Frauen und Bibel im Mittelalter: Rezeption und Interpretation 9783170225466, 9783170264359, 3170225464

Der Band bietet neue Erkenntnisse über den Umgang von Frauen mit der Bibel in literarischen, mystischen wie auch doktrin

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German Pages 416 [415] Year 2013

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Table of contents :
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Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
Die Bibel im Zentrum
Die renovatio ecclesiae und die Subjektwerdung von Frauen (12.–15. Jh.)
1. DIE BIBEL UND DIE FRAUEN: REZEPTIONEN UND INSTRUMENTALISIERUNGEN
Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala
Frauen in Bibelkommentaren des 12. und 13. Jahrhunderts
Die Bibel und die Frauen in der moralisch-didaktischen Literatur Spaniens
Christinnen und Jüdinnen lesen die Bibel in den spanischen Königreichen
Iuravit ad Sancta Dei Evangelia, tactis corporaliter Scripturis
Bibel, Häretikerinnen und Inquisitoren
Frauen, Bibel und Dämonologie im 15. Jahrhundert
2. DIE FRAUEN UND DIE BIBEL: TEXTE UND KONTEXTE
2.1 STUDIUM UND KREATIVE INTERPRETATION
Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess
Bibel und Poesie
Bibelepik einer Frau (Ava) – Bibelepik über eine Frau (Judit)
Weibliche Metaphern von der Heiligen Schrift zu Julian von Norwichs Offenbarungen
Theodora Palaiologina und andere Gelehrte, Kopistinnen und Exegetinnen in Byzanz
2.2 MYSTIK UND PROPHETIE
Biblische Interpretationen im Werk der Hildegard von Bingen (1098–1179)
„Wie eine zweite Rahel, behalte stets deinen Anfang im Auge“ Klara von Assisi und die Bibel
Sprachfähig werden in unerhörten Gottesfragen Die Bibel als innovatives Zentrum der Theologie bei Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Helfta
Die Heilige Schrift in Birgittas Offenbarungen
Stil und Übersetzung der Bibelzitate in den Briefen der Katharina von Siena
„Der Wolf und das Lamm wohnen zusammen“ (Jes 11,6) Die Niederlage der Konversionsutopie im Werk von Teresa de Cartagena (1449–1478)
3. REPRÄSENTATIONEN IN DEN KÜNSTEN
Frauenbild und Erzählstrategien im Hortus Deliciarum der Herrad von Hohenburg
Die Bibel im Hortus Deliciarum der Herrad von Hohenburg
Frauen, Bibel und Musik im Mittelalter
Die Bibel und die Frauen: Ikonographie einer Beziehung im Spätmittelalter
Bibliographie
Stellenregister
AutorInnen
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Frauen und Bibel im Mittelalter: Rezeption und Interpretation
 9783170225466, 9783170264359, 3170225464

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Die Bibel und die Frauen

Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie Herausgegeben von Irmtraud Fischer, Christiana de Groot, Mercedes Navarro Puerto, Adriana Valerio

Mittelalter Band 6.2

Adriana Valerio Kari Elisabeth Børresen (Hrsg.)

Frauen und Bibel im Mittelalter Rezeption und Interpretation Deutsche Ausgabe herausgegeben von Irmtraud Fischer unter Mitarbeit von Johannes Schiller

Verlag W. Kohlhammer

Meinem Bruder Francesco, der mit seiner Leidenschaft für Geschichte und Kultur immer auf kritische Reflexion drängt, in Dankbarkeit gewidmet. Adriana Valerio

Die Herausgabe des Werkes wird unterstützt durch

Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Antonia Schmidinger, Graz Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-022546-6 E -Book-F ormate: pdf: ISBN 978-3-17-026435-9

Vorwort zur deutschen Ausgabe Das Verhältnis von Frauen des Hoch- und Spätmittelalters zur Bibel ist aufgrund des schwierigen Zugangs zu damals nur in Handschriften vorhandenen Bibelausgaben, der Dominanz der Vulgata und der patristischen Auslegungstraditionen sowie der rigiden kirchlichen Kontrolle der christlichen Lehre mit unserer heutigen Bibelverwendung nicht zu vergleichen. Die beiden Herausgeberinnen, Adriana Valerio und Kari Børresen, haben einen spannenden Band gestaltet, der den vielfältigen und sehr divergenten Spuren der Bibelinterpretation von Frauen quer durch Europa nachgeht. Mit einiger Verspätung zur italienischen und spanischen Ausgabe erscheint nun die deutsche. Dies hat einerseits seine Gründe in meinem knappen Zeitbudget während der vierjährigen Rektoratsverpflichtung, andererseits der sehr arbeitsintensiven Kooperation mit der Herausgeberin Kari Børresen bei der immensen Arbeit, die die Translation eines wissenschaftlichen Bandes in eine andere Sprache bedeutet, die ja mehr einer Transferierung als einer Übersetzung gleich kommt. Ein solches Großprojekt lässt deutlich werden, dass es in den unterschiedlichen Sprachbereichen divergierende Zugänge zum Publizieren gibt. Die deutsche Ausgabe versucht nicht nur, (kritische) Textausgaben, so sie in Deutsch überhaupt vorhanden sind, sowie deutsche Übersetzungen von Publikationen zu verwenden und auf Zitate dieser Ausgaben zu verweisen, sondern auch im Deutschen eingebürgerte Genderstandards einzutragen. So kann etwa in deutschsprachigen wissenschaftlichen Publikationen nicht mehr von „der Frau“ gesprochen werden, da Frauen in unterschiedlichsten Kontexten leben und es daher „die“ Frau an sich nicht gibt. Wo in den Originalsprachen der Singular verwendet wurde, wurde er für die reflektierenden Teile des Textes in den Plural umgewandelt, in den auf die Quellen verweisenden Teilen wurde die Schreibweise „die Frau“ belassen. Englische Zitate blieben dort stehen, wo es keine deutsche wissenschaftliche Ausgabe zu den entsprechenden Texten gibt. Anderssprachige Zitate wurden ins Deutsche übersetzt, allerdings häufig auch als indirekte Zitate paraphrasierend formuliert, auch um den Eindruck zu vermeiden, dass sich etwa in einer spanischen Publikation ein deutscher Text finden könnte. Mein Dank gilt vor allem Prof. Dr. Anneliese Felber, die viele in der italienischen und spanischen Ausgabe unübersetzt gebliebene lateinische Zitate ins Deutsche übertragen hat. An der Entstehung der deutschen Version dieses Bandes waren viele MitarbeiterInnen beteiligt: Allen voran danke ich Ass.-Prof. Dr. Johannes Schiller, der die von mir revidierten Übersetzungen bearbeitet und bis ins Detail alle Angaben kontrolliert hat. Ihm ist zu verdanken, dass viele Fehler noch gefunden werden konnten. Dr. Andrea Taschl-Erber danke ich für vorbereitende Arbeiten und das abschließende Korrekturlesen, Mag. Josef Mayr, Daniela Feichtinger und Maria Traunmüller gebührt Dank für das Suchen deutschsprachiger Ausgaben und die Kontrolle von Zitaten, Antonia Schmidinger für das Erstellen der Druckvorlage. Last not least danke ich Mag. Patrick Marko, der als ruhender Pol am Institut viel an Koordinationsarbeit geleistet hat. Graz, im Juni 2013

Irmtraud Fischer

Vorwort der Herausgeberinnen Der hier präsentierte Band eröffnet im internationalen Projekt Die Bibel und die Frauen den historischen Sektor, der wichtig und delikat zugleich ist, weil er durch unbekanntes, teils unveröffentlichtes Material fasziniert – sowohl in der Exegese als auch in der Geschlechtergeschichte. Die abendländische Kultur wurde von der Bibel geprägt. Ihre Interpretation und ihre Rezeption haben mithilfe philosophischer und theologischer Traktate die Sichtweise der weiblichen und männlichen Natur sowie der Geschlechterrollen in Predigt, Gesetzessammlungen, Literatur und Kunst bestimmt. Das Mittelalter, insbesondere das 12. und das 13. Jahrhundert, stellt ein fundamentales Verbindungsstück nicht nur für die Konstruktion der Geschlechteridentität, sondern auch – und vor allem – für die starke und bedeutende Präsenz der Schriften von Frauen dar, von neuen Kreisen, die die Bibel auslegen. Der hier vorgestellte Band entstand in Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern aus vielen Teilen der Welt, deren Forschungen und Reflexionen zu Themen biblischer Rezeption präsentiert werden. Das Neue besteht im Versuch, die überkommenen Interpretationsweisen, die die Tradition anbot, mit den neu aufkommenden Fragen, die die Frauen stellten, zusammen zu führen. Das ganze mittelalterliche Europa bietet das Szenario für diese Untersuchungen: vom byzantinischen Orient nach Spanien, von Holland nach Italien, von Norwegen in deutsche Landen, alle sind beteiligt an der Schaffung von Voraussetzungen für die Herausbildung des „christlichen Abendlandes“ am schwierigen Weg der Individualisierung, der speziellen Charakteristik und der Identität. Für die Unterstützung des Forschungskolloquiums zu diesem Band, das vom 4. bis 6. Dezember 2009 in Neapel stattfand, danken wir der Universität Federico II Napoli, der Universität Graz und der Fondazione Valerio per la Storia delle Donne. Oslo/Neapel, September 2011

Kari Elisabeth Børresen und Adriana Valerio

Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG Adriana Valerio Die Bibel im Zentrum Die renovatio ecclesiae und die Subjektwerdung von Frauen (12.–15. Jh.) ............... 11

1. DIE BIBEL UND DIE FRAUEN: REZEPTIONEN UND INSTRUMENTALISIERUNGEN Andrea Taschl-Erber Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala ............. 41 Gary Macy Frauen in Bibelkommentaren des 12. und 13. Jahrhunderts ....................................... 65 María Isabel Toro Pascua Die Bibel und die Frauen in der moralisch-didaktischen Literatur Spaniens .............. 82 Gemma Avenoza Christinnen und Jüdinnen lesen die Bibel in den spanischen Königreichen ............... 97 Marina Benedetti Iuravit ad Sancta Dei Evangelia, tactis corporaliter Scripturis Bibel, Häretikerinnen und Inquisitoren ..................................................................... 113 Dinora Corsi Frauen, Bibel und Dämonologie im 15. Jahrhundert ................................................ 129

2. DIE FRAUEN UND DIE BIBEL: TEXTE UND KONTEXTE 2.1 STUDIUM UND KREATIVE INTERPRETATION Constant J. Mews und Carmel Posa Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess ........................... 151 Magda Motté Bibel und Poesie Bibelepik einer Frau (Ava) – Bibelepik über eine Frau (Judit) ................................. 169

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Inhaltsverzeichnis

Kari Elisabeth Børresen Weibliche Metaphern von der Heiligen Schrift zu Julian von Norwichs Offenbarungen .......................................................................................................... 185 Rosa Maria Parrinello Theodora Palaiologina und andere Gelehrte, Kopistinnen und Exegetinnen in Byzanz .................................................................................................................. 198 2.2 MYSTIK UND PROPHETIE Valeria Ferrari Schiefer und Elisabeth Gössmann Biblische Interpretationen im Werk der Hildegard von Bingen (1098–1179) .......... 218 Martina Kreidler-Kos „Wie eine zweite Rahel, behalte stets deinen Anfang im Auge“ Klara von Assisi und die Bibel ................................................................................. 231 Hildegund Keul Sprachfähig werden in unerhörten Gottesfragen Die Bibel als innovatives Zentrum der Theologie bei Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Helfta ............................................................................................. 246 Kari Elisabeth Børresen Die Heilige Schrift in Birgittas Offenbarungen ........................................................ 262 Rita Librandi Stil und Übersetzung der Bibelzitate in den Briefen der Katharina von Siena ......... 274 Maria Laura Giordano „Der Wolf und das Lamm wohnen zusammen“ (Jes 11,6) Die Niederlage der Konversionsutopie im Werk von Teresa de Cartagena (1449–1478) ............................................................................ 285

3. REPRÄSENTATIONEN IN DEN KÜNSTEN Paola Vitolo Frauenbild und Erzählstrategien im Hortus Deliciarum der Herrad von Hohenburg ....................................................................................... 303 Claudia Poggi und Marina Santini Die Bibel im Hortus Deliciarum der Herrad von Hohenburg ................................... 316

Inhaltsverzeichnis

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Linda Maria Koldau Frauen, Bibel und Musik im Mittelalter .................................................................... 334 María Leticia Sánchez Hernández Die Bibel und die Frauen: Ikonographie einer Beziehung im Spätmittelalter .......... 349

Bibliographie ............................................................................................................. 369 Stellenregister ............................................................................................................ 404 AutorInnen ................................................................................................................ 413

Die Bibel im Zentrum Die renovatio ecclesiae und die Subjektwerdung von Frauen (12.–15. Jh.) Adriana Valerio Università degli Studi „Federico II“, Neapel Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört. (Psalm 62,12)

1. Die Bibel und die Frauen in der klerikalen Kultur des Mittelalters 1.1 Das Buch schlechthin Die Bibel als das Buch der Kultur und Mentalität des Mittelalters war in allen Aspekten des sozialen und spirituellen Lebens präsent. Durch Liturgie, Predigten, Frömmigkeitsübungen, geistliche Gespräche, Andachtstexte, sakrale Spiele, Skulpturen, Gemälde, Miniaturen und Musik konnten Christen, Männer wie Frauen, gebildet oder ungebildet, Kleriker, Ordensleute oder Laien, an diesem immensen gemeinsamen Erbe der Heiligen Schrift teilhaben. In der Tiefe der Seele eines jeden Gläubigen hallte die Heilige Schrift wider: Anspielungen auf die Bibelstellen, Anklänge an biblische Motive, Metaphern, Themen und Figuren bildeten die tragende Struktur der Gedankenwelt, der Vorstellung und der Sprache. Die Bibel war der Raum, in dem jeder Mensch den Sinn seines eigenen Lebens finden konnte, was auch der allegorischen Methode zu verdanken war, denn sie öffnete den Weg zu einer aktualisierenden Schriftauslegung, die sowohl auf das geistliche als auch auf das konkrete alltägliche Leben angewendet werden konnte. Daher ist es schwierig, in einer von der Heiligen Schrift durchdrungenen Kultur spezifische Perspektiven aufzuzeigen, auch weil nicht alle Bücher, die Teil dieser Kultur waren, gleich stark verbreitet, gelesen und bekannt waren oder im Leben der Gläubigen den gleichen Wert aufwiesen. Nur einige wenige Bibelstellen, Zitate, Episoden oder Personen, gefiltert durch eine theologische Interpretation, die sich im Laufe der vorhergehenden Jahrhunderte herauskristallisiert und durch die Kirchenväter Autorität erhalten hatte, animierten den Geist und die Seele der Menschen. Noch schwieriger ist das Unterfangen, einen Schlüssel zum besseren Verständnis der Beziehung zwischen den heiligen Schriften und der weiblichen Lebenswelt und des Einflusses der Texte auf die Konstruktion von Geschlechteridentitäten sowie auf die Definition von Männer- und Frauenrollen in Gesellschaft und Kirche zu finden. Zudem ist der hier untersuchte Zeitraum vom 12.–15. Jh. voll von kulturellen Entwicklungen und Neuerungen, die Impulse zu neuen Fragen nach Gott, der Welt und den Menschen hervorgebracht haben. Überraschenderweise setzt sich gerade in dieser Epoche das Schrifttum von Frauen und damit ihre Subjektwerdung durch. Im Schreiben drücken sie ihre Sorge in der Suche nach Wahrheit aus, durch das Hören oder Lesen der Bibel finden sie neue Wege, sich selbst zu verstehen, die Geschehnisse ihrer

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Zeit zu interpretieren und ihre eigene Erfahrung mit dem Transzendenten in Worte zu fassen.1 Wenn wir uns in einer so vielgestaltigen Problematik zurechtfinden wollen, müssen wir deswegen einen Weg finden, die Zeit in sinnvolle Abschnitte einzuteilen, durch die Kontinuitäten und Neuerungen besser erkennbar werden. Dies wird uns dabei helfen, einerseits die treibenden Kräfte zu verstehen, die die religiösen Institutionen in Gang setzten, und andererseits die Gründe für die Veränderungen aufzuzeigen, die auch dank der aktiven Mitwirkung von Frauen an diesen, von der Heiligen Schrift inspirierten, kulturellen und reformatorischen Bewegungen vorangetrieben wurden.

1.2 Periodisierung der Epoche Bezüglich dieser Jahrhunderte halte ich es für sinnvoll, zwei Spuren zu legen, anhand derer die Geschichte der Frauen und der Einfluss, den die Bibel auf die Definition ihrer Rollen hatte, dargestellt werden. Die erste Zeitleiste beginnt mit der Gregorianischen Reform (1046–1122) und endet mit der Veröffentlichung des Inquisitionshandbuchs Malleus Maleficarum (1486). Im Rahmen einer von Männern bestimmten Denkweise zeigt diese Linie, wie die Heilige Schrift zur Legitimierung der Unterordnung der Frauen und ihres Ausschlusses von Machtpositionen benutzt wurde. Sie endet mit der Verfolgung der weiblichen Hexen, die – wie man in der Kultur jener Zeit zu sagen pflegte – wie alle Frauen per natura zum Bösen hin tendierten. Die zweite Linie führt von der Äbtissin Heloisa (†1164) bis zur Schriftstellerin Christine de Pizan (†1430) und verfolgt, im Gegensatz zur ersten, die Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der von Frauen verfassten Literatur, die auf ein steigendes Bewusstsein ihrer Identität und Würde schließen lässt und die im Umgang mit der Heiligen Schrift Nahrung und Fundament findet. Diese zeitliche Aufteilung neigt wie jede Schematisierung natürlich dazu, sehr komplexe und widersprüchliche historische Phasen zu vereinfachen und sie, oft durch konstruierte Gegensätze, eng zu definieren. Tatsächlich haben die Männer der Kirche die Frauen nicht immer mit negativen Bildern dargestellt, sondern haben oft im Gegenteil eine echte Menschenwürde gerade aus den Texten der Heiligen Schrift begründet. Einige Theologen von Abaelard (†1142) bis Savonarola (†1498) haben Frauen Auf1

Zur Entstehung weiblicher Schriftstellerei siehe Peter DRONKE, Women Writers of the Middle Ages (Cambridge: Cambridge University Press, 1984); zur Präsenz von starken weiblichen Persönlichkeiten im Mittelalter vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, From Patristics to Matristics: Selected Articles on Christian Gender Models (hg. v. Øyvind Norderval und Katrine Lund Ore; Rom: Herder, 2002), 145–272, und DIES., „Matristica“, in Nuovo Dizionario Patristico e di Antichità Cristiana (hg. v. Angelo di Bernardino; 3 Bde; Genua: Marietti, 22007), 2:3149–3156. Die Autorin hat den Ausdruck „Kirchenmütter“ geprägt, um das hohe Ansehen des Gedankengutes von Frauen anzuzeigen, die besonders im Mittelalter einen ebenso wichtigen Beitrag zur Geschichte der christlichen Tradition leisteten, wie es die Kirchenväter taten.

