Frei glauben: Reformatorische Anstöße zu einer protestantischen Lebenskultur [1 ed.] 9783788732738, 9783788731571


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Frei glauben: Reformatorische Anstöße zu einer protestantischen Lebenskultur [1 ed.]
 9783788732738, 9783788731571

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Christina Aus der Au / Thomas Schlag

Frei glauben Reformatorische Anstöße zu einer protestantischen Lebenskultur

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3273-8 ¤ 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Umschlagabbildung: (c) Sabrina Müller Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Inhalt

1. Einleitung........................................................................................ 7 1.1 Willkommen zum Reformationsjubiläum! .............................. 10 1.2 Was meint »protestantisches Profil«? ....................................... 15 2. Reformatorische Orientierungen ................................................... 19 2.1 Das reformatorische Grundprinzip: Suche nach den Quellen ......................................................... 19 2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria....................................................................... 25 2.2.1 Die brennende Sehnsucht nach Rechtfertigung ........... 26 2.2.2 Solus Christus – das Kreuz mit dem Kreuz .................. 32 2.2.3 Sola gratia – bedingungslos .......................................... 36 2.2.4 Sola fide – nur zu glauben ........................................... 41 2.2.5 Sola scriptura – nimm und lies! ................................... 45 2.3 Die reformatorische Freiheitsidee: Schillernde Bedeutungen ........................................................ 51 2.4 Priestertum aller Getauften: Was nicht delegiert werden kann ............................................ 57 2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche .................................... 58 2.5.1 Die reformatorische Liebe zur Kirche .......................... 58 2.5.2 Die reformatorische Chance ........................................ 61 2.6 Die protestantische Entwicklungsgeschichte: Kein Ende in Sicht.................................................................. 69 2.7 Reformatorische Wahrheitsansprüche: Prophetenmut und Weltkritik ................................................ 76

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Inhalt

3. Protestantische Kirche fordert heraus .............................................83 3.1 Volkskirche am Scheideweg? – Zwiespältige Beobachtungen .....83 3.1.1 Alarmsignale ................................................................83 3.1.2 Hoffnungszeichen ........................................................92 3.2 Kirche – nur vielfältig zu verstehen ..........................................97 3.3 Kirche ohne Theologie – undenkbar .....................................104 3.4 Was daraus für die kirchliche Praxis folgt – neue Gelegenheiten schaffen..................................................107 3.5 Protestantische Lebenskultur – öffentlich aufmerksam sein......118 4. Freiheit des Glaubens – ganz schön anstößig ................................125

1. Einleitung

Evangelischer Glaube zeigt sich auf vielfältige Art. Menschen engagieren sich aus christlicher Überzeugung heraus mit viel Herzblut und übernehmen persönlich Verantwortung. An den unterschiedlichsten kirchlichen Orten, in Gremien, Gruppen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken bringen sie ihre Ideen ein und investieren Lebenszeit. In aller Freiheit wird hauptamtlich oder durch freiwilliges Engagement auf eindrückliche Weise gehandelt. Durch seelsorgerliche und diakonische Arbeit, in Bildung und Verkündigung ist die Evangelische Kirche höchst präsent. Auch außerhalb der klassischen kirchlichen Arbeitsfelder machen Menschen ihren evangelischen Glauben durch eine klare Grundhaltung öffentlich: Auf lokaler, nationaler und globaler Ebene beteiligen sie sich profiliert an den entscheidenden Zukunftsfragen. In politischer, künstlerischer oder publizistischer Weise setzen sie sich gewissenhaft für den bedrohten und verfolgten Nächsten ein. Sie erheben mutig ihre Stimme, wo mitmenschliches Zusammenleben gefragt ist, weil Gerechtigkeit auf dem Spiel steht. Demgegenüber zeichnen mediale Schlagzeilen ein anderes Bild von der Zukunft der Evangelischen Kirche. Es werde für sie immer schwieriger, sich gegen die Megatrends von Säkularisierung, Individualisierung und Mobilität auf dem religiösen Markt zu behaupten. Ohnehin werde Kirche, so die Prognose, kleiner, ärmer und älter.1 Aufgrund sinkender Mitgliederzahlen ist von einer fundamentalen Krise, gar vom absehbaren Ende der klassischen Volkskirche die Rede. Zugleich wird der öffentliche Geltungsanspruch der Evangelischen Kirche in ethischen und politischen Fragen bezweifelt und kritisiert. Die diffamierende Rede vom kirchlichen ›Gutmenschentum‹ ist salonfähig geworden. Der populistische Verweis auf das Versagen der amtskirchlichen Eliten löst nicht nur am rechten Rand spöttisches Gelächter und Beifall aus. Was ist nun zu glauben? Ist tatsächlich von einem umfassenden Bedeutungsverlust der Evangelischen Kirche auszugehen und müssen wir gar mit ihrem baldigen Ende rechnen? Sind Lethargie oder gar Untergangsstimmung gerechtfertigt? Ist es angesagt, über den Zustand protestantischer Lebenskultur zu jammern und klagen? Wir sind davon überzeugt, dass das Reformationsjubiläum 2017 einen hervorragenden Anlass bietet, um über die Zukunft des evangelischen 1

Vgl. Jörg Stolz / Edmée Ballif, Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen, Zürich 2010.

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1. Einleitung

Glaubens und der Kirche nachzudenken. Es ist an der Zeit, die Fundamente und gelingenden Formen evangelischer Glaubenspraxis neu ins Licht zu stellen. In diesen unfriedlichen und bedrohlichen Zeiten sind der klare Standpunkt und eine mutige Glaubenshaltung mehr denn je gefragt. Deshalb lohnt sich gerade jetzt der Blick auf die protestantische Ursprungsgeschichte: Was steckt eigentlich im Kern der eigenen Geschichte verborgen? Und wie sinnvoll und hilfreich sind die reformatorischen Traditionen heute noch, wenn es darum geht, die aktuellen Lebensverhältnisse entschieden und profiliert mitzuprägen? Verfügen wir hier über ein geistig-theologisches Erbe, das inmitten der aktuellen Komplexitäten und Verirrungen noch orientieren kann – möglicherweise gerade auch dann, wenn man die Reformation als »europäisches Ereignis«2, gar als Ausgangspunkt einer globalen Bewegung3 versteht. Um uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, bringen wir in unserer Studie zentrale reformatorische Kerngedanken neu ins Gespräch. Theologisch zentrale Begriffe wie ›Rechtfertigung‹, ›Glaube‹ und ›Freiheit‹, aber auch ›Kirche‹ verstehen sich keineswegs von selbst. Sie sind sperrig und erklärungsbedürftig. Sie stellen nicht einfach unantastbare Ausgangspunkte dar, deren Bedeutung immer schon eindeutig feststeht oder die gar in Stein gemeißelt sind. Zudem waren die innerprotestantischen Entwicklungen von Beginn an so vielfältig, dass man kaum von einer einheitlichen reformatorischen Tradition sprechen kann. Auch sind manche Anschauungen Luthers, Zwinglis, Calvins oder ihrer Mitstreiter zu problematisch, als dass man guten Gewissens eine verklärende protestantische Heiligengeschichte erzählen könnte.4 Wir befragen deshalb in ganz persönlicher Freiheit die theologischen Erkenntnisse der Reformatoren darauf hin, welche Bedeutung sie für die individuelle Lebensführung, für die kirchliche Praxis und für eine protestantische Lebenskultur im 21. Jahrhundert haben können. Dies wagen wir bewusst in der Perspektive unserer eigenen theologischen Einschätzungen und unserer Zukunftshoffnungen. Wir werden in unseren Annäherungen sowohl auf lutherische wie auf reformierte Traditionen zu sprechen kommen. Wir sind uns dabei der unterschiedlichen theologischen Grundentscheidungen und historischen Entwicklungslinien bewusst. In den oft zugespitzten Thesen und Ausfüh2

Vgl. Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016, 9ff. 3 Vgl. Peter Opitz, Zwingli global, in: NZZ Geschichte, Nr. 7, 2016 Zürich, 56–69; Michael Welker, Protestantismus und Globalisierung, in: Emidio Campi / Peter Opitz / Konrad Schmid (Hg.), Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Zürich 2012, 57–72. 4 Dazu jetzt in psychoanalytischer Perspektive auf den Wittenberger Reformator Lyndal Roper, Luther. Der Mensch. Die Biographie, Frankfurt/M. 2016.

1.1 Willkommen zum Reformationsjubiläum!

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rungen von Martin Luther und Philipp Melanchthon, von Ulrich Zwingli, Heinrich Bullinger oder Johannes Calvin und deren Nachfolgern werden zentrale Elemente des Glaubens und des Kirchenverständnisses formuliert. Diese haben die jeweilige Tradition auf unterschiedliche Weise geprägt. Wir halten aber das, was Lutheraner und Reformierte miteinander verbindet, für entscheidender als die jeweiligen Unterschiede. So wollen wir zugleich den Blick auf die konfessionsübergreifenden Gemeinsamkeiten dieser Traditionen schärfen. Was macht den evangelischen Glauben aus? Wo erweist er sich in den gegenwärtigen Weltverhältnissen und im Blick auf die Zukunft der evangelischen Kirchen als richtungsweisend und lebensdienlich? Wir laden die Leserinnen und Leser ein, mit uns den Weg einer kritischprüfenden Neuentdeckung dieses Erbes zu gehen. Wir wollen damit einerseits der 500-jährigen Geschichte Rechnung tragen, die zwischen den Reformatoren und uns liegt. Andererseits unternehmen wir dies in der Überzeugung, dass dies nicht nur von historischem Interesse ist. In der Reformation wurden Grundelemente des Glaubens und der Kirche wiederentdeckt, die heute wieder neu relevant werden können, ja vielleicht sogar müssen. Die Frage, wozu die Kirche überhaupt da ist, wird im Rahmen der gegenwärtigen Feierlichkeiten eigenartig selten gestellt, und wenn überhaupt, dann kaum in theologisch tiefschürfender Weise.5 Dabei gestehen wir schon an dieser Stelle ein, dass mancher Brocken auf dem Weg der Lektüre liegen wird. Für manchen dieser Steine sind wir vermutlich selbst verantwortlich. Allerdings wollen und können wir es uns und den Lesern und Leserinnen schon um der theologischen Erkenntnisaufgabe willen nicht zu leicht machen. Theologisches Denken ist – wenn es den reformatorischen Einsichten auf die Spur kommen will – kein leicht zu bewältigendes Unterfangen. Es gilt, die richtigen Fragen zu stellen, Argumente abzuwägen, Positionen einzuschätzen, Deutungen vorzunehmen und dafür die angemessene Sprache zu finden. Dass sich durch unseren Text hindurch immer wieder viele Fragen finden, soll nicht signalisieren, dass wir selbst etwa ganz und gar orientierungslos sind. Vielmehr möchten wir dadurch die Leserinnen und Leser anregen, sich auf die eigene Suche nach möglichen Antworten zu begeben – eben zum ›Selber denken‹. Deshalb werden wir – gut protestantisch – nicht selten eher Unterscheidungen einziehen als eindeutige Entscheidungen fällen, Dabei wollen wir zugleich die systematischtheologischen mit den praktisch-theologischen Überlegungen verbinden, und damit reformatorische Einsichten mit aktuellen Fragen der Kirchenentwicklung in einen wechselseitigen, unterscheidungsfreudigen Dialog zu bringen versuchen. Im besten Fall verknüpfen sich die unterschiedli5

Vgl. Ulrich H.J. Körtner, Getrübtes Urteilsvermögen. Das Reformationsjubiläum als Gradmesser einer theologischen Orientierungskrise, in: zeitzeichen 1/2017, 38–41.

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1. Einleitung

chen Blickrichtungen fruchtbar miteinander. Das mag nach einem ziemlichen Spagat zwischen den theologischen Disziplinen und erst recht über die Zeiten hinweg klingen. Aber das macht theologische Arbeit aus, und das macht sie so spannend wie schön und im besten Sinn auch anstößig. Wir setzen damit zugleich deutliche Zeichen gegen eine von medialen Schnellschüssen durchtränkte Artikulationskultur: Die ernsthafte Suche nach Orientierung und Wahrheit benötigt gedankliche Tiefe und Schärfe. Entscheidende Zukunftsfragen lassen sich weder per Twitter noch durch vollmundige Schlagworte bearbeiten oder gar lösen. Dies lehrt bereits die reformatorische Entwicklungsgeschichte: Die Reformatoren konnten öffentlich prägnant formulieren, weil sie sich zuvor höchst persönlich und in aller Gedankenschärfte mit den komplexen theologischen Sachverhalten auseinandergesetzt haben. Was sie so elementar und ›für das ganze Volk‹ verständlich artikuliert haben, erfolgte auf der Grundlage intensiven theologischen Nachdenkens. Gerade deshalb hoffen wir, dass unsere theologischen Überlegungen beim Leser und der Leserin, wie schon angedeutet, das Interesse wecken, sich selbst mit diesen reformatorischen Traditionen und mit den möglichen Folgerungen für das gegenwärtige kirchliche und gesellschaftliche Leben zu beschäftigen. Reformatorische Glaubenseinsichten werden – gleich noch eine weitere protestantische Grundunterscheidung – erst bedeutsam, wenn man sie sich auf jeweils individuelle Weise aneignet und nicht einfach nach-spricht. Dies möchten wir mit unseren Anstößen zum Vorschein bringen. Dazu wollen wir in informativer, kritischer und immer wieder in provokativer Weise anregen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. 1.1 Willkommen zum Reformationsjubiläum! Man muss nicht besonders kirchennah sein, um festzustellen, dass für evangelische Christenmenschen das Jahr 2017 ein besonderes Datum darstellt. In Deutschland und vielen weiteren Ländern erinnert man daran, dass der Mönch Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirchentür in Wittenberg angeschlagen haben soll. Damit, so sagt man, habe die Reformation begonnen, die Menschen und ganze Territorien nach und nach, oftmals geradezu im Sturm erfasst habe. Und so setzen sich viele Menschen in Kirche und Gesellschaft in diesem Jubiläumsjahr sehr bewusst und mit viel Engagement damit auseinander, was Reformation damals bedeutet hat und heute bedeuten kann. Unzählige Feierlichkeiten, über die Jahre hinweg prall gefüllte Veranstaltungskalender und vielfältige kirchliche Stellungnahmen bringen dies

1.1 Willkommen zum Reformationsjubiläum!

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eindrücklich zum Ausdruck. Doch was kommt dadurch eigentlich zum Vorschein? Welche guten Gründe gibt es, der Reformation zu gedenken, diese gar zu feiern? Die anstehenden Reformationsfeierlichkeiten sind unübersehbar besondere Inszenierungen. Man erhofft sich davon auf kirchlicher Seite erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und vielleicht sogar bestimmte Marketingeffekte. Dies ist angesichts der oben bereits erstmals angedeuteten krisenhaften Gesamtsituation der Evangelischen Kirche legitim. Es ist allerdings auch danach zu fragen, welche Ansprüche und Chancen sich darüber hinaus mit diesem Jubiläum verbinden. Wozu also der ganze Jubiläumsaufwand und was soll eigentlich damit öffentlich signalisiert werden? Grundsätzlich gilt ja: Wer feiert, begeht sehr viel mehr als nur den Moment selbst. Wenn wir feiern, soll das Vergangene bedacht und gewissermaßen wieder lebendig werden. Wir vergewissern uns über den jeweils eigenen aktuellen Standort und nehmen zugleich – vielleicht sogar mit visionärer Weitsicht – die Zukunft in den Blick. Dies gilt in besonderer Weise für den christlichen Glauben: »Gedächtnis ist ein theologischer Zentralbegriff, denn als Offenbarungsreligion ist das Christentum eine Erinnerungsreligion.«6 Damit kommen beim Nachdenken über das protestantische Ursprungsereignis immer auch unsere eigenen Lebenserfahrungen und Lebensfragen ins Spiel. Feiern eröffnet die Möglichkeit, gemeinsam zurückzublicken und existenzielle Zukunftsfragen zu stellen: Was soll weitergetragen werden, was gilt es unbedingt zu vermeiden? Angesichts der aktuellen kirchlichen Herausforderungen und der gesellschaftlichen Polarisierungstendenzen sind deutlich vernehmbare evangelische Stimmen und erkennbare Gesichter – bewusst im Plural formuliert! – unbedingt notwendig. Die theologische Erinnerung an die reformatorische Ursprungsgeschichte kann nie nur allein die Zukunft der Kirche betreffen! Denn dies würde der reformatorischen Idee umfassender Weltverantwortung fundamental widersprechen. Was gefeiert wird, verbindet sich also – hoffentlich! – mit gesellschaftlicher Zeitdiagnose und politischer Zeitansage. Das Reformationsgedenken ist in dieser Hinsicht von dringlicher Aktualität: Die gegenwärtigen Weltverhältnisse sind durch erhebliche Spannungen geprägt. Ausgrenzungen des je Anderen, Abgrenzungen von dem, der nicht so ist wie wir, sind an der Tagesordnung. Durch menschenfeindliche Einstellungen ist bereits ein tiefer Spalt entstanden, der

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Christoph Markschies / Hubert Wolf, »Tut dies zu meinem Gedächtnis«. Das Christentum als Erinnerungsreligion, in: dies. (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, 15.

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1. Einleitung

derzeit kaum überbrückbar zu sein scheint.7 Radikalisierende Minderheiten, die sich von demokratischen Diskursen entkoppelt haben, die feindselig und hasserfüllt8 denken und verstärkt feindselig handeln, dürfen aber nicht ignoriert werden. Reformatorische Einsichten haben für die Frage der Menschenrechte und des demokratischen freien Zusammenlebens erhebliche Bedeutung. Dies gilt selbst angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass sich die protestantischen Kirchen damit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein schwer taten. Der Protestantismus hat trotzdem wesentlich zur neuzeitlichen Vorstellung von Menschenwürde, Gewissensfreiheit und Toleranz sowie zur Kritik an allen Formen gesellschaftlicher Fremdbestimmung beigetragen. Daran ist gerade in den gegenwärtigen Zeiten intensiv zu erinnern.9 So schließt das Reformationsgedenken Überlegungen zur Rolle des Protestantismus in der Gesellschaft und zur Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteurin unbedingt ein. Nur in einem solchen weiten und aktuellen Rückbezug sind die Erinnerungen an die Reformation und die Jubiläumsfeierlichkeiten überhaupt sinnvoll. Aber was genau ist nun eigentlich zu feiern? Die Rede vom »Reformation feiern« hat im Vorfeld des Jahres 2017 intensive Diskussionen hervorgerufen. Nicht nur die Fragen, was Martin Luther vor 500 Jahren tatsächlich wollte und tat, und ob er wirklich eigenhändig ein Plakat mit 95 Thesen zum Ablasshandel angeschlagen habe, sind unter Historikerinnen und Historikern umstritten. Es geht grundsätzlich um die Frage, ob man eine Entwicklung feiern kann und darf, die zur Spaltung der Christenheit, zu vielfachen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Konfessionskriegen geführt hat. Dürfen Protestantinnen und Protestanten vollmundig ein Ereignis begehen, durch das sich ein Teil der Christenheit so nachhaltig vom anderen Teil getrennt hat? Klingt »Reformationsjubiläum« von protestantischer Seite her nicht nach »500 Jahre besserem Christsein«, dem nicht nur prominente katholische Stimmen durchaus begründet skeptisch gegenüberstehen? So warnte Kardinal Kurt Koch, 2013 als Präsident des vatikanischen Einheitsrates für die Ökumene zuständig, vor einer uneingeschränkten Jubelfeier zum Reformationsjubiläum 2017.10 Der römische Kardinal Walter Kasper regte schon im Jahr 2012 an, dass beide Seiten »ein Bekenntnis unserer 7

Vgl. Oliver Decker / Johannes Kiess / Elmar Brähler, Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen 2016. 8 Vgl. Carolin Emcke, Gegen den Hass. Essay, Frankfurt/M. 2016. 9 Vgl. Bernd Oberdorfer, Religion und politisch-gesellschaftliche Emanzipation, in: EvTh 74 (2014), 119f. 10 Vgl. Kurt Koch, Reformationsgedenken in ökumenischer Sicht, in: Petra Bosse-Huber u.a. (Hg.), 500 Jahre Reformation. Bedeutung und Herausforderungen. Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich, Zürich/Leipzig 2014, 348–357.

1.1 Willkommen zum Reformationsjubiläum!

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Schuld ablegen, daß wir das Gebot der Einheit nicht erfüllt haben«11, und schreibt aktuell in ökumenischer Perspektive: »Allein Gottes Barmherzigkeit kann die tiefen Wunden heilen, welche die Trennung am Leib Christi, der die Kirche ist, geschlagen hat.«12 Hier zeigt sich aktuell, dass mit der Erinnerung eben auch die leidvolle Geschichte selbst bis in die Gegenwart hineinwirkt und auch die kirchenpolitischen Diskussionen richtigerweise mitbestimmt. Ein unpolitisches Reformationsgedenken gab es ohnehin über die 500jährige Geschichte hinweg nie: Reformationsjubiläen waren durch die Jahrhunderte hindurch immer Fixpunkte, an denen Vergangenheit, Gegenwartsdiagnose und Zukunftsansage in geschichtspolitischer Absicht intensiv miteinander verbunden und verwickelt wurden. Dies zeigen beispielhaft schon die unterschiedlichen bildlichen Darstellungen Luthers, die Lucas Cranach d. Ältere je nach politischer Lage vom jungen Mönch, vom gelehrten Doktor und vom versöhnlich-friedlich verstorbenen Luther überaus absichtsvoll malte. Erst recht machen die Jubiläumsfeiern 1817 und 1917 sowie das Gedenken an Martin Luthers 500. Geburtstag im Jahr 1983 deutlich, wie stark die Jubiläen Kinder ihrer Zeit waren. Sie dienten nicht selten der massiven kirchlichen Abgrenzung und der politischen Funktionalisierung. Die feiernde Gemeinschaft und die breitere Öffentlichkeit sollten oftmals sogar in einer ganz bestimmten Hinsicht beeinflusst oder schlichtweg auf Linie gebracht werden.13 Dann diente ein bestimmtes Fest- und Grundprogramm vornehmlich dazu, die eigenen Geltungsansprüche vorzuführen und wiederzubeleben. Damit feierten sich aber am Ende die institutionellen kirchlichen Autoritäten selbst – oftmals im Verbund mit staatlichen Machthabern. Andere Interpretationen wurden programmatisch ausgeblendet. Und so bildeten sich in einer bestimmten Feierlichkeitskultur nicht selten lediglich die bestehenden Macht- und Gehorsamsverhältnisse ab. Von dort her ist zu fragen, ob möglicherweise die anstehenden Feierlichkeiten des Jahres 2017 zwar nicht mehr in gleicher Weise wie seinerzeit, aber doch in abgewandelter Form wiederum von einer Art des Heldengedenkens geprägt sind? Das aktuelle Reformationsjubiläum erneut zu verzwecken halten wir für so wenig wünschenswert wie legitim – von der durchaus skeptisch machenden großen Koalition aus protestantischen Kirchen, staatlicher Politik und Tourismuswirtschaft schweigen wir hier. 11

Vgl. der entsprechende Medienbericht [www.katholisches.info/2013/11/09/500-jahrekirchenspaltung-kardinal-kasper-hofft-2017-auf-gemeinsamen-gottesdienst-und-schuldbe kenntnis/]. 12 Walter Kasper, Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, Ostfildern 22016, 68. 13 Vgl. z.B. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817–2017, Göttingen 2012 oder Klaus Tanner, Konstruktion von Geschichte. Jubelrede, Predigt, protestantische Historiographie, Leipzig 2012.

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1. Einleitung

Jedenfalls sollte heutzutage kein Repräsentant der protestantischen Kirche ernsthaft noch beanspruchen, durch die Inszenierung von Jubiläumsfeierlichkeiten die kirchlichen Reihen wieder geschlossen zu bekommen oder schon allein dadurch die erwünschte Aufmerksamkeit für die eigentliche Sache zu erhalten. Aber auch das Andere ist wahr: Eine Zersplitterung des Reformationsgedenkens in alle möglichen und unmöglichen Einzelaktivitäten, wie dies gegenwärtig im Bereich der reformierten Kirchen der Schweiz zu beobachten ist, wirft Fragen auf: Wessen soll denn nun gemeinsam gedacht werden und worin liegt eigentlich heute noch die Bedeutung der Traditionen, derer man gedenkt? Jedenfalls sollte es nicht einfach um seiner selbst gefeiert werden, ohne dass klar ist, was für einen Effekt dies für die Gesellschaft haben könnte.14 Es geht um die Frage des »Wozu?«15 Bedenklich erscheint uns etwa, wenn reformatorische Historienspiele, wie sie gegenwärtig landauf und landab vielfach geplant und inszeniert werden, vor allem antiquarischen Charakter zeigen. Wie geht man so klug wie sensibel mit den Herausforderungen gemeinsamen Erinnerns um? Im Ökumenischen Dialog hat man sich darauf geeinigt, statt vom »Reformationsjubiläum« vom »Reformationsgedenken« oder vom »Christusfest« zu sprechen. 2013 haben der Lutherische Weltbund und der Päpstliche Einheitsrat ein gemeinsames Dokument mit dem Titel »Vom Konflikt zur Gemeinschaft: Gemeinsames Lutherisch-Katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017« herausgegeben. Darin bekennen sie sich dazu, dass das Evangelium von Jesus Christus im Zentrum steht. Dieses Evangelium soll gefeiert und den Menschen unserer Zeit verkündigt werden. Die Welt soll glauben können, dass Gott sich selber den Menschen gibt und uns zur Gemeinschaft mit ihm und seiner Kirche ruft.16 Die Reformation wird nicht mehr (nur) verstanden als die häretische Abspaltung eines Teils der Kirche. Sondern sie wird als ein Geschehen begriffen, das die Entwicklung der Evangelischen und der Katholischen Kirche wesentlich beeinflusst hat. Zugleich ist diese Sprache aber sehr binnenkirchlich geprägt. Versteht ›die Welt‹ wirklich, was sie hier glauben soll? Das theologisch geführte, auch interkonfessionell offene Gespräch, ist jedenfalls unverzichtbar. Dies gilt schon aus dem folgenden Grund: Die Protestanten können ihrer eigenen Geschichte nicht unkritisch gegenüberstehen. Wir wissen 14

Vgl. Frank Albrecht Uhlhorn, Kirchliche Kommunikation kalkulieren. Systemtheoretische Perspektiven für die Lutherdekade 2017, Berlin/Boston 2015, 261. 15 A.a.O., 328. 16 Vgl. Lutheran World Federation / The Pontifical Council for Promoting Christian Unity (Ed.), From Conflict to Communion, Leipzig/Paderborn 2013, 7 (Übersetzung CA) [www.lutheranworld.org/sites/default/files/From%20Conflict%20to%20Communi on.pdf].

1.2 Was meint »protestantisches Profil«?

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um die blutigen Kriege, die schrecklichen Verfolgungen und die tiefen Verletzungen, die den jeweils Andersgläubigen zugefügt wurden und immer noch werden. Jedes Gespräch sowohl mit den katholischen und den jüdischen Geschwistern17 als auch mit den Täufergemeinschaften18 über die reformatorischen Errungenschaften und eben auch die dramatischen Fehlentwicklungen ist berechtigterweise davon mitgeprägt. Und von dort aus ist umso dringlicher zu fragen, was eigentlich ›das Besondere‹, sozusagen die Kernsubstanz der protestantischen Tradition(en), und was ihr Profil ausmacht. 1.2 Was meint »protestantisches Profil«? »Reformation« – übrigens eine erst im 19. Jahrhundert in Mode gekommene deutungsstarke Bezeichnung für die Umbrüche des 16. Jahrhunderts – heißt: Das Verhältnis von Gottes Wort und menschlicher Antwort sollte neu ausgelegt werden und wurde neu ausgelegt. Dieses grundstürzende Nachdenken wurde möglich, weil das gesellschaftliche Umfeld und die politisch-sozialen Verhältnisse der Zeit sowie die längst vorhandenen religiösen Triebkräfte bereits den Boden für eine solche Neuauslegung vorbereitet hatten.19 Nun sind die Reformatoren »Zeugen« ›einer Welt, die wir verloren haben‹, oder besser gesagt, Zeugen einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und uns somit mit dem Fremden und ganz Anderen konfrontiert.«20 Heute befinden wir uns in einer gänzlich anderen Welt als derjenigen der Reformatoren – selbst wenn die Welt damals mit Sicherheit als genauso gefährdet, zerbrechlich und ungewiss erlebt wurde, wie wir es heute tun. Man sollte ausgesprochen zurückhaltend damit umgehen, die damaligen Ereignisse als Beginn einer unaufhaltsamen Heilsgeschichte zum Besseren zu verstehen. Dazu war vieles allzu menschlich, von erstaunlichen Zufällen geprägt, vieles äußerst widersprüchlich. Die Reformation hat »leidenschaftliche Gefühle, Ärger, Furcht und Hass eben17

Vgl. z.B. Heinz Kremers (Hg.), Die Juden und Martin Luther, Neukirchen-Vluyn 1987; Bertold Klappert, Martin Luther und die Juden, Neukirchen-Vluyn 2000; Thomas Kaufmann, Luthers ›Judenschriften‹. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung Tübingen 2011; ders., Luthers Juden, Ditzingen 2014; Geschäftsstelle Luther2017, Die Reformation und die Juden. Eine Orientierung, Berlin 2014. [www.luther2017.de/ fileadmin/luther2017/material/grundlagen/lutherdekade_reformation_und_die_juden.pdf] 18 Vgl. z.B. Michael Baumann (Hg.), Gemeinsames Erbe – getrennte Wege. Reformierte und Täufer im Dialog, Zürich 2007. 19 Vgl. v.a. zu den vorreformatorischen katholischen Reformbewegungen sind höchst aufschlussreich Volker Gerhardt, Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016, sowie im Blick auf die theologischen Reformdebatten Hubert Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte, München 22015. 20 Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, 15.

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1. Einleitung

so wie Freude und Erregung«21 entfesselt: »Das Visionäre wie das Fanatische, das Ideologische wie der Perfektionismus, die Lustfeindlichkeit wie der Gemeinsinn, all das sind Mitgiften der Reformation.«22 Sie hat bei aller theologischen Rede von Versöhnung und Frieden tiefgreifende politische, gesellschaftliche und religiöse Spaltungen mitbefördert. Die damaligen Polemiken, Hasstiraden und unsäglichen Karikaturen des jeweiligen Gegners sind für heutige Augen und Ohren schlichtweg nicht mehr nachvollziehbar – oder in ihrer Fremdheit und Brutalität vielleicht gerade doch wieder? Hinzu kommt, dass uns die Reformatoren als Personen trotz ihrer eindrücklichen theologischen Arbeit in gewisser Weise fern bleiben müssen. Als männliche Autoritäten mit einem ausgesprochen prophetischen Selbstverständnis predigen und schreiben sie mit dem Gestus, die Wahrheit gefunden zu haben. Sie denken in Dualismen von Gott und Teufel. Sie unterscheiden zwischen dem rechten Glauben und der Ketzerei. Sie scheuen nicht davor zurück, die Andersgläubigen zu brandmarken und zu verurteilen – wenn es sein muss, auch zum Tode. Nicht ohne Grund wird Luther aufgrund seiner radikalen Weltsichten und seines Hasses auf Bauern, Juden, Türken und Katholiken als »der erste Wutbürger« bezeichnet, der gegen die Freiheit des Einzelnen wetterte, wenn sie nicht an Gott gebunden war.23 Oder noch radikaler und provokativ gesagt: »Martin Luther ist beim besten Willen kein Zeitgenosse, sondern bleibt ein Fremder. Zum Klimawandel oder zum Islamismus hat er nichts zu sagen, obwohl ihm der Fundamentalismus vielleicht sogar imponiert hätte.«24 In solcher ausgrenzenden Eindeutigkeit, die bis zur antisemitischen irrsinnigen Phantasie reichen konnte,25 darf heute nicht mehr geredet werden. Aber nicht nur Hasstiraden gegen andere Glaubenshaltungen, sondern absolut daherkommende Wahrheitsansprüche sind zu Recht verdächtig, und damit nicht minder deren Propheten. »Selber denken« ist die Devise, nicht nur der Schweizer Reformierten in ihrer Werbekampagne von 2001. Und darauf berufen sich viele Kirchenmitglieder, die ihre Spiritualität auf ihre eigenen Bedürfnisse hin selbst gestalten. Sie gehen auf Distanz, wenn das gemeinsame Bekennen – oder nur schon die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst – gefragt ist.26 Auf der anderen Seite wird viel von der Notwendigkeit eines protestantischen Profils geredet. Der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang 21 22 23 24 25 26

Roper, Luther, a.a.O., 26. Eichel, Deutschland, Lutherland, a.a.O., 238. Vgl. DER SPIEGEL 44/2016. Willi Winkler, Luther. Ein deutscher Rebell, Berlin 2016, 561. Vgl. Roper, Luther, a.a.O., 503. Vgl. Jörg Stolz u.a., Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, Zürich 2014.

1.2 Was meint »protestantisches Profil«?

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Huber, hatte zwar 2005 noch eine »Ökumene der Profile« konstatiert und sich dabei nicht gescheut, die Wahrheitsfrage aufzuwerfen.27 Aber der Protestantismus sieht sich heute eher mit der (Selbst-)Kritik der Profillosigkeit konfrontiert. So ist es laut Gottfried Locher an der Zeit, »das unleserlich gewordene Profil der Reformierten (zu) schärfen.«28 Auf das Jahr 2017 hin sehen Kirchenleitungen die Gelegenheit gekommen, sich wieder auf eine gemeinsame Linie zu verständigen. Dabei beziehen sie sich auf die reformatorischen Wurzeln zurück. So heißt es im Grundlagentext der EKD zum Reformationsjubiläum: »Heute geht es um die Bedeutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre und Freiheitserfahrung in einer Zeit verstärkter gesellschaftlicher Umbrüche. Beides erinnern wir traditionsbewusst im Kontext ökumenischer Herausforderungen und der fortschreitenden Entchristlichung sowie im Horizont einer pluralistischen Gesellschaft.«29 Nun reicht allerdings Traditionsbewusstsein alleine nicht aus, um die längst selbstbewusst individualisierten und geistig wie geographisch hochgradig mobilen Kirchenmitglieder und religiös Suchenden zusammenzuhalten. Wenn sich die Kirchen im Jahr 2017 besonders intensiv mit dem reformatorischen Anspruch und den damit einhergehenden Herausforderungen auseinandersetzen, müssen sie sich über ihr Profil klar werden – und dies auch im Wissen darum, dass es einen konturenscharfen Protestantismus nicht gibt.30 Dies erfordert zugegebenermaßen oftmals mühevolle Kleinarbeit und führt nur selten zu sofortigen eindeutigen Einsichten. Hier mag man die Katholische Kirche um ihre Form der öffentlichen Präsenz und hierarchisch geklärten Kommunikationsmöglichkeiten beneiden. Aber nach protestantischem Selbstverständnis geht es niemals um eine Vorgabe von oben. Sondern gefragt ist, wie Beteiligte und Betroffene ihre persönlichen Glaubensüberzeugungen möglichst klar zur Sprache bringen und wie sie aus einem evangelischen Geist der Freiheit heraus verantwortlich handeln können. Oder elementarer gesagt: Der Protestantismus versucht seine Identität dort zu bestimmen, »wo das Herz unserer Zeit schlägt.«31 Deshalb lassen sich Reformationen nicht einfach wiederholen. Sie sind geprägt von ihrem je-

27

Vgl. Ansprache des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, bei der Begegnung mit Papst Benedikt XVI. in Köln 19. August 2005 [www.ekd.de/presse/pm147_2005_rv_ansprache_papst.html]. 28 Der Bund, 15.06.2010 [www.derbund.ch/bern/Gottfried-Locher-neuer-Praesidentdes-Evangelischen-Kirchenbundes/story/29782480]. 29 Rat der Evangelischen Kirche Deutschland, Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Gütersloh 2014, 9. 30 Vgl. Eichel, Deutschland, Lutherland, a.a.O., 16. 31 Dietrich Rössler, Protestantische Identität, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Tanner (Hg.), Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, 30.

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1. Einleitung

weiligen Kontext, und sie erhalten ihren Impuls und ihren »Drive« nicht nur vom Geist Gottes, sondern auch vom Geist ihrer Zeit. Und über ein protestantisches Profil nachzudenken, kann von vornherein keinen allgemeinverbindlichen Anspruch erheben. Es stellt prinzipiell erst einmal ein Deutungsangebot dar. Im besten Fall regt es dazu an, selbst nach- und weiterzudenken. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man sich mit bestimmten kulturellen Wirkungen christlicher Traditionen schon zufrieden geben sollte – ganz zu schweigen vom problematischen Ruf nach einer christlichen Leitkultur. Wir meinen also: Reformation feiern heißt zum einen, sich auf freie, gewissenhafte und profilierte Weise inmitten der vielstimmigen Geschichte protestantischer Lebenskultur zu verorten. Wie und warum verstehe ich mich von dieser bestimmten Tradition geprägt, und wo und warum suche ich mir andere Formen des Denkens und Glaubens? Zum anderen bedeutet es, diese Traditionsverortung mit der Suche nach einer ebenso profilierten Weltwahrnehmung und – durchaus prophetisch gemeinten – Zeitansage zu verbinden. Welche konkreten Konsequenzen ziehe ich aus dieser Auseinandersetzung für mein Denken und Handeln in der heutigen Welt? Und wie kann ich vor diesem Hintergrund »besser als andere der Stadt Bestes zu suchen wissen«,32 wie es Karl Barth in Aufnahme von Jer 29,7 in seiner Schrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde« formuliert: »Besser als andere«, nämlich mit dem »Oberlicht«, das einem scheint, wenn man Welt und Geschichte betrachtet wie Abraham »vor Gott, an den er glaubte«.33 Um dies auf glaubwürdige und authentische Weise tun zu können, ist es so ratsam wie notwendig, sich mit den wesentlichen einzelnen Traditionselementen differenziert auseinanderzusetzen. Reformation zu feiern heißt, sich gedanklich mit dem protestantischen programmatischen Profil auseinanderzusetzen. Und ein solches lässt sich tatsächlich bei aller Deutungsoffenheit näher bestimmen! Nur unter dieser Bedingung können wir überhaupt davon sprechen, dass die Ereignisse vor 500 Jahren bis heute herausfordernd sind und auch heute noch ihre ganz eigene profilierte Prägekraft entfalten.

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Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Stuttgart 1946, 53. Ders., Der Römerbrief 1922, Zürich 1984 (unveränd. Abdruck von 1922), 116.

2. Reformatorische Orientierungen

2.1 Das reformatorische Grundprinzip: Suche nach den Quellen »Ecclesia semper reformanda«, die Kirche muss immer wieder reformiert werden. Das ist in diesem Zusammenhang ein beliebtes Schlagwort, das gar nicht von Luther selber stammt, sondern von einem niederländischen Reformierten des 17. Jahrhunderts. Aber es gibt tatsächlich »wohl kaum jemanden unter uns, der den Satz nicht für eine eindeutige Beschreibung des Protestantismus hält.«34 Typisch protestantisch hat der Satz nämlich eine selbstkritische Schlagseite: Die protestantische Kirche ist immer der Reform bedürftig! Also hat man 500 Jahre nach der Reformation immer noch die Reformation vor sich. Nach der Reformation ist vor der Reformation.35 Aber was heißt eigentlich »Reformation«? Was macht sie aus, was geschieht dabei und wann wird eine bloße Veränderung zur Reformation? Reformare, das lateinische Wort, das hier zugrunde liegt, taucht zum ersten Mal beim römischen Dichter Ovid im ersten Jahrhundert vor Christus auf. Bei ihm heißt dies zunächst wörtlich »umwandeln, neu gestalten«. Es bedeutet also »eine neue Form geben« – wobei das Neue dieser Form streng genommen das Alte war: Es ging nämlich darum, etwas in seine ursprüngliche Form zurückzubringen – eben re-formare. In Ovids Gedicht »Metamorphosen« wird dem jungen Krieger Peleus geraten, die Meeresnymphe Thetis festzuhalten, die sich nacheinander in Vogel, Baum und Tiger verwandelt. Zum Schluss stellt sie selber ihre frühere und eigentliche Gestalt als eine schöne Frau wieder her, die sie wirklich ist. Sie re-formiert sich.36 Plinius der Jüngere gebraucht das Wort 200 Jahre später in einem anderen Sinne: Es geht ihm nicht um die Rückkehr zum Ursprünglichen, Eigentlichen, sondern darum, dass eine Sache von Grund auf verbessert wird. Reformare erhält damit die Bedeutung von »Fortschritt«. Plinius spricht davon, dass der Kaiser Trajan die verluderten Sitten »reformiert

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Emidio Campi, »Ecclesia semper reformanda«, Metamorphosen einer altehrwürdigen Formel, in: Zwingliana 37 (2010), 1. 35 Das gilt im Übrigen auch für die Katholische Kirche, die im Zweiten Vatikanischen Konzil Mitte des letzten Jahrhunderts ihrerseits für sich das Schlagwort der ewigen Reformation, der perennis reformatio, gefunden hat, zitiert in Campi, a.a.O., 2. 36 Ovid, Metamorphosen, Buch IX, 254.

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2. Reformatorische Orientierungen

und korrigiert«37 – der Kaiser hat demnach die Moral seiner Bevölkerung verbessert! Reformare kann man also auf zwei Arten verstehen: zum einen, dass etwas von selbst zu seiner ursprünglichen Form zurückkehrt, zum anderen, dass etwas von jemand Außenstehendem verbessert wird. Welche Bedeutung hat nun für uns die Reformation, wenn wir uns an die Ereignisse im Jahr 1517 und den nachfolgenden Jahren erinnern? »Verbessern« – werden wohl gute Protestantinnen und Protestanten gleich rufen! Hat nicht Luther die Auswüchse des Ablasshandels vehement kritisiert und die Praxis der Kirche verbessern wollen? Hat er nicht seine 95 Thesen veröffentlicht, um das Unkraut und die falschen Propheten anzuprangern und zu verurteilen? Wollte er nicht bessere Bischöfe, einen besseren Papst, eine bessere Kirche? Hat nicht Martin Luther die Katholische Kirche reformiert und damit eben verbessert? Damit wären wir Protestantinnen und Protestanten tatsächlich die zweite, verbesserte Auflage dieser Kirche. Martin Luther hat die Sache angepackt, um sie zu verbessern. Und natürlich waren daran auch die anderen Reformatoren beteiligt, so z.B. in der Schweiz Zwingli, Calvin oder Bullinger. Gerade die Reformierten waren es, denen das Verbessern wichtig war. Johann Sigismund, der Kurfürst von Brandenburg trat 1613 vom Luthertum zum Calvinismus über mit dem Argument, es sei eine zweite, verbesserte Reformation nötig, um die bei den Lutheranern hinterbliebene Unsauberkeit des Papsttums zu beseitigen.38 Semper reformanda, die Formel, auf die sich der Protestantismus immer wieder bezieht, ist also eng mit Verbesserung verbunden: Verbesserung der kirchlichen Strukturen, der persönlichen Gottesbeziehung und des ganz normalen Lebens im Alltag. In der reformierten Tradition heißt dieses Streben nach Verbesserung »Heiligung«. Die Reformierten haben zwar ebenso wie Luther wiederentdeckt, dass Gott nicht erst auf eine eigene Leistung des Menschen wartet. Gott macht uns zu befreiten Menschen, nicht wir selbst. Aber dann sollen wir diese Befreiung auch leben. Das göttliche Gesetz, wie es in den Zehn Geboten und dem Doppelgebot der Liebe zum Ausdruck kommt, ist durch das Evangelium nicht überflüssig geworden. Im Gegensatz zu Luther betonte Calvin, dass dieses Gesetz weiterhin gerade auch für die Christinnen und Christen gilt. Erst diese können das Gebot der Liebe richtig erfüllen: nicht weil sie sich damit den Himmel verdienen könnten, sondern aus Dankbarkeit Gott gegenüber, der ihnen diesen Himmel schon geschenkt hat. Damit wird nicht nur die Gottesbeziehung reformiert. 37

Plinius Caecilius Secundus, Panegyricus LIII, in: Secundi Epistolarum libri decem et Panegyricus, Paris 1823, 320. 38 Vgl. Johannes Schultze: Johann Sigismund, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, 475f.

2.1 Das reformatorische Grundprinzip: Suche nach den Quellen

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Auch das ganz konkrete, tägliche Leben steht unter diesem Liebesgebot: der Umgang mit Eltern, Kindern, Nachbarn und mit nahen und fernen Mitmenschen. Das ganze Leben wird in das Licht dieser Beziehung gestellt und soll nach Gottes Wille und Gesetzen geheiligt sein. Reformation wird tatsächlich als fortwährende Verbesserung verstanden, auch im moralischen Sinne. Der Philosoph Immanuel Kant wollte aus diesem Gedanken sogar einen Gottesbeweis ableiten.39 Die Menschen sollen, so Kant, das ganze Leben lang danach streben, dem kategorischen Imperativ zu folgen und moralisch immer besser zu werden (»Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte«).40 Dann aber wäre es doch ganz und gar ungerecht, wenn sie für diese Anstrengung nicht auch einen Lohn erhielten. Deswegen ist es für Kant zwingend notwendig, dass es einen Gott geben muss, der sie nach dem Tod für ihre beständigen moralischen Anstrengungen belohnen und ihnen dafür das ewige Leben schenken kann. Es ist also ein ureigentlich protestantischer Gedanke, dass Reformation eine Verbesserung sein soll. Die Menschen erhalten die Verbesserung ihres Herzens zwar von Gott aus Gnade geschenkt. Sie sollen sich dann aber aus Dankbarkeit und Ehrfurcht41 tatkräftig für die Verbesserung der Kirche und der Welt einsetzen. Die Reformatorinnen und Reformatoren zu allen Zeiten, vor, während und nach der Reformation, haben sich deswegen ganz konkret für das gute Leben und die Kirche eingesetzt. Sie haben das Sozialwesen reformiert und den Staat dafür in die Pflicht genommen. Sie haben Waisenhäuser und Schulen eingerichtet und für die Gleichberechtigung der Frauen gekämpft. Nicht wenige haben mit ihrem eigenen Leben dafür bezahlt, dass die Kirche umgestaltet, verbessert, reformiert wird. Und sie waren bei all dem davon überzeugt, dass dabei nicht das menschliche Handeln entscheidend ist. Sondern es ist Gottes Wille, der den Menschen in all seinen Lebensbereichen erreichen und gestalten will. Aber meint Reformation nicht viel mehr als nur eine ›Verbesserung‹? Wenn nun von Gottes Gnade die Rede ist, kommt eine ganz andere Dimension neu ins Spiel: Daniel Heinrich Purgold, ein Magdeburger Prediger aus dem 18. Jahrhundert, hat ein kleines Büchlein geschrieben mit dem amüsanten Titel »Was hat Luther für ein Recht gehabt zu reformieren? Was für ein Recht 39

»Einen solchen (weisen Urheber und Regierer), samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jede Voraussetzung wegfallen müßte.«, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. II, 2, 2, B 839, Darmstadt 1982, 681. 40 Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52, Darmstadt 1983, 51. 41 Vgl. Calvin, Institutio 1559, II, 8,2.

