiheit, dessen Zuschauer Dion sein wollte, weil er innerhalb des Imperium Romanum dessen nicht mehr ansichtig werden konnte. Bei Dions Formulierung ist darauf zu achten, dass beide Parteien jeweils für etwas kämpften und nicht gegen etwas – eine Beobachtung, die bezüglich der griechischen Freiheitskampfmetaphorik noch von Bedeutung sein wird. Diese bei Dion beobachtbare Inszenierung der Transzendierung und Überschreitung der Grenzen des Imperium Romanum, der damit ein kritisches Potenzial innewohnt, hat Whitmarsh als ‚diskursiven Widerstand‘ begrifflich gefasst.11 Der diskursive Widerstand bewegt sich auf konzeptioneller Ebene, wird aufgrund der Sprechsituation meist implizit artikuliert und verzögert oder verhindert Integration, weil er die Differenz zwischen Herrscher und Beherrschtem betont. Hierin besteht der Unterschied zu den etwa von Fuchs verzeichneten Akten geistigen Widerstandes, die wie die Alexandrinischen Märtyrerakten offen verbale Kritik artikulieren.12 Whitmarsh erschließt damit in Ergänzung zu Fuchs einen weiteren Bereich, indem er auf die Bedingung der Möglichkeit geistigen Widerstandes reflektiert. Insofern haben wir es bei der Analyse diskursiven Widerstandes mit Haltungen zu tun, die das Verhalten von Personen bestimmen. Nach Whitmarsh müssen als Widerstandsakte solche Handlungen aufgefasst werden, die einer anhaltenden Feindschaft entspringen, begründet durch ideologische Antipathien. So können unter Widerstand sowohl politische Opposition13 als auch die Dekonstruktion kultureller oder sprachlicher Ordnungen fallen, sodass sich Widerstand genauso in gewaltsamen Aufständen wie auch utopischen Anarchismen manifestieren kann. Diese sehr weite Definition von Widerstand hat den Vorteil, dass ein breites Verhaltensspektrum erfasst werden kann, wozu Handlungsund Sprechakte gehören, die sich selbst zunächst nicht als Widerstand zu erkennen geben. Auch wenn Aristides lediglich in einem Traum dem Kaiser Antoninus Pius den bei einer Audienz obligatorischen Freundeskuss verwehrt, weil Asklepius es ihm aufgetragen hat, dies nicht zu tun, können wir hierin einen Widerstandsakt fassen.14
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ten, besucht ein Armeelager an der Donaugrenze (85 n. Chr.), erreicht Griechenland, um bei den Olympischen Spielen von 85 n. Chr. seine or. 12 zu halten (wo er seine Reise beschreibt, die er gerade abgeschlossen hat); zwischen 85 und 95 n. Chr. besucht er Freunde in Kyzikos, achtet aber darauf seine Heimatprovinz nicht zu betreten (Dion Chrys. or. 19,1); 95 oder früh im Jahre 96 n. Chr. wird ihm das Ende seines Exils prophezeit; 96 n. Chr. reist er nach Prusa und bereitet eine Reise nach Rom vor, die er wegen Krankheit aufschieben muss (97 n. Chr.) und dann nach dem Tod Nervas absagt (98 n. Chr.). Whitmarsh 2013b. Fuchs 1964. Zu den auf Papyri erhaltenen sogenannten ‚Heidnischen Märtyrerakten‘, besser Acta Alexandrinorum vgl. Luiselli 2016. Hartmann 2012b. Harker 2008. Musurillo 1961. Musurillo 1954. Bauer 1901. Zu den 18 Aufständen in Ägypten in den ersten 300 Jahren römischer Herrschaft vgl. Schaub 2014. Der Entretiens-Band von Momigliano 1987 hat sich maßgeblich mit politischer Opposition beschäftigt und dabei aber vernachlässigt, wie sich Widerstand gegen die sprachliche und kulturelle Repräsentation des Imperium Romanum gezeigt hat, vgl. Whitmarsh 2013b, 58 f. Aristeid. or. 47,23 mit Pernot 2008, 178 f. Zu Aristides’ speziellem Verhältnis zu Asklepios vgl. Steger 2004, 141–154, speziell zum Traum ebd. 143: die Szene sei fiktiv, da Aristides zum
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7 Widerstand
Whitmarsh hat richtig festgestellt, dass das moderne Konzept des Widerstandes geprägt ist von imperialen, nationalistischen und postkolonialen Vorstellungen, da es im Griechischen und Lateinischen kein Wort für die spezifische Feindschaft gegen herrschende Ordnungen gab.15 Das liegt natürlich daran, dass die von den Herrschenden kontrollierte Überlieferung derartige Akte als „Aufstände“ abqualifiziert. Jedoch lässt sich mit Plutarch ein bereits antiker Widerstandsbegriff qualifizieren, der sich aus dem Begriff des φιλελεύθερος und dem Kampf gegen eine fremde Macht entwickeln lässt. In der comparatio zwischen Philopoimen und Flamininus wird ausdrücklich Philopoimens Widerstand gegen die Römer thematisiert. γενναῖα μὲν οὖν Τίτου τὰ πρὸς τοὺς Ἕλληνας ἐπιεικῆ καὶ φιλάνθρωπα, γενναιότερα δὲ Φιλοποίμενος τὰ πρὸς τοὺς Ῥωμαίους σκληρὰ καὶ φιλελεύθερα· ῥᾷον γὰρ χαρίζεσθαι τοῖς δεομένοις ἢ λυπεῖν ἀντιτείνοντα τοὺς δυνατωτέρους. Edel war die Milde und Menschenfreundlichkeit des Titus den Griechen gegenüber, noch edler Philopoimens Festigkeit und seine Freiheitsliebe den Römern gegenüber; denn es ist leichter, sich den Bedürftigen freundlich zu erweisen, als die Mächtigeren durch Widerstand zu reizen.16
Die „Festigkeit gegen die Römer“ (τὰ πρὸς τοὺς Ῥωμαίους σκληρὰ) wird direkt mit φιλελευθερία in Verbindung gebracht. ‚Wider-stand‘ kann demnach mit σκληρός als Härte und Unnachgiebigkeit17 und πρὸς τοὺς Ῥωμαίους als gegen die Römer oder allgemeiner gegen einen Anderen aufgefasst werden. Außerdem wertet Plutarch die φιλελευθερία Philopoimens edler (γενναιότερα) als Flamininus’ Menschenfreundlichkeit, da die Widersetzung gegenüber dem Mächtigeren (ἀντιτείνοντα τοὺς δυνατωτέρους) schwieriger ist als die Freundlichkeit gegenüber Bedürftigen. Obschon das Geschehen noch vor Errichtung der römischen Herrschaft spielt, lässt es sich durch die Wertung des Römers als eindeutig Mächtigeren doch auch auf die Situation der späteren Sklaverei Achaias übertragen, da die Widerstandsakte Philopoimens von Plutarch ausdrücklich mit einem Ungleichgewicht der Machtverhältnisse verbunden werden, also „gegen Mächtigere“ gerichtet ist, was einer Opposition gegen etablierte Herrschaft ähnlich ist. Das ἀντιτείνειν18 weist in Variationen auch bei den oben zitierten Passagen von Appian und Aristides somit neben der φιλελευθερία und dem πρὸς τοὺς Ῥωμαίους im eigentlichen Wortsinn auf Widerstand. Außer in dieser comparatio verwendet Plutarch die φιλελευθερία in mehreren Viten.19 Cassius Dio setzt am Anfang des 63. Buches im Kontext des Jüdischen
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Zeitpunkt des Ereignisses noch kein so gutes Verhältnis zu Antoninus Pius gehabt habe. Vgl. Schröder 1986, 26 Anm. 46. Die eventuelle Fiktivität hat zwar Einfluss auf Stegers Analyse der Hieroi Logoi im Rahmen einer antiken Patientengeschichte, jedoch nicht auf Aristides’ Selbststilisierung, die auch ein Ziel der Hieroi Logoi war, vgl. Korenjak 2005, 233 f. und zuletzt Petsalis-Diomidis 2010. Whitmarsh 2013, 58. Plut. comp. Philop. et Flam. 3,3. Vgl. LSJ s. v. σκληρός 2: hard, stiff, unyielding. Vgl. LSJ s. v. ἀντιτείνω: intransitiv als act oder strive against, resist. Plut. Tim. 2,2. Pelop. 5,1. Dem. 3,3. In einem Essay in den Moralia weist Plutarch darauf hin, dass Tiere im Gegensatz zum Menschen nicht die Liebe zur Freiheit hätten, vgl. Plut. de amore prol. 493d.
7.1 Diskursiver Widerstand und kritische Distanz
269
Aufstandes außerdem den militärischen Aufstand des C. Iulius Vindex explizit in einen Zusammenhang mit dessen außerordentlicher φιλελευθερία. Vindex war königlicher Abstammung und aufgrund seines Vaters römischer Senator.20 Die Beobachtung Dios, dass sich ein gallischer Senator in zweiter Generation für den Freiheitskampf engagierte, sollte auch in Bezug auf die Griechen aufhorchen lassen. Quellenkritisch ist jedoch zu bemerken, dass es nicht im Interesse der römischen Eliten gewesen war, jegliche Widerstandsakte der Provinzialen zu verzeichnen. Cassius Dio schränkt folglich seine Auswahl von derlei Aktivitäten explizit auf die Bemerkenswertesten ein.21 Das bedeutet, dass mit einer großen Dunkelziffer zu rechnen ist. Symptomatisch für die rezente Forschung ist die geringe Bereitschaft, die Aufstände in den Provinzen Achaia und Asia in der Hohen Kaiserzeit zur Kenntnis zu nehmen.22 Was die gewaltsame Dimension des anti-römischen Widerstandes anbelangt, folgt Whitmarsh Ando, der in dem hohen Grad der Integration griechischer Eliten und des hergestellten Konsenses den Grund für die Abwesenheit von Gewaltakten sieht.23 Die Konsens-These wendet Habermas’ Theorie kommunikativer Rationalität auf das Imperium Romanum an. Die Herrschaftslegitimation der Römer komme demnach durch Kommunikation mit den Beherrschten zustande, d. h. durch das Schaffen von Konsens mittels einer intersubjektiv verständlichen Sprache.24 Dahinter steht die Überzeugung, dass die römische Herrschaft den Beherrschten Provinzialen ausschließlich zum Vorteil gereiche. Auch Swain betont die politische Dimension der Funktionalisierung von Vergangenheitsbezügen insofern sie sowohl Griechen als auch Römern dienten, weil erstere sich mit der Vergangenheit als ein „common framework of communication between the Greeks and their Rulers“25 in das Imperium Romanum integrieren und letztere sich ihre Stellung in den Poleis legitimieren konnten, indem sie sich mit den großen klassischen griechischen Staatsmännern verglichen. Plutarchs Parallelbiographien könnten demnach auch dahingehend gedeutet werden, dass sie den römischen Senatoren, denen sie – ver20
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Cass. Dio 63,22,1: Γαλάτης ἀνὴρ Γάιος Ἰούλιος Οὐίνδιξ, ἐκ μὲν προγόνων Ἀκυτανὸς τοῦ βασιλικοῦ φύλου, κατὰ δὲ τὸν πατέρα βουλευτὴς τῶν Ῥωμαίων, τό τε σῶμα ἰσχυρὸς καὶ τὴν ψυχὴν συνετός, τῶν τε πολεμικῶν ἔμπειρος καὶ πρὸς πᾶν ἔργον μέγα εὔτολμος· τό τε φιλελεύθερον καὶ τὸ φιλότιμον πλεῖστον εἶχεν· ὃς προέστη τῶν Γαλατῶν. („Da lebte ein Gallier namens Gaius Iulius Vindex, ein Aquitaner von königlicher Abstammung und nach der Stellung seines Vaters römischer Senator. Er besaß einen kraftvollen Körper und einen klugen Kopf, verstand sich auf das Kriegswesen und fühlte den nötigen Mut zu jeder großen Tat. Hinzu kamen bei ihm noch leidenschaftliche Freiheitsliebe und brennender Ehrgeiz. Dies war der Mann, der an die Spitze Galliens trat.“). Allerdings ist diese Passage nicht in Cassius Dios Originalwortlaut erhalten, sondern nur bei Xiphilinos 182,8–11 und in den Exc. Val. 256 p. 694. Cass. Dio 55,28,2 f. Alcock 2002, 85 konstatiert, dass, obwohl Achaia die römische Herrschaft still akzeptierte (verglichen mit Teilen Galliens oder Judaeas), sich Spuren von gewaltsamem Widerstand zeigen, die sicherlich nur die Spitze des Eisberges seien. Spawforth 2011, 363 kennt nur drei Aufstände. Ando 2000, 49–70. Vgl. darauf aufbauend Lobur 2008. Ando 2000, 77 und 127. Swain 1996, 67.
270
7 Widerstand
einfacht gesagt – auch gewidmet sind, als normative Vorlage dienen konnten, wie man sich Griechen gegenüber zu verhalten habe. Davon abgesehen, dass sich das normative Konsens-Postulat allein durch die praktisch empfundene Willkürherrschaft seitens der römischen Statthalter auflöst,26 ist es bedenkenswert, dass Herrscher und Beherrschte eine gemeinsame Sprache sprechen sollten. Offensichtlich herrschte seitens der griechischen Provinzialen das Bedürfnis, Kommunikationsproblemen mit den römischen Statthaltern durch die Forderung nach „geeigneten“ Statthaltern zu begegnen.27 τί λοιπὸν ἀλλ’ ἢ περὶ τῶν ἡγεμόνων εἰπεῖν, οἳ ἐς τὰ ἔθνη φοιτῶσιν, οὐ περὶ ὧν αὐτὸς ἐκπέμψεις, ἀριστίνδην γάρ που τὰς ἀρχὰς δώσεις, ἀλλὰ περὶ τῶν κληρωσομένων τὸ ἄρχειν· τούτων γὰρ τοὺς μὲν προςφόρους τοῖς ἔθνεσιν, ἃ διέλαχον, φημὶ δεῖν πέμπειν, ὡς ὁ κλῆρος, ἑλληνίζοντας μὲν Ἑλληνικῶν ἄρχειν, ῥωμαΐζοντας δὲ ὁμογλώττων καὶ ξυμφώνων. ὅθεν δὲ τοῦτ’ ἐνεθυμήθην, λέξω· κατὰ τοὺς χρόνους, οὓς ἐν Πελοποννήσῳ διῃτώμην, ἡγεῖτο τῆς Ἑλλάδος ἄνθρωπος οὐκ εἰδὼς τὰ Ἑλλήνων, καὶ οὐδ’ οἱ Ἕλληνές τι ἐκείνου ξυνίεσαν· ἔσφηλεν οὖν καὶ ἐσφάλη τὰ πλεῖστα, οἱ γὰρ ξύνεδροί τε καὶ κοινωνοὶ τῆς ἐν τοῖς δικαστηρίοις γνώμης ἐκαπήλευον τὰς δίκας διαλαβόντες τὸν ἡγεμόνα, ὥσπερ ἀνδράποδον. Noch bleibt uns übrig, von den Beamten zu sprechen, die zu den verschiedenen Völkern gehen, zwar nicht von denen, die du selbst aussenden wirst – denn du wirst diese Ämter nach Verdienst verleihen –, sondern von denjenigen, die durch das Los bestimmt werden. Da vertrete ich nun die Meinung, man sollte zu jedem der ausgelosten Völker nur solche Leute schicken, die dazu geeignet sind, Männer von hellenischer Bildung zu Griechen, Römer zu Stämmen römischer Sprache und Erziehung. Ich will dir erklären, wie ich zu dieser Überzeugung gelangt bin. Als ich mich auf dem Peloponnes aufhielt, wurde Hellas von einem Manne verwaltet, der weder die Sprache noch die Art der Hellenen verstand. Da geschah es denn, daß es viele gegenseitige Mißverständnisse gab, die beiden Seiten zum Nachteil gereichten, denn bei den Gerichten wurde das Recht verschachert, weil man den Gerichtsherren wie einen Sklaven umstrickte.28
Es ist nach Philostrats Apollonios zu beiderseitigem Nachteil, wenn der römische Statthalter kein Griechisch beherrscht. Dabei bringt er eine ganz originelle Deutung, denn der Prokonsul werde zu einem Sklaven (nicht die Provinzialen), wenn er weder Sprache noch Art der Griechen versteht. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Römer von einem Griechen als römischem Bürger oder Magistrat das Lateinische selbstverständlich voraussetzten.29 Auch wenn der römische Magistrat des Griechischen mächtig war, war es aus römischer Perspektive immer eine bewusste Entscheidung, zugunsten eines für sie vorteilhaften Machtgefälles auf Griechisch zugunsten des Lateinischen in den östlichen Provinzen zu verzichten.30 Allein die sprachliche Differenz erzeugt somit bereits Distanz zwischen Griechen und Römern.
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Plut. de exilio 602e und s. o. Kap. 4.3.4 sowie 5.5. Vgl. Kokkinia 2004, die darauf hinweist, welchen Schwierigkeiten auch die Statthalter ausgesetzt waren. Philostr. Ap. 5,36. Vgl. Suet. Claud. 16,2. In republikanischer Zeit sei man nach Val. Max. fact. et dict. 2,2,2 bereits dazu übergegangen, mit Griechen entweder über einen Dolmetscher oder direkt lateinisch zu sprechen. Damit hätte man ihnen ihre größte Stärke genommen: ihre Redegewandtheit.