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merksamkeit geschenkt und sie – sowohl bezüglich ihrer Bibelkenntnisse als auch ihres Einsatzes für eine weitreichende Reform der Kirche – für reife Subjekte gehalten. Aber auch auf dieser zweiten hier vorgeschlagenen Linie trifft man nicht nur selbstbewusste und innovative Frauen an; viele – die Mehrheit – erscheinen als passive Empfängerinnen einer dominanten männerzentrierten Kultur. Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass sich im Spätmittelalter düstere Weltbilder mit Freudenhymnen mischten, dogmatische und intolerante Positionen sich mit der Suche nach der Wahrheit und der Bereitschaft zum Dialog verflochten, die Ablehnung der Sexualität nicht die Verherrlichung der weiblichen Schönheit in den Schatten stellte, die spirituelle Liebe mit den Freuden der körperlichen Liebe zusammenlebte, die Unterwerfung unter die Autorität den Dissens nicht eliminierte und dass trotz Traditionstreue auch die Fähigkeit zur Innovation bestehen blieb … – so könnte man noch vieles aufzählen.2 Mit dem Vorschlag einer differenzierten Periodisierung soll vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, diesen historischen Zeitraum aus einer Genderperspektive heraus zu betrachten. Dabei ist es notwendig, die religiösen Erfahrungen von Männern und Frauen in ihren vielfältigen Verflechtungen auf vielen Ebenen der sozialen, kulturellen und politischen Strukturen so weit wie möglich zusammenzubringen und quasi wie in einem Spiel mit Spiegeln gegenseitig zu beleuchten. Man bedenke auch, dass zwischen theoretischer Darstellung (anthropologische Sichtweise, symbolische Vorstellungswelt, Modelle etc.) und praktischer Lebensführung der Frauen nicht immer Übereinstimmung besteht. Die realen Lebensbedingungen der Frauen waren das ganze Mittelalter über sehr unterschiedlich, je nach ihrer ethnischen und sozialen Zugehörigkeit, dem städtischen oder ländlichen Kontext und dem spezifischen historischen Zeitpunkt. Ferner ist zu untersuchen, wie weit das stark dualistisch und asymmetrisch geprägte Konzept der Anthropologie, die rechtliche oder kirchliche Ordnung von spezifischen Interpretationen der Heiligen Schrift beeinflusst waren. Solche Studien möchten wir beginnen und voranbringen.

1.3 Von der Gregorianischen Reform zur Krise der abendländischen Kirche Der erste Zeitabschnitt muss die Entwicklungen der Reform berücksichtigen, die während des Pontifikats von Papst Gregor VII. (1073–1085) begann. Sie stellte eine Wende in der Geschichte des Christentums dar, denn die politische und theologische Stärkung des Klerus führte dazu, dass die Sphäre der Laien geschwächt und die Frauen an den Rand gedrängt wurden. Besonders die strengen Regeln des reformierten Mönchtums, die eine absolute Reinheit der Geistlichen forderten, und die Verschärfung der Gesetze gegen Korruption und Konkubinat im Klerus sind hier zu nennen. Sie ließen immer klarer eine Sakramententheologie erkennen, die das Sakrament als heiligen Auftrag, als ein göttliches Recht verstand, und daher als eine Macht, die aus2

Vgl. Umberto ECO, „Introduzione al Medioevo“, in Il Medioevo: Barbari Cristiani Musulmani (hg. v. Umberto Eco; Mailand: EncycloMedia 2010), 11–35.

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schließlich Männern vorbehalten war, gelebt wurde. Die Verteidigung der Reinheit und des Pflichtzölibats für den Klerus (1135 beim Konzil von Pisa festgelegt) begünstigten unausweichlich ein negatives Bild von Frauen und von Sexualität, die als unrein und als unvereinbar mit allem Heiligen galten.3 Der Gottesdienst erforderte einen nicht profanen Körper als Tempel, eine reine und unbefleckte Opfergabe, eine Distanzierung vom anderen Geschlecht. Die Rede von der rituellen Unreinheit der Frauen wurde mit harten Worten monastischer Misogynie geführt und berief sich auf die durch die Kirchenvätertheologie vermittelten Vorschriften des Buches Levitikus (Lev 15,19–30). Sie schlug sich in Pamphleten, Traktaten und Predigten nieder, in denen Sexualität und Eheleben abgewertet wurden. Die Argumente, die zur Förderung und Rechtfertigung des kirchlichen Zölibats benutzt wurden, stammten sowohl aus der Bibel als auch aus heidnischer und christlicher Literatur und wurden zum Hintergrund einer androzentrischen und gynophoben Kultur, die jahrhundertelang die Denkstrukturen des Abendlandes beeinflussen sollte. Die Frau war demnach die Tochter Evas, der Verführerin, der Verantwortlichen für den Sündenfall (Gen 3; Sir 25,24), unrein schlechthin (Lev 15) und deswegen, wie Petrus Damiani sagt, materia peccandi, occasio pereundi.4 Nichtsdestotrotz betraten die Frauen zusammen mit den Laien gerade ab Beginn des 12. Jh. die politische und religiöse Bühne. Als Protagonistinnen versuchten sie, ihre Ziele zu erreichen, indem sie auf die veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen reagierten: Die Entstehung der Geldwirtschaft, die Vermehrung der städtischen 3

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Vgl. Gary MACY, The Hidden History of Women’s Ordination: Female Clergy in the Medieval West (New York: Oxford University Press, 2008); Anne BARSTOW, Married Priests and the Reforming Papacy: The Eleventh-Century Debates (TSR 12; New York: Edwin Mellon Press, 1982); André VAUCHEZ, „Clerical Celibacy and the Laity“, in Medieval Christianity (hg. v. Daniel Bornstein; A People’s History of Christianity 4; Minneapolis: Fortress Press, 2009), 179–203. Contra intemperantes clericos, c. 7 (PL 145,410a–b); zur Meinung von Petrus Damiani über die Frauen siehe Dyan ELLIOTT, „The Priest’s Wife: Female Erasure and the Gregorian Reform“, in Medieval Religion: New Approaches (hg. v. Constance Berman; Rewriting History; New York: Routledge, 2005), 136–145. Man denke auch an das im 11. Jh. entstandene literarische Genre, das sich mit der asketischen Weltverachtung beschäftigt (contemptus mundi). Kardinal Lothar, der spätere Papst Innozenz III., schrieb Ende 1190 das besonders erfolgreiche Werk De miseria humanae conditione, das bis ins 17. Jh. große Verbreitung erfuhr (PL 217,701–746; kritische Ausgabe von Robert E. LEWIS [London: Scolar Press, 1981], mit einer Liste von 672 Manuskripten). Hierin beschreibt Lothar mit vielen Zitaten aus biblischen Weisheitstexten (Psalmen, Ijob, Sprichwörter, Buch der Weisheit, Kohelet) und düsterem Pessimismus das klägliche Menschenleben, beginnend mit der Empfängnis: der Fötus nähre sich aus dem Blut, das „völlig verabscheuenswert und unrein“ sei; „beim Kontakt mit ihm sprießen die Halme nicht mehr, die Büsche vertrocknen, die Gräser sterben, die Bäume verlieren ihre Früchte und die Hunde rasen vor Tollwut, wenn sie es fressen“ (ex eius contactu fruges non germinent, arescant arbusta, moriantur herbe, amittant arbores fetus, et si canes inde comederint in rabiem efferantur): LOTARIO DI SEGNI, Il disprezzo del mondo (Turin: Luni, 1994), 38f.

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Bevölkerung, der Eintritt der Bürger in die wirtschaftlichen Aktivitäten und der steigende Wohlstand lösten signifikante soziale Veränderungen aus, warfen aber auch die weitreichende Frage auf, ob die wachsende wirtschaftliche und politische Macht der Kirche mit der Botschaft des Evangeliums, das zur Armut und zum Teilen des Besitzes aufrief, vereinbar war. Schon der Historiker Herbert Grundmann hat aufgezeigt, dass einerseits eine enge Verbindung zwischen den religiösen Bewegungen und den sozioökonomischen Entwicklungen des 12. Jh. bestand, andererseits aber die Reaktion auf die Korruption des Klerus und der Laien das Streben nach alternativen Lebensentwürfen, die sich besser mit den Regeln des Evangeliums vereinbaren ließen, bestärkte.5 Innerhalb der großen Reformbewegung, die im klösterlich-klerikalen Bereich begonnen hatte und sich auch unter den Laien kraftvoll durchsetzte, entwickelten sich ein ideales Modell des apostolischen Lebens und das Bedürfnis nach einem einfachen Leben, wie es die frühen ChristInnen führten. Die Evangelien und die biblischen Schriften wurden zur Regel und zur Aufforderung an alle ChristInnen, den von Jesus gewiesenen Weg einzuschlagen. Zahlreiche Frauen entschieden sich für radikale Formen des christlichen Lebens, wählten Armut, Keuschheit, Nächstenliebe und Apostolat. In diesem Zusammenhang muss die grundlegende Bedeutung der Beginenbewegung erwähnt werden, die um 1170 in Belgien entstanden war und deren Ausdehnung und Komplexität Jakob von Vitry (†1240) als Erster anerkannte.6 Das Phänomen dieser Frauen, die sich keinem existierenden Orden anschlossen und keiner schon bestehenden Klosterregel folgten, ist schon weitgehend untersucht worden. Sie lebten vor allem von ihrer Arbeit, waren vereint durch Gebet, Wohltätigkeit und Bibellektüre und interessierten sich, wie Gilbert von Tournai (†1284) enttäuscht bemerkte, für die subtilitates et novitates der theologischen Fragestellungen.7 Die Fragen waren von erschütternder Aktualität und bestimmten den Kontrast zwischen der Kirche und einigen Bewegungen, die in späteren Entwicklungsstadien als Ketzer verurteilt wurden (Waldenser, Katharer, „Brüder und Schwestern des freien Geistes“, AnhängerInnen von Guglielma von Mailand). Es ging darum, wie man das Christentum zu verstehen und zu leben hatte (siehe den Aufsatz von Marina Benedetti). Die kirchliche Praxis erschien vielen als mit dem Evangelium unvereinbar. Es wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die Nachahmung des apostolischen Lebens, wie es im Ursprungsmythos Apg 4,32ff. dargestellt wird, nicht wichtiger als der Gehorsam gegenüber den Geistlichen sei; ob JüngerInnen und Kirche nicht von Armut bestimmt sein sollten (Mk 10,17ff.); ob die Unterscheidung zwischen Regeln 5

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Herbert GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter: Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik (HS 267; Berlin: Ebering, 1935). Vgl. Romana GUARNIERI, Donne e Chiesa tra mistica e istituzioni (secoli XIII-XV) (Storia e Letteratura 218; Rom: Edizioni di Storia e Letteratura, 2004). Collectio de scandalis ecclesiae, AFH 24 (1931): 33–62; 61.

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und Ratschlägen nicht zugunsten der einzigen, für alle – Kleriker und Laien – gültigen Berufung zur Vollkommenheit (Mt 19,21) überwunden werden sollte. Antwort auf solche Fragen gaben die im 13. Jh. entstandenen Bettelorden, die die gefährlichen Erneuerungsbestrebungen innerhalb der Orthodoxie zu halten bestrebt waren; dies ist gründlich untersucht worden.8 Bei diesen Anstrengungen zur Unterdrückung des Widerspruchs, zur Propaganda und zur Volksnähe waren die Lehre, die Predigt und die spirituelle Führung von entscheidender Bedeutung. Es galt also, Kommunikationssysteme zu erfinden, die die Bibel für die Gläubigen verständlicher und greifbarer machten, und gleichzeitig mit Hilfe der Heiligen Schrift das Verhalten der Gläubigen – und besonders der Frauen – in eine Richtung zu beeinflussen, die einer hierarchisch und patriarchalisch geordneten Gesellschaft nützlich war. Für die Frauen waren das Kloster (1298 verpflichtete Bonifaz VIII. mit dem Dekret Periculoso et detestabili die religiösen Frauen zur strengen Klausur) oder der Dritte Orden vorgesehen. Sie suchten sich jedoch neue Lebensräume, indem sie eine mystische und visionäre Dimension für sich entdeckten, die ihnen zur spirituellen Freiheit und individuellen Autonomie verhalf. All dies rief bei den Klerikern nicht wenig Misstrauen hervor, da sie Schwierigkeiten hatten, zwischen Heiligkeit und Simulation, zwischen korrekter religiöser Erfahrung und ketzerischer Irrlehre zu unterscheiden. Die Bibel wurde zum Lackmuspapier in einem nicht immer gelungenen Dialog zwischen den Mystikerinnen und ihren geistlichen Vätern, die ihnen zur spirituellen Führung übergeordnet waren. Die Jahre des Avignensischen Papsttums (1309–1377) und des großen abendländischen Schismas (1378–1417) waren eine Zeit der kulturellen und politischen Auflösung sowie vieler Kriege, Hungersnöte und Pestepidemien. In diesem bedrohlichen Klima kam es zu einer Blüte prophetischer Erfahrungen und apokalyptischer Visionen. Das prophetische Erwachen im 15. Jh. betraf Kleriker wie Laien, Männer wie Frauen. Der Aufruf zur Eschatologie, die mit dem Gedankengut von Joachim von Fiore9 und dem humanistischen Traum von einem Zeitalter der radikalen Erneuerung verbunden war, die Ankündigung eines demütigen papa angelico, eines engelsgleichen Papstes, der die Reform der Kirche beginnen würde, der Traum von einer Einheit aller Völker durch die Bekehrung von Muslimen und Juden waren die Elemente einer starken prophetischen Bewegung, deren einzigartige Hauptfiguren einige Frauen waren.

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Vgl. Giulia BARONE, „Gli ordini mendicanti“, in Storia dell’Italia religiosa 1: L’antichità e il medioevo (hg. v. André Vauchez; Bari: Laterza, 1993), 347–373. Indem Joachim von Fiore (†1202) das Zeitalter des Heiligen Geistes einführte, erweiterte er den Zeitpunkt der Erlösung zu einem Zeitraum voller Freiheit und Gnade. Unter den vielen Veröffentlichungen über Joachim sei hingewiesen auf Marjorie REEVES und Warwick GOULD, Joachim of Fiore and the Myth of the Eternal Evangel in the Nineteenth and Twentieth Centuries (London: Clarendon, 1997); Roberto RUSCONI, Hg., Gioacchino da Fiore tra Bernardo di Clairvaux e Innocenzo III (Opere di Gioacchino da Fiore 13; Rom: Viella, 2001); Gian Luca POTESTÀ, Il tempo dell!Apocalisse: Vita di Gioacchino da Fiore (Collezione Storica; Rom: Laterza, 2004).

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Die prophetische Berufung ist eine Gnade, die Gott ohne Gegenleistung (gratia gratis data) für das Wohlergehen der ganzen Gemeinde und zum Nutzen der politischen Gesellschaft verleiht, und die für die Kirche unverzichtbar ist. Auch Frauen können diese erhalten, denn laut Girolamo Savonarola wird die Gabe der Prophetie nicht dem Geschlecht, sondern der Reinheit des Herzens gegeben.10 In dieser Predigt aus dem Jahr 1496 sprach Savonarola über Debora und darüber, dass das Volk Gottes dem Urteil einer Frau unterstehe. Barak habe sich nicht beklagt, einer Frau zu gehorchen, sondern er glaubte und ging ganz einfach, weil Gott die Gabe der Prophetie gibt, wem er will, Männern und Frauen, Adeligen und einfachen Leuten (vgl. 1 Kor 14,4). Mehr noch, gerade die Frauen würden aufgrund ihrer Schwäche von Gott ausgewählt, die Mächtigen zu erniedrigen (1 Kor 1,27). Während die prophetischen Worte der Frauen immer mehr Gehör fanden, wurden parallel dazu jedoch auch die sexualfeindlichen Elemente einer Theologie bestärkt, die sich obsessiv mit dem Teufel beschäftigte. Die Verfolgung von Frauen, die als Hexen verdächtigt wurden, nahm immer mehr zu. Diese frauenfeindlichen Motive finden sich bereits im Werk des Franziskaners Alvaro Pelayo (†1350), der Beichtvater am Hof von Avignon war und zwischen 1330 und 1332 das Werk De statu et planctu ecclesiae schrieb, das jedoch erst 1474 in Ulm gedruckt wurde. Es enthält zahlreiche Nachrichten über die Kirche und die Gesellschaft des 14. Jh., über Missbräuche und durchzuführende Reformen. Kapitel 45 betrifft „Die Konditionen und Laster der Frauen. Ob Frauen öffentliche Ämter innehaben dürfen“ (De conditionibus et vitiis mulierum. An possint mulieres habere officia publica). Hundertzwei Gründe führt der Franziskaner an, um nicht nur die Minderwertigkeit, sondern auch die Gefährlichkeit der Frauen zu beweisen, die Ursprung der Sünde, Waffe des Teufels, Vertreiberin aus dem Paradies, Mutter des Verbrechens, Korruption des alten Gesetzes seien (caput peccati, arma diaboli, expulsio paradisi, delicti mater, corruptio legis antiquis). Die Frauen müssten deswegen unter Kontrolle gehalten und von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden. Die hundertzwei Thesen werden mit zahlreichen, vorrangig alttestamentlichen Bibelzitaten unterfüttert, vor allem aus den Büchern Deuteronomium (Dtn 13.32.34), Numeri (Num 25), Sprüche (Spr 2.6.7.9.11.22), Jesus Sirach (Sir 7.9.19.23.25.26.33. 42.47) und Hosea (Hos 5). In der dämonologischen Literatur wurden die frauenfeindlichen Elemente dieser Texte ausführlich zur Rechtfertigung des Kampfes gegen die Hexerei benutzt, die bisher nur als Aberglaube gegolten hatte und schließlich, gegen Ende des 15. Jh., die Eigenschaften einer wirklichen Häresie angenommen hatte. Die Sammlung Malleus maleficarum zeigt exemplarisch, wie Bibelstellen (z.B. Sir 25,13–26, insbes. V24; Koh 7,26; Spr 9,13), aber auch andere Texte instrumentalisiert wurden, um die Ängste dieser schwierigen Zeit auf die Frauen, die das bevorzugte Objekt der Aufmerksamkeit

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Vgl. Girolamo SAVONAROLA, Prediche sopra Ruth e Michea (hg. v. Vincenzo Romano; 2 Bde; Rom: Belardetti, 1962), 1:240 (Predigt Nr. VIII vom 8.9.1496). Siehe ebenso DERS., Fede e speranza di un profeta: Pagine scelte (hg. v. Adriana Valerio; LCSM 21; Mailand: Paoline, 1998).

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des Teufels seien, zu übertragen (siehe den Beitrag von Dinora Corsi). Paradoxerweise endet hier das „düstere“ Mittelalter und beginnt die Moderne, die Zeit der Hexenjagd.

1.4 Welche Bibel? Im Mittelalter wurde jegliche Bildung in den Dienst der Bibel gestellt, deren Studium als höchste Form des christlichen Wissens angesehen wurde. Zweifelsohne galt sie als direkt von Gott eingegebenes Wort und daher als Buch des Lebens und der Erlösung, als Interpretationsschlüssel für die gesamte Realität und unerschöpfliches Repertoire von Vorbildern; sie war Gegenstand textlicher und philologischer Untersuchungen und gleichzeitig unendliche Materie für Interpretationen.11 Besonders die monastische Theologie beschäftigte sich durch Lektüre (lectio), Andacht (meditatio) und Gebet (oratio) mit den heiligen Texten, um schließlich das mystische Verständnis (contemplatio) zu erreichen. Sie untersuchte die Texte, um die vielfältigen Sinnebenen – wörtlich, moralisch und spirituell – herauszufinden, die für das Glaubensleben am geeignetsten waren. Dieses stetige Sich-Nähren an der Heiligen Schrift (ruminatio) führte dazu, dass diese auswendig gelernt wurde und so die Denkstrukturen und den alltäglichen Sprachgebrauch beeinflusste. Im Kloster, in den männlichen wie weiblichen Orden, las und hörte man die Heilige Schrift in der Liturgie, im Chorgebet, im Refektorium, in der Zelle, und in vielen Momenten des Gebets und der Andacht kam sie wieder in den Sinn.12 Diese komplexe und genaue exegetische Arbeit, die in den Klöstern des Mittelalters stattfand, wurde nicht an einem einzigen Korpus, einem definierten Kanon durchgeführt, sondern an handgeschriebenen Texten, deren Überlieferung nicht immer sicher und zuverlässig war, da so viele verschiedene Kodizes, Übersetzungen und Kompendien im Umlauf waren. Das Hohelied zum Beispiel wurde üblicherweise mit sonstiger Weisheitsliteratur unter dem Namen „Bücher Salomos“ zusammengefasst. Die Offenbarung des Johannes wurde separat oder zusammen mit dem Hohelied13 abgeschrieben; die Evangelien wurden nicht einzeln, sondern als Gruppe von Texten behandelt. Der Pentateuch (die fünf Bücher Mose) und der Hexateuch (die fünf Bücher Mose + Josua)

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Vgl. Pier Cesare BORI, L’interpretazione infinita: L’ermeneutica cristiana antica e le sue trasformazioni (Saggi 326; Bologna: il Mulino, 1987). Unter den vielen Studien zur Bibel im Mittelalter seien erwähnt: Henri-Marie DE LUBAC, Exégèse médiévale: Les quatre sens de l’Écriture (4 Bde; Paris: Aubier Montaigne, 1959– 1964); Pierre RICHÉ und Guy LOBRICHON, Hg., Le Moyen Âge et la Bible (BiToTe 4; Paris: Beauchesne, 1984); Giuseppe CREMASCOLI und Claudio LEONARDI, Hg., La Bibbia nel Medioevo (La Bibbia nella storia 16; Bologna: Dehoniane, 1996); Beryl SMALLEY, Lo studio della Bibbia nel Medioevo (Bologna: EDB, 2008), mit einem Vorwort von Gian Luca POTESTÀ, „Lo studio della Bibbia nel Medioevo“, ebd., 7–29; Originalausgabe: The Study of the Bible in the Middle Ages (Oxford: Clarendon; 1941). Vgl. Rossana E. GUGLIELMETTI, Hg., L’Apocalisse nel Medioevo (Millennio Medievale 90 / Atti di Convegni 27; Florenz: SISMEL – Edizioni del Galluzzo, 2011).