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2. Reformatorische Orientierungen

haben die jetzigen Theologen? Welches ist das non plus ultra der protestantischen Kirche?« Was nehmen sich also die Theologen heraus, eine so ehrwürdige Institution wie die Römisch-Katholische Kirche zu verbessern? Und Purgold kommt zum Schluss, dass Luther die Kirche so wenig reformiert hat wie etwa die vorreformatorischen Kirchenkritiker Jan Hus oder John Wyclif: »Gott war es, der Luthers Zeugniss brauchte, die Welt zu erleuchten, und Er selbst hat die Kirche reformiret.«42 Auch Zwingli zielte mit seinem gedanklichen und institutionellen Neuaufbruch nicht darauf ab, »eine Gemeinde wahrer Gläubiger zu sammeln und von der Gesellschaft zu sondern. Vielmehr ging es ihm darum, ein von Gott zu seinem Eigentum berufenes, aber untreu und götzendienerisch gewordenes Volk neu mit dem Evangelium zu durchdringen und zu den wahren Quellen zurückzurufen.«43 Erst durch diese neue Grundlegung konnte die Reformation zum ganzheitlichen Konzept44 werden und über die folgenden Jahrhunderte hinweg einen umfassenden Kultur- und Mentalitätswandel bewirken. Damit blinzelt uns aber dann doch wieder quer über die Jahrhunderte hinweg Ovid entgegen. Re-formare ist dort ja eben nicht in erster Linie ein Verbessern, sondern die Besinnung auf das Eigentliche und Ursprüngliche. Und so ging es den Reformatoren auch in erster Linie nicht darum, die Kirche zu verbessern, fortschrittlicher zu machen. Prägend war die Erkenntnis, dass die Kirche nicht dem Papst und den Bischöfen zur Verwaltung des Heils übertragen ist. Kirche ist das Angebot zur Gemeinschaft mit Gott an alle Menschen – und dies ganz und gar aufgrund seiner Gnade. Hinter den menschlichen Ursprüngen der reformatorischen Theologie liegt die theologische Suche nach dem göttlichen Ja zu allem Leben. Reformation fragt deshalb in neuer Weise nach dieser ursprünglichen Botschaft hinter allem menschlichen Reden und Denken. Luther hat in der intensiven Auseinandersetzung mit den biblischen Texten, vor allem dem Römerbrief, die befreiende Erfahrung gemacht: Die Gnade Gottes kommt dem Menschen bedingungslos zu. Auch Calvin, Zwingli und Bullinger haben aus ihrer Bibellektüre, und dabei vor allem aus dem Alten Testament, gelernt, dass der Mensch ohne eigene Vorleistung auf diese Zusage vertrauen kann. Die Kirche ist nach reformatorischer Auffassung nicht ein Werk des Menschen. Sondern sie ist

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Daniel Heinrich Purgold, Was hat Luther für ein Recht gehabt zu reformiren? Was für ein Recht haben die jetzigen Theologen? Welches ist das Non plus ultra der protestantischen Kirche?, Magdeburg 1785, 18, http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/ object/display/bsb10774978_00001.html. 43 Peter Opitz, Grundentscheidungen und Wirkungen reformatorischer Ekklesiologie, in: David Plüss / Matthias D. Wüthrich / Matthias Zeindler (Hg.), Ekklesiologie der Volkskirche. Theologische Zugänge in reformierter Perspektive, Zürich 2016, 306. 44 Vgl. Eichel, Deutschland, Lutherland, a.a.O., 10.

2.1 Das reformatorische Grundprinzip: Suche nach den Quellen

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Geschöpf des göttlichen Wortes. Das ist sozusagen reformatorische Radikalität von Gott aus um des Menschen willen. An diesen reformatorischen Überzeugungen können wir heute noch anknüpfen: Kirche wird von den Menschen nicht erzeugt, sondern bezeugt – erglaubt.45 Wenn sie nicht von der Botschaft Gottes angesprochen werden, gibt es keine Kirche. Christinnen und Christen können dieser ursprünglichen Botschaft nach-denken, nach-sprechen und nachhandeln, indem sie das Evangelium in Wort und Tat weiterverkündigen. So haben tatsächlich weder Luther noch Zwingli noch Calvin die Kirche reformiert. Für sie alle gilt, was über Zwingli gesagt wurde: »als ›Gefäss‹ oder ›Handgeschirr‹ Gottes ein ›prophetischer‹ Zeuge für das ›alte, stets kräftige und heilvolle Evangelium zu sein.«46 Gott reformiert seine Kirche durch die Reformatoren und Reformatorinnen. Aber dies geschieht entscheidend durch sein Wort und seinen Geist – wie es alttestamentlich heißt, durch lebendig machenden Hauch. Er ist die Kraft, die aus den verängstigten Jüngern mutige Verkündiger macht. Er öffnet, wie es die Apostelgeschichte bildhaft überliefert, den Menschen die Ohren und Herzen, damit sie die Botschaft in ihrer eigenen Sprache verstehen können. Von da aus ergibt sich als wesentliche Konsequenz, was sich als Zitat Zwinglis in einer Inschrift in der reformierten Kirche Felsberg in Graubünden findet: »Ein Christ sein heißt nicht von Christus schwätzen, sondern wandeln wie Christus gewandelt ist.« So wird die Kirche immer wieder an das erinnert, was ihr zu sein geschenkt ist: mit dem schönen und steilen Wort Bonhoeffers »Christus als Gemeinde existierend«47 zu sein. Aber natürlich lässt sich diese ›neue Erinnerung‹ an den Ursprung doch immer nur im Rahmen menschlichen Denkens und Redens ergründen und befördern. Luther, Zwingli, Calvin und viele andere haben sich als Menschen des 16. Jahrhunderts mit der Kirche ihrer Zeit auseinandergesetzt und für Veränderungen gekämpft. Sie haben Irrwege und Fehlentwicklungen gesehen und mit ihren Kräften und ihrer Sichtweise versucht, die Kirche »nach Gottes Wort zu reformieren«. So schrieb Calvin 1552 an den anglikanischen Bischof Thomas Cranmer von Canterbury: Es sei zwar Sache des Herrn der Kirche, so »wie er es von Anfang an getan hat, die Einheit des echten Glaubens vor Zerreißung durch menschlichen Zwist wunderbar« zu schützen. Aber das hält ihn selber nicht davon ab, seinen menschlichen Einsatz in die Waagschale zu werfen: »Was mich betrifft, so wollte ich, wenn man mich brauchen kann 45 46

Vgl. Ralph Kunz, Aufbau der Gemeinde im Umbau der Kirche, Zürich 2015. Peter Opitz, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015, 109. 47 Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein, München 41976, 90.

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2. Reformatorische Orientierungen

und es nötig wäre, es mich nicht verdrießen lassen, um dieser Sache willen zehn Meere zu durchschwimmen.«48 Der Geist Gottes wirkt nicht anders als in und mit den konkreten Menschen in einer konkreten Zeit. Den Reformatoren stand nicht nur eine Katholische Kirche gegenüber, die sich von der heutigen unterscheidet. Sondern sie waren geprägt von der mittelalterlichen Gesellschaft des 15. Jahrhunderts, die durch furchtbare Pestepidemien hindurchgegangen war und darüber das Gefühl von geordneter Sicherheit im Denken und im Leben verloren hatte. Hier klingt Bekanntes an. Möglicherweise sind die gegenwärtigen Herausforderungen dem unsicheren Grundgefühl reformatorischen Zeiten durchaus ähnlich. Es ist zwar kein Virus, der Europa heute in seinen politischen und gesellschaftlichen Grundfesten erschüttert. Aber es sind die großen Flucht- und Migrationsbewegungen, die zu sozialen, politischen und religiösen Verwerfungen geführt haben und immer noch führen. Die Auseinandersetzungen um die Rede von einer christlichen Leitkultur, um die Grenzen des Nationalstaates und um die Tragfähigkeit einer europäischen Zivilgesellschaft verunsichern Menschen. Die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse beruhen zwar nicht mehr wie im Mittelalter auf Standeszugehörigkeit. Aber auch heute sind erhebliche Unterschiede festzustellen – sei es aufgrund von ererbtem Vermögen, Bildung, gesellschaftlichen Privilegien oder der Zugehörigkeit zu einflussreichen Netzwerken. So empfinden sich hier und jetzt viele Menschen als systematisch benachteiligt. Sie bevorzugen die einfachen Antworten und machen Sündenböcke für ihre gegenwärtige Lage ausfindig. Damals wie heute stellt sich die Frage, wie sich Kirche inmitten dieser Verhältnisse positionieren soll. Immerhin gehört sie selbst in den Augen vieler zum Establishment. Die Reformation hat aber nicht in der Mitte einer gesicherten und zufriedenen Kirche begonnen, sondern an den Rändern. Sie hat das Gewohnte bezweifelt und die herrschenden Mächte – jedenfalls die gegnerischen – kritisch in den Blick genommen. Geht es also im Erinnern um die Besinnung auf das Eigentliche und Ursprüngliche oder um das reformierende Neuauslegen auf die Gegenwart hin? Konsequenterweise muss beides im Blick sein. Denn in den reformatorischen Einsichten finden sich viele Aspekte, die für die Situation von Kirche und Gesellschaft heute noch gelten und wieder neu zur Geltung zu bringen sind. Dies bedeutet, die Rechtfertigungslehre »als Herzstück evangelischer Theologie und Frömmigkeit … und damit als Antwort auf Fragen heutiger Menschen«49 nochmals neu zu lesen.

48 49

Rudolf Schwarz (Hg.), Calvins Lebenswerk in Briefen, Bd. 2, Neukirchen 1962, 595f. Evangelische Kirche in Deutschland, Rechtfertigung und Freiheit, a.a.O., 14.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria Den theologischen Kernbestand der Reformation machen die sogenannten vier soli aus, Es sind sozusagen vier »Kampfbegriffe«, mit denen pointiert die protestantische Position von der herrschenden kirchlichen Lehre unterschieden werden sollte: Solus Christus, allein Christus erlöst uns – und nicht Priester und Heilige; sola gratia, allein durch Gnade sind wir gerechtfertigt – und nicht durch menschliche Leistung; sola fide, allein durch den Glauben kommt uns die von Christus gewirkte Erlösung zu – und nicht durch Werke und Ablassbriefe; sola scriptura, allein die Schrift ist Grundlage unseres Glaubens und unserer Kirche – und nicht päpstliche Rundschreiben und geschichtliche Entscheidungen. In diesem Begriffsensemble wird anschaulich: Nicht der Mensch, sondern allein Gott befreit den Menschen und lässt ihn hoffen. Tatsächlich kommen diese Begriffe zwar alle in den reformatorischen Schriften vor. Aber in dieser vierfachen Zusammensetzung wurden sie erst im 20. Jahrhundert geprägt. Melanchthon schreibt zwar schon 1554 in einem Brief von »sola gratia und sola fide«.50 Aber erst 1916, zum 400-jährigen Jubiläum der Reformation, erwähnt der Lutheraner Theodore Engelder die drei Prinzipien der Reformation. Dazu fügte er das sola scriptura hinzu.51 Dies bedeutete vor dem Hintergrund der damaligen heftigen Auseinandersetzung um die Unfehlbarkeit der Bibel eine bewusste Zuspitzung. Der Zürcher Theologe Emil Brunner bezeichnet sola gratia, solus Christus und soli Deo gloria als den »Ton der biblischen und reformatorischen Botschaft«.52 So sind diese so pointierten und ins Mark der jeweiligen Diskussion treffenden Abgrenzungen auch Kinder ihrer Zeit – und beileibe nicht nur der Reformationszeit. Sie müssen vor diesem Hintergrund erläutert werden. Erst dann kann man ihre damalige Brisanz und aktuelle Relevanz nachvollziehen. Die vier soli gilt es also auf das Reformationsjubiläum hin – man könnte sagen – neu abzustauben.53 50 »Sola gratia iustificamus, et, Sola fide iustificamur.«, in: Melanchthon Opera, Corpus Reformatorum, Bd. VIII, hg. v. Karl Bretschneider / Heinrich Ernst Bindseil, Halle 1834 ff., 357. 51 Theo Engelder, The Three Principles of the Reformation: Sola Scriptura, Sola Gratia, Sola Fides (sic!), in: W.H.T. Dau, Four Hundred Years. Commemorative Essays on the Reformation of Dr. Martin Luther and Its Blessed Results, St. Louis 1916, 97–109 [https://archive.org/details/fourhundredyears00dauw]. 52 Emil Brunner, Dogmatik, Bd. III. Zürich 1960, 253. 53 Vgl. hier die Vorträge des EKD-Vorsitzenden Nikolaus Schneider und des Wiener Systematikers Ulrich H.J. Körtner am Zürcher Reformationskongress 2013, in: Petra Bosse-Huber u.a. (Hg.), 500 Jahre Reformation. Bedeutung und Herausforderungen. Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich, Zürich/Leipzig 2014 sowie etwa das Konzeptpapier der Ev.-ref. Kirche St. Gallen zur Reformation [www.ref-500.ch/sites/ default/files/projekte/reformationsjubilaum_konzept_sg_mai_2015.pdf].

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2. Reformatorische Orientierungen

So sollen sie im Folgenden in ihrem biblisch-theologischen Gehalt und mit Blick auf die gegenwärtigen wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen betrachtet werden. Diese Kernsätze stehen aber nicht alleine. Sondern sie sind mit der reformatorischtheologischen Entfaltung der Rechtfertigungslehre und dem Sündenverständnis auf das Engste verbunden. Deshalb setzen wir zunächst damit ein. So soll einerseits deutlich werden, warum dies den Reformatoren damals so wichtig war, und andererseits, wie sich diese Kernsätze heute deuten lassen. 2.2.1 Die brennende Sehnsucht nach Rechtfertigung Der Begriff »Rechtfertigung« hat in der Alltagssprache einen etwas trotzigen Beigeschmack: Eine bestimmte Tat, ein Verhalten oder eine Einstellung, sehen zwar auf den ersten Blick nicht überzeugend aus, aber es gibt gute Gründe dafür. Diese muss man allerdings explizit ausführen. Was zuerst tadelnswert scheint, wird nachträglich in das rechte Licht gestellt und ist dann ›recht‹ bzw. ›rechtens‹. In diesem Sinne hat Rechtfertigung mit der Ausweitung der Perspektiven zu tun. Nicht die Tat selber verändert sich durch die Rechtfertigung, sondern ihre Beurteilung. Wenn man deren Hintergründe und Motivation besser versteht, wird man milder über die Tat urteilen. Rechtfertigen in diesem Sinne heißt um Verständnis werben. Der Straftäter, der seine Tat mit seiner unglücklichen Kindheit rechtfertigt oder mit der krankhaften Aktivität bestimmter Hirnregionen, die Politikerin, die für ihre Vorstöße auf den Volkswillen und die Parolen der Demonstranten verweist, oder der Manager, der seinen Lohn mit dem Hinweis auf das Gesetz von Angebot und Nachfrage begründet – sie alle betrachten ihre Selbstrechtfertigung als Argumentationsweise, die die Tat erklären soll. Damit soll das eigene Verhalten für andere nachvollziehbar und gar entschuldbar erscheinen. Es ist nötig, dass sich die Person rechtfertigt, aber offenbar ist dies auch möglich. Sie kann sich und ihre Taten selber rechtfertigen. Das reformatorische Verständnis von Rechtfertigung ist demgegenüber sehr viel radikaler. Denn die Verwerflichkeit dessen, was in Frage steht, ist sehr viel radikaler und existenzieller. Was führte historisch zum damaligen Perspektivenwechsel? Der Ausgangspunkt der Rechtfertigungstheologie lag nicht nur auf der Hand, sondern buchstäblich auf der Straße. Dass der Ablasshandel, nämlich die Möglichkeit, sich oder andere von drohenden Sündenstrafen im Fegefeuer loszukaufen, so erfolgreich werden konnte, war eine Sache der Nachfrage. Offenbar gab es genügend Menschen, denen die Angst vor ewiger Strafe existenziell im Nacken saß. Die Sorge um das eigene Schicksal nach dem Tod oder dasjenige ihrer Liebsten wog schwer. Deshalb waren sie bereit, viel dafür zu investieren. Der Ablasshandel vermittelte Sicherheit. Er machte die

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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Sündenstrafen quantifizierbar und verwandelte sie in ein berechenbares System von Vergehen und Buße. Der Ablasshandel, an dem sich die Reformation entzündete, behauptete dabei gar nicht, dass die Menschen sich von ihrem Sündersein loskaufen oder sich mit Geld die Rechtfertigung erkaufen könnten. Mit den monetären oder anderweitigen Bußleistungen konnten sich die Gläubigen lediglich die zeitlichen Sündenstrafen, das heißt in diesem Fall, den Aufenthalt der Seele im Fegefeuer, verkürzen.54 Das Fegefeuer selber war schon Ausdruck der Güte Gottes, der damit dem bußfertigen Sünder die ewige Höllenstrafe ersetzte. Luther blieb gleichwohl innerlich zutiefst und höchst beunruhigt. Rückblickend schreibt er, dass er sich trotz seines untadeligen Lebens als Mönch »vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen« gefühlt habe.55 Er konnte nicht darauf vertrauen, dass er mit Gott versöhnt sei. »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« – das war die Frage, die ihn umtrieb: Wie kann ich jemals darauf hoffen, der ewigen Höllenstrafe zu entgehen, wenn ich doch immer wieder neu erfahre, dass ich seine Gebote nicht halten kann? Wie kann ich vor dem Teufel gerettet werden, wenn ich nie so leben kann, wie es mir die biblischen Texte vorschreiben? Der Lehre der Rechtfertigungstheologie also geht der feste Glaube an den strafenden Richtergott voraus. Je nachdem, wie sie ihr Leben gelebt haben, öffnet er den Menschen nach ihrem Tod entweder die Tür zum ewigen Paradies oder verdammt sie in die genauso ewige Hölle. So geht es bei der Frage nach dem gnädigen Gott buchstäblich um Leben oder Tod – und das für die Ewigkeit! Vor diesem Hintergrund sind Luthers Fragen – übrigens bis heute – brennend: Sind es meine Werke, die mich vor Gott gerecht machen? Kann ich seinem Willen überhaupt genügen? Oder bin ich von vornherein dazu verurteilt, am Anspruch der göttlichen Gerechtigkeit zu scheitern? Die Reformatoren gingen davon aus, dass der Mensch in seinem ganzen Sein, Denken und Wollen von der Sünde geprägt ist. Damit meinten sie nicht einzelne böse Taten, wie man heutzutage ›sündhaftes Verhalten‹ verengend versteht. Sondern Sünde meint, dass das gesamte menschliche Wesen »verkehrt« und seine Existenz ganz verdreht ist. Martin Luther hat dafür die einprägsame Formel des homo incurvatus in se gefunden, den in sich selbst verkrümmten Menschen.56 Diese Verkrümmung bedeutet, dass der Mensch in seinem Menschsein verdreht und verkehrt ist. Er hat damit seine Menschlichkeit buchstäblich pervertiert – und ist 54

Vgl. Volker Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016, 27. 55 Vgl. Luther, Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgaben seiner lateinischen Schriften, Wittenberg 1545, WA 54, 185, 21. 56 Vgl. ders., Scholion zu Römer 5,4, WA 56, 304, 25–29.

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2. Reformatorische Orientierungen

so fähig, anderen schlimmste Dinge anzutun. Der Mensch nimmt nur noch sich wahr – und dreht sich damit nur noch um sich selbst. Er sieht alles nur noch durch die Brille dessen, was ihm selber nützen und ihn weiterbringen könnte. Der solchermaßen verdrehte Mensch kann deswegen über sich und sein Denken und Handeln hinaus nichts Höheres mehr anerkennen. So sehen die Reformatoren die Sünde darin, dass der Mensch sich als absolute gesetzgebende Instanz setzt. Ein solcher Mensch ist sich selbst Gesetz. Es gibt für ihn keine anderen Werte als diejenigen, die er – sich – selber setzt. Es existiert für ihn nichts anderes als dasjenige, was allein er erkennen und berechnen kann. So ist die Sünde damit nicht nur Gottferne, sondern sie ist zugleich für Gottes Wirken blind. Nun ist in bestimmten Bereichen des Menschseins diese Art von Selbstbestimmung durchaus möglich, ja sogar notwendig! Naturwissenschaftliche Forschung etwa wird mit menschlichen Fähigkeiten und den entsprechenden Messinstrumenten betrieben. Die Entstehung des Kosmos oder die Entwicklung des Lebens mit rein physikalischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten zu erklären, ist ganz und gar legitim – auch wenn hier die Katholische Kirche (und nicht nur diese) zuweilen anderer Meinung war. Aber aus solchen Erklärungen kann nicht geschlossen werden, dass der Glaube lediglich eine irregeleitete religiöse Wahnvorstellung oder eine Fehlentwicklung der Evolution sei. Dies wäre keine naturwissenschaftlich gestützte Aussage mehr und zugleich Ausdruck eines eben in sich verdrehten Denkens. Es sagt natürlich keiner von sich selber, dass er ein Sünder sei. Denn um das zu sagen, müsste man ja schon an Gott glauben, also schon daran, dass der Mensch Gottes Geschöpf ist. Wo er hingegen von Gott allein gelassen werden will, ist er bereits Sünder. Und dies nicht, weil er etwa unmoralische Dinge täte. Sondern weil er seine Welt auf sich selbst zentriert und nichts darüber hinaus anerkennen will. Sünde meint also, dass der Mensch sein Wesen radikal verdreht. Luther beschreibt den Menschen in seiner einflussreichen Schrift »Vom unfreien Willen« als ein Reittier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird.57 Dies versteht er sehr konkret, wie denn der Teufel für ihn und seine Zeitgenossen ohnehin von höchst realer Präsenz war.58 Argumentiert wird also wie folgt: Der Mensch wurde von Gott frei und gut erschaffen. Aber er hat sich für den Teufel entschieden. Dieser bindet und knechtet ihn und reitet ihn geradewegs in den Tod. Heute ist der Ausdruck »vom Teufel geritten sein« nichts weiter mehr als eine Metapher, die zum Ausdruck bringt, dass einer ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das 57

Vgl. ders., Vom unfreien Willen, in: Kurt Aland, Luther Deutsch, Bd. 3, Stuttgart 1961, 196. 58 Vgl. Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, München 1986, jetzt in Neuauflage München 2016.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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nicht zu seinem Charakter passt. Reformatorisch gesprochen ist der vom Teufel Gerittene ein Getriebener. Nicht nur aufgrund einzelner Taten, sondern in seinem Wesen selber ist er »versunken in verkehrte Begierden, abgewandt vom Guten, aber geneigt zu allem Bösen, erfüllt mit aller Schlechtigkeit, Mißtrauen, Verachtung und Haß gegen Gott«,59 – so formuliert es der Nachfolger Zwinglis Heinrich Bullinger im Zweiten Helvetischen Bekenntnis. Die Konsequenz davon ist der Tod. Denn in der Fülle der menschlichen Beziehungsfähigkeit zu leben ist nur möglich, wenn der Mensch auf Gott ausgerichtet ist. Die Verkehrtheit des Menschen ist dermaßen radikal, dass Rechtfertigung mehr sein muss, als nur die Perspektive zu verändern. Es braucht eine Veränderung des Menschen selbst. Und so liegt die protestantische Radikalität gegenüber dem katholischen Ablass- und Bußverständnis genau darin, dass diese damit der Sünde des Menschen gleichsam freien Lauf lasse, so dass der Teufel ihn ganz und gar durchdringen kann. Sie verkehrt das menschliche Wesen fundamental. Der sündige Mensch mitsamt seinem Willen und seiner Vernunft ist von sich aus unfähig, seine Verkehrtheit überhaupt zu erkennen. Erst recht kann er sich nicht selber daraus retten. Denn er will dies ja gar nicht. Recht Buße tun kann ein Sünder deshalb erst, weil Gott ihm gnädig ist. Ansonsten bleibt sein Bemühen, vor Gott gerecht zu werden, nichts anderes als egoistisches Heilsinteresse. So ist und bleibt es Gnade, wenn der Mensch echte Buße tut oder, wie Martin Luther in der ersten seiner 95 Thesen schreibt: »Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ›Tut Buße‹ u.s.w. (Matth. 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.« Buße bedeutet nicht, dass man sich in eine Selbstkasteiung hineinsteigert. Sondern »gute Werke müssen geschehen mit fröhlichem Herzen und gutem Gewissen zu Gott, das ist, in der Vergebung der Schuld.«60 Luthers großes Aha-Erlebnis war es, im Römerbrief zu entdecken, dass der gerechte Gott eben nicht ein gerecht-richtender Gott ist. Gott bemisst nicht, sondern er macht gerecht und bringt den Menschen wieder zurecht. Es braucht keinerlei zeitlich begrenzten Höllenstrafen mehr. Gottes Gerechtigkeit entscheidet sich nicht wie vor Gericht in der positiven Sozialprognose. Sondern jetzt wird der Mensch wieder aufgerichtet. Wer in sich verkrümmt ist, wie Luther sagt, ist, darf wieder aufrecht stehen. Die Wiederentdeckung der Rechtfertigung als voraussetzungslose Gnade Gottes, der sich dem Menschen unmittelbar zuwendet, wurde in der damaligen Zeit als echte Befreiung aus ganz real erlebten Ängsten und Zwängen erlebt. 59 Heinrich Bullinger, Das Zweite Helvetische Bekenntnis, in: Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, Wuppertal 1985, 8. Kap., 35. 60 Luther, Sermon vom Sakrament der Buße, WA II, 715.

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2. Reformatorische Orientierungen

Aber seit der Reformation sind 500 Jahre vergangen. Die Zustimmung zu kirchlichen Glaubensinhalten nimmt auch unter durchaus kirchennahen Gläubigen ab.61 Die Angst vor Hölle und Fegefeuer, schon gar vor dem Teufel dürfte nur noch eine Minderheit umtreiben. In den Kirchen ist von einem strengen, richtenden Gott nur noch höchst selten die Rede. Erzählt wird von Gott als Freund des Lebens, der tröstend mit uns geht und dessen Vergebung wir uns gewiss sein können. In vielen Kinderbibeln wird geradezu verniedlichend vom »lieben« Gott gesprochen. Und in Predigten ist von Sünde kaum, und wenn, dann sozusagen unter Vorbehalt, die Rede. Damit läuft der christliche Glaube allerdings Gefahr, zu einer warmen und kuscheligen Wellnessreligion zu werden. Eine solche vermag die Menschen zwar noch zu trösten, aber sie fordert sie nicht mehr existenziell heraus. Die bange Frage nach einem gnädigen Gott ist nicht mehr nötig, weil dieser Gott gar nie zornig erscheint. Ist also die Botschaft der Rechtfertigung Antwort auf eine Frage, die in dieser Form niemand mehr stellt? Auch wenn wir sie im historischen Kontext in ihrer Radikalität und Brisanz sowie in ihrer Wirkungsgeschichte nachvollziehen und würdigen können – ist diese reformatorische Kernbotschaft heute noch relevant? Ist es sinnvoll, von Rechtfertigung zu sprechen, wenn nichts und niemand mehr da ist, der oder die gerechtfertigt werden müsste? Braucht es für ein klareres kirchliches Profil wieder die eindeutige Kanzelrede über die Sünde und Gnade? Es gibt zwei Möglichkeiten, darauf eine Antwort zu geben. Von konservativer Seite her wird eine neue theologische Eindeutigkeit eingefordert: Man betont dann, dass Rechtfertigung tatsächlich der Ursprungsgedanke nicht nur der Reformation, sondern des Neuen Testamentes überhaupt sei. Die postmodernen Strömungen des »alles-isterlaubt« und »Religion ist Privatsache« hätten dazu geführt, dass vom Sündersein und der Notwendigkeit einer Umkehr in der Kirche kaum mehr die Rede sei. Als Aufgabe für die Kirchen wird dann gefordert, den Menschen eindringlich vor Augen zu führen, dass sie mit dem heiligen Willen Gottes konfrontiert sind und daran nur scheitern können. Argumentiert wird folgendermaßen: Menschen könnten erst, wenn sie vom Bewusstsein des Ungenügens, mehr noch: des Schuldigseins, getroffen sind, für die frohe Botschaft der Gnade Gottes überhaupt offen werden. Damit wird – so etwa bei Benedikt XVI. – der denkbar engste Zusammenhang, ja Teufelskreis von Glaubensschwund und Verlust des Sündenbewusstseins hergestellt.62 Vor allem in evangelikalen Kreisen ist eine solche Betonung der dringlichen Umkehr charakteristisch: Populär ist die Botschaft der sogenannten »vier geistlichen Gesetze«, so wie sie 61 62

Vgl. Jörg Stolz u.a., Religion und Spiritualität, a.a.O. Katholische Internationale Presseagentur (kipa), 11.3.2010 [www.kath.ch/newsd/ papst-gegenwartskultur-schwaecht-das-suendenbewusstsein/].

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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Bill Bright, der Gründer von Campus Crusade for Christ, als die Grundwahrheiten der Bibel formuliert hatte: »The Four« prangen als Symbole auf Armbändern und Pullovern etwa von freikirchlichen Jugendlichen und stehen für: »Gott liebt mich. Ich habe gesündigt. Jesus starb für mich. Will ich mit Jesus leben?«63 Eine solche Theologie ist geprägt von der Überzeugung, dass eine entschiedene Umkehr notwendig ist. Muss in der heutigen Zeit erst wieder dieses Sündenbewusstsein geweckt werden, damit »danach« die befreiende Botschaft der Reformation wieder umso strahlender empfangen und geglaubt werden könnte? Als Besinnung auf das Wesentliche – um an Ovids »reformare« zu erinnern und damit die zweite Antwortmöglichkeit zu nennen – kann Rechtfertigung weiter gedacht werden. Deren Relevanz liegt dann nicht darin, dass sie vor 500 Jahren das Lebensgefühl der Menschen getroffen hat und wir uns deswegen sozusagen aus historischen Gründen daran zu orientieren haben. Die Rechtfertigungsbotschaft kann folglich als Antwort nicht nur auf die Ängste der Menschen des 16. Jahrhunderts, sondern auch im heutigen säkularisierten Europa gehört und verstanden werden. Es stehen zwar nicht mehr dieselben Ängste, etwa um das ewige Leben oder vor einem zornigen Gott, im Mittelpunkt. Was heute zu denken geben muss, ist die Angst im gegenwärtigen Leben hier und jetzt: Die Furcht vor dem Anderen; davor, das Erreichte wieder zu verlieren; vor der eigenen Zukunft. Was heute Menschen unfrei sein und werden lässt, ist nicht mehr eine allmächtige Kirche. Sondern sündig sind allmächtige Ideologien und zerstörerische Strukturen – geprägt vom in sich verdrehten Menschen. Hier eröffnet die Perspektive auf den aufrichtenden Gott neue Hoffnung: Hab keine Angst, Mensch, Du kannst nicht tiefer fallen als in die Hand Gottes. Diese Zusage kann nicht durch eigene moralische Leistung verdient werden. So ist es eigentlich ein fünftes – oder erstes – Solus, das alle Gedanken zur Rechtfertigung überstrahlt: solus Deus. Gott allein ist es, dem der Mensch vertrauen kann und vertrauen darf. Und es ist für den Christen und die Christin eine bleibende Aufgabe zu verstehen, worauf Rechtfertigung heute abzielt: Wo und wie ermöglicht es Gott dem Menschen, sich von lebensfeindlichen Strukturen frei zu wissen und frei zu machen – und dabei zugleich mit den Leidenden solidarisch zu werden. Re-formare bedeutet, die reformatorischen Wiederentdeckungen je für sich – und zugleich mit hoffnungsvollem Blick auf den gnädigen Gott – so zu bedenken, dass sie für das eigene Leben wirklich in neuer Weise relevant werden.64 63 64

Siehe www.campus-d.de/. Vgl. dazu z.B. Jörg Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma, Leipzig 2008.

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2. Reformatorische Orientierungen

2.2.2 Solus Christus – das Kreuz mit dem Kreuz Für die göttliche Tat der Rechtfertigung des verdrehten Menschen, so betonen es die Reformatoren, hat Gott einen entscheidenden Weg gewählt: Jesus Christus als das menschgewordene Wort Gottes – geboren, gestorben, und auferstanden. Christus wurde Mensch, um »die Wolke der menschlichen Ungerechtigkeit« aufzulösen.65 Diese kann im Verständnis der Reformatoren nicht einfach vergeben und weggewischt werden. Die Argumentation verläuft hier folgendermaßen: Die Menschen können nur von ihrer Sünde freiwerden, wenn sich dafür jemand anders dem Teufel ausliefert, und stellvertretend die menschliche Todesverfallenheit übernimmt.66 Und dies kann kein Mensch leisten. Denn er gehört ja schon ganz und gar dem Teufel und hat genug an seiner eigenen Sünde zu tragen. Deshalb kann er nicht noch zusätzlich die eines anderen auf sich nehmen. Auch Gott kann diese Verkehrtheit nicht übernehmen. Denn sie widerspräche seiner Heiligkeit. Er selbst kann sich jedenfalls dem Teufel nicht ausliefern. Es muss also jemand sein, der sowohl Mensch ist als auch Gott – jemand, der diese gottwidrige Verkehrtheit übernehmen und tragen kann, ja sie zu tilgen vermag. Es muss einer sein, der sowohl schuldfähig wie gleichzeitig ganz und gar unschuldig ist: Der Tod Jesu ist also die notwendige rechtliche Genugtuung (lat. satisfactio). Hier teilten die Reformatoren die mittelalterliche, so genannte Satisfaktionslehre, wie sie z.B. von Anselm von Canterbury ausgearbeitet wurde.67 Der Gottmensch Jesus Christus ist also das einzige satisfaktionsfähige Subjekt in dieser Auseinandersetzung zwischen der Heiligkeit Gottes und der Sündhaftigkeit des Menschen. Weil Jesus Christus, sündig gesprochen, aber selber sündlos, am Kreuz den Tod des Verdammten stirbt, ist die Sünde wirklich aus der Welt geschafft. Allein Christus – und damit Gott selber – ist fähig, dies zu leisten. Er allein ist der Weg, der der Ernsthaftigkeit der Sünde Rechnung trägt und trotzdem den Menschen mit Gott versöhnen kann. Und indem Gott ihn auferweckt hat, ist die Macht der Sünde und des Todes endgültig gebrochen. Eine solche Sichtweise stößt heutzutage wohl mehrheitlich auf erhebliches Unverständnis. Wir können mit solchen mythischen Erzählungen von Teufel und Todesverfallenheit nicht mehr viel anfangen. Sondern 65 66

Calvin, Institutio, II, 12,1. Eine sehr anschauliche Nacherzählung im Stil einer Fantasy-Geschichte hat C.S. Lewis in seinen Narnia-Chroniken so packend formuliert, dass diese auch zum Kinofilm wurde (The Chronicles of Narnia: The Lion, the Witch and the Wardrobe, dt: Die Chroniken von Narnia: Der König von Narnia, 2005). 67 Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo. Lateinisch und deutsch. Warum Gott Mensch geworden, München 1993.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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wir wollen verstehen: Was ist das für eine Vorstellung von Sünde, dass sie nicht einfach vergeben werden kann, sondern blutig gesühnt werden muss? Die Idee, dass der Mensch von Geburt an sündig sein soll, erbsündig sozusagen, klingt in unseren Ohren widersinnig: Dies passt doch alles nicht zu einem Gott der Liebe. Hinzu kommt, dass in der Geschichte der Kirche oft sehr unkritisch die demütige Opferhaltung Jesu als Vorbild für alle Christen und vor allem für alle Christinnen propagiert wurde. Vor allem Vertreterinnen der feministischen Theologie haben aufgearbeitet, wie und wo mit der Glorifizierung des Opfertodes Jesu die Opferhaltung generell glorifiziert wurde – und dies häufig auf Kosten der Frauen.68 Es ist zwar – weiß Gott – nicht so, dass das Böse und Teuflische aus der Welt verschwunden wäre. Und so fragen schon Kinder in geradezu theologischem Sinn intensiv: Warum gibt es so viel Böses in der Welt? Und woher kommt die Kraft, das Gute zu tun? Das reformatorische Verständnis von Sünde und Erlösung scheint uns den Zugang zu dieser Tradition zu versperren. Muss man nicht dringend nach neuen, fruchtbareren Deutungsmöglichkeiten suchen? Wir erfahren zwar das Böse und Lebensfeindliche in der Welt und leiden daran. Aber man will wissen, wer schuld daran ist, wenn Leiden erfahren wird. Der Gedanke einer Sünde, die stellvertretend durch ein Opfer an den Teufel beseitigt werden müsste, erscheint heute als überkommenes Element einer mittelalterlichen und magischen Weltanschauung. Vor dem Hintergrund viel beachteter Experimente der Neurophilosophie wird Empathiefähigkeit, moralisches Denken und verantwortungsbewusstes Handeln heute gerne in bestimmten Gehirnregionen verortet und ein entsprechendes Fehlverhalten pathologisch gedeutet.69 Schuld und Sünde werden dann nicht ›da draußen‹, sondern in unserer biologischen Natur verankert. Moralisches Fehlverhalten wird als krankhafte Abweichung von der Normalität verstanden, für die wir keine Verantwortung tragen. Sünde ist so kein eigenes ›Etwas‹ mehr, das durch die Erlösungstat eines anderen aus der Welt geschafft werden müsste. Und doch lässt sich die sündentheologische Kritik am ichbezogenen Menschen und seiner selbstbezogenen Verkrümmtheit aktuell reformulieren. So schreibt die schottische Philosophin Iris Murdoch als Atheistin von einem »fetten, erbarmungslosen Ich«,70 welches alle Wahrnehmungen und alle Beziehungen des Menschen einfärbt und ihn unfähig macht, den Anderen wirklich zu sehen. Als Heilmittel schlägt sie vor, 68 69

Vgl. Hans Jürgen Luibl / Sabine Scheuter (Hg.), Verschenktes Leben, Zürich 2001. Vgl. dazu z.B. Joshua D. Greene, From neural ›is‹ to moral ›ought‹: what are the moral implications of neuroscientific moral psychology?, in: Nature Reviews Neuroscience 4 / Oct 2003, 847–850; Gerhard Roth, Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung, Berliner theologische Zeitschrift, Beiheft 2005, 37–52. 70 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, London / New York 1970.

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2. Reformatorische Orientierungen

mittels Geschichten in die Haut anderer zu schlüpfen und das eigene Ich für die Perspektive anderer durchlässig zu machen – sozusagen für die Länge eines Romans »in den Mokassins eines anderen« zu gehen. Alle, die schon einmal etwa mit einer Film- oder Romanfigur mitgefiebert, mitgelacht und mitgelitten haben, können nachvollziehen, dass man hinterher die Welt mit anderen Augen sieht. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum wiederum sieht das Heilmittel in einem »Wissen aus Liebe«, das uns fähig macht, unsere eigene Voreingenommenheit zu durchbrechen.71 Ob ich dem Nachbarn mit einer misstrauischen oder einer offenen Einstellung begegne, färbt und formt unsere Beziehung entsprechend. Murdoch und Nussbaum gehen also davon aus, dass der Mensch selber in der Lage ist, seine eigene Verkrümmtheit zu beheben. Mit dieser modernen Denkfigur teilen sie nicht nur die Überzeugung vieler Menschen, sondern knüpfen auch an aufgeklärte Gedanken an: Schon für Immanuel Kant sollte das fortwährende und authentische Streben nach moralischer Lebensführung Gott dazu bewegen, dem tapferen Menschen die Seligkeit zu schenken.72 Und in den Worten Goethes heißt dies, »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.«73 Dies dürfte für die im modernen Leistungsdenken erzogenen Christinnen und Christen plausibler sein als der reformatorische Rechtfertigungsgedanke allein aus Gnade. Untergräbt es nicht die gesamte Moral, wenn wir von Gott ganz ohne unser Zutun erlöst werden? Wenn man sich auf ein Geschehen bezieht, das ganz außerhalb von uns stattfindet? Und wird nicht das Ganze noch fraglicher, wenn dieses »außerhalb« so ausschließlich an diese eine Person Jesus Christus geknüpft sein soll? So und ähnlich jedenfalls lauten die Anfragen einer modernen Christenheit an dieses traditionelle Erbe. Zudem scheut man im interreligiösen Dialog und im Gespräch mit der säkularen Welt Exklusivitätsansprüche: Natürlich kommen, so heißt es dann, nicht nur Christinnen und Christen – um es metaphorisch zu wenden – in den Himmel. Und schon gar nicht sind nur Christusgläubige fähig dazu, moralisch hochstehend zu handeln. Wie können wir heute vom solus Christus so sprechen, dass dies den Menschen die fundamentale Erfahrung von Gut und Böse nicht versperrt, sondern erschließt? Dafür ist daran zu erinnern, dass dieses solus – wie die anderen drei – nicht für sich selber steht. Es ist ein wesentliches Kernelement, um den Gedanken der Rechtfertigung konkret werden zu lassen. Der Glaube, dass Gott den Menschen von sich aus anredet, ja, 71

Martha Nussbaum (Ed.), Love's knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York 1990. 72 Vgl. Kant, a.a.O., 16. 73 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, V, Engelchor.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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ihn zu sich zurückruft, ist bereits in den überlieferten Erfahrungen der biblischen Autoren verankert. Dafür finden sich alttestamentlich verschiedene Bilder: der Bund Gottes mit den Menschen unter dem Regenbogen, das Herausführen der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft, die Offenbarung Gottes am Sinai, die Könige, welche ihr Volk immer wieder weise und in Frieden geführt haben, Hosea, der seine untreue Frau nicht verlässt. Das Neue Testament hat dafür nur ein Bild: Jesus Christus, der das kommende Reich Gottes verkündigt. Der hilflos am Kreuz den Tod eines Verbrechers stirbt. Und von dem Christinnen und Christen glauben, dass er als Person und in seiner Botschaft wahrhaftig auferstanden ist. Nun finden sich schon im Neuen Testament ganz unterschiedliche Interpretationen des historisch kaum zu bezweifelnden Lebens und Sterbens Jesu. Dass er mit seinem Blut den Sünder losgekauft habe, ist nur ein mögliches biblisches Verständnis. Das Johannesevangelium versteht Jesu Tod vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Passalamms oder fasst dies ins Bild des guten Hirten, der für die anderen aus Liebe sein Leben lässt. Und für Paulus entlarven sich am Kreuz menschliches Recht und menschliche Weisheit als zutiefst widergöttlich.74 Diese Vielfalt war natürlich auch den reformatorischen Theologen schon bewusst. Und so haben sie gleichsam ›vom Zentrum‹ aus argumentiert: Inmitten all dieser neutestamentlichen Vielfalt steht Jesus Christus als der von Gott Gerechtfertigte, der die Verhältnisse der Welt auf den Kopf stellt. Gott hat denjenigen, der als Verbrecher gekreuzigt wurde, erhöht. Und nun zeigen sich tatsächlich Verbindungslinien dieses solus Christus in die aktuelle Gegenwart: Denn damit spiegelt sich im Kreuzesgeschehen die ultimative Solidarität mit den Leidenden und den Außenseitern, bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens wider. Gott ist nicht zuerst mit bei den Angesehenen und Hochwertigen, sondern mit den Verletzten und Verachteten. Es sind nicht die erfolgreichen und leistungsstarken Mitglieder der Gesellschaft, die hier die Nähe Gottes erleben. Sondern es sind zunächst und vor allem die Armen und Beladenen. In dieser Wahrnehmung steht das Kreuz Christi nicht mehr für ein blutiges Sühneopfer. Sondern in den Blick kommt jetzt der leidende Christus. Wie ein Brennglas fokussiert der Kreuzestod damit auf das Leiden. Die Rede von den zwei Naturen Jesu Christi symbolisiert dann: Hier leidet nicht nur der Mensch, hier ist Gott, im realen Leben und bei den real Leidenden. Die Botschaft von Kreuz und Auferstehung gewinnt damit konkrete lebensverändernde Kraft. Damit wird es für den Christenmenschen unmöglich, das Leiden von Menschen zu ignorieren. Von dort her 74

Vgl. dazu Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi, Gütersloh 2015.