7.1 Diskursiver Widerstand und kritische Distanz
271
Die meisten der erhaltenen griechischen Autoren der Kaiserzeit sind jedoch zumindest mittelbar abhängig von Rom und geraten daher zunächst nicht in den Verdacht des Widerstandes. Aber gerade weil Dion Chrysostomos, Plutarch, Lukian, Aristides und Philostrat auch römische Bürger waren (Pausanias wahrscheinlich nicht), müssen wir angesichts ihrer bisweilen konfligierenden Loyalitäten zu den Römern und den Griechen davon ausgehen, dass sie ihre Widerstandsakte verschleierten, damit sie nicht etwa mit ihren politischen Pflichten in Konflikt gerieten,31 – wenn sie nicht gleich bewusst auf römische Ämter verzichteten. Der Vorteil des Begriffs des diskursiven Widerstandes ist dabei darin zu suchen, dass er die römische Herrschaft grundsätzlich infrage stellt und dies jedoch nicht offen artikulieren muss, womit der Sprecher eventuellen Sanktionen entzogen ist. Sowohl das geschützte Innere des Lokalen als auch das ‚Außerhalb‘ jenseits der Grenzen des Imperium Romanum sind nicht einfach nur eskapistische Fantasien, sondern Testfelder alternativer Wahrheiten:32 Fantastische Literatur beseitigt somit die Grenzenlosigkeit römischer Herrschaft.33 Es geht darum, die Perspektive zu verschieben und Räume aufzuzeigen, zu denen die Römer keinen Zugriff hatten. Diesen hatten sie weder im Lokalen (wenn es gelang sie draußen zu halten), jenseits ihrer Grenzen, noch in der griechischen Vergangenheit, womit griechische Ethik und Werte über der militärischen Stärke der Römer stehen konnten. Bereits Andeutungen kontrafaktischer Natur eröffnen einen Möglichkeitenraum, der eine kritische Distanz zu etablierten Gegenwartsdeutungen eröffnet. Plutarch denkt in den Praecepta gerendae reipublicae laut über ein Mehr an Freiheit für Griechenland nach: ἐλευθερίας δ’ ὅσον οἱ κρατοῦντες νέμουσι τοῖς δήμοις μέτεστι καὶ τὸ πλέον ἴσως οὐκ ἄμεινον· An der Freiheit haben die Bürgerschaften nur soviel Anteil, wie ihnen die Herrschenden zuteilen, und ein Mehr wäre vielleicht nicht besser.34
Der Schwerpunkt liegt hier auf den Herrschern im Nominativ, die den Bürgerschaften ein gewisses Maß an Freiheit zuteilen. Eine Lesart bestünde darin, Deutungen implizit angelegter Sachverhalte keinen Raum zu lassen und Plutarch wörtlich zu nehmen: Demnach wäre der status quo angemessen. Bei Betonung des ἴσως (vielleicht) als Anzeiger einer kontrafaktischen Anspielung würde Plutarchs politische Forderung nach mehr Freiheit jedoch in der Überzeugung begründet liegen, dass dies besser für Griechenland sei. Dass er dies nicht offen fordert, sondern durch einschränkende Floskeln, welche die Deutung seiner Aussage dem Rezipienten auferlegen, ist angesichts der Fremdherrschaftssituation nicht verwunderlich. Nach einer Phase offensiver Affirmation römischer Herrschaft seitens einiger Rom-orientierter Griechen, die der griechischen Kritik an Rom begegnet waren, erkennen wir hier 31 32
33 34
Whitmarsh 2013b, 62. Whitmarsh 2013b, 74 f. weist außerdem auf Erzählungen von Körperlichkeit hin; beispielsweise auf Polemons Kynegeiros und Kallimachos, die, obwohl körperlich durch den Kampf gegen die Perser verstümmelt, als Zeichen der Freiheit in politischer und ethischer Hinsicht fungieren. Vgl. Reader/Chvala-Smith 1996. Whitmarsh 2013b, 76. Mehl 1994. Vgl. Verg. Aen. 1,278 f. Plut. praec. ger. reip. 824c.
272
7 Widerstand
bei Plutarch eine zunehmend kritische Distanz, die sich subtil ausdrückt, weil sie grundsätzliche Zweifel an der römischen Herrschaft artikulieren wollte. Ein weiteres Beispiel ist das von Pausanias gezeichnete Griechenlandbild, das in seiner Heterogenität in krassem Gegensatz zu der von Aristides in der RomRede postulierten Homogenität des römischen Herrschaftsgebietes steht. Aristides erzeugt das Bild, dass die gesamte bewohnte Welt ihren alten Schmuck und die Waffen abgelegt hätte, um zu einem Fest zu kommen, was eher die Paraphrase römischen Wunschdenkens als die Schilderung gegenwärtiger Wirklichkeit darstellt, wenn die massive Defizienzerfahrung und die zahlreichen zeitgenössischen Aufstände in Betracht gezogen werden.35 In Pausanias’ Beschreibung des von Hadrian vollendeten Olympieions in Athen erkennt Whitmarsh Dissonanzen, indem imperiale und lokale Standpunkte aufeinanderprallen.36 Den Bericht vom Selbstmord des Isokrates, der sich anlässlich der bei Chaironeia verlorenen Schlacht (und Freiheit) das Leben genommen haben soll, gerade hier im Kontext des hadrianischen Olympieions zu platzieren, relativiert alle positiven Leistungen des Kaisers. Ein weiteres Beispiel findet sich in Dions Borysthenikos, wo der anti-römische Tenor deutlich wird durch die Stilisierung seines vermeintlichen Exils, den Spott der Einheimischen über den sich rasierenden Mann, der dies tue um den Römern zu gefallen37 und nicht zuletzt durch seinen kosmischen Mythos.38 Es gibt eine Reihe von anderen Texten, die wie Dion in seinen Reden die Grenzen römischer Herrschaft überschreiten: Antonius Diogenes’ ‚Wunder hinter Thule‘, Lukians ‚Wahre Geschichten‘, Heliodors ‚Charikleia und Theagenes‘, das Genre des Alexanderromans und Philostrats ‚Leben des Apollonios von Tyana‘, der auf dem Weg nach Indien auch die Grenze des römischen Reiches überschreitet.39 Die Grenzen des Imperium Romanum werden nicht nur überschritten, sondern die jenseits anzutreffende Präsenz griechischer Kultur zeigt insbesondere in Philostrats Apollonios, dass die griechische Welt größer als die römische ist. Whitmarshs Definition diskursiven Widerstands umgreift nach dem Gesagten also zunächst die Form und Anlage eines Narrativs, das von sich aus bereits kritische Distanz durch die Öffnung eines erweiterten alternativen Möglichkeitenraumes erzeugt, was sich durch die von Plutarch, Appian und Aristides gewonnene Widerstandsdefinition ergänzen lässt. Zentral daran ist die Freiheitsliebe, verstanden als Freiheitskampf, da sie sich gegen etwas Fremdes richtet und auf dem Eigenen mit aller Festigkeit beharrt. 35
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Aristeid. or. 26,97. Vgl. außerdem Aristeid. or. 26,75 mit Pabst 2014a, 406: „Hier distanziert sich Aristeides nämlich sehr subtil von der römischen Auffassung, es gäbe nur noch die Kategorien von Römern und Nichtrömern, von denen erstere Teilhaber an der Herrschaft und nicht länger Untertanen seien, indem er im weiteren exakt die vermeintlich obsolot gewordene Einteilung in Griechen und Barbaren benutzt.“ Vgl. etwa zu den großen jüdischen Aufständen Gambash 2015 und Rudich 2015. Whitmarsh 2013, 66. Paus. 1,18,6–8 und s. o. Kap. 5.3.1. Die lokale Tradition der Athener wird erwähnt, wonach die Statuen vor den Säulen von ihnen „Kolonien“ genannt werden, was vielleicht mit dem Panhellenion in Zusammenhang gebracht werden kann (Arafat 1996, 174 f.). Dion Chrys. or. 36,17 mit Pabst 2014a, 404. Vgl. Nesselrath 2003, 39. 73. Dion Chrys. or. 36,30–61. Vgl. Bowie 2006 speziell zur Konstruktion klassischer Vergangenheit im griechischen Roman.
7.2 Gewaltsamer Widerstand
273
7.2 GEWALTSAMER WIDERSTAND Die Forschung zeigt sich in ihren Deutungen anti-römischen Widerstandes durchaus beeinflusst von der römischen Propaganda vom ‚Goldenen Zeitalter‘40 bzw. der Pax Romana,41 wonach es in der römischen Kaiserzeit keinen ernsthaften physischen Widerstand gegen die römische Ordnung mehr gab. Folgerichtig sieht Cassius Dio keinen Nutzen darin, vom Widerstand gegen die Römer zu schreiben. Nur die Ereignisse von größter Bedeutung aufgrund ihres Umfangs oder Bedrohungspotenzials werden von ihm geschildert.42 οὐ μέντοι καὶ περὶ πάντων αὐτῶν ἀκριβῶς ἐπεξάξω· πολλά τε γὰρ ὡς ἑκάστοις καὶ οὐκ ἀξιόλογα συνηνέχθη, καὶ οὐδὲν ἂν λεπτολογηθέντα ὠφελήσειε. τά γε μὴν μνήμης τινὸς ἄξια κεφαλαιώσας, πλὴν τῶν μεγίστων, ἐρῶ. Indessen will ich auf all diese Dinge nicht im Einzelnen zu sprechen kommen; denn vielerei, das keine Erwähnung verdient, trug sich bei einzelnen Gelegenheiten zu, und eine detaillierte Darstellung dürfte keinen Nutzen stiften. Möchte ich doch lediglich die irgendwie bemerkenswerten Gegenstände und auch diese nur in knapper Zusammenfassung wiedergeben.43
Die communis opinio besagt, dass, wenn es gewaltsamen Widerstand gab, er vergebens war, worin sich die Perspektive des römischen Siegers im jeweiligen Konflikt widerspiegelt. Woolf weist richtig darauf hin, dass die Römer ein Interesse daran hatten, die Gefahr und das Ausmaß von Aufständen herunter zu spielen und die Pax Romana im Grunde nur die Abwesenheit von Bürgerkriegen bedeutet.44 Die Forschung verzeichnet vereinzelt gewaltsame Aufstände gegen die römische Ordnung, die stets als Ausnahme von der Regel betrachtet werden. Daher ist das heutige Bild des Imperium Romanum in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten beherrscht vom ‚römischen Frieden‘, was auf der Missachtung eines Aufsatzes von Thomas Pekáry aus dem Jahr 1987 basiert. Pekáry listet in 200 Jahren über 100 sozial oder politisch motivierte Aufstände im römischen Reich auf:45 „Das 40
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Unter Hadrian finden wir einen Aureus mit der Legende SAEC(ulum) AUR(eum) aus dem Jahr 121 n. Chr. (BMC III 278, Nr. 312, Taf. 52,10 = RIC 136) und vgl. dazu Bellen 1997. Vgl. die bereits in augusteischer Zeit einsetztende Rede von einem ‚Goldenen Zeitalters‘ bei Verg. Aen. 6,792. Vgl. Pekáry 1987, 135 und Kap. 4.1. Seit Augustus wird der innere Friede im Imperium Romanum nach Beendigung der spätrepublikanischen Bürgerkriege als pax Augusta bezeichnet (vgl. ILS 3786–3789 und die Ara Pacis Augustae, dediziert 9 v. Chr.). Vespasian ließ wiederum 75 n. Chr. einen Tempel der Pax in Rom errichten, was wohl hintergründig im Zusammenhang mit dem Vier-Kaiser-Jahr steht, vordergründig mit dem Ende des Jüdischen Krieges verbunden wird (Ios. BJ 7,158. Suet. Vesp. 9,1. CIL VI 199 f.). Die pax Romana erscheint zuerst bei Sen. dial. 1,4,14. Vgl. auch Sen. Apocol. 10,2: Augustus charakterisiert sich zuerst als derjenige, der Frieden geschaffen und die Bürgerkriege beendet hat. Vgl. Kehne 2000, 454 f. Für 6 n. Chr. berichtet Cass. Dio 55,26–28 von einer Art Ausnahmezustand (Pekáry 1987, 137). U. a. rebellierten mehrere Städte und in die senatorischen Provinzen wurden nicht durch das Los bestimmte, sondern vom Kaiser direkt ernannte Statthalter für zwei Jahre entsandt. Auch Achaia war eine senatorische Provinz, in der die rebellierenden Städte demnach zu vermuten sind. Cass. Dio 55,28,2 f. Vgl. Woolf 1993, 186–188. Pekáry 1987, 145.
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7 Widerstand
Imperium Romanum war weder unter Augustus, noch unter den ‚guten Kaisern‘ des 2. Jh. eine ausschließlich in Frieden und Wohlstand lebende Völkerfamilie.“46 Es ist nun zu prüfen, ob neben der kritischen Distanz, Fuchs’ geistigem und Whitmarshs diskursivem Widerstand angesichts der Liste von Pekáry in Achaia und Asia ein gewaltsamer Widerstand gegen die römische Ordnung zu konstatieren ist. Verglichen mit den Freiheitskriegen wie etwa in Gallien, wo Anfang des 1. Jh. n. Chr. mehrere Aufstände beträchtlichen Ausmaßes zu verzeichnen waren, die explizit um der Freiheit willen geführt wurden, sind die meisten hier zu besprechenden Aufstände in Achaia, Asia und im weiteren Osten – soviel muss vorweg genommen werden – aus römischer Perspektive marginal. Tatsächlich sehen wir keine Bestrebung seitens der Griechen, die römische Ordnung gewaltsam durch Alternativen zu ersetzen. Stattdessen bewegen sich die Unruhen auf kommunaler Ebene, was im griechischen Denken allerdings die Polis-Ebene bezeichnet, und damit den für sie wichtigsten Bezugspunkt tangiert. Als Ausnahme muss das folgende Ereignis angesehen werden: In zwei kurzen Abschnitten präsentiert der Autor der Antoninus-Vita in der Historia Augusta die von Antoninus Pius durch seine Legaten geführten Kriege, die chronologisch nicht fixiert sind, also in die Regierungszeit zwischen 138 und 161 n. Chr fallen. Es ist die Rede vom Bau des Antoninus-Walls in Britannien, sowie Kriegen in Mauretanien, Germanien, Dakien, Judaea und bei den Alanen. In Achaia und Ägypten wären Rebellionen zu unterdrücken gewesen: in Achaia etiam atque egyptum rebelliones repressit.47 Der Aufstand in Achaia lässt sich mit den durch Lukian überlieferten Aktivitäten des Peregrinos Proteus 157 n. Chr. synchronisieren, der zum bewaffneten Widerstand gegen die Römer (ἀντάρασθαι ὅπλα Ῥωμαίοις) aufgerufen hatte.48 Zuvor war er vom Stadtpräfekten Roms verbannt worden, weil er eine allzu freizügige Parrhesia gegenüber den Römern und insbesondere dem Kaiser geübt hatte. Weitere Informationen können wir über diesen Aufstand nicht gewinnen. Jedoch wird deutlich, dass sich Mitte des 2. Jh. n. Chr. relativ rasch ein bewaffneter Konflikt zwischen Griechen und Römern entwickeln konnte, verursacht lediglich durch einen Demagogen, der es verstand, eine große Anhängerschaft zu mobilisieren. Im Kontext weitaus zahlreicherer Aufstände größereren Ausmaßes erscheint der Peregrinos-Aufstand jedoch nicht exzeptionell im Kontext des Imperium Romanum, wenngleich er für Achaia wohl das größte Ereignis darstellt. Als große Aufstände in anderen Provinzen müssen angesprochen werden der Tacfarinas-Aufstand 46 47
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Pekáry 1987, 150. SHA Ant. P. 5,4 f.: per legatos suos plurima bella gessit. nam et Brittannos per Lollium Urbicum vicit legatum alio muro cespiticio summotis barbaris ducto et Mauros ad pacem postulandam coegit et Germanos et Dacos et multas gentes atque Iudeos rebellantes contudit per praesides ac legatos. in Achaia etiam atque egyptum rebelliones repressit. Alanos molientis saepe refrenavit. Vgl. Spawforth 2011, 263. Veyne 1999, 526 f. Anm. 69. Pekáry 1987, 143. Lukian. Peregr. 19: οὕτω δὴ ἐπὶ τὴν Ἑλλάδα ἐλθὼν ἄρτι μὲν Ἠλείοις ἐλοιδορεῖτο, ἄρτι δὲ τοὺς Ἕλληνας ἔπειθεν ἀντάρασθαι ὅπλα Ῥωμαίοις […]. Bereits Bernays 1879, 29 f. stellte einen Zusammenhang her, außerdem Jones 1986, 125 und Bowersock 1965a, 147 Anm. 5. Vgl. auch AE 1929, 21.
7.2 Gewaltsamer Widerstand
275
17–24 n. Chr. in Africa, bei dem mehrere Städte überfallen werden und starke römische Einheiten hinzugeholt werden müssen,49 sowie der Aufstand des Florus und Sacrovir in Gallien 21 n. Chr., bei dem die römische Herrschaft abgeschüttelt werden sollte und nicht nur römische Kaufleute ermordet wurden.50 In Britannien forderte 61 n. Chr. der Boudicca-Aufstand 80 000 römische Opfer.51 Im Jahr 89 n. Chr. fand der Saturninus-Aufstand statt, dem ein blutiger Krieg folgte.52 Für sich stehen die jüdischen Aufstände, angefangen mit dem von Vespasian niedergeschlagenen und durch Flavius Jospehus beschriebenen Jüdischen Krieg von 66 bis 70 n. Chr.53 Dem großen jüdischen Aufstand von 115 bis 117 n. Chr. in Palästina, Ägypten, Kyrene und Zypern fielen nach Cassius Dio in Kyrene 220 000 und auf Zypern 240 000 Griechen und Römer zum Opfer.54 Der Bar-Kokhba-Aufstand in Palästina wurde von Hadrian 132 bis 135 n. Chr. blutig niedergeschlagen. Josephus hatte im Zusammenhang mit dem Jüdischen Krieg darauf hingewiesen, dass selbst die freiheitsliebenden Griechen die römische Herrschaft erdulden würden, womit er den jüdische Aufstand diskreditieren will, da die Griechen als Freiheitskämpfer schlechthin figurieren.55 Die im Folgenden aufgeführten Staseis und Homonoiabekundungen griechischer Poleis bilden zu Josephus’ Aussage jedoch ein nicht zu vernachlässigendes Korrektiv. Obwohl eine Stasis einen innerstädtischen Konflikt darstellt, warnt Plutarch davor, dass sie potentiell zu einem zwischenstaatlichen Krieg eskalieren kann.56 Auch in Josephus’ Analyse des Jüdischen Krieges war eine οἰκεία στάσις (innere Zwietracht) für den Krieg mit den Römern verantwortlich.57 Der Begriff der Homonoia verschaffte sich in der Zeit der Zweiten Sophistik eine breite gesellschaftliche Geltung, wie anhand der Homonoia-Reden Dions und Aristides’, dem prominenten Kult der Homonoia in Plataiai sowie angesichts der griechisch-provinzialen Münzlegenden deutlich wird.58 Bereits Bowie hat die Überlegung vorgetragen, dass die durch die Münzen bezeugten Homonoia-Proklamationen mit handfesten politischen Interessen der griechischen civitates liberae zu tun hatten.59 Von griechischer Seite war es deshalb geboten, Streitigkeiten innerhalb der Polis zu vermeiden und damit eine Intervention der Römer zu verhindern. 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
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Tac. Ann. 2,52. 3,20 f. 32. 73 f. Tac. Ann. 3,40–46. Sacrovir hatte in Augustodunum 40 000 Bewaffnete zur Verfügung. Tac. Ann. 14,31–37. Agr. 15 f. Cass. Dio 62,1–12. Suet. Dom. 6 f. Cass. Dio 67,11,1–4. Martial. 4,11. Vgl. Rudich 2015 zur religiösen Motivation des Aufstandes als einer unter vielen Motiven und Gambash 2015 zum provinzialen Widerstand, speziell Judaeas, vgl. ebd. 144–179. Cass. Dio 68,32,1–3. Ios. BJ 2,358–360 und s. o. Kap. 5.2. Plut. praec. ger. reip. 825d zur Situation in Sardis, s. o. Anm. 17 (Kap. 3.2). Ios. BJ 1,10. Franke/Nollé 1997, VIIf. Vom 1. bis 3. Jh. sind fast 400 Homonoia-Verbindungen mit Hilfe von über 2370 Münzen nachgewiesen. Vgl. ferner Theriault 1996. Kampmann 1996. Kienast 1995. Sheppard 1984–6. Kienast 1964. Zur Entwicklung des Homonoia-Konzeptes vgl. Funke 1980 und Moulakis 1973. Zur hellenistischen Entwicklung des kaiserzeitlichen Kults des Zeus Eleutherios und der Homonoia der Hellenen in Plataiai vgl. Wallace 2011 und für die Kaiserzeit unter dem Aspekt der Erinnerungskultur Jung 2006, 344–377. Vgl. Bowie 1970, 37 f. 18, Anm. 49.