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wurden oft in Gruppen reproduziert. Die Psalmen gab es meist als einzelnes Buch, da es für liturgische Zwecke verwendet wurde. Wenn wir von der Bibel reden, müssen wir all dies bedenken und nicht nur nach der Verbreitung, sondern auch nach der Auswahl der Texte fragen, die im Mittelalter üblich war und dazu führte, dass einzelne Bücher der Bibel gegenüber anderen privilegiert wurden. Generell wurden die Paulusbriefe hochgeschätzt; die Offenbarung war das am meisten kommentierte Buch. Die Psalmen und das Hohelied wurden am meisten gelesen und waren am beliebtesten. Die Psalmen boten den unumgänglichen Fundus für das christliche Gebet. Das Hohelied war sowohl in der mystischen Literatur als auch in den Regelwerken der Nonnenklöster präsent, weil es sowohl die Liebesbeziehung zwischen Gott (der Ehemann, der beim Namen ruft) und der Seele der Gläubigen (die Geliebte) wunderbar beschrieb als auch die geweihte Jungfrau als Braut Christi versinnbildlichte.14 Man bedenke auch, dass die apokryphen Schriften des Alten und Neuen Testaments ebenso hoch angesehen waren wie die kanonischen. Aufgrund ihres Reichtums an Details, der dazu beitrug, die Frömmigkeit und die Vorstellungskraft der Gläubigen zu stärken, wurden sie für Predigten und in der Ikonographie verwendet. Die Bibeltexte selbst enthielten Glossen, also Notizen und Anmerkungen am Rand des gesamten Textes. Diese Kommentare nahmen das Gedankengut der Kirchenväter wieder auf und dienten als Lesehilfe. Sie zeigen, wie die patristische Theologie als interpretativer Filter für die Auslegung der Bibel fungierte. Dadurch wurde auch das Frauenbild des Mittelalters nicht unwesentlich geprägt, denn das Verständnis der Texte war durch die kulturellen Vorurteile seiner Interpreten beeinflusst, die in den Texten das fanden, was sie selbst glaubten oder in ihrem Alltag beobachteten: in diesem Fall die soziale Unterordnung der Frauen. Zwischen dem 12. und 13. Jh. gesellten sich zu den Klöstern auch Schulen und Universitäten. In ihnen begann eine neue Art von Intellektuellen, Forschungsansätze zu erneuern. Die Fragen (quaestiones), die aus dem Bibeltext hervorgingen, mussten durch rationale Untersuchung und unter Verwendung der Dialektik beantwortet werden. Um das Studium des Textes zu vereinfachen, wurde er in Kapitel und Verse aufgeteilt, und um das Verständnis zu fördern und zu vertiefen, wurden Konkordanzen und Lexika erstellt. Es ist unmöglich zu übersehen, dass die Absichten völlig unterschiedlich sind, je nachdem, ob man die Bibel als Gebetsbuch oder als Quelle des Wissens und Lernens behandelte. Eine Spannung entstand zwischen Kloster und Schule, zwischen lectio und disputatio, und nicht immer waren die Frauen hier unvorbereitet: Obwohl sie von den Zentren der Forschung ausgeschlossen waren, nahmen sie doch an den Debatten teil, die das Leben der Kirche durchzogen. Bedeutsam ist zum Beispiel die Empfehlung von Abaelard an Heloisa, dass sie und ihre Schwestern Hebräisch und Griechisch lernen sollten, um die Heilige Schrift zu verstehen. Noch bedeutsamer ist, dass Heloisa Abaelard exegetische Fragen stellte, um den heiligen Text genauer zu verstehen und ihn dann besser für die ethischen Entscheidungen in ihrem Leben verwenden zu können (siehe den Beitrag von Constant J. Mews und Carmel Posa). 14

Vgl. Rossana E. GUGLIELMETTI, Hg., Il Cantico dei Cantici nel Medioevo (Millennio Medievale 76 / Atti di Convegni 23; Florenz: SISMEL – Edizioni del Galluzzo, 2008).

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Die Bibel wurde grundsätzlich auf Lateinisch studiert. Die ersten Übersetzungen in Volkssprachen erschienen im Rahmen der auf Armut und Spiritualität konzentrierten Bewegungen und waren ein Grund zur Sorge für die Hierarchen der Kirche, die wenig geneigt waren, den Laien einen direkten Zugang zur Heiligen Schrift zu gewähren. Die Waldenser, die dazu beitrugen, dass die biblischen Texte zu Predigtzwecken übersetzt und verbreitet wurden, nutzten bei ihren Versammlungen zum Beispiel die Evangelien, die Paulusbriefe und die Psalmen. Im Übrigen muss gesagt werden, dass die Bibel zwischen dem 12. und 15. Jh. enorme materielle Veränderungen durchmachte. Neben den voluminösen Büchern, die zur Lesung auf der Kanzel vorgesehen waren, erschienen auch handliche, kleine Formate in nur einem Band für die persönliche Lektüre. In der ersten Hälfte des 13. Jh. wurde erst in Frankreich und in England, und einige Jahre später auch in Italien, im Umfeld der Universitäten eine „tragbare“ Bibel produziert. Sie war kleinformatig, dekoriert und für die alltägliche Lektüre von Privatpersonen, einer Elite von Laien, die einen direkten Umgang mit der Heiligen Schrift suchten, gedacht. Luxuriöse Manuskripte für Adelige können als „Bibles moralisées“ betrachtet werden. Diese hochwertig verarbeiteten Schriften enthielten Bibelverse mit kurzen Kommentaren und Bildern, die die Geschichte erläuterten. Auch die sogenannte Biblia pauperum war eine besondere Art von Handschrift, in der Bilder und Bibeltexte vereint waren. Ausgewählte Zitate wurden in allegorischer Weise angeordnet, mit Verweisen auf das Alte Testament am rechten und linken Rand und auf das Neue Testament im Zentrum. Dieses Buch war nicht für Arme gedacht, sondern sollte einem Publikum von Laien biblische Geschichten in besser zugänglicher Form darstellen (siehe den Beitrag von Maria Leticia Sánchez Hernández). Die revolutionäre Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern fand in der Bibel ihr liebstes Kind. Die venezianische Ausgabe einer Bibel in Volkssprache von 1471, die vom Kamaldulenser Nicolò Malerbi herausgegeben wurde, basierte auf einer lateinischen Vulgata-Übersetzung und stellte eine überraschende Neuerung gegenüber der Manuskripttradition dar. Die Übersetzung in Volkssprache erzeugte auf ganz besondere Weise einen neuartigen Zugang zur Heiligen Schrift, gerade für Laien. Malerbi selbst betonte die Notwendigkeit, die Bibel allen zur Verfügung zu stellen, ohne jeglichen Unterschied von Geschlecht oder Alter.15 In Basel druckte Froben 1491 eine Taschenbibel im Oktavformat und führte so den heiligen Text in einen viel größeren Markt ein, der nicht nur aus Studenten und Predigern bestand, sondern auch aus Laien und Frauen. Hier befinden wir uns aber schon in der Hochphase des Humanismus.

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Epistola a Laurentio (1478), zitiert bei Edoardo BARBIERI, Le Bibbie italiane del Quattrocento e del Cinquecento: Storia e bibliografia ragionata delle edizioni in lingua italiana dal 1471 al 1600 (2 Bde; Grandi Opere 4; Mailand: Bibliografica, 1991–1992), 1:43.

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1.5 Frauen und Bibel im theologischen Gedankengut Welches Frauenbild hatten die Mönche? Wie interpretierten sie die Heilige Schrift bezüglich des Mysteriums des menschlichen Lebens und der Rolle von Frauen im Heilsplan? Beurteilten etwa die Lehrer an Schulen und Universitäten die Frauen anders, als es in den Klöstern üblich war?16 Die Autoren des Mittelalters näherten sich der Heiligen Schrift stets über die Auslegung der Kirchenväter, die die natürliche Schwäche von Frauen als sichere und unbezweifelbare Realität sahen. Die didaktisch-moralische Literatur spiegelt die kulturellen Vorurteile der Zeit umfassend wider (siehe den Beitrag von M. Isabel Toro Pascua). Besonders Gen 1-3 wirkte als Autorität für die Definition von Geschlechterrollen und -identitäten. Die Erschaffung Evas (aus der Rippe des Adam entstanden, um ihm zur Hilfe zu sein), ihre Hauptrolle beim Sündenfall (sie bringt Adam dazu, Verbotenes zu tun) und die daraus resultierende Bestrafung („er wird dein Herr sein“) wurden zum Paradigma für die damals herrschende Unterordnung der Frauen. Die Exegese der mittelalterlichen Theologen rechtfertigte also die Unterordnung der Frau auf drei Ebenen: physisch (sie sei aus dem Mann und für den Mann gemacht worden), moralisch (sie sei unfähig zu ethischen Entscheidungen) und rechtlich (der Mann sei ihr Vormund als Vater, Ehemann und spiritueller Leiter). Die Denker des Mittelalters behielten diese anthropologische Konzeption, die die patriarchale und hierarchische Gesellschaftsstruktur widerspiegelte, aus zwei Gründen bei: weil sich die Gregorianische Reform durchgesetzt hatte und weil die griechische Philosophie, die das Männliche als Modell des Menschlichen ansah, immer mehr Gewicht erhielt. Besonders die Anthropologie des Aristoteles, die die Frau als „mangelhaften Mann“ (mas occasionatus) ansah, wurde in der Scholastik aufgenommen und integriert, insbesondere bei Thomas von Aquin (Summa theologiae, pars I, q. 92, a. 1). Von dort aus bildete sie im Lauf der Jahrhunderte das Fundament für die Idee, dass Frauen ungeeignet seien, die Aufgaben von Männern zu übernehmen und das Bild Gottes zu repräsentieren.17 16

17

Vgl. Marie-Therese D’ALVERNY, „Comment les théologiens et les philosophes voient la femme“, CCMéd 20 (1977): 105–128. Sed quantum ad aliquid secundario imago Dei invenitur in viro, secundum quod non invenitur in muliere: nam vir est principium mulieris et finis, sicut Deus est principium et finis totius creaturae: THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae, pars I, q. 93, a. 4 ad 1. Vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, Subordination et equivalence: Nature et rôle de la femme d’après Augustin et Thomas d’Aquin (Oslo: Universitetsforlaget, 1968); englische Ausgabe: Subordination and Equivalence: The Nature and Role of Woman in Augustine and Thomas Aquinas (Kampen: Kok Pharos, 1995); DIES., „God’s Image, Man’s Image? Patristic Interpretation of Gen. 1,27 and I Cor. 11,7“, in The Image of God: Gender Models in Judaeo-Christian Tradition (hg. v. ders.; Minneapolis: Fortress Press, 1995), 187–209; DIES., „God’s Image, Is Woman Excluded? Medieval Interpretations of Gen. 1,27 and 1 Cor. 11,7“, ebd., 210–235; DIES., „Gender Models in the Christian Tradition“, in Geschlechterverhältnisse und Macht: Lebensformen in der Zeit des frühen Christentums (hg. v. Irmtraud Fischer und Christoph Heil; Exegese in unserer Zeit 21; Münster: LIT, 2010), 13–32.

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Der Vergleich zwischen Gen 1,27 („Elohim schuf den Menschen nach seinem Bilde ... männlich und weiblich schuf er sie“) und 1 Kor 11,7 („Der Mann ... ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz“) löste unter den Theologen des Mittelalters (Bruno der Kartäuser, Schule von Laon, Petrus Lombardus, dominikanische Schule) eine Reflexion über das Konzept der imago Dei und seine Anwendbarkeit auf beide Geschlechter aus (siehe den Artikel von Gary Macy). Die spirituelle Gleichheit wurde in der augustinischen Tradition zwar bekräftigt, beseitigte aber nicht die Asymmetrie der Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern. Die Worte aus den Paulusbriefen (1 Kor 14,34: „… die Frauen sollen in der Versammlung schweigen“, und 1 Tim 2,12: „Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht.“) wurden von der patristischen und mittelalterlichen Tradition ganz eindeutig als klare Vorschriften zum Ausschluss der Frauen von öffentlichen und lehrenden Ämtern interpretiert.18 Diese Ausschließungstheologie schlug sich auch in den Gesetzen nieder, und so finden wir sie im Decretum Gratiani19, dessen Auswirkungen auf das Leben in der abendländischen Gesellschaft wohl bekannt sind. In der Kultur des Mittelalters wurden die Schöpfung und der Sündenfall als historische Ereignisse angesehen; zur biblischen Erzählung kamen apokryphe und legendarische Motive hinzu, die das Drama der Sünde weiter betonten. Die Bearbeitung der apokryphen Schrift Vita Adae et Evae des Dichters Lutwin (13. Jh.) bot plakative Beschreibungen von Adams Schwäche und Evas Unbeständigkeit, die in der Stereotypisierung der beiden Charaktere großen Erfolg haben sollten. Im Übrigen war die Geschichte für unzählige Darstellungen geeignet, weil sie Antworten auf die großen theologischen Fragen der Christenheit wie Sünde, Erlösung, die Rolle des Mannes und der Frau für das Schicksal der Menschheit und des gesamten Universums gab. Die bildlichen Darstellungen von Gen 1–3 ziehen sich deswegen durch das ganze Mittelalter: in plastischen Portaldekorationen, in Mosaikzyklen, in den Fenstern der großen Kathedralen, in Skulpturen in Klöstern, auf den wichtigsten Altarbildern, aber auch in

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Vgl. z. B. JOHANNES DUNS SCOTUS, Quaestiones in quartum librum sententiarum (Opus Oxoniensis), Liber 4, distinctio 25, quaestio 2: Ratio autem naturalis huic dicto consonat, quam Apostolus innuit 1. ad Corinth. 14. Nam natura non permittit mulierem, saltem post lapsum, tenere gradum eminentem in specie humana, siquidem est dictum sibi in poenam peccati sui Genes. 3. Sub viri potestate eris (DERS., Opera Omnia [26 Bde; Paris: Vivès, 1891–1894], 19:140). Hec imago Dei est in homine, ut unus factus sit, ex quo ceteri oriantur, habens inperium Dei, quasi uicarius eius, quia unius Dei habet imaginem, ideoque mulier non est facta ad Dei imaginem. Sic etenim dicit: „Et fecit Deus hominem; ad imaginem Dei fecit illum.“ Hinc etiam Apostolus: „Vir quidem,“ ait, „non debet uelare caput, quia imago et gloria Dei est; mulier ideo uelat, quia non est gloria aut imago Dei.“: Decretum Gratiani, Causa 33, quaestio 5, c. 13, in Corpus iuris canonici (hg. v. Emil Friedberg; 2 Bde; Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1959), 1:1254. Vgl. Adriana VALERIO, „Donna“, in Dizionario Enciclopedico del Medioevo (hg. v. André Vauchez und Claudio Leonardi; 3 Bde; Rom: Città Nuova, 1998–1999), 1:593–595; DIES., „Il potere delle donne“, in Il Medioevo: Castelli, Mercanti, Poeti (hg. v. Umberto Eco; Mailand: Encyclomedia, 2011), 228 –231.

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den geistlichen Dramen zu Weihnachten und Ostern (Passionsspiel) als Vorgeschichte des Kommens Christi. Auch einige Passagen aus den Paulusbriefen eigneten sich für instrumentalisierte Interpretationen, die in der mittelalterlichen Kultur anzutreffen sind. Die Auslegung von 1 Tim 2,11–14 („Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot.“) hatte eine Rechtfertigung der Unterordnung der Frauen begünstigt, da diese anfälliger für die Verführung seien, und so die Literatur und die Kunst beeinflusst. Doch neben der beinahe einstimmigen Darstellung, dass Eva für den Sündenfall verantwortlich sei, da sie die Frucht zuerst genommen und sie Adam angeboten habe, sei auf eine bedeutsame Variante hingewiesen. Diese findet sich in den aus byzantinischem Ambiente stammenden Mosaiken aus dem 12. Jh. in der Cappella Palatina in Palermo sowie in einer Miniatur des Neapolitaners Cristoforo Orimina (†1365), wo beide gemeinsam die Frucht an sich nehmen.20 Dieses Thema der gemeinsamen Verantwortung griff später Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle im Rahmen seiner eigenen „humanistischen“ Interpretation der Heiligen Schrift wieder auf. Evas Sünde eignete sich auch für eine typologische Lesart, die Eva in Beziehung zu Maria setzte. Auf diese Weise wurde die Sünde der Erlösung gegenübergestellt und die Schlange, die oft mit einem Frauengesicht dargestellt wurde, wurde antithetisch unter den Fuß der Maria gebracht, der neuen Eva und Mittlerin der Erlösung. Zu Maria wäre eine eigene Untersuchung angebracht, die hier nur angedeutet werden kann. Die Verbreitung des Kults (dank der cluniazensischen Reform im 11. Jh.) bereitete das Terrain für die Mariendichtung in Volkssprache, für Marienzyklen, Biographien und Legenden, die sich reichlich aus der apokryphen Tradition bedienten, da die Evangelientexte nur wenig Information enthalten. Ihre Figur wurde immer breiter dargestellt und typologisch einerseits den Frauen des Alten Testaments (Abigajil, Batseba, Judit, Ester) als Erfüllung des Alten Bundes gegenübergestellt, andererseits als Typos der Kirche oder der Menschheit interpretiert. Dies führte zu einer regelrechten Durchdringung der mittelalterlichen Kultur mit einem sehr hohen, fast unerreichbaren Idealbild des Weiblichen. Es muss betont werden, dass dieses Modell auch in der männlichen monastischen Kultur, die in der Mutter Gottes sowohl eine Quelle der Spiritualität als auch ein sublimiertes Idealbild der Frau fand, stark verbreitet war. Sowohl in den Marienklagen als auch im Sakraltheater und in der Lyrik ist von der Anwesenheit Marias bei der Kreuzigung die Rede (man denke hier an De planctu beatae Mariae, das Bernardo di Chiaravalle zugeschrieben wird, oder an Stabat Mater von Jacopone da Todi). Die Idee der leidenden Frömmigkeit und die Hervorhebung der Rolle der liebenden und mitleidsvollen Mutter konnten eine positive Einstellung gegenüber Frauen beeinflussen, sofern sie diesem Modell entsprachen. Auch in der Spiritualität der Beginen ist die Rolle Marias beachtenswert. Sie identifizierten sich mit 20

Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Paola Vitolo und Prof. Alessandra Perriccioli Saggese.