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2. Reformatorische Orientierungen

könnte es auch viel Sinn machen, die gegenwärtigen Bestandsaufnahmen der kirchlichen Situation nicht unter schmissige Titel wie »Das Kreuz mit der Kirche« zu stellen, sondern viel eher endlich wieder von »der Kirche mit dem Kreuz« zu sprechen. Die von Katholikinnen und Katholiken ausgehende Befreiungstheologie Südamerikas hat diese Option Gottes für die Armen prominent ins Bewusstsein der Kirchen gebracht. Die feministische Theologie entdeckte den Kontext und die konkrete und geschlechtliche Körperlichkeit als unverzichtbare Elemente des theologischen Denkens. Solus Christus heißt in diesem Sinne: Nicht philosophische Gedankenspielereien, nicht kirchliche oder politische Hierarchien zeigen die Wahrheit schonungslos auf. Sondern allein der leidende und auferstandene Christus verkörpert die unbedingte und bedingungslose Zuwendung Gottes zum Menschen in seiner unbeschönigten Menschlichkeit. Alleine diese Zuwendung ermöglicht es dem Menschen, von sich abzusehen und sich anderen zuzuwenden: »Wo Gott erkannt wird, wird auch Menschlichkeit gepflegt; wo aber die Menschen sich gegenseitig unterdrücken und betrügen, da kann man daraus schließen, dass die Gottesfurcht erloschen ist.«75 So können Christinnen und Christen am reformatorischen solus Christus festhalten, ohne dass sie zwingend an einen Buchhaltergott und das Abwaschen der Sünden mit Blut glauben müssen. Sie bekennen damit, dass sie das Leiden und den Schmerz nicht ausblenden, sondern in der Menschwerdung Gottes aufgehoben wissen. Sie bekennen damit, dass sie ihr Christsein nicht für sich selber leben, sondern sich den Schwachen und Ausgestoßenen an den Rändern der Gesellschaft verpflichtet wissen. Solus Christus heißt: Gott hat seine Zuwendung zum Menschen nicht im Erfolg und in der Stärke offenbart, sondern in der Krippe und am Kreuz. 2.2.3 Sola gratia – bedingungslos »Allein aus Gnade« bedeutet für Luther und alle Reformatoren: Bei der Rechtfertigung handelt es sich um das alleinige Werk Gottes. Der Mensch kann von sich aus überhaupt nichts zu seinem Heil beitragen. Sowohl zur Rechtfertigung wie auch zum Glauben an diese Rechtfertigung kommt der Mensch allein aus voraussetzungsloser Gnade. Schon die Einsicht, Rechtfertigung nötig zu haben, ist ein Werk der Gnade Gottes. Diese Neuentdeckung dürfte zur Reformationszeit tatsächlich als existenzielle Befreiung empfunden worden sein. Denn die Menschen 75

So Calvins Auslegung von Jer 22,16, in: Calvin, Auslegung des Propheten Jeremia, übers. v. Ernst Kochs, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift N.R. 8, Neukirchen 1938, 332.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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im 16. Jahrhundert fanden sich in einer Glaubenstradition vor, zu der es keine – jedenfalls keine öffentlich und ungestraft lebbare – eigenständige Meinung zu äußern gab. Gott hatte die Welt erschaffen und regierte sie. Man hatte nach dessen Willen zu leben, das war unhinterfragbar.76 Die Gläubigen waren sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit vor Gott, eben ihrer Sündhaftigkeit, bewusst. Zudem war vor dem Hintergrund heftiger außen- wie innenpolitischer Auseinandersetzungen die Beschäftigung mit der irdischen Vergänglichkeit und dem Leben nach dem Tod für die Menschen in dieser Zeit so präsent wie kaum je zuvor und danach.77 Dies wird sichtbar in der Malerei und der Literatur dieser Zeit. So sind in den Gemälden von Hieronymus Bosch die Höllenqualen, die auf den Menschen nach seinem Tod warten, farbig und sehr bedrängend ausgemalt. Alptraumartig sieht man da die verlorenen Seelen, wie sie von Teufeln und Dämonen gefressen, gestochen, gefoltert werden. Auf der anderen Seite genießen die Frommen – übrigens wesentlich farbloser – die Seligkeit des Himmels. Um diesen drohenden Gefahren zu entgehen, suchten die Menschen Hilfe und Trost bei der Mutter Gottes, den Heiligen und in Wallfahrten. Diese Voraussetzungen bildeten einen fruchtbaren Hintergrund für die reformatorische Botschaft. Die Menschen sind den kirchlichen wie weltlichen Herrschern ausgeliefert, der Tod ist allgegenwärtig, und Hölle und Teufel sind eine äußerst bedrohliche Realität. Zwar versuchten die mittelalterlichen Menschen im Ablasshandel ihre Zukunft nach dem Tod aktiv zu beeinflussen. Angesichts ihrer Ohnmacht im Leben hatten sie damit wenigstens eine gewisse Möglichkeit, ihr Schicksal in der Ewigkeit zu verbessern. Dafür waren sie aber abhängig von den Bedingungen der kirchlichen Autoritäten. Ihnen wurde vorgeschrieben, was sie zu tun und zu bezahlen hatten. Diese Aktivität war nicht selbstbestimmt. Sie war vielmehr Reaktion auf die erdrückende Gewissheit, dass am Ende des Lebens im besten Falle das zeitlich begrenzte Fegefeuer, im schlimmsten Falle die Hölle auf sie wartete. Deshalb nun wohl das Gefühl einer ungeheuren Befreiung, wenn verkündigt wird: »Allein aus Gnade« heißt pures Empfangen, ohne Bedingungen, ohne Kriterien, ohne Vermittlung. So betont Zwingli gleich zu Anfang seiner 67 Thesen, mit denen er 1523 beim Zürcher Rat für den neuen Glauben wirbt, als Zusammenfassung des Evangeliums, »dass unser Herr Christus Jesus, wahrer Gottes Sohn, uns den Willen seines himmlischen Vaters kundgetan und mit seiner Unschuld vom Tod erlöst und Gott versöhnt habe.78 76

Vgl. Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 2012; Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012. 77 Vgl. Schilling, Martin Luther, a.a.O., 51ff. 78 Vgl. Zwingli, Die 67 Artikel Zwinglis, Sämtliche Werke, Bd. 1, 458–465.

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2. Reformatorische Orientierungen

Die Gnade besteht in der Vergangenheitsform dieses Satzes: Christus hat erlöst und versöhnt. Damit ist alles getan, es ist nichts mehr für den Menschen zu tun nötig. Und er kann es gar nicht. »Die Menschen in ihrer Überheblichkeit sind wie die umherspringenden Frösche; aber sie können nicht so weit springen, als dass sie Gott zu verletzen vermöchten. Sie wollen ihre Flügel ausbreiten, aber sie sind nur wie große Schnecken.«79 Darin besteht auch der tiefe Sinn der sogenannten Prädestinationslehre. Für diese steht vor allem Johannes Calvin. Demzufolge hat Gott vor allen Zeiten beschlossen, welche Menschen in den Himmel und welche in die Hölle kommen sollen: »Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem (…) Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet.«80 Das ist schwer zu schlucken. Aber Calvin versucht nichts anderes, als mit der reinen Gnade Gottes ernst zu machen. Vor allem im Alten Testament liest er, dass aus allen Völkern der Welt ein Volk von Gott erwählt ist: Israel. Und selbst unter den Angehörigen dieses Volkes werden die einen erwählt: Abel, Isaak, Jakob, David – und die anderen verworfen: Kain, Ismael, Esau, Saul.81 So hat Gott von Ewigkeit her die einen Menschen als seine Kinder erwählt – und andere nicht. Für Calvin kommt erst vor diesem Hintergrund richtig zur Geltung, dass Gottes Gnade an keine Gesetze gebunden ist – erst recht nicht an die Gesetze einer menschlich gedachten Gerechtigkeit. Dasselbe findet er auch bei Paulus: »So ist auch in der heutigen Zeit ein Rest geblieben, der erwählt ist durch Gnade. Wenn aber durch Gnade, dann nicht mehr aufgrund eigenen Tuns, da die Gnade sonst nicht mehr Gnade wäre« (Röm 11,5f). Diese freie Gnade manifestiert sich in Christus. Sie ist darin begründet, dass Gott dem Menschen schlichtweg barmherzig begegnet. Dafür spielt es keine Rolle, ob der Mensch würdig oder unwürdig ist. Für Calvin führt dies eben zur so genannten doppelten Prädestination: Die einen Menschen sind von Gott zum Glauben und zum Heil bestimmt, die anderen Menschen zum Unglauben und zum Unheil: »Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu.«82 Nur so wird wirk79

So Calvin in seiner Auslegung zu Psalm 119, zit. nach Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. von Eberhard Busch u.a., NeukirchenVluyn 2008, 32. 80 Ders., Institutio III, 21,5. 81 Vgl. ders., Institutio II, 21, 5–6. 82 Ders., Institutio, II, 21, 7.

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lich erkannt: Gott handelt aus reiner Gnade und teilt nicht etwa doch den Lohn für ein gottgefälliges Leben aus. Diese göttliche Erwählung zeigt sich für Calvin nicht zuletzt im persönlichen Wohlergehen und in wirtschaftlichem Erfolg. Nach seiner Vorstellung steht der arbeitende Mensch Gott am nächsten. Betteln hingegen ist Sünde, Armut gilt als Schande: Aber ist es nicht sündhaft, reich zu sein. Sondern in Sünde fällt nur, wer sich auf seinem Vermögen ausruht und es zur Befriedigung eigener Begierden missbraucht. Bekanntermaßen lieferte diese theologische Einschätzung die Grundlage für das, was Max Weber als spezifisch protestantisches Arbeitsethos und Tugend des modernen Berufsmenschen herausarbeitete: Um sich der Gnade immer wieder zu versichern, habe sich von der calvinistischen Erwählungslehre aus der ungeheure Wille zur Arbeit und asketischer Konsumverzicht kulturell etabliert.83 Diese reformatorische Gnadenlehre erscheint dem postmodern-nachaufklärerischen Menschen vermutlich als Weltanschauung von einem anderen Stern. Schon allein der Begriff ›Gnade‹ ist jedenfalls meilenweit vom zeitgenössischen Sprachgebrauch entfernt. Unter Gnade wird heute eher die Befreiung von der Leistungsgesellschaft verstanden.84 Längst hat der Mensch gelernt, sich als unbeschränkt freies und handlungskompetentes Wesen zu verstehen. Die Fähigkeit zur Autonomie definiert seit der Aufklärung geradezu das Menschsein. Und tatsächlich ist das gegenwärtige Leben ja durch eine unüberschaubare Fülle von Wahlmöglichkeiten geprägt, die die eigene Lebensführung ohne Frage erheblich erleichtern. Dies erhöht aber auch die Spannungen. Heute ist es nicht mehr nur eine Kirche oder eine Religion, die sich exklusiv anbietet. Sondern heute ist der Mensch geradezu gezwungen, aus einer Vielfalt von Angeboten die eigene Glaubensüberzeugung auszuwählen. Der Religionssoziologe Peter Berger nennt dies den »Zwang zur Häresie«. Dies meint nicht, dass man zur Ketzerei gezwungen sei. Sondern weil es so viele religiöse und nichtreligiöse Weltanschauungsangebote auf dem Markt gibt, ist man gezwungen, sich für eines zu entscheiden und somit die anderen auszuschließen.85 Damit sind die Menschen von passiven Empfängern kirchlicher Lehre zu aktiven Gestaltern der eigenen Religiosität geworden. Jeder und jede allein entscheidet im Wesentlichen selbst darüber, was er und sie glauben kann und glauben will. Ja, am Ende macht man sich 83

Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, Schriften 1904–1920, Tübingen 2016. 84 So z.B. in der Schrift der EKD, Rechtfertigung und Freiheit, a.a.O., 65ff. 85 Vgl. Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Welt, Frankfurt/M. 1980.

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2. Reformatorische Orientierungen

sogar seine Kirche selbst, wie sich etwa daran zeigt, dass inzwischen auch kirchliche Ritualangebote zur unbegrenzten Spielfläche werden. Ist der Glaube an die göttliche Offenbarung inzwischen nur noch religiöse Geschmacksfrage? Jeder entscheidet für sich, wohin er seinen Blick richtet und für sich Transzendentes findet. All dies macht es schwer, ein reines gnädiges ›Geschehenlassen‹, ja sogar eine positiv verstandene Abhängigkeit von Gottes Barmherzigkeit, als befreiend zu verstehen. Dann aber wird die Radikalität verkannt, mit der die Reformatoren nicht nur Gnade und Sünde, sondern vor allem die große Differenz zwischen Gott und dem Menschen verstanden haben. Allein aus Gnade – das hieß für sie, dass sie sich Gott ganz und gar auslieferten. Alles Menschliche musste – durfte – sozusagen draußen bleiben. Allein aus Gnade heißt: Jetzt spricht Gott, und nur Gott. Calvins Bestreben ist es zum einen, diese absolute Göttlichkeit Gottes zu bewahren vor einem Gottesbild, das Gott sozusagen auf seine Milde festlegt. So dürfte er nichts anderes mehr sein. Wunderbar ausgedrückt ist ein solches Gottesverständnis in einem Ausspruch, der dem sterbenden Heinrich Heine in den Mund gelegt wird: »Seine Frau betete an seiner Seite zu Gott, er möge ihrem Mann vergeben. Darauf Heine: Keine Angst, meine Liebe, er wird mir vergeben; das ist sein Beruf.«86 Das andere Anliegen Calvins ist seelsorgerlicher Art: »Wir werden nie und nimmer so klar, wie es sein sollte, zu der Überzeugung gelangen, dass unser Heil aus dem Brunnquell der unverdienten Barmherzigkeit Gottes herfliesst, ehe uns nicht Gottes ewige Erwählung kundgeworden ist.«87 Um dieser unerschütterlichen Gewissheit willen muss jegliche Einwirkung des Menschen auf sein Heil ausgeschlossen sein. Weder muss er dafür gute Werke tun, noch muss er dafür genug Glauben haben. Er muss nicht einmal wissen, was richtig und falsch ist – alles ist von Ewigkeit her in der Hand Gottes. Damit ist quasi der paradiesische Zustand wieder hergestellt, bevor die Menschen von der Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse gekostet haben. Es ist nicht mehr der Mensch, der zwischen Gut und Böse unterscheiden muss, sondern die ungetrübte Beziehung zu Gott ist so wieder hergestellt, dass diese Kategorien ihre Bedeutung verlieren. Die guten Werke hingegen verlieren bei Calvin nicht ihre Bedeutung. Dies hat er mit seiner Betonung der bleibenden Bedeutung des Gesetzes für Christinnen und Christen hinlänglich klargestellt. Dieses ist nicht dazu da, die Rechtfertigung zu erlangen. Sondern es dient dazu, um aus Dankbarkeit und lebendigem Glauben sein Christsein zu leben. So heißt es im Zweiten Helvetischen Bekenntnis: »Obwohl wir also mit dem 86

Michael Werner (Hg.), Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen, Hamburg 1973, Bd. 2, 492. 87 Calvin, Institutio III, 21,1.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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Apostel Paulus lehren, dass der Mensch ganz umsonst durch den Glauben an Christus gerechtfertigt werde und nicht durch irgendwelche guten Werke, wollten wir deswegen doch gute Werke nicht gering schätzen oder verwerfen, da wir wissen, dass der Mensch weder dazu erschaffen noch durch den Glauben wiedergeboren sei, damit er müssig gehe, sondern vielmehr unaufhörlich tue, was gut und nützlich ist.«88 Aber all dies kann nur unter der Voraussetzung geschehen, dass Gott den sündigen Menschen in seiner ganz und gar unverfügbaren Gnade mit sich versöhnt, dass er ihn zum lebendigen Glauben und gottgemäßen Leben allererst aufrichtet. Aber was heißt denn nun Glauben? Bedeutet es ›nicht genau wissen‹? Oder gar ›entgegen den wissenschaftlichen Tatsachen daran festhalten‹, wie einige Atheisten gerne spotten?89 Prüfen wir, welche Antworten uns die Reformatoren anbieten: 2.2.4 Sola fide – nur zu glauben Glaube ist zunächst einmal nicht einfach ein Fürwahrhalten und ein Abnicken dessen, was in der Bibel steht, sondern um einiges vielschichtiger. Er ist weder ein Wissen noch ein Nichtwissen, sondern eine Lebenshaltung der Gewissheit und der Hoffnung. Um zu verstehen, welche Bedeutung die Reformatoren diesem »sola fide« beimaßen, ist eine kurze historische Orientierung hilfreich: Im Griechischen steht dafür das Wort pistis. Dieses bedeutete zunächst dasjenige, was Vertrauen und Glauben allererst hervorruft: die Treue und Zuverlässigkeit, das Versprechen oder der Beweis. So bezeichnet die Septuaginta, die erste griechische (und vorchristliche) Übersetzung des Alten Testamentes, mit pistis bzw. dem Adjektiv pistos die Treue und Verlässlichkeit Gottes im Bund mit Israel.90 Das Wort wird aber auch für die Menschen verwendet, die diesen Bund einhalten und dies praktisch in ihrer Lebensweise umsetzen. So ist ein pistos jemand, der die Gebote Gottes befolgt.91 In der Zeit des hellenistischen Judentums versuchten Autoren wie Philo und Flavius Josephus, ihre Religion an die griechische Philosophie an88

Bullinger, Zweites Helvetisches Bekenntnis, a.a.O., 16. Kap., Der Glaube; die guten Werke und ihr Lohn; das »Verdienst« des Menschen, a.a.O., 178. 89 So befragte 1914 der amerikanische Psychologe James H. Leuba 1000 zufällig ausgewählte Wissenschaftler nach ihrem Glauben und fand, dass die Mehrheit davon nicht an Gott glaubte. Er schrieb dieses Resultat dem »höherem Wissen und der grösseren Erfahrung« dieser Wissenschaftler zu. Vgl. Edward J. Larson / Larry Witham, Leading Scientists still reject God, in: Nature 394, 23. July 1998, 313. 90 So z.B. in Dtn 7,9 »So sollst du erkennen, dass der Herr, dein Gott, Gott ist, der treue Gott, der den Bund hält und die Gnade bewahrt denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, bis zur tausendsten Generation.« 91 So z.B. in 1Sam 22,14 »Wer von allen deinen Dienern ist wie David, treu, Schwiegersohn des Königs, mit Zugang zu deiner Leibwache und geehrt in deinem Haus?«

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2. Reformatorische Orientierungen

schlussfähig zu machen. So war ihnen wichtig, dass der Glaube an Gott auf seine Zuverlässigkeit hin befragt werden kann. Dafür fragt man nach seinen Voraussetzungen: Worauf bezieht er sich, was sind seine Grundlagen, wie vertrauenswürdig sind seine Zeugen? Aussagen über die rechte Meinung von Gott und das Vertrauen zu Gott werden nebeneinandergestellt:92 Der Glaube wird lehr- und lernbar. Die theologische Dogmatik unterschied später zwischen dem Glauben an die Glaubensinhalte, wie sie sich im Glaubensbekenntnis und in den Katechismen formulieren lassen (fides quae), und dem Glauben, in und mit dem der Mensch glaubt (fides qua) und der ihn in dieses verlässliche und vertraute Gottesverhältnis hineingestellt sein lässt. Mit der Reformation kommt es nun tatsächlich zu einem Individualisierungsschub des Glaubensverständnisses: Regulierungen des kanonischen Rechts werden »für null und nichtig erklärt und allein der vertrauendglaubenden Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott [wird] eine religiöse Bedeutung zuerkannt.«93 Für die Reformatoren bedeutete die starke Betonung der eigenen Glaubensentscheidung aber mitnichten, dass jeder nach seinem Belieben glauben können sollte. Vielmehr sollte der einzelne Gläubige eigenverantwortet sein Glaubensleben am Evangelium ausrichten. Jeder Christ kann und soll selbst beurteilen, ob eine Lehre dem Evangelium entspricht, und jede Christin kann die frohe Botschaft in Wort und Sakrament verkündigen. Zur Orientierung sind jedenfalls keine priesterlichen Vermittlungsinstanzen mehr notwendig. Dies setzt voraus, dass Christinnen und Christen selber die biblischen Texte lesen, selber verstehen und selber denken. Deswegen haben Luther und Zwingli die Bibel ins Deutsche übersetzt. Und deshalb wurden neue Bekenntnisse und Katechismen formuliert. Bildung wurde aus Glaubensgründen zum zentralen Anliegen der Reformatoren und ihrer Nachfolger.94 Wobei auch in allen Bildungsprozessen gilt, wie Luther in seinem Kleinen Katechismus zum dritten Glaubensartikel festhält: »Dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann.«95 Der Heidelberger Katechismus macht – wie alle anderen Katechismen – klar, dass fides qua, der Glaube als Haltung, und fides quae, der Glaube als Glaubensinhalt, zusammengehören: »Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?«96 Dieser Trost ist aus reformatorischer Sicht nicht zu haben, ohne zu wissen, woher er kommt: »Dass ich mit Leib 92

Vgl. Art. pistis, in: Lothar Coenen (Hg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, Bd. 1, Wuppertal 41986, 568. 93 Kaufmann, Erlöste und Verdammte, a.a.O., 124. 94 Vgl. Friedrich Schweitzer, Das Bildungserbe der Reformation. Bleibender Gehalt – Herausforderungen – Zukunftsperspektiven, Gütersloh 2016. 95 Luther, Kleiner Katechismus. 96 So die erste Frage des Heidelberger Katechismus.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin. Nur die Anbindung an Jesus Christus macht mich getrost.« Dass der Mensch im Glauben »nicht mein eigen« ist, bildet das Grundbekenntnis des reformatorischen »allein aus Glaube«. Diese reformatorischen Einsichten sind für die Beschreibung gegenwärtigen mitteleuropäischen Glaubenslebens von orientierender Kraft. Die englische Religionssoziologin Grace Davie hat 1994 das Schlagwort des ›believing without belonging‹ geprägt. Damit bezeichnet sie das Phänomen, dass zwar in England und Europa generell die Kirchenmitgliedschaft abnimmt, nicht aber der religiöse Glaube.97 Offenbar findet nach wie vor eine Suche nach dem eigenen Glauben statt. Allerdings glauben immer mehr Menschen ›etwas‹, ohne dass sie auf eine verbindliche Gemeinschaft verpflichtet werden wollen. Das »selber denken«98 bzw. »selber glauben« gerät offenbar in einen Konflikt mit einer kirchlichen Anbindung. Dies gilt auch dann, wenn die Kirche – wie in der Schweiz – nicht mit einer Verpflichtung auf ein Bekenntnis einhergeht. Die aktuellen religionssoziologischen Untersuchungen zeigen deutlich die Vielfalt individueller Glaubensvorstellungen.99 Je nach sozialer Lebenswelt und Wertevorstellung unterscheidet sich der Zugang zum Glauben. Generell zeigt sich dabei häufig eine eher unspezifische Hoffnung, im Leben und im Sterben noch ›irgendwie‹ getragen zu sein. Menschen finden offenbar ganz eigene Antworten auf die Frage nach dem einzigen Trost im Leben und im Sterben. Dass sie einen solchen Trost brauchen, ist unbezweifelbar. Aber sie finden ihn immer weniger im traditionell-kirchlichen Christentum, sondern auch in ganz unterschiedlichen traditionell religiösen, alternativen, agnostischen, atheistischen oder patchworkmäßig zusammengesetzten Weltanschauungen. Dem steht reformatorisch gesehen ein anderes Glaubensverständnis gegenüber: Alle menschlichen Glaubensleistungen, seien sie noch so kreativ, kommen grundsätzlich an die Grenze des Menschenmöglichen. Mit einem selbst gemachten und selbst zusammengesetzten Glauben mutet und traut sich der Mensch sozusagen zu viel alleine zu. Demgegenüber ist reformatorisch gesehen Glaube wesentlich als Glaube an Gott zu verstehen. So ist er von den biblischen Zeugen des Alten und Neuen Testaments bezeugt und durch das Wirken des Heiligen Geistes im einzelnen Menschen bestätigt. Die Botschaft von Gottes Gnade und 97 Grace Davie, Religion in Britain since 1945. Believing without Belonging, Oxford 1994. 98 »Selber denken. Die Reformierten.« Mit dieser Botschaft hatten die »Reformierten Medien«, unterstützt von einem Teil der deutschschweizerischen Kantonalkirchen, im Dezember 2000 eine Plakatkampagne durchgeführt. 99 Vgl. Matthias Krieg u.a. (Hg.), Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft, 2 Bände, Zürich 2012.

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2. Reformatorische Orientierungen

Rechtfertigung wird dabei »nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist.«100 Dabei verweist diese Rede vom Geist wieder zurück auf die Schrift: »wer innerlich vom Heiligen Geist gelehrt ist, der verharrt fest bei der Schrift«.101 Die biblische Schrift allein bezeugt den Gott, an den zu glauben sein Geist uns bewegt. So ist es nur folgerichtig, wenn zu den reformatorischen Soli schließlich das sola scriptura, allein aufgrund der Schrift, gehört, wovon gleich noch näher die Rede sein wird. All dies klingt heute allerdings ziemlich steil und dogmatisch. Wird dem Menschen der Glaube tatsächlich einfach so übergestülpt? Ist es nicht eine sehr individuelle, kulturell und biografisch geprägte Sache, wie man seinen Bezug zu Gott oder einer Transzendenz gestalten möchte? Und haben nicht in den letzten Jahrzehnten Religionssoziologen und Neurowissenschaftlerinnen die rein menschliche, nämlich biologische Seite von Glaube und Spiritualität aufgedeckt? Hier mag die Unterscheidung zwischen Glaube und Religion hilfreich sein. Es war vor allem der Basler Theologe Karl Barth, der diese stark gemacht hat. Für ihn war Religion »der Versuch des Menschen, sich vor einem eigensinnig und eigenmächtig entworfenen Bilde Gottes selber zu rechtfertigen und zu heiligen.«102 Glaube dagegen ist die »Anerkennung und Respektierung dessen, was uns durch die Offenbarung gesagt ist«.103 Religion ist in diesem Sinne die Aktivität des Menschen, während Glaube von der Aktivität Gottes ausgeht. Was Soziologen, Religionswissenschaftler und Neurowissenschaftlerinnen untersuchen und messen, ist die menschliche Dimension des Geschehens. Sie beobachten, wie Religion und Demographie zusammenhängen,104 wie sich beim Beten und Meditieren Hirnströme verändern105 und wo die neuronalen Grundlagen für Religiosität liegen könnten.106 Barth betont mit reformatorischem Bezug die göttliche Dimension des Geschehens: Glaube ist Antwort auf die Anrede Gottes. Das bedeutet allerdings nicht, dass man damit einen unmittelbaren Zugang zu Gottes Wort und Willen hätte. Die menschliche Dimension ist auch hier von wesentlicher Bedeutung. So verstandener Glaube ist zwar weder messbar noch beweisbar. Er ist erlebbar, aber er beansprucht dabei, mehr zu sein als ein subjektives 100 101 102 103 104

Calvin, Institutio, I, 7,4. A.a.O., I, 7,5. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 1939, §17, 304. Ebd., 357. Vgl. Michael Blume, Religion und Demographie. Warum es ohne Glauben an Kindern mangelt, Filderstadt 2014. 105 Vgl. Andrew Newberg / Eugene D’Aquili / Vince Rause, Der gedachte Gott, München 2003. 106 Vgl. Vilaynur S. Ramachandran / Sandra Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann: Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins, Hamburg 32002.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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Gefühl, vielmehr eine »Erfahrung mit der Erfahrung«.107 Diese prägt die Lebenshaltung des Gläubigen und lässt ihn das Leben in all seinen Höhen und Tiefen in einer Grundgestimmtheit des Vertrauens und der Hoffnung anpacken. Wieviel ist die Rede in der gegenwärtigen kirchlichen Praxis eigentlich von diesem Glauben? Könnte es sein, dass sich der Alltagsgebrauch des ›Meinens‹ und der ›Vermutung‹ hier längst in die kirchliche Sprache und das Denken eingeschlichen hat? Jedenfalls kommt es selten vor, dass im kirchlichen Raum – abgesehen vom gemeinsamen Glaubensbekenntnis – ausdrücklich davon die Rede ist. Wer vom eigenen Glauben spricht, gilt als verdächtig, wer womöglich gar ein persönliches Glaubenszeugnis formuliert, als unbelehrbar und frömmlerisch. Ein überaus eigenartiges Phänomen, wenn man sich die würdevollen reformatorischen Bestimmungen vor Augen führt und das persönliche Ringen der Reformatoren in Erinnerung ruft. Irgendetwas Entscheidendes muss hier in den vergangenen Jahrzehnten passiert sein – oder eben auch nicht. 2.2.5 Sola scriptura – nimm und lies! Was hat das beschriebene vertrauens- und hoffnungsvolle Lebensgefühl mit der Bibel zu tun? Was kommt eigentlich zum Vorschein, wenn sich, so Luther, »die Schrift selbst interpretiert«? Die biblischen Erzählungen lassen die Leser und Leserinnen teilnehmen an Lebensgeschichten von Menschen, die von diesem Glauben geprägt waren. Sie ermöglichen es, die eigenen Erfahrungen in das Licht dieser Gotteserfahrungen zu stellen. Und sie lassen die Leserin und den Hörer Teil dieser Geschichte mit Gott werden: Nicht nur für Luther war die Bibel »das Lebensbuch par excellence.«108 Die Beschäftigung, ja das Eintauchen in die biblischen Texte war deswegen für alle Reformatoren buchstäblich grundlegend. Sie arbeiteten deswegen daran, dass die Bibel allen zugänglich würde. Man kann sagen, dass Luther nicht nur »um sein Leben« schrieb,109 sondern auch in dieser existenziellen Grundhaltung die Bibel übersetzte. Martin Luther begann während seines Sicherheitsaufenthaltes auf der Wartburg mit der Übersetzung der Bibel aus dem Urtext und der lateinischen Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung des Kirchenvaters Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert, ins Deutsche. Bereits im September 1522 wurde das Neue Testament in einer für damalige Zeiten sehr hohen Auflage von 3000 Stück gedruckt. Im Dezember 1522 musste schon die zweite verbesserte Auflage herausgegeben wurde. Den Schwei107 108

Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977, XIII. Albrecht Beutel, Theologie als Schriftauslegung, in: ders. (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 22010, 446. 109 Vgl. Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte, a.a.O., 123.

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2. Reformatorische Orientierungen

zern dauerte Luthers Übersetzung des Alten Testaments zu lange, und so arbeitete Zwingli mit Zürcher Predigern und Leo Jud, seinem engsten Mitarbeiter, selber daran. 1531 erschien die sogenannte FroschauerBibel, die erste vollständige und sprachlich eigenständige Zürcher Bibel mitsamt den Apokryphen. 1534 wurde in Wittenberg die erste Gesamtausgabe aller biblischen Bücher in Luthers Übersetzung in zwei Bänden publiziert. Der Jurist Johannes Calvin übersetzte nicht selbst, aber er beschäftigte sich intensiv mit den biblischen Texten. So verfasste er eine Vorrede für die erste französische Bibelübersetzung auf der Grundlage des griechischen und hebräischen Urtextes, die 1535 in Neuchâtel gedruckt wurde. Die intensive Beschäftigung mit den biblischen Texten war für die Reformatoren der Ausgangspunkt für ihre Auseinandersetzung mit der Römisch-Katholischen Kirche. Jenseits allen kirchlichen Überbaus wollten sie – in Übereinstimmung mit den humanistischen Strömungen dieser Zeit – zu den Quellen zurück, den ursprünglichen Schriften in ihrer möglichst ursprünglichen Sprachform, um von da her den Glauben neu zu entdecken. So hatte Philipp Melanchthon schon 1518 in seiner programmatischen Antrittsrede an der Wittenberger Universität von den Studierenden gefordert: »Lernt Griechisch zum Lateinischen, damit ihr, wenn ihr die Philosophen, die Theologen, die Geschichtsschreiber, die Redner, die Dichter lest, bis zur Sache selbst vordringt, nicht ihre Schatten umarmt.«110 Natürlich war die Bibel auch für die Römisch-Katholische Kirche das zentrale Bezugsdokument. Aber daneben und häufig davor standen die Interpretationen der Kirchenväter und der Konzilsentscheide, die als gleichermaßen verbindlich galten. Die Reformatoren haben demgegenüber theologisch den Unterschied zwischen Schrift und Tradition stark gemacht. Sie betrachteten die Bibel als Wort Gottes – aber das widersprach nicht ihrer Auffassung, dass die biblischen Schriften von Menschen verfasst wurden. Die reformatorischen Bibelübersetzungen sollten es den Christen möglich machen, ohne priesterliche und bischöfliche Anleitung die Bibel selber lesen und verstehen zu können. Dazu ging es nicht um eine möglichst buchstabengetreue Übersetzung. Das Ziel war gerade nicht ein wörtliches Eins-zu-Eins. So betonte Luther, es gehe nicht darum, einen Vers herauszupicken. Man müsse den Sinn des ganzen Textes beachten.111 Dann erklärt sich die Schrift als Ganzes selber, ohne dass es eine fremde Autorität dazu bräuchte. So gilt, »dass die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testa110

Melanchthon, Opera, Corpus Reformatorum, Bd. XI, hg. v. Karl Bretschneider, Halle 1834 ff., 22. 111 Vgl. Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament, WA 18, 69.

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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mente das wahre Wort Gottes sind, und dass sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen.«112 Aber – und das betont besonders Calvin –, »(d)ass die Schrift von Gott kommt, das glauben wir, weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, nicht aber aufgrund des eigenen Urteils oder desjenigen anderer Leute.«113 Die biblischen Texte sind nicht als Buchstaben das Wort Gottes, aber sie werden uns zum Wort Gottes, wenn der Geist es wirkt. Dies eröffnete für Luther die kritische Beurteilung einzelner biblischer Schriften. Wenn sie seiner Meinung nach nicht »Christum treiben«, also die Botschaft der Befreiung durch Christus verkünden, dann sind sie nicht apostolisch, selbst wenn es Petrus oder Paulus so gelehrt hätte114 – dies galt insbesondere für seine Einschätzung des Jakobusbriefes115 wie des Judasbriefes. Aber für die Reformatoren war das Christentum keine Buchreligion. Die Offenbarung Gottes geschieht in Christus, und die Schrift bezeugt Christus: Die Bibelübersetzungen waren zwar wichtig, damit jeder und jede Zugang zu diesem Zeugnis haben konnte. Aber die Freiheit ihrer Übersetzungen zeigt, wie für sie das Wort Gottes nicht am Buchstaben hängt, sondern am Geist. »Wer am Wege bauet, der hat viele Meister«, zitiert Luther ein Sprichwort.116 Die Bibel – und nur die Bibel, sola scriptura – ist der Weg, auf dem uns Christus begegnen will. Es geht nicht darum, die Buchstaben anzusehen »wie die Kuh ein neues Tor«.117 Sondern »die Meinung des Textes«118 ist so herauszuarbeiten, damit das Evangelium nicht nur gepredigt, sondern auch gehört und verstanden wird.119 Dieser, wenn man so will, Mut zur individuellen Lesart war längerfristig weit über die kirchlichen Mauern hinaus höchst bedeutsam: In der Folge dieses reformatorischen Schriftverständnisses hat die Theologie in der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften einen hohen wissenschaftlich-reflektierten Umgang mit ihren einst heiligen biblischen Texten entwickelt. Damit ist sie nicht nur wissenschaftlich anschlussfähig geworden. Sondern sie hat zum besseren Verständnis vieler dunkler Texte beigetragen – so wie es schon Erasmus von Rotterdam gefordert hatte! Auf der anderen Seite konnte so – theologisch legitimiert! – auf 112 113 114 115

Bullinger, Zweites Helvetische Bekenntnis, a.a.O., 1. Kapitel, 155. Calvin, Institutio, I, 7,5. Luther, Vorrede auf die Episteln Sanct Jacobi und Judas, WA DB 7, 384. »Darum ist der Jakobusbrief eine rechte stroherne Epistel gegen sie; da er doch keine evangelische Art an sich hat.«, ders., Vorrede auf das Neue Testament, WA 6/1, 10. 116 Ders., Sendschreiben vom Dolmetschen, WA 30/2, 633. 117 A.a.O., 636. 118 Ebd. 119 Vgl. Calvin, Institutio, IV,1,9.

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2. Reformatorische Orientierungen

innere Widersprüche in der Bibel aufmerksam gemacht werden. So wurde nach allen Regeln der Kunst die Bibel in ihrer Bedeutung als göttliches Wort geradezu entzaubert.120 Dies war Ausgangspunkt für den insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten historisch-kritischen Zugang zur biblischen Überlieferung. Die Interpretation der biblischen Schriften konnte keinen anderen Bedingungen des Verstehens unterliegen als andere Literatur.121 Nun wurde die mündliche Überlieferung der Geschichten, deren Verschriftlichung und die damaligen politischen, gesellschaftlichen und theologischen Hintergründe der biblischen Texte ins Auge gefasst. Unterschieden werden konnte kritisch zwischen den historischen Ereignissen und dem, wie sie im biblischen Zeugnis erzählend interpretiert wurden. »Bibeltreu« gesinnte Christinnen und Christen befürchten deswegen bis heute, dass darüber die eindeutige Relevanz der Bibel für Leben und Glauben verlorengeht. Der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann galt in den 60er Jahren als das Schreckgespenst, weil er die Bibel »entmythologisieren« wollte. Mythisch war für ihn all dasjenige, was von den Vorstellungen der damaligen Umwelt geprägt war und nicht den Erkenntnissen der heutigen Wissenschaft entspricht: so z.B. der Dualismus zwischen Gott im Himmel oben und der Welt unten, die Menschwerdung Gottes, die Wunder, der Sühnetod und die Auferstehung Christi. Bultmann wollte allerdings nicht Wahrheiten abschaffen, sondern sie im Gegenteil herausarbeiten. Sein Anliegen war es, die mythischen Vorstellungen zu trennen und abzusondern von den Wahrheiten in den biblischen Texten. Diese sollten für die heutigen Menschen verstehbar und glaubhaft sein: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.«122 Interessanterweise bezogen sich konservative Christen angesichts dieser vermuteten Bankrotterklärung der Theologie wieder auf das reformatorische sola scriptura. Sie betonten, »dass uns die Heilstatsachen nur durch die Bibel offenbart und bezeugt sind. Ist nun die Bibel nicht irrtumslos, woher könnten wir Gewissheit über die Heilstatsachen nehmen?«123 So wird von dieser Seite her gefordert, dass die Heilige Schrift »in allen Fragen, die sie anspricht, von unfehlbarer göttlicher Autorität [sei]: Ihr muss als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was 120 121

Vgl. Jörg Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung, a.a.O., 13. Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben und Verstehen, Zweiter Band, Tübingen 1961, 231. 122 Ders., Neues Testament und Mythologie (1941), in: Hans-Werner Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, Bd. 1, Hamburg 41960, 16. 123 Die Irrtumslosigkeit der Bibel. Erste Chicago-Erklärung von 1978 [https://bibel bund.de/wp-content/uploads/2014/03/chicago.pdf].

2.2 Die reformatorische Grundlegung: Soli Deo Gloria

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sie bekennt; ihr muss als Gottes Gebot in allem gehorcht werden, was sie fordert; sie muss als Gottes Zusage in allem aufgenommen werden, was sie verheißt.«124 Oder wie es in der sogenannten Lausanner Verpflichtung heisst, die als Glaubensbasis der Evangelischen Allianz in Deutschland und der Schweiz gilt: »Wir halten fest an der göttlichen Inspiration, der gewissmachenden Wahrheit und Autorität der alt- und neutestamentlichen Schriften in ihrer Gesamtheit als dem einzigen geschriebenen Wort Gottes. Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und Lebens.«125 Ob damit allerdings die reformatorischen Grundeinsichten wirklich erfasst sind, muss mit Fug und Recht bezweifelt werden. Ein differenzierteres Schriftverständnis zeigt sich bei Karl Barth, wenn er zwar grundsätzlich festhält: »«Gottes Wort« heißt: Gott redet.«126 Aber ganz anders als in einer biblizistischen Sichtweise ist für ihn die Bibel ganz und gar menschliches Wort. Sie ist nicht per se Gottes Wort. Aber Gottes Wort kann in diesem Menschenwort zum Ereignis werden, »als eine Wiederholung, eine sekundäre Verlängerung und Fortsetzung des einmaligen und primären Geschehens der Offenbarung selber.«127 Hier hören wir wieder Calvin: Weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, glauben und hören wir das Wort Gottes in diesen biblischen Texten heute noch. Diese theologische Überzeugung ermöglicht es, die historische Entwicklung der Bibel bedingungslos ernst zu nehmen – und damit unsere eigenen historischen Voraussetzungen. Wie könnte ein Glaube wahr und aufrichtig sein, der von mir verlangt, all die Kriterien über Bord zu werfen, die ich in meinem sonstigen Leben an mein Erkennen und Wissen anlege? Rudolf Bultmann kritisierte bekanntlich wiederum an Barth, dass dieser in seiner Interpretation der Schrift eine Wahrhaftigkeit finden wolle, die höher oder von anderer Art sei, als was wir sonst in unserem täglichen Leben als wahr voraussetzen.128 Wäre es dann aktuell nicht viel aufrichtiger, die Bibel einfach als »Ursprungserinnerung«129 von damals zu betrachten? Entspräche das dem aufgeklärten, postmodernen Geist am besten? Der Münchner Theologe Jörg Lauster vertritt genau dies und betont den Charakter der Bibel als Erinnerungsmedium. Schrift setzt Abwesenheit voraus. Die Jünger konnte Jesus direkt lehren, aber wir sind dafür auf die biblischen Texte angewiesen. So überbrücken diese den Mangel an Evidenz für die Nachgebo124 125

A.a.O., 7. Die Autorität der Bibel. Lausanner Verpflichtung, Stuttgart 52000 [www.lausanner bewegung.de/data/files/content.publikationen/55.pdf]. 126 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/1, München 1932, 141. 127 Ders., Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 1939, 593. 128 Vgl. Bultmann, a.a.O., 234f. 129 Lauster, a.a.O., 49.

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2. Reformatorische Orientierungen

renen und dienen daher als Ersatz.130 Lauster führt unterstützend die schriftkritische These von Paulus an, wonach die Schrift des Gottesgeistes in unseren Herzen wichtiger ist als die Schrift aus Stein (2Kor 3,3). Die Bibel hat zwar, darin mag man Lauster folgen, tatsächlich den Charakter eines Erinnerungsmediums. Aber man kann doch den Texten mehr zutrauen, als in ihnen lediglich den Werkzeugkasten zur Interpretation der eigenen Erfahrung zu sehen. Durch und durch Menschenwerk, auf jeden Fall, kulturwissenschaftlich, historisch und soziologisch erforschbar und zergliederbar – ebenso wie Brot und Wein im Abendmahl. Aber ganz wie im reformierten Abendmahlsverständnis ist Christus dort nicht in der Substanz von Brot und Wein. Er ist hier nicht real präsent oder im wörtlichen Sinne fassbar. Aber er ist im Geist anwesend dort, wo die Gemeinde gemeinsam das Brot bricht und den Kelch teilt. Er ist im Geist ›mitten unter uns‹, wo die Gemeinde gemeinsam auf das Evangelium im Alten und Neuen Testament hört. Er ist dort präsent, wo die Gemeinde das Gehörte so aufnimmt, dass davon das alltägliche Leben und Handeln geprägt wird. Insofern zeigen schon die Reformatoren den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Schriftauslegung und Gemeinde-Bildung (im doppelten Sinn des Wortes!) deutlich auf. Man kann von Christus als Gemeinde existierend sprechen: Mit diesem Wort bringt Bonhoeffer131 die Kirche als Leib Christi zum Ausdruck. Die Hörer und Hörerinnen brauchen sich nicht an einen Abwesenden zu erinnern, im Gegenteil: Indem sie in die Erzählungen hineingenommen werden, kann sich ihnen darin etwas von der Wirklichkeit Gottes erschließen. Diese wird überall dort präsent, wo die Schrift in der Gemeinde nicht verehrt und verabsolutiert, sondern ›recht gepredigt‹, ausgelegt und gehört wird. Wo sie hingegen als unantastbar behauptet wird, geschieht dies gegen ihre eigene Absicht. Sie ist nicht Information über etwas, sie erzählt nicht ›Dinge und Sachverhalte‹, die man einfach ›zu glauben‹ hat. Sondern indem sich in der Überlieferung Christus selbst zeigt, eröffnet die Schrift alle Freiheit, je für sich nicht als Lesewort, sondern als »eitel Lebewort«132 entdeckt zu werden. Tatsächlich mag man an schon dieser Stelle fragen, ob denn in der alltäglichen gemeindlichen Praxis eine solche Wertschätzung und ein solches Verständnis der Bibel selbst überhaupt noch gegeben oder erkennbar ist. Spielt das reformatorische Vertrauen in die zentrale Mitte der Schrift heute überhaupt noch eine Rolle oder ist sie längst zum beliebigen Text geworden – und wenn ja, warum eigentlich?

130 131 132

Vgl. ders., a.a.O., 27. Bonhoeffer, Akt und Sein, a.a.O., 90. Luther, WA 31, 1.

2.3 Die reformatorische Freiheitsidee: Schillernde Bedeutungen

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2.3 Die reformatorische Freiheitsidee: Schillernde Bedeutungen Diese unmittelbare Verbindung von solus Christus und sola scriptura ermöglicht nicht nur Freiheit im Umgang mit den biblischen Texten, sondern Freiheit im Umgang mit allen kirchlichen und weltlichen Lebensverhältnissen. Für die Reformatoren war Freiheit ein zentrales Element des christlichen Glaubens. Über seine Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520) schrieb Luther an Papst Leo X, sie sei nur ein kleines Büchlein, wenn man auf das Papier schaue. Aber darin sei doch die ganze Zusammenfassung eines christlichen Lebens eingeschlossen.133 Die gerade einmal 30 Seiten lange Schrift stellte seinen brennenden Versuch dar, den Papst von seiner Theologie zu überzeugen und die Katholische Kirche an die Freiheit des Einzelnen aufgrund seiner unmittelbaren Gottesbeziehung zu erinnern. Die ›Freiheitsschrift‹ wurde zu seinen meistzitierten Texten. Allerdings wird um ihre Wirkung in der Entwicklung der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte immer wieder gestritten. Die einen sehen in dieser Schrift und dem nachfolgenden Auftritt von Martin Luther am Reichstag zu Worms die Geburt von Menschenrechten und Demokratie.134 Demgegenüber urteilte Thomas Mann vernichtend: »Er war ein Freiheitsheld, – aber in deutschem Stil, denn er verstand nichts von Freiheit. Ich meine jetzt nicht die Freiheit des Christenmenschen, sondern die politische Freiheit, die Freiheit des Staatsbürgers – die ließ ihn nicht nur kalt, sondern ihre Regungen und Ansprüche waren ihm in tiefster Seele zuwider.«135 Der Kirchenhistoriker Heinz Schilling betont, dass Luthers Freiheitsverständnis nicht die Vorstufe von Liberalismus oder Meinungspluralismus gewesen sei.136 Er habe »nur indirekt und gegen seine Intention (...) zum Aufstieg von Toleranz, Pluralismus, Liberalismus und Wirtschaftsgesellschaft der Moderne«137 beigetragen. Der Streit darüber, ob Luther nun gleichsam Wegbereiter in die Gegenwart oder aber doch ein dem Mittelalter verhafteter Denker war, ist vielfach und ausgiebig geführt worden. Ob etwa neuzeitliche Gewissensreligion und demokratische Gewissensfreiheit auf Luthers Denken selbst zurückgeführt werden können, oder nicht eher den späteren Transformationen der Reformation entspringen, hat am 133 134

Vgl. ders., Sendbrief an den Papst Leo X, WA 7, 2–11, 11. So z.B. in der Schrift der EKD: »Luthers Auftritt in Worms gehört in die neuzeitliche Freiheitsgeschichte, die auf den Grundwert allgemeiner Gewissensfreiheit führte und Institutionen begründete, die diesen Grundwert garantieren können. Mit anderen Worten: Luthers grundsätzlicher theologischer Überzeugung entspricht die moderne Verfassungsgestalt des demokratischen Rechtsstaates.« EKD, Rechtfertigung und Freiheit, a.a.O., 102. 135 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, Berlin 1947. 136 Vgl. Heinz Schilling, Martin Luther, a.a.O., 632. 137 A.a.O., 634.