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7 Widerstand
In einer Rede zur Homonoia zwischen Nikomedeia und Nikaia weist Dion darauf hin, dass die Uneinigkeit zwischen den Poleis den Herrschern in die Hände spiele.60 Außerdem warnt er die Bewohner seiner Heimatstadt explizit vor einem Eingreifen des Prokonsuls, da diesem alle Vorkommnisse bekannt würden.61 Die städtischen Eliten mussten darauf hingewiesen werden, dass sie nicht nur die Vorteile der römischen Herrschaft genießen durften, sondern auch deren Nachteile zu spüren bekamen, indem sie verbannt oder ihre Güter eingezogen werden konnten. Hier ist an Hipparchos, den Großvater von Herodes Atticus,62 Dion von Prusa oder dessen Rivalen Archippos zu denken.63 Kam es zu Streitigkeiten unter griechischen Städten oder zwischen Individuen innerhalb einer Stadt, mussten die Römer eingreifen. Bereits Bowie sah es nicht als Zufall an, dass die erste Erwähnung eines curators in Philostrats Sophistenviten bei Niketes von Smyrna unter Nero anzutreffen ist.64 Nach Philostrat kritisierte Niketes den curator Rufus allzu offen, wodurch sich dieser gekränkt sah und Niketes später nach Gallien kommen ließ, um über ihn zu richten. Rufus war von der Verteidigungsrede des Niketes allerdings so berührt, dass sie sich versöhnten. Diese Art von Offenheit war der eigenen Position der Elite also eher abträglich, sodass später Plutarch in den Praecepta gerendae reipublicae im Anschluss an seine alternative Erinnerungskultur die Bemerkung tätigt, dass sich eine Zusammenarbeit mit den
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Dion Chrys. or. 38,36: τὰ δὲ τῶν ἡγεμόνων νῦν μὲν ὅπως ἔχει, τί δεῖ πρὸς ἐπισταμένους λέγειν; ἢ γὰρ οὐκ ἐπαισθάνεσθε τῆς τυραννίδος, ἣν ἡ στάσις ἡ ὑμετέρα δίδωσι τοῖς ἄρχουσιν ὑμῶν; („Wie es mit den Statthaltern heutzutage bestellt ist – was soll ich darüber vor Wissenden sprechen! Oder merkt ihr tatsächlich nicht die drückende Übermacht, die eure Uneinigkeit den Machthabern in die Hände spielt?“). Dion Chrys. or. 46,14: καὶ μηδεὶς νομίσῃ ὡς ἐγὼ ὑπὲρ ἐμαυτοῦ ἀγανακτῶν ταῦτα εἴρηκα μᾶλλον ἢ ὑπὲρ ὑμῶν δεδιὼς μήποτε ἄρα διαβληθῆτε ὡς βίαιοι καὶ παράνομοι. οὐ γὰρ λανθάνει τῶν ἐν ταῖς πόλεσιν οὐδὲν τοὺς ἡγεμόνας (λέγω δὲ τοὺς μείζους ἡγεμόνας τῶν ἐνθάδε) ἀλλ' ὥσπερ τῶν παιδίων τῶν ἀτακτοτέρων οἴκοι πρὸς τοὺς διδασκάλους κατηγοροῦσιν οἱ προσήκοντες, οὑτωσὶ καὶ τὰ τῶν δήμων ἁμαρτήματα πρὸς ἐκείνους ἀπαγγέλλεται. („Glaube nur niemand, ich hätte das aus Unwillen über meine eigene Lage gesagt und nicht, weil ich fürchte, ihr könntet in den Ruf von gewalttätigen und gesetzlosen Leuten kommen. Denn nichts, was in den Städten vorgeht, bleibt den Prokonsuln – ich meine die mächtigeren in andereren Gegenden – verborgen. Wie die Angehörigen Kinder, die zu Hause allzu ungezogen sind, den Lehrern melden, so werden auch die Fehler der Gemeinden diesen Prokonsuln hinterbracht.“). Vgl. Oliver 1953, 960 ff. Vgl. Plin. ep. 10,58, wo Plinius die Schreiben von Domitian an den vorbestraften Philosophen Archippos an Trajan sendet. Dieser sollte entscheiden, ob die Begnadigung durch Domitian und die Bestätigung durch Nerva rechtskräftig sind. Archippos trat gegenüber Dion in Prusa als Rivale auf, indem er z. B. die Rechnungen für die von Dion gebaute Bibliothek von Plinius prüfen lassen will (Plin. ep. 10,81). Zudem sollte Dion dafür angeschwärzt werden, dass in einem Innenhof dieses Gebäudes seine Frau und seinen Sohn hat bestatten lassen. Vgl. auch Kokkinia 2004. Vgl. Bowie 1970, 38 Anm. 106. Philostr. soph. 512: ἀνὴρ ὕπατος, ᾧ ὄνομα Ῥοῦφος, τοὺς Σμυρναίους ἐλογίστευε πικρῶς καὶ δυστρόπως. („Ein Konsul mit Namen Rufus verwaltete Smyrna kleinlich und eigensinnig.“).
7.2 Gewaltsamer Widerstand
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Römern für den griechischen Politiker lohne – allerdings nur, wenn er sich unschuldig halte (ἀναίτιος) und wenn sein Engagement im Dienste der Heimat steht!65 Die Homonoia wird von Plutarch als realisierbares Ideal zeitgenössischer griechischer Politik angesehen, weil angesichts der Schwäche Griechenlands allein Friede und Eintracht der Kampfpreis für die Zukunft seien, was der Vernünftige erkenne und immer wieder darauf hinweise.66 Deshalb ist es die wichtigste Aufgabe des Staatsmannes, Eintracht und Freundschaft zu stiften.67 Außerdem bringe es einer Gesandtschaft viel Ehre, mit einer anderen Stadt φιλία und ὁμόνοια wieder herzustellen:68 Also gewissermaßen internationale Politik zu betreiben und zudem das panhellenische Ideal zu verwirkichen. Um den Heimatpoleis Privilegien zu erhalten, neue zu gewinnen oder römische Interventionen zu verhindern, traten zahlreiche Sophisten als Gesandte an den
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Plut. praec. ger. reip. 814c. So konnten Polybios und Panaitios mit der εὔνοια Scipios gegenüber ihnen für ihre Vaterstädte und Bürgerschaften Gutes bewirken, vgl. Plut. praec. ger. reip. 814d. Plut. praec. ger. reip. 824e–f: ἔπειτα καὶ καθ' ἕνα καὶ κοινῇ διδάσκοντα καὶ φράζοντα τὴν τῶν Ἑλληνικῶν πραγμάτων ἀσθένειαν, ἧς ἓν ἀπολαῦσαι ἄμεινόν ἐστι τοῖς εὖ φρονοῦσι, μεθ' ἡσυχίας καὶ ὁμονοίας καταβιῶναι, μηδὲν ἐν μέσῳ τῆς τύχης ἆθλον ὑπολελοιπυίας. τίς γὰρ ἡγεμονία, τίς δόξα τοῖς περιγενομένοις; ποία δύναμις, ἣν μικρὸν ἀνθυπάτου διάταγμα κατέλυσεν ἢ μετέστησεν εἰς ἄλλον, οὐδὲν οὐδ' ἂν παραμένῃ σπουδῆς ἄξιον ἔχουσαν; („Ferner wird er es nicht fehlen lassen an der Belehrung der Einzelnen und der Gesamtheit über die Schwäche Griechenlands, da den Verständigen als einziges Auskunftsmittel nur der Rat übrig bleibt, in Ruhe und Eintracht zu leben, da ja das Schicksal uns sonst keinen Kampfpreis mehr vergönnt. Denn können wir uns denn noch als Sieger denken, die auf Herrschaft und Ruhm rechnen dürfen? Was hat eine Macht zu bedeuten, die eine einzige Verfügung des Prokonsuls auflösen oder auf einen anderen übertragen kann, und die, auch wenn sie bestehen bleibt, nichts mehr hat was der Mühe Wert wäre?“). Plut. praec. ger. reip. 824d: Λείπεται δὴ τῷ πολιτικῷ μόνον ἐκ τῶν ὑποκειμένων ἔργων, ὃ μηδενὸς ἔλαττόν ἐστι τῶν γαθῶν, ὁμόνοιαν ἐμποιεῖν καὶ φιλίαν ἀεὶ τοῖς συνοικοῦσιν, ἔριδας δὲ καὶ διχοφροσύνας καὶ δυσμένειαν ἐξαιρεῖν ἅπασαν, […]. („Von allen Aufgaben des Staatsmannes bleibt also nur eine einzige übrig, die sich allen anderen gleichwertig an die Seite stellt, nämlich Eintracht und Freundschaft zu stiften und immer zu erhalten, allen Zank, alle Streitsucht und Feindseligkeit im Keime zu ersticken […].“). Plut. praec. ger. reip. 808c: εἰσὶ δὲ καὶ χάριτες ἀνεπίφθονοι, συλλαβέσθαι πρὸς ἀρχὴν τῷ φίλῳ μᾶλλον, ἐγχειρίσαι τινὰ διοίκησιν ἔνδοξον ἢ πρεσβείαν φιλάνθρωπον, οἷον ἡγεμόνος τιμὰς ἔχουσαν, ἢ πρὸς πόλιν ὑπὲρ φιλίας καὶ ὁμονοίας ἔντευξιν· („Es gibt Gunstbezeugungen, die nicht benieden werden, etwa den Freund bei der Bewerbung um ein Amt zu bevorzugen, ihm einen ehrenvollen Verwaltungsposten zu übertragen oder eine angesehene Gesandtschaft, sei es um den Statthalter zu ehren oder mit einer Stadt über Freundschaft und Eintracht zu verhandeln.“). Mit Sheppard 1984–6 müssen wir von zwei Arten von Homonoiaverbindungen ausgehen: 1. bilaterale oder trilaterale zwischen Poleis und 2. die Einheit und Eintracht ganz Griechenlands betreffend. Contra Kienast 1964, insofern Homonoiverbindugen keine informellen Vereinbarungen über Isopoliteia waren, da es keine generelle Erklärung des Homonoia-Formulars auf Münzen und Inschriften gibt, es keinen Beweis dafür gibt, dass außerhalb provinzieller Koina ein formales System zur Verlinkung von Poleis existierte und die Homonoia zwischen Koinon und Polis in den zwei bekannten Fällen nicht darauf schließen lässt, dass ein Koinon Isopoliteia zu vergeben hatte.
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7 Widerstand
Kaiserhof auf.69 Philostrat berichtet von Skopelian, dass er sich auf eine Gesandtschaftsreise nach Rom begeben hat, um im Interesse ganz Asias das Weinanbauverbot Domitians wieder aufzuheben, was ihm auch gelang. Auch wenn Domitans Weinbauedikt wohl mit der Stärkung des italischen Anbaus zusammenhing, ist es bezeichnend, dass Philostrat als Grund für das Verbot des Weinbaus in Asia angibt, dass die Bewohner Asias unter Weineinfluss einen Aufstand geplant hätten.70 7.2.1 Staseis und die Grenzen der griechischen Exekutive Der Befund einer Homonoia-Debatte unter den Griechen verweist auf konkrete Staseis im Inneren einer Polis.71 Wenn Dion Chrysostomos in seiner Olympischen Rede explizit betont, dass Zeus – als Zeus Eleutherios auch für die Freiheit der Griechen zuständig – friedlich und in jeder Hinsicht milde sei, „[…] passend zu seiner Rolle als Schirmherr eines von keinem Aufstand heimgesuchten, in Eintracht lebenden Griechenland“,72 sollte dies aufhorchen lassen. Diese Bemerkung, verstanden als Reaktion auf bedenkliche Entwicklungen und als affirmative Forderung, macht nur Sinn, wenn Griechenland eben nicht von Aufständen frei war. Zunächst ist hier an die Wirren nach dem Vierkaiserjahr und die Rücknahme der neronischen Freiheitserklärung durch Vespasian zu denken ist, die für die Griechen eine Zäsur darstellte. Wir finden weitere Zeugnisse, welche die griechische Eintracht in der Kaiserzeit beschwören. Polemon rühmte sich, in Smyrna eine harmonische Regierung ohne Parteiungen zu führen und die Smyrnaier bisweilen von ihrer ionischen Arroganz und Frechheit geheilt zu haben.73 Auch diese Bemerkung muss als Reaktion auf die von römischer Seite den Griechen zugetrauten Staseis gewertet werden, deren Anlässe vielfältig sein konnten:74 Nahrungsmittelknappheit, religiöse und soziale Konflikte, Zerwürfnisse innerhalb der städtischen Honoratiorenschicht, Fragen der Gerichtsbarkeit über römische Bürger etc. Insofern erklärt sich die kluge Politik Polemons, die städtische Autonomie nicht auf konfliktbehaftete Bereiche auszudehnen:
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Vgl. Plut praec. ger. reip. 805a. 808c. Gesandtschaften an die Kaiser: z. B. Skopelian (Philostr. soph. 520), Polemon (Philostr. soph. 530) und Alexander von Seleukeia (Philostr. soph. 571). Zur politischen Tätigkeit der Honoratioren als Gesandte vgl. Quaß 1993, 168–182. Allgemeiner dazu Quaß 1982. Philostr. soph. 520. Homonoia sollte Staseis verhindern: Thuk. 8,93,3. Lys. 18,17 f. And. 1,73. Vgl. Sheppard 1984–6, 229. Zum Stasis-Begriff grundlegend Gehrke 1985 für das 5. und 4. Jh. v. Chr. und die Literatur bei Börm 2016, 103 Anm. 30. Für die Kaiserzeit vgl. Botteri 1989. Dion Chrys. or. 12,74: ὁ δὲ ἡμέτερος εἰρηνικὸς καὶ πανταχοῦ πρᾷος, οἷος ἀστασιάστου καὶ ὁμονοούσης τῆς Ἑλλάδος ἐπίσκοπος· Philostr. soph. 530. 532. Vgl. Kohns 1994 auch zu städtischen Unruhen im Westen des Imperium Romanum. Vgl. auch Kohns 1988.
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τὰς δίκας τὰς πρὸς ἀλλήλους οὐκ ἄλλοσέ πῃ ἐκφοιτᾶν , ἀλλ’ οἴκοι ἔπαυε. λέγω δὲ τὰς ὑπὲρ χρημάτων–τὰς γὰρ ἐπὶ μοιχοὺς καὶ ἱεροσύλους καὶ σφαγέας, ὧν ἀμελουμένων ἄγη φύεται, οὐκ ἐξάγειν παρεκελεύετο μόνον, ἀλλὰ καὶ ἐξωθεῖν τῆς Σμύρνης· δικαστοῦ γὰρ δεῖσθαι αὐτὰς ξίφος ἔχοντος. Ihre Prozesse gegeneinander ließ er nicht anderenorts verhandeln, sondern beendete sie zu Hause; ich spreche von denen in Geldangelegenheiten – denn die wegen Ehebruchs, Tempelraubs und Mordes, deren Vernachlässigung eine Blutschuld zur Folge hat, riet er nicht nur anderswohin zu bringen, sondern ganz aus Smyrna zu verbannen: Für sie nämlich brauche man einen Richter, der das Schwert führe.75
Polemons Politik ist erst das Ergebnis einer Reihe von Fehltritten griechischer Poleis, die ihre relative Autonomie missverstanden und die Gerichtsbarkeit über römische Bürger ausübten. Darauf spielt Plutarch bei einer Sequenz von drei Beispielen an, wo es darum geht, dass der Politiker „[…] den Staat nicht in gefährliche Aufregung versetzen darf […].“76 Der von Plutarch erwähnte (und oben siehe Kap. 3.2 bereits ausführlich behandelte) Aufstand in Thessalien unter Augustus, der zum Entzug der Freiheit führte, hat damit zu tun, dass Petraeus als römischer Bürger und einstiger Verbündeter Caesars von den Thessalern gerichtet wurde, obwohl dies dem römischen Recht oblegen hätte.77 Auch Rhodos wurde 44 n. Chr. die Freiheit entzogen, weil dessen Bewohner römische Bürger gepfählt hatten, wie eine kurze Notiz bei Cassius Dio besagt.78 Pekáry vermutet, dass sich Plutarchs Bemerkung zu Rhodos für die Zeit Domitians – die im gleichen Kontext wie der thessalische Fall steht – vielleicht auf dieses von Cassius Dio berichtete Ereignis unter Claudius bezieht.79 Es ist jedoch eher davon auszugehen, dass Plutarch den unter Vespasian bezeugten Freiheitsentzug fälschlicherweise unter Domitian angesetzt hat.80 Nach dem Rombrand 66 n. Chr. musste Nero zum Wiederaufbau der Stadt Geldmittel beschaffen, die er in den Provinzen einzutreiben gedachte. Acratus und Arrinas Secundus wurden nach Achaia und Asia gesandt, wo sie sogar Götterbilder aus Tempeln raubten, wie Tacitus berichtet.81 Die Pergamener wehrten sich gewaltsam gegen den Kunstraub des Acratus,82 was der damalige Statthalter Barea Soranus ungestraft ließ.83 Nero ließ Soranus beseitigen mit der Anklage, er wolle die Provinz Asia für einen Aufstand gewinnen. Tacitus, Nero und später Domitian hielten es also durchaus für möglich, dass die Griechen einen Aufstand planten. 75 76 77 78 79 80 81 82 83
Philostr. soph. 532. Plut. praec. ger. reip. 815d–e und ausführlich dazu s. o. Kap. 3.2. Plut. praec. ger. reip. 815d. Vgl. Pekáry 1987, 138 und s. o. Anm. 209 (Kap. 4.3.4) zu einem späteren Petraios. Cass. Dio 60,24,4. Pekáry 1987, 141 datiert die Unruhen in Rhodos dann doch auf ‚um 85 n. Chr.‘ und geht somit ebenfalls von zwei Fällen aus. Vgl. Plut. praec. ger. reip. 815d. S. u. Anm. 105 (Kap. 7.2.2). Tac. Ann. 15,45,2. Acratus war ein Freigelassener, Arrinas hatte wohl griechische Bildung genossen und war ein gewandter Redner, aber dadurch ‚kein Mann von wahrer Bildung geworden‘. Plut. praec. ger. reip. 815d. Pekáry 1987, 140. Tac. Ann. 16,23,1. Soranus zeigte nach Tacitus eine gerechte und tatkräftige Amtsführung auch indem er den versandeten Hafen von Ephesos wiederherstellen ließ.