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Maria, indem sie deren Mutterfunktion annahmen – voller Freude und Zärtlichkeit gegenüber dem Jesuskind, schmerzlich erschüttert in der Passion. Geburts- und Passionsmystik Christi charakterisierten diese Erfahrungen. Die Freude und der Schmerz der Mutterschaft, die natürlich durch die Kirchenmänner wenig Repräsentanz erfuhren, wurden so zu den charakteristischen Zügen dieser weiblichen Spiritualität, in der die Beziehung zu Maria nicht als Mutter-Tochter-Relation, sondern als spirituelle Gemeinschaft gedacht wurde, die zu einer Art Komplizenschaft, wenn nicht sogar zur Identifikation führte. Diese Frauen empfanden die Momente der Geburt Jesu als Akteurinnen eines Ereignisses der Erlösung, das mit Freude und Zärtlichkeit konnotiert war, mit aktiver Anteilnahme und Einfühlungsvermögen.21

1.6 Die Ordinationsriten Eine besondere Ausnahme vom stereotypisierten Frauenbild finden wir in der Symbolik der Ordinationsriten. Es gab aber auch andere Kanäle, über die man sich mit der Heiligen Schrift vertraut machen konnte. Vor allem in der Liturgie kam das Volk durch Lesungen und Kommentare mit einer – wenn auch eingeschränkten – Anzahl von Texten aus dem Alten und Neuen Testament in Kontakt. Die Auswahl und die Verbreitung dieser Texte entsprachen einer Theologie und einer Schriftauslegung, die die Gläubigen dazu brachte, den Wahrheiten des Glaubens treu zu bleiben. Zur eucharistischen Liturgie gesellten sich das Stundengebet (Breviarium), die Feier der übrigen Sakramente und die Sakramentalien, die sich auf biblische Texte und Themen bezogen. Zu Letzteren gehören die Segnungen der Äbtissinnen durch den Bischof. Die Riten der Amtseinsetzung machen den hohen symbolischen und politischen Wert dieser Weihegebete deutlich. Die Äbtissinnen erhielten ihre pastoralen und rechtlichen Befugnisse mit der Überreichung des Stabes und des Buches mit den Klosterregeln. Die rituelle Struktur und die Sprache, die bei einigen mittelalterlichen Ritualen benutzt wurden, wiesen keine großen Unterschiede zwischen der Ordination eines Abtes und der einer Äbtissin auf. Nur die zitierten biblischen Vorbilder waren andere.22 Die exempla von Mirjam, Debora, Judit oder Ester bildeten einen starken Symbolwert, da sie eine Verbindung zwischen den Führungsfunktionen und der Verantwortung dieser biblischen Heldinnen mit jenen der Äbtissinnen herstellten. Beim Ritus der mozarabischen Kirche sagte der Bischof nach der Übergabe von Mitra und Pallium an die Äbtissin zum Beispiel ganz klar, dass bei Gott kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht werde (non est discretio sexuum nec ulla sanctarum disparitas animarum). Dann bat er Gott, der Äbtissin die Kraft zu schenken, die sie in ihren spirituellen Kämpfen benötige, wie er sie auch Debora, der Richterin und Prophetin, gegen 21

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Vgl. Adriana VALERIO, „Maria nell’esperienza mistica della laicità femminile dal XIII al XV secolo“, in Storia della Mariologia 1: Dal modello biblico al modello letterario (hg. v. Enrico dal Covolo und Aristide Serra; Rom: Città Nuova, 2009), 900–921. Vgl. Adriana VALERIO, La questione femminile nei secoli X–XII (BTNap.NS 2; Neapel: D’Auria, 1983), 31–33.78–85.

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Sisera gegeben habe.23 Er bat ihn, ihr bei Gefahr zur Seite zu stehen, wie er es bei Judit getan hatte, und ihr immer dabei zu helfen, den Teufel zu besiegen, so wie Ester Haman bezwungen hatte.24 Der Verweis auf die Schwester des Mose erscheint beim römischen Ritus im unmittelbar der Weihe vorangehenden Gebet, das der Äbtissin die Macht der Rechtsprechung und die geistliche Leitung übertrug. Eine solche Verwendung biblischer Vorbilder, deren Reihe noch erweitert und näher untersucht werden müsste, zeigt, dass diese eine wichtige Rolle spielten, wenn es darum ging, Ansehen und Identität zu verleihen. Die Modelle aus dem Alten Testament waren in diesem Fall Vorbilder der Kraft und des Durchsetzungsvermögens für Frauen, die Machtpositionen einnehmen sollten. Auch in den Ordinationsriten der fränkischen Königinnen finden wir solche Modelle: Neben den üblichen Figuren wie Ester und Judit stehen auch Sara, Rebekka, Lea und Rahel, beatae reverendissimae feminae.25

1.7 Die Predigt Die Predigt war für die Kenntnis der Heiligen Schrift von grundlegender Bedeutung, sei es innerhalb der Klöster, wo die Exegese sich meist an den Auslegungen der Kirchenväter orientierte, oder mit der Entstehung der Bettelorden und der Techniken des sermo modernus im 13. Jh. auch auf öffentlichen Plätzen.26 Die Predigten des Abaelard für die Nonnen des Paraklet bieten eine seltene und wertvolle Quelle von Predigttexten, die für eine weibliche Ordensgemeinschaft gedacht waren.27 In ihnen wird Abaelards Sicht der Frauen und ihrer Aufgabe im großen Plan der Erlösung deutlich. Sein Sermo 1, der die Würde der Frauen hervorheben will, unterstreicht, dass Adam und Eva gleich viel Verantwortung für den Sündenfall tragen und sie auf der Ebene der Gnade gleichgestellt seien (ut in utroque sexu consisteret 23

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Da ei, Domine, fortitudinem [ad] spiritualia bella gerenda, ut quondam Debbore bellatrici procinctum certaminis contra Sisare hostilem cuneum tribuisti: Marius FÉROTIN, Le Liber Ordinum en usage dans l’Eglise wisigothique et mozarabe d’Espagne du cinquième au onzième siècle (MELi 5; Paris: Firmin-Didot, 1904), 68, zitiert in VALERIO, La questione, 84. Adsit ei tua dextera consolatrix, que Iudit vidue in perniciem non defuit Olofernis. Ita, Domine, sermonibus piis et tui adiutorio nominis, exterminet usquequaque Satan, ut Ester humilis infestum tuis plebibus exterminavit Aman: FÉROTIN, Le Liber Ordinum, 68, zitiert in VALERIO, La questione, 84. Vgl. DIES., „Potere delle donne“, 204–207. Ad benedicendum regem francorum, in Edmond MARTÈNE, De antiquis ecclesiae ritibus (4 Bde; Venedig: Battista Novelli, 1763–1764), 3:207ff. Die „moderne“ Predigt setzte sich im 13. Jh. durch, als die erzählerische Darlegung einer ganzen Seite aus der Heiligen Schrift durch einen Vortrag ersetzt wurde, in dem der Prediger auf der Grundlage eines Bibelverses, des sog. „Themas“, eine Reihe von Trennungen und Unterteilungen vornahm und so die unerschöpfliche Arbeit der Interpretation offenlegte. Es gibt viele Studien hierzu; verwiesen sei hier auf die Übersicht von Jean LONGÈRE, La predication médiévale (Paris: Études Augustiniennes, 1983). Vgl. Paola DE SANTIS, I Sermoni di Abelardo per le monache del Paracleto (ML.St 31; Leuven: Leuven University Press 2002).

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gratia, sicut in utroque praecesserat culpa [PL 178,380a–381]). Im Übrigen bildeten seiner Meinung nach die Frauen im Gefolge Jesu den Ursprung des weiblichen Diakonats, der im Ordensleben der Frauen seine Umsetzung fand (Sermo 31). Dieses einfache Beispiel zeigt, dass die interne Predigt für die Ordensschwestern ein positives und wirkungsvolles Instrument zur Andacht und zum Nachdenken über die heiligen Texte darstellte, das für die religiöse Identitätsbildung unverzichtbar war. Die Predigten, die die Dominikaner Gottfried von Beaulieu und Petrus von Verdun in Paris an die Beginen richteten, trugen den veränderten Bedingungen Rechnung, unter denen diese Frauen außerhalb der Klöster arbeiteten.28 Sie leisteten unter der Leitung einer Magistra (auch „Marta“ genannt) Fürsorgedienste in einem städtischen Kontext, in den sie perfekt integriert waren. Als Vorbilder schlugen ihnen die Dominikaner biblische Heldinnen vor, die Sünderinnen gegenübertraten, um sie zu einem korrekten Verhalten zu ermutigen. Dieses bestand darin, die Zunge zu hüten, regelmäßig zu beten, sich für den Frieden einzusetzen und viel zu arbeiten. In diesem Kontext wurde die Rolle der Marta neu bewertet: Die Arbeit wurde positiv beurteilt, als ein servitium, das man in einer neuen spirituellen Dimension leben sollte. Im selben Sinne ist auch die berühmte Predigt von Meister Eckhart (†1328) mit dem Titel Intravit Iesus in quoddam castellum, in der der deutsche Mystiker die Episode von Marta und Maria (Lk 10,38–42) kommentiert, zu verstehen. Im Widerspruch zur üblichen Tradition erhält die aktive Marta eine wichtigere Rolle als ihre Schwester Maria, die zu Jesu Füßen sitzt und seinen Worten lauscht. Die Ansprüche und Forderungen der weiblichen Laienbewegung waren der Nährboden für die Entstehung einer religiösen Literatur in Volkssprache, die auch Übersetzungen der Bibel mit einschloss. Diese wurden immer beliebter, um die Entscheidungen des Lebens im Glauben zu verankern und Möglichkeiten zu finden, sich in der eigenen Muttersprache auszudrücken. Die deutsche Mystik würde eine separate Untersuchung verdienen, denn sie war aus dem Zusammentreffen zwischen den Predigten der Dominikaner in der Volkssprache und der Religiosität der Frauen entstanden. Die biblische Verankerung von Personen wie Meister Eckhart und Johannes Tauler (†1361)29 beeinflusste das Leben der Frauen, die unter ihrer Führung standen und ihrerseits wichtige Elemente für eine systematische Verarbeitung der mystischen Erfahrung boten.

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Die beiden Dominikaner hielten ihre Predigten ad beginas im Jahr 1272–1273 (Ms Lat. 16481 der Französischen Nationalbibliothek in Paris). Peter von Limoges (†1306), Kanoniker in Evreux, sammelte und transkribierte sie in einer zusammenfassenden lateinischen Übersetzung. Vgl. die unter Marco Bartoli verfasste Abschlussarbeit von Laura RESTELLI, Donne religiose nella Parigi del XIII secolo: studio su quattro sermoni inediti (Rom: Libera Università Maria SS. Assunta, akad. Jahr 1991–1992). Vgl. Paul MICHEL, „‚Beatae vitae dulcedinem lectio inquirit‘: Exegese des Bibeltexts als Basis mystischer Rede, am Beispiel des Hohenliedes“, in Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang: Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte (hg. v. Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin; Tübingen: Niemeyer, 2000), 61–92; Kurt RUH, Geschichte der abendländischen Mystik 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit (München: Beck, 1993).

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Dominikus (†1221) und Franz von Assisi (†1226) waren zwar besorgt, dass die Frauen eine Gefahr für die Reinheit der Mönche darstellen könnten, aber dies hielt die Mönche nicht davon ab, mit ihnen zwecks Ausbildung und Anleitung in Kontakt zu stehen. Die Revolution des Franziskus bestand darin, die Bibel in ihrem wörtlichen Sinn als Präsenz Gottes, die im Leben aktualisiert werden soll, zu verstehen. Seine Art der Schriftauslegung war also nicht die patristische oder theologische Vermittlung, sondern die Nachahmung Christi als armer Wanderprediger mit dem Ziel, ein zweiter Christus (alter Christus) zu werden. Das Buch ist nicht die Bibel, sondern der Gekreuzigte. Denselben Ansatz findet man auch in der weiblichen Mystik, in der das Erbe des Franziskus besser erkennbar ist als bei den franziskanischen Predigern, die zwar in seine Fußspuren traten, sich aber eher von seinem Innovationsgeist entfernten. Gerade weil sie wussten, wie wichtig das Predigen war, um das Leben der Gläubigen zu formen, bemühten sich die Bettelorden darum, neue inhaltliche und kommunikative Formen zu suchen, die für einzelne Gruppen geeignet waren (sermones ad status). Dominikaner und Franziskaner gaben den verschiedenen Frauen exempla aus der Heiligen Schrift, um je nach Zielgruppe gehorsame Jungfrauen, keusche Witwen, arbeitsame Mütter zu formen und ihnen allen Aufgaben und Rollen zuzuweisen, die mit den Modellen der christlichen Gesellschaft vereinbar waren. Die Prediger betonten zwar einerseits die Würde der Frauen, vor allem mit Blick auf die Jungfrau Maria, in der Gott zum Menschen wurde, andererseits führten sie den Frauen aber auch Modelle aus der Heiligen Schrift vor, um lobenswerte Tugenden oder zu verurteilende Laster von Frauen zu demonstrieren. Eva, dem Symbol der Verführung, stand die Heiligkeit Marias oder die erlöste Menschlichkeit Maria Magdalenas gegenüber, und Ester, die typologisch für die Kirche stand, als Gegenstück die ambivalente Figur der Herodias.30 Die Unruhe der Frauen musste kontrolliert werden, ihre Gefühle geordnet und ihr Verhalten diszipliniert. Im Zentrum der christlichen Erziehung stand für die Dominikaner jedoch weiterhin die Heilige Schrift, eine Quelle geistiger Nahrung, aus der sich auch die Frauen bedienen sollten. Weltliche Frauen sollten so ihr eigenes Leben den Vorbildern des Evangeliums anpassen und innerhalb der Familie eine Erziehungsfunktion ausüben, und Ordensfrauen sollten selbst Meisterinnen und Mütter des spirituellen Lebens werden. Sie waren also mit der Heiligen Schrift vertraut, ebenso wie später die Frauen, die mit den Predigerorden in Verbindung standen. Die reziproken Beziehungen zwischen Bibel und Predigt zeigten sich in vielen unterschiedlichen Aspekten. Vor allem die Bettelorden revolutionierten die Formen der Kommunikation. Einige unter ihnen, wie zum Beispiel die frühe franziskanische Bewegung, wählten mimische Hilfsmittel zur Unterstützung des Wortes. Laut Roger Bacon (†1294) sollte der Prediger die biblischen Inhalte in einer Sprache vermitteln, die Emotionen hervorrufen und die Menschen bekehren sollte. In diesem Kontext bot die 30

Vgl. Humbert von Romans und seine Predigten ad status: Predicandum est mulieribus; siehe Carla CASAGRANDE, Hg., Prediche alle donne del secolo XIII (Nuova Corona 9; Mailand: Bompiani, 1978); Carlo DELCORNO, „Quasi quidam cantus“: Studi sulla predicazione medievale (BLI 71; Florenz: Olschki, 2009).

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Bibel ein narratives Material, das frei behandelt und mit Anekdoten aus der klassischen Antike vermischt wurde, mit Episoden aus der apokryphen Literatur, hagiographischen Legenden oder dem aktuellen Tagesgeschehen. All dies wurde in einer Mischung aus Volkssprache und Latein (mescidanza) kommuniziert. Was am Ende von der Heiligen Schrift übrig blieb, ist schwer zu sagen. Ein Beispiel sind die „Passionspredigten“, die auf öffentlichen Plätzen zur Bekehrung der Gläubigen gehalten wurden. Hier erfuhr das Publikum auf sehr emotionsgeladene Weise die grausamen Details der Passion, die aus apokryphen Evangelien oder populären Texten wie den Meditationes vitae Christi von Pseudo-Bonaventura stammten, und nahm auf dramatische Art und Weise an der Geschichte vom Tod Christi teil. Mit dieser Theatralisierung von Episoden aus dem Evangelium versuchte man, die Gläubigen in die Szene hineinzuziehen, ihr Mitleid zu erregen und sie zur Identifikation zu bringen (vgl. Phil 2,5). Im sakralen Theater glänzten die Frauenfiguren als positive Vorbilder für Mitleid (Veronika), Treue (die frommen Frauen), unerschütterliche Liebe (Maria Magdalena) und Mutterschaft, die im Schmerz stark bleibt (Maria). Sie sind Frauen, die wie die Jungfrau Maria die ganze leidende Menschheit darstellen oder die wie Maria Magdalena die Fähigkeit der erlösenden Liebe haben (siehe den Beitrag von Andrea Taschl-Erber). Zugunsten der pädagogischen Funktion passten die Prediger den Text an ethische und soziale Bedürfnisse an: Der Dominikaner Giovanni Dominici (†1419) hob so die arbeitsame, aber passive Rolle von Frauen in der Familie hervor,31 und Bernhardin von Siena (†1444) adaptierte die Heilige Schrift zur Bekämpfung der Homosexualität. In seiner Predigt vom 3. September 1427 ging Bernhardin von Lk 10,27 aus, um Männer und Frauen zur gegenseitigen Liebe aufzufordern; die Schöpfungsgeschichte nutzte er dazu, die Ehe und die große Bedeutung der Frau im Leben eines Mannes hervorzuheben. Mit Hilfe der Verse über die Eunuchen für das Himmelreich (Mt 19,11) und die Früchte, an denen man die Gläubigen erkennt (Mt 7,20), konnte der Prediger aus Siena die Ehe als gut und die Homosexualität als schlecht darstellen.32 In diesem Sinne sei 31

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Sein pädagogisches Anliegen mündete in pastoraler Unnachgiebigkeit und doktrinaler Härte. Dies zeigt sich sowohl in seinen Traktaten für Bartholomea von Obizzi als auch in der Schrift Lucula noctis, einer Synthese einer langjährigen und festgefahrenen misogynen Kultur. Die bewährte Praxis der spirituellen Führung fand im Mittelalter diverse Anwendungsformen, die Männer und Frauen betrafen. Die Verbreitung von mystischen Phänomenen und der zunehmende Hexenglaube brachten die Bettelorden dazu, sich in ihrer pastoralen Praxis um das Seelenheil der Menschen zu kümmern. Ihr Ziel war die Formung des Glaubens und des richtigen Verhaltens („das gute Leben“) im Alltagsleben der Menschen, zu Hause (für die Frauen) und bei der Arbeit (für die Männer). Vgl. Sofia BOESCH GAJANO, Hg., Storia della direzione spirituale 2: L’età medievale (Biblioteca Morcelliana 12; Brescia: Morcelliana, 2008). Vgl. Roberto RUSCONI, „S. Bernardino da Siena, la donna e la ‚roba‘“, in Mistiche e devote nell’Italia tardo medievale (hg. v. Daniel Bornstein und Roberto Rusconi; Nuovo Medioevo 40; Neapel: Liguori, 1992), 171–186. Man betrachte auch Bernhardins Ausfälle gegen hochmütige und liederliche Frauen, die Hexerei betrieben und sich vom Teufel verführen ließen. Er forderte deren „Auslöschung“ (sterminio).

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auch auf die besondere Aufmerksamkeit Bernhardins für die Erziehungsfunktion der Frau hingewiesen. Er ermahnte sie, eine aufmerksame und emsige Mutter und Ehefrau zu sein. Die Frauen hingegen eilten in Scharen zu seinen Predigten, weil sie das Gefühl hatten, in einen neuen Plan für mehr Verantwortlichkeit einbezogen zu werden. Auch die Augustiner benutzten vor allem die typologisch-allegorische Auslegung für ihre Predigten, die den vielleicht ungebildeten, aber aufmerksamen Zuhörern moralische Botschaften übermitteln sollten. Gregor von Alexandria erwähnte in seinen Predigten in Florenz 1427 viele Frauenfiguren aus der Bibel, um Verhaltensmodelle zu erklären. In diesem Sinne boten die Witwe von Sarepta und die Witwe von Naïn nützliche Hinweise zum Lob des Witwenlebens. Noomi hingegen wurde in ihrer Not als eine Art leidende Maria dargestellt.33 Infolge dieser moralisch orientierten Gewissensbildung wandte etwa der Dominikaner Antonino Pierozzi, Erzbischof von Florenz (†1459), in einer breiten Kasuistik die vielen pädagogischen, vor allem an Frauen gerichteten Vorschriften auf eine sehr weit gefasste Auswahl von Fällen an.34 Bei dieser Erziehungsarbeit spielte die Heilige Schrift als Quelle der moralischen Theologie eine wichtige Rolle. Die Psalmen, das Hohelied, die Paulusbriefe und einige Teile der Evangelien waren die am meisten genutzten Texte, aber auch an Beispielen aus dem Alten Testament fehlte es nicht. Für pädagogische Zwecke wurde zum Beispiel Judit als Vorbild der Witwenschaft und Zurückgezogenheit präsentiert.35 Zu den großen Predigern gehörte auch Girolamo Savonarola. Er hatte aus dem Markuskonvent in Florenz ein lebendiges Zentrum für Bibelstudien gemacht. Seine Predigten über die Heilige Schrift setzten das Schema des mittelalterlichen sermo außer Kraft. Für ihn war das Studium der Bibel die Basis für die Erneuerung der Christenheit, Grundlage für das christliche Leben und Quelle der geistigen Nahrung. Die Kenntnis der Bibel sollte eine authentische religiöse Erfahrung ermöglichen und 33

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Vgl. Oriana VISANI und M. Grazia BISTONI, „La Bibbia nella predicazione degli agostiniani“, in Sotto il cielo delle Scritture: Bibbia, retorica e letteratura religiosa (secc. XIII – XVI) (hg. v. Carlo Delcorno und Giovanni Baffetti; BLI 70; Florenz: Olschki, 2009), 115– 137. Neben seinen Werken zur spirituellen Erbauung für Frauen (Regola di vita cristiana von 1440, Opera del ben vivere von 1450) verfasste Antonino Pierozzi 1454 im Rahmen seines pastoralen Anliegens für bessere Sitten und stärkeren Glauben die Summa Theologica Moralis, in der es oft um die weibliche Welt geht. Im dritten Teil, der sich mit der Ehe beschäftigt, präsentiert Antonino ein von Dominici übernommenes Akrostichon, das von der Bibel inspiriert (Sir 9,1ff.) und von einer frauenfeindlichen Kultur geprägt ist: Est enim mulier: avidum animal, bestiale baratrum, concupiscientia carnis, aestuans carnis, dolorosum duellum, aestuans aestus, falsa fides, garrulum guttur, herignis armata, invidiosus ignis, kalumniarum chaos, lepida lues, monstruosum mendacium, naufragii nutrix, opifex odii, prima peccatrix, quietis quassatio, ruina regnorum, silva superbiae, truculenta tyrannis, vanitas vanitatum, xantia xersis, ymago idolorum, zelus zelotypus: Summa Theologica (Verona 1740; Ndr. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1959), part. III, cap. XXV, col. 117. Regola di vita cristiana [1440] (Florenz: Tip. Fiorentina, 1886), 7ff.