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2. Reformatorische Orientierungen

intensivsten Ernst Troeltsch untersucht und dafür die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus stark gemacht.138 Aber tatsächlich ist es auch hier eine Frage der Perspektive und Unterscheidungskraft, welche Gründe man jeweils für das konkrete Urteil namhaft macht. Tatsächlich meinte Luther mit dem freien Christenmenschen zunächst einmal den inneren Menschen. Der Beginn seiner Freiheitsschrift macht dies klar: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.«139 Diese beiden Aspekte sollen wir bedenken, sagt Luther, und uns bewusst sein, dass ein Christ sowohl eine geistliche als auch eine leibliche Natur habe.140 Die Freiheit gilt dem innerlichen Menschen, und sie ist unabhängig von den äußeren Verhältnissen. Es ist nicht eine Freiheit, die dem Menschen an sich zukommen würde. Sondern sie ist eine von Gott geschenkte Freiheit, zu welcher der Mensch allererst befreit werden muss. Grundsätzlich ist der Mensch nämlich seiner Natur nach unfrei. So muss die Freiheitsschrift von Luther vor dem Hintergrund seiner anderen Schrift »Vom unfreien Willen« gelesen werden.141 Diese hatte er als Antwort auf die Thesen Erasmus von Rotterdams verfasst, der in der Tradition des antiken Denkens den freien Willen des Menschen vertrat.142 Getreu seiner Rechtfertigungslehre betont Luther, dass der Christenmensch nur durch den Glauben frei wird – von allen Sünden und auch von allen Geboten. Dadurch ist er so hoch erhaben über alle Dinge, dass er geistlich gesehen zum Herr wird.143 Im geistlichen Sinne ist der Mensch also befreit von der Herrschaft der Sünde und der Tyrannei der kirchlichen Werkgerechtigkeit – aber das betrifft nur den Christenmenschen durch seinen Glauben! Freiheit ist keine generelle Eigenschaft der menschlichen Seele. Sondern allein die göttliche Befreiung aus reiner Gnade allein kann diese Freiheit bringen. Ohne dies ist und bleibt sie Reittier des Teufels. Je mehr sich die Seele davon durch heilige und moralisch hochstehende Taten befreien will, desto mehr bleibt sie an ihre verkrümmte Ichhaftigkeit gebunden. Aber der Mensch ist nicht autonom und frei, sich seine eigenen Gesetze zu geben, weil dies keine menschliche Möglichkeit darstellt. So 138

Vgl. dazu Ernst Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), in: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8, hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin / New York 2001. 139 Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, 21. 140 A.a.O., 22. 141 Ders., De servo arbitrio, WA 18, 600–787. Deutsch: Vom unfreien Willen, in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke des Reformators in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 3, Stuttgart/Göttingen 1961ff., 151–334. 142 Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen. Übers. von Otto Schumacher, Göttingen 71998. 143 Vgl. Luther, Freiheit, a.a.O., 27.

2.3 Die reformatorische Freiheitsidee: Schillernde Bedeutungen

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besteht für Luther die wahre und einzig mögliche Freiheit in der Bindung des Menschen an Gott und der damit ermöglichten Freiheit vom eigenen Ich. Diese ist ganz und gar unabhängig ist von eventuell noch existierenden äußeren Zwängen. Damit folgt Luther eng seiner Deutung der paulinischen Sicht auf den Menschen: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«, wie es im Galaterbrief (2,20) heißt. Also auf die Gegenwart übertragen: Nicht mehr das fette, erbarmungslose Ich ist Zentrum des eigenen Wollens und Tuns. Sondern der Christ, die Christin kann sich, befreit von der Sorge um sich selbst, für den Nächsten öffnen. Diese befreite und getragene Seele des inneren Menschen hat somit auch Auswirkungen auf das äußere Leben. Ein befreiter Mensch ist mit Gott einig, er ist fröhlich und lustig um Christi willen und will Gott in freier Liebe dienen, wie Luther sagt.144 So ist der Christenmensch aus seiner Freiheit heraus ein ganz und gar dienstbarer Knecht und jedermann untertan. Damit ist es zwar nicht einfach. Denn der äußere Mensch ist widerspenstig. Er muss mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit jeder Art von Zucht angetrieben und geübt werden, um dem inneren Menschen gehorsam zu sein. Aber Luther meint nicht diese Art von Knechtschaft, wenn er vom dienstbaren Knecht spricht. Sondern es ist der befreite innere Mensch, der eben aus seiner Freiheit heraus fröhlich von sich absehen kann und Gott und dem Nächsten dient. Und so wurde dieses Verständnis von ›Freiheit‹ dann doch – gleichsam durch die theologische Hintertür – auch zum politischen Sprengstoff: »Da er sich an alle Christen als Gleichgestellte wandte, egal ob Fürsten oder Gemeine, und auf ihrer Freiheit bestand, setzte er sich über das soziale System der Ehrerbietung hinweg.«145 Die Hierarchien wurden zwar nicht gleich prinzipiell in Frage gestellt. Aber sie mussten sich nun – aus theologischen Gründen – Kritik schlichtweg gefallen lassen und von nun ab ihre Legitimität immer wieder mindestens unter Beweis stellen. Vielleicht liegt gerade in diesem kritischen Prinzip hier dann doch ein für die politische Moderne entscheidender Freiheitsgewinn, der von dieser reformatorischen Neuentdeckung ausgegangen ist. Und doch war wenigstens für Luther damit eben nicht die äußere politische Freiheit gemeint. Dies erfuhr nicht zuletzt der deutsche Bauernstand am eigenen Leibe. Der Aufstand für das göttliche Recht und die Bruderliebe zwischen Fürsten und Untertanen wurde mit Luthers Erlaubnis und seiner theologischen Unterstützung brutal niedergeschlagen. Luther, der zuvor noch beide Seiten zum Frieden ermahnt hatte, erinnerte die Bauern daran, dass Christen nicht mit dem Schwert für sich selber

144 145

Vgl. a.a.O., 31. Roper, Luther, a.a.O., 218.

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2. Reformatorische Orientierungen

streiten, sondern mit dem Kreuz – und das hieß leiden.146 Aus dem Kreuzestod Christi folgte für Luther jedenfalls »nicht die irdische Freiheit für die Bauern. Der Mensch hat gehorsam die Stelle auszufüllen, an die ihn Gott durch seine Geburt gestellt hat.«147 Damit und vor allem mit der Schrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«,148 in der er die Fürsten zum rücksichtslosen Kampf gegen die Bauern aufrief, hat sich Luther den Ruf eines Fürstenknechts eingehandelt. Weil er die innerliche, geistliche Freiheit betonte und prinzipiell obrigkeitshörig gewesen sei, könne er mindestens aus diesen Gründen jedenfalls nicht als Wegbereiter für politische Freiheit und Demokratie gelten. Die Folgezeit bestätigt diese Annahme tatsächlich in vielfacher Hinsicht: Die protestantischen Kirchenführer und Theologen sahen den Kampf für Freiheits- und Menschenrechte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein als Ausdruck eines weltlich gesinnten Egoismus an. Dieser beanspruche irdische Rechte für sich, ohne sich der wahren Freiheit des Glaubens bewusst zu sein. So wird bilanziert: »Etwa bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war das Verhältnis der protestantischen Kirchen gegenüber den Menschenrechten überwiegend von Skepsis und Ablehnung geprägt. Menschenrechte galten als Produkt neuzeitlichen Denkens. Aufklärung und Säkularisation, wie sie ihren konkreten geschichtlichen Ausdruck in der französischen Revolution fanden, bildeten den aus theologischer und kirchlicher Sicht bedenklichen Zusammenhang, in dem die Gottes Geboten und Ordnungen scheinbar zuwiderlaufenden individuellen Menschenrechte propagiert wurden. Erst mit den Erfahrungen des Nationalismus setzte eine grundsätzliche Neubestimmung des kirchlichen Verhältnisses zu den Menschenrechten ein, die mit der Anerkennung der Trennung von Staat und Kirche sowie der Geltung eines säkularen Rechtes einherging.«149 Interessanterweise wird die Freiheitsthematik gegenwärtig als eine der zentralen reformatorischen Errungenschaften angesehen. Eine Vielzahl aktueller theologischer Publikationen argumentiert, dass der Protestantismus »geradezu zur Religion der Freiheit« avanciert sei.150 Die EKD hat 2006 ihr Impulspapier zu den Perspektiven der Kirche im 21. Jahrhundert unter den Titel »Kirche der Freiheit« gestellt und 2014 ihre Reflexionen zum Reformationsjubiläum »Rechtfertigung und Freiheit« 146 147

Vgl. Luther, Ermahnung zum Frieden, WA 18, 279–334, 315. Bruno Preisendörfer, Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit, Köln 2016, 187. 148 Luther, WA 18, 344–361. 149 Dokumentation »Kirchen und Menschenrechte«, hg. v. Evangelisches Missionswerk Deutschland 2008 [www.emw-d.de/fix/files/motte.pdf]. 150 Christian Danz, Freiheit im Spiegel der gegenwärtigen protestantischen Theologie, in: ZPT 65 (2013), 110.

2.3 Die reformatorische Freiheitsidee: Schillernde Bedeutungen

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betitelt.151 Durch diese Begriffsverbindung soll offenbar die »kategoriale historische wie existenzielle Differenz zwischen Menschen des sechzehnten und einundzwanzigsten Jahrhunderts«152 überbrückt werden. Was machen wir also nun aktuell mit diesen ausgesprochen unterschiedlichen Deutungen, was die reformatorischen Folgewirkungen angeht? Tatsächlich lassen sich von Luthers Bestimmung der Freiheit als Bindung an Christus in zweierlei Hinsicht Anknüpfungen an ein zeitgenössisches Freiheitsverständnis vornehmen: Zum einen folgt aus einem von sich selber befreiten Ich, wie oben schon angesprochen, die Offenheit für den Nächsten und Anderen. Der innere Mensch zeigt sich am äußerlichen Menschen, er realisiert sich in den guten Werken und in der dienstbaren Liebe. Weil jeder in seinem Glauben für sich selber genug hat, kann er seine Werke und sein Leben für den Nächsten einsetzen.153 Auch der Heidelberger Katechismus antwortet auf die Frage: »Dieweil wir denn aus unserm Elend ohne alle unsere Verdienste aus Gnaden durch Christum erlöset sind, warum sollen wir gute Werke tun?«: »Daß wir mit unserm ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat erzeigen und er durch uns gepriesen werde.«154 Die Bindung an Christus ermöglicht uns allererst die Nächstenliebe. Weil wir aus dem Kreisen um uns selber befreit sind, sind wir fähig, den Nächsten wahrzunehmen und dessen Wohl höher zu schätzen als das eigene. Von daher kann der Andere in aller Freiheit als mein Gegenüber erkannt und anerkannt werden. Die Unterordnung unter die politische Obrigkeit ist dabei »ein Spezial- und Anwendungsfall der Unterordnung des Christen unter den Nächsten insgesamt.«155 Weil die Obrigkeit für Recht und Ordnung sorgt und dem Chaos wehrt, liegt es im Interesse aller Menschen, diese durch ihren Gehorsam zu unterstützen. Zum anderen bedeutet diese theologische Grundentscheidung, dass sich der Mensch um seine fundamentale innere Freiheit nicht zu sorgen braucht. Wenn der Christenmensch im Glauben erkennt, dass er von Gott befreit ist, dann eröffnet sich ihm die Perspektive einer relativen Freiheit. Um sein Seelenheil – oder moderner gesagt: um die Sinnhaftigkeit seines Daseins – braucht er sich nicht mehr zu bekümmern. Dieses kann ihm weder durch Staat noch durch die Kirche genommen werden. So ist er frei, sein Leben zu gestalten. Im Bewusstsein der Freiheit, die ihn von sich selber entlastet, wird er von der Welt unabhängig. Und dies ermöglicht es ihm, die Welt mit Blick auf den Nächsten zu gestal151 152 153 154 155

Vgl. EKD, Rechtfertigung und Freiheit, a.a.O. Vgl. a.a.O., 97f. Vgl. Luther, Freiheit, a.a.O., 35. Heidelberger Katechismus, Frage 86. Notger Slenczka, Freiheit von sich selbst – Freiheit im Dienst, in: Christine AxtPiscalar / Mareile Lasogga (Hg.), Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie Luthers, Leipzig 2015, 113.

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2. Reformatorische Orientierungen

ten – in freiem Gehorsam nicht nur gegenüber der Obrigkeit, sondern gegenüber Gott und dem Nächsten. Dieser Gedanke begegnet noch prominenter in der reformierten Tradition. Vielleicht noch deutlicher als Luther betont Zwingli die individuelle Verantwortung des Christen auch der Obrigkeit gegenüber. Wenn Fürsten und Herren sich anmaßen, die christliche Freiheit zu beschneiden, sei es äußerlich oder innerlich, dann gilt: Jetzt ist das Gewissen des Christen aufgerufen, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (vgl. Apg 5,29). Wenn nötig, umfasst dies auch das Recht auf zivilen Widerstand. Hier ist zu betonen, dass das Gewissen nach reformatorischem Verständnis eben etwas grundsätzlich anderes ist als die ›innere Stimme‹: Wenn Luther vom Gewissen sprach, dann meinte er damit nichts anderes als »das innere Wissen des Individuums um diese objektive Bedeutung von Gottes Wort.«156 So bringt die Befreiung des Menschen von seiner Gebundenheit an die Sünde eine Freiheit für die Gestaltung der Welt mit sich. Dies ist im Kontext des 16. Jahrhunderts zwar noch weit entfernt von einem Argument für allgemeine Menschenrechte, partizipative Demokratie oder die Emanzipation aller Benachteiligten. Aber dieses Denken eröffnet die Dimension des sozialen Engagements für die Schwachen, die diese im besten Falle zum Selbstständigkeit ermächtigt. Und es bildet mindestens die Wurzel für die Idee des mündigen Individuums gegenüber aller kirchlichen und weltlichen Obrigkeit. So war doch dadurch ein wesentliches Samenkorn für die Entwicklung zur Demokratie gepflanzt. Denn diese unterstützt und befördert die eigenverantwortliche Lebensgestaltung und ein gesellschaftspolitisches Engagement weitaus besser als jede absolutistische Herrschaft. So kann die Anerkennung der Menschenrechte durch die Kirchen »als Aneignung in dem Sinn verstanden werden, dass die Kirchen darin genuin Eigenes erkannten, sich darin sozusagen selbst wiedererkannten; nur so ist es erklärbar, dass sie sich heute geradezu als Anwälte der Menschenrechte verstehen, als hätten sie nie etwas anderes gesagt.«157 Auch hier kann man nun wieder berechtigterweise fragen, ob diese differenzierte, christologisch fundierte Sicht auf die menschliche Freiheit in der protestantischen Kirche und Lebenskultur der Gegenwart eigentlich wirklich angekommen ist. Man kann sich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, als ob hier eher der neuzeitlichen Freiheitsidee das Wort geredet wird. Dies repräsentiert sich etwa darin, dass eine der von der EKD auserkorenen Reformationsbotschafterinnen die persönliche Bedeutung reformatorischer Freiheit so lapidar wie schlicht zusammenfasst als »das Recht an das zu glauben, woran ich 156 157

Roper, Luther, a.a.O., 238. Bernd Oberdorfer, Reformation und politisch-gesellschaftliche Emanzipation, in: EvTh 74 (2014), 123f.

2.4 Priestertum aller Getauften: Was nicht delegiert werden kann

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glauben möchte.«158 Was dies im Einzelnen bedeutet, würde man dann schon gerne genauer wissen. Was dieses ›genauer‹ heißen kann, ist jedenfalls bleibende Aufgabe für die ganz alltägliche kirchliche Praxis. 2.4 Priestertum aller Getauften: Was nicht delegiert werden kann Die Frage der Verantwortung stellt sich reformatorisch betrachtet für alle Christinnen und Christen. Denn jeder Christ und jede Christin steht in einer unmittelbaren, folgenreichen Gottesbeziehung. Jeder und jede kann selbständig die Bibel lesen und über die rechte Lehre urteilen, Sünden vergeben und das Evangelium verkündigen. Luther hat dafür klare Worte gefunden: »Man hat erfunden, dass Papst, Bischof, Priester, Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, welches gar eine feine lügnerische Erfindung und Schein ist; doch davon soll sich niemand einschüchtern lassen, und das aus dem Grund: Denn alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und es gibt unter ihnen keinen Unterschied. Dies liegt daran, dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und sind gleiche Christen; denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk (...) Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht.«159 Und Zwingli formuliert prägnant: Kirche ist nicht dort, »wo einige Prälaten zusammenkommen, sondern dort, wo man am Gotteswort hängt und wo man dem Christus lebt.«160 Dabei geschieht in der Taufe nichts Mystisches, was den Getauften näher zu Gott rücken würde. Sie ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als sinnlich erfahrbarer Ausdruck dessen, was Gott dem Menschen schon zugesagt hat: seine unverrückbare und bedingungslose Nähe. Die Taufe ist zugleich Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die diese Nähe auch bekennen – in die Gemeinde Christi. Die Kindertaufe wird in der Konfirmation im persönlichen Bekenntnis öffentlich nachvollzogen. Das ›Priestertum aller Getauften‹ setzt sich also im ›Priestertum aller Gläubigen‹ fort. Und so werden evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer nicht in einen höheren Stand hinein geweiht, sondern ordiniert, d.h. um der Ordnung willen dazu berufen, die Aufgaben aller Christinnen und Christen in besonderer Weise öffentlich auszuüben. Sie sind Diener am göttlichen Wort (»Verbi Divini Minister bzw. Ministra«), die die anderen in ihrem verantwortlichen Priesteramt unterstützen.

158 159

Vgl. www.ekd.de/aktuell/edi_2016_12_03_botschafter_frauke_ludowig.html. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, WA 6, 407,10–23. 160 Zwingli, ZS III, 217.

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2. Reformatorische Orientierungen

Damit wird zugleich der Blick über den Einzelnen hinaus geöffnet: Priester ist keiner für sich allein. Denn Christinnen und Christen sind durch die Taufe auch untereinander verbunden und aufeinander bezogen. Ganz selten nur hat einer oder eine allein die wahre Lehre oder das richtige prophetische Wort. Aber als Gemeinde ergänzen und korrigieren sie sich beständig. Von dort aus kann Gemeinde – und die weltweite Kirche – Ursprungsort für dynamische und vielfältige Glaubensprozesse werden. Von dieser vergessenen Einsicht der Reformation161 des allgemeinen Priestertums sind immer wieder wichtige Impulse ausgegangen. Und dies nicht nur in die reformatorischen Kirchen hinein, sondern auch für die katholischen Basis- und Befreiungsbewegungen sowie – ohne das geweihte Priestertum anzutasten – auch als Laienapostolat in der Römisch-Katholischen Kirche.162 Es muss hier aber auch festgehalten werden: Diese Bevollmächtigung aller Christinnen und Christen zur Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat hat keineswegs gleich dazu geführt, dass Menschen unabhängig von Geschlecht, Stand, Herkunft oder sexueller Orientierung in dieses Pfarramt ordiniert werden konnten. Erst Ende der 60er Jahre war in allen evangelisch-reformierten Kantonalkirchen der Schweiz das volle Frauenpfarramt eingeführt. Und sogar erst 1991 hat mit der evangelisch-lutherischen Kirche Schaumburg-Lippe die letzte Landeskirche in Deutschland die volle Frauenordination zugelassen. Trotz vieler engagierter Frauen seit der Anfangszeit war die Reformation über die Jahrhunderte hinweg Männersache. Der oben erwähnte kritische Umgang mit den machtvollen Hierarchien wirkte sich insofern innerhalb der protestantischen Kirchen selbst erst außerordentlich spät aus. Und wenn bis heute bzw. gegenwärtig bis in den amtskirchlichen Protestantismus hinein in manchen Regionen und Ländern wieder deutliche Kritik an der Ordination von Frauen geäußert wird, so lässt einen dies doch staunen, wenn nicht gar verzweifeln. 2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche 2.5.1 Die reformatorische Liebe zur Kirche Wir haben unsere bisherigen Nachzeichnungen reformatorischer Grundentscheidungen bewusst auf die wesentlichen theologischen Neuentdeckungen konzentriert. Tatsächlich hing von diesen der gesamte Auf161

Vgl. Hans-Martin Barth, Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum in ökumenischer Perspektive, Göttingen 1990. 162 So im katholischen Dekret »Apostolicam Actuositatem«, das Papst Paul VI. 1965 in Kraft gesetzt hatte.

2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche

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bruch zentral ab. Aber natürlich zeichneten sich von dort aus die Konsequenzen für die Wahrnehmung des faktischen kirchlichen Lebens alsbald in aller Tragweite und Dramatik ab. Die gelehrten theologischen Gedankengebäude begannen nun gleichsam auf die realen Verhältnisse einzustürzen. Und sie trafen dort auf ein durchaus schon tönernes kirchliches Gesamtgefüge. Nun ist es umstritten, ob sich die abendländische Kirche am Vorabend der Reformation tatsächlich in einer existenziellen Krise befand. Während einerseits die kirchlichen und religiösen Missstände vielfach beklagt wurden, zeigten sich andererseits vielfältige Formen intensiver Spiritualität und mystischer Frömmigkeit. Dies schloss keineswegs aus, dass die Kirche schon vorreformatorisch zum intensiven Gegenstand theologischen Nachdenkens und der fundamentalen Kritik werden konnte. Man denke etwa nur an die durch John Wyclif oder Jan Hus ausgelösten Bewegungen. Die Macht der Kirche wurde aber keineswegs prinzipiell oder gar großflächig in Frage gestellt.163 Auch die Reformatoren waren jedenfalls – bei aller Unterschiedlichkeit ihrer frühen Lebensverläufe – und vor ihren theologischen Neuentdeckungen ganz selbstverständlich in ihrer Kirche fest verankert und ihr mit Haut und Haaren verbunden. Ob als Mönch, Priester oder theologischer Gelehrter, verstanden sie sich als gute Christen der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Die Orientierung an der Lehre der Kirche war die maßgebliche und fraglose Richtschnur für die eigene Lebensführung. Gebet und Gottesdienst, Liturgie und Ritus wurden als wesentliche Bestandteile der Glaubensidentität verstanden. Jeder Gottesdienst führte ihnen das hierarchisch geordnete Gesamtpanorama des katholischen Weltgefüges mitsamt seinen himmlischen und irdischen Repräsentanten unmittelbar vor Augen. Die Architektur und die prächtigen Ausstattungen des Kirchengebäudes ließen den göttlichen Kosmos in seiner ganzen Pracht sinnlich anschaulich werden. Hier konnte staunend angeschaut werden, was von Gott erschaffen und von der Katholischen Kirche bewahrt und verwaltet wurde. So verkörperte sich die Kirche als entscheidende Instanz für die Deutung der ersten und letzten Dinge. Die Kirche erschien als verlässliche Orientierungsgröße gemeinsamer Lebenskultur. In den sozialen und politischen Wirren der Zeit stand sie vergleichsweise stabil. So unveränderlich die heiligen Sätze in den tagtäglichen Messen proklamiert wurden, so unverrückbar war die Kirche im ganzen Weltgetriebe positioniert. Die Verbindung zur Katholischen Kirche stellte also für die späteren Reformatoren eine für lange Zeit unumstößliche Selbstverständlichkeit dar. Die fraglose Zugehörigkeit zu ihr basierte auf tief gegründeten Glaubensüberzeugungen, die sich in der biblische Überlieferung und deren lehramtliche Interpretation begründet sahen. 163

Vgl. Leppin, Die fremde Reformation, a.a.O.

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2. Reformatorische Orientierungen

Nur wenn man sich diese tiefe Verbindung der späteren Reformatoren zur Katholischen Kirche vor Augen führt, wird die Radikalität ihrer theologischen Infragestellung verständlich. Vermutlich führte gerade diese tiefste fromme Verbundenheit dazu, die bestehenden Verhältnisse so wortmächtig zu kritisieren. Die wuchtige und wütende frühreformatorische Kirchenkritik ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass ihre Protagonisten an den unübersehbaren Missständen litten, weil sie damit Gottes Willen in sein Gegenteil verkehrt sahen. Dies betraf die Haltung und das Verhalten der kirchlichen Repräsentanten selbst, und zwar auf all ihren Hierarchieebenen. Noch bohrender war eine andere Grunderfahrung: Alle sichtbaren Manifestationen katholischen Kircheseins können auf die Frage nach dem Kern und Ziel christlicher Glaubensexistenz keine erlösende Antwort geben. Die materielle Pracht wurde angesichts der entscheidenden Lebensfragen nur noch als nutzlose Anschaulichkeit wahrgenommen. Kirchliche Macht zeigte sich als sinnentleerter Anspruch, die lehramtlichen Wahrheiten durchsetzen zu wollen. Was man sich von der Kirche in Fragen der Glaubensorientierung erwartet und erhofft hatte, wurde angesichts der realen Praxis kirchlichen Lebens brüchig und unbedeutend, ja noch mehr: geradezu sündhaft und lebensgefährlich. Der reformatorische Aufbruch ist deshalb erst einmal nicht als Versuch, sich sogleich von der althergebrachten Kirche zu befreien, zu verstehen. Sondern sie stellt eine scharfe Besinnung und unbedingte Aufforderung an die Kirche dar, ihrem biblisch und theologisch gegründeten Auftrag wieder im ursprünglichen Sinn gerecht zu werden. Erst nach den gescheiterten Annäherungsversuchen zwischen den theologischen Parteien verabschiedete sich Luther seit Anfang der 1530er Jahre »stillschweigend von dem Vorhaben, die Kirche zu reformieren. Stattdessen begann er, seine eigene Kirche zu schaffen.«164 Calvin grenzte sich fast zeitgleich in seiner 1536 veröffentlichen Institutio Christianae Religionis in ausführlicher theologischer Argumentation klar von der Römisch-Katholischen Kirchenlehre ab und vollzog damit auch den institutionellen Bruch. Dabei ging es nun auch darum, die Legitimität der neuen Kirche gerade dadurch zu erweisen, dass man sich gleichsam in die Linie der ›eigentlichen‹ Traditionen stellte: So stünden gerade die reformatorischen Einsichten nicht nur im Einklang mit der biblischen Überlieferung, sondern auch mit den Kirchenvätern: Also Bilderverbot, das Abendmahl in beiderlei Gestalt von Brot und Wein, die Freigabe der Priesterehe und »vor allem die Anerkennung der alleinigen Autorität Christi und seines Wortes in allen Fragen der Lehre und

164

Roper, Luther, a.a.O., 440f.

2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche

61

des Lebens«.165 Damit begann sozusagen zugleich eine neue Traditionsbildung und gewissermaßen auch protestantische Geschichtsschreibung: Man erklärte sich nun selbst zu den verfolgten, wahrhaft Gläubigen und Auserwählten Gottes.166 Und damit wurden die getroffenen theologischen Unterscheidungen nun zu existenziellen Entscheidungskriterien. 2.5.2 Die reformatorische Chance Der reformatorische Neubeginn setzt also, wie sich bereits an der Entwicklung der reformatorischen soli festmachen lässt, keineswegs mit Überlegungen zu einer notwendigen Kirchenreform ein. In ihrem Nachdenken über die zukünftige Kirche konzentrieren sich die Reformatoren nicht in erster Linie auf die Niederungen und Schattenseiten kirchenleitender Praxis. Sondern sie richten den Blick nach oben und suchen nach dem glanzvollen Ausgangs- und Angelpunkt kirchlichen Lebens. Dabei waren sie keinesfalls der pessimistischen Überzeugung, dass das christliche und kirchliche Glaubensleben etwa an sein Ende kommen könnte. Wenn überhaupt ein Untergangsszenario gezeichnet wird, dann eher in dem Sinn, dass man das Ende aller irdischen Zeit und den ganz neuen Beginn allen Lebens in einer erhofften, jenseitigen Zukunft erwartete – samt Zähneklappern, Endgericht und der endgültigen Scheidung der Geister. So stehen die reformatorischen Überlegungen in einer spannungsvollen Mischung aus Eifer um die Sache der Kirche und jenseitsorientierter Gelassenheit. Die Reformatoren vertrauten auf die göttliche Bestimmung allen Lebens. Und deshalb tragen alle kirchlichen Reformvorhaben nicht mehr als vorläufigen und relativen Charakter. Das von dort her entwickelte Kirchenverständnis ist nicht mehr, aber auch nicht weniger das Ergebnis des entschiedenen Nachdenkens über die Situation des Sünders und der Hoffnung auf eine heilsame Zukunft. Die Kritik an der Kirche setzte in theologischer Hinsicht konsequenterweise damit ein, dass man eben nicht nur die sakramentale Praxis, sondern die dahinter stehende Deutungsmacht der Römischen Kirche in Frage stellte: Angegriffen wurde »das ganze System der Sakramente und seine Bedeutung bei der Begleitung des einzelnen Menschen durch seine verschiedenen Lebensphasen.«167 Gegenstand der theologischen Auseinandersetzungen waren deshalb auch nicht in erster Linie die eklatanten Missstände des kirchlichen Lebens, sondern deren Wurzeln, nämlich die 165

Vgl. Christoph Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, 37. 166 Vgl. Thomas Fuchs, Reformation, Tradition und Geschichte. Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung, in: Joachim Eibach / Marcus Sandl (Hg.), Protestantische Identität und Erinnerung, Göttingen 2003, 82. 167 Roper, Luther, a.a.O., 213.

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2. Reformatorische Orientierungen

geistlichen Defizite: Die Kritik Luthers an der zeitgenössischen Kirche war »nicht etwa der Anstoß für sein neues Heilsverständnis, sondern eine von dessen Folgen.«168 Durch die theologische Grundentdeckung der Rechtfertigung des Sünders »aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit« – so Luthers Erklärung zum 1. Artikel des Glaubensbekenntnisses – wird ein neuer Raum für das Denken frei. Nun kann man sich mit den kirchlichen Autoritätsansprüchen auf eigenständige Weise auseinandersetzen. Kern und Prüfstein der theologisch-kritischen Überlegungen zum Zustand und Auftrag der Kirche ist, dass jeder einzelne Gläubige vor aller menschlichen Leistung gerechtfertigt ist. Das reformatorische Nachdenken über die Kirche erhält seine theologische Prägnanz dadurch, dass alles von Person und Werk Jesu Christi her gedacht wird. Und deshalb kann die Kirche neu als Raum angesehen werden, in dem Gnade zugesprochen wird. Kirche ohne den Blick auf das Leben, Sterben und die Auferstehung Christi zu denken, ist unmöglich. Deshalb wurde die kirchliche Gemeinschaft konsequent, wie schon angedeutet, von der Grundfigur des geistlichen Leibes Christi her bestimmt: Kirche ist in theologischem Sinn als »eine im Glauben unter Jesus Christus lebende Gemeinschaft«169 zu verstehen. Damit ist sie geistliche Gemeinschaft und von jeder leiblichen Gemeinschaft unterschieden. Sie wird nicht durch äußerliche, sakramentale Handlungen, Gewohnheiten oder äußere Regeln konstituiert. Sondern sie zeichnet sich aus »durch das gemeinsame Gottesverhältnis der Christen in einem Glauben, einer Hoffnung, einer Liebe«.170 Ganz ähnlich ist bei Zwingli von der Kirche als Gemeinschaft derer die Rede, die im Glauben an Christus »auferbaut« sind.171 Die Stand- und Wandbilder der Heiligen und geheimnisvoll anmutenden Symbole und Riten hingegen können den Sinn kirchlicher Gemeinschaft nicht mehr länger repräsentieren. Erst indem das Christusgeschehen neu verkündigt wird, gewinnt alles kirchliche Handeln seine tiefere Bedeutung. Gottesdienstliches Reden lebt davon, dass es sich an Gottes Aufmerksamkeit für den Menschen orientiert. Zugleich wird Kirche erst bedeutsam, wenn man aufmerksam mithört und mit ganzem Herzen mitfeiert. 168

Konrad Hammann, Art. Kirchenkritik, in: Volker Leppin / Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 22015, 352. 169 Reinhard Schwarz, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 449. 170 A.a.O., 445. 171 Vgl. Zwingli, Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel (1523), ZS II, 63–67.

2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche

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So werden alle theologischen Deutungsversuche der römischen Zentralmacht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Reformatoren wollen nicht den Fehler der Römischen Kirche wiederholen, in irdischer Vollmacht über den richtigen oder falschen Glaubens zu entscheiden. Genau deshalb wird die Unterscheidung von Kirche in ihrer sichtbaren und in ihrer unsichtbaren Gestalt stark gemacht: Die sichtbare Christenheit mag zwar auf einen geistlichen Kern hinweisen. Allerdings kann dieser nicht durch menschliche Selbstgewissheit und Eigenmacht erkannt werden: In Taufe, Abendmahl und im Hören des Evangeliums zeigt sich, wie gesagt, zuallererst der geistliche Charakter der Gemeinschaft.172 Für Zwingli ist – nach ebenfalls höchst theologischem Maßstab – klar, dass man nicht wissen kann, »ob diejenigen, die Christus bekennen, in Wirklichkeit glauben, sowenig es einst die Apostel wissen konnten. Wer aber Christus bekennt, empfängt die Taufe und wird Glied der Kirche.«173 Dahinter steht seine theologische Grundeinsicht, »was Gott an und für sich ist, wissen wir so wenig aus uns selbst, wie der Käfer nicht weiß, was ein Mensch ist.«174 Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche darf nun nicht so verstanden werden, als ob es gleichsam eine reine himmlische und demgegenüber eine sozusagen defizitäre irdische Form von Kirche gäbe. Die Reformatoren sehen menschliche Erkenntnis hier an ihre Grenze gekommen. Was geistliche Gemeinschaft in ihrem tiefsten Sinn wirklich bedeutet, ist noch verhüllt und verborgen: Kirche ist »so sichtbar und verborgen zugleich, wie Himmel und Erde als Schöpfung Gottes sichtbar und verborgen zugleich sind.«175 Deshalb hat nicht das kirchliche Lehramt die entscheidende Definitions- und Verfügungsgewalt über das wahre Verständnis von Kirche inne. Sondern diese wird der schöpferischen Ursprungsmacht Gottes überlassen. Dadurch wird jeder Versuch, den »wahren christlichen Glauben« festzustellen oder gar die »eine, heilige, christliche Kirche« mit einer real existierenden Kirchengestalt zu identifizieren, theologisch von Beginn an ad absurdum geführt. Das Heilige lässt sich niemals kirchlich verwalten. Sondern es wirkt im Leben und Herz jedes einzelnen Christenmenschen. Die Reformatoren schärfen damit den Sinn dafür, dass die Rede vom Reich Gottes und jeglicher Versuch seiner irdischen Übertragung außerhalb dessen stehen, was Menschen machen können. Eine zweifelsfreie Bestimmung dessen, was Gottes geoffenbartes Wort ist und ausmacht, ist unter dieser theologischen Maßgabe nicht möglich – oder sogar noch schärfer for172 173

Vgl. Luther, Von dem Papsttum zu Rom (1520), WA 6, 301,3–6. So in Fidei ratio (1530), zusammengefasst von Peter Stephens, Zwingli. Einführung in sein Denken, Zürich 1997, 149. 174 Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III, 643,1f. 175 Vgl. Luther, Disputationen 1539/1945, WA 39, II, 162,6.

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2. Reformatorische Orientierungen

muliert: »Wenn das Wort Gottes kommt, so läuft es unserem Denken und unserm Verlangen zuwider.«176 Nun zeigen die vehementen und scharfen Auseinandersetzungen der Reformatoren mit der römisch-lehramtlichen Theologie deutlich, dass man der persönlichen Meinungsbildung erhebliche Deutungskraft beimaß. Gott ermöglicht, wie wir die reformatorische Grundeinsicht dargestellt haben, die Freiheit zur theologischen Selbstpositionierung in allen Glaubensdingen. Dieses Freiheitsverständnis ist allerdings, wie ebenfalls bereits betont, nicht mit der neuzeitlichen Autonomie des Individuums gleichzusetzen. Vielmehr lebt es davon, an Gottes Willen und Auftrag gebunden zu sein. Alle menschliche Interpretation ist dann frei, wenn sie sich an Jesus Christus orientiert. In diesem Sinn ist Jesus Christus »nicht der bloße Herkunftsort einer Freiheitsidee. Er ist vielmehr das befreiende Ereignis von Freiheit, in das der Glaube uns hineinzieht, indem er uns mit Christus verbindet und ihm allein das Gewissen überlässt.«177 Die Reformatoren stellten sich die Konsequenzen dieses Freiheitsgewinns nicht als individualistischen Aufbruch eines jeden einzelnen Menschen vor, sondern als eine gemeinsame Glaubensbewegung. Und dies hat nun erhebliche Konsequenzen für das neue Bild von Kirche: In der kirchlichen Verkündigung und in der je eigenen Frömmigkeitspraxis soll sich gleichsam persönliche Sinnsuche mit dem gemeinsamen Größeren verbinden. Deshalb kann auch das Gebet nicht bloß intime Zwiesprache zwischen Geschöpf und Schöpfer sein, sondern es muss sich in der Gemeinschaft äußern.178 Kirche als Raum des frei verkündigten und vom Heiligen Geist ermöglichten Wortes Gottes macht den Blick auf das Ganze des Lebens frei. Damit wird der Gemeinde der Gläubigen ein ganz neuer Gedanken- und Rede-Raum eröffnet. Die sogenannte Schlüsselgewalt des Papstes als unbedingte Autorität eines Einzelnen wird fundamental bestritten: »Denn in dem, was den Glauben betrifft, ist jeder Christ für sich Papst und Kirche.«179 Kirche kommt hier sozusagen hierarchiekritisch als Geschöpf des Wortes Gottes neu zur Sprache. Damit nahmen die Reformatoren die Macht- und Autoritätsfrage nochmals ganz bewusst und eben in radikal freier Weise auf. Die Formulierungen des Glaubensbekenntnisses von der »einen heiligen christlichen Kirche« und der »Gemeinschaft der Heiligen« stehen für Luther in engstem sachlichem Zusammenhang zueinander.180 176 177 178 179 180

Ders., Römerbriefvorlesung (1515/1516), WA 56, 423, 19f. Gerhard Ebeling, Frei aus Glauben, Tübingen 1968, 18. Vgl. Preisendörfer, Als unser Deutsch erfunden wurde, a.a.O., 241. Luther, Operationes in Psalmos (1519–1521), WA 5, 407, 35ff. Vgl. Schwarz, Martin Luther, a.a.O., 447f.; Luther, Von dem Papsttum in Rom (1520), WA 6, 292, 37–293,12.

2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche

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Wenn Zwingli trotzdem positiv von der Katholischen Kirche spricht, ist damit eben nicht mehr die institutionelle Gestalt der Römischen Kirche gemeint. Vielmehr ist die im wahren Sinn Katholische Kirche »über die ganze Welt verstreut und zugleich durch den Heiligen Geist in einem Leib vereint«181. Mit Bezug auf Jesus Christus gesprochen gilt, dass »alle, die in dem Haupte leben, Glieder und Kinder Gottes sind. Und das ist die Kirche oder Gemeinschaft der Heiligen, Christi Gemahlin: Ecclesia catholica (die allgemeine Kirche).«182 Gemeinde wird nach reformatorischer Überzeugung zum Ort, an dem man sich gemeinsam neu daran erinnert, was Gottes Wort heute bedeuten kann. Dadurch eröffnet sich durch den Glauben neuer Freiheitsspielraum. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Reformation an allen Orten auf die politische Unterstützung angewiesen war und erst dadurch überhaupt möglich wurde: So lieferten etwa Zwingli und seine Mitstreiter in Zürich ›nur‹ die theologische Grundlage für die Kirchenreform. Der Rat von Zürich beschloss dann alle politischen und kirchlichen Reformen und segnete sie damit ab. Die reformatorischen Organisationsformen von Kirche lebten folglich von Beginn an nicht von der strikten Entweltlichung, sondern im Gegenteil von der intensiven Zusammenarbeit zwischen Kirche und den politischen Gestaltungsmächten. In Zürich und Genf übernahmen die deckungsgleiche Bürger- und Christengemeinde im Magistrat der Städte die Aufgabe, über den Glauben zu wachen und den Predigt- und Sakramentsdienst pfarramtlich wahrnehmen zu lassen. Calvin legte in der Gemeindeordnung von 1542 die »Ordonances Ecclesiastiques« fest, indem er die »Pasteurs«, »Docteurs«, »Anciens« und »Diacres« als reformierte Ämter hervorhob. Das herausragende Charakteristikum dieser antizentralistischen und territorialen Gemeindereformationen bestand somit gerade darin, dass die Obrigkeit schlichtweg für mitverantwortlich erklärt wurde. Dies gilt sowohl für die Form der deutschen Fürstentümer, wie etwa die Geschehnisse um den Augsburger Religionsfrieden von 1555 zeigen, wie auch die Form der Magistrate und Stadtverwaltungen in den schweizerischen Städten.183 Zugleich bedeutete dies, dass alle Bewegungen, die aus Sicht der Reformatoren das Gemeinwohl zu gefährden drohten, mit größter Härte eben auch der politischen Mächte zu verfolgen waren. Nicht zuletzt von dort her erklären sich die massiven staatlich durchgeführten und kirchlich legitimierten Ausgrenzungen und Verfolgungen der jeweiligen Minderheiten oder Widerstandskräfte vor Ort, seien es nun die Täufer, die Bauern oder eben auch die Juden. 181 182 183

Stephens, Zwingli, a.a.O., 145. Zwingli, Supplicatio ad Hugonem episcopum Constantiensem (1522), Z I, 459, 3–5. Vgl. dazu Ulrich Gäbler, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, Zürich 32004.

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2. Reformatorische Orientierungen

Von dieser staatlich-kirchlichen Koalition aus konnte man in ganz konkreter Weise in den Blick nehmen, wo sich kirchliche und politische Praxis notwendig verändern musste. Die politischen Behörden Zürichs gaben die Erlaubnis, die Bilder und Altäre aus den Kirchen zu entfernen, die Messe zu verändern und die Klöster aufzuheben. Die gottesdienstlichen und liturgischen Innovationen waren erheblich: Verkündigung, das gemeinsame Singen und Beten nun in der vertrauten Sprache, soll dem neu gewonnenen freien Geist Raum geben, um sich zu artikulieren. Predigt und Gesang werden wichtig, weil sie dem Wort und Lob Gottes über alle menschliche Eigenmacht hinaus Freiraum verschaffen. Die Botschaft von der freien Gnade Gottes wird zum zentralen öffentlichen Ereignis. Dadurch kann sich die hörende Versammlung jetzt zugleich als Gemeinschaft wirklich befreiter Menschen erleben. Am eindrücklichsten zeigt sich die neue Bewegung darin, dass Zwingli 1525 im Chor des Zürcher Grossmünsters die sogenannte »Prophezei« als »institutionellen Lebensnerv der Zürcher Reformation«184 etabliert: Dabei handelte es sich um eine beinahe tägliche Zusammenkunft, bei der aus der Schrift vorgelesen und diese ausgelegt wurde. Die biblischtheologische Exegese und – ihrem Anspruch nach allgemeinverständliche! – Predigt185 erfolgte nicht nur vor Augen und Ohren des theologischen Gelehrtenstandes. Sondern die Prophezei nahm bewusst einen Platz zwischen Lateinschule und Universität ein. Sie sollte öffentlicher Bildungsort sowohl für die Stadtgeistlichkeit und die Lateinschüler wie für das gesamte Zürcher Volk sein.186 Dies brachte erhebliche soziale, kulturelle und politische Konsequenzen mit sich: Kirche als Heilsgemeinschaft wird nun auch als Sozialgemeinschaft öffentlich erkennbar:187 Indem sich eine neue Kultur kirchlichen Lebens etablierte, zog dies enorme Folgewirkungen für die reformatorische Positionierung inmitten der Weltverhältnisse nach sich: Die Gemeinde der Befreiten sollte sich weit über ihre je individuelle Glaubensexistenz als für das gesamte Gemeinwesen und Gemeinwohl verantwortlich verstehen. Deshalb wollte man das innerkirchliche Bildungsniveau entschieden anheben. Zugleich wurden das Bildungs- und Schulwesen sowie das karitative Armenwesen – man denke an die Etablierung des so genannten »Gemeinen Kastens«188 – neu organisiert. Indem also von der Prägekraft des Glaubens ganz neu die Rede war, öffnete sich erheblicher Freiraum, um die sozialen und politischen Ver184 185

Opitz, Grundentscheidungen und Wirkungen, a.a.O., 305. Vgl. Franz Rueb, Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt, Baden 2016, 135f. 186 Vgl. Gäbler, Huldrych Zwingli, a.a.O., 93. 187 Vgl. Schwarz, Martin Luther, a.a.O., 453. 188 Vgl. Preisendörfer, Als unser Deutsch erfunden wurde, a.a.O., 151.

2.5 Kirche der Freiheit: Befreiende Kirche

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hältnisse kritisch wahrzunehmen und zu begleiten. Weil sich die neu entstehende Versammlung der Heiligen von dieser befreienden Anrede in ihrem gesamten Leben berührt und getroffen fühlte, konnte sie sich zu den weltlichen Bedingungen und Gegebenheiten in ein ganz neues kritisches Verhältnis setzen. Für Zwingli können Gesetze und Obrigkeit »durch keine wirksamere Hilfe beim Schutz des öffentlichen Rechts unterstützt werden als durch die Predigt«.189 Zugleich ist er der festen Überzeugung, »dass die Lehre Christi in höchstem Masse zum Frieden des Staates beiträgt, wenn sie nur unverfälscht verkündet wird«.190 Dies verbindet sich mit einer ganzen Reihe von sittlichen Anweisungen: Schwören, Fluchen, das Spiel mit Karten und Würfeln, Schmuck und Luxus, kurzweilige Vergnügungen sowie die Fasnacht werden verboten. Fast alle alten Volksbräuche sowie die Verehrung der Stadtheiligen Felix und Regula werden untersagt. Und doch wurde Zürich damit nicht zum »Gottesstaat«. Obwohl Zwingli bedeutenden politischen Einfluss ausübte, fällten stets die Zürcher Stadtbehörden die politischen Entscheidungen. Alle wesentlichen Neuerungen wurden streng nach urdemokratischen Spielregeln beraten und beschlossen. Zwingli ging es um den »Konsens zwischen Obrigkeit und Gemeinschaft, zwischen Herrschern und Beherrschten. Er postuliert beides: Gehorsamspflicht und Widerstandsrecht.«191 Die dem Protestantismus immer wieder vorgeworfene, angeblich zu große Nähe zum politischen Leben und Staat hat genau hier ihre wohlbegründete theologische Wurzel: »Die Unterscheidung zweier Sphären bedeutet jedenfalls nicht, dass das öffentliche Leben als schmutziges Geschäft zu betrachten ist, das die Christen etwa nichts angehe. Calvin betont, dass zwar die weltliche Art des Regiments vom geistlichen, innerlichen Reich Christi verschieden ist, aber beide eben nicht zueinander in Widerspruch stehen: »Denn das letztere läßt zwar gewisse Anfänge des himmlischen Reiches schon jetzt auf Erden in uns beginnen und läßt in diesem sterblichen, vergänglichen Leben gewissermaßen die unsterbliche, unvergängliche Seligkeit anfangen.«192 Von dort aus aber ergeben sich für die weltliche Herrschaft sehr wesentliche Verantwortungsaufgaben. Calvin nennt die gesamte Fülle des politischen, auf das Gemeinwesen hin orientierten Tugendkatalogs: »Das bürgerliche Regiment aber hat die Aufgabe, solange wir unter den Menschen leben, die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu schützen, die gesunde Lehre der Frömmigkeit und den [guten] Stand der Kirche zu verteidigen, unser Leben auf die Gemeinschaft der Menschen hin zu 189 190 191 192

Zwingli, Fidei ratio (1530), ZS IV, 126. Ders., Archeteles (1522), Z I, 308, 24–26. Rueb, Zwingli, a.a.O., 115. Calvin, Institutio IV, 20,2.