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7 Widerstand
Zu den von Plutarch genannten Fällen lassen sich weitere analoge Fälle finden. Kyzikos hatte 25 n. Chr. römische Bürger im Gefängnis interniert. Der Bau eines Augustus-Tempels war zwar begonnen, jedoch noch nicht vollendet worden. Dies und die Gewalttätigkeit gegen römische Bürger bewirkten den Verlust der Freiheit für Kyzikos, die sie sich ursprünglich im Mithridatischen Krieg durch ihr Engagement für die römische Seite verdient hatten.84 43 n. Chr. versetzte Kaiser Claudius die Provinz „Lykien in den Sklavenstand und gliederte sie in die Provinz Pamphylien ein“, wie Cassius Dio berichtet.85 Der Grund dafür war, dass sich Lykien gegen die Römer erhob und römische Bürger ermordet wurden.86 Cassius Dio berichtet weiter, dass vor dem Senat eine Untersuchung anberaumt war, wozu ein geborener Lykier, der das römische Bürgerrecht erlangt hatte, geladen war. Dieser verstand die Fragen des Claudius nicht, worauf dieser ihm das Bürgerrecht entzog mit den Worten, dass niemand ein Römer sein dürfe, wenn er nicht die römische Sprache verstehe. Danach kritisiert Dio die – in seinen Augen – allzu freigebigen Bürgerrechtsverleihungen des Claudius, Messalinas und ihrer Freigelassenen. Es seien weiterhin einige Staseis erwähnt, bei denen es erwägenswert ist, ob sie von römischer Seite bewusst als interne griechische Konflikte verstanden wurden und nicht als gegen die römische Ordnung gerichtet. Nachdem sich Eurykles von Sparta bei Herodes in Judaea durch Verleumdung Geldgeschenke erschlichen hatte, wird er nach seiner Rückkehr nach Achaia zwischen 7 und 2 v. Chr. zweimal von Augustus angeklagt, im Peloponnes Unruhe gestiftet zu haben (στάσις) und städtische Kassen betrogen zu haben.87 Eurykles’ Machenschaften richteten sich wohl nicht gegen die römische Ordnung, verstießen aber offensichtlich gegen die griechische, sodass sich Augustus genötigt sah, den einstigen Unterstützer im Kampf gegen Antonius zu verbannen. Für ca. 13 n. Chr. berichten spätantike Autoren, wahrscheinlich beruhend auf Iulius Africanus, von einer Stasis in Athen, über die sich keine Klarheit erlangen lässt.88 In Antiocheia gab es 40 n. Chr. Unruhen mit Ursprung im Circus und blutigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Griechen.89 84 85
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Pekáry 1987, 138. Tac. Ann. 4,36,2. Cass. Dio 57,24,6. Tiberius wollte nach Suet. Tib. 37,3 jeden Anfang von Unruhen unterdrücken, wobei er sich wohl des Statuierens von Exempeln bediente. Cass. Dio 60,17,3 f.: τούς τε Λυκίους στασιάσαντας, ὥστε καὶ Ῥωμαίους τινὰς ἀποκτεῖναι, ἐδουλώσατό τε καὶ ἐς τὸν τῆς Παμφυλίας νομὸν ἐσέγραψεν. Vgl. Syme 1979a, 42 f., der klarstellt, dass Dios Bericht von einer Provinz Lycia-Pamphylia korrekt ist, was von der Forschung lange nicht akzeptiert worden war. Cass. Dio 60,17,2. Suet. Claud. 25,3. Pekáry 1987, 139. Ios. BJ 1,531: δὶς γοῦν ἐπὶ Καίσαρος κατηγορηθεὶς ἐπὶ τῷ στάσεως ἐμπλῆσαι τὴν Ἀχαΐαν καὶ περιδύειν τὰς πόλεις φυγαδεύεται. Bowersock 1961. Pekáry 1987, 137. Quaß 1993, 148 f. Euseb. Chron. 197,4. Oros. 6,22,2. Paulus Diaconus, Hist. Misc. 7,86ic Migne. Pekáry, 1989, 138. Graindor 1927, 41–45 diskutiert dieses Ereignis als eine kleine lokale Angelegenheit. Für Datierungsprobleme (ob 11 oder 13 n. Chr.) vgl. Syme 1979b, 199 im Zusammenhang mit Augustus’ Schließungen des Janus-Tempels. Malalas Chronogr. 244,22–25: καὶ ἐγένετο δημοτικὴ ἀταξία μεγάλη καὶ συμφορὰ τῇ πόλει συνέβη· οἱ γὰρ Ἀντιοχεῖς Ἕλληνες μετὰ τῶν αὐτόθι Ἰουδαίων συμβαλόντες δημοτικὴν μάχην ἐφόνευσαν πολλοὺς Ἰουδαίους καὶ τὰς συναγωγὰς αὐτῶν ἔκαυσαν. Pekáry 1987, 139.
7.2 Gewaltsamer Widerstand
281
Pekáry lässt offen, ob die Bemerkung eines Reskriptes von Kaiser Traian in Zusammenhang mit einer fragmentarischen Inschrift aus Nikomedeia in Bithynien steht, in der darauf hingewiesen wird, dass der Aufruhr in der Stadt durchaus als Stasis zu werten sei und wenn die Stadt diesen Zustand nicht beende, müsse der Prokonsul eingreifen.90 Unter Hadrian oder Trajan beendet Polemon in Smyrna eine Stasis zwischen der Bevölkerung vom Hochland und der Küste.91 Eine Inschrift mit gesammelten Reskripten von Kaisern aus dem Gymnasium von Pergamon erwähnt nach 132 n. Chr. Unruhen in der Stadt.92 Nach dem Zeugnis des Galen gab es im Jahr 161 n. Chr. in Pergamon eine sonst nicht weiter bezeugte Stasis, die wohl nicht mit dem aufflammenden Partherkrieg dieser Jahre in Zusammenhang steht.93 Galen schreibt, er würde von Rom erst wieder nach Pergamon abreisen, wenn die Stasis dort beendet sei. Swain weist darauf hin, dass Galen auch eine (allerdings verlorene) Schrift περὶ ὁμονοίας verfasst hat.94 Sie steht in seinem eigenen Werkverzeichnis unter der Überschrift Περὶ τῶν τῆς ἠθικῆς φιλοσοφίας βιβλίων. Zwar nicht persönlich, zumindest jedoch literarisch hat Galen also vielleicht eine Stasis abzuwenden gesucht, womit er sich einreiht unter Dion Chrysostomos, Polemon und Aristides.95 Zwischen 168–172 n. Chr. finden wir in zwei inschriftlich erhaltenen Karrieren Spuren einer politischen Revolution im Sinne eines städtischen Aufstandes oder einer Stasis.96 Die im Text verwendeten νεωτερισμοί (Neuerungen) werden 90
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TAM 4,1,3: θορυβός, στάσις. Plin. ep. 10,34 mit dem Kommentar von Sherwin-White 1966, 609 f. Plinius hatte Traian das Problem vorgelegt, dass es keine funktionierende Feuerwehr in Nikomedeia gebe. Traians Antwort weist darauf hin, dass man aufgrund schlechter Erfahrungen mit Hetairien in der Vergangenheit die Gilde der Handwerker nicht damit beauftragen solle, sondern die Bürger der Stadt das Problem anders lösen sollen. Pekáry 1987, 141. Philostr. soph. 531: ἔπειτα ὁμονοοῦσαν καὶ ἀστασίαστον πολιτεύειν, τὸν γὰρ πρὸ τοῦ χρόνον ἐστασίαζεν ἡ Σμύρνα καὶ διεστήκεσαν οἱ ἄνω πρὸς τοὺς ἐπὶ θαλάττῃ. („[…], dass die Bürger in Eintracht und Ruhe miteinander lebten; in früherer Zeit waren sie nämlich in Parteiungen entzweit und die landeinwärts Wohnenden im Zwist mit denen am Meer.“). Pekáry 1987, 142. IGR IV 351, Z. 24 f. könnte bedeuten, dass vom Kaiser verlangt wird, dass die Unordnung beendet wird. Später wird es tatsächlich notwendig, einen Logistes nach Pergamon zu schicken, vgl. ebd. Z. 7. Pekáry 1987, 142. Gal. de praecogn. 4,11 = 14,622 Kühn (datiert auf 166 n. Chr.). Vgl. Schlange-Schöningen 2003, 133. Πόλεμος bezieht sich eindeutig auf den Partherkrieg (vgl. Gal. de praecogn. 8,21 = 14,647 Kühn), sodass die στάσις davon zu unterscheiden ist. Welchen genauen Bedeutungsinhalt die von Galen erwähnte στάσις hat, konnte bisher nicht bestimmt werden, vgl. Mattern 2013, 97. Nutton 1973, 164 f. Gal. de libr. propr. 12 = 19,46,5 Kühn. Swain 1996, 373 Anm. 52. Der Status Galens innerhalb der hier vorgeschlagenen Differenzierung der Griechen bleibt angesichts der von Swain 1996, 358–379 beobachteten Distanz zu den Römern einerseits und der von Nutton 2012 beobachteten ‚Integration‘ des griechischen Arztes in die römische Gesellschaft andererseits offen. Galen hat über 30 Jahre in Rom gelebt, das er wie Lukian. Nigr. 17 als unfreundliche Stadt charaktersiert, vgl. Swain 1996, 363. Während Galen die bedeutendsten Gestalten seiner Zeit, wie Plutarch, Favorin, Lukian, Aristides, Polemon und Herodes Atticus in seinem Werk erwähnt (Swain 1996, 378 Anm. 78), ist er von der Bildung der Römer nicht überzeugt. IG V 1,44 = SEG 11,486,9–10. SEG 11,501,7: Ein C. Iulius Arion war ἔφορος ἐπὶ τῶν νεωτερσμῶν.
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von antiken Autoren durchweg negativ verstanden. Spawforth spekuliert, dass sozial-ökonomische Spannungen und gestiegene römische Steuerforderungen an die unteren Schichten dafür verantwortlich gewesen seien.97 Vielleicht stehen die Neoterismen auch im Zusammenang mit den um 170 n. Chr. einfallenden Kostoboken: Die Erfolge bei der Abwehr der Kostoboken könnten zu einem gestiegenen Selbstbewusstsein geführt haben, das den Wunsch nach einer Verfassungsreform befeuert haben könnte. 7.2.2 Militärischer Kontext Es lassen sich eine Reihe von Aufständen anführen, bei denen Militär beteiligt war. Der Frieden in der Provinz Kilikien konnte aufgrund barbarischer Stämme aus den Gebirgen nicht aufrechterhalten werden. 52 n. Chr. kam es zu Unruhen, bei denen Händler, Bauern und ganze Siedlungen überfallen wurden und Anemurium von Aufständischen belagert wurde.98 Die zuhilfe eilende römische Kavallerie aus Syrien wurde geschlagen und erst diplomatische Schachzüge des Antiochus IV. von Kommagene konnten den Aufrührer Troxobor festsetzen und den Unruhen ein Ende setzen. Ein Phänomen für sich sind die Doppelgänger, insbesondere einer des Drusus und drei Nerones, die sich aussschließlich im Osten bewegten. In Achaia und Asia tauchte 34 n. Chr. ein falscher Drusus auf, dem sich viele anschlossen.99 Bei Drusus und den Nerones wird von den antiken Quellen jeweils immer von der Gefahr ausgegangen, dass sich ihnen Soldaten, oder im Falle des Drusus, vielleicht die syrischen Legionen anschließen würden. Tatsächlich zog der erste falsche Nero in Achaia und Asia 69 n. Chr. Soldaten an sich,100 bei denen unklar ist, woher sie gekommen sein sollen. Der zweite falsche Nero tritt unter der Regierung des Titus 79–81 n. Chr. auf und wird derart als Bedrohung empfunden, dass gegen ihn römische Soldaten geschickt werden.101 Er flüchtet sich zum Partherkönig, kommt dort aber zu Tode. Schließlich berichtet Sueton anlässlich von Neros Tod, dass 20 Jahr später (88/89 n. Chr.) wiederum ein junger Mann als falscher Nero zu den Parthern aufbrach, die ihn auch zunächst unterstützten.102 Das Ziel der falschen Nerones war, mithilfe römischer Soldaten bzw. der Parther den Kaiserthron zu gewinnen. Bezeichnenderweise starteten sie ihre Versuche im Osten des Imperium Romanum, wo nach Tacitus die Griechen empfänglich wären für Neuerungen und Wunderdin-
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Cartledge/Spawforth 2002, 116. Tac. Ann. 12,55. Tac. Ann. 5(6),10. Cass. Dio 58,25,1. Pekáry 1987, 138. MacMullen 1992, 143: „What his adventure seemed to prove was the combustibility of the Greek provinces, at least of the youth of the cities there; perhaps also the popularity of the Julio-Claudian line.“ 100 Tac. hist. 2,8 f. Cass. Dio 63(64),9,3. Pekáry 1987, 140. 101 Cass. Dio 66,19,3b = Zon. 11,18 p. 55,19–27 D will sogar den Namen kennen: Terentius Maximus aus Asia. Vgl. außerdem Joann. Antioch. fr. 104 Mueller. Pekáry 1987, 141. 102 Suet. Nero 57. Pekáry 1987, 142.
7.2 Gewaltsamer Widerstand
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ge.103 Nach Dion Chrysostomos gäbe es eine verbreitete Stimmung, nach der sich ‚Jedermann bis zum heutigen Tag wünsche, Nero wäre noch am Leben.‘104 Es darf nicht vergessen werden, dass es Nero war, der den Griechen die Freiheit erklärt hatte, die Vespasian wieder nahm. In der Folge des Vierkaiserjahres 69/70 n. Chr. kommt es vor allem in der östlichen Reichshälfte zu Unruhen. Sueton berichtet, dass am Anfang der Regierungszeit Vespasians Provinzen, freie Städte und einige Königreiche sich untereinander gestritten hätten.105 Achaia, Lykien, Rhodos, Byzantium und Samos wurde die Freiheit wieder genommen.106 Kilikien und Kommagene, die vorher selbständige Königreiche waren, wurden zu Provinzen.107 Am Ende eines einschlägigen Abschnittes mit einem Überblick über den Freiheitsstatus Griechenlands platzierte Pausanias Vespasians Aussage, dass die Griechen die Freiheit verlernt hätten (ἀπομεμαθηκέναι […] τὴν ἐλευθερίαν τὸ Ἑλληνικόν) und ihnen deshalb die Freiheit wieder entzogen wurde.108 Tacitus berichtet für das Jahr 69 n. Chr. von einem Aufstand in Pontus, den er als Sklavenkrieg bezeichnet.109 Anicetus, ein einflussreicher Freigelassener des Königs Polemon II. von Pontus, nutzte die Wirren des Vierkaiserjahres für einen Aufstand, weil er mit der Umwandlung des Vasallenkönigtums 62 n. Chr. in eine rö103 Tac. Ann. 5(6),10 formuliert aus römischer Sicht im Falle des falschen Drusus: per dolumque comitantibus adliciebantur ignari fama nominis et promptis Graecorum animis ad nova et mira. Die Sache wurde aber so ernst genommen, dass der Statthalter von Makedonen, Poppaeus Sabinus, persönlich Nachforschungen aufnahm und von Torone über Euböa nach Nikopolis reiste. 104 Vgl. Dion Chrys. or. 21,10. 105 Suet. Vesp. 8,2. Pekáry 1987, 141. Vgl. Jones/Milns 2002, 62, die auf der einen Seite finanzielle (Steuereinnahmen erhöhen) und auf der anderen Seite strategische Gründe (die östliche Grenze stärken) für Vespasians Neuordnung sehen. Die offizielle Erklärung, interne Auseinandersetzungen zu befrieden, sei nur vorgeschoben. 106 Suet. Vesp. 8,4. Nach Jones/Milns 2002, 62 fanden die Statusänderungen nicht gleichzeitig statt: Achaia verlor die Freiheit 70 n. Chr., Commagene wurde 72 n. Chr. annektiert, Kappadokia-Galatia entstand nicht vor 75 n. Chr., während Byzantium 77 n. Chr. immer noch eine freie Stadt war. Lykien verlor die Freiheit unter Claudius (Suet. Claud. 25,3. Cass. Dio 60,17,3–6) und muss sie unter Nero zu einem unbestimmten Zeitpunkt wiedererlangt haben, um sie unter Vespasian erneut zu verlieren. Syme 1995, 275 mit Eck 1982, 285 f. (auch schon Eck 1970, 4. 113) widersprechen dem von Sueton behaupteten Freiheitsverlust unter Vespasian. Dagegen jedoch Bosworth 1976, 65. Rhodos verlor 44 n. Chr. die Freiheit (Cass. Dio 60,24,4), Claudius stellte sie 53 n. Chr. wieder her (Suet. Claud. 25,3), Vespasian nahm sie 70 n. Chr. wieder anlässlich seines Aufenthaltes dort (Ios. BJ 7,21). Byzantium war in spätrepublikanischer Zeit frei (Cic. Prov. Cons. 4,7), 53 n. Chr. senatorisch (Tac. Ann. 12,62 f.), bei Plin. n. h. 4,46 ist sie frei wohl bis in die späteren Regierungsjahre Vespasians bis sie in Pontus-et-Bithynia integriert wird (Plin. ep. 10,43,1). Samos bekam von Augustus die Freiheit (Cass. Dio 54,9,7) und war es immer noch bei Plin. NH 5,135 bis die Insel ebenfalls später unter Vespasian zu Asia gezählt wurde. 107 Suet. Vesp. 8,4. Euseb. Chron. 213,6 hat offensichtlich die gleiche Liste wie Sueton, verbessert aber Trachiam aus manchen Handschriften in Traciam. Zu der Neuorganisation Kilikiens, Kommagenes und Kappadokiens vgl. Jones/Milns 2002, 63 f., die die strategische Bedeutung der Region angesichts der Parther betonen. 108 Paus. 7,17,4. 109 Tac. hist. 3,47 f. Pekáry 1987, 140.