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musste deswegen auf leicht verständliche Weise vermittelt werden. Die Sprache sollte einfach und frei von gekünstelter Rhetorik sein. Der Dominikaner hatte sich dafür eingesetzt, dass die Heilige Schrift für alle Gläubigen verfügbar sein sollte, und war stolz darauf, dass die Frauen sie bei seinen Predigten spontan verstehen konnten. Sogar die Frauen haben, sobald wir die Evangelientexte oder andere kanonische Bücher vorlesen und noch bevor wir sie erklären, ganz von alleine eine Vorahnung davon, was unsere Erklärung dafür sein wird, oder sie wissen bereits, wie sie die alten Lehren der Heiligen Schrift an unsere Zeiten anpassen und darauf beziehen können.36

Die Heilige Schrift wurde also nicht mit den Feinheiten des philosophischen Verstandes analysiert, sondern sie sollte im Herzen meditiert, im Gebet betrachtet, in ihrer tiefen Bedeutung gehört und schließlich bei der Führung eines „guten Lebens“ erfahren werden. Der Mönch bat die Frauen – wie es aus seinem Brief an die ihm besonders teuren Nonnen von Annalena hervorgeht –, dass die Heilige Schrift ein „Spiegel“ des eigenen Gewissens sein möge, ein tragendes Element der Erneuerung des Herzens, die für die Durchsetzung der Reformen nötig war. In den fünf Predigten, in denen er zwischen dem 18. und 25. Mai 1496 das Buch Rut kommentierte, rief er den einfachen Glauben der moabitischen Frau und ihre Liebe zur Schwiegermutter Noomi ins Gedächtnis. Vom Wortsinn des Textes ging er in beinahe konzentrischen Kreisen dazu über, die typologischen Bedeutungen hervorzuheben, mit deren Hilfe er das alttestamentliche Buch für die großen Ereignisse der zeitgenössischen Geschichte öffnen konnte. Savonarola übernahm und erneuerte die exegetische Tradition, die in Rut das Symbol der „Kirche aus den Heiden“ (Origenes) sah, und verwendete sie innerhalb seiner eigenen Vision von Kirche und Politik.37 Die Moabiterin wurde zum Vorbild der „Einfachheit“ für die Frauen und für alle Gläubigen, die in der Heiligen Schrift die Grundmotive ihres Lebens im Glauben fanden. Aus Rut, der Ausländerin, dem Symbol des „einfachen“ Glaubens, sollte die erneuerte Kirche entstehen.38

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… perfino le donne, appena noi enunciamo i testi evangelici, o altri libri canonici, prima che noi ne diamo spiegazione, subito da sole hanno il presentimento di quella che ne sarà la nostra spiegazione, o sanno già come adattare e riferire gli antichi insegnamenti della Scrittura ai nostri tempi. Girolamo SAVONAROLA, Verità della profezia: De veritate prophetica dyalogus (hg. v. Claudio Leonardi; Florenz: SISMEL – Edizioni del Galluzzo, 1997), 112. Zur Auslegungsgeschichte des Buches Rut siehe Elena GIANNARELLI, „I Padri della chiesa e Ruth: Il libro, il personaggio e la sua storia“, Ricerche Teologiche 2 (1991): 181–206. Vgl. Adriana VALERIO, „La predica sopra Ruth, la donna, la riforma dei semplici“, in Una città e il suo profeta. Firenze di fronte a Savonarola (hg. v. Gian Carlo Garfagnini; Savonarola e la Toscana 15; Florenz: SISMEL – Edizioni del Galluzzo, 2001), 249–261.

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2. Frauen als Hörerinnen und Interpretinnen der Heiligen Schrift 2.1 Die Frauen und die Bibel Es gibt bei uns Frauen, die sich Beginen nennen, und einige von ihnen beherrschen Spitzfindigkeiten und freuen sich über Neuerungen. Sie haben die Geheimnisse der Schriften, die selbst für Leute, die in der heiligen Schrift bewandert sind, kaum zu ergründen sind, in der französischen Volkssprache interpretiert. Sie lesen dies gemeinsam unehrerbietig, frech, in Zusammenkünften, in verborgenen Winkeln und öffentlichen Plätzen.39

Mit diesen enttäuschten Worten beschrieb der Franziskaner Gilbert de Tournai (†1284) den Bischöfen beim Konzil von Lyon 1274 das Phänomen der mulierculae, die in Nordfrankreich und Belgien wagten, die Bibel an öffentlichen Orten in Volkssprache zu lesen und zu kommentieren. Wie schon zuvor gesagt, entstand das Beginentum in den Niederlanden (Brabant) am Ende des 12. Jh. und verbreitete sich schnell im Rheinland, in der Provence und in Umbrien. Trotz der kulturellen und geographischen Unterschiede war diese Bewegung in der Lage, die Qualitäten von Frauen mit starker Persönlichkeit und überdurchschnittlichem Bildungsstand hervorzuheben, die selbst ihre Erfahrungen und Überlegungen aufschrieben. Insbesondere gaben sie ihrem Bestreben, Gott bis hin zur kompletten Verschmelzung des Willens zu lieben, bis sie „ein einziger Geist“ mit ihm würden, eine literarische Form. Hadewijch von Antwerpen († ca. 1250), Ida von Gorsleeuw (†1262), Beatrix von Nazareth (†1268), Mechthild von Magdeburg (†1294) hießen einige dieser magistrae, die sich der Arbeit, der Wohltätigkeit und dem Studium der Heiligen Schrift widmeten und dabei Kenntnis und Sachverstand unter Beweis stellten.40 Die Frauen fühlten sich als aktiver Teil einer sich wandelnden Gesellschaft, und die – in vielen verschiedenen Ausdrucksformen – von ihnen verfassten Texte zeigen, dass die Frauen in der spirituellen und interpretativen Tradition der Heiligen Schrift präsent waren. Durch den Gebrauch der Volkssprache revolutionierten sie die Art und Weise, von Gott zu sprechen, frei von den Mauern der Klöster und der Akademien (siehe den Artikel von Hildegund Keul). 39

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Sunt apud nos mulieres, quae Beghinae vocantur, et quaedam earum subtilitatibus vigent et novitatibus gaudent. Habent interpretata scripturarum mysteria et in communi idiomate gallicata, quae tamen in sacra scriptura exercitatis vix sunt pervia. Legunt ea communiter, irreverenter, audacter, in conventiculis, in ergastulis, in plateis: Collectio de scandalis Ecclesiae, zitiert nach GRUNDMANN, Bewegungen, 338, Anm. 37; dt. Übersetzung aus: Peter KETSCH, Frauen im Mittelalter: Quellen und Materialien 2: Frauenbild und Frauenrechte in Kirche und Gesellschaft (hg. v. Annette Kuhn; Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien 19; Düsseldorf: Schwann-Bagel, 1984), 349. Vgl. Peter DINZELBACHER und Dieter R. BAUER, Hg., Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter (BAKG 28; Köln: Böhler, 1988); Walter SIMMONS, Cities of Ladies: Beguine Communities in the Medieval Low Countries (1200 –1565) (Middle Ages Series; Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2001).

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Die 45 Liebesgesänge der Hadewijch zeigen zum Beispiel eine neue Art, von Gott zu sprechen, und zwar in der weiblichen Form „Frau Liebe“ (Frau minne). Die Namen dieser personifizierten Liebe erinnern an biblische Bilder (Band, Licht, Kohle, Feuer, Tau, lebendige Quelle ...), aber in der Dichtung verlor die Sprache ihre Eigenschaft als Kommentar zur Heiligen Schrift und wurde zu einer mystischen Theologie.41 In diesen kreativen Zusammenhang passt auch Juliana von Norwich (†1420). Die englische Mystikerin machte sich Gedanken über die Bedeutung der Mutterschaft und über die Erscheinungsbilder Christi und transferierte die Mutterschaft auf die göttliche Ebene der Dreifaltigkeit. Jesus Christus sei unsere wahre Mutter, in der wir ohne Ende geboren und aus der wir nie herauskommen werden.42 Bei Juliana stehen Vaterschaft und Mutterschaft für die Fülle der göttlichen Handlungen (siehe den Beitrag von Kari Elisabeth Børresen).43 Die Bibel war für diese Frauen also kein zu studierender Text, sondern ein lebendiges Wort, das der Gegenwart Fragen stellte und auf ihre Herausforderungen antwortete. Der Wunsch, die Liebe Gottes persönlich zu erfahren, indem man seinen armen und leidenden Sohn nachahmte, begründete viele Bewegungen der spirituellen Erneuerung, weit weg von den scholastischen Diskussionen und genährt von der Annahme der biblischen Botschaft in ihrer essentiellsten Form. Es gibt zahlreiche Zeugnisse, die die erneuerte Beziehung von Frauen zur Heiligen Schrift beweisen. Am Ende des 13. Jh. widmete der Franziskaner Salimbene da Parma (†1288) seiner Nichte Agnese, einer Klarissin aus Parma, die sehr gut in der Bibelauslegung war, seine Cronica. Hier schrieb er, dass einige Frauen in den franziskanischen Klöstern in der Lage waren, die Bibel zu kommentieren.44 Gerade in den franziskanischen Nonnenklöstern hatte die Observanzbewegung die Produktion und Verbreitung von vielerlei frommer Literatur in Volkssprache gefördert. Dies bezeugen Cecilia Coppoli (†1500), die Griechisch und Latein beherrschte und mit großer Autorität die Bibel kommentierte, und zuvor Caterina Vigri aus Bologna (†1463), die der Meinung war, dass man sich in der Heiligen Schrift verankern solle, da sie die Nahrung aller ChristInnen sei. Ihr Werk Le sette armi spirituali ist von der Bibel durchdrungen: Sie erscheint in Zitaten, Verweisen und Anklängen.45 Besonders präsent sind, der üblichen Liturgie entsprechend, die Psalmen, die Evangelien und Paulus, für den Caterina eine besonders starke Zuneigung hegte. Unter den von ihr beschriebenen spirituellen Waffen, die die Gläubigen tragen sollen, war die siebte „die Erinnerung an die Heilige Schrift, die wir in 41 42

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Vgl. HADEWIJCH, Poesie, visioni, lettere (hg. v. Romana Guarnieri; Genua: Marietti, 2000). „Our saviour is our true Mother, in whom we are endlessly born“ Offenbarungen 57: Edmund COLLEDGE und James WALSH, Julian of Norwich: Showings (New York: Paulist Press, 1978), 292. Vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, „Cristo nostra madre: La teologia di Giuliana da Norwich“, in DIES., Le Madri della Chiesa: Il medioevo (La Dracma 3; Neapel: D’Auria 1993), 205– 220. SALIMBENE DE ADAM DA PARMA, Cronica (2 Bde; hg. v. Giuseppe Scalia; Parma: Monte Università Parma, 2007). Caterina VIGRI, Le sette armi spirituali (hg. v. Antonella Degl’Innocenti; Florenz: SISMEL – Edizioni del Galluzzo, 2000).

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unserem Herzen tragen müssen, und bei ihr, wie bei einer treuen Mutter, sollen wir Rat suchen für alle Dinge, die wir tun müssen“ (VII,2).46 Auch Camilla Battista von Varano (†1524) gehörte zum Orden der Klarissinnen. Sie war in die humanistische Atmosphäre der Renaissance in den Hof von Varano hineingeboren worden. Ihre Ausbildung umfasste Musik, Literatur und Latein. Aber es war die Bibel, die ihre Gedanken leitete und ihren Geist beherrschte. Jede Etappe der spirituellen Laufbahn, die sich vor Camilla auftat, fand eine Grundlage in der Bibel. Im ersten Teil ihrer Autobiografia scheint durch, dass die Flucht aus Ägypten zum Beispiel das „große Ereignis“ bedeutete, das ihre Berufung und damit ihre Spiritualität begründete. Eine besondere Zuneigung hegte sie für Paulus und Johannes, die mit den Themen der Passion und der Weisheit des Kreuzes den Bezugsrahmen bildeten, in dem sich ihr religiöses Leben abspielte.47 Frauen waren auch die bevorzugte Zielgruppe der dominikanischen Observanzbewegung. Der auf Anregung von Katharina von Siena (†1380) reformierte Orden forderte die Rückkehr zur vollständigen Befolgung der alten Regeln: strenge Armut, ständiges Gebet, gewissenhaftes Studium für die Predigten. Es bestand ein großes Bedürfnis nach interner Disziplin, aber auch der Wille zur Überwindung der Krise der Christenheit am Ende des 14. Jh. Dies sollte durch die Wiederherstellung der alten Strenge und das Anhören der – an pastorale Anforderungen angepassten – Heiligen Schrift gelingen. Katharina hat später, besonders in der Neuzeit, für Frauen als Vorbild für eine prophetische Tätigkeit, die in der zentralen Bedeutung des Wortes ihre Stärke fand, fungiert (siehe den Beitrag von Rita Librandi). Jenseits der spirituellen Bewegungen (Augustinerinnen, Benediktinerinnen, Franziskanerinnen, Dominikanerinnen, Karmeliterinnen usw.), in denen man die Frauen verorten muss, um ihr unterschiedliches Bibelverständnis besser verstehen zu können, halte ich es auch für nützlich, einige Interpretationsweisen der Frauen des Mittelalters, die sich in diesem Band wiederfinden, in groben Linien vorzustellen.

2.2 Lektüre und Studium Im Mittelalter war die Alphabetisierungsquote unter Frauen sehr niedrig. Bildung war, wenn sie überhaupt vermittelt wurde, nur dazu da, die Grundlagen eines frommen Lebens zu erlernen. Schreiben zu lernen war nur begrenzt möglich: Es war unter Christinnen wie Jüdinnen üblich, die Psalmen oder Gebete laut vorzulesen und auswendig zu lernen (siehe den Beitrag von Gemma Avenoza). Dennoch gab es in der Zeit zwischen dem 12. und 15. Jh. Frauen, die durch ihre Bildung und Gelehrtheit auffielen und die ausgehend von der Heiligen Schrift besondere kulturelle Funktionen hatten. Im

46 47

Ebd., 14. Vgl. Pietro LUZI, Camilla Battista da Varano (Turin: Gribaudi, 1989), 315ff.; CAMILLA BATTISTA DA VARANO, Autobiografia e le opere complete (hg. v. Silvano Bracci; Vicenza: Hamsa, 2009).

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Orient waren sie beispielsweise Gelehrte, Kopistinnen und Exegetinnen, im Abendland Theologinnen und Schriftstellerinnen (siehe dazu den Artikel von Rosa M. Parrinello). Heloisa diskutierte mit Abaelard die Fragen, die sich ihr aus dem Bibelstudium stellten. Marcella, die sensible Schülerin des Hieronymus und aufmerksame Bibelinterpretin, war für sie ein Vorbild, das sie stimulierte und mit dem sie sich identifizierte. Genau wie sie behandelte Heloisa den heiligen Text mit kritischem Geist, mit ratio und discretio. Die als Problemata Heloissae bekannte Textsammlung besteht aus 42 theologischen Fragen, die Heloisa als reife und gründlich arbeitende Wissenschaftlerin ausweisen.48 Wichtig ist das Bibelstudium auch in seiner auf die Musik angewandten Seite. Über Hildegard von Bingen (†1179), eine begabte Komponistin, hinaus zeigt die Forschung immer deutlicher die wichtige Rolle der Musik für das Leben in Nonnenklöstern (siehe den Beitrag von Linda M. Koldau). Das Studium führte auch zur Entwicklung neuer theologischer Hypothesen. Die gelehrte Begine von Valenciennes, Marguerite Porete (†1310, als Häretikerin verbrannt), Übersetzerin der Bibel in die Volkssprache, profitierte sicher von ihren Studien und Überlegungen, als sie ihre Theorie vom Freien Geist und ihr Konzept der Großen Heiligen Kirche erarbeitete. In dieser beten die einfachen Seelen Gott in Geist und Wahrheit an (Joh 4,21). Sie wohnen im Wunsch nach Liebe (Vergöttlichung der Seele), ohne die Vermittlung der Kirchenmänner, der Sakramente und der Tugenden (die die Kleine Kirche bilden). In dieser mystischen Vereinigungserfahrung transzendiert Marguerite die Heilige Schrift, die jedoch die hauptsächliche Quelle der Inspiration für ihre Gedanken, die sich oft auf Johannes und Paulus beziehen, bleibt. Aufgrund ihrer Ideen wurden sie und ihr Werk im Jahr 1310 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Eine gesonderte Untersuchung würde der Fall der Schriftstellerin Isotta Nogarola (†1466) verdienen, die ebenso wie ihre Schwester Ginevra für ihre Bildung bekannt war und die Ehe zugunsten ihres Studiums ablehnte. Ausgehend von Überlegungen über die eingeschränkte Lebenssituation von Frauen stellte Nogarola die Frage nach der Schuld Adams und Evas am Sündenfall (De pari aut impari Evae atque Adae peccato, 1451). Der von ihr verfasste Dialog bezog sich einerseits auf die augustinische These von der gemeinsamen Schuldhaftigkeit, andererseits sprach er aber der schwächeren Eva eine geringere Schuld zu, da das Verbot sich nur an Adam gerichtet habe. Für Isotta war die Frau zwar nicht die Ursache des Sündenfalls, aber ihre Bestrafung war sicher härter und in gewisser Weise blieb ihre Schuld unverziehen.49 Isotta Nogarola kennzeichnet gewissermaßen den Übergang vom Mittelalter zur Moderne; ihr Werk steht im Kontext der sogenannten querelle des femmes, einer Reihe von Traktaten, die am Ende des 15. Jh. geschrieben wurden und sich mit der Gleichheit,

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Vgl. Maria CIPOLLONE, „In margine ai Problemata Heloissae“, Aevum 2 (1990): 659–668. Isotta NOGAROLA, Opera (hg. v. Eugenius Abel; 2 Bde; Wien: Gerold, 1886); vgl. Margaret L. KING, „Isotta Nogarola, umanista e devota (1418–1466)“, in Rinascimento al femminile (hg. v. Ottavia Niccoli; Rom: Laterza 1991), 3–33.

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Ungleichheit oder Differenz zwischen den Geschlechtern beschäftigen, indem sie aus der Heiligen Schrift Argumente für die eine oder andere These entnehmen.