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2. Reformatorische Orientierungen

gestalten, unsere Sitten zur bürgerlichen Gerechtigkeit heranzubilden, uns miteinander zusammenzubringen und den gemeinen Frieden wie die öffentliche Ruhe zu erhalten.«193 Deshalb konnte eine solche Beteiligung am öffentlichen Leben nur in einer grundsätzlich kritischen Perspektive erfolgen. Die Solidarität mit den Mächtigen oder wenigstens das Verständnis für deren politische Aktivitäten hing unbedingt davon ab, ob diese dem Willen Gottes gemäß handeln. Wurden sie ihrer göttlichen Bestimmung nicht gerecht, musste im extremsten Fall unbedingter Widerstand geleistet werden. Die daraus resultierende Rede vom prophetischen Wächteramt bringt dieses protestantische Selbstbewusstsein klar zum Ausdruck. Dem Gedanken eines solchen Wächteramts liegt Ezechiel 3,7: »Mensch, zum Wächter für das Haus Israel habe ich dich gemacht: Du wirst ein Wort aus meinem Mund hören und sie vor mir warnen!« zugrunde. Nach reformierter Interpretation kann sich die Kirche nicht in ein distanziertes oder gar weltabgehobenes Verhältnis zu den irdisch-politischen Verhältnissen setzen. Der lutherischen Auffassung, wonach es sich bei Kirche und Staat um zwei gleichsam voneinander geschiedene Regimente handle und deshalb der kirchliche Einfluss per se in seine Schranken gewiesen sei, standen die Reformierten deshalb kritisch gegenüber. Dies ist nicht zuletzt auf die intensiven politisch-biografischen Prägungen Zwinglis, sowohl seine unmittelbaren Kriegserfahrungen wie seine starke Verflechtung mit der Zürcher Regierung, zurückzuführen: Von dort her war er sicher, dass für jegliches Gemeinwesen das prophetische Wort zur rechten Zeit unbedingt angeraten sei: »O glückliche Herrscher, Städte und Völker, bei denen der Herr frei redet durch seine Diener, die Propheten! Denn so kann Religion gedeihen, Unschuld wiederkehren, Gerechtigkeit regieren, ohne welche Räuberei und Gewalt ist, was wir für Königreiche und Regierungen halten.«194 Überhaupt litten die Reformatoren bei aller Vehemenz und eigener Streitlust an den kriegerischen Verhältnissen. Calvin beklagt angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Zeit im Jahr 1561: »Grausamkeiten und maßlose Unmenschlichkeiten werden begangen, so dass äußerste Verwirrung entsteht. Es scheint, dass man jede Billigkeit vergessen will und ein Krieg nicht anders geführt werden kann, als dass jedes Recht vergessen geht und kein Gesetz mehr gilt, dass die Menschen zu wütenden Tieren werden.«195 Dementsprechend musste – so Zwinglis Überzeugung – insbesondere im Fall von staatlicher Tyrannei dem Unwesen Einhalt geboten werden. Ja mehr noch: Wie es schon das 193 194 195

Ebd. Zwingli, Jesajakommentar (1529), Z XIV 14, 21–24. Zit. nach Lukas Vischer, Reich, bevor wir geboren wurden. Zu Calvins Verständnis der Schöpfung, in: EvTh 69 (2009), 157.

2.6 Die protestantische Entwicklungsgeschichte: Kein Ende in Sicht

69

Alte Testament am Beispiel des Volkes Juda und seines schrecklich herrschenden Königs Manasse zeige, werde das Volk bestraft, wenn es die ungerechten Herrscher nicht absetze und sie weiter gegen Gottes Willen regieren lasse.196 Trotz aller Unterschiede in der Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat lässt sich die reformatorische Generallinie so bestimmen: sich für das Gemeinwesen einsetzen, ja – sich mit den staatlichen Autoritäten gemein machen, keineswegs. Die problematische Kehrseite dieser reformatorischen Entschiedenheit zeigte sich allerdings ebenso rasch überall dort, wo sich die protestantischen Glaubensüberzeugungen durchsetzten. Luthers Warnungen an die Bauern und vor allem seine höchst fatalen Angriffe auf die Juden, Zwinglis Auseinandersetzung mit den Täufern oder wenige Jahrzehnte später Calvins rigoroses Reformprogramm in Genf gehören zu den dunklen Seiten der Reformation. All dies zeigt überdeutlich und in geradezu tragischem Sinne, dass sich die neue Glaubensrichtung eben nicht nur durch innere Umkehrprozesse auszeichnete, sondern auch durch die massive Abgrenzung von allen Andersgläubigen. Mit dem neuen Glauben etablierten sich folglich fatale Unterscheidungsprinzipien gegenüber dem je Anderen. Das theologisch von Beginn an angelegte dualistische Denken führte in der Folgezeit in vielfacher Hinsicht zu immer wieder neuen Schwarz-Weiß-Mustern. Zudem verblasste im reformierten Kontext schon seit Ende des 16. Jahrhunderts der prophetische Anspruch der Kirche gegenüber der Obrigkeit zunehmend: »Nahezu zwangsläufig wurde die Kirche in der Folge über Jahrhunderte hin aus der Perspektive derer, die unterhalb der Kanzel sassen, als Arm zur Durchsetzung obrigkeitlicher Mandate wahrgenommen.«197 2.6 Die protestantische Entwicklungsgeschichte: Kein Ende in Sicht Es wäre vermessen, wollte man an dieser Stelle den Weg der reformatorischen Entwicklungsgeschichte in seinen einzelnen Ausprägungen, Verästelungen und vielen Irrungen und Wirrungen nachzeichnen. Gleichwohl sollen einige bis in die Gegenwart folgenreiche und relevante Aspekte protestantischer Kirche und Lebenskultur aufgezeigt werden. Denn trotz aller zu Beginn erwähnten Krisenphänomene sollte die aktuelle Prägekraft des Protestantismus nicht unterschätzt werden. Sie manifestiert sich natürlich gegenwärtig nicht mehr in dem Umfang, wie dies über lange Zeiten hinweg üblich und selbstverständlich war. Sie prägt Lebensvollzüge, Stile und Mentalitäten ihrer Mitglieder nicht mehr so massiv und eindeutig, wie dies bis in Mitte des vergangenen Jahrhun196 197

Vgl. Stephens, Zwingli, a.a.O., 175. Opitz, Grundentscheidungen und Wirkungen, a.a.O., 307.

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2. Reformatorische Orientierungen

derts wohl der Fall gewesen ist. Und doch sehen wir viele Anzeichen und Gründe, bis in die Gegenwart hinein von positiven Folgewirkungen und Einflussmöglichkeiten protestantischen Denkens auf individuelle Lebensvollzüge und das gesellschaftlich-kulturelle Leben sprechen zu können – und dies weit über den Bereich des kirchlichen Lebens hinaus: Etwa im Blick auf die Bedeutung von Bildung, Musik und Kunst, die Bereitschaft zu gemeinwohlorientiertem und solidarischem Handeln, den konstruktiven und toleranten Umgang mit Vielfalt, möglicherweise nach wie vor auch in Hinsicht auf ein bestimmtes Arbeitsethos und vielleicht sogar auf die gewissensorientierte Auseinandersetzung mit Erinnerung und Schuld.198 Bestimmt eine sozusagen reformatorisch grundgelegte DNA die Einstellungen und Verhältnisse der deutschen und auch der schweizerischen Gesellschaft doch nach wie vor stärker, als die vehementesten Säkularisierungstheoretiker wahrhaben wollen? Und gibt es – bei aller Problematik – womöglich doch nach wie vor gute Gründe, die Rede von einem jüdisch-christlichen Abendland199 jedenfalls nicht ohne seine reformatorischen Folgewirkungen und protestantischen Einflüsse zu denken? Die nachreformatorische Entwicklungsgeschichte des Protestantismus zeichnete sich, wie bereits erwähnt, von Beginn an durch erhebliche Ausdifferenzierungen, immer wieder neue kulturelle Formationen und eine kaum überschaubare Vielfalt lokalen, regionalen und nationalen protestantischen Kircheseins aus. Insofern trug die freie Auseinandersetzung mit den evangelischen Glaubenstraditionen von Beginn an ein erhebliches spannungs- und konfliktreiches Potential in sich. Was als ein prinzipieller Identitäts- und Freiheitsgewinn insbesondere gegenüber der Katholischen Kirche anzusehen ist, führte in nachreformatorischer Zeit sowohl im Blick auf die protestantische Theologie wie auch die kirchlichen Institutionen zu erheblichen Verfestigungen. Im Blick auf den Umgang mit Andersdenkenden zeige sich exemplarisch in Calvins Verhalten gegenüber dem Humanisten Sebastian Castellio »die verhängnisvolle Dogmatisierung eines Glaubens, der erst kurz zuvor aus dem Widerstand gegen den Dogmatismus einer älteren Kirche entstanden ist: Innerhalb weniger Jahre wird aus dem sich befreienden Glauben ein System starrer Behauptungen, das keine ihm gegenüberstehende Instanz eigenständigen Wissens anerkennt.«200 Immer wieder finden neue innerprotestantische Ab- und Ausgrenzungen und konfessionelle Spaltungen statt. Der einheitsstiftende Grundgedanke eines gemeinsamen evan198 199

Vgl. dazu Eichel, Deutschland, Lutherland, a.a.O. Vgl. dazu etwa Wolfgang Huber, Das christliche Abendland – über Missbrauch und möglichen Sinn einer Redewendung, in: Petra Bahr u.a. (Hg.), Protestantismus und Europäische Kultur, Gütersloh 2007, 107–133. 200 Volker Gerhardt, Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart 2016, 20.

2.6 Die protestantische Entwicklungsgeschichte: Kein Ende in Sicht

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gelischen Glaubens geriet dabei allzu oft unter die Räder. Die Wucht der eigenen Gewissheit legte es offenbar nahe, sich mit den Gegnern wenig nachsichtig zu zeigen – wer nicht für einen war, war gegen einen. Dies galt bis in die eigenen reformatorischen Reihen hinein. Vehement und beinahe gnadenlos wurde zwischen Lutheranern und Reformierten um das rechte theologische Verständnis und immer wieder über die Bedeutung der »guten Werke« gestritten. Und der Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli zeigt in besonders gnadenloser Weise, wie unversöhnlich die Wahrheiten aufeinander prallen konnten. Wenn schon die Atmosphäre der Reformationszeit kaum von Kompromissbereitschaft geprägt war, so galt dies in der Folgezeit umso mehr. So verwundert es kaum, dass man die eigene Positionierungen und Entscheidungen durch verbindlich gültige Dokumente und klare institutionelle Strukturen zu fixieren gedachte. An die Stelle des reformatorischen Charismas traten im Lauf der Folgezeit mehr und mehr abgeschlossene Lehrgebäude. Die konfessionellen Kriege undenkbar schlimmsten Ausmaßes hätten ohne diese dogmatischen und institutionellen Verfestigungen wohl so kaum entstehen und geführt werden können. Wie lassen sich nun aber in grundsätzlicher und positiver Hinsicht einzelne Folgewirkungen näher beschreiben? Wie schon angedeutet, hat das reformatorische Freiheitsverständnis prinzipiell den Weg dazu geöffnet, alle hierarchischen Machtansprüche in einer grundsätzlich kritischen Perspektive zu betrachten. Man nahm sich gleichsam aus theologischen Gründen die Freiheit, alle weltlichen und kirchlichen Herrschaftsformen daran zu messen, ob sie sich wirklich als ›gottgefällig‹ erweisen – den Mut zum Einspruch und Widerstand eingeschlossen. Augenfällig ist aber innerreformatorisch dann doch die durchaus unterschiedliche Einstellung gegenüber Staat und Obrigkeit und in diesem Zusammenhang die jeweilige Haltung in Konflikt-, Krisen- und Kriegszeiten. Insbesondere die Verankerung im reformierten Glauben führte offenbar in der Tendenz zu einer weniger staatsloyalen Grundeinstellung, als dies in lutherisch geprägten Kontexten der Fall war. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass die auf fatale Weise wirksam gewordene Rede vom »gerechten Krieg« aufgrund ihrer Integration in die lutherische Confessio Augustana (Art. XVI) eine deutlich stärkere Bedeutung hat als in der reformiert geprägten Staatsrechtslehre.201 Auf reformierter Seite ist jedenfalls die programmatische Wachsamkeit und 201

Vgl. Dennis Schönberger, Reformierte und Krieg – ein verdrängtes Thema? Ideengeschichtliche Perspektiven auf einen gewaltlegitimierenden Umgang mit der »Lehre« vom gerechten Krieg im Anschluss an den reformierten Juristen Johannes Althusius, in: Thomas K. Kuhn / Nicola Stricker (Hg.), Erinnert. Verdrängt. Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, Neukirchen-Vluyn 2016, 161–178.

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2. Reformatorische Orientierungen

Widerständigkeit gegen absolutistische Staatsräson und Kriegsdoktrin deutlich erkennbarer. Genannt sei für die Folgezeit exemplarisch nur Johann Amos Comenius, dessen friedenspädagogische Ausrichtung von seinem reformierten Glauben schlechterdings nicht getrennt werden kann.202 Diese unterschiedlichen Einstellungen mögen nun im Einzelnen darauf zurückzuführen sein, dass die europäischen Großmächte in konfessioneller Hinsicht entweder mehrheitlich lutherisch, katholisch oder orthodox geprägt waren. Die Minderheitssituation etwa der Waldenser oder Hugenotten in Europa hat dazu geführt, dass sich die Frage der Staatsloyalität im Krisenfall für den reformierten Glauben weit weniger häufig stellte. Um hier gleich den Zeitsprung zu unternehmen: Die Verortung in der reformierten Tradition allein führte natürlich nicht schon per se zu einer klaren friedensethischen Haltung. Dies kann man an den konfessionellen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Schweiz des 16. und 17. Jahrhunderts ebenso ablesen wie etwa an der Geschichte der reformierten Mehrheitskirche in Südafrika mit ihrer theologischen wie institutionellen Unterstützung der burischen Herrschaft und des Apartheidsystems in Südafrika. Umgekehrt sind natürlich die erheblichen friedensethischen Bemühungen von lutherischer Kirche und Theologie sowie einzelner Personen durch die Jahrhunderte hindurch keineswegs außer Acht zu lassen. Der positive Einfluss des ›neuen‹ Glaubens auf die neuzeitlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und seine institutionellen Manifestationen kann in verschiedener Hinsicht weiter deutlich gemacht werden: Zu nennen sind die »Befestigung der sozialen Ordnung«,203 die Etablierung staatlichen Rechts wie der Beitrag zu den ökonomischen Entwicklungen seit dem frühen 17. Jahrhundert. All dies ist ohne die Einflüsse protestantischer Weltanschauung ebenso wenig zu verstehen wie die Etablierung und der Ausbau der Bildungsinstitutionen Schule und Universität.204 Allerdings ist daran zu erinnern, dass das Toleranzprinzip eben doch erst durch die Aufklärungsideen des 18. Jahrhunderts zu einem festen religionspolitischen Programm werden konnte.205 Die kulturellen Entfaltungen etwa in Musik, Literatur und Architektur seit dem 18. Jahrhundert sind ebenso protestantisch – übrigens auch pietistisch – geprägt wie die sich intensivierenden philosophischen Debatten der Aufklärungszeit. Am Ende des 18. Jahrhunderts verstand man ausdrücklich theologisch begründet die individuelle Religiosität als eine 202

Vgl. zu diesem etwa Karl Ernst Nipkow, Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart, Gütersloh 2007. 203 Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, 79. 204 Vgl. Schweitzer, Das Bildungserbe der Reformation, a.a.O. 205 Johann Hinrich Claussen, Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen, München 2016, 63.

2.6 Die protestantische Entwicklungsgeschichte: Kein Ende in Sicht

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Grundkategorie menschlicher Existenz. Damit wurde nicht nur der vernünftige Charakter protestantischer Frömmigkeit herausgestellt. Sondern die Kirche öffnete sich nochmals neu für die Vielfalt persönlicher Glaubensfragen und Glaubenserfahrungen. Im Blick auf die Schriftauslegung führte die Kultur mündigen Christseins zu tiefgreifenden Konflikten. Weil man in aller Freiheit an die biblischen Texte herangehen konnte, wurden diese, wie bereits angedeutet, der historisch-kritischen Prüfung ausgesetzt. Johann Salomo Semlers »Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons«206 1771 bildete den Anfang einer neuzeitlichen bibelwissenschaftlichen Auslegungskunst, die nach den historischen Entstehungsprozessen der Bibel fragte. David Friedrich Strauss führte diese Linie mit seiner Schrift zum »Leben Jesu« 1835 fort und erklärte die Evangelien als von Sagen und Legenden durchsetzt und damit als weithin unhistorisch. Diese Entwicklung des mündig-kritischen Umgangs mit allen Glaubenstraditionen gab konsequenterweise im 19. Jahrhundert zunächst in der Schweiz, dann auch in Deutschland, vielfachen Anlass zum vehementen Streit um die Relevanz des Glaubensbekenntnisses. Liberale Pfarrer erklärten, sie könnten sich aus formalen und inhaltlichen Gründen nicht auf das Apostolikum verpflichten. Es sei zum einen nicht apostolisch, und sodann fehle darin die Rechtfertigungslehre und die Ethik Jesu. Hinzu komme, dass die Jungfrauengeburt und die Höllenfahrt Jesu dem protestantischen Denken und dem modernen Geist ganz grundsätzlich widersprächen.207 Um eine Spaltung der Kirche in einen liberalen und einen positiven Flügel zu vermeiden, hoben die Landeskirchen in der Schweiz die Verpflichtung des Pfarrers und der Gemeinde auf das Glaubensbekenntnis auf. Damit war die reformierte Bekenntnisfreiheit in der Schweiz eingeführt. Weder das Zweite Helvetische Bekenntnis, das immerhin aus der Feder des Zürcher Reformators Heinrich Bullinger stammt, noch die Barmer Theologische Erklärung 1934, an welcher der Basler Theologie Karl Barth maßgeblich mitgewirkt hatte, sind für die Schweizer Reformierten verbindliche Bekenntnisse. Im internationalen Vergleich einzigartig, bilden für sie allein die Heilige Schrift sowie die Glaubens- und Gewissensfreiheit die Basis kirchlicher Gemeinschaft208 – von daher erklären sich auch die gerade in der reformierten Schweiz immer wieder intensiv geführte Debatten um das eigene kirchliche Profil.

206

Johann Salomo Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, hg. von Heinz Scheible, Gütersloh 1967. 207 Vgl. Rudolf Gebhard, Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumsstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2003. 208 Matthias Krieg (Hg.), Reformierte Bekenntnisse. Ein Werkbuch, Zürich 22011.

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2. Reformatorische Orientierungen

Die seit dem 19. Jahrhundert noch dynamischere Ausdifferenzierung eröffnete auf Seiten protestantischer Religionskultur eine unüberschaubare Vielzahl unterschiedlichster Spielarten. Diese reichte von pietistischen Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegungen über sozialdiakonische Vereine bis hin zu Formen eines restaurativ-konservativen Sozialprotestantismus. So haben die etablierten sozialstaatlichen Hilfesysteme ebenso unverkennbar ihre protestantischen Wurzeln wie die missionarischen und karitativen Bewegungen der Epoche. Dabei konnte in den liberalen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Einfluss protestantischen Denkens und Lebensgefühls ein bewusst modernitätsoffenes und kirchenkritisches Gewand tragen. Dies ist angesichts des evangelischen Freiheitsgedankens letztlich so konsequent wie stimmig. In der Eidgenossenschaft hatte die Reformation eine Zerreißprobe bedeutet: Sie spaltete Kantone und Orte und führte – wie in vielen Teilen Europas – immer wieder zu Unruhen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Konfessionell aufgeladene Konflikte bestimmten bis in das 19. Jahrhundert hinein die sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Insofern sorgte die Etablierung des liberalen Toleranzprinzips entscheidend dafür, dass man sich über die religiösen Grenzen hinweg weiterhin als politische Gesamteinheit verstehen konnte. Deshalb war klar, dass Religion nicht die eine einheitsstiftende Größe für das Gemeinwesen sein konnte. Insofern wird dem Selbstverständnis der Schweiz nach die Einheit in Vielfalt eben nicht durch religiöse, sondern durch die säkularen Verfassungsprinzipien – und nicht zuletzt durch diverse nationale Mythenbildungen – gewährleistet. Damit verbindet sich in der Schweiz aus historischen und politischen Gründen die starke Tendenz, Religion als Privatsache zu verstehen. Im Zweifelsfall wird im Sinn der negativen Religionsfreiheit eher darauf geachtet, dass die Bürger vor dem Zwang der Religionsausübung geschützt werden, als dass der Vollzug von staatlicher Seite aus aktiv gefördert wird. Im Zusammenhang lutherischer Selbstpositionierung seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich hingegen vor allem in den lutherisch geprägten Ländern Deutschlands oder auch Skandinaviens ein protestantischkirchliches Selbstverständnis, das sich durch staatsähnliche Autoritätsansprüche und Organisationsstrukturen auszeichnete. Seit dieser Zeit hat sich im Bereich des Protestantismus durch die Struktur von Synoden und Kirchenleitungen so etwas wie ein parlamentarisches System etabliert. Zugleich sind damit allerdings die freien und frei schwebenden Glaubenspraktiken mehr und mehr an den Rand gedrängt worden. Dies gilt umso mehr ab dem Zeitraum, in dem es zu fest gefügten nationalen Bündnissen zwischen Kaiser und Kirche bzw. »Thron und Altar« kam. Die protestantischen Amtskirchen versuchten ihren Geltungsanspruch mithilfe staatlicher Instanzen nachhaltig zu untermauern. Zugleich zeig-

2.6 Die protestantische Entwicklungsgeschichte: Kein Ende in Sicht

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ten sich spätestens seit dieser Zeit und angesichts der starken innerprotestantischen Spannungen die Grenzen des kirchlichen Geltungsanspruchs, ein eindeutiges weltanschauliches Fundament von Staat und Gesellschaft bilden zu wollen. Dieser Versuch, nochmals eine enge Koalition von Kirche und Staat zu bilden, führte insbesondere in den Krisen- und Kriegszeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu, dass sich weite Teile des Protestantismus nur schwerlich in ein angemessen distanziertes Verhältnis zu den politischen Machthabern zu setzen vermochten. Der protestantische Freiheitsgeist hat sich in Zeiten des politischen Totalitarismus und Nationalsozialismus bestenfalls in wenigen widerständigen Persönlichkeiten und Gruppen Ausdruck verschafft. Die meisten Kirchenleitungen sowie die überwiegende Zahl evangelischer Christen im Deutschland arrangierten sich in jener Zeit in gehorsamer Pflichterfüllung entweder mit den Gegebenheiten oder wirkten sogar aktiv am alltäglichen Unrecht mit. Immerhin führten diese Erfahrungen dazu, dass einzelne Protagonisten nach 1945 bewusst am gesellschaftlichen, kulturellen und demokratischen Neuaufbau der Gesellschaft mitwirken wollten. Hier hat auch der Deutsche Evangelische Kirchentag seine Wurzeln. Reinold von ThaddenTrieglaff und seine Freunde begründeten die heute noch hauptsächlich von ehrenamtlichen Laien getragene Großveranstaltung mit der Idee »der Zurüstung der evangelischen Laien für ihren Dienst in der Welt und in der christlichen Gemeinde«.209 Insofern hat man wenigstens in gewissem Sinn Lehren aus dieser fatalen Geschichte der Unterwerfung unter das nationalsozialistische Regime gezogen. Allerdings ist eine ausdrücklich theologisch begründete positive Anerkennung der Demokratie sowie der Menschen- und Grundrechte, wie wir bereits erwähnt haben, mindestens für den Bereich der evangelischen Theologie und Kirchen erst sehr spät im 20. Jahrhundert zu konstatieren. In diesem Zusammenhang eröffnete die Rede von der Kirche als »Institution der Freiheit«210 zumindest Möglichkeiten, um den protestantischen Freiheitsgedanken mit den Grundwerten des demokratischen Systems zu verknüpfen.211 Insofern kann im Blick auf die hier nur sehr punktuell genannten Folgewirkungen konstatiert werden: »Diejenigen, die Luther als den Vater 209

Aus der Gründungserklärung des Deutschen Evangelischen Kirchentags 1949, zitiert in: Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, Kirchentage 1982–2016. [https://fowid.de/meldung/kirchentage-1982-2016-node3176] 210 Vgl. Trutz Rendtorff, Institution der Freiheit. Volkskirche in der Dimension des Bekenntnisses, in: Lutherische Monatshefte 15 (1976), 18–21. 211 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1985.

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2. Reformatorische Orientierungen

der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit feiern, täten gut daran, sich an seinen ausgeprägten Hang zum Elitismus, Etatismus und Chauvinismus zu erinnern. Diejenigen, die in den Reformatoren nur die kampfeslustigen Verbündeten der Unterdrückung sehen, sollten bedenken, dass sie auch gutwillige Befürworter der sozialen Wohlfahrt waren.«212 Offenkundig ist also eine schillernde Vielfalt der reformatorischen Einflüsse und Folgewirkungen. Und doch darf man die stilprägende, vielleicht sogar prophetische Kraft des reformatorischen Neubeginns nicht unterschätzen: Auch wenn man nicht mehr das heldenhafte Bild Luthers und der Reformatoren, wie es insbesondere im 19. Jahrhundert machtpolitisch gezeichnet wurde, vertreten kann – eines ist klar: Dass Luther sich »vor den Mächtigen seiner Zeit behauptete, war seinem Mut, seinem heroischen Selbstbehauptungswillen und der prophetischen Gewissheit zu verdanken, als Sprachrohr Gottes zu wirken.«213 2.7 Reformatorische Wahrheitsansprüche: Prophetenmut und Weltkritik Ist nun, wenn man die nachreformatorischen Entwicklungen betrachtet, die prophetische Dynamik, welche die Reformatoren in ihrem Reden und Schreiben ausgezeichnet und angetrieben hatte, weitgehend verloren gegangen, sozusagen institutionell eingehegt oder gar stillgestellt worden? Hat die Evangelische Kirche, so muss man angesichts unendlicher interner Entwicklungs- und Strukturdebatten fragen, überhaupt noch Kraft und Lust zur prophetischen Auseinandersetzung? Was treibt sie überhaupt an? Luther ebenso wie Zwingli und Calvin waren sich noch sicher, bei ihrer Auseinandersetzung mit der Römisch-Katholischen Kirche und in all ihrer theologischen Überzeugungskraft das Wort Gottes und damit Gott selbst auf ihrer Seite zu haben. Aber können wir den reformatorischprophetischen Eifer und Ernst unter den postmodernen Bedingungen des 21. Jahrhunderts noch vertreten? Wissen wir nicht viel zu viel über seine schrecklichen Folgen, um heute noch den prophetischen Furor zu teilen, der die Reformatoren antrieb? Lässt nicht die Realität höchst unterschiedlicher Wahrheitsvorstellungen heute eindeutiges Glauben, Reden und Handeln ganz unmöglich sein? Macht Profilsuche wirklich Sinn, wenn doch jeder das für sich auswählt, was er oder sie glauben möchte? Für die Reformierten stellt sich die Frage nach einer eindeutigen Positionierung aus theologischen Gründen möglicherweise noch drängender. 212

John Witte Jr., Recht und Protestantismus. Die Rechtslehre der lutherischen Reformation, Gütersloh 2014, 379. 213 Schilling, Martin Luther, a.a.O., 625.

2.7 Reformatorische Wahrheitsansprüche: Prophetenmut und Weltkritik

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Denn die »Aktenlage« ist von Beginn an auf Vielfalt angelegt: 1566 hält das Zweite Helvetische Bekenntnis fest, dass nur von der biblischen Überlieferung unbedingte Orientierungskraft ausgeht.214 Zumindest der schweizerische reformierte Protestantismus zeichnet sich, wie oben erwähnt, durch programmatische Bekenntnisfreiheit aus. Die Sammlungen reformierter Bekenntnisschriften dokumentieren deshalb lediglich einen gewissen Konsens in Glaubensfragen. Sie sind aber keinesfalls als ein unverrückbarer Maßstab oder gar als verbindliche Einheitstexte zu verstehen.215 Karl Barth bringt es auf den Punkt: »Wir, hier, jetzt – bekennen dies!, gewiß im Bewußtsein, im Namen der Una Sancta, im Bewußtsein, die Wahrheit zu reden, aber: Wir, hier, jetzt, dies.«216 Wie kann aber eine Kirche mit prophetischem und unbedingtem Anspruch auftreten, die davon Abstand nimmt, ihre Mitglieder unter dem Dach eines Bekenntnisses zu vereinen – womöglich gar darauf zu verpflichten? Mit diesen Fragen wollen wir nun Schritt für Schritt den Horizont auf die gegenwärtigen Herausforderungen für kirchliches Leben und eine darüber hinausgehende protestantische Lebenskultur erweitern. Was macht also für die weitere Entwicklungsgeschichte Hoffnung – worin liegt die Verbindung zwischen prophetischer Tradition und politisch relevanter Zeitansage? Um uns dieser Frage anzunähern, gehen wir nochmals in die reformatorische Ursprungsgeschichte zurück: Ein wesentliches einheitsstiftendes und profilbildendes Moment liegt in der reformatorischen Überzeugung, dass der Kirche gesellschaftliche und politische »Einmischung und Anwaltschaft«217 aufgetragen ist. Die Verantwortung von Christinnen und Christen vor Gott ist nicht auf den Bereich religiöser Innerlichkeit beschränkt. Vielmehr erstreckt sie sich explizit auf den gesamten weltlichen Bereich. Kirche soll in der Welt sichtbar werden. Christsein schließt verantwortliches Handeln in allen Weltverhältnissen unbedingt mit ein.218 Tatkräftiges Bekennen wird selbst bei Bekenntnisfreiheit – so könnte man den Reformierten sagen – nicht unmöglich gemacht, sondern das Gegenteil ist der Fall! Die Gemeinschaft der Gläubigen erweist sich über die Taufe hinaus wesentlich 214

Vgl. Bullinger, Zweites Helvetisches Bekenntnis, a.a.O., Kap. 1, Die Heilige Schrift, das Wahre Wort Gottes. 215 Vgl. Georg Plasger, Grundkurs Reformierte Geschichte und Theologie, Lektion 6, Reformierte Bekenntnisse im 16. und 17. Jahrhundert. Reformiert online. Johannes a Lasco Bibliothek 2003, 4 [www.reformiert-online.net/t/de/bildung/grundkurs/gesch/ lek6/print6.pdf]. 216 Karl Barth, Die Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses, in: Die Theologie und die Kirche, Gesammelte Vorträge 2. Band, München 1928, 76–105. 217 Vgl. Marianne Heimbach-Steins, Einmischung und Anwaltschaft. Zur sozialethischen Kompetenz der Kirche, in: Ethica 5 (1997), 255–276. 218 Vgl. dazu Thomas Schlag, Öffentliche Kirche. Grunddimensionen einer praktischtheologischen Kirchentheorie, Zürich 2012.

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2. Reformatorische Orientierungen

darin, dass die politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit an der biblischen Überlieferung geprüft und geschärft wird. Dies ist nach reformatorischer Vorstellung geboten und möglich, weil Christus über alle Bereiche des Lebens herrscht. In der Zweiten These der Theologischen Erklärung von Barmen (1934) ist dies ausdrücklich für die öffentliche kirchliche Verantwortung herausgearbeitet: »Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.« Kirche kann und soll in allen Lebensbereichen tätig und verantwortlich wirken, auch derjenigen Menschen, die sich außerhalb der Kirche befinden. Reformiert gesehen, ist im Licht der Königsherrschaft Christi das öffentliche Eintreten für alle Menschen unbedingt geboten. Denn nach reformierter Vorstellung ist das alttestamentliche Gesetz durch Christus eben nicht »abgetan«. Sondern vielmehr ist es aus Dankbarkeit einzuhalten. Nach reformiertem Verständnis bleibt das Gesetz von Gott her und auf Gott hin gültig. Es gebietet den Christenmenschen, sich in allen Bereichen ihres Lebens als Kinder Gottes zu verhalten. Es umfasst den öffentlichen, politischen und gesellschaftsrelevanten Einsatz für das gute Leben aller Menschen – in aller Freiheit jedes einzelnen Christenmenschen. Zwingli, der Reformator aus den Toggenburger Bergen, sieht das Reich Gottes eben nicht nur als ein innerliches, sondern auch als ein äußerliches Reich. Die kommende Gerechtigkeit Gottes bestimmt schon hier und jetzt die äußeren Weltverhältnisse. Für diese Verhältnisse war Zwingli schon als katholischer Priester in Glarus sensibilisiert. Er bekämpfte die sogenannte »Reisläuferei«, also das Söldnerwesen der damaligen Großmächte, das stark mit der Nachfrage nach schweizerischen Kämpfern verbunden war. Diese sei Quelle von Laster, Ungläubigkeit, Verrohung der Sitten und Korruption. So formuliert Zwingli: «Wer könnte leugnen, dass der Tag des Herrn gekommen ist? Nicht der letzte Tag, wo der Herr die ganze Welt richten wird, sondern ein vorletzter Tag, da die gegenwärtigen Verhältnisse erneuert werden.«219 Es ist also der vorletzte Tag angebrochen. Das Reich Gottes ist hier und jetzt unter uns. Es verändert, so Zwingli, jetzt schon die Welt. Aber nicht so, wie es die Schwärmer wollten, für die das Vorletzte gar nicht mehr gelten sollte. Sondern so, dass das Wort Gottes, das so lebendig und kräftig ist, dass es sich alle Dinge »gliichförmig« machen will220 und hindurchleuchtet durch die Verhältnisse, wie sie hier und jetzt sind. Und so beginnt es,

219 220

Zwingli, De vera et falsa religione commentarius, ZW, Bd. III, 633. Ders., Von Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes, Zwingli Werke, Bd. I, 353.

2.7 Reformatorische Wahrheitsansprüche: Prophetenmut und Weltkritik

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diese zu verändern: Schon jetzt und noch nicht ist das Reich Gottes da (vgl. Lk 17,21). Zwar ist auch für Zwingli die Gerechtigkeit Gottes geschenkte Gerechtigkeit, die man sich nicht mit Werken verdienen kann. Aber das Evangelium ist nicht nur unverdiente Zusage. Sondern es fordert in ethischer Hinsicht eben auch. Das führt Calvin zum Gedanken des tertius usus legis, dem dritten Gebrauch des Gesetzes.221 Auch dieses, so der Genfer Reformator, ist den Christen gegeben. Bei Zwingli begegnet es in der Rede von der göttlichen Gerechtigkeit: Gegen diese ist die menschliche Gerechtigkeit eben nur eine arme »prästhaffte grechtigkeit«.222 Sie ist eine schadhafte und jämmerliche Gerechtigkeit, die es eigentlich gar nicht würdig sei, Gerechtigkeit genannt zu werden. Theologisch prägnant formuliert, ist das Wesen der göttlichen Gerechtigkeit die Liebe. Im Liebesgebot sind alle Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit zusammengefasst. Die Liebe ist das Maß, an dem alles gemessen werden soll. Dies eröffnet zugleich alle Möglichkeiten für eine radikale, eben prophetische Gesellschaftskritik. Es erstaunt nicht, dass sich davon ausgehend ein radikaler Flügel innerhalb der Zürcher Reformation bildete. Dieser wolle zum Beispiel nicht nur – wie Zwingli – die Zins- und Zehntenzahlung auf 5% beschränken, sondern sie überhaupt abschaffen. Davon hat sich Zwingli entschieden distanziert. Er wirft ihren Vertretern vor, dass sie den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit verwischen, wenn sie die Liebe von menschlicher Seite her erzwingen. Göttliche Gerechtigkeit kann in ihrer Fülle nur von Gott her kommen. Diese Vollendung lässt sich für ihn nicht vom menschlichen Vorletzten her erzwingen:223 Die Radikalen verkennen das ›Noch-Nicht‹. Innerhalb des Vorletzten ist das relative menschliche Recht notwendig – eben weil das Liebesgebot nicht erzwungen werden kann. So verweist – wiewohl schwach und fehlerhaft – das menschliche Recht unablässig auf die göttliche Gerechtigkeit. Deshalb ist diese ohne Unterlass zu predigen und zu verkündigen. Nicht um die menschliche Gerechtigkeit zu verdrängen, »sondern um klar zu machen, dass Gott unendlich viel mehr fordert als bürgerliche Wohlanständigkeit«.224 Für Zwingli bleibt die menschliche Gesellschaft deswegen auf das Reich Gottes bezogen. Sie muss sich beständig an ihr messen lassen. Individuelle Gewissensfreiheit und politische Mündigkeit sind dabei nach refor221

Der »erste Gebrauch« ist politisch: Der Staat braucht ein Gesetz, um die Gemeinschaft zu schützen. Der »zweite Gebrauch« ist spezifisch theologisch: Der Mensch merkt seine Unfähigkeit zum Guten erst, wenn er versucht, die göttlichen Gesetze vollumfänglich einzuhalten. 222 Ders., Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, ZW, Bd. II, 485. 223 Ders., De vera et falsa religione commentarius, Zwingli Werke, Bd. III, 633. 224 Arthur Rich, Zwingli als sozialpolitischer Denker. in: Zwingliana 13/1 (1969), 80.

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miertem Verständnis darauf angewiesen, auf das Evangelium von der göttlichen Gerechtigkeit zu hören. Dies hat nichts mit einem »klerikalen Autoritarismus« oder gar einer »moralisierende(n) Klerisei« zu tun.225 Wohl aber mit der Überzeugung, dass keiner für sich allein die Wahrheit hat. Deshalb ist das prophetische Wächteramt nicht einem Einzelnen, sondern der Kirche aufgetragen. Nun gilt natürlich auch für die lutherische Ethik das Prinzip unbedingter Weltverantwortung. Zu dieser ist der Einzelne in der Freiheit des Glaubens nicht nur ermächtigt, sondern verpflichtet. Diese hat in der lutherischen sogenannten Zwei-Regimenten-Lehre ihren Ausdruck gefunden: Luther knüpft dafür an die Unterscheidung Augustins zwischen der »irdischen und der himmlischen Stadt« (civitas terrena und civitias coelestis) an, überwindet dabei aber diesen schroffen Dualismus. Er entwickelt, wenn man so sagen will, eine politisch höchst bedeutsame Unterscheidungs- und Zuordnungslehre. Es geht wesentlich um eine klare Bestimmung im Blick auf den »universalen Bereich dessen, was Gott kann und tut, und dem von Gott darin dem Menschen eingeräumten Bereich der beschränkten, geschaffenen Macht des Menschen.«226 Zum einen ist da das geistliche Regiment, das »fromm macht«, indem der Glaube durch das Predigtamt der Kirche in Wort und Sakrament durch den heiligen Geist und unter Christus geweckt wird. Demgegenüber steht das weltliche Regiment, das durch das obrigkeitliche Schwertamt dem Bösen widersteht. Es dient dem Schutz, wehrt dem Krieg und schafft Frieden. Diese Unterscheidung darf nicht vermischt werden. Der Mensch befindet sich, weil er gerechtfertigt ist, entweder im Reich Gottes, in dem gar kein Regiment notwendig ist. Denn aus dem Glauben gehen die guten Werke immer schon wie Früchte des guten Baumes hervor. Im Reich Gottes gelten die Bergpredigt und das Liebesgebot. Oder aber er befindet sich im Reich der Welt. Hier regiert das Schwertamt. Denn das Böse und das Unrecht müssen gestraft werden. Was bedeutet dies nun für das Verhalten des Christenmenschen in der Welt? Sie unterwerfen sich dem weltlichen Regiment gerade aus Nächstenliebe, obwohl sie es eigentlich nicht nötig haben. Diese weltliche Pflicht soll und kann also nicht dazu dienen, das Evangelium oder Reich Gottes auf Erden durchzusetzen. Denn damit würde sich der Mensch selbst Gottes Wirken anmaßen und sich kolossal überfordern. Sondern – und hier haben wir die modernitätsfähige Pointe – ein solches weltliches Handeln ist und bleibt Dienst am Nächsten, sozusagen Bürgerpflicht. In 225

So der Vorwurf von Friedrich Wilhelm Graf, Christen im demokratischen Verfassungsstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14/2009 [www.bpb.de/apuz/32084/ christen-im-demokratischen-verfassungsstaat]. 226 Eilert Herms, Leben in der Welt, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 22010, 426.

2.7 Reformatorische Wahrheitsansprüche: Prophetenmut und Weltkritik

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seiner programmatischen sogenannten Obrigkeitsschrift von 1523 wird dieses öffentliche, lebensdienliche Handeln wie folgt begründet: »Weil ein rechter Christ auf Erden nicht sich selbst, sondern seinem Nächsten lebt und dient, so tut er der Art seines Geistes entsprechend auch das, dessen er nicht bedarf, sondern was seinem Nächsten von Nutzen und nötig ist.«227 Diese sozusagen theologisch begründete kooperative Zuordnung fasst Luther einige Jahre später in »De servo arbitrio« in der schönen Formulierung zusammen: »«Gott wirkt nicht ohne uns, weil er uns nämlich dazu erneuert hat und (als Erneuerte) erhält, damit er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken. So predigt er durch uns, erbarmt sich der Armen, tröstet die Betrübten.«228 Diese Grundunterscheidung als Zuordnung dient also nicht dazu, die irdischen Handlungsbereiche sich selbst zu überlassen oder ihnen gar eine unantastbare Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben: Vielmehr führt diese wohlbegründete Unterscheidung dazu, alles politische Handeln der kritischen Prüfung unterziehen zu können: »Innerhalb des vorgängigen oder, anders ausgedrückt, des umfassenden Wirkens Gottes, das den Menschen in einer Hinsicht unfrei macht, ist in Hinsicht auf die Schöpfung gerade ein Raum der Freiheit für den Menschen eröffnet.«229 Maßstab legitimen irdischen Handelns bleibt, ob es sich als gottgefällig und lebensdienlich erweist: Deshalb liefert auch eine lutherisch fundierte theologische Ethik sehr wohl wesentliche Kriterien für die kritische Beachtung und Beurteilung politisch-staatlichen Handelns – bis hin zur erwähnten Sensibilität für die Armen und Betrübten, die es zu trösten gilt. Übertragen wir diese ›prophetischen Folgewirkungen‹ hier einmal auf die aktuelle Lage: Interessanterweise scheint es beim vergleichenden Blick auf die Selbstpositionierung der Kirchen in der Schweiz und in Deutschland sogar so zu sein, dass zumindest die reformierten Kirchenleitungen kaum politische Einflussmöglichkeiten haben – wenn sie es denn überhaupt beanspruchen. In den helvetischen Verhältnissen gewinnt man nicht selten den Eindruck, als ob sich die kirchlichen Akteure längst gut mit den gesellschaftlichen Verhältnissen arrangiert haben. Ob sie wohl willens oder in der Lage dazu sind, zu den gesellschaftlichen Problemlagen einen wirklichen Kontrapunkt zu liefern? Verfügen sie überhaupt über geeignete Artikulationsformen, um als Kirche auf die Missstände des politischen und insbesondere des ökonomischen Systems hörbar aufmerksam zu machen? Von der Leitidee der Königsherrschaft 227

Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), WA 11, 253. 228 Ders., De servo arbitrio (1525), WA 18, 754. 229 Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 21983, 517.

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2. Reformatorische Orientierungen

Christi ist jedenfalls aktuell im konkreten kirchlichen Handeln nur wenig zu spüren. Womöglich führt hier die Tatsache, dass die Reformierte Kirche von den ökonomischen Verhältnissen erheblich profitiert, dazu, dass man sich im Konfliktfall lieber in Schweigen hüllt, als dass man wirklich den Mut aufbringt, die unübersehbaren gesellschaftlichen Grundprobleme zu brandmarken. Hingegen weisen Evangelische wie Katholische Kirche in Deutschland breite und intensive, beinahe lobbyartige Kontaktflächen zu den öffentlichen Gestaltungsinstanzen auf. Und die höchsten politischen Würdenträgerinnen und -träger beziehen sich in ihrem Handeln ausdrücklich auf die eigene Glaubenshaltung. Es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass angesichts der gegenwärtigen politischen Diskussionen etwa zu den rechtspopulistischen Tendenzen die Amtsvertreterinnen und -vertreter lutherischer Provenienz deutlich hörbarer und entschiedener auftreten, als es für die reformierten Repräsentantinnen und Repräsentanten festgestellt werden kann – aber dies hat möglicherweise nicht nur theologische Gründe im engeren Sinn. Sondern hier zeigt sich vermutlich ein ganz bestimmtes Selbstverständnis dessen, wofür man als Evangelische Kirche zuständig sein will, wofür man sich Gehör verschaffen will, ›wozu‹ Kirche da ist. Von diesen Fragen sollen unsere folgenden Ausführungen zur gegenwärtigen Lage und den Zukunftsherausforderungen bestimmt sein.

3. Protestantische Kirche fordert heraus

3.1 Volkskirche am Scheideweg? – Zwiespältige Beobachtungen 3.1.1 Alarmsignale Die Evangelischen Kirchen im deutschsprachigen Raum stehen unbestreitbar vor erheblichen Herausforderungen. Aktuelle Zustandsbeschreibungen sind sich weitgehend darin einig, dass von einer volkskirchlichen Stabilität längst nicht mehr die Rede sein kann. Nun gehört die Rede von der Krise in gewissem Sinn von Beginn an zur Geschichte protestantischen Kircheseins. Immer wieder wurde der bevorstehende Untergang ausgerufen. Tatsächlich finden sich Klagen über den mangelnden Kirchenbesuch, der das baldige Ende der Institution einläute, schon am Ende des 18. Jahrhunderts. Es käme also einer verklärenden Sichtweise gleich, würde man die gegenwärtig benannten Krisenphänomene für etwas ganz Neues halten. Aber möglicherweise befinden sich die Volkskirchen historisch gesehen tatsächlich in ihrer Spätphase230 und am Scheideweg. Insbesondere kirchenleitende Stellungnahmen sind jedenfalls stark vom Gefühl einer weitreichenden krisenhaften Gesamtlage der eigenen Institution geprägt. Entsprechende Reformpapiere erwecken bei allem gutgemeinten Schwung den Eindruck, dass es für hoffnungsvolle Zukunftsprognosen eher wenig Grund gibt. Mit mancher engagierten Wachstumsinitiative verbindet sich die sorgenvolle Frage, ob man wirklich über geeignete und wirksame Strategien eines »Wachsens gegen den Trend«231 verfügt. Denn offenkundig können die unzähligen Reformvorhaben der vergangenen Jahre den weiteren Exodus vieler Mitglieder weder aufhalten noch beenden. Es hat gar den Anschein, als ob die vielfältigen Gegenstrategien die innerkirchlichen personellen Ressourcen und finanziellen Ressourcen eher verringern als vergrößern. In all dem ist ein eigenartig depressiver Ton des »Wie lange noch?« unter den Verantwortlichen unüberhörbar. Nun ist die gegenwärtige Situation der Evangelischen Kirchen in erheblicher Weise mit den demografischen, finanziellen, religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten fünf Jahrzehnte verbun230

Vgl. Kristian Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2009. 231 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006.