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7 Widerstand
mische Provinz „unzufrieden war“. Mit der Aussicht auf Plünderungen hatte Anicetus die „besitzlose Menge“ zum Anschluss an seine Raubzüge gewonnen, Trapezunt eingenommen, das dortige Hilfskontingent niedergemacht (das inzwischen mit dem römischen Bürgerrecht bedacht war und sowohl Feldzeichen als auch Waffen nach römischer Art trug) und das Schwarze Meer kontrolliert. Vespasian, der noch in Ägypten weilte, musste Soldaten schicken, um die plündernd Umherziehenden zu stoppen. Dies ist der einzig klar bezeugte Fall eines Restaurationsversuchs im griechisch-sprachigen Osten des Imperium Romanum. Um 100 gab es nach Dion Tumulte in Tarsos in Kilikien, verursacht durch Leinenweber, die wohl das Bürgerrecht beanspruchten.110 Es gab auch zuvor Zusammenstöße mit dem Statthalter, die Dion nicht weiter erläutert.111 Die Stadt solle zudem dankbar sein für die Privilegien, die der Kaiser ihnen einstmals gab.112 Um diese nicht aufs Spiel zu setzen, solle sich die Stadt weiterhin tadellos verhalten. Tatsächlich hätte früher ein besseres Verhältnis zum Statthalter geherrscht, wobei insbesondere die Beziehung zur Nachbarstadt Mallos besser gewesen sei, bei der Neid (auf die Privilegien von Tarsos) eine Rolle gespielt habe.113 Zusammengefasst ging es hier um lokale Streitigkeiten, die Dion schlichten wollte, bevor die römische Ordnungsmacht wohl eingreifen musste. 7.2.3 Sozial motivierte Aufstände Mitte des 2. Jh. n. Chr. beruhigte der Philosoph Demonax in Athen einen Aufstand nur durch sein Erscheinen.114 Der Kontext von Nahrungsmittelschenkungen und die Situierung im Brothändlermilieu erlaubt die Vermutung, dass es sich um einen durch Nahrungsmittelknappheit herbeigeführten Aufstand handeln könnte. Dann ließe sich dieses Ereignis parallelisieren mit der bei Philostrat überlieferten Episode bezüglich des Sophisten Lollianos von Ephesos, der in Athen das Amt des Strategen bekleidete.115 Für die Lebensmittelversorgung zuständig, sah sich Lollianos bei den Brotläden einer wütenden Menge Athener gegenüber, die im Begriff war, ihn zu steinigen. Der Kyniker Pankrates intervenierte in diesem Fall und Lollianos sorgte durch den Ankauf von Getreide für eine Entspannung der Versorgungslage. Einige Großgrundbesitzer wollten mit der Zurückhaltung von Getreide in der Gegend von Aspendos in Pamphylien höhere Preise für ihre Ware erzielen.116 Die Bevölkerung litt Hunger, bewaffnete sich mit Feuer und bedrängte den Statthalter: „Schon griffen sie zu Feuern gegen ihn, obschon er Schutz suchte bei den kaiserli110 Dion Chrys. or. 34, bes. 21. Pekáry 1987, 142. 111 Dion Chrys. or. 34,27 spricht noch von weiteren Konfliktfällen: Rivalitäten mit den umliegenden Städten, Gebietsstreitigkeiten und die Behauptung, Tarsos würde andere Städte bedrängen. 112 Dion Chrys. or. 34, 25. 113 Dion Chrys. or. 34, 14. Pekáry 1987, 142. 114 Lukian. Dem. 64: στάσεως δέ ποτε Ἀθήνησι γενομένης εἰσῆλθεν εἰς τὴν ἐκκλησίαν καὶ φανεὶς μόνον σιωπᾶν ἐποίησεν αὐτούς: ὁ δὲ ἰδὼν ἤδη μετεγνωκότας οὐδὲν εἰπὼν καὶ αὐτὸς ἀπηλλάγη. Vgl. Pekáry 1987, 144. 115 Philostr. soph. 1,23,1 p. 526. Pekáry 1987, 143. 116 Philostr. Ap. 1,15. Pekáry 1987, 141: zwischen 81–96 n. Chr.
7.2 Gewaltsamer Widerstand
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chen Standbildern, die damals sogar furchtbarer und unverletzlicher waren als der olympische Zeus.“117 Apollonios von Tyana deeskalierte die Situation und veranlasste, dass die Getreidewucherer ihre Ware auf den Markt brachten. Grassl zeigt sich zu optimistisch, wenn er in diesem Fall eine neu formulierte Provinzialpolitik „mehr als Hilfe und Unterstützung denn als Herrschaft“ ansieht.118 Artemidor von Daldis bringe diese Stimmung der Provinzialen zum Ausdruck, dass die Kaiser, Beamten und Großen des Reiches sich um das Gemeinwesen kümmern und im Interesse des allgemeinen Wohls die Verantwortung für die öffentlichen Aufgaben tragen.119 Somit müsse man den Eingriff des Statthalters in die Polis Aspendos als Unterstützung des Demos gegen die Profitgier der Reichen im Teuerungskrawall in Aspendos werten.120 In der Darstellung des Philostrat haben wir es hier allerdings mit der Initiative des Apollonios zu tun, der als Anwalt für die unteren griechischen Schichten gegen die oberen römischen Schichten vor dem Statthalter für erstere eintritt. Zu ‚Hungerrevolten‘ kam es dennoch immer wieder.121 Heraus sticht die Episode des bereits erwähnten athenischen Strategen und aus Philostrat bekannten Sophisten Lollianus, der unter Hadrian oder Antoninus Pius fast gesteinigt wurde.122 Steinigung drohte auch dem Statthalter von Asia in Ephesos, weil er die Bäder nicht ausreichend geheizt habe.123 Abgesehen von der theoretischen Diskussion über Roms Stärken oder Schwächen sahen die östlichen Eliten nach Gabba in Rom einen Garanten für die eigene Stellung in ihren Poleis.124 Wie gegenüber den unteren Schichten gegen Rom argumentiert wurde, kann man etwa an der Rede Athenions125 oder der Freiheitspropaganda des Mithridates erkennen.126 Die bei Iustin verarbeitete Rede des Mithridates, der an die Niederlagen der Römer erinnert und somit darauf hinweist, dass sie nicht unbesiegbar sind, wird im Gegensatz zu anderen gestalteten Reden explizit als diejenige des Mithridates eingeführt.127 Es ist erwägenswert, ob sich die Konfliktlinie zwischen Griechen und Römern auch zwischen den sozialen Schichten hinzieht, wie Gabba vermutet hat.
117 Philostr. Ap. 1,15: ἀνηρέθιστο δὴ ἐπὶ τὸν ἄρχοντα ἡλικία πᾶσα καὶ πυρὸς ἐπ' αὐτὸν ἥπτοντο καίτοι προσκείμενον τοῖς βασιλείοις ἀνδριᾶσιν, οἳ καὶ τοῦ Διὸς τοῦ ἐν Ὀλυμπίᾳ φοβερώτεροι ἦσαν τότε καὶ ἀσυλότεροι, […]. 118 Grassl 1982, 10. 119 Artemid. Oneir. 1,2. 120 Dazu auch Stahl 1978, 173 f. 121 6 v. Chr. Aufruhr wegen Hungersnot in Knidos (Syll.3 780. Pekáry 1987, 138); zwischen 70 und 80 n. Chr. Hungerrevolte in Prusa (Dion Chrys. or. 46. Pekáry 1987, 141); unter Domitian in Aspendos (Philostr. Ap. 1,15). Vgl. Kohns 1988. 122 Philostr. soph. 526. Pekáry 1987, 143. 123 Philostr. Ap. 1,16. Pekáry 1987, 141: 81–96 n. Chr. 124 Gabba 1991b, 243. 125 Überliefert bei Poseidonios (FGrHist 87 F36), vgl. Magie 1950, II, 1106 Anm. 42. 126 Diod. 37,26. Iust. 38,3,8. Magie 1950, I, 214. 127 Iust. 38,4,1–7,10.
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7 Widerstand Wir sehen auch, dass die feindliche Haltung gegen Rom in manchen Fällen mit einem gesellschaftlichen Klassengegensatz einhergeht: auch während der Invasion des Mithridates blieben die gehobenen Klassen der kleinasiatischen Städte häufig romfreundlich […].128
Die Römer waren im Osten also einerseits die Garanten für die Bewahrung der politischen und sozialen Situation der Oberschicht, wofür sie von Teilen dieser Oberschicht geschätzt wurden. Andererseits produzierten sie dabei unweigerlich soziale Spannungen, die jedoch in jedem oligarchisch-kapitalistischen System zu erwarten sind. Es sei in diesem Zusammenhang nochmals auf die für Plutarch ermittelten Ergebnisse aus Kap. 3.2 erinnert. Teile der griechischen Führungsschicht in den Poleis nutzten die Römer, um die so gewonnene Macht gegen ihre Mitbürger zu missbrauchen. Obwohl Plutarch empfiehlt, sich freundschaftlich mit hochgestellten Römern zu verbinden, kritisiert er den Machtmissbrauch gegenüber den Mitbürgern scharf. Da die Führungsschicht zumeist das römische Bürgerrecht besaß, konnte sie sich dadurch der Gerichtsbarkeit der Heimatpolis entziehen. Dies war für die Menge nicht möglich, da im Osten das römische Bürgerrecht individuell und nicht kollektiv wie im Westen ganzen Provinzen verliehen wurde. Plutarch verlangt also Solidarität zwischen den sozialen Schichten und unter den Mitbürgern statt egoistische Nutzung der Nähe zur römischen Macht.
128 Gabba 1991b, 244. Magie 1950, I, 213 f. hat die Stellen zusammengestellt und kommentiert.
8 ERGEBNISSE Nach der problemgeschichtlichen Analyse der drei Bereiche Identität, Erinnerungskultur und Herrschaftskritik innerhalb des Untersuchungscorpus konnten Freiheit, Herrschaft und Widerstand als die drei Leitthemen innergriechischer Debatten in der Zeit der Zweiten Sophistik herausgearbeitet werden. Diese Leitthemen wurden von griechischen Autoren reflektiert und mittels Vergangenheitsbezügen diskutiert. Dieser Befund widerspricht teilweise der rezenten Forschung, innerhalb der sich Harmonisierungstendenzen erkennen lassen, die eine konfliktfreie griechisch-römische Koexistenz in der Hohen Kaiserzeit sehen wollen. Wenn von der Forschung überhaupt Widerstandsmomente beobachtet werden, dann in der Regel auf zwei verschiedenen Ebenen, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Einerseits werden die griechischen Autoren nach biographischen Spuren der Nähe und Ferne zu den Römern untersucht und andererseits werden ihre Werke nach denselben Gesichtspunkten gefiltert. Zumeist wird die biographische Ebene für aussagekräftiger gehalten. Es wird dann argumentiert, dass die Evidenz dokumentarischer Quellen wie Inschriften mit der Präsentation eines cursus honorum und dem durch die tria nomina dokumentierten römischen Bürgerstatus höher zu werten ist als die lediglich literarischer Topik entspringende Kritik in ihren Werken. Eine andere Argumentationsfigur besteht darin, ein unproblematisches Nebeneinander griechischer und römischer Identität anzunehmen, was dann unter den Schlagworten biculturalism und multiple identities verhandelt wird. Die beobachtbaren Widersprüche zwischen Aussagen und Handlungen einiger kaiserzeiticher Griechen werden damit aber ignoriert oder marginalisiert, womit von der Forschung wiederum die bereits antike römisch-imperiale Perspektive der Integration auf die Griechen reproduziert wird. Das römische Bürgerrecht zu besitzen und mit gesellschaftlich hochstehenden Römern befreundet zu sein gibt nicht notwendiger Weise Auskunft über die innere Haltung einer Person zur römischen Herrschaft bzw. sind römisches Bürgerrecht und Freundschaft mit der römischen Elite keine Repräsentationen einer inneren Haltung, die zwingend als rom-freundlich zu deuten ist. Durch den Fokus auf die literarische Evidenz, den problemgeschichtlichen Ansatz und die Analyse konkurrierender Vergangenheitsdeutungen konnte die Distanz der nicht Rom-orientierten Griechen herausgearbeitet werden. Während die Griechen in augusteischer Zeit noch unter dem Eindruck des massiven römischen Expansionismus standen und ihre Haltung gegenüber den Römern einem der beiden Extreme (pro- oder anti-römisch) zuzuordnen ist, gewinnen bis zum Ende des 1. Jh. n. Chr. die Innenbereiche des Spektrums. Das offen pro-römische Gebaren eines Dionysios, Strabon oder Nikolaos weicht einer zunehmenden Distanz, ausgedrückt mit einer impliziten Kritik an der römischen Herrschaft im Modus des Vergangenheitsbezugs. Während sich einige Griechen an den Römern
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orientieren und eine Reichskarriere anstreben, treten jedoch Identitätskonflikte auf. Dabei bleibt die Emphase für die griechische Vergangenheit aus verschiedenen Gründen erhalten: Griechische Vergangenheitsbezüge demonstrieren Gelehrsamkeit und dienen damit der gesellschaftlichen Distinktion in einem hoch kompetitiven gesellschaftlichen Kontext, womit sie gerade auch philhellenischen Römern entgegenkommen. Sie bilden aber auch einen Faktor für die Aufrechterhaltung griechischer Identität und dienen gleichzeitig der Gegenwartskritik. Ein Teil der Griechen versteht die griechische Vergangenheit jedoch insbesondere mit dem integralen Aspekt des Freiheitskampfes als identitätsstiftend und somit als unverträglich mit der römischen Herrschaft. Als Ausgangspunkt zur Beantwortung der Frage, wie die Griechen in der Hohen Kaiserzeit angesichts der römischen Herrschaft mit ihrer Vergangenheit umgegangen sind, wurde Plutarchs Schrift Praecepta gerendae reipublicae gewählt. Plutarch war sich bewusst, dass der griechische Freiheitskampf unter der römischen Herrschaft kein politisches Ziel mehr sein konnte, welches man aus eigener Kraft erreichen würde. Der Freiheitskampf stellte für ihn vielmehr ein rhetorisches Paradigma der Sophistenschulen dar. Dort solle der Ort sein, wo sich die Griechen ihrem Stolz auf die eigene Vergangenheit hingeben könnten. Plutarch machte darauf aufmerksam, dass der Demos angesichts der im öffentlich-politischen Kontext getätigten Vergangenheitsbezüge zu den Perserkriegen als Freiheitskampf vor einem ‚falschen Bewusstsein‘ bewahrt werden sollte. Er beschrieb die daraus resultierende Gefahr von Aufständen gegen die römische Herrschaft. Plutarch empfahl zur Abwendung dieser Situation eine alternative Erinnerungskultur, die kriegerische Vergangenheitsbezüge im politischen Kontext verschwieg und stattdessen friedliche Exempla hervorhob, die den Umgang mit ehemaligen Feinden thematisierten. Außerdem wurde die Aufrechterhaltung der eigenen griechischen Werte gegenüber den als Fremdherrschern wahrgenommenen Römern gefordert, die in einer Kontinuitätslinie mit den Makedonen gesehen wurden. Dies setzte den Anfangspunkt einer bis ins frühe 3. Jh. n. Chr. reichenden innergriechischen Debatte über den Umgang mit der römischen Herrschaft, in deren Kontext sowohl die Funktion von Vergangenheitsbezügen und Identitätskonzepten als auch die Themen Freiheit, Herrschaft und Widerstand verhandelt wurden: Die Griechen diskutierten vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit und der gegenwärtigen Defizienzerfahrung, wie sie sich unter der römischen Herrschaft verhalten sollten. Plutarchs Empfehlungen für eine alternative Erinnerungskultur wurden von den meisten Griechen allerdings nicht berücksichtigt. Das Spektrum der Reaktionen griechischer Eliten auf diese Frage reichte von politischer Integration im Sinne einer Beteiligung an der Herrschaftsausübung über das Ignorieren der römischen Gegenwart bis hin zu explizit oder implizit vorgetragener Kritik an der Legitimität römischer Herrschaft. Aufstände, die explizit durch Vergangenheitsbezüge motiviert waren, wie sie Plutarchs Warnung in den Praecepta gerendae reipublicae erwarten lassen würde, ließen sich für den Untersuchungszeitraum aber nicht nachweisen. Dies ist wohl auf die Überlieferungssituation zurückzuführen, wonach die Römer nicht an der Weitergabe dieser Informationen interessiert waren und die Griechen angesichts möglicher Sanktionen darauf verzichtet haben. Letzteres war auch der