2.3 Die Bibel als Lehre des Lebens Normalerweise beschäftigten sich die Frauen jedoch nicht aus Studienzwecken mit dem Bibeltext, sondern aus pädagogischen Gründen. Sie wollten ihn lebendig erhalten, um zu erziehen und zu erbauen. Schon die adelige Dhuoda († ca. 843) hatte ihre persönliche Bearbeitung von biblischen Motiven in einem Buch niedergeschrieben, das sie ihrem weit weg lebenden Sohn Wilhelm widmete. Die Schrift Liber manualis sollte ihm helfen, am Hof ein von christlichen Werten bestimmtes Leben zu führen.50 Auch die Dichterin Ava von Melk (†1127) hatte ihre poetischen Kompositionen, die offensichtlich zur Erbauung dienen sollten, frei nach Episoden aus der Bibel verfasst (siehe den Beitrag von Magda Motté). Mit dieser pädagogischen Grundeinstellung richteten Äbtissinnen wie Hildegard von Bingen oder Herrad von Hohenburg (†1196), Ordensgründerinnen und spirituelle Führerinnen wie Klara von Assisi (†1253) und Camilla Battista von Varano ihre Kommentare an Glaubensschwestern oder ihre geistlichen Töchter, damit diese aus den exemplarisch ausgewählten Bibelepisoden Lebensenergie schöpfen, aus ihnen lernen und sich weiterbilden konnten. In der Heiligen Schrift suchten sie die rectissima norma vitae humanae. In diesem Sinne vereinten diese Frauen erfolgreich die Theologie mit der Spiritualität. Diese Kombination sollte aber durch das von Männern geprägte Gedankengut der scholastischen Philosophie einen unheilbaren Bruch erfahren, der von der Neuzeit bis heute andauert. Bei der Äbtissin Heloisa hingegen findet sich dieser Bruch nicht. Sie beschäftigte sich mit den menschlichen Implikationen, die mit der korrekten Schriftauslegung verbunden waren. Ihre Ethik der Verantwortlichkeit entstand nicht nur aus dem Zusammentreffen mit ihrem Freund und Meister Abaelard und aus dem Prinzip der Intentionalität, das sie mit ihm teilte, sondern auch aus ihrer eigenen Bearbeitung der biblischen Botschaft. Die Einheit der christlichen Berufung, die positive Erfahrung mit der Ehe, die Intentionalität, die aus einem innigen ethischen Bewusstsein entsprang und Grundlage jeder Handlung war, die Rücksicht auf den Menschen als Individuum – all diese Ideen hatte Heloisa während ihrer Versenkung in die Bibel, die sie gut kannte und kritisch auslegte.51 In einem anderen Kontext hatte Herrad von Hohenburg in ihrem Hortus Deliciarum mehr als 1100 Bibeltexte vorgestellt, indem sie die Geschichte der Welt und der Menschen, der Sünde und der Erlösung bis zum Jüngsten Gericht nachverfolgte, um die 50

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Vgl. Franca Ela CONSOLINO, „Dhuoda, la Bibbia e l’educazione“, in La Bibbia nell’interpretazione delle donne (hg. v. Claudio Leonardi, Francesco Santi und Adriana Valerio; Millennio medievale 34; Florenz: SISMEL – Edizoni del Galluzzo, 2002), 49–76. Problemata Eloissae, PL 178,677–730. Vgl. Adriana VALERIO, „Il dramma della coscienza: Eloisa“, in Cristianesimo al femminile: Donne Protagoniste nella Storia delle Chiese (hg. v. ders.; Neapel: D’Auria, 1990), 77–94.

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Nonnen ihres elsässischen Klosters zu erziehen und zu erbauen (siehe die Aufsätze von Paola Vitolo, Claudia Poggi und Marina Santini). Auch die Sermoni von Umiltà von Faenza (†1310) folgten diesem pädagogischen Zweck, regten die Nonnen zum Gebet und zur Andacht an. Es handelte sich zwar weitgehend um wörtliche Zitate aus der Bibel, aber die Äbtissin Umiltà ordnete sie ihrem Lehrziel, der Erziehung der Nonnen zur Tugend, unter.52 Schließlich nutzte auch Christine de Pizan (†1430) die Bibel als moralisches und allegorisches Fundament für ihre Stadt der Frauen (Le Livre de la Cité des Dames), deren Mauern aus den Verdiensten der Frauen der Vergangenheit gebaut waren. In dieser Stadt wurde die Über- oder Unterlegenheit der Frauen nicht am willkürlichen Konzept der Natur gemessen, sondern an der Ausübung der Tugenden, für die Beispiele in den christlichen und heidnischen Quellen zu finden sind. Von ihr, der weltlichen Schriftstellerin, die ideell das Mittelalter abschließt und den Humanismus eröffnet, wird ausführlich im Band zur querelle des femmes die Rede sein.

2.4 Bibel, Leben und Hagiographie Die Geschichte einiger Frauen, wie wir sie aus den Darstellungen der hagiographischen Texte kennen, erscheint als eine existenzielle Hermeneutik, eine praktische Exegese der Bibel. Eine Heilige möchte auch in ihrem täglichen Leben soweit wie möglich biblischen Vorbildern entsprechen, und vor allem Christus, dem einzigen exemplum für alle ChristInnen. Aber auch die Hagiographen verfolgten die Strategie, eine konkrete Lebensgeschichte unter Verwendung biblischer Motive zu erzählen. Am Ende erreichten sie sogar den Punkt, an dem sie die Frau mit Christus identifizierten. Diese hagiographische Methode war sehr beliebt, um Vorbilder zu schaffen, die zeigten, wie man die Bibel in der Lebenspraxis umsetzen konnte.53 Eine Geschichte oder ein Vers aus der Heiligen Schrift, eine Phrase aus dem Evangelium konnten zur Inspiration für ein Leben, zum Schlüssel für den Sinn einer Existenz werden. Die heiligen Frauen des Mittelalters nahmen an den Geschehnissen der Geburt Christi teil oder erlebten die Tortur des Kreuzes am eigenen Körper. Bei dieser Assimilation wurde ihr Leben zur körperlichen Umsetzung einer biblischen Inspiration: Das gehörte oder gelesene Wort wurde Fleisch im alltäglichen Leben. Für die Beginen zum Beispiel waren die zwei entgegengesetzten Momente im Leben des geliebten Jesus wichtig: die Geburt und der Tod. Hier konnten sie ihre mütterlichen Gefühle ausdrücken, die bei den Männern jener Zeit nicht so intensiv vorhanden waren. Diese 52

53

Vgl. Adele SIMONETTI, I Sermoni di Umiltà da Faenza (Biblioteca di Medioevo Latino 14; Spoleto: Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, 1995). Die Vallombrosaner-Äbtissin zeigte eine Vorliebe für das Johannesevangelium, kannte aber auch die Apokalypse gut, aus der sie reichlich zitierte. Vgl. André VAUCHEZ, Les laïcs au Moyen Age: Pratiques et expériences religieuses (Histoire; Paris: Ed. du Cerf, 1987); DERS., Saints, prophètes et visionnaires: Le pouvoir surnaturel au Moyen Age (Bibliothèque Albin Michel de l’Histoire; Paris: Albin Michel, 1999).

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Frauen identifizierten sich tatsächlich mit der Jungfrau Maria. Für Maria von Oignies (†1231) oder Ida von Gorsleeuw (†1262) zum Beispiel bedeutete dies die Ehre, für das Jesuskind sorgen zu dürfen, es zu umarmen, es zu küssen und zu wickeln. Die Nachahmung der Jungfrau Maria (durch das Nacherleben der Schwangerschaft und des Stillens) wurde für einige Mystikerinnen zur weiblichen Entsprechung für die Nachahmung Christi. Angela von Foligno (†1309) wurde von ihren SchülerInnen als die „starke Frau“ aus Spr 31,10–31 angesehen. In ihr sahen sie die Perikope 1 Kor 1,27–29 erfüllt: ihre Bescheidenheit stand im Gegensatz zur Weisheit der Welt, ihre „Unbildung“ zu den gelehrten Literaten. Angela wurde mit der Prophetin Hulda verglichen (2 Kön 22,8–20) und galt als Prophetin des – im Einklang mit der stark joachimitisch geprägten eschatologischen Bewegung der Spiritualen – herbeigesehnten dritten Weltalters.54 Zuletzt sei an Katharina von Siena erinnert, die erste Frau mit Stigmata, Zeichen der Christusförmigkeit und der Auslöschung der Geschlechterunterschiede in Christus.

2.5 Die mystische Linie Für die Frauen des Mittelalters waren weder Wissen noch theoretische Spekulationen der Weg zur Auffassungsgabe des Glaubens. Vielmehr musste diese durch das Anhören der Bibel genährt werden und durch die Liebe, die dieses Anhören hervorrief, weiter reifen. Die mystische Erfahrung wurde zu einem Interpretationsschlüssel, der dem geschriebenen Wort durch die von Gott erleuchtete Seele Leben verlieh, ganz im Sinne des Gedankens von 2 Kor 3,6, dass der Buchstabe töte, der Geist aber lebendig mache, den die Kirchenväter als Argument für die allegorische oder spirituelle Schriftauslegung benutzten. Die tiefgehende Aneignung der Heiligen Schrift, die wir in den Texten der Frauen vorfinden, zeugt vom Bewusstsein, dass die Bibel eine unerschöpfliche Quelle ist, voller weitreichender Anklänge und offen für viele Interpretationen, die über die buchstäblichen Formulierungen des Textes hinausgehen. Die daraus resultierende innere Spannung zwischen der Kenntnis der Bibel und der Gotteserfahrung führte oft zu Kritik gegenüber Theologen, die nicht in der Lage waren, die wahre Botschaft der Heiligen Schrift wahrzunehmen, weil sie in ihrer festgefahrenen Hermeneutik verhaftet blieben.

54

Vgl. Enrico MENESTÒ, Hg., Angela da Foligno terziaria francescana (QCCSM 27; Spoleto: Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, 1992); Giuseppe BETORI, „La Scrittura nell’esperienza spirituale di Angela“, in Vita e spiritualità della beata Angela da Foligno (hg. v. Clemente Schmitt; Perugia: Edizioni Messaggero, 1987), 171 –19; Rossana VANELLI CORALLI, „Il superamento della Sacra Scrittura nel Liber di Angela da Foligno (†1309)“, in Sotto il cielo delle Scritture: Bibbia, retorica e letteratura religiosa (secc. XIII –XVI) (hg. v. Carlo Delcorno und Giovanni Baffetti; BLI 70; Florenz: Olschki, 2009), 79–99.

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Die Mystikerinnen widmeten den heiligen Texten große Aufmerksamkeit, wussten aber auch, dass sie sie überschreiten mussten.55 Die Wahrheit lag jenseits des Buches, das im Lichte der mystischen Erfahrung nur als ein armseliges Instrument erschien. Im Miroir von Marguerite Porete zum Beispiel ist eine große Vertrautheit mit den biblischen Texten zu erkennen, die zitiert, angeeignet und neu bearbeitet werden. Die Heilige Schrift sei jedoch nur in der Ordnung des „Verstandes“ zur Vermittlung geeignet, in der die Institution Kirche verortet sei, nicht jedoch in der Ordnung der „Liebe“, die den „einfachen Seelen“ gehöre. Hier gelange die Seele in einer mystischen Liebesbeziehung und in der totalen Selbstentleerung zur Freiheit und zum Verständnis jenseits des biblischen Textes. Für Marguerite war die Bibel ein Instrument, die Mystik hingegen eine Vereinigung, ein Vordringen zu Gott selbst, zur Quelle der Heiligen Schrift.56 Auch bei Angela von Foligno führte die Liebesvereinigung mit dem Transzendenten ins Herz des trinitarischen Mysteriums, jenseits jeden biblischen Kommentars. Die Heilige Schrift musste ihrer Meinung nach, konform mit der franziskanischen Vorstellung, im Leben inkarniert werden. Bevor man verstehen könne, was die Passion sei, müsse man sie selbst nacherleben, um an der göttlichen Realität teilnehmen zu können. So erfuhren die Frauen die imitatio Christi als Weg, die Lebensgeschichte Christi, wie die Evangelien sie erzählen, am eigenen Fleisch zu erleben. Klara von Assisi befand, dass das Leben dem Evangelium vollständig entsprechen müsse (vivere secundum perfectionem sancti evangelii), um die größtmögliche Uniformität mit Christus zu erreichen (siehe den Beitrag von Martina Kreidler-Kos). Ihr eigener Wunsch, Franziskus bei seinen Missionsreisen zu begleiten, blieb unerfüllt, weil es für eine Frau als unschicklich erachtet wurde, aber er entsprang dem biblischen Bestreben, Jüngerin und Apostelin des Meisters Jesus von Nazaret zu sein.57 Theresa von Cartagena (†1478) gelang es durch die ständige Konfrontation der Bibeltexte mit ihrem eigenen Leben, eine aktualisierende Relektüre der Bibel zu finden. Sie träumte von einer universellen Einheit der Christen, die nie eintrat (siehe den Artikel von Maria Laura Giordano). Es ist verständlich, dass für mittelalterliche Frauen die Erfahrung Gottes und nicht das Wissen aufgrund des Bibelstudiums den Schlüssel zum Verständnis der Heiligen Schrift darstellte. Es handelte sich also nicht um ein intellektuelles Verständnis, sondern um eine Inkarnation der Heilsbotschaft in das reale, alltägliche Leben. Diese Bot55

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Vgl. Peter DINZELBACHER, Mittelalterliche Frauenmystik (München: Paderborn, 1993); DERS. und Dieter R. BAUER, Hg., Frauenmystik im Mittelalter (Ostfildern: Schwabenverlag, 1985). Marguerite PORETE, Lo specchio delle anime semplici (hg. v. Marco Vannini; Classici del Pensiero Cristiano 9; Mailand: Edizioni San Paolo, 1994); Blanca GARÍ, „Filosofía en vulgar y mistagogía en el ‚Miroir! de Margarita Porete“, in Filosofía in volgare nel Medioevo (hg. v. Nadia Bray und Luis Sturles; Textes et Études du Moyen Âge 21; Louvain-la-Neuve: Fédération Internationale des Instituts d"Etudes Médiévales, 2003), 133–153. Vgl. Chiara FRUGONI, Una solitudine abitata: Chiara d’Assisi (Rom: Laterza, 2006), 28ff.; Maria Pia ALBERZONI, Chiara e il papato (Mailand: Biblioteca Francescana, 1995); André VAUCHEZ, François d’Assise: Entre histoire et mémoire (Paris: Faygard, 2009).

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schaft hörten sie, lasen sie, erfuhren sie in der Andacht und nahmen sie vor allem in der Liebesbegegnung an. Die experientia Crucis, wie Franziskus von Assisi sie erlebt hatte, bot den Schlüssel zur Interpretation der Bibel, nicht etwa die minutiöse postillatio der Texte, wie die Exegeten sie betrieben. Nur mystisch Begabte verstehen die Heilige Schrift, weil sie sie zur Erfüllung bringen. Die mystische Erfahrung bedeutete auch, durch Visionen das zu integrieren, was die Bibel nicht aussprach. Die Augustinerin Veronika von Binasco (†1497) konnte nicht lesen, verfügte aber über eine weitgehende Kenntnis der von ihr selbst neu interpretierten Evangelien. Ihre Visionen folgten den liturgischen Festen. Sie bettete sie in die Erzählungen der Evangelien ein, indem sie den Inhalt des Textes erweiterte. So wurde eine Art sakrale Darstellung oder ein „mystisches Theater“ geschaffen.58 Vor allem die Erzählung von der Passion wurde mit Elementen angereichert, die in den kanonischen Texten nicht vorkommen: Gespräche zwischen Christus und der Jungfrau vor der Passion, die Segnung und die Tränen der Mutter, die Maria Magdalena schickt, um den Sohn aufzuhalten, und der schließlich die Auferstehung geoffenbart wird usw. Diese besondere Gotteserfahrung erlaubte den Frauen einerseits eine lebhafte und aufrichtige Teilnahme am Leben Christi, bot ihnen aber andererseits auch eine charismatische Legitimierung, die ihren Worten, mit denen sie die in der Heiligen Schrift verborgenen göttlichen Zeichen enthüllten, Kraft verlieh.

2.6 Die prophetische Linie Die Prophetie ist kein Sakrament, sondern eine [besondere] Gabe Gottes … Und weil die Frau im seelischen Bereich sich der Sache nach nicht vom Manne unterscheidet – denn bisweilen findet sich eine Frau, die der Seele nach besser ist als viele Männer … 59

Die prophetische Eingebung galt als privilegierter Weg zum Verständnis der Heiligen Schrift, da sie ohne Gegenleistung durch das Eingreifen des Heiligen Geistes erfolgte. Hildegard von Bingen war die erste Vertreterin dieser prophetischen Linie gewesen, und weitere Frauen folgten ihr in dem Bestreben, das Wort Gottes zu interpretieren und es einer Kirche und einer Gesellschaft vorzustellen, die sich nach Konversion und 58

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Vgl. ISIDORO DE ISOLANIS, Vita della beata Veronica da Binasco [1517] (hg. v. Giacomo Ravizza; Pavia: Seminario Vescovile, 2006), 129.131. In einer Vision hilft Veronika von Binasco im Haus von Marta und Maria beim Mahl mit Jesus, als dieser den Tod am Kreuz ankündigt: „Der Engel des Herrn führte ihren Geist in Martas Haus auf einem Felsen, wo sie den Erlöser mit seinen Jüngern sah, und er das Abendessen segnete. Während der Erlöser am Tisch saß, kam auch seine Mutter an den Tisch mit den Jüngern. Maria des Jakobus, Salome und andere Frauen folgten der Mutter der Reihe nach an die rechte Seite Christi. Auf der linken Seite saß Johannes, Maria Magdalena saß zu Füßen Jesu. Als sie am Ende vom Tisch aufstanden, sah Veronika Christus, der vor seiner Mutter niederkniete und den mütterlichen Segen erbat; und auf Knien bat die demütige Mutter gleichermaßen den göttlichen Sohn, dass er ihr ebenso den Segen gebe.“ THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae, Suppl. 39,1 ad 1.

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Neuerung sehnte. Die Prophetie zeigt sich bei Hildegard als Enthüllung des Mysteriums, das unter den Worten der Heiligen Schrift verborgen liegt, und als Mitteilung einer tiefen und innigen Kenntnis der offenbarten Texte, der es in der Analyse von Frauen nicht an Originalität mangelte (siehe den Beitrag von Valeria Ferrari Schiefer und Elisabeth Gössmann). Für Birgitta von Schweden (†1373) bot die Bibel Symbole und Metaphern an, die es ihr erlaubten, durch ihre Visionen eine Verbindung mit dem Schicksal der Menschheit einzugehen. Die Heilige Schrift war der Stoff, in den Gottes Eingreifen in die Welt eingewoben werden musste, aber auch der Schussfaden, der verlängert werden musste, um die Szenen, die nicht in der Heiligen Schrift standen, einzuschreiben. Ihre Visionen erlaubten es ihr, Dinge zu sehen und Geschichten mitzuerleben, die nicht in der Heiligen Schrift erzählt werden. Überraschend ist, dass sie sich als Kanal der Offenbarung Gottes bezeichnet, auf gleicher Höhe mit Propheten, Evangelisten und Aposteln, und so ihren Offenbarungen die Autorität einer Heiligen Schrift zugesteht. Ihre Vision von Maria und Josef, die zu beiden Seiten des Kindes knien, hat sogar die Ikonographie der Geburt Christi beeinflusst – ein weiterer Beweis für den gegenseitigen Austausch zwischen Visionserfahrungen und der Welt der Bilder (siehe den Beitrag von Kari Elisabeth Børresen). Die Prophetie der Katharina von Siena zeigt die enge Verbindung zwischen der Transzendenzerfahrung und der pastoralen Sorge um die Reform der Kirche. Bei ihr ordnen sich die Bibelzitate, Verweise und Metaphern ihren kommunikativen Bedürfnissen unter und vermischen sich mit den prophetischen Worten, die sich aus dem Wort Gottes nähren. Ein inneres Bedürfnis brachte Francesca Romana (†1384) dazu, in die Bewegungen des politischen und religiösen Lebens ihrer Zeit einzudringen und deren Ergebnisse im Licht der Heiligen Schrift zu beurteilen.60 Auch die Gemeinschaften, die als Ketzer beurteilt wurden, können in die prophetische Linie einbezogen werden. Die AnhängerInnen von Petrus Valdes (†1207), die sich radikal an das Evangelium hielten und aktiv an der apostolischen Wanderung und den Predigten teilnahmen, standen den Hierarchien der Kirche und deren Privilegien kritisch gegenüber. Die Bewegung, die auf Guglielma von Mailand (†1282) zurückgeht, interpretierte das Evangelium, indem sie es auf eine Frau bezog, die eine Inkarnation des Heiligen Geistes war, und kündigte ein neues Zeitalter an, in dem eine neue Kirche unter weiblicher Leitung entstehen würde. Diese revolutionäre Vision zeigt besonders deutlich, dass einige Frauen im Mittelalter die Notwendigkeit erkannten, die heiligen Texte neu zu interpretieren und neu zu schreiben, ein neues Gottesbild zuzulassen, das stärkere weibliche Züge trägt, und damit den Frauen in der Kirche und in der christlichen Gesellschaft mehr Ansehen zuzugestehen.