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den. Die Kirchen sollten sich dabei die Beweislast für die nachlassende Teilhabe nicht nur eigenen Versäumnissen zuschreiben. Die Bereitschaft, sich an Großinstitutionen wie Parteien, Verbände oder auch Vereine kontinuierlich zu binden, hat in den mitteleuropäischen Gesellschaften über die vergangenen Jahrzehnte stetig abgenommen. Insofern sind keineswegs nur die Kirchen von diesem gesellschaftlichen Megatrend betroffen. Aber nicht selten gewinnt man den Eindruck, dass auf kirchlicher Seite und unter ihrem besoldeten Personal besonders laut und mit einem Exklusivanspruch auf Niedergang gejammert wird. Natürlich sprechen die Zahlen hier eine recht eindeutige Sprache und scheinen diese Krisenstimmung immer wieder neu zu bestätigen: Die jährlich zu registrierenden Austrittszahlen, die nachlassende Tauf- und kirchliche Traupraxis und die sinkende Gottesdienstteilnahme verdeutlichen, dass sich der institutionelle Protestantismus in einer nicht zu unterschätzenden Situation tiefgreifender Veränderungen befindet.232 Gegenwärtig gehören zwar immer noch rund zwei Drittel der deutschen und schweizerischen Bevölkerung der Evangelischen oder Katholischen Kirche an. Somit stellt die kirchliche Mitgliedschaft keineswegs ein seltenes oder gar sonderbares gesellschaftliches Randphänomen dar. Dies gilt trotz der Tatsache, dass der Anteil der Konfessionslosen von Jahr zu Jahr steigt und inzwischen etwa in der Schweiz rund 20% der Bevölkerung ausmacht. Zu denken gibt aber, dass jährlich rund so viele Mitglieder allein aus den evangelischen Landeskirchen in Deutschland austreten, wie ein außergewöhnlich gut besuchter Deutscher Evangelischer Kirchentag aufweisen kann: nämlich rund 200 000! Und bei bestimmten äußeren negativen ›Impulsen‹ wie den Missbrauchsvorgängen in kirchlichen Einrichtungen oder ganz profan auch infolge von steuergesetzlichen Änderungen können die Austrittszahlen in kurzer Zeit deutlich nach oben schnellen. Insofern darf man die realen Prozentzahlen tatsächlich nicht ignorieren. Dass die klassischen Volkskirchen ihre Monopolstellung für Religion sowohl in lokaler wie in überregionaler Hinsicht längst eingebüßt haben, zeigt sich schon im Blick auf deren organisatorische Struktur: Die feste Zugehörigkeit zu einer territorialen Kirchengemeinde war über lange Zeit wesentlich davon getragen, dass Menschen sich dort zugehörig fühlen und sich engagieren, wo sie wohnen. Das pastorale Personal vor Ort war wenigstens in ländlicheren Gebieten neben dem Bürgermeister bzw. dem Gemeindepräsidenten und dem ›Schulmeister‹ der sichtbare Anhaltspunkt für das lokal stabile Autoritätsensemble. Kirche galt als festgefügte und stabile Instanz, die das Leben des Einzelnen und der 232

Siehe dazu v.a. Heinrich Bedford-Strohm / Volker Jung (Hg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015.

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Gemeinde entscheidend prägte und deren Stimme maßgebliches Gewicht hatte. Durch das kirchliche Angebot an den verschiedenen Wegmarken des Lebenslaufes wurden religiöse Biografien und Identitäten in wesentlichem Sinn geprägt. Das verlässlich wiederkehrende Gottesdienstangebot durch das Kirchenjahr hindurch strukturierte die Festtagszeiten des Einzelnen und des ganzen Sozialraums. Vor dem Hintergrund der erheblichen Arbeits-, Freizeit- und Beziehungsmobilität ist die Kirche im Dorf oder im Stadtquartier aber gegenwärtig nur noch im Einzelfall ein wesentlicher Bezugs- oder Orientierungspunkt für die individuelle Lebensgestaltung. Weil viele Menschen inzwischen mit beinahe unbegrenzten Möglichkeiten mobil sind, werden sie in religiöser Hinsicht mehr und mehr zu religiösen Flaneuren.233 Man fühlt sich jedenfalls in der Regel weder dazu verpflichtet noch daran gebunden, in der eigenen Kirchengemeinde sichtbar zugehörig oder aktiv zu sein. Zudem mag zwar das kirchliche Handeln durchaus noch wohlwollend oder aufmerksam beobachtet werden. Aber der Kirche misst man in der Regel für die eigenen Lebensvollzüge keine wesentliche Bedeutung mehr bei. In den konkreten Begegnungen mit eher distanzierten Menschen ihrer Gemeinde berichten Pfarrerinnen und Pfarrern, dass es ihnen immer schwerer fällt, deutlich zu machen, worin der Sinn einer bestimmten kirchlichen Praxis besteht und was es mit Kirche überhaupt auf sich hat. Pfarrerinnen und Pfarrer wissen etwa beim Besuch von Konfirmandeneltern manche schmerzliche Erfahrung zu berichten, die zudem durchaus am eigenen Standesbewusstsein nagt. Das kirchlich organisierte Angebot muss sich aber nicht nur auf einem enorm ausgeweiteten Markt anderer Sinnstiftungsinstanzen behaupten und bewähren. Auch die bisherigen Privilegien der Kirche als Organisation werden der verschärften öffentlichen Legitimitätsprüfung unterzogen: In Frage gestellt werden der konfessionelle Religionsunterricht,234 das kirchliche Beamten- und Dienstrecht, die Kirchensteuer ohnehin sowie die bisherige Exklusivstellung in Krankenhaus-, Gefängnis- oder Militärseelsorge. Eine kirchliche Kinder- und Jugendarbeit gerät nicht selten unter den Verdacht religiöser Indoktrination. Dies erschwert die öffentliche Finanzierung oder Kooperation mit säkularen Trägern zunehmend oder macht sie bereits unmöglich. Vertraut man den entsprechenden Umfragen, so hat die Prägekraft protestantischer Traditionen aber auch für die Lebensführung ihrer verbunde233

Vgl. dazu programmatisch Albrecht Grözinger / Georg Pfleiderer (Hg.), »Gelebte Religion« als Programmbegriff systematischer und praktischer Theologie, Zürich 2002. 234 Vgl. die Umfrage zum konfessionellen Religionsunterricht in Deutschland vom September 2016, den angeblich rund zwei Drittel zugunsten eines gemeinsamen Werteunterrichts ersetzt haben wollen [https://yougov.de/news/2016/09/28/mehrheit-furabschaffung-des-religionsunterrichts-/].

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nen Mitglieder in den vergangenen Jahrzehnten massiv nachgelassen. Dies zeigt sich konkret dort, wo sich Verantwortliche in Kirchengemeinden darum bemühen, Gemeindeglieder für einzelne Angebote oder Aktivitäten zu interessieren und zu mobilisieren. Es gilt jedenfalls inzwischen als begründungsbedürftig, an kirchlichen Angeboten überhaupt teilzunehmen, ganz zu schweigen davon, sich hier aktiv zu engagieren. Marketingtechnisch gesprochen müssen Werbemaßnahmen immer aufwändiger gestaltet werden, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erzeugen. Offenbar fällt – um es einmal ökonomisch auszudrücken – das Verhältnis von Aufwand und Ertrag aufseiten der kirchlichen Anbieter immer ungünstiger aus. Die starke Fokussierung auf den kirchlichen Dienstleistungscharakter hat ambivalente Folgen – sowohl in der Außenwahrnehmung wie aus Sicht ihrer Mitglieder. Zwar wird die Kirche immer noch von vielen als Institution für Menschen in Not geschätzt. Wenn die Kirche ihre diakonischen Leistungen betont, mag ihr tatsächlich kaum jemand widersprechen. Man muss aber davon ausgehen, dass zukünftig immer mehr Menschen ihr Verhältnis zur Kirche in einem eher distanzierten Sinn verstehen und nur noch in existenziellen Situationen auf deren Angebote zurückgreifen. Sie können eigener Auskunft nach auch ohne Kirche Christ sein. Wenn das Evangelium im normalen Sonntagsgottesdienst gefeiert und verkündigt wird, sind sie selten präsent. Gottesdienst, so die artikulierte Überzeugung, lässt sich beim Spaziergang in der Natur ganz für sich alleine abhalten. Hinzu kommt, dass für die klassischen Lebenslaufrituale immer stärker alternative Bestattungsrituale oder säkulare Trauerprediger in Anspruch genommen werden. Der tiefere theologische Sinn einer spezifisch kirchlichen ›Dienstleistung‹ ist für viele Menschen schlichtweg nicht mehr deutlich. Zudem scheinen inzwischen schon geringste Negativerfahrungen mit Kirche, seien diese aus den Medien abgeleitet oder durch persönliche Eindrücke gewonnen, zu genügen, damit Menschen sich enttäuscht von der Kirche abwenden. Aber wie gesagt, dies ist kein exklusives ›Privileg‹ der Kirchen. Menschen überlegen sich ganz generell, ob eine und, wenn ja, welche Mitgliedschaft für sie Sinn macht. Dass sie jedenfalls nicht mehr wie selbstverständlich ihr Mitgliedschaftsverhältnis klaglos aufrechterhalten, könnten die Kirchen von der seinerzeitigen Krise des ADAC lernen: Infolge mehrerer Skandale hatten viele Mitglieder dort ihre Kündigung angedroht. Allerdings ist die aktuelle Mitgliederzahl höher denn je. Das Angebot des Automobilclubs – vermutlich die garantierte Hilfe im Notfall durch die ›gelben Engel‹ – scheint unverzichtbar zu sein. Dieser Befund sollte den Kirchen intensiv zu denken geben. Wo sind sie unverzichtbar und mit welchem inhaltlichen Programm eigentlich?

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Selbst die nachgewiesenermaßen positiven Erfahrungen mit einzelnen Pfarrerinnen oder Pfarrern, etwa im Zusammenhang individueller Lebensbegleitung oder Beratung, sind offenbar nicht mehr bindungswirksam. Sie halten Menschen nicht davon ab, sich im entscheidenden Moment doch für den Austritt zu entscheiden. Allerdings sollten sich auch in diesen Fällen Pfarrerinnen und Pfarrer erst einmal nicht allzu sehr erschüttern lassen – etwa wenn nach einer gelungenen Trauung am darauffolgenden Montag die Austrittserklärung des Hochzeitspaares einfliegt. Jedenfalls sind es wohl eben wieder die größeren Trends, denen selbst die überzeugendste Pfarrperson nur schwer entgegentreten kann – was natürlich nicht heißen kann, den Dingen einfach seinen unprofessionellen Lauf zu lassen. Jedenfalls macht der globale religiöse Markt die bewusste Identifikation mit dem protestantischen Glauben schwerer und den Kirchen ernsthaft zu schaffen. Vor allem im urbanen Raum ist die Zahl alternativer Angebote für individuelle Spiritualität und Lebensorientierung enorm – die schon erwähnte Wahlfreiheit in Sachen Religion lässt grüßen! Religiöse Kommunikation findet an vielen Orten statt, auch zunehmend punktuell und virtuell. Die großen Kirchen müssen zunehmend ihre geistliche Relevanz rechtfertigen.235 Schon gar nicht mehr werden sie als Alleinanbieter oder gar Vermittler individueller Heilszusagen wahrgenommen. Nun kann trefflich darüber gestritten werden, ob in der Gesellschaft ein Trend zur Säkularisierung oder eine Wiederkehr der Religionen zu beobachten sei. Dass sich ›Religion‹ in den westlichen Gesellschaften überhaupt ›erledigt‹ hätte, kann jedenfalls angesichts vieler vitaler religiöser Suchbewegungen nicht angenommen werden. Vermutlich haben wir es mit vielfältig parallel laufenden Entwicklungen von Säkularisierungsprozessen und neuen religiösen Suchbewegungen zu tun.236 In jedem Fall muss der religiöse Markt und die damit verbundene Konkurrenzsituation auf dem Feld religiöser Praktiken von den Kirchen in aller Ernsthaftigkeit wahrgenommen werden – und dies ohne den unausgesprochenen Vorwurf an die Flaneure, wonach diese auf allzu sonderbaren Wegen unterwegs seien. Der schwindende Einfluss der Evangelischen Kirchen zeigt sich zudem dort, wo es um ihre gesellschaftliche und kulturelle Bedeutsamkeit bzw. ihre öffentliche Positionierung und den Anspruch auf Deutung und Mitgestaltung bestimmter gesellschaftspolitischer Entwicklungen geht. Der Grundgedanke protestantischer Glaubensfreiheit mag zwar noch ›irgendwie‹ im Bewusstsein vorhanden sein. Aber für die Mitwirkung an gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen scheint er 235 236

Vgl. Stolz /Ballif, a.a.O., Die Zukunft der Reformierten. Vgl. Peter L. Berger, Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2015.

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keine öffentlich bedeutsame Orientierungsfigur mehr abzugeben. Insbesondere in den gesellschaftlichen Debatten wie zur Frage der Sterbehilfe, der Präimplantationsdiagnostik oder der sogenannten ›Masseneinwanderung‹ werden kirchliche Stimmen kaum mehr als meinungsbildende Größen angesehen. Natürlich ist dies den kirchlich Verantwortlichen längst überdeutlich bewusst. Gleichwohl hat man nicht unbedingt den Eindruck, als ob mit den genannten Phänomenen wirklich evangelisch-profiliert umgegangen wird. Vergleicht man die entsprechenden kirchlichen Strategien mit Unternehmensstrategien auf heiß umkämpften Absatzmärkten, so erstaunt das oftmals überaus gemütliche Tempo, mit dem umgesteuert werden will. Ohne hier in allzu billige Klischees zu verfallen, kann man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, dass innerkirchliche Verwaltung und interne Gremienarbeit die dringend für die ›Außenarbeit‹ benötigten finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen zu verschlingen drohen. Organisationsbedingte Entschleunigungen mögen manchmal notwendig sein, um klare Gedanken über die zukünftige Strategie zu fassen. Aber mancher dieser Prozesse erscheint als allzu gemächlich. Den besoldeten, nach wie vor sehr gut gestellten Pfarrpersonen in vielen Kantonalkirchen der Schweiz mag man gar eine gewisse ›Wohlstandverwahrlosung‹ vorwerfen. Offenbar meinen viele, man habe es angesichts der immer noch sprudelnden Kirchensteuereinnahmen nicht nötig, sich über einen notwendigen Neuaufbruch ernsthaft Gedanken zu machen. Möglicherweise ist diese innerkirchliche Schrittgeschwindigkeit auch darin begründet, dass das kirchliche Personal am Ende des Tages nicht mit dem eigenen privaten Vermögen geradestehen muss. Und eine lebenslang gesicherte, beamtenähnliche Beschäftigungsgarantie erleichtert ebenfalls nicht gerade den entschiedenen Neuanfang. Wir wollen damit nicht dafür plädieren, diese Rahmenbedingungen zu ändern. Aber wir weisen damit auf die Gefahr einer dadurch stabilisierten Haltung unaufgeregter Passivität hin. Man sollte sich auf kirchlicher Seite auch nicht dadurch beruhigen lassen, dass Kirche ›irgendwie‹ noch Teil des gesamtkulturellen Erscheinungsbildes ist. Natürlich werden Weihnachtsgottesdienste noch in großer Zahl besucht. In vielen Gemeinden finden öffentliche Einweihungen und Jubiläen auch unter Mitwirkung kirchlicher Repräsentantinnen und Repräsentanten statt. Jede angedrohte Kirchenschließung löst Abschiedsschmerz, Proteste und Widerstand aus. Aber es steht doch zu befürchten, dass es sich dabei eher um ein zivilreligiöses Phänomen handelt – d.h. hier ist zwar die symbolische Präsenz von Kirche noch vorhanden und man beruft sich dann auch gerne auf eine ›christliche Leitkultur‹. Aber sind dies dann schon theologisch begründete, zukunftsfähige Hoffnungszeichen?

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Auch die gegenwärtigen finanziellen Verhältnisse sollten die Verantwortlichen nicht beruhigen. Zwar verfügen die einzelnen Landes- und Kantonalkirchen über erhebliche finanzielle und materielle Ressourcen, die noch sehr lange vielfältige Aktivitäten ermöglichen werden. Aktuell fließen den Kirchen aufgrund der konjunkturellen Großwetterlage erhebliche Steuermittel zu. Dies verdeckt allerdings eine wesentliche Tatsache: Finanzielle Stabilität bedeutet eben keineswegs automatisch eine stabile Gesamtsituation. Die vorhandenen finanziellen Ressourcen und Vermögensverhältnisse werden den schleichenden Verlust der Mitgliederbindung auf Dauer nicht kompensieren. Dass viele Finanzmittel in die innerkirchliche Alterssicherung und den Erhalt der Gebäude fließen, ist zwar so selbstverständlich wie notwendig. Denn natürlich sind die entsprechenden Rücklagen ein Teil kirchlicher Risikominimierung für schwieriger werdende Zeiten. Allerdings stellt sich die grundsätzliche Frage, ob womöglich doch die gegenwärtig notwendigen Investitionen in personale Präsenz grundsätzlich zu kurz kommen. Es mag wie eine banale Alltagsweisheit klingen – aber angesichts mancher Finanzierungsstrategien sei sie einmal mehr genannt: Die schönsten Gebäude nützen am Ende nichts, wenn sie ohne innere Lebendigkeit sind. Und ob ein kirchliches Gebäude vor allem deshalb renoviert werden muss, damit es auch in 30 Jahren noch der Nachwelt – dann vermutlich museal – zur Verfügung steht, darf jedenfalls nicht das erste und ausschlaggebende Kriterium für die finanzielle Prioritätensetzung sein. So ist schon für die nähere Zukunft davon auszugehen, dass die volkskirchlichen Verhältnisse jedenfalls durch materielle Mittel allein kaum aufrechterhalten werden können. Zwar braucht also gegenwärtig noch nicht von einer Mangelverwaltung geredet werden. Aber es zeichnet sich am Horizont doch eine Gesamtsituation protestantischen Kircheseins ab, die in verschiedener Hinsicht ein Umsteuern erforderlich macht. Und dies stellt nun seinerseits eine eminent theologische Herausforderung dar, wie die folgenden Alarmsignale zeigen: Zu konstatieren ist ein immer geringeres Wissen darüber, was protestantisches Kirchesein ausmacht. Zugleich zeigen sich eklatante Mängel hinsichtlich der individuellen Sprach- und Auskunftsfähigkeit in Glaubensfragen. Selbst vertrauteste Mitglieder haben Schwierigkeiten damit, die etwa in Predigten formulierten Orientierungsangebote sogleich nachvollziehen zu können. Erst recht fällt es offenbar vielen schwer, die eigenen Glaubensüberzeugungen in stimmige Bilder und Worte zu fassen. Die Bedeutung christlicher Feiertage und Kenntnis der ›eigenen‹ Symbole nimmt weiter ab. Einst hochbedeutsame christliche Zentralgehalte, wie der Glaube »an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben«, verlieren ihre Plausibilität. Sie treten gegenüber solchen religiösen oder weltanschaulichen Deutungsmustern zurück, die auf den ersten Blick sehr viel leichter zugänglich sind. So sind Reinkarnationsvorstellungen

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oder hoffnungsvolle Phantasien der Wiederbegegnung mit den verstorbenen liebsten Menschen offenbar sehr viel ›glaubwürdiger‹. In dieser theologischen Hinsicht ist eine zweite Herausforderung zu benennen. Es wird immer unklarer, was denn »evangelisch« eigentlich bedeuten soll und was Kirche als »Institution« überhaupt meint. Insofern bilden weder die Abwanderungsprozesse noch die religiöse Konkurrenzsituation das eigentliche Gefährdungspotenzial. Sondern die unübersehbaren inhaltlichen Distanzierungs-, vielleicht sogar Entfremdungsprozesse ihrer bisherigen und einstweilen noch bleibewilligen Mitglieder machen die Lage brisant. Und solche Prozesse sind eben selbst bei denjenigen festzustellen, die auf den ersten Blick noch den Kern von Gemeinde ausmachen und für die öffentliche Erkennbarkeit sowie die institutionelle Stabilität von Gemeinden und Landeskirchen sorgen. Die konfessionelle Perspektive ist nicht nur für die Mitglieder der Kirche, sondern auch für ihre öffentlichen Repräsentantinnen und Repräsentanten, etwa Religionslehrerinnen und Religionslehrer, keineswegs mehr eindeutig gegeben. Sie wird eher zurückhaltend vertreten oder löst Unsicherheit aus.237 Wenn aber für den Einzelnen gar nicht mehr klar oder plausibel ist, was das Profil des evangelischen Glaubens sowie die kirchliche Zugehörigkeit eigentlich im Kern ausmacht, droht der schleichende Verlust jeglicher Verbundenheit mit der Kirche – und dies auf Seiten der Mitglieder wie des kirchlichen und schulischen Personals. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Zwar zeigt sich gegenwärtig ein überaus eindrückliches Engagement der Kirchen und Kirchengemeinden in der Flüchtlingsfrage, wodurch die Verantwortlichen in höchst beachtlicher Weise ihre eigene Glaubenshaltung zum Ausdruck bringen. Sie verkörpern durch diesen Einsatz für den Nächsten und hilfsbedürftigen Anderen damit im besten Sinne »Evangelium«. Aber diese Aktivitäten sind oftmals nicht nur auf politisch konservativer Seite, sondern bis in das Zentrum der Kirchen und Gemeinden hinein hoch umstritten. Engagierte Gemeindemitglieder müssen sich politische Naivität vorwerfen lassen. Zudem wird – gegenwärtig besonders stark von rechtspopulistischer Seite aus – gefordert, dass sich die Kirchen überhaupt vom politischen Alltagsgeschäft fernhalten und von politischen Artikulationen Abstand nehmen sollten. Aber um es schon an dieser Stelle sehr deutlich zu formulieren: Die immer wieder laut werdende Klage, Kirche richte sich ›nur am Zeitgeist‹ aus – die sich interessanterweise gerade dann laut äußert, wenn eine bestimmte kirchliche Praxis dem Gusto des Kritikers 237 Vgl. Uta Pohl-Patalong u.a., Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt. Eine empirische Studie zum evangelischen Religionsunterricht in Schleswig-Holstein, Stuttgart 2016; Carsten Gennerich / Reinhold Mokrosch, Religionsunterricht kooperativ. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Niedersachsen und Perspektiven für einen religions-kooperativen Religionsunterricht, Stuttgart 2016.

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widerspricht! – ist allerdings verfehlt. Und wenn mit Verweis darauf, dass Religion »Privatsache« sei, der öffentliche Einfluss der Kirchen ganz grundsätzlich in die Schranken gewiesen werden soll, ist dem ebenfalls deutlich zu widersprechen. Denn wenn man sich an den reformatorischen Ursprungseinsichten und der hohen Bedeutung der einzelnen Gewissensentscheidung orientiert, ist eine solche ›Abschiebung‹ des Glaubens in das private Kämmerlein schlechterdings nicht denkbar. Werden sich die genannten Entwicklungstendenzen in der näheren Zukunft einfach automatisch fortschreiben? Unserer Ansicht nach ist Vorsicht davor geboten, von einem unaufhaltsamen stetigen Abwärtstrend, von einlinigen Abwanderungsbewegungen oder einem gänzlichen öffentlichen Bedeutungsverlust der Kirche wie selbstverständlich auszugehen. Allerdings wäre es grob fahrlässig, würde man von kirchlicher Seite aus nun auf eine Art natürlichen Endpunkt der angedeuteten Abschmelzungsphänomene warten, um danach sozusagen mit dem »heiligen Rest« auf eine vermeintlich gesicherte Zukunft zu bauen. Will Kirche ihren Auftrag der Verkündigung des Evangeliums an alle Welt (Mt 28) ernst nehmen und weiterhin erfüllen, ist sie jedenfalls mit einer solchen Konzentrationsstrategie auf den inneren Kern schlecht beraten. Wie soll man also diese Alarmsignale deuten und damit umgehen? Ein weiträumiger Blick auf die gegenwärtigen Rahmenbedingungen der volkskirchlichen Gesamtsituation zeigt, dass eine komplette Trendwende nicht realistisch ist. Wir halten es aber für mindestens verfrüht, wenn nicht sogar für verfehlt, würde man das bisherige volkskirchliche Selbstverständnis für ein Auslaufmodell halten. Jedenfalls sollte man sich von bestimmten säkularen ›Pressure-Groups‹ nicht suggerieren lassen, dass man praktisch schon ›auf Null‹ sei. Medial gestreute Bilder von leeren Kirchenbänken verfolgen nicht selten das Interesse, Kirche kleiner und älter zu reden als sie tatsächlich ist. Die nach wie vor vorhandenen kirchlichen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten sprechen jedenfalls gegen die fatalistische Befürchtung eines bald bevorstehenden Untergangsszenarios. Und auch der nach wie vor große personelle, finanzielle und institutionelle Gestaltungsspielraum, über den die Landeskirchen und Kirchengemeinden immer noch verfügen, braucht nicht klein geredet zu werden. Aber wie gesagt: Eine ganze Reihe von Entwicklungen zwingt die Evangelischen Kirchen dazu, sich über ihre eigene Zukunftsfähigkeit so selbstkritisch wie möglich intensive Gedanken zu machen. Und wir sind der Überzeugung, dass dafür nicht nur eine ehrliche Zwischenbilanz notwendig ist. Sondern in dieser Phase des herausfordernden Umbruchs ist es so notwendig wie vielversprechend, sich des eigenen reformatorischen Grundes neu zu vergewissern. Insofern werden die folgenden hoffnungsvollen Einschätzungen auch in der Perspektive der reformatorischen Ursprungserfahrungen vorgenommen. Wir halten eine Neubesinnung auf diese Wurzeln für unbedingt

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

notwendig, um kirchliche Reformvorhaben in wirklich substantieller Weise zu profilieren und voranzutreiben. Was macht im Rückbezug auf reformatorische Grundeinsichten gewissermaßen Hoffnung? 3.1.2 Hoffnungszeichen Schon die Reformation selbst hat inmitten der fundamentalen Krise der Kirche nicht mit der Veränderung der äußeren Strukturen, sondern mit der Rückbesinnung auf die theologischen Zentralgehalte eingesetzt. Deshalb ist es gerade angesichts der zuletzt genannten Phänomene an der Zeit, den Blick wieder auf das inhaltliche Zentrum des protestantischen Selbstverständnisses zu richten. Eine Reform ›an Haupt und Gliedern‹, so könnte man formulieren, muss eben in den Köpfen und nicht ›auf Papier‹ beginnen. Sie kann nicht mit strukturellen Maßnahmen oder Organisationsverbesserungen einsetzen. Sondern sie hat ihren konkreten Ausgangs- und Mittelpunkt darin, dass Menschen in und mit Kirche wesentliche Einsichten für ihr Leben gewinnen und positive Erfahrungen auf dem Weg der Suche nach dem eigenen Glauben machen können. Insofern ist aus unserer Sicht im Blick auf die Gestalt, Struktur und das Selbstverständnis evangelischen Kircheseins ein Perspektivenwechsel erforderlich. Und dieser führt, so unsere feste Überzeugung, in erster Linie zur Frage, auf welche inhaltliche Grundlage und Identifikationsbasis die Kirche gegenwärtig und in Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes bauen will. Dazu sei die Blickrichtung nun auf die vorhandenen Potentiale kirchlicher Praxis hin umgestellt: Grundsätzlich erstaunt es durchaus, dass die von uns ganz zu Beginn genannten vitalen Ausdrucksformen evangelischen Glaubens seltsamerweise kaum so stark in den Blick geraten wie die unbestreitbaren Negativentwicklungen. So wie sich Pfarrerinnen und Pfarrer durch eine negative Rückmeldung auf ihren Gottesdienst nachhaltiger getroffen fühlen als durch zehn positive Reaktionen, herrscht offenbar in den Protestantischen Kirchen insgesamt ein eher geringes Selbstbewusstsein und eine deutliche Defizitorientierung im Blick auf die eigene Arbeit. Es wäre deshalb schon ein wichtiger innerkirchlicher Perspektivwechsel, würde man den Blick nicht permanent auf das richten, was offenbar nicht mehr »wie früher ist« oder »kaum noch gelingt«. Für eine echte Analyse der gegenwärtigen volkskirchlichen Situation ist es deshalb schon ermutigend, wenn sich der Blick auf all die kirchlichen Aktivitäten und Akteure richtet, die nach wie vor mit erheblichem Schwung und Pathos engagiert sind. Wie eine rein negative Einstellung auf diejenigen wirken muss, die doch nach bestem Wissen und Gewissen in kirchlichen Arbeitsfeldern tätig sind, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt.

3.1 Volkskirche am Scheideweg? – Zwiespältige Beobachtungen

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Man muss es ›gegen den Trend‹ hier noch einmal sehr klar benennen: Der oben erwähnte Mitgliederschwund sollte nicht zu dem Schluss verleiten, dass dem kirchlichen Personal alsbald die Arbeit ausgehen wird. Das Szenario, dass Kirche schon bald schlichtweg nicht mehr gefragt sein könnte, ist unrealistisch. Selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag: Die kirchlichen Auftragsbücher sind nach wie vor gut gefüllt. Deshalb weist das medial so gern genutzte Bild leerer Kirchenbänke in die Irre. In Seelsorgebegegnungen und gemeindlichen Alltagsgesprächen tut sich eine Vielzahl von individuellen Fragen und Problemen auf, für die Menschen sich bewusst das offene Ohr und den hilfreichen Rat einer Pfarrerin oder eines Pfarrers erhoffen und auch erwarten. Nebenbei bemerkt: Haupt- und Ehrenamtliche beschweren sich zwar höchst selten über zu wenig Arbeit. Ob sie allerdings die Arbeit machen dürfen, die sie selbst für ihren wesentlichen Auftrag halten, wäre eigens zu klären. Jedenfalls gibt es für die Kirchen im Prinzip mehr als genug zu tun. Es kommt lediglich darauf an, hinzusehen, wo Not vorhanden ist und ob man diese als Kirche wahrnehmen kann und bearbeiten will. Tatsächlich können die Kirchen nach wie vor mit weit reichender Aufmerksamkeit und im positiven Fall mit wohlwollender Zustimmung für ihre Arbeit, ja im Einzelfall sogar mit erheblichem Engagement rechnen. Die Bedeutung der Kasualien ist – trotz des oben Gesagten – nach wie vor verhältnismäßig stabil. Neben dem bereits erwähnten Dienstleistungscharakter des Angebots von Konfirmation, Trauung oder kirchlicher Bestattung achtet die Gemeinde sehr wohl genau darauf, was dabei inhaltlich verkündigt wird.238 Und es sollte nicht unterschätzt werden, welche hohe persönliche, seelsorgerliche und nachhaltige Bedeutung der einzelne kirchliche Fall für die daran Beteiligten tragen kann.239 Gerade die über das Jahr hinweg Distanzierten haben im konkreten Einzelfall erhebliche Erwartungen an professionelles und substantiell aussagekräftiges kirchliches Handeln. Selbst Menschen, die weit entfernt vom regelmäßigen sonntäglichen Kirchenbesuch sind, schätzen die lebensnah gestaltete Taufansprache. Sie freuen sich über humorvolle Traupredigten und sind für persönlich zugewandte Worte bei der Bestattung dankbar. Sie erleben die kirchliche Begleitung als wichtigen Anlass für sich und ihre Familie, der im gelingenden Fall für lange Zeit in positiver Erinnerung bleibt. In kultureller Hinsicht sind kirchenmusikalische Angebote und andere kirchlich verantwortete öffentliche Anlässe wie Ausstellungen, Lesungen oder Vortragsreihen an vielen Orten wichtige Ereignisse im »bürgerlichen« Veranstaltungskalender. Sie werden im Fall professioneller Durch238

Vgl. Markus Beile, Herausforderungen und Perspektiven der Konfirmationspredigt. Empirische Einsichten und theologische Klärungen, Stuttgart 2016. 239 Vgl. Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten, Gütersloh 22011.

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führung als Beitrag zum kulturellen Leben hoch geschätzt. Auch die tiefe emotionale Bindung zur kirchlichen Tradition, wie sie sich in der individuellen und familiären Bedeutung von konkreten Kirchengebäuden manifestiert, sollte nicht unterschätzt werden. Mit diesen Räumen verbinden sich nicht selten tiefgreifende und bewegende Erfahrungen. Kirchengebäude können persönlich hoch relevante und nicht zu ersetzende Erinnerungsorte sein. In Zeiten zunehmender Mobilität und Unübersichtlichkeit sowie dem drohenden Verlust biografischer Haftpunkte bietet Kirche hier offenbar nach wie vor Orte der Geborgenheit und des persönlichen Austausches, vielleicht sogar von Heimat.240 In ihrer Bildungspraxis zeigt sich protestantisches Kirchesein nach wie vor von einer seiner besten Seiten. Dies gilt für die kirchliche Kinderund Jugendarbeit ebenso wie für die Konfirmationsarbeit und die Erwachsenenbildung. Hier werden wesentliche Inhalte des christlichen und evangelischen Glaubens vermittelt bzw. in dialogischer Weise zum Thema gemacht. Der von den Kirchen mitverantwortete allgemeinbildende Religionsunterricht oder auch die Arbeit evangelischer Akademien eröffnen viele Gelegenheiten zum substantiellen Austausch über Fragen des christlichen Glaubens, der persönlichen religiösen Identitätsfindung und des konkreten gesellschaftspolitischen Handelns. Eine Vielzahl unterschiedlich konzipierter Theologiekurse für Erwachsene ermöglicht es diesen, sich eigenständig mit wesentlichen Traditionen des Glaubens auseinanderzusetzen und diese auf ihre Relevanz für die eigene Lebensgestaltung hin zu befragen.241 Damit trägt eine evangelisch verantwortete Bildung erheblich zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einem gemeinwohlorientierten Zusammenleben bei. Gerade in Zeiten eines zunehmend messungs- und leistungsorientierten Bildungsverständnisses schafft evangelische Bildung Freiräume für das eigenständige und kritische Denken. Und angesichts der gegenwärtigen globalen, nationalen und lokalen religiös-kulturellen Konflikte sind Bildungsangebote, die den Dialog unter den Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen konstruktiv befördern, unverzichtbarer denn je. Aktuell besteht deshalb die Herausforderung, die eigenen theologischen Grundlagen und Haltungen auch für die zunehmend interreligiösen Kontakte und Begegnungen fruchtbar zu machen. Der religionskulturelle Pluralismus ist, so sind wir angesichts der gegenwärtigen politischen Zustände fest überzeugt, als eine Bereicherung für das eigene Glaubens-, Welt- und Wahrheitsverständnis wirklich ernst zu nehmen. In einem 240

Vgl. Sonja Keller, Kirchengebäude in urbanen Gebieten. Wahrnehmung – Deutung – Umnutzung in praktisch-theologischer Perspektive, Berlin/Boston 2016. 241 Vgl. exemplarisch Lena Wolking / Friedrich Schweitzer, Erwachsenenbildung und Kurse zum Glauben. Angebotserhebung und -analyse in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Bielefeld 2015.

3.1 Volkskirche am Scheideweg? – Zwiespältige Beobachtungen

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solchen, weiten protestantischen Bildungsanspruch spiegelt die hohe Bedeutung mündiger Selbstbildung wider, die durch die reformatorische Bewegung selbst grundgelegt wurde. Hoffnung macht auch, dass die gegenwärtige junge Generation im Blick auf Glaubensfragen keineswegs grundsätzlich negativ eingestellt oder uninteressiert ist. Die pauschale Einschätzung, dass Jugendliche in dieser Lebensphase prinzipiell an religiösen Fragen nicht interessiert seien, wird durch die aktuelle Forschung gerade nicht bestätigt. Zudem führen jüngste Studien zur Konfirmationsarbeit deutlich vor Augen,242 dass die Mehrheit Jugendlicher gegenüber der Kirche positiv eingestellt ist. Die Arbeit der verantwortlich Leitenden wird sehr wohl wertgeschätzt, wenn diese für sie als glaubwürdig erscheinen. Die im Rahmen der Konfirmationsarbeit angebotenen Projekte, Freizeiten und Events werden von den Jugendlichen als Highlights dieser Lebensphase angesehen. Zudem darf Hoffnung machen, dass ein Großteil der befragten Konfirmandinnen und Konfirmanden später einmal die eigenen Kinder taufen lassen möchte. Auch wären viele Jugendliche sehr wohl dazu bereit, sich im Rahmen kirchlicher Praxis aktiv zu engagieren – vorausgesetzt, es sind attraktive Möglichkeiten zur echten Teilhabe in den Gemeinden tatsächlich vorhanden. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres hoffnungsvolles Element zu benennen: In kaum einer anderen öffentlichen Organisation finden sich ähnlich viele freiwillig und ehrenamtlich tätige Jugendliche und junge Erwachsene wie in den Kirchen. Sie übernehmen Teamerfunktionen, leiten Kinderkirche und Jugendkreise, begleiten Konfirmandinnen und Konfirmanden durch ihr Jahr oder engagieren sich etwa durch ein Freiwilliges Soziales Jahr weltweit in kirchlichen Projekten. Es ist fraglos ein Ruhmesblatt kirchlichen Handelns, wenn sich Jugendliche dazu äußern, weshalb sie sich in der Kirche engagieren und in welcher Weise sie davon profitieren. Sie betonen dann etwa, dass sie durch dieses freiwillige Handeln gelernt hätten, anderen mit einer offenen Haltung zu begegnen, mit Unsicherheiten und Herausforderungen besser umgehen zu können, Beziehungen aufbauen und pflegen oder überhaupt mit anderen besser kommunizieren zu können. Interessant ist auch, dass sie durch ein solches kirchliches Engagement ein stärkeres Selbstbewusstsein, einen Sinn für Verantwortung, kritisches Denken, Toleranz und Kreativität entwickelt hätten – und nicht zuletzt wird positiv erwähnt, 242

Vgl. zu Deutschland etwa Friedrich Schweitzer u.a., Konfirmandenarbeit im Wandel – neue Herausforderungen und Chancen. Perspektiven aus der zweiten bundesweiten Studie, Gütersloh 2015; zur Schweiz Thomas Schlag / Muriel Koch / Christoph H. Maaß, Konfirmationsarbeit in der Schweiz. Ergebnisse, Interpretationen, Konsequenzen, Zürich 2016, sowie in europäischer Perspektive Friedrich Schweitzer u.a. (Hg.), Youth, religion and confirmation work in Europe. The second study, Gütersloh 2015.

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dass sie sich auch darin eingeübt hätten, ganz persönlich Fragen des Glaubens zu stellen.243 Hier spiegeln sich unverkennbar sowohl die reformatorische Bildungsidee wie auch die zivilgesellschaftliche Bedeutung kirchlicher Praxis ganz unmittelbar wider. Angesichts der anstehenden globalen gesellschaftlichen Herausforderungen wird eine solche, durch die Kirche organisierte, ›Bildung zur Verantwortung‹ sicherlich in Zukunft noch bedeutsamer und notwendiger werden. Etwas Weiteres macht Hoffnung – auch wenn die Gründe dafür sozusagen ›im Argen‹ liegen: Diakonisches Handeln von der Krankenpflege über die Obdachlosenarbeit bis hin zur Schuldnerberatung und Migrationsarbeit wird angesichts gesellschaftlicher Ungleichheitsdynamiken zukünftig noch stärker gefragt sein. Individuelle Seelsorge wird aufgrund tiefgreifender privater, beruflicher uns psychischer Belastungen vieler Menschen in eminenter Weise wichtig bleiben. Und hier sind neben den vielen säkularen professionellen Angeboten die kirchlichen Arbeitsfelder von besonderer Bedeutung. Aber hier ist natürlich zu fragen: Macht es eigentlich einen wesentlichen Unterschied, ob bestimmte Dienstleistungen aus einem bestimmten christlichen Geist heraus angeboten werden? Welche innere Haltung ist eigentlich unter den Hauptamtlichen und Freiwilligen gefragt? Ein weiteres Hoffnungszeichen sei genannt: Ein aktives Gemeindeleben wird nach wie vor in der breiteren Öffentlichkeit aufmerksam registriert – und dies weit über die innerkirchlichen Grenzen hinaus. Wenn das kirchliche Personal im wahrsten Sinn des Wortes glaubwürdig auftritt, so registrieren dies auch diejenigen, die sich normalerweise auf Distanz halten. Offenbar spielt dafür nicht nur die »eigene persönliche Anschauung«, sondern die öffentliche Berichterstattung eine erhebliche Rolle. Interessant ist zudem, dass die offene ›Deklarierung‹ als Theologe oder Theologin bei öffentlicher Gelegenheit meist nach wie vor auf wohlwollendes Interesse und offenkundig auf Faszination stößt. Nicht selten folgen dann – nach der üblicherweise geäußerten Kirchenkritik – überaus offene und intensive Gespräche. Jedenfalls wird, wie sich nicht zuletzt an solchen Begegnungen zeigt, kirchlichem Personal immer noch von vielen Seiten erheblicher Vertrauensvorschuss entgegengebracht.244 Hier verfügt die Kirche jedenfalls nach wie vor über ›ein Pfund‹, das für die weitere Entwicklung kirchlicher Arbeit und protestantischer Lebenskultur keinesfalls zu unterschätzen ist! 243 Vgl. dazu Friedrich Schweitzer u.a. (Hg.), Confirmation, faith and volunteerism. A longitudinal study on Protestant adolescents in the transition towards adulthood. European Perspectives, Gütersloh 2017. 244 Vgl. Urs Winter-Pfändler, Kirchenreputation. Forschungsergebnisse zum Ansehen der Kirchen in der Schweiz und Impulse zum Reputationsmanagement, St. Gallen 2015.

3.2 Kirche – nur vielfältig zu verstehen

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Ein weiterer hoffnungsvoller Aspekt sei angeführt: Über lange Zeiten hinweg wurde die – tatsächlich immer wieder bestätigte – Einschätzung gepflegt, wonach evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer gleichsam aus der Zeit gefallen seien. Sie erschienen nicht selten als eher sonderbare, in Auftreten und Sprache leicht verschrobene oder antiquierte Randexistenzen. Eine solche Wahrnehmung dürfte durch das gegenwärtige Auftreten des pastoralen Personals kaum noch bestätigt werden – so hoffen wir jedenfalls! Es stimmt zuversichtlich, dass in den gegenwärtigen universitären und kirchlichen Ausbildungsstandards erhebliches Gewicht auf den Aspekt theologisch verantworteter Professionalität und Persönlichkeits-Kompetenz in einem umfassenden Sinn gelegt wird.245 Offenkundig sind viele Pfarrpersonen selbst längst ›Kinder ihrer Zeit‹ – in Stil, Habitus, Sprache und Kleidung, in Freizeitverhalten und in ihren Lebenspräferenzen sind viele kaum noch unterscheidbar von ihren Gemeindegliedern. Ob sie allerdings schon durch diese äußeren Angleichungen als glaubwürdige und theologisch auskunftsfähige Vertreter ihres Glaubens erkennbar werden oder der Grad ihrer Akzeptanz dadurch steigt, muss doch kritisch hinterfragt werden. 3.2 Kirche – nur vielfältig zu verstehen Im letzten Abschnitt hat sich bereits zwischen den Zeilen eine wichtige Ausdifferenzierung angedeutet: Man kann Kirche von ihrer organisatorischen, ihrer kulturellen oder ihrer theologisch-institutionellen Dimension her näher in den Blick nehmen. Von einer solchen dreifachen Gestalt auszugehen, ist nicht einfach ein theoretisches Gedankenspiel. Sondern damit soll deutlich werden: Das reformatorische Grundverständnis von Kirche hat sich über die Zeiten hinweg vielfältig weiterentwickelt und ausdifferenziert. Ein bruchloser Transfer reformatorischer Grundbestimmungen von Kirche in die Gegenwart ist nicht möglich. Kirche ist weder länger die entscheidende monopolhafte und autoritative Auslegungsinstanz für das gesamte Leben noch kann sie von einer selbstverständlichen Gefolgschaft ihrer Mitglieder ausgehen. Ihr theologischer Sinn erschließt sich nicht mehr automatisch – ja die Frage ist, ob er überhaupt noch so deutlich erkennbar werden kann wie zu Zeiten der reformatorischen Neuentdeckungen. Die Rede vom Priestertum aller Gläubigen versteht sich nicht mehr von selbst. Von Kirche als Geschöpf des Wortes Gottes zu sprechen, ist in höchstem Maß begründungsbedürf245

Vgl. Thomas Schaufelberger / Juliane Hartmann (Hg.), Perspektiven für das Pfarramt. Theologische Reflexionen und praktische Impulse zu Veränderungen in Berufsbild und Ausbildung, Zürich 2016; Hildrun Keßler, Kirchliche Aus- und Weiterbildung, in: Ralph Kunz / Thomas Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 514–521.