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Grund dafür, dass die griechischen Autoren der Hohen Kaiserzeit im Gegensatz zu den überwiegend pro-römischen Autoren augusteischer Zeit eine implizite Kritik an der römischen Herrschaft formulierten, die subtil mittels kontrapräsentischer Vergangenheitsbezüge Distanz zu den Römern erzeugte und als diskursiver Widerstand zu beschreiben ist. Die Untersuchung der Aufstände in Achaia und Asia hat außerdem ergeben, dass es a) von römischer Seite stets für möglich gehalten wurde, dass Griechen einen Aufstand proben würden, und es b) tatsächlich gewaltsame Aufstände gab. Offensichtlich stand die selbstbildformende Erinnerung an den Freiheitskampf im Widerspruch zur politischen Situation der Griechen im 2. Jh. n. Chr. Das nach wie vor verbreitete historisch fundierte ethnisch-genealogische Identitätskonzept der Griechen veranlasste sie, Vergleiche zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu ziehen. Darüber festigte sich aber eine zeitgenössische Defizienzerfahrung, die im Gegensatz zur römischen Ideologie eines gegenwärtigen ‚Goldenen Zeitalters‘ stand. So kam es zu der Situation, dass Plutarch gegenüber seinen Standesgenossen einen am griechischen Freiheitskampf orientierten Patriotismus pflegte, gegenüber dem Demos aber eine alternative Erinnerungskultur forderte. Die Propagierung dieser alternativen Erinnerungskultur stellte einen erinnerungskulturellen Bruch dar, da der Freiheitskampf seit den Perserkriegen ein integraler Aspekt griechischer Identität geblieben war, der nun mit der offensichtlichen militärischen Stärke der Römer konfrontiert wurde. Dies ging einher mit einer Diskussion über römische Herrschaft und griechische Freiheit im Rahmen einer Stärken-Schwächen-Debatte, innerhalb derer die Griechen ihre historische Niederlage gegen die Römer konzeptualisierten. Seit Polybios kursierten Überlegungen, den Sieg der Römer über die Griechen entweder auf deren Arete oder die Tyche zurückzuführen. Außerdem gab es das Konzept der griechischen Schwäche, wonach der mangelnde politische Zusammenhalt oder der Wahnsinn der achäischen Strategen Diaios und Kritolaos zur Niederlage der Griechen geführt haben. Die Analyse der historischen Exkurse des Periegeten Pausanias, insbesondere seiner Darstellung des Achäischen Krieges, der zur Zerstörung Korinths und zur römischen Herrschaft über Achaia geführt hatte, zeigte im Vergleich mit der Darstellung des Polybios ein in der Forschung bisher noch nicht beachtetes Konzept. Pausanias machte sowohl formal als auch inhaltlich deutlich, dass es bereits der Römerfreund Kallikrates war, der die Griechen unter die römische Herrschaft gebracht hatte. Dazu führte Pausanias einen historischen Katalog mit Verrätern an der eigenen Heimat an, der chronologisch mit Kallikrates endete. Dieser ‚Verräter-Katalog‘ ist der Darstellung des Achäischen Krieges vorgeschaltet, die durch prominent am Ende des Exkurses platzierte Vergangenheitsbezüge einen Konnex zum griechischen Freiheitskampf während der Perserkriege herstellt. Mit Bezug auf die Gegenwart des Autors, lässt sich dies als ein Baustein neben anderen als Kritik an den zeitgenössischen Rom-orientierten Griechen verstehen, die damit als ‚Verräter‘ an Griechenland gelten dürfen. Zunehmend strebten Mitglieder der griechischen Elite auch eine römische Karriere an, was jedoch von den nicht Rom-orientierten Griechen kritisiert wurde. Das seit jeher ausgeprägte Alteritätsdenken der Griechen, das den exklusiven Charakter
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griechischer Identität per Distinktion prägte, neigte auch in der römischen Kaiserzeit zu einer gewissen Hermetik, gerade weil es aus römischer Perspektive einen Zugang zum Griechentum über die statusrelevante Paideia gab. Der Offenheit des bereits seit klassischer Zeit eingeführten kulturellen Griechentums, das einst im Dienste eines Panhellenismus Integration fördern sollte, wurde nun in einer Gegenbewegung das ethnische Griechentum entgegengesetzt. Während die Römer vor der Herausforderung standen, die Provinzialen im Sinne einer gelingenden Herrschaft in ihr Imperium integrieren zu müssen und daher ein Identitätskonzept propagierten, das den römischen Bürgerstatus der Heimat des Provinzialen überordnete, pflegten einige Griechen die Exklusion, um so auch ihre historisch fundierte Identität aufrechterhalten zu können. Von römischer Seite ist es daher zumindest im 2. Jh. n. Chr. verständlich – wenngleich es zu Beginn dieser Politik auch unter Römern heftige Diskussionen gab –, die provinzialen Eliten in den römischen Senat aufzunehmen, was sich prosopographisch an der Provenienz der Senatorenschaft zeigen lässt. Dabei wurde deutlich, dass nicht alle Senatoren aus dem Osten auch als Griechen anzusprechen sind, da sie teilweise von Italikern abstammten. Der beobachteten Heterogenität innerhalb der aus dem Osten stammenden Senatorenschaft und dann noch einmal innerhalb der definitiv als Griechen anzusprechenden Gruppe wurde in dieser Arbeit mit einem differenzierenden Modell begegnet, das die Rom-Orientierung als Unterscheidungsmerkmal eingeführt hat. Demnach war es nicht entscheidend, ob ein Grieche mit römischem Bürgerrecht ausgestattet war oder wie loyal er der römischen Herrschaft gegenüberstand, sondern wie er sich gegenüber der römischen Herrschaft verhielt. Sobald er römische Ämter übernahm und sich dem römischen Statussystem anheimstellte, wurde er von seiner griechischen Umwelt überwiegend nicht mehr als Grieche, sondern als Römer wahrgenommen. Die aus Selbstzeugnissen zu gewinnende Identität eines Individuums musste dabei nicht immer eindeutig und konfliktfrei aufgebaut sein. Wie Plutarch nahelegt, handelt es sich im griechischen Verständnis um eine Identität, von der einzelne Aspekte je nach Adressat wie bei der Übernahme einer Rolle in Analogie zum Theater herausgestellt werden konnten. In dieser Hinsicht von ‚multiplen Identitäten‘ zu sprechen geht – wenn es sich nicht modern gesprochen um den psychopathologischen Befund einer Schizophrenie handelt – am antiken Verständnis vorbei. Die aus den Selbstzeugnissen bestimmte Identität musste demnach nicht identisch sein mit der von Dritten per Denomination zugeschriebenen Identität, die sich immer auch einer Simplifizierung bei der Verwendung von Termini aus dem Fundus kollektiver Identitäten bediente. Der griechische Freiheitskampf als Leitthema der griechischen Literatur der Hohen Kaiserzeit hatte eine viel größere Bedeutung, als bisher von der Forschung zur Kenntnis genommen. Die von Plutarch bis Pausanias und darüber hinaus in bisher nicht beachteter Intensität vorgetragenen Vergangenheitsbezüge zu den Leitthemen Freiheit, Herrschaft und Widerstand zeigen die in der Literatur wieder gewachsene Distanz zu den Römern im Vergleich zur augusteischen Zeit. Mit Blick auf die Lebenswelt der Autoren zeigt sich Ähnliches: Plutarch hatte seine Zeitgenossen bereits zu Beginn der sogenannten Zweiten Sophistik darauf hingewiesen,
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dass es einer alternativen Erinnerungskultur bedarf, um Aufstände zu vermeiden, den verbliebenen Rest griechischer Autonomie in den Poleis aufrecht zu erhalten und frei von römischen Interventionen zu bleiben. Plutarch riet den Griechen davon ab, den cursus honorum zu absolvieren. Die wenigen dokumentierten Grenzfälle politisch integrierter Griechen bildeten die Ausnahmen von der Regel der nicht Rom-orientierten Griechen. Blicken wir wieder in die Literatur, lassen sich dort mehrere innergriechische Debatten beschreiben. Weil das griechische Selbstbild maßgeblich damit verbunden war, die eigene Stärke in der Leistung des Widerstandes gegen Fremdherrschaft zu sehen, musste dies in Konflikt treten mit dem römischen Anspruch, im Bereich des Militärs und der Herrschaft stark zu sein. Was blieb, war auf griechischer Seite eine Schwächen-Debatte, welche die Schuld an der Niederlage gegen die Römer personalisierte indem sie einerseits die retrospektiv unverstandene μανία der Führer des achäischen Bundes unmittelbar vor der Zerstörung Korinths und andererseits als neue Deutung den deutlich früher erfolgten Verrat des Kallikrates anführte. Dies muss verstanden werden als ein Beitrag zur Frage, ob die römische Eroberung Griechenlands aus griechischer Perspektive als positive Leistung der Römer anzusehen ist. Dionysios, Strabon und Josephus ist in diesem Zusammenhang gemeinsam, dass sie aus einer pro-römischen Perspektive die Arete der Römer betonten und damit auf die weitverbreitete griechische Kritik am Aufstieg Roms reagierten. Diese Kritik hatte darin bestanden, den Aufstieg Roms und Sieg über die griechische Welt lediglich auf die Tyche zurückzuführen und damit zu entwerten, was sich erst wieder bei Plutarch und dann darüber hinaus in der griechischen Literatur der römischen Kaiserzeit vermehrt finden lässt. Bezüglich des Geschichtsbildes konnten weitere Ergebnisse erzielt werden. Die von Philostrat präsentierten Sophisten beschränkten sich in ihren Reden nur auf einen relativ kleinen Ausschnitt griechischer Vergangenheit, umrissen durch die Perserkriege bis zur Zeit Alexanders. Die sich von den Sophisten oder Aspekten der Zweiten Sophistik distanzierenden Autoren wie Plutarch, Pausanias und Lukian hatten einen viel weiteren Begriff griechischer Vergangenheit vertreten, der sich auch auf ihre griechische Identität auswirkte. Zwar deckten diese Autoren auch die Epoche des klassischen Griechenlands ab, behandelten aber bewusst auch die hellenistische Epoche und gingen teilweise bis in die rezente Vergangenheit hinab, wofür sie sich jeweils auch rechtfertigten. Ihre Sonderstellung ergibt sich daraus, dass sie also auch die Epoche der römischen Eroberung Griechenlands berührten. Speziell für Pausanias konnte ermittelt werden, dass die überwiegende Mehrheit seiner historischen Exkurse von der Abwehr äußerer Bedrohungen durch die Griechen und der Verteidigung der Freiheit thematisch durchdrungen sind. Bei Plutarch findet sich thematisch neben der Aktualisierung der Perserkriegserinnerung auch der spätere Freiheitskampf, verkörpert durch Philopoimen und Arat, wobei sowohl deren Widerstand gegen Makedonen und Römer als auch ihre militärischen Leistungen betont werden. Dass diese Vergangenheitsbezüge aufs Politische und nicht nur Kulturelle gezielt haben, erweist sich als Beleg dafür, dass sich in der Hohen Kaiserzeit eine zunehmende Distanzierung von den Römern und Kritik an der römischen Herrschaft
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seitens der Griechen verfestigte. Wenn wir außerdem in Betracht ziehen, dass die Autoren auch die Erwartungen ihrer Leserschaft bedienten, haben wir es mit einem großflächig verbreiteten Phänomen zu tun. Dies mag zunächst verwundern, da gerade der hier untersuchte Zeitraum von philhellenischen Kaisern wie Hadrian oder Marc Aurel geprägt war, deren Philhellenismus vor diesem Hintergrund jetzt aber auf die zunehmende Distanzierung der Griechen zu reagieren schien. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Komplexität der Erinnerungslandschaften der römischen Provinz Achaia und angrenzender griechischsprachiger Gebiete aus folgenden Spannungsfeldern ergab: Es finden sich Vergangenheitsvorstellungen der Elite, die teilweise gegen die der breiten Masse standen; panhellenische Bestrebungen, die mit dem Stolz der Bewohner einzelner Poleis auf ihre eigene Vergangenheit konfligierten; prekäre historisch fundierte Identitäten Rom-orientierter und nicht Rom-orientierter Griechen sowie Konflikte zwischen den imperialen Zielen römischer Provinzialpolitik gegenüber der lokalen Polisautonomie. Es bleibt die Frage, welche alternativen Ordnungen für die Griechen überhaupt denkbar waren. Die positive Resonanz auf Neros Freiheitserklärung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach deren Rücknahme durch Vespasian in der Folgezeit weder die politische Restauration klassischer Poleis, Koina oder hellenistischer Monarchien, noch die Installation utopischer (respektive philosophisch fundierter) Staatengebilde propagiert wurde. Einerseits beherrschten zwar (die vergangene) politische Freiheit, der Freiheitskampf und die verbliebene Autonomie der Polis die zeitgenössischen Debatten. Außerdem blieb das normative Bild vergangener Ordnungsvorstellungen wie auch das Bedauern über ihr Verschwinden bestehen, wobei negative Aspekte der Gegenwart immer mehr zum Vorschein kamen. Andererseits wurde die als alternativlos angesehene zeitgenössische römische Ordnung insofern akzeptiert, als ihr apotropäisch positive Aspekte wie Frieden und Wohlstand abgerungen wurden. So kam es dazu, dass zwar der Verlust der Freiheit und die Aufgabe des Freiheitskampfes bedauert wurden, Teile der griechischen Eliten aber ihren persönlichen Vorteil innerhalb der römischen Ordnung suchten bzw. auf die Wahrung oder den Ausbau ihrer Privilegien bestanden. Die Sonderbehandlung der civitates liberae seitens der Römer darf somit als Ergebnis sowohl des römischen Philhellenismus als auch griechischer Politik gesehen werden. Es ist indes erwägenswert, ob der Befund des als unwiederbringlich wahrgenommenen Freiheitsverlustes seitens der Griechen einer weiteren Untersuchung zugeführt werden könnte. Denkbar wäre die Hoffnung einer neuen Freiheitserklärung wie unter Nero – jetzt jedoch unter Hadrian oder Marc Aurel. Die Enttäuschung über die Nichteinlösung dieser Hoffnung würde beispielsweise den gewaltsamen Aufstand Achaias unter Antoninus Pius besser erklären. Auch die fortgesetzte Emphase für die Homonoia unter den Griechen könnte versucht haben, der Kritik Vespasians entgegen zu wirken, nämlich dass die Griechen die Freiheit verlernt hätten.
9 ABKÜRZUNGEN Die Abkürzungen der Autoren und ihrer Werke folgen Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1. Stuttgart [u. a.] 1996, XXXIX–XLVII. Folgende Abkürzungen weichen von den Empfehlungen der Année Philologique ab oder werden dort nicht aufgeführt und daher hier gesondert aufgelöst. A&A AAntHung ANRW
Antike und Abendland Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Hrsg v. Hildegard Temporini u. Wolfgang Haase. Berlin/New York 1972 ff. CIG Corpus Inscriptionum Graecarum. 4 Bde. 1828–1877. CIA Kirchhoff, Adolf (Hg.): Corpus Inscriptionum Atticarum, 1873. Suppl. 1877–1891. CIL Corpus Inscriptionum Latinarum. Hrsg. v. Theodor Mommsen et al. Berlin 1863 ff. CMG Corpus Medicorum Graecorum Const. Exc. Diodori bibliotheca historica. Hrsg. v. Ludwig Dindorf u. Curt T. Fischer. Stuttgart 1991. DK Die Fragmente der Vorsokratiker. 3 Bde. Hrsg. v. Hermann Diels u. Walther Kranz. Berlin 61952. DKlP Der Kleine Pauly. 5 Bde. Hrsg. v. Walther Sontheimer u. Konrat Ziegler. München 1975. DNP Der Neue Pauly. Hrsg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider u. Manfred Landfester. Stuttgart 1996–2003. EA Epigraphica Anatolica. 1983 ff. Exc. sent. Excerpta de sententiis. Hrsg. v. Ursulus P. Boissevain. Berlin 1906. FD Fouilles de Delphes. Inscriptions de la terrasse du temple et de la région Nord du sanctuaire. Les inscriptions du temple du 4. siècle, Bd. 3, Fasc. 4, Nos. 276 a 350. Hrsg. v. André Plassart. Paris 1970. FGrHist Die Fragmente der griechischen Historiker. Hrsg. v. Felix Jacoby. Berlin 1923 ff. LEC Les Études Classique LSJ A Greek-English lexicon: With a revised supplement. Hrsg. v. Henry G. Liddell and Robert Scott. Revised and augmented throughout by Henry Stuart Jones with the assistance of Roderick McKenzie and with the cooperation of many scholars. Oxford 91940 (Nachdr. 1996). IBM Hicks, Edward Lee; Hirschfeld, Gustav et al. (Hg.): The collection of ancient Greek inscriptions in the British Museum. Oxford 1874– 1916.
294 IG IGR
RBPh RE Syll.3 TAM
9 Abkürzungen
Inscriptiones Graecae, 1873 ff. Inscriptiones graecae ad res romanas pertinentes. Hrsg. v. René Cagnat et al. Bd. 3, fasc. 1–6, hrsg. v. Jules F. Toutain, Pierre Jouguet and Georges Lafaye. Paris 1902–1906. Nachdr.: Chicago 1975. Bd. 4, fasc. 1–9, hrsg. v. Georges Lafaye. Paris 1908–1927. Nachdr.: Chicago 1975. Revue Belge de Philologie et d’Histoire Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen. Hrsg. v. Georg Wissowa et al. Stuttgart 1893–1980. Sylloge Inscriptionum Graecarum. 4 Bde. Hrsg. v. Friedrich Hiller von Gaetringen et al. Leipzig 31915–1924 (Nachdr. 1960). Tituli Asiae Minoris. Hrsg. v. Ernst Kalinka et al. Wien 1901–1978.