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tig. Die Kirche steht inmitten der Weltverhältnisse und muss dabei auf einem heftig um Aufmerksamkeit kämpfenden Markt von Sinnstiftungsagenturen ihren Platz legitimieren und behaupten. All dies deutet möglicherweise darauf hin, dass der theologische Sinn von Kirche längst von organisationstheoretischen oder kulturellen Bestimmungen überwölbt worden ist. Aber falls dies tatsächlich so sein sollte – wäre dies ein Verlust, und, wenn ja, wie ist dann damit umzugehen? Die hier vorgenommene Ausdifferenzierung will dazu dienen, das reichhaltige Erscheinungsbild kirchlichen Lebens möglichst sachgemäß zu erfassen. Zudem hilft dies, um die Vielfalt kirchlicher Zukunfts- und Entwicklungsmöglichkeiten genauer bestimmen können – ohne in allzu ›glatte‹ theologische Beschreibungen zu verfallen. Diese dreifache Näherbestimmung geschieht im Folgenden gleichwohl immer wieder auch in Bezugnahme auf die bisher entfalteten reformatorischen Orientierungen: Halten wir nochmals grundsätzlich fest: Sinn, Verständnis und Erscheinungsbild von Kirche haben sich seit der Reformation erheblich vervielfältigt: Kirche kommt zum ersten als eine bestimmte organisatorische Gestalt und Praxis in den Blick: Sie stellt in dieser Hinsicht eine Größe dar, die sich durch die rechtlich verankerte Mitgliedschaft konstituiert. Grundlagen und Gestaltungspraxis des Kircheseins sind nach innen und außen etwa in Kirchenordnungen und Kirchenverfassungen jeweils rechtlich verbindlich geregelt. Diese bilden für die handelnden Akteurinnen und Akteuren einen verlässlichen Rahmen: So etwa, wenn sich Menschen bewusst dafür einsetzen, dass bestimmte Prozesse und Abläufe geregelt werden und schlichtweg funktionieren. Natürlich hat sich auch schon in reformatorischer Zeit Kirche in diesem organisationstheoretischen Sinn gezeigt. Aber es scheint so, als ob gerade diese Dimension doch vor allem in den vergangenen Jahrzehnten eine erhebliche Eigendynamik gewonnen hat, die auch das Gesamterscheinungsbild von Kirche sehr stark zu verändern begonnen hat.246 In einer zweiten Hinsicht lässt sich Kirche als kultureller Faktor für das individuelle Leben und das gemeinsame Zusammenleben bestimmen: Sie kommt damit in ihrer prägenden Bedeutsamkeit für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft näher in den Blick. Kirche zeigt sich hier als lebensdienliche Instanz für die individuelle Biografie und als werteorientierte Dialog- und Diskursgemeinschaft. Sie zeichnet sich wesentlich durch ihre Prägekraft, ihr öffentliches Engagement und eine inhaltliche Auskunftsfähigkeit in brisanten ethischen Debatten und zivilgesellschaftli246 Vgl. Holger Ludwig, Von der Institution zur Organisation. Eine grundbegriffliche Untersuchung zur Beschreibung der Sozialgestalt der Kirche in der neueren evangelischen Ekklesiologie, Leipzig 2010.

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chen Konflikten aus. Die kulturelle Dimension zeigt sich auch dann, wenn Menschen ein bestimmtes, z.B. kirchenmusikalisches oder politisches Angebot als besonders attraktiv empfinden. Es ist hier auch an Engagementformen zu denken, die sich nur locker mit den kirchlichen Strukturen verbinden. So etwa, wenn Menschen nur gelegentlich etwa an kirchlichen Bildungsveranstaltungen, z.B. an Akademietagungen oder Angeboten der Erwachsenenbildung, teilnehmen. Diese kulturelle Dimension kommt zum Tragen, wenn sich manche eben nur punktuell bei einer zivilgesellschaftlich ausgerichteten kirchlichen Initiative engagieren, sei es etwa an einem lokalen runden Tisch, einer Vesperkirche oder in der Flüchtlingsarbeit. Auch hier gilt, dass diese kulturelle Dimension auf die reformatorische Anfangszeit zurückverweist. Wie wir erwähnt haben, setzen schon die Reformatoren erheblich auf die kulturprägende, ganzheitliche Kraft kirchlicher Verkündigung und gesellschaftsrelevanter Praxis. Aber kann es sein, dass auch im Blick auf diese Dimension in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Veränderung eingetreten ist? Ist Kirche möglicherweise längst zu einer Art zivilreligiöser Größe geworden, die zwar ›nice to have‹ ist – aber im Ernstfall eben keine einprägsame Kraft mehr hat? Kirche kann schließlich in einer dritten Hinsicht in theologisch-institutioneller Perspektive näher in den Blick genommen werden: Von der Bestimmung von Kirche als Geschöpf des Wortes Gottes lässt sich die Zugehörigkeit zu ihr in der theologischen Figur des Priestertums aller Getauften näher beschreiben. Die Rede von der Kirche als Institution verweist darauf, dass die gottesdienstliche und öffentliche Praxis durch den beständigen Bezug auf die biblischen Texte und theologischen Traditionen bestimmt wird. Kirche ist reformatorisch gesprochen »Versammlung der Heiligen zu Wort und Sakrament mit geordneter Lehre und geordnetem Amt (Confessio Augustana Art. VII). Eberhard Hauschildt hält fest: »Darüber hinausgehende Institutionalisierungen der Kirche kann und soll es zwar ruhig geben. Aber kirchliches Recht und kirchliche Hierarchie und kirchliche Traditionsbildungen haben keine Würde in sich selbst. Sie werden entmystifiziert als menschliche Ordnungen und als Interpretationen, die zu prüfen sind, in welchem Maße sie dem Evangelium in der Situation dienen können.«247 Kirche zeigt sich in einer solchen Hinsicht dann, wenn ausdrücklich danach gefragt wird, wodurch sich kirchliche Praxis theologisch begründet und auszeichnet. Hier stellt sich in unvermeidbarem Sinn die zentrale Frage »Wozu eigentlich Kirche?« 247

Eberhard Hauschildt, Organisation der Freiheit. Evangelisch Kirche sein verändert sich. Referat zum Schwerpunktthema »evangelisch Kirche sein« auf der 6. Tagung der 10. Synode der EKD am 5. November 2007, 2 [www.ekd.de/download/07-11-19-Hau schildt_Organisation_der_Freiheit_(2).pdf].

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

Und in diesen Fällen ist die engagierte Teilhabe ausdrücklich vom biblisch-theologischen Auftrag her motiviert. Diese kann sich in der regelmäßigen Teilnahme an Gottesdiensten, in der Beteiligung an bestimmten Gemeindeaufbauinitiativen und Hauskreisen oder in der verantwortlichen inhaltlichen Mitwirkung an kirchlichen Angeboten manifestieren. Könnte es sein, dass im Blick auf die gegenwärtige Situation der evangelischen Kirche gerade dieser theologisch-institutionelle Sinn allzu sehr in den Hintergrund gerückt ist? Oder um es ganz konkret auf die Frage der aktuellen Jubiläumsfeierlichkeiten zu beziehen: Kann es sein, dass zwar die organisatorische und kulturelle Dimension in breitester Weise zum Zug kommen, aber eine wirklich theologische Grundlagenarbeit unterbleibt? Und noch weiter gefragt: Ist das ein Problem, das sich nur in diesen protestantischen ›Festzeiten‹ zeigt? Es wäre nun problematisch und stellt auch gar nicht unsere Absicht dar, bei der Frage nach protestantischem Kirchesein und der mit ihr verbundenen Lebenskultur nur eine der genannten drei Dimensionen von Kirche zu beleuchten oder diese gar gegeneinander auszuspielen. Natürlich können die kulturelle und auch die theologisch-institutionelle Dimension von Kirche nicht unabhängig von den jeweiligen organisatorischen Rahmenbedingungen her gedacht werden. Denn diese sichern alle kirchliche Praxis rechtlich und finanziell überhaupt erst verbindlich ab. Aber eine rein organisatorische Bestimmung von Kirche greift der Sache und ihrem Anspruch und Grund nach deutlich zu kurz. Dies kann angesichts des gegenwärtig stark nach Organisationsentwicklungsprinzipien hin ausgerichteten Nachdenkens über Kirche nicht deutlich genug betont werden.248 So wäre es grob verkürzend, wenn man Kirche nur über ihre Mitgliederzahl oder ihre operative Funktionsfähigkeit beurteilte. Eine solche einlinig-organisationstheoretische Bestimmung von Kirche würde weder dem reformatorisch grundgelegten Kirchenverständnis noch der Dynamik des kirchlichen Lebens gerecht. Aber auch eine ausschließliche Betonung der kulturellen Dimension von Kirche wäre zu einseitig. So kann etwa die öffentliche kirchliche Präsenz durch gesellschaftliches Engagement, künstlerische Initiativen oder individuelle Lebensbegleitung nur ein Teil des gesamten Erscheinungsbildes sein. Für die kulturelle Dimension von Kirche gilt, dass die einzelnen Gestaltungsformen ebenfalls in eminenter Weise auf die jeweilige theologisch-institutionelle Rückvergewisserung angewiesen sind. Wir gehen also von einem vieldimensionalen Grundverständnis von Kirche aus, das durch das Miteinander der organisatorischen, kulturellen und theologisch-institutionellen Aspekte bestimmt ist. Deshalb plädieren wir 248

Vgl. Frank Weyen, Kirche in der strukturellen Transformation. Identität, Programmatik, organisatorische Gestalt, Göttingen 2016.

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für eine enge Verbindung von organisierter Glaubenspraxis, kultureller Prägekraft und theologischer Deutungsarbeit. Aber eben deshalb stellt sich das Problem: Wo zeigt sich eigentlich gegenwärtig überhaupt eine solche theologische Deutungsarbeit, die sich womöglich sogar ernsthaft mit den biblischen und reformatorischen Traditionen auseinandersetzt, an ihnen abarbeitet, sie nach bestem Wissen und Gewissen prüft, in Frage stellt oder sogar verwirft? Und wer ist daran eigentlich überhaupt in welcher Form beteiligt? Diese Fragen bringen mehrere Konsequenzen mit sich: Die äußere Gestalt und Struktur, die kulturelle Relevanz und der theologische Sinn von Kirche realisiert sich – in organisatorischer, kultureller und theologischer Hinsicht! – erst und nur durch die konkreten Tätigkeiten derer, die zur Mitgestaltung des kirchlichen Lebens eingeladen sind und motiviert werden. Um von der Kirche in evangelischen Sinn als einer Gemeinschaft der Gläubigen sprechen zu können, ist es notwendig, dass diese Gemeinschaft in allen genannten Dimensionen durch ihre Akteurinnen und Akteure immer wieder mit Leben gefüllt wird. Protestantisches Kirchesein geht weder in den weltlichen Aktivitäten auf, noch zielt es darauf ab, alle weltlichen Bedingungen und Gegebenheiten zu überwinden – das haben wir von den reformatorischen Bestimmungen zur Rechtfertigung schon erfahren. Dies bedeutet zugleich, dass sehr unterschiedliche Formen der Verbindung zur Kirche und des Engagements in ihr denkbar und auch legitim sind: Diese können sich durch unterschiedliche Nähe und Distanz auszeichnen. Diese drei Bestimmungsformen von Kirche erlauben folglich unterschiedliche Stärkegrade von Beteiligung und Mitwirkung. Sie ermöglichen sehr individuelle Ausgestaltungen von kritischer oder wohlwollender Beobachtung. Menschen wählen in aller Freiheit höchst persönliche Kontaktpunkte und Kontaktflächen zur Kirche. Wenn sie ihre Zugehörigkeit auf sehr unterschiedliche Weise und in aller Freiheit bestimmen und praktizieren, dann nehmen sie damit das reformatorische Erbe gerade ernst! Denn wer wollte anders als sie selbst entscheiden, was denn nun – über die Taufe hinaus – wirkliche ›Zugehörigkeit‹, ›Verbindung‹ und ›Verbindlichkeit‹ ausmacht und auszeichnet? Insofern zeichnet sich Kirche als Volkskirche ihrer Sache und ihrem Auftrag nach durch sehr unterschiedliche Möglichkeiten aus, gemeinschaftliches Leben in ihr dynamisch auszuformen und flexibel auszugestalten. Deshalb halten wir es für eine positive, reformatorisch grundgelegte Selbstverständlichkeit, dass das kirchliche Leben solche ganz verschiedenen Zugangsformen, Attraktivitätsmarker und Aggregatzustände aufweist. Diese pluralen Zugangs- und Teilhabeformen sind der reale Ausgangspunkt, um über protestantisches Kirchesein und die Zukunftsfähigkeit des evangelischen Glaubens nachzudenken.

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

Denken wir hier nun ›allzu frei‹, womöglich gar beliebig? Was bleibt dann noch von der reformatorischen Grundüberzeugung, dass Kirche und Glaube es uneingeschränkt mit dem ganzen Leben zu tun haben? Braucht es gerade in den jetzigen Zeiten also nicht doch eine eindeutigere Form, in der Kirche in Erscheinung tritt, ist nicht ein stärkerer Verpflichtungs- und Verbindlichkeitscharakter in diesem Zeitalter weitgehender Unverbindlichkeit stärker denn je gefragt? Grundsätzlich sind wir tatsächlich der festen Überzeugung, dass es zur Wirklichkeit des evangelischen Glaubens hinzugehört, sich auf eine persönliche Verbindung zur verfassten Gestalt von Kirche einzulassen. Natürlich sprechen wir Menschen nicht ab, ihre ganz eigenen Glaubenswege ohne Identifikation mit Kirche im engeren Sinn zu erkunden und zu vollziehen. Und tatsächlich sind, wie wir bereits betont haben, vielfältige individuelle Formen von Glaubenspraxis möglich. Authentische evangelische Praxis ist in vielen Spielarten möglich. Aber wie gestaltet man konkret die formulierte reformatorische Einsicht aus: Nur wenn die Kirche »die Aufgabe erfüllt, das Evangelium bekannt zu machen, Menschen zum Gottesdienst zusammenzuführen und die Nächstenliebe zu fördern, hat sie ein Existenzrecht«249? Es ist gerade angesichts der oben beschriebenen Vielfalt daran zu erinnern, dass für die Reformatoren Kirche unverzichtbar war. Calvin formuliert im Anschluss an die alten Kirchenväter: »Es kann Gott nicht zum Vater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter hat.«250 Dies stellt theologisch gesprochen eine erhebliche Zumutung dar, der man sich nicht entziehen sollte. Aber gerade deswegen bedarf diese ›eindeutige‹ Formulierung ihrer zeitgemäßen – sagen wir barmherzigen – Übertragung: So wird etwa in der Kirchenordnung der evangelisch-reformierten Landeskirche Zürichs von dieser Grundeinsicht aus beispielhaft formuliert: Kirche ist demzufolge nicht nur überall dort, »wo Gottes Wort aufgrund der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes verkündigt und gehört wird … [und] wo Menschen Gott als den Schöpfer anerkennen, wo sie Jesus Christus als das Haupt der Gemeinde und als den Herrn und Versöhner der Welt bekennen und wo Menschen durch den Heiligen Geist zum Glauben gerufen und so zu lebendiger Gemeinschaft verbunden werden.« Sondern in einem programmatisch viel weiterreichenden Sinn gilt: »Kirche ist überall, wo Menschen durch Glaube, Hoffnung und Liebe das Reich Gottes in Wort und Tat bezeugen.«251

249 250 251

Claussen, Die 95 wichtigsten Fragen, a.a.O., 55. Calvin, Institutio IV, 1, 1. Kirchenordnung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich (vom 17. März 2009), Art. 1.

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Kirche – das sind alle diejenigen, die sich zu ihr im denkbar weitesten Horizont zugehörig fühlen oder schlichtweg etwas Wesentliches von ihr erwarten. Aus diesen Bestimmungen lässt sich ein weites Verständnis von Kirche ablesen. Der programmatisch formulierte Bezugshorizont signalisiert: Kirche ist ihrem Selbstverständnis und Auftrag nach für alle Personen offen. Sie ist in Diakonie, Bildung und Verkündigung auch, ja vielleicht gerade, auf diejenigen aufmerksam, die sich selbst nicht oder nicht mehr als Teil von Kirche verstehen.252 Sie ist eben nicht nur in organisatorischer und kultureller, sondern eben in theologischer Hinsicht »Kirche für andere« (D. Bonhoeffer). Eine solche Sicht auf die Kirche und ihre Gläubigen findet in der paulinischen Metapher des Leibes und der Glieder (1Kor 12,12–26) seinen sachgemäßen Ausdruck. Die Pointe dieses Bildes besteht dabei darin: Jedes der Glieder ist von unverzichtbarer Würde und zugleich vermag keines dieser Glieder ohne die anderen zu existieren. Denn der ganze Körper müsste unter dem Verlust auch nur eines seiner geringsten Glieder leiden. Hier wird deutlich: Kirchliches Handeln richtet sich eben nicht nur auf Menschen. Sondern sie handelt gemeinsam mit ihnen: Mit ihren Mitgliedern und Mitarbeitenden, mit den Menschen, die kirchennah oder kirchenfern auf der Suche nach Lebensorientierung sind. Zudem ist in diesem Zusammenhang an die paulinische Rede von den unterschiedlichen Talenten, Gaben und Begabungen (1Kor 12,1–11) zu erinnern. Diese bildet trotz aller immer wieder unheiligen evangelikalcharismatischen Überhöhungen eine wesentliche Richtgröße für die Ausgestaltung des konkreten kirchlichen und gemeindlichen Lebens vor Ort. Denn hierdurch bringt Paulus zum einen die geradezu natürliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit einzelner Fähigkeiten ihrer Glieder zum Ausdruck. Zum anderen verweist er auf deren unbedingte Zusammengehörigkeit, die durch den Heiligen Geist selbst gestiftet wird (1Kor 12,11). Die Rede vom ›eigentlichen Kern von Kirche‹ oder von einer vermeintlich klaren ›Kerngemeinde‹ ist deswegen theologisch gesprochen bedenklich. Denn diese unterläuft die Pluralität der neutestamentlichen Beschreibungen253 ebenso wie die oben aufgeführten Ausdifferenzierungen. Zudem verliert sie den Grundgedanken der in der Taufe zugesagten Rechtfertigung jeder einzelnen Person aus dem Blick. Dem widersprechen bestimmte missionarische Kommunikations- und Rekrutierungsstrategien, wenn sie die faktische Vielfalt ihrer Mitglieder innerhalb der 252

Vgl. Thomas Schlag, Aufmerksam predigen. Eine homiletische Grundperspektive, Zürich 2014. 253 Vgl. Jörg Frey, Neutestamentliche Perspektiven, in: Ralph Kunz / Thomas Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 31–41.

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kirchlichen Gemeinschaft nicht ernst nehmen. Schon gar nicht darf Kirche danach streben, sich als eine Gemeinde der Heiligen abzusondern. Daraus ergibt sich eine wesentliche theologische Konsequenz: Die ausdrücklich theologisch gebildete Reflexion und Verständigung über das Wesen und die Zukunft der Kirche ist unabdingbar. Oder noch einmal anders formuliert: Dieses offene, volkskirchliche Selbstverständnis macht immer wieder neue theologische Suchbewegungen umso notwendiger. Hier kann man von der entschiedenen, höchst persönlichen und energischen reformatorischen Sehnsucht nach Gewissheit bis heute inspiriert werden! Und dies stellt – das ist eine weitere Pointe – eine Aufgabe eben nicht nur für die professionell ausgebildeten Theologinnen und Theologen dar. Eine solche Selbstverständigung ist auf Seiten all ihrer Mitglieder gefragt und notwendig. Wie will man ein Reformationsjubiläum feiern, wenn man mit den Feiernden nicht über den tieferen Sinn des Ganzen ins Gespräch kommt? Dies wäre ungefähr so, wie wenn man mit einem Chor ein Oratorium von Bach oder das Requiem von Brahms einstudiert, ohne mit ihnen den Wortreichtum und die biblischen und theologischen Anspielungen der Texte zu bedenken. Dass gerade dies leider allzu häufig passiert, ist sozusagen schlimm genug. Ohne die Perspektive individueller Mündigkeit und Verantwortlichkeit kann jedenfalls weder vom protestantischen Glauben profiliert gesprochen noch Kirche gestaltet werden. Aus diesem Grund sind die reformatorischen Ursprungserfahrungen und Grundüberzeugungen eben nicht ad acta zu legen. Sondern sie können nach wie vor nach gutem paulinischem Vorbild »Prophetische Rede verachtet nicht! Prüft aber alles, das Gute behaltet!« (1Thess. 5,20f.) daraufhin befragt werden, wo sie von zentraler, handlungsleitender Bedeutsamkeit sind. In dieser Perspektive erfolgen deshalb die im Folgenden angestellten weiteren Überlegungen. 3.3 Kirche ohne Theologie – undenkbar Für die Zukunft der Evangelischen Kirche und die Möglichkeiten einer protestantischen Lebenskultur sind die reformatorischen Leitperspektiven von zentraler Orientierungskraft, das betonen wir hier einmal mehr: Kirche versteht sich vom Grundgedanken des gerechtfertigten Sünders, der von Gott her in Christus zugesprochenen Gnade und der damit verbundenen Befreiung des Menschen aus allen Lebenszwängen her. Erst wenn man sich auf diese theologischen Einsichten prüfend bezieht, lassen sich unserer Ansicht nach kirchliche und gesellschaftspolitische Problemlagen im Licht des Evangeliums überhaupt bedenken und profiliert bearbeiten. Dabei ist die theologische Grundspannung von sichtbarer

3.3 Kirche ohne Theologie – undenkbar

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und unsichtbarer Kirche in Erinnerung zu rufen und ernstzunehmen. Im kirchlichen Handeln entscheidet sich – theologisch gesprochen – nicht das Wohl und Wehe und schon gar nicht das Heil der Welt. Aber für diese Welt wird die ursprüngliche und reformatorisch reformulierte Botschaft vom Reich Gottes relevant, wenn Kirche die alltäglichen Sehnsüchte, Nöte und Hoffnungen der Menschen wirklich nach ihren eigenen gewissenhaften Maßstäben wahrnimmt. Der ganze Alltag kann und soll zur »christlichen Bewährungszone«254 werden. Dann kann sich ein Raum eröffnen, in dem der Alltag jedes Einzelnen heilsam unterbrochen wird.255 Vom Gedanken des Priestertums aller Gläubigen her und in Bezug auf die je individuelle Schriftauslegung legt es sich deshalb nahe, von Kirche als »Institution der Befreiten« zu sprechen. Denn damit kommen die Menschen selbst mit ihren Potenzialen und individuellen Fähigkeiten, Kirche mitzugestalten und mitzuprägen, in den Blick. Es macht geradezu den Kern protestantischen Kircheseins aus, diese nicht ›top-down‹ von ihren institutionellen Repräsentantinnen und Repräsentanten her, sondern vielmehr ›bottom-up‹ von ihren einzelnen hörenden, lesenden und mündig mitgestaltenden Mitgliedern aus zu denken. Hierfür bedarf es einer Kultur, in der eine stärkere Teilung von Verantwortung nicht als Machtverlust, sondern als Gewinn verstanden wird. Deshalb sind übrigens auch für alle konkreten Urteils- und Entscheidungsprozesse, wie sie gegenwärtig etwa bei Maßnahmen der Gemeindeentwicklung anstehen, demokratische und partizipative Instrumentarien und Verfahrenswege vorzusehen – und dies auf allen Ebenen kirchlichen Handelns.256 Alles kirchenleitende Handeln lebt in einem urdemokratischen Sinn von gleichberechtigter Mitwirkung und Verantwortlichkeit. Kirche zeichnet sich durch plurale und prozesshafte Vollzugsformen aus. Dies bedeutet für das volkskirchliche Selbstverständnis etwa im Umgang mit der gerade in der reformierten Schweiz zurückhaltend gepflegten Bekenntnistradition dann eben auch: »Das gemeinsame Vertrauen auf die Zusage Gottes ist ausreichend für eine Einheit, die sich nicht inhaltlich, sondern performativ vollzieht – nicht aufgrund einer gemeinsamen Verpflichtung auf bestimmte Texte, sondern im unaufhörlichen diskur-

254 255

Vgl. Eichel, Deutschland, Lutherland, a.a.O., 225. Vgl. dazu Ulrike Wagner-Rau, Religiöse Kreativität und Alltag, in: P. Dabrock / S. Keil (Hg), Kreativität verantworten, Neukirchen-Vluyn 2011, 118–126. 256 Vgl. Stellungnahme des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) zur Vernehmlassung »Evangelische Kirche in der Schweiz (EKS) – Verfassungsreform des Rates« vom 4.11.2013 (internes Manuskript) sowie ZKE, Qualität in der Kirchen und Gemeindeentwicklung. Eine kirchentheoretische Stellungnahme des Zentrums für Kirchenentwicklung, Zürich 25.11.2010 (internes Manuskript).

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siven Bezug auf dasjenige, was sie trägt.«257 Dafür ist das dynamische Bild des wandernden Gottesvolkes überaus hilfreich. Denn darin wird verdeutlicht: Diejenigen, die Gott suchen, können sich überhaupt erst im entdeckenden Vollzug und auf dem Weg in noch unbekannte Landschaften über die eigene Bestimmung und ihren Bekenntnisgrund klar werden. Es macht den Grundcharakter dieser Weggemeinschaft aus, dass »wir hier keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige suchen« (Hebr 13,14). Nun ist es eine in kirchlichen Reformprozessen längst formulierte Binsenweisheit, dass das »semper reformanda«, das ›immer wieder Reformieren‹, von der ganzen Gemeinde ausgehen soll. Deshalb müssen dafür möglichst breite Möglichkeiten eröffnet werden. Hier bildet sich mit gewisser zeitlicher Verzögerung ab, was seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort ›Stärkung der Zivilgesellschaft‹ in politischen Zusammenhängen intensiv diskutiert und umgesetzt wird. Aber offenbar hat sich dies noch nicht bis in die kirchlichen Leitungsgremien herumgesprochen und das gemeindliche Selbstverständnis noch nicht wirklich erreicht. Möglicherweise bildet sich im Selbstverständnis evangelischer Gemeindeglieder vor allem in Deutschland bis heute eine gewisse Gehorsamshaltung gegenüber dem landesherrlichen Kirchenregiment als ›Dauerleihgabe‹ des preußischen Obrigkeitsstaates ab. Dies scheint sich bis hinein in die alltägliche Gemeindewirklichkeit zu spiegeln, wenn die wesentlichen Angelegenheiten immer noch von der pfarramtlichen wohlwollenden Zustimmung abhängig gemacht werden. Wenn etwa, wie erlebt, Vikarinnen und Vikare beim Anblick »ihres Bischofs« äußerlich zusammenzucken und innerlich stramm stehen, dann sollte dies nicht dem Nachwuchs, sondern dem Bischof peinlich sein. Wenn eine Bischöfin geradezu jüngerartig umgarnt und angehimmelt wird, ist es zu allererst für sie selbst an der Zeit, sich auch einmal zum Phänomen irrationaler Fan-Kulte zu äußern. So sollte man in den evangelischen Kirchen die grundsätzlich anti-elitäre Überzeugung stark machen, dass Kirche nicht nur in ihren hervorgehobenen Persönlichkeiten, sondern nur in der Gemeinschaft all ihrer Glieder sichtbar werden kann. Dies soll nicht heißen, dass sich die kirchenleitenden Repräsentantinnen und Repräsentanten aus der öffentlichen Medienberichterstattung zurückziehen sollten. Ihre Funktion bleibt im Sinn des äußeren Erkennungszeichens protestantischer Stimme und hoffentlich auch der entsprechenden Glaubwürdigkeit bedeutsam. Aus guten Gründen lebt die lutherische Kirche von einer funktionalen hierarchischen Ordnung mit entspre-

257 Christina Aus der Au, Volkskirche in der Deutschschweiz, in: David Plüss / Matthias D. Wüthrich / Matthias Zeindler (Hg.), Ekklesiologie der Volkskirche. Theologische Zugänge in reformierter Perspektive, Zürich 2016, 38.

3.4 Was daraus für die kirchliche Praxis folgt – neue Gelegenheiten schaffen

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chenden bischöflichen Vollmachten. Aber diese Funktion ist eben nicht von zentraler oder gar exklusiver Bedeutung. Neben dieser überregionalen medialen Öffentlichkeit werden deshalb die lokalen Stimmen zukünftig noch wichtiger und bedeutsamer werden. Es sind die Menschen vor Ort, welche in gemeindlichen Initiativen, aber auch in ihren individuellen religiösen Praktiken und theologischen Deutungen je länger, desto mehr das Gesicht bzw. die vielen Gesichter von Kirche zum Ausdruck bringen. Nur so kann Kirche wirklich in ihrer geistlichen und geistigen Bedeutung erfahrbar werden. Eine solche evangelische Grundhaltung macht den spezifischen Charakter von Volkskirche als geistorientierter Kommunikations- und Diskursgemeinschaft aus.258 Um Kirche in einer solchen ›bottom-up‹-Perspektive zu bauen, ist von menschlicher Seite aus nicht mehr, aber auch nicht weniger zu tun, als in aller Freiheit wahrzunehmen und hinzuhören, wo individuelle Verantwortung unbedingt gefragt ist. Zugleich ist dabei bewusst eine je eigene theologische Deutungskunst zu pflegen und einzuüben. Anderes gesagt: Wenn ganz zu Recht innerhalb der Evangelischen Kirche seit Reformationszeiten ›Mündigkeit‹ groß geschrieben wird, dann kann dies nicht einfach nur irgendein Label sein. Erst recht wäre es verkürzt, wenn man die mündige Teilhabe einfach ›irgendwie‹ als eigenständige Mitwirkung ansehen würde. Sondern der Kern mündigen evangelischen Christseins ist erst dann im Blick, wenn diese Teilhabe immer wieder an die evangelische Botschaft selbst rückgebunden wird. Ansonsten droht die Gefahr, dass alle kirchlichen Aktivitäten am Ende in eine bestimmte Form von Aktivismus auslaufen, bei dem das spezifisch evangelische Profil dann kaum noch zu erkennen ist. Was heißt es nun konkret, im Licht des Evangeliums nahe bei den Menschen zu sein und zugleich Kirche für andere bzw. mit anderen sein zu wollen? Dies sei im Folgenden weiter konkretisiert. 3.4 Was daraus für die kirchliche Praxis folgt – neue Gelegenheiten schaffen Wir gehen für den Bereich der deutschen und schweizerischen evangelischen Kirchen zukünftig weiß Gott nicht von blühenden Landschaften aus. Aber genauso wenig befürchten wir brachliegende wüstenartige Einöden. Es besteht jedenfalls angesichts der vielen, höchst vitalen kirchlichen Gestaltungsformen kein Grund, ein baldiges Untergangsszenario 258

Vgl. Thomas Schlag, Ehrenamtliche Präsenz in den Leitungsaufgaben und dem Schweizer Modell. Zur helvetischen Verantwortungskultur in den Reformierten Kirchen der Schweiz, in: Pth 104 (2015), 465–481, sowie ders., Theologie – vom Kopf auf die Füße, in: zeitzeichen 18 (2017).

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heraufzubeschwören. In dieser Hinsicht ist es lehrreich, sich daran zu erinnern, dass die Reformatoren selbst in den dunkelsten Zeiten mit einer verheißungsvollen Zukunft für ›ihre Kirche‹ unbedingt gerechnet haben. Was spricht aktuell für eine solche hoffnungsvoll-realistische Grundhaltung und wie kann diese öffentlich und profiliert deutlich werden? Die Vielfalt der individuellen Beziehungen zur Kirche wird bleiben. An eine massenhafte Rückkehr ausgetretener Mitglieder in den ›Mutterschoß der Kirche‹ sollte nicht einmal im Traum gedacht werden. Religiöse Ausdrucksformen werden ihren starken Charakter der individuellen Wahl und Auswahl bewahren. Es dürfte dabei bleiben, dass sich Menschen eben auch in Zukunft nur punktuell auf Kirche einlassen. Gerade deshalb ist »Kirche bei Gelegenheit«259 mehr denn je gefragt. Und solche besonderen Gelegenheiten werden sich auch zukünftig immer wieder ergeben – vielleicht sogar stärker als bisher. Denn angesichts der sich weiter dynamisierenden Globalisierungs- und Mobilitätsphänomene wird vermutlich, wie wir schon betont haben, das Bedürfnis nach lokaler Beheimatung und Identitätsbildung im Nahraum eher zunehmen. Als Gegenbewegung zur Globalisierung ist damit zu rechnen, dass Menschen Orte vermehrt aufsuchen werden, an denen sie erkannt und gekannt werden, an denen sich Vertrautheit einstellt und Vertrauen erlebt und erfahren werden kann – und sei es eben nur punktuell oder für immer wieder nur kurze Zeiträume. Diese Tendenz zeichnet sich schon im säkularen Raum ab: Neu etablierte Treffpunkte und Austauschorte, lokale Dorfläden oder selbstverwaltete Gemeinschaftszentren haben Konjunktur. Kirchengemeinden sollten wirklich also sichtbare Präsenz vor Ort zeigen. Es wird zukünftig mehr denn je darum gehen, Kirche als Begleiterin im Lebenslauf erkennbar zu machen bzw. anschaulich werden zu lassen. Hier ist daran zu erinnern, welche hohe Bedeutung die Reformatoren der Seelsorge als einer höchst existentiellen Dimension kirchlichen Handelns beigemessen haben. Dies bedeutet zugleich, dass Kirche weit über die Pfarrpersonen hinaus präsent sein sollte. Ein pfarrerzentriertes Modell von Gemeinde kommt schon rein ressourcenmäßig an ihre Grenzen. Insofern sind aktuelle Pfarrstellenanzeigen mit ihrem unglaublichen Anforderungsprofil eigentlich mehr ein Ausdruck der faktischen Not als des gebotenen Realismus. Ein weiterer Aspekt ist hier zu benennen: Als eine reine Dienstleistungskirche wird diese Form der personalen Vertrautheit und seelsorgerlichen Präsenz nicht gewährleistet werden können. D.h. die gegenwärtige Tendenz der Zusammenlegung von Pfarrstellen zu größeren Gemeindever259

Vgl. Michael Nüchtern, Kirche bei Gelegenheit. Kasualien – Akademiearbeit – Erwachsenenbildung, Stuttgart/Berlin/Köln 1991.

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bänden mag organisatorisch und finanziell gewissen Sinn machen. Sie wird aber über kurz oder lang dazu führen, dass genau die persönlichen, kontinuierlichen und eben vertrauten Verbindungen zwischen dem pastoralen Personal und den Menschen vor Ort eher schwächer werden. Um dem entgegenzuwirken, ist es notwendig, die ehrenamtlich und freiwillig Tätigen dazu zu ermächtigen, Kirche durch ihre eigene Arbeit ganz persönlich und vielfältig sichtbar zu machen. Auch hier kann an die reformatorische Einsicht angeknüpft werden, dass Gemeinde eben von vielen Gliedern gebaut und getragen, verantwortet und sichtbar gestaltet wird. Vor dem Glauben an die Selbstverständlichkeit einer stabilen Kerngemeinde ist hingegen Vorsicht angebracht: Natürlich ist es auf den ersten Blick plausibel, dass der innere Kern einer Gemeinde das Zentrum aller Kirchenreformen bildet. Und tatsächlich bündeln und versammeln sich in diesem Kern in der Regel die besonders aktiven Kräfte. Aber wir warnen davor, ein solches Bild von »Kern und Rand« bzw. von »Nähe und Distanz« überzustrapazieren. Fruchtbarer ist es, von einem Bild ausgehen, in dem Kirche durch viele einzelne dynamische und aktive Kerne lebt, gestaltet wird und dadurch Verantwortung auf die Schultern vieler verteilt wird. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Vermutlich finden sich viele Aktivitätszentren gerade außerhalb des klassischen Kerns. Die Kunst besteht darin, gerade diese ›randständigen‹ Kristallisationszentren und vielfachen Kraftzentren wahrzunehmen und entsprechend zu fördern. Die alltäglich gewordene Mobilität setzt voraus, dass Kirche eine mobile und stärker wahrnehmende Kirche wird. Hier ist Kirche gefragt, indem sie die Lebenswelten der Menschen aufsucht und sich auf diese wirklich einlässt. Das zeigt sich exemplarisch im Bereich der Anglikanischen Kirche in der Bewegung der sogenannten fresh expressions of church. Diese zielt auf »frische Ausdrucksformen des Kircheseins« ab. Jenseits der traditionell verfassten Kirche und ihrer fest etablierten Gemeindestrukturen werden hier ganz neue Räume gebildet und eröffnet. Konkret bedeutet dies, dass neue Gemeindeformen entwickelt werden, die sich bewusst in säkulare Räume hineinbegeben. Das kann das Café mit spirituellem Angebot sein, die Jugendarbeit im prekären Viertel, der verlässliche Treffpunkt für die, die in den urbanen Welten gestrandet sind und nach Herberge suchen. Und diese Initiativen beginnen allesamt damit, zuallererst die Lebenssituationen der suchenden Personen wahrzunehmen und schlichtweg für sie da zu sein.260 Diese Bewegung der fresh expressions hat aber auch vorbildlichen Charakter für das ›ganz normale‹ Gemeindeleben. Allerdings verbieten sich auf Seiten der Gemeinden be260

Vgl. dazu Sabrina Müller, Fresh expressions of church. Ekklesiologische Beobachtungen und Interpretationen einer neuen kirchlichen Bewegung, Zürich 2016.

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wusste Abgrenzungsstrategien gegenüber solchen neuen, innovativen Projekten. Es ist unbedingter Bestandteil kirchlicher Verantwortung, über den Tellerrand des eigenen Geschmacks hinauszublicken und sich bewusst für das Neue zu öffnen. Die Rede von einer ›mixed economy‹, also die Mischung aus traditionellen kirchlichen und ganz neuen innovativen Angebotsformen, ist insofern nicht nur Ausdruck für die Vielzahl von Gemeindeangeboten, sondern für ein alternatives und innovatives Gesamterscheinungsbild kirchlicher Praxis wichtig. Die kirchliche Perspektive muss sich also, je länger, desto mehr, auf die realen Lebenssituationen der Menschen im unmittelbaren Nahraum ausrichten. Das Ziel einer solchen neuen kirchlichen Beweglichkeit kann dann nicht darin bestehen, die etablierten kirchlichen Strukturen einfach zu verbessern. Gemeindeentwicklung sollte auch nicht zuallererst danach streben, die Zahl von Gottesdienstteilnehmern zu erhöhen oder zum Wiedereintritt zu motivieren. Ins Zentrum rückt hier vielmehr eine neue Angebotsstruktur für bisher kirchenferne Menschen, durch die sich die lebensdienliche Botschaft des christlichen Glaubens neu und durchaus auf unkonventionelle Weise erschließt. Ein weiterer Aspekt ist zu nennen: Die kirchlichen Akteurinnen und Akteure müssen sich fragen, wann denn und in welcher Weise sie überhaupt noch Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit aufbringen können, um ihre Sitzungsräume zu verlassen und sich auch außerhalb dieser Gremien sichtbar als präsente Kirche zu zeigen. Man kann es noch prägnanter formulieren: Wenn die innere Struktur heiß läuft, wird mittel- und langfristig auch die äußere Erkennbarkeit mangels Zeit und Ressourcen praktisch auf null absinken. Dies aber kann weder Sinn, Auftrag noch Zweck kirchlichen Handelns sein. Auch hier sei nochmals an die reformatorische Grundeinsicht erinnert, dass die entscheidenden Auseinandersetzungen nicht um die geeignete kirchliche Struktur geführt wurden. Sondern im Sinn eines ›form follows function‹ kamen die organisatorischen Fragen erst ins Spiel, nachdem man die theologische Grundlagenarbeit geleistet hatte. Eine solche programmatische Haltung der Offenheit für Neuentwicklung hat erhebliche organisatorische Konsequenzen: Die anstehenden Prozesse der Entwicklung und des Umbaus von Kirchengemeinden sollten jeweils vor Ort konstitutiv diskutiert, entschieden und umgesetzt werden. Reformprozesse müssen von Beginn an auf eine möglichst breite basisorientierte Mitwirkung abzielen. Dies ist nicht nur aus pragmatischen und organisatorischen Gründen der Selbststeuerung sinnvoll. Sondern dies entspricht dem reformatorischen Verständnis partizipativer und transparenter Kommunikation und Praxis kirchenleitenden Handelns. Der reformatorische Aufbruch wäre schon seinerzeit schlichtweg gescheitert, wenn er nicht von Beginn an auf die eigenständige und verantwortliche Mitwirkung aller Glieder gebaut hätte.

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Nicht nur die Hauptamtlichen, sondern alle potentiellen und real Betroffenen sollten von Beginn an als Beteiligte und entscheidende Einflussgrößen verstanden und integriert werden. Individuelle Kirchengemeindezugehörigkeit ernst zu nehmen, entspricht der biblischen Überzeugung von der christlichen Gemeinschaft der Getauften als Leib Christi. Ein solches qualitätsvolles Handeln vor Ort unterscheidet sich wesentlich von einem kirchenregimentlichen Handeln, das gleichsam von oben herab durchgreift und durchregiert. Die entscheidende Aktivität hat von den Gemeindeakteuren vor Ort auszugehen, weil sie schließlich auch von ihnen zu verantworten ist. Damit sind zum einen alle Formen von hierarchisch organisierten Prozessen unbedingt zu vermeiden, in denen die Personen vor Ort lediglich als Vollzugsgehilfen einer bestimmten Strategie verstanden werden. Der etwas sperrige Leitbegriff der Subsidiarität bedeutet dann, dass Kirchenleitungen lokale Prozesse auf Gemeindeebene ermöglichen und unterstützen sollten, ohne permanent direkt in sie einzugreifen. Kirchenleitendes Handeln muss es Menschen ermöglichen, dass diese in ihr tatsächlich ganz eigenständig und wirklich verantwortlich mitwirken können und auch wollen. Dies bedeutet, dass sie allen notwendigen Raum erhalten, ihre Potenziale und Interessen einbringen zu können. Dies sollte auch gelten, wenn ihre Ideen möglicherweise nicht den jeweiligen gewohnten Gemeindestandards entsprechen. Denn woher soll Innovation kommen, wenn nicht von einer breiteren aktiven Basis aus? Raum für echte öffentlich relevante Mitwirkung existiert wahrlich genug: Seelsorge, Bildung, Verkündigung, Diakonie oder Gemeindeentwicklung sind jedenfalls keine exklusiven Labels nur für besoldete Profis. Natürlich ist jedem kirchlichen Praktiker die Not und Schwierigkeit gelingender Gemeindebildung vertraut. Dass sich Menschen nicht mehr selbstverständlich einer Kirche zugehörig fühlen, weiß jede Mitgliedschaftsstudie so eindrücklich wie deprimierend vor Augen zu führen. Insofern ist mit einer solchen Grundposition tatsächlich dort ›wenig Kirche‹ zu machen, wo das inhaltliche Programm schwammig und unscharf bleibt. Die Herausforderung besteht darin, das eigene Angebot so einleuchtend und attraktiv wie möglich auszugestalten. Dies bedeutet für die kirchliche Praxis: Es muss an die Bedürfnisse und Interessen von Menschen angeknüpft werden, die sich nach wie vor mit der Kirche verbunden fühlen und ihr eine lebensrelevante Orientierung zutrauen – hier ist von den Reformatoren und deren unglaublicher Sensibilität für die tatsächlichen Lebensverhältnisse der damaligen Menschen und auch von ihrer bedingungslosen Liebe zu ihnen – den Papst und seine Gefolgsmänner vielleicht einmal ausgeschlossen – zu lernen. An dieser Stelle ist auch von den Herausforderungen des Gottesdienstes zu sprechen: Natürlich ist es in theologischem Sinn durchaus angemessen, den Gottesdienst als Zentrum gemeindlichen Lebens anzusehen. Die

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Frage ist allerdings, ob der Gottesdienst der Ausgangspunkt gemeindlicher Identität ist. Bedarf es nicht vielmehr zuerst eines aktiven gemeindlichen Lebens, damit eben gerade dies im Gottesdienst gemeinsam gefeiert werden kann? Von dort her leuchtet es durchaus ein, den Gottesdienst nicht nur als Anfangspunkt gemeinsamen Feierns, sondern auch als Zielpunkt gemeinsamen Handelns zu verstehen. Mit anderen Worten: Es muss gute Gründe geben, weshalb Menschen den Gottesdienstort als solchen aufsuchen. Diese Gründe liegen in vielen Fällen darin, was vor dem Gottesdienst im Handeln der jeweiligen Gemeinde geschieht und bereits sichtbar bedeutsam geworden ist. Für eine aufsuchende kirchliche Praxis muss das Bewusstsein für die unterschiedlichen Milieus und deren Bedürfnisse und Interessen deutlich verstärkt werden. Wenn wir dies hier betonen, dann allerdings im Unterschied zur klassischen kirchlich betriebenen Milieuforschung nicht aus einem bestimmten Marketinginteresse heraus. Denn diese erfolgt häufig unter Maßgabe von Marktattraktivität und Konkurrenzfähigkeit und ist allzu sehr auf die Erhöhung von Teilnehmer- und Mitgliederzahlen aus. Die Milieuperspektive ist aus unserer Sicht nur dann sinnvoll, wenn sie wirklich den sensiblen Blick auf die vielfältigen individuellen Lebenslagen und Lebensfragen schärft und den produktiven Umgang damit befördert. Bei aller sachlich berechtigten Kritik an den gegenwärtigen Milieustudien ist jedenfalls offenkundig, dass gerade in diesen der nach wie vor vorhandene Vertrauensvorschuss gegenüber der Kirche und ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten auf eindrückliche Weise vor Augen kommt.261 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass aufgrund der Ressourcenbegrenzheit Schwerpunktsetzungen notwendig sind. Kirche wird zukünftig kaum noch flächendeckend so präsent sein können, dass wirklich alle möglichen oder potenziellen Interessen und Zielgruppen wirklich angemessen in den Blick kommen. Um dies zu konkretisieren: Es ist durchaus denkbar, dass sich eine Kirchengemeinde bewusst dafür entscheidet, ihren Schwerpunkt auf die Jugendarbeit zu legen und damit nur noch wenige Ressourcen für Seniorenarbeit zur Verfügung hat. Es kann sein, dass man eine Angebotsstruktur für ein ganz bestimmtes Milieu entwickelt, was dann eben die entsprechenden Ressourcen bindet – man denke hier etwa an die Initiativen, die Menschen aus postmodernen Milieus durch bestimmte anspruchsvolle kulturelle Veranstaltungen oder besonders kreative Gottesdienstformen zu erreichen versuchen. Ob auch immer dies im konkreten Fall gerechtfertigt sein mag: Entscheidend ist, dass man eine solche Schwerpunktsetzung bewusst vor261

Vgl. Matthias Krieg u.a. (Hg.), Lebenswelten, a.a.O.; Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2008.

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nimmt und nicht einfach nach persönlichen Präferenzen der kleinen Gruppe der üblichen Entscheidungsträger vorgeht. Zudem wird eine reine Konzentration auf innerorganisatorische Entwicklungsaufgaben, wir haben es gesagt, diesem Anspruch und Auftrag nicht gerecht. Gemeindliche Arbeit muss also von klaren, theologisch begründeten, Leitfragen geprägt sein: Wo werden durch bestimmte Schwerpunktsetzungen einzelne Gruppen bewusst oder unbewusst ausgeschlossen? Wodurch werden durch bestimmte Angebote Schwellen so hoch gesetzt, dass manche sie nicht mehr überschreiten wollen oder können? Wodurch signalisiert Kirche, dass sie sich dagegen entschieden hat, nur einer bestimmten Zielgruppe zukünftig noch Aufmerksamkeit entgegenzubringen? Was macht eigentlich unser ›Wozu‹ aus? Bei der Frage nach Schwerpunktsetzungen ist also der intensive Austausch unabdingbar und – wenn notwendig – auch der produktive Streit zwischen allen potenziell Betroffenen. Dass man sich für ein solches engagierte Streiten um der Sache willen natürlich auch auf die Streitlust der Reformatoren rückbesinnt, halten wir nicht für einen Fehler! Von dort aus sind die Chancen und Grenzen der gegenwärtig offenbar sehr gefragten Leistungsüberprüfung und Wirksamkeitsmessung kirchlichen Handelns näher in den Blick zu nehmen: Es kommt einem Kulturwandel gleich, kirchliche Aktivitäten, wie dies neuerdings geschieht, der Leistungsüberprüfung zu unterziehen. Dies wirkt auf den ersten Blick als ein allzu ökonomisches Vorgehen, das sich nur schwer mit dem Bild einer sich immer wieder neu und frei entfaltenden Kirche verträgt. Und tatsächlich muss man gerade im kirchlichen Kontext – reformatorisch sensibilisiert – allen unbarmherzigen Leistungsanforderungen gegenüber höchst kritisch eingestellt sein. Es gibt, Gott sei Dank, Grenzen des Menschenmöglichen.262 Auf der anderen Seite dient natürlich jede Leistungsüberprüfung der Klärung und Selbstvergewisserung, ob die eingesetzten Ressourcen tatsächlich »effektiv« und sinnvoll eingesetzt werden. Möglicherweise leistet sich Kirche an manchen Stellen zu viel, an anderen viel zu wenig. Allerdings sollte man all diese Überprüfungen nicht in erster Linie im Sinne einer knallharten ökonomischen Bilanzierung verstehen. Eine solche Prioritätensetzung muss jedenfalls immer wieder neu auch auf den theologischen den Prüfstand gestellt werden. Solche Selbstprüfungen sind dann gerechtfertigt, wenn sie in gnädigem Sinn orientieren, ob man sich wirklich auf dem richtigen Weg mit den richtigen Maßnahmen befindet. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Die Frage, für wen man denn aus welchen Gründen Kirche sein will, wird

262

Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2003.

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gerade in solchen Entwicklungsprozessen leider viel zu selten, deutlich zu spät oder gar nicht gestellt! In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der zunehmenden Monetarisierung kirchlichen Handelns: Man mag es bedauerlich finden, wenn in diesen Zeiten danach gefragt wird, ob sich bestimmte kirchliche Aktivitäten »rechnen«. Angesichts knapper werdender Kassenbestände kommt man um diesen realistischen Blick nicht herum. Aber auch hier gilt wieder, dass eine klare Rechnungslegung oftmals überhaupt erst den notwendigen Einblick und Überblick über die bestehenden Tätigkeiten liefert. Und dabei wird man feststellen, dass es Aufgaben gibt, die finanziell gesehen nicht ertragreich sind. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob man bereit ist, theologisch begründet bestimmte Dinge zu tun, selbst wenn diese sich nicht ›rechnen‹. Eine solche Perspektive macht gerade die besondere Kultur kirchlichen Handelns aus. Eine Logik des Beschenktwerdens ist gerade aus evangelischem Selbstverständnis heraus unbedingt stark zu machen! Zugleich ist zu fragen, welche Bedeutung die kirchlichen Orte bis hin zu den konkreten Gebäuden tragen. Hier ist nicht zu unterschätzen, dass auch diese zur sichtbaren Präsenz gehören und notwendig bleiben, selbst wenn sie sich finanziell nicht sofort rechnen. Denn ihnen kommt eine hohe symbolische Tragfähigkeit zu, die keinesfalls zu unterschätzen ist. Dies lässt die Frage der Investitionen in bzw. der Abgabe von Gebäuden jedenfalls in einem anderen Licht erscheinen.263 Aufseiten der kirchlichen Akteure sind für die genannten qualitativen Reformschritte neue Formen der Aus- und Weiterbildung notwendig. Mit anderen Worten: Qualität setzt Qualifikation voraus. Dies wirft beispielsweise die Frage auf, wie man Theologiekurse für Erwachsene noch zielgenauer mit der Frage der verantwortlichen Gemeindeleitung verbinden kann. Angesichts der angedeuteten theologischen Zukunftsaufgaben sollte man Menschen, die theologisch kompetent sind, so aktiv wie möglich in die kirchliche Angebotskultur integrieren. Wie wir bereits mehrfach betont haben, sind für alle Reformprozesse theologische Grundlegungen bedeutsam und notwendig, wenn man einzelne Reformschritte profiliert weitergehen will. Aber natürlich gilt auch, dass diese theologischen Formulierungen mit Leben gefüllt werden müssen. Man kann sich hinter ihnen weder verstecken noch davon ausgehen, dass mit dem Verweis auf reformatorische Traditionen schon alles Wesentliche gesagt, getan oder gar vollzogen ist. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen religiösen Konkurrenzsituation ist somit die profilierte theologische Kommunikation und Deutung christlicher Glaubensgehalte zu pflegen. Dafür ist es wesentlich, dass theologisches Denken gemeinsam entwickelt und tatsächlich auch eingeübt 263

Vgl. Keller, Kirchengebäude in urbanen Gebieten, a.a.O.

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wird. Dies setzt seinerseits natürlich voraus, dass überhaupt von einer solchen theologischen Grundkompetenz aller ausgegangen wird. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der sogenannten Kinder- und Jugendtheologie264 zeigen die mögliche Richtung an. Ausgangspunkt ist hier die Einsicht, dass theologische Teilhabe das Vertrauen voraussetzt, dass Kinder und Jugendliche biblische Überlieferungsgehalte lesen und deuten können. Eine der wesentlichen Einsichten ist dabei, dass man ihnen sehr wohl erhebliche Fähigkeiten und Potenziale zutrauen kann, sich in einer theologisch aufschlussreichen Weise mit den eigenen Lebensfragen zu beschäftigen. Sie sind, wie konkrete Untersuchungen zeigen, geradezu Ko-Konstrukteure ihrer eigenen Vorstellungs- und auch Glaubenswelten. Indem also deren eigene Suchbewegungen wirklich ernst genommen werden und man diese zugleich mit dem Angebot biblischer Überlieferung kreativ verbindet, wird gleichsam das reformatorische sola scriptura vom Kopf auf die Füße gestellt. Notwendig ist dafür aber gerade eine gemeinsame Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung. Weil die biblischen Texte eine riesige Vielfalt versprachlichter religiöser Erfahrung bieten, sind sie eine hervorragende Quelle für die gemeinsame evangelische Bildung. Mit Hilfe dieser Texte haben Menschen über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart Sprachbilder gefunden, durch die sie ihre Erfahrungen von Transzendenz, ihre Gotteserfahrungen beschreiben und anderen weitergeben konnten. An das reformatorische sola scriptura anzuknüpfen heißt also: im kirchlichen Raum Gemeinschaften zu bilden, die ihre individuellen religiösen Gotteserfahrungen mithilfe biblischer Sprachüberlieferung immer wieder neu fassen und deuten. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Geist Gottes nicht nur die biblischen Autoren bewegt hat, sondern auch in heutigen Hörern und Leserinnen wirkt. So wird Evangelische Kirche zur Interpretationsgemeinschaft, die auf einer gemeinsamen Kultur religiöser Erfahrung und einem gemeinsamen Instrumentarium von Sprache aufbaut. Und zugleich lassen sich in und mit diesen Sprachbewegungen damals wie heute neue Traditionsgemeinschaften bilden. Hier zeigt sich wieder, wie hochbedeutsam eine langfristige und nachhaltige Bildungsarbeit ist: Wir wissen inzwischen aus einer Reihe von Studien, dass kein Faktor für die Identifikation mit Kirche und Glaube so wesentlich ist wie die möglichst frühe familiäre und kirchliche religiöse Sozialisation. Alle späteren Versuche, Jugendliche ohne solche Erfahrungen noch für Kirche zu interessieren, geschweige denn zu begeistern, 264

Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011; Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer u.a., Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012.

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stoßen fast unweigerlich an ihre Grenzen. Konkret gesprochen bedeutet dies für die Zukunft kirchlicher Bildungsarbeit, die eigene Prägungs- und Bildungsaufgabe so breit, so früh und so kontinuierlich wie möglich anzulegen: Dies macht es notwendig, sich in den Bereichen religiöser Erziehung und Bildung, in Eltern-, Kinder- und Jugendarbeit intensiv zu engagieren. Dies bedeutet im Sinn einer Querschnittsaufgabe, eigene Bildungsangebote für möglichst viele Lebenswirklichkeiten und Berufssparten zu öffnen. Dies geschieht exemplarisch im Religionsunterricht der weiterführenden Schulen, insbesondere der Beruflichen Schulen und Evangelischen Fachhochschulen und deren Ausbildungsgängen, der Sozialpädagogik und frühkindlichen Erziehung, der Erwachsenenbildung und Integrationsarbeit, in Pflegeberufen und in vielen weiteren Berufsfeldern. Deshalb ist es unbedingt notwendig, den Standort kirchlicher Bildung an den unterschiedlichen Bildungsorten weiterhin zu pflegen. Diese Arbeit stellt eine erhebliche Investition in die Beziehungspflege sowohl mit Schülerinnen und Schülern wie mit den Lehrpersonen und Schulleitungen und nicht zuletzt den Eltern und Angehörigen dar. Deshalb sind Ausgaben hier jedenfalls ausgesprochen gut angelegt. In theologisch-ethischer Hinsicht müssen Reformprozesse darauf abzielen, die gesellschaftsgestaltende Kraft der Kirche im öffentlichen Raum zu verstärken. Die Rede von einer ›Öffentlichen Kirche‹ markiert, dass der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen mit der Vision einer Kirche ›für Andere und mit Anderen‹ zu verbinden ist. Kirche muss sensibel wahrnehmen, wo Menschen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen systematisch ausgeschlossen werden. In dieser Hinsicht ist mit der Spannung zwischen einer Kirche, die der Welt prinzipiell zugewandt ist und einer Kirche, die sich als Kontrapunkt zu ihr versteht, produktiv umzugehen. Im reformatorischen Ursprungssinn geht es im Ernstfall darum, Gegenöffentlichkeiten gegen die etablierten Öffentlichkeiten herzustellen und zu etablieren. Insofern ist es in theologisch-ethischer Hinsicht an der Zeit, im Blick auf das Bild von Kirche neu anzusetzen. Die Perspektive von unten ist so stark wie möglich zu machen. Für eine solche Form der gesellschaftsrelevanten Teilhabe ist es hilfreich, das hierarchische Bild des Paulus vom Haupt und seinen Gliedern mindestens um die wunderschöne Metapher jedes einzelnen Leibes (!) als Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 6,19) zu ergänzen. Mit anderen Worten: Nach reformatorischem Verständnis verweist dieses unten zuerst einmal auf die offene Frage, wer denn innerhalb der Kirche für wen bzw. mit wem in wessen Interesse handelt. Je für sich und gemeinsam soll Gemeinde zum Empfehlungsbrief werden, der für alle Menschen verständlich und lesbar ist (2Kor 3,2). Man gewinnt politisch-prophetische Schärfe, wenn man die Basis derer, die Kirche ausmachen, in dieser programmatischen Weise erweitert. Die Pointe der Öffentlichen Theologie ist, ob und in wel-

3.4 Was daraus für die kirchliche Praxis folgt – neue Gelegenheiten schaffen

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chem Sinn das, »was Christum treibet«, unter den evangelischen Christen in ihrem alltäglichen Denken und Handeln überzeugend erkennbar wird. Die reformatorische Neuentdeckung des ›solus Christus‹ ist jedenfalls für all die genannten Herausforderungen das unbedingte Zentrum und der substantielle Bezugspunkt allen organisatorischen, kulturellen und theologisch-institutionellen Kircheseins. Zudem ist zu betonen: Eine Volkskirche, die Verantwortung für eine mitmenschliche Kultur des Zusammenlebens zu übernehmen beansprucht, muss eine solche Christus-Hoffnung auch in ihrer eigenen Organisationskultur – gleichsam als ein öffentliches Qualitätsmerkmal – überzeugend widerspiegeln. Die intern notwendigen Debatten sind so offen und freiheitlich wie möglich zu führen. Innerhalb der eigenen Strukturen und Mechanismen ist mit den Gefährdungen der Macht und der Intransparenz so kritisch wie nur irgend denkbar umzugehen. Es ist in diesem Zusammenhang auch an der Zeit, sich an die lutherische Tradition der wechselseitigen Unterredung (»mutuum colloquium«) und des wechselseitigen Trostes »consolatio fratrum [et sororum])«265 zu erinnern. Option für die Armen in einem weiten öffentlichen Sinn heißt dann, sich als Gemeinde der Brüder und Schwestern zu verstehen, die sich auf Augenhöhe zuhört, tröstet und wechselseitig annimmt. Wenn auch in dieser Hinsicht die Grundfigur des allgemeinen Priestertums verstärkt betont wird, werden die patriarchalischen Muster entzaubert. Neue Formen der Partizipation sind also auch aus gesellschaftspolitischen Gründen unbedingt notwendig: Gut reformatorisch gesprochen ist eine Ermächtigung der Gemeinden zu öffentlich-verantwortlichem Handeln im jeweiligen sozialen Begegnungsraum unabdingbar. Dazu sind neue Formen der Kooperation und Vernetzung mit anderen christlichen Gemeinschaften, anderen Religionen, aber eben auch säkularen Initiativen und Verantwortungsträgern unbedingt notwendig. Man sollte sich als einzelne Gemeinde mit dem spezifischen Angebot wirklich für das größere Ganze mitverantwortlich und mitverpflichtet fühlen. Ein wie auch immer geartetes Denken innerhalb der eigenen Gartenzäune ist jedenfalls in der jetzigen Phase im wahrsten Sinn des Wortes kurzsichtig und schon mittelfristig fatal! Nach all diesen Anstößen, ja auch Forderungen, wollen wir doch eines – wiederum im Sinn des reformatorischen sola gratia – festhalten: Kirchen- und Gemeindereformen bleiben trotz aller Steuerungsmöglichkeiten ein unverfügbares Geschäft. Man sollte sich nicht erhoffen, dass alle Maßnahmen sogleich oder überhaupt messbar sein werden. Schon gar nicht ist darüber zu klagen, wenn sich einzelne Ideen und Initiativen nicht sogleich als erfolgreich oder wirksam erweisen. Manches wird scheitern müssen und es darf auch scheitern. Nicht das Misslingen ein265

Vgl. Schmalkaldische Artikel, III, 4.

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

zelner Reforminitiativen ist das Problem, sondern der unbarmherzige Umgang mit solchen Erfahrungen. Es gehört zum Kerngeschäft aller kirchlichen Reformprozesse, dass sie ein Stück weit ins Unverfügbare hinaus denken und insofern im besten theologischen Sinne auf Hoffnung hin ausgerichtet sind. Aber Hoffnung meint hier eben nicht ein vages Vermuten. Sondern es bedeutet, bewusst und aktiv darauf zu vertrauen, dass Kirche auch zukünftig zur Orientierung von Menschen lebensdienlich beitragen kann. Mehr kann nicht getan werden, aber auch nicht weniger. 3.5 Protestantische Lebenskultur – öffentlich aufmerksam sein Von den Reformatoren lässt sich auf vielfache Weise lernen, dass Glaubenspraxis prinzipiell mit sehr viel mehr als nur innerkirchlichen Reformbemühungen zu tun hat. Wenn Kirche nur um sich selbst kreist – und manche Aktivitäten von Kirchenleitungen und in Gemeinden zeigen deutlich eine solche Schwerpunktsetzung –, dann verpasst sie die Gunst und Notwendigkeit der Stunde. Abgesehen davon kommt damit die viel weiterreichende Landschaft protestantischer Prägekräfte und Ressourcen nicht angemessen in den Blick. Protestantische Lebenskultur wurde und wird durch viele Personen geprägt, für die der christliche Glaube eine wichtige Orientierung für die eigene Lebensführung und den Blick auf die Weltverhältnisse darstellt.266 Daraus ist schon allein historisch gesehen viel Gutes entstanden: der Einsatz für solidarisches Handeln, die – mindestens seit dem 20. Jahrhundert – mitunterstützten politischen Freiheitsrechte des Individuums, die Aufwertung der weltlichen Berufe und des Laientums. Diese kulturellen Errungenschaften waren und sind auch wesentlich durch protestantische Geister mitgeprägt worden. So soll hier weit über den kirchlichen Horizont hinaus nochmals festgehalten werden: Frei zu glauben zeichnet sich theologisch gesprochen durch eine bestimmte Grundhaltung aus, die nicht das Privileg der innersten kirchlichen Zirkel ist. Protestantische Lebenskultur zeigt sich dort, wo weit darüber hinaus Personen in ihrem gewissenhaften Handeln darauf vertrauen, dass sich von Gott her das entscheidende, schöpferische und neu schaffende Wort ereignet und sich lebensbedeutsam entwickelt. Was nun allerdings das gute Leben ausmacht, ist inmitten der postmodernen Lebensverhältnisse keineswegs von vornherein oder allgemein klar. Lebensmöglichkeiten sind nicht mehr vorgegeben, sondern werden 266

Vgl. z.B. dazu Matthias Krieg / Gabrielle Zangger-Derron, Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 2003.

3.5 Protestantische Lebenskultur – öffentlich aufmerksam sein

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ergriffen und gewissermaßen immer wieder neu erschaffen.267 Wissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaft gestalten die Welt permanent um. Eindeutige Orientierungen werden deshalb schwieriger. So unterliefe eine allzu einfach gestrickte Zivilisationskritik letztlich die Komplexitäten politischer, ökonomischer, medizinischer oder naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. Checklisten-Lösungen anhand einzelner Bibelstellen vorzulegen oder auszuarbeiten, ist jedenfalls per se noch kein verantwortliches Handeln. Auch sind enge moralistische Vorgaben unter dem Deckmantel vermeintlicher theologischer Eindeutigkeit problematisch.268 Die reformatorische Grundvorstellung und Forderung einer »ethisch einwandfreien Lebenspraxis«269 kann deshalb nicht bruchlos in die Gegenwart übertragen werden. Ein jederzeit zweifelfreies ethisches Urteilen und Handeln aus christlichem Geist ist in der Regel nicht möglich. Insofern ist vor einer ›eindeutigen‹ Zuschreibung dessen, was protestantische Lebenskultur ausmacht, zu warnen – erst recht, wenn dies in die Rede von einer christlichen Leitkultur politisch umgemünzt wird. Denn damit wird zum einen die Komplexität ethischer Fragen und Spannungen ignoriert. Zum anderen unterläuft dies die mögliche Vielfalt theologisch zu begründender unterschiedlicher Urteile und Handlungen in erheblicher Weise. Welcher Anspruch kann dann aber von evangelischer Seite überhaupt artikuliert werden? Was ist gefragt? Mutiger und radikaler Einsatz oder kompromissorientiertes und situationsbewusstes Verantwortungsbewusstsein? Und in welcher Weise kann Kirche selbst zu dieser protestantischen Lebenskultur aufmerksam beitragen? Im Umgang mit dieser Frage stehen sich unterschiedliche Positionen durchaus wenig versöhnlich gegenüber, wie hier am aktuellen Beispiel verdeutlicht werden soll: So hat jüngst Ulrich Körtner in einem streitbaren und nicht unwidersprochen gebliebenen Beitrag den Kirchen vorgeworfen, sie würden in der Flüchtlingsfrage stärker gesinnungs- als verantwortungsethisch argumentieren.270 Vom Gebot der Nächstenliebe aus ließen sich, so Körtner, keine erschöpfenden Handlungsanweisungen für eine langfristige Migrationspolitik ableiten. Der Staat habe zwar die Aufgabe, in Übereinstimmung mit Gottes Gebot für Recht und Frieden zu sorgen. Das schließe aber seine Verantwortung für sichere Grenzen und prinzipiell das Recht und die Pflicht zur Steuerung von 267 Vgl. Heinz Eduard Tödt, Zum Verhältnis von Dogmatik und theologischer Ethik, in: ZEE 26 (1982), v.a. 34ff. 268 Vgl. dazu jetzt Hans Joas, Kirche als Moralagentur?, München 2016. 269 Eichel, Deutschland, Lutherland, a.a.O., 227. 270 Ulrich H.J. Körtner, Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung. In der Flüchtlingsfrage weichen die Kirchen wichtigen Fragen aus, in: zeitzeichen 2016/2. [www.zeitzeichen.net/geschichte-politik-gesellschaft/kirchen-und-fluechtlingsfrage/]

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

Zuwanderung ein – und dazu sollen sich die Kirchen äußern und nicht lediglich mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit auftreten. Tatsächlich läuft man – hier ist Körtner zuzustimmen – innerkirchlich Gefahr, in öffentlichen Stellungnahmen komplizierte Sachverhalte allzu sehr zu vereinfachen – etwa dann, wenn man sich sozusagen unter Niveau in die in der Regel höchst komplexen Diskussionen hineinbegibt. Diese und viele weitere politische Problemlagen sind keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Deshalb kann im Einzelfall eine abwägende Haltung der Sache nach häufig sehr viel angemessener sein, als sich vermeintlich eindeutig zu positionieren. Man sollte allerdings nicht aus eigennützigen strategischen Überlegungen heraus Kompromisse eingehen, um nicht anzuecken oder sich nicht dem öffentlichen Gegenwind auszusetzen. Wenn sich Kirche lediglich am vermeintlichen Mehrheitswillen ausrichtet oder gar der breiten Masse gefallen will, befördert sie gerade ihre Selbst-Entmachtung. Wir halten es insofern für theologisch geboten, an den prophetischen Anspruch des evangelischen Glaubens zu erinnern. Allerdings entlastet dies tatsächlich nicht vor dem differenzierten und differenzierenden Blick auf die größeren Zusammenhänge. Auch in dieser Hinsicht kann an die reformatorischen Einsichten angeknüpft werden, insbesondere daran, wie dort die öffentliche Mitgestaltungsaufgabe des Politischen verstanden wurde. Dies gilt trotz der Tatsache, dass sich die politischen Verhältnisse gegenüber der damaligen Zeit natürlich wesentlich verändert haben: Denn auch der modernde säkulare, sogenannte religionsneutrale Staat ist auf Werte-Ressourcen angewiesen, die durch die Berufung auf eine Verfassung und ihre Prinzipien keineswegs schon für sich selbst sprechen oder gar automatisch mit Leben gefüllt werden.271 Es sollte von daher mutig vertreten werden, dass die christlichen Kirchen nicht nur zahlenmäßig und im Blick auf ihre Ressourcen, sondern auch hinsichtlich ihres Beitrags zur politischen Kultur nicht einfach ›irgendeine beliebige Bedeutung‹ haben – eben im Sinn des ›nice to have‹. Sondern gerade aufgrund ihrer eigenen Traditionen und Erfahrungen im Verhältnis zur staatlich-politischen Macht tragen sie erheblich zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Dies bedeutet konkret, sich als Kirche und Gemeinde den politischen und gesellschaftlichen Akteuren immer wieder ohne Berührungsangst und selbstbewusst als Kooperationspartner ›auf Augenhöhe‹ anzubieten. Dies heißt im Einzelfall auch, deutlich zu artikulieren, wo eine bestimmte politische Praxis mit Allmachtsansprüchen auftritt. Denn reformatorisch gesprochen hat die staatliche Obrigkeit nichts zu glauben und keine Liebesherrschaft auszuüben, »aber sie hat im Relativen dem nachzueifern, was die Liebe will, nämlich aus dem Staat einen 271

Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, 60.

3.5 Protestantische Lebenskultur – öffentlich aufmerksam sein

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Ort zu machen, da das Leben wahrhaft menschlich wird.«272 Wenn der Staat dies vergisst, ist es an der Kirche, ihn daran zu erinnern. Die reformatorische Figur des prophetischen Wächteramts ist hier nicht der schlechteste Wegweiser: Sie markiert die sozialethische Verantwortung der Christinnen und Christen im Gefolge der alttestamentlichen Propheten, die politischen Kräfte und den Staat auf den Schutz der Schwachen und Hilflosen zu verpflichten. Dies ist radikaler als die völlige Entsagung von politisch-weltlichen Gegebenheiten. Denn es bringt das unbedingte das Ja zu einem besseren Zusammenleben zum Ausdruck. Es geht folglich nicht darum, ›gegen den Staat‹, sondern in und mit ihm auf kooperative Weise Kirche zu sein. Dies lässt sich sowohl im reformierten Gedanken der Herrschaft Christi über alle Bereiche des Lebens wie auch in der lutherischen Figur der beiden Regimente gleichermaßen weiterdenken: Wer von diesen theologischen Orientierungen aus auf die Welt blickt, kann, ja muss dies auch in Wort und Tat politisch und gesellschaftlich engagiert bekennen. Im Extremfall – etwa im Fall von rassistischen Grundstimmungen oder eindeutigen Menschenrechtsverletzungen – bedeutet dies: Kirche muss dazu bereit und in der Lage sein, sich gegen bestimmte Entwicklungen eindeutig zu positionieren. Aber nochmals gesagt: Mit der Rede vom Wächteramt wird weder ein kirchlicher Triumphbogen aufgespannt noch eine bestimmte Besserwisserei angezeigt. So heißt es z.B. in der Kirchenordnung der Evangelisch-Reformierten Kirche des Kantons Zürich: »Die Landeskirche nimmt das prophetische Wächteramt wahr. In der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium tritt sie ein für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung.«273 Ausbuchstabiert hat dies der Schweizerische Evangelische Kirchenbund in seinen Legislaturzielen 2011–1014: »Die evangelischen Kirchen nehmen ihr Wächteramt wahr. Der Kirchenbund bezieht öffentlich Stellung, wo gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Entwicklungen dem Evangelium Jesu Christi zuwiderlaufen. Nicht zu allen politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Themen äußert sich der Kirchenbund; wo es aber nötig ist, dort bezieht er Stellung – evangelisch begründet, theologisch klar und politisch klug. Er verleiht seine Stimme jenen, denen Unrecht widerfährt und die selber in der Öffentlichkeit kein Gehör finden.«274 Insofern lässt sich die Rede von einem »öffentlichen Protestantismus«275 durchaus mit dem gesellschaftskritischen Gedanken der »Option für die Schwachen« verknüp272 273

Arthur Rich, Zwingli als sozialpolitischer Denker, a.a.O., 84. Kirchenordnung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Art. 4, Abs. 2. 274 [www.kirchenbund.ch/sites/default/files/kirchenrecht/Legislaturziele2011-14.pdf]. 275 So jetzt Christian Albrecht / Reiner Anselm, Öffentlicher Protestantismus, Zürich 2017.

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

fen. Gerade im Sinn einer Volkskirche für alle – mit der besonderen Aufmerksamkeit für die Schwachen im Sinn einer Kirche für andere – kann die Leitperspektive der Freiheit im Sinn des guten Lebens durchbuchstabiert werden. Aber wie verhält sich nun diese Aufgabe des Wächteramts zur individuellen Meinungsbildung? Wann ist womöglich die Frage eines status confessionis, des Bekenntnisnotstands der Kirche gegeben, bei dem ihr Wesen selber auf dem Spiel steht? Hat nicht das Wächteramt seinen Ausgangspunkt im Individuum, da eben jeder Christ und jede Christin dazu berufen ist, aus der eigenen Bibellektüre und theologisch-ethischen Abwägung heraus bekennend und gewissenhaft die eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen und Konsequenzen für sich zu tragen? Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten ist klar, dass hier nicht nur die kirchenleitenden Instanzen gefragt sind: Die Diskussionen um den Tiefensinn des Prophetischen sind in der ganzen Gemeinde zu pflegen. Gefragt ist eine so gewissenhafte wie prophetische Diskussionskultur. Dabei wäre es allerdings zu billig, wenn das Prophetische auf die reine Form der offenen Diskussionskultur beschränkt bliebe. Denn individuelle Gewissensentscheidung heißt nicht »isolierte« Überzeugungsartikulation. Dies setzt sozusagen eine Gemeinde-Bildung im doppelten Sinn voraus: Auf Gemeindeebene muss eingeübt werden können, wie man sich auf dem Hintergrund der individuellen Gewissensprüfung mit den jeweiligen aktuellen Fragen möglichst reflektiert und konstruktiv auseinandersetzen kann. Die Gemeinde wird ihrer Weltverantwortung erst gerecht, wenn zum einen individuelle, wachsame Mahnerinnen und Mahner dazu bereit sind, ihre eigenen Überzeugungen dem freien Gespräch und der argumentativen Auseinandersetzung auszusetzen. Eine solche gewissenhafte Vertrauenshaltung bedarf zum anderen gelingender Gemeinde- und Gemeinschaftserfahrungen. Prophetisches Denken und Handeln manifestiert sich nicht in Form eines undifferenzierten Überzeugungsgestus. Es geschieht nicht in einer Haltung des alternativlosen Anspruchs, wonach jeder und jede andere die genaue gleiche Meinung unbedingt teilen müsse. Insofern ist die prophetische Radikalität der Reformatoren mindestens mit der faktischen Pluralität aktueller Weltwahrnehmungen in kluger Weise zusammenzudenken. Die dezidierte theologisch begründete Haltung macht jedenfalls die differenzierte, abwägende Haltung umso notwendiger und auch umso möglicher! Wer sich aus Gewissensgründen sein je eigenes Urteil gebildet hat, tut dann gut daran, sich Verbündete zu suchen, mit denen gemeinsam aufgerüttelt und angestoßen, angesteckt und angeeckt werden kann. Dann kann aus einzelnen gewissenhaften Christen und Christinnen prophetische Kirche werden. Themen, die die Kirche unbedingt angehen, sind mutig auf die Tagesordnung zu setzen und energisch zu bearbeiten. Dies ist die überzeugendste Form, wie Protestanti-

3.5 Protestantische Lebenskultur – öffentlich aufmerksam sein

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sche Kirche prophetisch und zugleich demokratisch sein kann. Kirchliche und politische Hierarchien sind immer wieder neu demokratisch zu durchwirken, zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern. Dazu ist es notwendig, sich als Kirche und Gemeinde in zukunftsweisenden Diskussionen nachdrücklich und kenntnisreich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Im besten Fall führt es zur medialen Einflussnahme in den Debatten, die eine ganze Nation oder gar einen ganzen Kulturkreis bewegen. In diesem Zusammenhang erstaunt es, dass die Kirchen gegenwärtig zur höchst prekären und ungewissen Zukunft des europäischen Gemeinwesens praktisch nicht hörbar sind – gerade so, als ob sie der schleichende und nachhaltige Werteverlust nichts anginge bzw. sie schlechterdings nicht betreffe.276 Ein solches Engagement beginnt bei den lokalen runden Tischen und setzt sich auf unterschiedlichsten Entscheidungsebenen fort. Die fachliche Expertise darf jedenfalls nicht den akademischen Expertinnen und Experten überlassen bleiben – auch wenn sie bischöfliches Ornat oder Talar tragen. Denn ob diese in ihren Amtsstuben und internen Gremienzirkeln tatsächlich immer über eine so breite Weltwahrnehmungskompetenz verfügen wie ihre Mitglieder, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zusammenfassend gesagt: Evangelischer Glaube entbindet Kräfte für die Weltgestaltung bewusst auch außerhalb der kirchlichen Mauern und kirchengemeindlichen Komfortzonen. Dies entspricht der reformatorischen Sicht auf das Ganze der von Gott geschaffenen Welt. Evangelischer Glaube zeichnet sich dadurch aus, dass Mitverantwortung für alle Belange des gesamten Lebens übernommen wird. Er sensibilisiert eben – reformatorisch grundgelegt – in ganzheitlichem Sinn für die weiterreichenden Zusammenhänge. Denn der Gedanke göttlicher Schöpfung und der Leitung durch den Heiligen Geist ermöglicht den freien und weiten Blick auf die Verhältnisse. Eine evangelisch fundierte Rede freier Verantwortlichkeit eröffnet sogleich den Horizont vielfältiger weltlicher Handlungsfelder und Tätigkeitsbereiche. Das Prophetische besteht darin, dass Christinnen und Christen in ihrer gesamten Existenz, im Gottesdienst und an ihrem Arbeitsplatz, ihrem Abstimmungsverhalten, ihrem beruflichen Engagement und ihrem Privatleben »von ihrem besonderen Ort aus besser als andere der Stadt Bestes zu suchen wissen«.277 Sich dabei konsequent weg von den eigenen Bedürfnissen hin auf den Nächsten und seine Lebenssituation auszurichten, ist dafür nicht der schlechteste Anfang. Sensibel und achtsam für die Not der Schwachen zu werden, sowie mutig und erfinderisch nach besseren, möglichst gewaltfreien Lösungen zu suchen, spiegelt viel von der Freiheit des Glau276

Vgl. zur Problemanalyse David Engels, Auf dem Weg ins Imperium – Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik, Berlin 2014. 277 Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., 53.

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3. Protestantische Kirche fordert heraus

bens- und Gewissensfreiheit wider. Und vernünftige Abwägungen tragen sehr wohl engagierten und profilierten Charakter. Insofern gehört es zur spezifisch protestantischen Freiheitskultur, sich inmitten der genannten Spannungen immer wieder nach bestem Wissen und Gewissen zu positionieren. Von dort aus sind viele Vollzugsformen evangelischen Glaubens und protestantischer Lebenskultur möglich, denkbar und notwendig. So engagieren sich viele Menschen evangelischen Glaubens in vielen weltlichen Bereichen des Rechts, der Politik, Wirtschaft, Kultur, Kunst, Bildung, Medizin oder den Medien. Menschen, für die der eigene evangelische Glaube bedeutsam ist, füllen diese prophetische Idee in ganz eigener kreativer und gewissensorientierter Weise aus: sei dies die Krankenschwester, die mit Leib und Seele in einer diakonischen Einrichtung arbeitet, der Journalist, dem Themen der Wahrheit, des Glaubens und Zweifelns für die eigene Arbeit wesentlich sind, die Managerin, die inmitten der ökonomischen Drucksituation ihre Werte nicht aufgeben will, der Künstler, der sich mit Haut und Haaren an den religiösen Themen seines Lebens abarbeitet, oder die Ehrenamtliche, die Zeit, Energie und ihre Hoffnung für bedürftige Menschen in ihrer Nähe einbringt. An vielen Orten sind Menschen aufgrund ihrer Prägungen aus christlicher Erziehung und Bildung, kirchlicher Jugendarbeit oder aufgrund der Erfahrungen aus ihrer evangelischen Studentengemeinde gemeinwohlorientiert unterwegs. Vielfältig zeigen sich hier Spuren freien evangelischen Glaubens. Ohne diesen wäre die gegenwärtige Kultur des Zusammenlebens wesentlich ärmer und vermutlich erheblich unbarmherziger. Kirche hat die Aufgabe, Menschen in solchen Lebenssituationen und eben ganz anderen beruflichen Aufgabenfeldern überhaupt einmal wahrzunehmen. Sie hat die Aufgabe, Menschen zu unterstützen und zu motivieren, deren Engagement zu befördern – auch und gerade dann, wenn dieses sich nicht in ausdrücklich kirchlichen oder gemeindlichen Bahnen bewegt. Im Übrigen können kirchliche Akteure von solchen eigenständigen, oftmals unkonventionellen Deutungsprozessen erheblich für die eigene Verkündigungs- und Handlungspraxis lernen. Denn nicht selten bringen gerade solche Engagierten die Dinge sprachlich und ganz praktisch in einer besonders authentischen und überzeugenden Art und Weise auf den Punkt.

4. Freiheit des Glaubens – ganz schön anstößig

Kann heute noch überzeugend und profiliert davon geredet werden, was den Reformatoren seinerzeit neu lebendig geworden ist? Von der Kernsubstanz evangelischen Glaubens zu schweigen oder gar Religion zur Privatsache zu erklären, ist jedenfalls weder biblisch noch reformatorisch gesehen eine Option. Allerdings sind hier eher tastende Versuche und ein vorsichtiges Stammeln angebracht. Wer universale und allgemeingültige Aussagen beabsichtigt, sollte sich der eigenen Voreingenommenheit und Begrenztheit bewusst sein. Sobald man sich in protestantischer Perspektive mit der Frage der eigenen Glaubensidentität auseinandersetzt, ist man bereits mitten in der Vielfalt unterschiedlichen Auslegens und Interpretierens. Eindeutigkeit und Pluralitätsfähigkeit bilden die unhintergehbaren Spannungspole protestantischen Kirche- und Christseins. Mit dem Reformationsgedenken eröffnet sich also ein denkbar weiter Deutungshorizont. Es macht das protestantische Selbstverständnis aus, dass jede individuelle und gemeinschaftliche Deutungspraxis nur als eine vielfältige und vielstimmige und nicht selten eben als uneindeutige und gar widersprüchliche Form der Selbstauslegungspraxis in Erscheinung tritt. Aber in der Gottesdienstlichkeit des Alltags, im Vorrang des Menschen vor den Strukturen, in der Förderung des Lesens, Denkens und der Eigenverantwortlichkeit können die Kerninhalte evangelischen Glaubens auch heute noch überaus profiliert zur Sprache kommen. Dies ist – im Gegensatz zum Gestus der Reformatoren im 16. Jahrhundert und einer bestimmten pastoralen Grundhaltung über Jahrhunderte hinweg – aber nicht mehr ›von der Kanzel herunter‹, nicht länger als autoritäre Verkündigung möglich. Sondern dies geschieht sinnvollerweise so, dass evangelische Praxis die individuelle Urteilsbildung jedes Einzelnen ermöglicht und inspiriert. Zu Beginn haben wir gefragt: Warum wird dieses Reformationsjubiläum überhaupt gefeiert? Eine erste Antwort lautet: Weil einzelne reformatorische Ereignisse und ihre herausgehobenen Wortführer mit ihren Reden und durch ihre Schriften den Gang der Dinge wesentlich beeinflusst haben. Eine zweite Antwort ist ebenso angemessen: Weil es viele Menschen waren und sind, die mit ihrer evangelischen Glaubenshaltung permanent Kirche reformieren und sich mit den gesellschaftlichen Gegen-

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4. Freiheit des Glaubens – ganz schön anstößig

wartsfragen engagiert auseinandersetzen: Konservative, Liberale, tief Gläubige, vom Zeitgeist Verwehte, von der Gottesfrage Umgetriebene, von Gott Angetriebene. Und eine dritte Antwort sei hinzugefügt. Weil viele Menschen die Kirche tagtäglich an das semper reformanda erinnern: All diejenigen, die so unscheinbar wie wirkungsvoll ihren Glauben alltäglich leben und davon in ihrer Lebensführung getragen sind – innerhalb und außerhalb der Kirche. Diejenigen, die befreiende Antworten und Perspektiven in den biblischen Texten suchen, weil darin ihrer Überzeugung nach Gottes Wort zur Sprache kommt. Diejenigen, die ihrer eigenen Hoffnung glaubwürdig Rechenschaft geben und so die Botschaft des Evangeliums für diese Welt deutlich werden lassen. Eine solche mitmenschliche Wahrheitssuche im Licht des Evangeliums ist als kulturelle Ressource und als theologisch gedeutetes Gemeinwohlprinzip inmitten der pluralen und prekären Verhältnisse kaum zu überschätzen. Denn dies erinnert die Kirche immer wieder neu an ihre eigentliche Aufgabe und Form. Nicht eine Form, die fest und starr etwas einschließt, das sonst zu zerfließen droht, so wie die Backform den flüssigen Kuchenteig. Keine Form, an der man sich festhalten müsste, um nicht fremden Einflüssen ausgeliefert zu sein – dem Fremden, dem Islamismus, dem Säkularismus, der Welt. Keine Form »festgemauert in der Erden«, wie die Form der Glocke in Schillers Gedicht. Sondern eine Form der Kirche, die wie die Seele den Körper durchwirkt und formt und ihn dadurch lebendig und beziehungsfähig macht.278 Diese Aktivität des Formens prägt den Körper Kirche und macht sein Wesen aus. So erinnern viele Menschen immer wieder neu daran, was Kirche sein könnte, nämlich eine permanent zu erneuernde organisatorische, kulturelle und theologisch-institutionelle Größe. In diesem Sinn ist das semper reformanda ein Bewegungs-, Entwicklungs- und Sensibilisierungsprinzip, das alle Traditionen als Ursprungserfahrungen für die Gegenwart lebendig macht. Eine solche formende Erinnerung hat ihre ganz eigene Prägekraft. Denn sie bringt die menschenfreundlichen und lebensdienlichen Traditionen evangelischen Christ-Seins immer wieder neu im Licht der protestantischen Freiheitszusage zum Vorschein. Die gesamte reformatorische Entwicklungsgeschichte ist durch eine unübersehbare Vielfalt von Deutungen, Suchbewegungen und Unterscheidungen im Licht dieser Einsicht geprägt. Dies sollte nicht als Problem, sondern als Schatz dieser langen Geschichte angesehen werden. Das protestantische Prinzip besteht gerade darin, die Fähigkeit des Unterscheiden-Könnens einzuüben und zu pflegen: »Das protestantische Prinzip besagt, daß in der Beziehung zu Gott Gott allein handelt, und daß kein menschlicher Anspruch, aber auch kein intellektuelles, moralisches 278

Aristoteles, De anima II, Kap. 1.

3.5 Protestantische Lebenskultur – öffentlich aufmerksam sein

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oder religiöses ›Werk‹ uns wieder mit ihm vereinigen kann.«279 Von dort aus ist dann auch klar, dass diese Unterscheidungsaufgaben nicht an ihr Ende gekommen sind. Es ist eben im jeweiligen Moment gewissenhaft zu hören, zu bedenken und zu prüfen, was jeweils trägt, was Not tut und welche Verantwortung sich daraus ableitet. Dafür braucht es notwendigerweise die individuelle Kraft, zwischen Rechtfertigung und Leistung, zwischen göttlicher Gnade und intellektuellem Werk, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen Falschem und Richtigem, zu unterscheiden. Diese Entscheidung kann einem aus guten theologischen Gründen niemand abnehmen – sie kann höchstens ›mitgetragen‹ werden: Die Gewissheit, dass wir ohne unser Zutun von Gott gehalten und getragen sind, lässt uns befreite, gelassene und zuversichtliche Menschen sein, auch und gerade wenn die Welt aus den Fugen geraten ist. Vor diesem Hintergrund können sich evangelische Christenmenschen und die ganze Kirche inmitten der kulturellen Verhältnisse der Gegenwart positionieren und dabei zugleich Alternativen für ein besseres Zusammenleben aufzeigen. Dies eröffnet Raum für eine engagierte Kirche, die sich weder durch Larmoyanz und Krisenmetaphorik noch durch evangelikale Euphorie auszeichnet. Entscheidend ist, dass sie sich als eine prophetisch mutige »Kirche mit Anderen« versteht. Dass sie willens und in der Lage ist, individuelle Lebensläufe hilfreich zu begleiten und zu deuten. Dazu gehört es, sich in die aktuellen politischen Debatten überall dort einzumischen, wo es um das Wohl der Menschen geht. Die Kirche wird – in und mit der unhintergehbaren Pluralität all ihrer Gesichter – ihre Stimme selbstbewusst und ohne falsche Scheu für diejenigen erheben, die selber keine Stimme haben. Bevor sich zudem Religion endgültig ins säkulare Nirwana verflüssigt, ist das geistliche Leben vor Ort im Fluss zu halten. Denn dass dieses menschenmögliche Handeln gelingen kann und soll, ist wiederum nur als ein Vertrauen auf den Heiligen Geist angemessen zu re-formulieren. Kirchliches Handeln bleibt, um es etwas pathetisch zu sagen, gottverdankt. Diesem Geistereignis und Wortgeschehen kann von menschlicher Seite aus nur entsprochen werden, indem nach dem Tiefensinn aller biblischen Verkündigung gefragt und immer wieder neu nach Formen gelingender kirchlicher Gemeinschaft gesucht wird. Vom kirchlichen Selbstverständnis als einer vielfältig einladenden Lebensgemeinschaft280 aus ist die immer wieder angestrebte Scheidung der Geister schließlich dem Heiligen Geist zu überlassen.

279 280

Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Darmstadt 41984. Vgl. Jan Hendriks, Gemeinde als Herberge. Kirche im 21. Jahrhundert – eine konkrete Utopie, Gütersloh 2001.

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4. Freiheit des Glaubens – ganz schön anstößig

Reformatorinnen und Reformatoren gibt es nur im Plural! Um der Fülle und Vielfalt des Wortes Gottes gerecht zu werden, dessen Geschöpf die Kirche sein soll, muss es eine Fülle und Vielfalt von Menschen geben, die diese Kirche glaubwürdig repräsentieren und reformieren. Und da sich Kirche nach evangelischem Verständnis entscheidend durch ihre einzelnen Mitglieder formiert, bedarf es der Bereitschaft zur individuellen Urteils- und Entscheidungsübernahme, zu mündiger Verantwortung und Partizipation. Damit verbindet sich notwendigerweise eine hohe Sprach- und Auskunftsfähigkeit, die ihrerseits andauernde Einübung und Pflege braucht. Genau in diese Richtung sind alle Überlegungen zum protestantischen Profil weiterzudenken. Ein solcher Prozess kommt der »Marke evangelisch«281 am nächsten: Für das protestantische Kirchenverständnis ist es charakteristisch, die eigene Arbeit und den Blick auf die Welt fortwährend an den eigenen Traditionen und am eigenen Gewissen zu schärfen, also den eigenen Deutungshorizont fortwährend auf das Evangelium zu beziehen. All dies geschieht im Horizont des semper reformanda. Hier öffnet sich der Raum, um immer wieder neu zu reformulieren, sich gegebenenfalls neu zu positionieren und manche liebgewonnene allzu bequeme Ansicht zu revidieren. Damit plädieren wir nicht für eine Art permanenter Aufwärtsbewegung, erst recht nicht für ein ›heute besser als gestern‹‚ oder ein ›protestantisch besser als katholisch‹. Sondern es geht darum, sich von der bedingungslosen Zusage Gottes herausrufen und sich re-formieren zu lassen. Gefragt ist, sich fortwährend und prüfend daran auszurichten, was die Reformatoren als Grundlagen wiederentdeckt haben: die zentrale, vielfältig bezeugte biblische Botschaft des Kreuzes Jesu Christi und seiner Auferstehung, die Entdeckung der bedingungslosen gnädigen Zuwendung Gottes und des darauf frei antwortenden Glaubens, der das Leben und Denken formt und auf die Welt hin öffnet – und am Ende die Weltverhältnisse hoffentlich zum Besseren verändert. Wenn die Kirche und alle freien Christenmenschen sich in diesem Horizont von der frohen Botschaft reformieren lassen, darf man darauf vertrauen, dass sich der Protestantismus »500 Jahre danach« immer noch mitten in der Reformationszeit befindet.

281

Vgl. dazu ausführlicher Christina Aus der Au, Corporate Identity – Kirche als Marke, in: Ralph Kunz / Thomas Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 208–217.