10 EDITIONEN Die in der vorliegenden Arbeit zitierten Texte sind den nachfolgend aufgeführten Editionen entnommen. Sollten für einen antiken Autor mehrere Editionen angegeben sein, wird in eckigen Klammern jeweils beigegeben, für welche Texte die jeweilige Edition herangezogen wurde. Aelius Aristides Aelii Aristidis Smyrnaei. Hrsg. v. Bruno Keil. Berlin 1898. [orr. 17–53] P. Aelii Aristidis opera quae exstant omnia. Hrsg. v. Friedrich W. Lenz u. Charles A. Behr. Leiden 1976. [orr. 1–16] Anthologia Palatina Anthologia Graeca. 4 Bde. Hrsg. v. Hermann Beckby. München 21965. Appian Appiani Historia Romana. Prooemium. Iberica. Annibaica. Libyca. Illyrica. Syriaci. Mithridatica. Fragmenta. Hrsg. v. Paul Viereck, Antoon G. Roos u. Emilio Gabba. Berlin [u. a.] 21962. Arat Aratos: Phénomènes. 2 Bde. Hrsg. v. Jean Martin. Paris 1998. Aulus Gellius Auli Gelli Noctes Atticae. 2 Bde. Hrsg. v. Peter K. Marshall. Oxford 1968. Cassius Dio Cassii Dionis Cocceiani historiarum Romanarum quae supersunt. 3 Bde. Hrsg. v. Ursulus P. Boissevain. Berlin 1895–1931. Cicero M. Tulli Ciceronis epistulae ad Quintum fratrem. Hrsg. v. Armando Salvatore. Rom 1989. M. Tulli Ciceronis: De re publica. De legibus. Cato Maior de senectute. Laelius de Amicitia. Hrsg. v. Jonathan G. F. Powell. Oxford 2006. M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia. De finibus bonorum et malorum. Hrsg. von Claudio Moreschini. Stuttgart [u. a.] 2005. M. Tulli Ciceronis Tusculanae disputationes. Hrsg. v. Michelangelo Giusta. Paravia 1984. Dexippos Martin, Gunther (Hg.): Dexipp von Athen. Edition, Übersetzung und begleitende Studien. Tübingen 2006. Diodor Diodore de Sicile: Bibliothèque historique. Hrsg. v. François Chamoux et al. Paris 1972 ff. Dionysios von Halikarnassos Dionysi Halicarnasensis Antiquitatum Romanarum quae supersunt. 4 Bde. Hrsg. v. Karl Jacoby. Leipzig 1885–1905. [ant.] Dionysii Halicarnasei quae fertur Ars rhetorica. Hrsg. v. Hermann Usener. Leipzig 1895. [Dem.] Dion Chrysostomos Dionis Prusaensis quem vocant Chrysostomum quae exstant omnia. 2 Bde. Hrsg. v. Hans F. A. von Arnim. Berlin 1962. Florus L. Annaei Flori quae Exstant. Hrsg. v. Enrica Malcovati. Rom 21972. Fronto M. Cornelius Fronto: Epistulae. Hrsg. v. Michel P. J. van den Hout. Leipzig 1988.
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10 Editionen
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10 Editionen
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Plutarchus: Vitae parallelae. Bd. 4. Hrsg. v. Konrat Ziegler u. Hans Gärtner. Stuttgart [u. a.] 1998. Polybios Polybii Historiae. 5 Bde. Hrsg. v. Theodor Büttner-Wobst. Leipzig 1889–1905. Rhetorica ad Herennium Rhetorica ad Herennium. Incerti auctoris libri IV de arte dicendi. Hrsg. v. Friedhelm L. Müller. Aachen 1994. Scriptores Historia Augusta Scriptores Historiae Augustae. 2 Bde. Hrsg. v. Ernst Hohl, Christa Samberger u. Wolfgang Seyfarth. Leipzig 3/51997. Strabon Radt, Stefan (Hg.): Strabons Geographika. 10 Bde. Göttingen 2002–2011. Suda Suidae Lexicon. 5 Bde. Hrsg. v. Ada Adler. Leipzig 1928–1938. Sueton C. Suetoni Tranquilli De vita Caesarum libri VIII et De grammaticis et rhetoribus liber. Hrsg. v. Robert A. Kaster. Oxford 2016. Tacitus Cornelii Taciti libri qui supersunt. Historiarum libri. Hrsg. v. Kenneth Wellesley. Stuttgart [u. a.] 1989. [Hist.] P. Cornelii Taciti libri qui supersunt. Hrsg. v. Heinz Heubner. Stuttgart 1994. [Ann.] Tatian Tatian: Rede an die Griechen. Hrsg. v. Heinz-Günther Nesselrath. Tübingen 2016. Thukydides Thucydidis historiae. 2 Bde. Hrsg. v. Henry S. Jones u. John E. Powell. Oxford 1967–1970. Varia Boissonade, Jean F. (Hg.): Anecdota Graeca e codicibus regiis. Descripsit annotatione illustravit. Bd. 3. Paris 1831. Digesta Iustiniani. 4 Bde. Hrsg. v. Theodor Mommsen, Paul Krüger u. Alan Watson. Philadelphia 1985. Förster, Richard (Hg.): Scriptores physiognomonici Graeci et Latini. Physiognomonica Pseudaristotelis. Graece et Latine. Adamantii cum epitomis Graece. Polemonis e recensione Georgii Hoffmanni Arabice et Latine continens. Leipzig 1994. Spengel, Leonhard (Hg.): Rhetores Graeci. Bd. 2. Leipzig 1854. Tod, Marcus N. (Hg.): A selection of Greek historical inscriptions to the end of the fifth century BC. Oxford 21946. Vergil Appendix Vergiliana. Hrsg. v. Wendell V. Clausen. Oxford 1966. [Aetna] P. Vergili Maronis opera. Hrsg. v. Roger A. B. Mynors. Oxford 1969. [Aen.]
11 ÜBERSETZUNGEN UND KOMMENTARE Die Übersetzungen der vorliegenden Arbeit orientieren sich an den unten aufgeführten Übersetzungsausgaben. Außerdem sind die benutzten Kommentare und gegebenenfalls alternative Editionen aufgeführt, deren Anmerkungsapparate herangezogen wurden. Aelius Aristides Aelius Aristides: Die Romrede. Hrsg. v. Richard Klein. Darmstadt 1983. Aelius Aristides: Eleusinios. Klage über Eleusis (Oratio 22). Hrsg. v. Achilles Humbel. Wien 1994. Aelius Aristides: The complete works. 2 Bde. Hrsg. Charles A. Behr. Leiden 1981–1986. Oliver, James H.: The civilizing power. A study of the Panathenaic discourse of Aelius Aristides against the background of literature and cultural conflict. With text, translation, and commentary. In: TAPS N. S. 58 (1968), 1–233. Oliver, James H.: The ruling Power. A study of the Roman Empire in the Second Century after Christ through the Roman Oration of Aelius Aristides. In: TAPS N. S. 43 (1953), 869–1003. Publius Aelius Aristides: Heilige Berichte. Hrsg. v. Heinrich O. Schröder u. Hildegard Hommel. Heidelberg 1986. Schwarz, Anton: Die Smyrna-Reden des Aelius Aristides. Programm zum 13. Jahres-Bericht des niederösterreichischen Landes-Real- und Obergymnasiums Horn. Horn 1885. Anthologia Palatina Anthologia Graeca. 4 Bde. Hrsg. Hermann Beckby. München 21965. Appian Appian: Roman History. 4 Bde. Hrsg. v. Horace White. Cambridge 1982. Appian von Alexandria: Römische Geschichte. Erster Teil. Die römische Reichsbildung. Hrsg. v. Otto Veh u. Kai Brodersen. Stuttgart 1987. Arrian Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen. Hrsg. v. Heinrich Schmidt u. Karin Metzler. Stuttgart 111984. Aulus Gellius Aulus Gellius: Die attischen Nächte. 2 Bde. Hrsg. v. Fritz Weiss. Darmstadt 1992. Cassius Dio Cassius Dio: Römische Geschichte. 5 Bde. Hrsg. v. Otto Veh, Zürich [u. a.] 1985–1987. Dexippos Martin, Gunther (Hg.): Dexipp von Athen. Edition, Übersetzung und begleitende Studien. Tübingen 2006. Diodor Diodoros: Griechische Weltgeschichte. Fragmente (Buch XXI–XL). Hrsg. v. Gerhard Wirth. Stuttgart 2013. Dionysios von Halikarnassos Dionysius von Halikarnass: Römische Frühgeschichte. Bd. 1. Hrsg. v. Nicolas Wiater. Stuttgart 2014. Dion Chrysostomos Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden. Hrsg. v. Winfried Elliger. Zürich u. a. 1967. Dion von Prusa: Der Philosoph und sein Bild. Hrsg. v. Heinz-Günther Nesselrath. Tübingen 2009.
11 Übersetzungen und Kommentare
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Dion von Prusa: Menschliche Gemeinschaft und göttliche Ordnung. Die Borysthenes-Rede. Hrsg. v. Heinz-Günther Nesselrath. Darmstadt 2003. Dion von Prusa: Olympische Rede oder Über die erste Erkenntnis Gottes. Hrsg. v. Hans-Josef Klauck u. Balbina Bäbler. Darmstadt 22000. Epiktet Brandt, Ulrike: Kommentar zu Epiktets Encheiridion. Heidelberg 2015. Willms, Lothar: Epiktets Diatribe ‚Über die Freiheit‘ (4.1). Bd. 1: Einleitung und Kommentar (§§ 1–102). Heidelberg 2011. Josephus De bello Iudaico. 3 Bde. Hrsg. v. Otto Michel u. Otto Bauernfeind. Darmstadt 1959–1969. Flavius Josephus: Contra Apionem. Buch 1. Hrsg. v. Dagmar Labow. Stuttgart 2005. Mason, Steve (Hg.): Flavius Josephus. Translation and Commentary, Bd. 1b. Leiden [u. a.] 2008. Fronto Haines, Charles R. (Hg.): The correspondence of Marcus Cornelius Fronto with Marcus Aurelius Antoninus, Lucius Verus, Antonius Pius, and various friends. 2 Bde. Cambridge 1982– 1988. Herodot Herodot: Das Geschichtswerk. 2 Bde. Hrsg. v. Theodor Braun u. Hannelore Barth. Berlin [u. a.] 1967. Herodot: Historien. 2 Bde. Hrsg. v. Josef Feix. Düsseldorf 72006. Hérodote: Histoires. 9 Bde. Hrsg. v. Philippe-Ernest Legrand, Paris 1930–1970. Iuvenal Iuvenal: Satiren. Hrsg. v. Joachim Adamietz. München [u. a.] 1993. Isokrates Isokrates: Sämtliche Werke. 2 Bde. Hrsg. v. Christine Ley-Hutton u. Kai Brodersen. Stuttgart 1993–1997. Lukian Lukian: Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen. Hrsg. v. Peter Pilhofer. Darmstadt 2005. Lukian: Philopseudes. Die Lügenfreunde oder der Ungläubige. Hrsg. v. Martin Ebner. Darmstadt 22002. Lukian: Rhetorum praeceptor. Hrsg. v. Serena Zweimüller. Göttingen 2008. Lukian: Werke in drei Bänden. Aus dem Griechischen übersetzt von Christoph M. Wieland. Hrsg. v. Jürgen Werner, Rigobert Günther, Walter Hofmann, Liselot Huchthausen, Werner Krenkel, Friedmar Kühnert. Berlin 1974. Lukian: Wie man Geschichte schreiben soll. Hrsg. v. Helene Homeyer. München 1965. Pausanias Hitzig, Hermann; Blümner, Hugo: Pausaniae Graeciae descriptio. Leipzig 1896–1910. Moggi, Mauro; Osanna, Massimo (Hg.): Pausania. Guida della Grecia libro VIII, l’Arcadia. Milan 2003. Pausanias: Description of Greece. 4 Bde. Hrsg. v. William H. S. Jones. Cambridge [u. a.] 1992– 2006. Pausanias: Reisen in Griechenland. 3 Bde. Hrsg. v. Felix Eckstein u. Peter C. Bol, auf Grundl. d. komm. Übers. v. Ernst Meyer. Zürich 31986–1989. Philostrat Filostrato. Vite dei Sofisti. Hrsg. v. Maurizio Civiletti. Milano 2002. Philostratus: Das Leben des Apollonius von Tyana. Hrsg. v. Vroni Mumprecht. München [u. a.] 1983. Philostratos: Leben der Sophisten. Hrsg. v. Kai Brodersen. Wiesbaden 2014. Plinius Secundus Plinius Secundus: Epistulae. Hrsg. v. Werner Krenkel. Berlin 1984.
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13 REGISTER 13.1 NAMEN A Acratus 89, 279 Aelius Aristides s. Aristides Alexander – der Große 10, 17, 21n62, 23–24, 26, 73, 78n6, 96, 99, 100n113, 101, 117–118, 129, 132, 135–136, 140, 142, 145, 147–148, 153–155, 166, 180, 190, 196, 205, 210, 224, 228–231, 245n138, 255n205, 262, 272, 291 – von Abonuteichos 28 – von Kotyaion 28, 42n11, 116n89 – von Pherai 158 – von Seleukeia 278n69 Antoninus Pius, T. Aurelius Fulvus Boionius Arrius Antoninus 29, 50, 61, 64, 66, 113n74, 171–172, 210, 267, 274, 285, 292 Aristides, P. Aelius Aristides Theodorus 10, 16, 23–24, 28–30, 33, 35, 38, 41n10, 42, 46, 48, 56, 63–65, 70, 75, 80n14, 82, 95, 100–103, 107, 117, 122, 125–128, 131–135, 138, 146, 148–151, 153n302, 157n323, 164, 175–179, 198, 215–217, 222, 223n20, 224, 246, 252, 256–257, 265–268, 271–272, 275, 281 Arrian, L. Flavius Arrianus 49, 157 Athena – allgemein 200n137 – Aiantis 112 – Alea 74, 200n135 – Polias 200n136 Atticus s. Herodes Atticus Atys 66n174, 80n15, 239 Augustus, C. Octavius 11, 19, 21, 24, 51, 61, 63, 73–74, 78, 80n14, 85, 88–89, 109, 121n114, 122n123, 126, 150–152, 168, 172n405, 173, 184, 192, 198–199, 238n103, 239, 248, 250, 273–274, 279–280, 283
C Caesar, C. Iulius Caesar 16n27, 26, 61, 66, 89, 99n107, 100, 150, 165, 168–169, 176n427, 180, 198, 248, 249, 279 Cassius Dio 20, 21n62, 26, 46, 54, 67, 90, 172, 180, 184, 268–269, 273, 275, 279–280 Charax, A. Claudius Charax 21n62, 63 Cicero, Marcus Tullius Cicero 26, 38–39, 47, 97n97, 123, 164–165, 168–169, 189, 223n20, 233, 241–243, 252–253 Claudius, Tib. Claudius Caesar Augustus Germanicus 21n63, 61–62, 66, 90, 93n78, 279–280, 283n106 Cleander, P. Memmius Cleander 66n176 Commodus, L. Aurelius Commodus 52, 61, 73, 124–125
B Barea Soranus, Q. Marcius Barea Soranus 89–90, 279
H Hadrian, Imperator Caesar Traianus Hadrianus Augustus 25n91, 28, 41n10, 44, 48n50, 50–51, 53, 58n115, 59–60, 63, 66n177,
D Damosthenia 63, 114 Dareios 101n120, 135, 172, 249 Demosthenes – C. Iulius Demosthenes 65 – Demosthenou 10, 17, 26, 29, 59, 99n112, 101, 145, 154, 155n312, 157n324, 252 Dion Chrysostomos 18n48, 23–24, 35, 50, 54n93, 56, 70, 75, 82n22, 107, 118, 130–131, 179, 216, 230, 235, 256, 266, 271, 278, 281, 283 Domitian, Titus Flavius Domitianus 25–26, 88–90, 250–251, 266n10, 276n63, 278–279, 285n121 E Eurykles – C. Iulius Eurykles 63 – C. Iulius Eurykles Herclanus L. Vibullius Pius 63 – von Sparta 66n176, 280
334
13 Register
70–71, 98n104, 100n115, 114n81, 125, 141n230, 147, 171–172, 174n420, 194, 199, 200n135, 239, 250, 272–273, 275, 281, 285, 292 Heliodorus, C. Avidius Heliodorus 64 Herodes Atticus, Lucius Vibullius Hipparchus Tiberius Claudius Atticus Herodes 28, 45, 50, 52, 54, 65n167, 68, 70, 118n98, 157n324, 178n436, 194, 276, 281n95 I Iason von Kyaneai 65, 68 K Kroisos 81 L Laco, C. Iulius Laco 66n176 Longinus, L. Cassius Longinus 89n59 Lukian 10, 23–24, 27–28, 31, 35, 49–50, 54, 67, 72, 75, 91n69, 94n85, 106, 115–118, 124, 143–144, 154–155, 157n324, 163, 189, 271–272, 274, 291 Lydus 66n174, 80n15, 239 M Marc Aurel, Marcus Aurelius Antoninus Augustus 28, 51, 63–64, 164, 245n138, 292 N Nero, Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus 12, 20, 23, 36, 60–61, 79n11, 83, 88–90, 99n109, 119–120, 124n140, 125, 139–140, 142, 147, 164, 173, 181, 183–186, 191, 199, 238n103, 247, 276–279, 282–283, 292 Novius, Tib. Claudius Novius 62, 73n210, 95, 114, 246–247 O Opramoas von Rhodiapolis 65–66, 68 P Pardalas 29, 80, 82–83 Parther 28, 54, 73, 95, 103, 129, 143, 238n103, 245n138, 281–282, 283n107 Pausanias 10, 23–25, 30–31, 33, 35–36, 38n1, 41n10, 47, 54, 68–75, 99–114, 118n103, 120–121, 138–148, 153, 156, 158–173, 179, 181–186, 190–224, 232–233, 244–245, 250, 252–265, 271–272, 283, 289–291
Peregrinos Proteus 28, 33, 50, 274 Perser 9–10, 12, 43n24, 73, 92, 94–96, 99, 101–107, 113–117, 121, 128–129, 131–137, 140–141, 145, 148, 154, 170–174, 180, 182, 190, 200–218, 224, 228–229, 231, 238n103, 246, 247, 249–250, 256, 257n216, 264–266, 271n32, 288–291 Philipp II. 10, 99n112, 100n116, 145, 196, 206, 208, 261n244, 264 Philopoimen 26, 36, 140, 145–147, 159n336, 168, 173n413, 197, 202, 209–213, 223, 233, 237, 252, 254, 258–259, 268, 291 Plutarch, L. Mestrius Plutarchus 10, 11, 14n22, 16–17, 21, 23–26, 32–36, 45, 62, 65, 68, 70, 72–73, 75, 77–101, 104–108, 113–121, 128, 130–131, 138, 147, 154–158, 162, 173, 174–179, 181–184, 189–190, 198, 206, 210–216, 221, 223–238, 241, 244–257, 262, 266, 268–269, 271–272, 275–277, 279–281, 286, 288–291 Polemaeanus, Ti. Iulius Celsus Polemaeanus 63 Pulcher, Cn. Cornelius Pulcher 62, 66n176, 77 Q Quadratus – Asinius Quadratus 21n62 – C. Antius A. Julius Quadratus 63 Quintilius – Sex. Quintilius Condianus 51n69, 178n436 – Sex. Quintilius Maximus 51n69, 178n436 – Quintilii 51–52, 62, 68 R Regulus, P. Memmius Regulus 66n176 Rufinus, L. Cuspius Pactumeius Rufinus 29, 63–65, 216n208 S Salutaris, C. Vibius Salutaris 45n33, 65 Secundus Caprinas/Carrinas 89n64 Severus C. Julius Severus 64 Cn. Claudius Severus 63 L. Septimius Severus Pertinax 46n41, 61 Spartiaticus, C. Iulius Spartiaticus 66n176
13.2 Sachen T Tacitus, P. Cornelius Tacitus 89n64, 121, 128, 143, 213n190, 239–240, 248–279, 282–283 Trajan, M. Ulpius Traianus 27, 47, 50, 73n208, 86, 250, 266n10, 276n63, 281 Tyrrhenos 80 Tyrrhenus 66n174, 80n15, 239 V Vedii Antonii 62–63, 68 Vespasian, T. Flavius Vespasianus 12, 25, 34, 61, 139–140, 142, 183, 185–189, 191, 273n41, 275, 278–279, 283–284, 292 X Xenophon – C. Stertinius Xenophon 62 – Gryllou 49, 59, 221 – s. Arrian
335
Xerxes 74, 94n85, 116, 146, 159, 171, 189, 200n136, 207, 209, 249, 260–261 Z Zeus – allgemein 56, 107n21, 117, 172, 200n136, 201n138, 278 – Ammon 174n416 – Asklepios Soter 63n152 – Eleutherios 103, 108, 113–114, 200, 275, 278 – Herrschaft 125, 126n149 – Olympios 28, 58, 63, 194, 285 – Polieus 196 – Soter 200 – Tropaios 113
13.2 SACHEN A Amnestie 92, 96–97, 100 Arete 101n125, 219, 223–227, 231–232, 289, 291 Asklepieion 29, 63 Attizismus 11, 31, 42, 117, 144, 157, 238 D Defizienzerfahrung 36, 49n54, 57, 68, 75, 77–78, 104, 120, 151–158, 163–164, 167, 170, 173–174, 176, 178n440, 179, 189–190, 219–220, 244, 272, 288–289 E Erinnerungskultur 9, 13, 15–16, 24, 32, 35n142, 36, 38, 68–70, 91, 94–97, 101, 104–105, 110, 121, 201, 239, 245, 275n58, 276, 287–291 H Herrschaftsrömer 38, 233, 237, 250 Homonoia 30, 80, 88, 113, 154, 179, 275–278, 292 hybridity 44, 45n33 I Identität – Aspekte von 13, 16, 46–47, 49, 55, 67, 180, 201
– athletische 41n9 – ethnische 40n4, 41, 43n24, 56–58, 60, 67, 158 – ethnisch-genealogische 54, 289 – geistig-mentale 46 – gemeinsame 98 – griechische 13, 15, 17–19, 20n56, 22, 38, 40–45, 48, 54–58, 60–61, 65n169, 66, 68, 84, 93, 105, 180, 218n3, 235n87, 238n100, 244, 287–290 – historisch fundierte 21, 60, 151, 158, 219, 238, 245, 290–292 – hybride 50–51 – indigene 40 – kollektive 43, 290 – kulturelle 19, 22, 43–45, 55, 67, 158, 233, 238n102 – lokale 41n9 – multiple 38, 290 – multiple identities 17n38, 44, 45n33, 287 – panhellenische 170n396 – personale 45 – politische 19, 22, 38n2, 44, 67, 233, 245 – Provinzialen, der 39, 46 – religiöse 245 – römische 19, 43, 45, 48, 54, 61, 68, 136n213, 233, 238n100, 244, 287 – soziale 65n169
336
13 Register
– sozio-politische 244 – städtische 41n9 – stiften 192, 201, 288 – syrische 49, 54n92 Identitätsbegriff 40 Identitätskonflikte 15, 38, 46, 59, 288 Identitätskonzepte 13, 15, 20, 38, 41, 45, 54, 68, 290 K Kulturgriechen 38, 44, 233, 237, 250, 253–254 M Mimesis 43, 49, 118, 144, 157 P Panathenaïkos 29, 101–103, 107, 131, 149–150 Panhellenion 41n10, 58, 59, 62, 272n36 Periodisierung 36, 104, 122, 123, 124, 137, 138, 139, 140, 142, 145, 241 Praecepta gerendae reipublicae 16–17, 25–26, 32, 34, 36, 62, 73, 77, 80, 83, 88n52, 91–92, 95–96, 102, 104–105, 114, 158, 178–179, 181, 189, 212, 236, 244, 254, 266, 271, 276, 288 S Schwäche 37, 78–79, 83, 98n104, 129, 135n208, 139, 158–160, 190, 204, 214, 219–220, 225, 231–232, 251, 254–257, 260, 263, 277, 285, 289, 291 Stärke 98n104, 135, 150–151, 160, 188–190, 214–215, 219–223, 225, 228, 230–231, 251–252, 254–256, 270–271, 285, 289, 291 Stasis 125, 275, 278n71, 280–281 T Tryphe 131 Tyche 24n74, 128, 130–131, 160, 174n419, 190, 218–219, 223–229, 231–233, 251–252, 255, 260–261, 289, 291
V Vergangenheitsbezug – allgemein 9n3, 11, 15–18, 20n56, 22, 24, 28, 30–31, 34–36, 38, 42–43, 45, 49, 50, 52n84, 53, 57, 61, 68, 70–71, 76–77, 93–94, 96, 98, 104, 117–118, 120, 144, 150, 156, 157n324, 166, 183, 189–190, 194, 211, 213, 236, 238, 248, 264, 266, 287–291 – Bezugspunkte 13, 156 – eskapistischer 156 – formaler 11, 31, 116, 157, 188 – Form 74–75, 156 – fundierender 12, 69, 74, 122, 166 – Funktion 16, 22, 68–70, 72, 74–75, 104, 157, 164, 269 – griechischer 36 – inhaltlicher 116, 188 – integrativer 74–75 – komparativer 176 – kontrapräsentischer 13, 69, 72–75, 92, 156, 163, 170, 174, 184n24 – kritischer 74–75, 219 – legitimierender 74–75 – Medium 32, 34n141, 219, 251 – Modus 24, 27, 32, 131 – motivierender 74–75 – performativer 31 – politischer 75 – Reflexion 15, 23, 30 – rhetorischer 74–75 – scheinbarer 71 – stabilisierender 74–75 W Weltreichsabfolge 123, 127–128, 130–131 Weltreichsliste 104, 126–128, 132, 137, 138, 227 Z Zugehörigkeit 33, 40, 48n50, 49, 50, 60, 62, 68 Zweite Sophistik 17, 23, 44, 157
13.3 Stellen
337
13.3 STELLEN In dieses Stellenregister wurden diejenigen Passagen antiker Texte aufgenommen, die im Text der vorliegenden Arbeit oder in den Anmerkungen im Wortlaut zitiert werden. A AE [L’Année épigraphique] – 1952, 165 172n405 Anth. Gr. [Anthologia Graeca] – 7,297 166 – 7,493 167 – 9,151 166 – 9,284 167 App. [Appian] – praef. 8 (30) 135n204, 265n6 Aristeid. [Ailios Aristeides] – hier. log. 4,72 64n157 – hier. log. 4,74 64n163 – hier. log. 4,84 216n208 – hier. log. 4,88 64n157 – hier. log. 4,95 64n157 – hier. log. 4,101 64n157 – hier. log. 4,103 64n157 – or. 1,322 149n281 – or. 1,335 131n183 – or. 22,1 148n276 – or. 22,11 148n274 – or. 22,7 148n272 – or. 22,8 148n273, 148n275 – or. 26,14 133 – or. 26,40 133n192 – or. 26,51 134, 266 – or. 26,63 46n42 – or. 26,64 48n51 – or. 26,75 46 f. – or. 26,90 222 – or. 26,94 177 – or. 26,96 177 – or. 26,97 179 – or. 26,103 126n149 – or. 26,106 125 Arr. [Arrian] – Diss. Epict. 3,13,9 175 Auct. ad Her. [Auctor ad Herennium] – 4,34 241n115 – 4,43 241n116 C Cass. Dio [Cassius Dio] – 55,28,2 f. 273 – 60,17,3 f. 280n85
– 63,9,3 184n24 – 63,22,1 269n20 – 69,16,1 f. 59n116 Cic. [Cicero] – de fin. 5,5,11 f. 164n368 – de leg. 2,5 38 f. – Tusc. 1,1 241n119 – Tusc. 4,4 242n122 – Orat. 9,30 242n125 – Q. fr. 1,1,27 165n372 CIL [Corpus Inscriptionum Latinarum] – I2 626 165n375 – III 557a–e 47n48 D Dig. [Digesten] – 50,4,18,7 91n72 Diod. [Diodor] – 19,54,2 99n110 – 32,26,1 98n105 – 32,27,1 169 Dion Chrys. [Dion Chrysostomos] – or. 7,38 161n345 – or. 11,147 107n21 – or. 11,150 155n313 – or. 12,10 57n104 – or. 12,20 266n10 – or. 12,42 56n102 – or. 12,49 56n103 – or. 13,34 131 – or. 21,1 118 f. – or. 21,10 f. 119 f. – or. 25,8 230, 235n88 – or. 31,149 89n64 – or. 31,158 161 f. – or. 31,159 162n350 – or. 31,160 162n351 – or. 31,161 f. 162n353 – or. 31,162 f. 162n349 – or. 32,48 154n309 – or. 33,1 f. 162 f. – or. 33,17 163 – or. 33,25 163n355 – or. 37,25–27 55 – or. 37,27 58n110 – or. 38,36 276n60
338
13 Register
– or. 38,38 154n304, 246 – or. 43,3 94n84 – or. 46,14 276n61 – or. 46,14 83n32 Dion. Hal. [Dionysios von Halikarnassos] – ant. 1,3,5 218n1 – ant. 1,4,3 218 F Favor. [Favorin] – or. 37,25–27 55 – or. 37,27 58n110 FGrHist [Fragmente Griechischer Historiker] – 88 T8 24n74 – 100 F12 223n21 Flor. [Florus] – Epit. 1,24,7 249n163 – Epit. 1,24,13 249 – Epit. 1,40,11 249n166 G Gell. [Aulus Gellius] – noct. att. 1,2,1 52n85 – noct. att. 1,2,6 52n85 – noct. att. 17,17,1 45n37 H Hdt. [Herodot] – 6,21,2 97n101 Hor. [Horaz] – ars 268–274 234n81 – epist. 2,1,93 f. 234n79 – epist. 2,1,156 f. 234n78, 243n127 – epist. 2,1,159–163 243 I IG [Inscriptiones Graecae] – II2 3451a–e 47n48 – IV 1604 60 – VII 2713 183 Ios. [Josephus] – BJ 1,13–16 187n36 – BJ 1,531 280n87 – BJ 2,356 189 – BJ 2,359 190n58 – BJ 3,237 226n39 – C. Apion. 1,51 188n41 L Lukian. [Lukian] – Alex. 2 49n55 – Dem. 64 284n114 – hist. conscr. 15,10–15 144n249
– hist. conscr. 21 117n96 – hist. conscr. 21,1–5 144n247 – hist. conscr. 26,1–6 144n249 – Peregr. 19 274n48 – Philops. 4 106 – Rh. Pr. 10 78n6, 154 – Rh. Pr. 16 155n312 – Rh. Pr. 17 155n312 – Rh. Pr. 18 94n85, 116 – Rh. Pr. 20 117 Lykurg. [Lykurg] – Leocr. 81 104 M Malalas [Johannes Malalas] – Chronogr. 244,22–25 280n89 P Pan. [Panegyrici Latini] – 9,18,5 125n144 Paus. [Pausanias] – 1,3,1 f. 114n81 – 1,4,1 255n205 – 1,17,1 170n397 – 1,24,3 194n85 – 1,25,8 47 – 1,26,4 193 – 1,29,11 233 – 1,39,3 193 – 2,21,1 196n105 – 3,11,1 193n75 – 4,25,5 224 – 5,21,1 194 – 6,1,2 195 – 6,5,3 159n329 – 7,10,5 263 – 7,14,6 255, 263n253 – 7,17,1–4 139 f. – 7,17,1 255n206, 257n219 – 7,17,4 185, 283 – 7,18,1 159n330 – 7,25,12 159n331 – 8,2,4 172n410 – 8,2,5 173 – 8,8,1 160 – 8,20,2 111n55 – 8,22,2 170n398 – 8,33,1 159 f. – 8,33,3 232n71 – 8,43,5 171n403, 172n407 – 8,46,2 74 – 8,50,3 211n186 – 8,52,1 210
13.3 Stellen – 8,52,1–5 145 f. – 8,52,3 96n93 – 8,53,5 110n37 – 8,54,7 193n76 – 9,2,5 f. 114 – 9,16,7 110n37 – 10,19,8 255n204 – 10,23,14 197n109 – 10,31,11 170n394 – 10,33,1 158n328 – 10,33,8 159n332 – 10,35,2 171 Philostr. [Philostrat] – Ap. 1,15 284 f. – Ap. 5,36 270 – Ap. 5,41 183 – soph. 489 58n109 – soph. 512 79n11, 276n64 – soph. 531 42n11, 281n91 – soph. 532 279 Plin. [Plinius der Jüngere] – ep. 8,24,3 165n373 Plut. [Plutarch] – [Vitae] – Alex. 1,2 252n188 – Anton. 87 183n16 – Arat. 9,7,1–11 213 f. – Arat. 16,2 f. 48n52 – Arat. 16,3 f. 213n191 – Arat. 16,5 213n192 – Arat. 24,2 212n189, 213n191 – Brut. 44 213n190 – Cato maj. 23 235n95 – Cic. 4,7 241n118 – Cic. 5,2 241n117 – Cic. 42,3 97n97 – Flam. 10,2 88 – Flam. 11 235n92 – Flam. 11,3–7 182 – Numa 22,4 234n86 – Philop. 1,7 211 f. – Sulla 13,4 99 – comp. Arist. et Cato. maj. 5,1 95 – comp. Philop. et Flam. 2,1 214, 223n24, 254 – comp. Philop. et Flam. 3,3 237, 254, 268 – [Moralia] – an seni 784f–785a 78 – de exilio 601b 25n83 – de exilio 602c 85 – de exilio 603f 85n39 – de exilio 604b 84n37
339
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
de exilio 604c 84n38 de exilio 605b–d 221 de fort. Alex. 329c 228n52 de fort. Rom. 317f–318a 130n172 de fort. Rom. 321e 229 de fort. Rom. 326b–c 230 de fort. Rom. 326c 231 f. de prof. virt. 85a 78n8 de Pyth. or. 408b–c 175n423 de Pyth. orac. 409a 176 de Pyth. orac. 409b–c 176 de sera 567e–568a 183n19 de tranq. animi 470c 86n47 mor. 469e 175 praec. ger. reip. 800a 94n84 praec. ger. reip. 803a 93n82 praec. ger. reip. 805a–b 79 praec. ger. reip. 808c 277n68 praec. ger. reip. 813d 215n200 praec. ger. reip. 813d–814a 81 f. praec. ger. reip. 813e 84n35 praec. ger. reip. 814a–c 92 praec. ger. reip. 814c 84n33 praec. ger. reip. 814d 216 praec. ger. reip. 814d 63n156, 86n47 praec. ger. reip. 814e 48n52 praec. ger. reip. 814e–815b 87 praec. ger. reip. 815d–e 88 f. praec. ger. reip. 824a 84 praec. ger. reip. 824b 80n13 praec. ger. reip. 824c 82, 271 praec. ger. reip. 824d 80n13, 83, 277n67 praec. ger. reip. 824e 84n36 praec. ger. reip. 824e–f 215n202, 277n66 – praec. ger. reip. 825c 80 – praec. ger. reip. 825d 80n17 – qu. R. 40 p. 274d 253n195 – qu. R. 53 p. 277c 80n15 Polyb. [Polybios] – 24,10,8 263n252 – 24,9, 67n180 – 24,9,1–4 67 – 38,10 259 – 38,3,7 261n239 S SEG [Supplementum Epigraphicum Graecum] – 11,77 60 Sen. [Seneca] – Ep. 11,8 78n8 – Ep. 91,13 24n74
340 SHA [Scriptores Historiae Augustae] – Ant. P. 2,3–7 171n404 – Ant. P. 5,4 f. 274n47 Strab. [Strabon] – 8,8,1 160n340 – 17,3,24 226 Suet. [Sueton] – Nero 3890n65 – Vesp. 8,2 185n27 – Vesp. 8,4 185
13 Register T Tac. [Tacitus] – Ann. 2,53 248 – Ann. 2,54 248 – Ann. 4,34,1 213n190 – Ann. 4,55 f. 239 – Ann. 4,56 240n108 – Ann. 5(6),10 283n103 – Ann. 15,45 89n64 V Verg. [Vergil] – Aen. 6,847–853 243
Plutarch diskutiert in seiner Schrift Praecepta gerendae reipublicae die Frage, wie man als Grieche unter römischer Herrschaft noch Politik betreiben kann. Dabei entwirft er eine alternative Erinnerungskultur: Im öffentlich-politischen Kontext getätigte Aussagen mit Bezug zum griechischen Freiheitskampf sollten keinesfalls die griechische Bevölkerung zum Widerstand gegen die römische Herrschaft anregen. Ausgehend von dieser Beobachtung geht Frank Ursin den in der Forschung bisher wenig beachteten Leitthemen Freiheit, Herrschaft und Widerstand in der griechischen Literatur der
Hohen Kaiserzeit nach. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen Reflexionen über das Erinnern, die nicht nur Auskunft über die griechische Vergangenheit, sondern auch über die Haltung der Autoren zur römischen Gegenwart geben. Demnach erlischt das Selbstbild der Griechen als Freiheitskämpfer nicht mit der Einrichtung der Provinz Achaea. Nach der Rücknahme der neronischen Freiheitserklärung an die Griechen durch Vespasian intensivierte sich noch einmal die innergriechische Debatte darüber, wie man sich gegenüber den Römern zu verhalten habe: Kollaboration oder Opposition?
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ISBN 978-3-515-12163-7
9
7835 1 5 1 2 163 7