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Alessandra BARTOLOMEI ROMAGNOLI, Hg., Francesca Romana: La santa, il monastero e la città alla fine del Medioevo (Florenz: SISMEL – Edizioni del Galluzzo, 2009), mit umfassender Bibliographie.

Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala Andrea Taschl-Erber Universität Graz Die mittelalterliche Wirkungsgeschichte Marias von Magdala zu untersuchen bedeutet, die Wurzeln der westkirchlichen Legendenfigur zu beleuchten, deren Wirkmächtigkeit im kulturellen Bewusstsein sich trotz intensiver und vielfacher Forschungen historischkritischer wie feministischer Exegese kaum schmälern ließ. Dabei erlaubt das vielschichtige mittelalterliche Porträt mit seinen Ambivalenzen in diesem Rahmen keine umfassende Darstellung, sondern die Fülle an Material nötigt zu einer Auswahl. So richtet sich der Fokus der vorliegenden Studie vor allem auf die Rezeption der genuin biblischen Rolle Marias von Magdala als verkündigende Osterbotin.1 Inwieweit lassen sich Spuren der Apostolin bis an die Schwelle zur Neuzeit verfolgen?

1. Eine Mischgestalt aus verschiedenen neutestamentlichen Frauenfiguren Ausgangspunkt der mittelalterlichen Magdalenenrezeptionen im Westen ist nach den patristischen Weichenstellungen2 nicht – oder nicht nur – die biblische Figur Marias von Magdala. Stattdessen haben wir es mit der – in einer Linie zusammenlaufenden – Wirkungsgeschichte von ursprünglich verschiedenen neutestamentlichen Frauengestalten zu tun. Aufgrund der Tendenz, gleichnamige Frauen zu identifizieren und ähnliche Erzählungen, in diesem Fall die diversen Salbungsgeschichten,3 zu harmonisieren, wurde Maria von Magdala, deren Attribut als österliche Myrophore das Salbgefäß darstellt, insbesondere mit ihrer betanischen Namensverwandten, der Schwester Martas (siehe Lk 10,38–42; Joh 11,1–45; 12,1–8), sowie der anonymen Sünderin aus Lk 7,36– 1

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Zum neutestamentlichen Porträt Marias von Magdala und weiterführender Literatur siehe Andrea TASCHL-ERBER, Maria von Magdala – erste Apostolin? Joh 20,1–18: Tradition und Relecture (HBS 51; Freiburg i. Br.: Herder, 2007), wo ich auch Grundlinien der Rezeptionsgeschichte dieser Figur bis ins Mittelalter präsentiert habe, sowie meinen Beitrag „Maria von Magdala – erste Apostolin?“, in Evangelien: Erzählungen und Geschichte (hg. v. Marinella Perroni und Mercedes Navarro Puerto; Die Bibel und die Frauen 2.1; Stuttgart: Kohlhammer, 2011), 362–382. Dazu Andrea TASCHL-ERBER, „‚Eva wird Apostel!‘ Rezeptionslinien des Osterapostolats Marias von Magdala in der lateinischen Patristik“, in Geschlechterverhältnisse und Macht: Lebensformen in der Zeit des frühen Christentums (hg. v. Irmtraud Fischer und Christoph Heil; Exegese in unserer Zeit 21; Münster: LIT, 2010), 161–196; DIES., „Between Recognition and Testimony: Johannine Relecture of the First Easter Witness and Patristic Readings“, in Noli me tangere in Interdisciplinary Perspective: Textual, Iconographic and Contemporary Interpretations (hg. v. Reimund Bieringer, Barbara Baert und Karlijn Demasure; BETL; Leuven: Peeters, im Druck). Siehe Mt 26,6–13; Mk 14,3–9; 16,1; Lk 7,36–50; 24,1; Joh 11,1f.; 12,1–8.

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50 gleichgesetzt.4 Zusätzlich wurde das Einheitsbild durch eine entsprechende Interpretation der in Lk 8,2 (sowie im sekundären Mk-Schluss) erwähnten sieben Dämonen gestützt. Bereits Hieronymus (ca. 347–420), der anderorts die Erstzeugenschaft der Osterbotinnen als „Apostolinnen der Apostel“ herausstreicht,5 erzielt hier durch ein Zitat von Röm 5,20 einen Konnex mit Sündhaftigkeit: Maria Magdalena ist eben diejenige, von der er sieben Dämonen ausgetrieben hatte (Maria Magdalene ipsa est, a qua septem daemonia expulerat), sodass, wo im Übermaß Sünde gewesen war, in übergroßem Maß Gnade war (ut, ubi abundauerat peccatum, superabundaret gratia) ...6

Dasselbe Zitat begegnet bei Ambrosius7 (um 340–397) freilich im Kontext des EvaMotivs, das seit Hippolyt8 (ca. 170–235) das Osterapostolat „der Frau“ als Wiedergutmachung ihrer Schuld deutet. Daher ist zunächst von einer generalisierenden misogynen Rede anstatt einer individualisierenden, konkret auf Maria von Magdala bezogenen Interpretation auszugehen. Eine explizite Identifikation mit der Figur der Sünderin, welche sich kraft seiner Autorität in der Westkirche durchsetzte, bietet jedoch schließlich Gregor der Große (um 540–604): Von dieser aber, welche Lukas eine sündige Frau, Johannes Maria nennt, glauben wir, dass sie jene Maria ist, aus der, wie Markus bezeugt, sieben Dämonen ausgetrieben worden waren (Hanc uero quam Lucas peccatricem mulierem, Iohannes Mariam nominat, illam esse Mariam credimus de qua Marcus septem daemonia eiecta fuisse testatur). Und was (bedeuten) die sieben Dämonen, wenn nicht sämtliche Laster bezeichnet werden (Et quid septem daemonia, nisi universa uitia designantur)?9

Mit seinen Homilien, die auch in der mittelalterlichen Liturgie, insbesondere am Festtag Maria Magdalenas (22. Juli10), verwendet wurden, schuf er die Basis für die Legendenentwicklung, was die „biblische“ Vita der Heiligen betrifft, und beeinflusste weit-

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Die anonyme Frau, zu deren Gedächtnis gemäß Mk 14,9 par. Mt 26,13 die messianische Salbung des Hauptes Jesu erzählt wird, wurde ebenso mit dieser Figur verschmolzen. Siehe den Prolog zu Comm. Soph. 1 (apostolorum ... apostolas; CCL 76A,655,26f.). Ep. 59,4 (an Marcella); CSEL 54,545,1–3. Röm-Zitat kursiv. Spir. 3,11,74; allerdings auch in seiner Kommentierung von Lk 7 (Exp. Luc. 6,35). Siehe Kap. 15 seines Hld-Kommentars: „Eva wird Apostel!“ (Vgl. die von Gottlieb Nathanael BONWETSCH herausgegebene Textausgabe Hippolyts Kommentar zum Hohenlied auf Grund von N. Marrs Ausgabe des grusinischen Textes [TU 23 N.F. 8,2c; Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1902], 68). Hom. 33,1 (zu Lk 7); CCL 141,288,7–10. Siehe auch Hom. 25 zu Joh 20 sowie seinen Brief an Gregoria. Im Westen erstmals belegt im Martyrologium des Beda Venerabilis um 720. Dazu Victor SAXER, Le culte de Marie Madeleine en Occident des origines à la fin du moyen âge (2 Bde; Cahiers d’archéologie et d’histoire 3; Auxerre: Publications de la Société des Fouilles Archéologiques et des Monuments Historiques de l’Yonne / Paris: Clavreuil, 1959), 57: „... le natale de la sainte est d’importation byzantine.“

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gehend die mittelalterlichen Magdalenenpredigten und -dichtungen.11 Später wurde teilweise auch die Samaritanerin „in das Magdalenenmotiv eingeschmolzen“12, ferner die Ehebrecherin aus Joh 8.13 Gegenüber diesem westlichen Einheitsbild hielt die ostkirchliche Tradition allerdings an der Verschiedenheit der einzelnen Frauen fest und verehrt bis heute Maria von Magdala als „apostelgleiche“ ("#$%&#'*+*-) Osterzeugin. Drei Aspekte prägen nun wesentlich die „Magdalenologie“ im Westen, um mit einigen flotten Strichen das komplexe mittelalterliche Magdalenenbild zu skizzieren: · Als bekehrte und erlöste Sünderin repräsentiert Maria Magdalena die Antwort auf die Grundfrage des mittelalterlichen Menschen nach der Erlangung des Seelenheils und avanciert zu einer der populärsten Heiligen. Die Entwicklung läuft vom biblischen Sinnbild zum individuellen Vorbild und schließlich zur mächtigen Fürsprecherin. Ebenso fungiert sie aber auch als Typos für die sündigende und sich bekehrende Kirche und demgemäß als Symbolfigur für kirchliche Selbstkritik wie – von verschiedenen Orden getragene – Reformbewegungen. Damit wird die patristische Ekklesia-Typologie, die in der Zeugin des Auferstandenen die Kirche verkörpert sieht, fortgesetzt, wobei sich freilich der Akzent von der Verkündigung auf die Themen Reue und Umkehr verschiebt. · Ausgehend von der vita contemplativa der betanischen Maria wird die Gestalt der Büßerin zur Patronin der eremitischen Bewegung, Vorbild für Askese und Weltflucht. · Doch blieb auch das Wissen um die Erstzeugin des Auferstandenen lebendig. Der Aspekt der Apostolin und Verkünderin wird weiter ausgebaut in den Legenden des Apostolats Maria Magdalenas in Frankreich. Ihre vita apostolica reflektiert verschiedene Seiten (Armut, Wanderpredigt) der Identität der neu aufkommenden Mendikantenorden. Mittels einer solcherart instrumentalisierten und dadurch kontrollierten Magdalenenfigur wird angesichts konkurrierender Protestbewegungen gegenüber der kirchlichen Hierarchie das Reformpotential innerkirchlich kanalisiert.

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13

Der Bezug zur Braut in Hld 3 (Hom. 25) inspirierte z. B. die spätere Magdalenenklage. Elisabeth GÖSSMANN, „Maria Magdalena als Typus der Kirche: Zur Aktualität mittelalterlicher Reflexionen“, in Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung (hg. v. Dietmar Bader; Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg; München: Schnell & Steiner, 1990), 51–71; 52. Hans HANSEL, Die Maria-Magdalena-Legende: Eine Quellen-Untersuchung: Erster Teil (GBLS 16,1; Greifswald: Verlag Hans Dallmeyer, 1937), 94–96.128, berichtet von einer verbreiteten spätmittelalterlichen Volksballade. So wird Maria Magdalena etwa bei Honorius Augustodunensis (siehe unten) zur Ehebrecherin und Prostituierten (vulgaris meretrix; PL 172,979d).

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2. Impulse für die mittelalterliche Magdalenenverehrung 2.1 Magdalenenkult, Kirchenreform und Reliquienstreit Zur mittelalterlichen Entwicklung der Magdalenenverehrung leistete die cluniazensische Reformbewegung einen wesentlichen Beitrag, unter deren Einfluss das Vorbild der Reue und Buße übenden Sünderin als Beispiel menschlicher Schuld und göttlicher Barmherzigkeit in Bußpredigt und -dichtung aufgenommen und verbreitet wurde. Eine weite Rezeption fand die traditionell Odo von Cluny (um 878–942), dem 2. Abt des 910 gegründeten Klosters, zugeschriebene Magdalenenpredigt, durch die Maria Magdalena eine individuelle Gestalt gewann. Sein Sermo II: In veneratione sanctae Mariae Magdalenae stellt nämlich nicht mehr eine Homilie zu einer bestimmten Perikope dar, sondern ist „zur Verehrung der heiligen Maria Magdalena“ verfasst. Die biblische Vita der Heiligen ergibt sich aus der Exegese der auf sie bezogenen Episoden (Salbung durch die Sünderin; Maria und Marta; Auferweckung des Lazarus; Passion und Ostern), welche an die patristische Auslegung anknüpft und durch legendarische Ausschmückungen und allegorische Exkurse erweitert wird.14 Dabei wird mehrfach die Kirchentypologie der Magdalenengestalt herausgestellt. In einem etymologischen Exkurs etwa wird das zuvor als castellum („Burg, Feste“) gedeutete „Magdalum“, nach dem Maria Magdalena benannt worden sei15 (ein erster Beleg für ihre adelige Herkunft in der mittelalterlichen Legendenentwicklung),16 „zum Turm der Kirche, der den Feinden Widerstand leistet“17. Wie die Magdalenenhomilien Gregors beeinflusste dieser Text vor allem die monastische Liturgie und wurde als Magdalenenvita ab dem 11. Jh. in die lateinischen Legendarien aufgenommen (vita evangelica).18 Eine besondere Rolle spielte dabei das im Verband von Cluny befindliche Benediktinerkloster in Vézelay (Burgund), das erste bedeutende Kultzentrum Maria Magdalenas im Westen.19 Die Abtei wurde um 860 von Graf Girart de Roussillon und seiner Frau Bertha gegründet. Im Jahre 1037 wurde Abt Geoffroi gewählt, der die cluniazensische Reform

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Siehe den ausführlicheren Kommentar in TASCHL-ERBER, Maria von Magdala, 616–620. Siehe PL 133,714b. Aus dem Reichtum wird ein lasterhafter Lebensstil abgeleitet (vgl. ebd.). GÖSSMANN, „Maria Magdalena“, 61; siehe PL 133,716b–c. Vgl. HANSEL, Maria-Magdalena-Legende, 51.100–113. Zur näheren Entwicklung und Ausbreitung des schließlich von Frankreich ausstrahlenden Magdalenenkults sowie zur hier gebotenen historischen Skizze siehe SAXER, Culte. Zum Folgenden außerdem DERS., Le dossier vézelien de Marie Madeleine: Invention et translation des reliques en 1265–1267: Contribution à l’histoire du culte de la sainte à Vézelay à l’apogée du moyen âge (SHG 57; Brüssel: Société des Bollandistes, 1975), sowie Susan HASKINS, Die Jüngerin: Maria Magdalena und die Unterdrückung der Frau in der Kirche (Bergisch Gladbach: Lübbe, 1994), 109–159 [Originalausgabe: Mary Magdalen: Myth and Metaphor (London: Harper Collins, 1993)].

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einleitete und im Zuge der monastischen Erneuerung den Magdalenenkult einführte.20 Erstmals wurde das Patronat Maria Magdalenas (welches ein altes marianisches später sogar gänzlich ersetzte) in einer Bulle Leos IX. von 1050 erwähnt, Papst Stephan IX. bestätigte 1058 darüber hinaus auch ihr Grab an diesem Ort. Damit entwickelte sich Vézelay von einer Station auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela mit dem Grab des Jakobus zunehmend zu einem selbstständigen, wirtschaftlich florierenden und (gerade auch im Zusammenhang der Kreuzzugsbewegung) politisch bedeutenden Wallfahrtszentrum mit einem konkurrierenden Apostelgrab. Eine blühende Legendenbildung erklärte in teils widersprüchlichen Versionen den Besitz der Reliquien der „Apostolin Frankreichs“ (Meerfahrt der Heiligen von Palästina nach Südfrankreich,21 Überführung der Reliquien aus dem ursprünglichen Grab in der Provence, Wundererzählungen). In einer Phase des Niedergangs inszenierten die Mönche 1265 gegen rivalisierende Reliquienansprüche der Provenzalen unter der Anwesenheit päpstlicher Legaten die Entdeckung der Gebeine, 1267 wurden sie vor Ludwig IX. sowie geistlichen und weltlichen Würdenträgern feierlich zur Schau gestellt. Doch war der Zenit für Vézelay längst überschritten, nach einer entsprechenden „Auffindung“ des Leichnams der Heiligen 1279 in der Krypta von Saint-Maximin-laSainte-Baume (ca. 40 km östlich von Aix-en-Provence) verlagerte sich der Schwerpunkt des Magdalenenkultes in die Provence.22 Unter dem Vorsitz Prinz Karls von Salerno, später Graf der Provence und König Karl II. von Neapel, erfolgte 1280 die offizielle Hebung der Reliquien, deren Authentizität Papst Bonifaz VIII. 1295 bestätigte. Eine Urkunde, die eine Umbettung der echten Magdalenenreliquien zur Zeit der Sarazenen bezeugen sollte, widerlegte die auf ihrer Translationslegende basierenden Ansprüche der Vézelayer, da der falsche Leichnam geraubt worden wäre. Noch heute findet im Juli eine Reliquienprozession statt, bei der das Reliquiar mit dem von einer goldenen Maske bedeckten Schädel der Heiligen durch die Straßen der Stadt getragen wird. Zur Verwaltung der Pilgerstätte wurde 1295 ein Dominikanerkonvent unter dem Patronat Karls II. gegründet, Maria Magdalena wird Schirmherrin des Ordens und des Hauses Anjou. Nach den Cluniazensern prägten ab dem 13. Jh. also die Mendikanten das mittelalterliche Magdalenenbild,23 neben den Leitidealen des Ordo fratrum Praedicatorum zeitigte die franziskanische Kreuzes- und Bußfrömmigkeit24 Konsequenzen. 20

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Der Abt stand in Verbindung mit anderen Promotoren des Magdalenenkults in Frankreich. Dass Leo IX. 1049/50 auch in Verdun und Besançon Magdalenenkirchen weihte, weist auf die Popularität der im Sinne der Kirchenreform politisch instrumentalisierten Heiligen hin. In Les-Saintes-Maries-de-la-Mer in der Camargue existiert noch eine lebendige Tradition. Die hagiographische Überlieferung vom Grab in der Provence hatte zwischen Aix und Saint-Maximin divergiert. – Entgegen den provenzalischen Traditionen betont SAXER, Culte, 356, „que le culte magdalénien n’est pas en Provence un culte indigène. Il s’y est implanté par suite des revendications aixoises contre les prétentions vézeliennes.“ Dazu Katherine Ludwig JANSEN, The Making of the Magdalen: Preaching and Popular Devotion in the Later Middle Ages (Princeton: Princeton University Press, 2000). Wenn Maria Magdalena in spätmittelalterlichen Passionsdarstellungen (entsprechend dem von der Sünderin wie der betanischen Maria geerbten Platz zu Jesu Füßen) beim Kreuz

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In der Magdalenengrotte im Bergmassiv der Sainte-Baume, ursprünglich ein Marienheiligtum, wurde im späten 12. Jh. die vita eremitica, die Legende vom 30jährigen Bußleben der Heiligen, die sich in Anlehnung an die Vita der Maria Aegyptiaca entwickelt und seit dem 9. Jh., von Süditalien ausgehend, verbreitet hatte, lokalisiert.25

2.2 Oster- und Passionsspiele Neben den Magdalenenpredigten und -legenden wirkte insbesondere auch das geistliche Schauspiel als Motor für die Magdalenenverehrung, zunächst in der liturgisch gebundenen lateinischen Osterfeier. Ausgangspunkt der szenisch-dramatischen Entwicklung ab dem 10. Jh. war die visitatio sepulchri, der Grabbesuch der Frauen. Aus der Drei-Marien-Gruppe löste sich Maria von Magdala später durch die Einführung der Sequenz Victimae paschali laudes (Wipo von Burgund, ca. 995–1050)26 als Künderin des Ostergeschehens heraus. Noch mehr Raum gewann sie im liturgisch-biblischen Dialog mit dem Auferstandenen gemäß der Erscheinungsszene in Joh 20. Die geistlichen Dramen, die sich aus den Wechselgesängen der Osterliturgie entwickelten, wurden zunächst von Klerikern im Chor der Kirche dargestellt. Etwa ab dem 13. Jh. wanderten sie allmählich aus dem Kirchenraum hinaus und wurden, erweitert um zahlreiche phantasievolle Szenen, zum Volksschauspiel. Während die frühen Osterspiele den Akzent auf die österliche Verkünderin setzten (z. B. das Prager Osterspiel oder auch noch das deutsch-lateinische Trierer Osterspiel Ende des 13. Jh.), betonten die späteren Passionsspiele weit stärker Maria Magdalenas Rolle als Sünderin: Zu den bisherigen Magdalenenszenen der Osterfeiern und -spiele traten die Szenen vom weltlichen Leben und der Bekehrung, erstmals in dem ältesten erhaltenen Passionsspiel von Benediktbeuern Ende des 13. Jh. In den Passionsspielen des 14.–16. Jh., wo das Element der Unterhaltung immer mehr Bedeutung erlangte, wurde dieses so genannte „Magdalenenspiel“ – mit entsprechendem Nachhall in der bildenden Kunst – zunehmend stärker gewichtet und ausgestaltet.27

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kniet, fungiert sie als Typos des sündigen und bereuenden Menschen, der durch sein sündhaftes Leben Schuld am Tod Jesu trägt, und als Identifikationsfigur für die BetrachterInnen. Bis in die Mitte des 13. Jh. war dies die einzige bedeutende Kultstätte der Heiligen in der Provence, wenngleich sich die Verehrung Maria Magdalenas hier seit dem ausgehenden 12. Jh. stetig ausbreitete. Siehe unten in 4.2. Vgl. GÖSSMANN, Maria Magdalena, 68f.; Eva-Maria ADAM, Maria Magdalena in geistlichen Spielen des Mittelalters (Diss., Universität Zürich, 1996), 85ff.

Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala

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3. Bibelrezeption durch Frauen Werden gegenüber der herkömmlichen Auslegung andere Akzente und Schwerpunkte gesetzt, wenn Frauen die entsprechenden biblischen Texte interpretieren?

3.1 Frau Ava Im Leben Jesu von Frau Ava (um 1060–1127), der ersten mit Namen bekannten Dichterin in deutscher Sprache,28 tritt die ursprüngliche biblische Figur in den Vordergrund. Maria Magdalena wird erst bei der Kreuzigung namentlich erwähnt, während bei den vorhergehenden Episoden keine explizite Identifikation mit der Sünderin oder Maria von Betanien erfolgt. Die Heilige wird hier direkt angesprochen, ihr Mitleiden angesichts ihres blutenden, am Kreuz hängenden Herrn vor Augen geführt.29 Die Dämonenaustreibung von Lk 8,2 wird bei der Vorstellung der Salbenträgerinnen am Ostermorgen – mit Maria Magdalena an der Spitze – nachgeholt: Die Dichterin interpretiert sie als Erlösung von bösen Geistern, nicht als Sündenbefreiung.30 Dadurch rückt Maria Magdalenas Rolle als Sünderin (die in der mittelalterlichen Tradition freilich vorauszusetzen ist)31 gegenüber anderen Darstellungen in den Hintergrund.32 In ihrer harmonisierenden Wiedergabe der verschiedenen Osterberichte der Evangelien (in chronologischer Anordnung) richtet Frau Ava einen besonderen Fokus auf Maria von Magdala, welche sich nach der Engelerscheinung am Grab und der Benachrichtigung der „boten“ („Apostel“) erneut zum Grab begibt (diesmal allein) und dort schließlich dem Auferstandenen begegnet. An diese Erzählung, die sich stark an Joh 20 (bes. V1.11.15–17)33 anlehnt, wobei Jesu Auftragswort die Ankündigung der Erscheinung in Galiläa (vgl. Mk 16,7; Mt 28,7.10) miteinbezieht, knüpft die Proskynese-Szene aus Mt 28,9 an. Daran anschließend artikuliert Maria Magdalena das einzige Osterbekenntnis der frühmittelhochdeutschen Bibeldichtung (vgl. dazu Joh 20,18):

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Sie wird allgemein mit einer „inclusa“ (Klausnerin) identifiziert, die in der Wachau (Niederösterreich) lebte und deren Todestag in mehreren Annalen bzw. Nekrologien verzeichnet ist (was wiederum ihre Bedeutung dokumentiert). Bezüglich einer Einführung in Frau Avas Gesamtwerk siehe den Beitrag von Magda MOTTÉ in diesem Band. Siehe 1693ff. (Strophe 156). Siehe 1821–1826 (Strophe 168). Am Ende des Gedichts ist auch von den gemeinsamen Reuetränen „mit der seligen Maria“ die Rede (siehe 2320–2323; Strophe 213). Vgl. auch Ingrid MAISCH, Maria Magdalena: Zwischen Verachtung und Verehrung: Das Bild einer Frau im Spiegel der Jahrhunderte (Freiburg i. Br.: Herder, 1996), 63f. Die in Joh 20,3–10 eingeschobene Szene mit Petrus und dem „anderen Jünger“ folgt unmittelbar nach der Verkündigung Marias von Magdala (Strophen 179f.). Bei Frau Ava nehmen die beiden das um den Leichnam gewickelte Tuch mit, um es den Leuten zu zeigen (siehe 1941–1944): vermutlich ein Reflex der dramatischen Darstellung in der Osterfeier.

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iz sahen miniu ougen, ir sult iz wol gelouben, surrexit dominus, daz ist: erstanden ist unser herre Jesus.34

3.2 Christine de Pizan Ähnlich akzentuiert später Christine de Pizan (1365–1430/32) in Le Livre de la Cité des Dames (Paris, 1405) gegenüber der Sünderin stärker die Osterbotin. Die humanistisch gebildete französische Schriftstellerin italienischer Abstammung35 begann nach dem Tod ihres Gatten Etienne du Castel um 1390 aus materieller Not heraus ihre literarische Tätigkeit als Lebensunterhalt für sich und ihre Familie, wo sie auch zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen sowie Genderfragen Stellung nahm. Im „Buch von der Stadt der Frauen“ schildert sie die allegorische Errichtung einer Festung gegen Verleumder des weiblichen Geschlechts mit Hilfe dreier vornehmer Frauen, Verkörperungen der drei Tugenden Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit. Um Frauen gegen Vorurteile und Diffamierungen von männlicher Seite zu verteidigen und Argumentationsmaterial sowie Rollenmodelle zu bieten, verweist sie auf große Frauengestalten aus Mythologie und Geschichte, Bibel und Legende. Dabei liefert sie auch ein indirektes Zeugnis über die landläufige androzentrische Schriftauslegung, der sie ihre eigene Bibelinterpretation entgegensetzt. Auf Maria von Magdala geht sie gleich im ersten der drei Teile des Buches ein, um Vorwürfe, die sich auf das Weinen und Reden von Frauen beziehen, zu entkräften. Die auktoriale Stimme klagt im Gespräch mit der allegorischen Figur der Vernunft (1.X): „Hohe Frau, die Männer schmieden mir eine scharfe Waffe aus einem lateinischen Sprichwort, das sie den Frauen immer wieder unter die Nase reiben und das so geht: ‚Gott hat den Frauen dies gegeben: das Flennen, Schwätzen und das Weben.‘“36

An Geschlechterstereotypen geknüpfte Vorurteile bezüglich weiblicher Tränen finden sich häufig bereits in der patristischen Exegese von Joh 20, insbesondere um das Engagement Marias von Magdala im Vergleich zu den Jüngern abzuwerten. Demgegenüber wendet hier jedoch die angesprochene literarische Figur ein: „... wenn Jesus Christus, Unser Herr, dem kein Gedanke verborgen bleibt, der in jedes Herz schaut und dessen Innerstes ergründet, erkannt hätte, daß die Tränen der Frauen ihren Ursprung lediglich in Schwäche und Einfalt haben, hätte sich dann die Würde seiner unermeßlichen Hoheit dazu herabgelassen, selbst Tränen des Mitgefühls, Tränen aus den Augen seines würdigen, glorreichen Leibes zu weinen, als er Maria Magdalena und ihre Schwester Martha weinen sah wegen des Todes ihres Bruders, des Aussätzigen, den 34

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1923–1926 (Strophe 178). Zitiert aus Friedrich MAURER, Hg., Die Dichtungen der Frau Ava (ADTB 66; Tübingen: Niemeyer, 1966), 48. In heutigem Deutsch: „Es sahen meine Augen, ihr sollt es wohl glauben, / surrexit dominus, das heißt: auferstanden ist unser Herr Jesus.“ Ihr Vater Tommaso di Benvenuto da Pizzano erhielt als renommierter Astrologe einen Ruf an den französischen Hof; nach dem Tod Karls V. (1364–1380) kam es zu einer Krise. Zitiert aus Margarete ZIMMERMANN, Hg., Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen (München: dtv, 41995), 59 (ebenso das folgende Zitat).

Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala

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er auferweckte? Oh, wie viele große Gnadenbeweise gewährte Gott Frauen um ihrer Tränen willen! Die Tränen jener Maria Magdalena verachtete er keineswegs, sondern nahm sie an und verzieh ihr dafür ihre Sünden, so daß sie nun dank jener Tränen im Himmel thront. (...)“

An dieser Stelle wird klar, dass Christine de Pizan von der westkirchlichen Mischgestalt ausgeht, wenn sie zunächst auf die betanische Maria aus Joh 11, dann offenbar auf die Sünderin aus Lk 7 rekurriert. Das Stichwort „Tränen“, das Maria von Magdala (vgl. Joh 20,11.13.15) mit der Sünderin (vgl. Lk 7,38.44) sowie Martas Schwester (vgl. Joh 11,33) verbindet, zeigt sich fest mit dem mittelalterlichen Magdalenenbild verknüpft. Was den zweiten Teil des Sprichworts betrifft, setzt die Argumentation mit der Rolle Marias von Magdala als Erstverkünderin der Auferstehungsbotschaft an: „(...) Ganz ähnlich verhält es sich mit der Gabe der Rede, mit der Gott die Frau – gelobt sei er dafür! – versah; hätte er es nicht getan, so wären sie stumm. Gegen das, was das besagte Sprichwort beinhaltet, von dem ich nicht weiß, wer es zum Vorwurf gegen die Frauen schuf, läßt sich setzen: wäre die weibliche Rede etwas so Tadelnswertes und von so geringer Glaubwürdigkeit, wie manche es vorgeben, so hätte es Unser Herr Jesu Christ nie zugelassen, daß ein so hohes Geheimnis wie das seiner überaus glorreichen Auferstehung als erstes von einer Frau verkündet worden wäre, wie er es selbst der gebenedeiten Magdalena befahl, der er als erster am Ostertag erschien und aufgab, sie möge es den Aposteln und Petrus erzählen und verkünden. Oh gesegneter Gott, gepriesen seist Du, weil Du – neben anderen unendlichen Gaben und Gnadenbeweisen, die Du dem weiblichen Geschlecht verliehen hast – eine Frau zur Überbringerin einer so wichtigen und würdigen Botschaft gemacht hast!“37

Hier klingt die Provokation an, welche die Überlieferung, dass die Ersterscheinung des Auferstandenen und der erste österliche Verkündigungsauftrag ausgerechnet einer Frau zuteil wurden, gegenüber der patriarchalen Ordnung bewirkte. „Wenn sie sich das wirklich vor Augen hielten, so sollte dies allen Neidern das Maul stopfen, edle Frau“, warf ich ein. „Aber ich lächele über eine Torheit, die manche Männer verbreiten, und ich entsinne mich, sie einige Male sogar von einigen närrischen Predigern verkündigen gehört zu haben. Sie sagen, Gott habe sich deswegen als erstes einer Frau offenbart, weil er nur allzu gut wußte, daß sie nicht würde schweigen können; er habe es in der Absicht getan, seine Auferstehung so schnell wie möglich verkündet zu sehen.“ Antwort: „Tochter, du hast recht daran getan, diejenigen Narren zu heißen, die solches verbreiten; denn sie begnügen sich nicht damit, die Frauen zu verunglimpfen, sondern schmähen sogar Jesus Christus, wenn sie behaupten, er habe etwas so Vollkommenes und Würdiges mittels einer menschlichen Schwäche enthüllen wollen. (...)“38

Der dritte Teil des Buches nimmt kurz Bezug auf Maria Magdalena als Zeugin der Kreuzigung, wobei Klischees hinsichtlich der Liebe von Frauen (die ebenfalls bereits in der patristischen Exegese stereotyp auftreten) abgewehrt werden (3.II):

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Andrea Taschl-Erber „(...) Oh über welch starken Glauben verfügten die Frauen, die den von allen seinen Aposteln verlassenen Gottessohn weder im Leben noch im Tode jemals verließen! Allem Anschein nach mißbilligte Gott keineswegs diese gewaltige weibliche Liebe und war mitnichten der Auffassung, diese sei, wie manche behaupten, ein schwächlich Ding; vielmehr versah er selbst das Herz der gebenedeiten Maria Magdalena und anderer Frauen mit dem Funken dieser starken Liebe, die er so sehr guthieß.“39

Doch welchen Stellenwert nimmt Maria von Magdala in der männlich geprägten Theologie der von den beiden Autorinnen umgrenzten Epoche ein? Gibt es auch Theologen, die sich gegenüber dem damaligen Mainstream abheben?

4. Maria von Magdala als apostola apostolorum 4.1 Literarische Belege in theologischen Schriften Ab dem 11./12. Jh. erweist sich die Bezeichnung Marias von Magdala als apostola apostolorum als fester Topos in der lateinischen Literatur.40 Die bis ins Spätmittelalter geläufige Kurzformel fasst frühere Aussagen zum Primat ihres Osterzeugnisses prägnant zusammen. Einen apostolischen Status Marias von Magdala belegt auch die – ansonsten nur bei Apostel- und Marienfesten übliche – Rezitation des Credos an ihrem Festtag (1955 bei einer Rubrikenreform gestrichen), der ab der Mitte des 12. Jh. zu einem der Hochfeste im Kirchenjahr avancierte. Häufig wird freilich gleichzeitig auf die peccatrix, die Sünderin aus Lk 7, Bezug genommen.41 So charakterisiert etwa Petrus Damiani (um 1006–1072) Maria von Magdala als jene Frau, die mit sieben Dämonen, das heißt mit sämtlichen Lastern überhäuft gewesen ist (illa mulier, quae septem daemoniis, id est universis vitiis cumulata fuit), welcher, da sie viel liebt, viel erlassen wird (cui multum amanti, multum dimittitur), die als Erste sieht, dass der Herr von den Toten aufersteht (quae prima videt Dominum a mortuis resurgentem), die Apostolin der Apostel (apostolorum apostola), die besonders Geliebte des Erlösers (dilecta proprie Salvatoris).42

Ähnlich stellt beispielsweise Petrus von Blois (ca. 1135–1204) der Sünderin die Apostolin gegenüber und begründet ihre Erstzeugenschaft mit ihrer Liebe und Reue:

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Ebd., 251. Gelegentlich wird der Titel bereits auf Augustinus zurückgeführt. Doch ein entsprechender Beleg taucht nur bei Pseudo-Augustinus Belgicus auf, wo auch schon die Gleichsetzung mit der Sünderin und der Schwester Martas vollzogen ist (serm. ad fratres in eremo commorantes 35; PL 40,1298). Dazu Jane SCHABERG, The Resurrection of Mary Magdalene: Legends, Apocrypha, and the Christian Testament (New York: Continuum, 2002), 89: „The counterweight of her sinfulness had made it safe to speak of her power and authority.“ Sermo 56 (PL 144,820b).

Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala

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Die also in der Stadt eine Sünderin gewesen war (Quae ergo fuerat in civitate peccatrix), machte sich, durch Liebe und Tränen (dilectione et lacrymis), nicht nur würdig, von den Sünden befreit zu werden (non solum liberari meruit a peccatis), sondern Apostolin und Verkünderin zu werden (sed fieri apostola et evangelista), ja (was bedeutender ist), Apostolin der Apostel (imo [quod majus est], apostolorum apostola), indem sie eilte, um den Aposteln die Auferstehung des Herrn anzukündigen (festinans ad annuntiandum apostolis resurrectionem Domini) ...43

Die Magdalenenpredigt des süddeutschen Einsiedlers Honorius Augustodunensis (um 1090–1150/1160), De sancta Maria Magdalena, welche in seiner verbreiteten Predigtsammlung Speculum ecclesiae enthalten ist, rückt die Sünderin in den Vordergrund. Entsprechend wird in der Rezeptionslinie der Hom. 33 von Gregor dem Großen die Szene aus Lk 7 breit entfaltet. Im Resümee der österlichen Rolle Marias von Magdala wird der apostola-Titel durch die klassische Eva-Typologie untergraben: Auch als der Herr für uns am Kreuz hing (Domino quoque pro nobis in cruce pendente) und die Herde der Jünger wegen des Todes des Hirten in verschiedene Richtungen floh (et discipulorum grege perempto pastore in diversa fugiente), stand sie selbst unerschrocken da (ipsa imperterrita astabat) und suchte den im Grab Beigesetzten mit Aromaölen auf (atque in sepulchro positum cum aromatibus visitabat). Daher auch machte sie sich würdig, einen Engel zu sehen (Unde et angelum videre meruit), und als der Herr auferstand, erschien er ihr zuerst von allen öffentlich (Dominusque resurgens primo omnium ei publice apparuit) und schickte sie als Apostolin zu seinen Aposteln (eamque apostolam apostolis suis misit), dass so, wie die erste Frau dem Mann den Tod überlieferte, jetzt eine Frau den Männern das ewige Leben verkündete (ut sicut prima femina mortem viro traderet, ita nunc femina perhennem vitam viris nunciaret).44

Hingegen scheint die Magdalenenrezeption von Petrus Abaelardus (1079–1142) deutliche Korrekturen an den gängigen patriarchalen Theologumena vorzunehmen.45 In seinem Sermo 13, In die Paschae, beherrscht eine weitaus positivere Typologie als die verbreitete Klassifikation Marias von Magdala als Neue Eva den ersten Teil der Rede, insofern er jene mit Maria prophetissa, soror Aaron (PL 178,484c; Zitat von Ex 15,20f.) vergleicht. Der typologische Bezug zwischen der alttestamentlichen Prophetin Mirjam und ihrer neutestamentlichen Namensverwandten liegt in ihrem öffentlichen prophetischen Verkündigen göttlicher Offenbarung. Dabei hebt Abaelard ausdrücklich die Priorität der Frauen in der Ostererfahrung hervor, ausgehend von der explizit betonten Erstzeugenschaft der Magdalenerin: Apostolin der Apostel aber ist sie genannt worden, das heißt Gesandte der Gesandten (Apostolorum autem apostola dicta est, hoc est legatorum legata): weil der Herr sie als 43

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Ep. 234 (PL 207,537a). Weitere Belege (z. B. Hugo I. von Cluny, Marbod von Rennes, Petrus Comestor, Petrus von Celle, Innozenz III. oder Katharina von Siena etc.) finden sich bei TASCHL-ERBER, Maria von Magdala, 624f.; SAXER, Culte, 344f.; JANSEN, Making, 62– 65.80.271–277 (zur Protophanie ebd., 58f.). PL 172,981a–b. Es erhebt sich die Frage, inwieweit seine Perspektive auch dem Einfluss Héloïses (siehe den Beitrag von Constant J. MEWS und Carmel POSA in diesem Band) zuzurechnen ist.

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Andrea Taschl-Erber Erste zu den Aposteln sandte (quod eam Dominus ad apostolos primum direxerit), damit sie ihnen die Freude der Auferstehung verkündige (ut eis resurrectionis gaudium nuntiaret). ... und diese sagt beim Verkündigen als Erste vorher, was sie als Erste gesehen hatte (et haec prima nuntiando praecinit quod prima viderat). Nach ihr selbst aber gelangte diese Freude der Auferstehung zu den übrigen Frauen, bevor sie zu den Aposteln oder jedweden beliebigen Männern gelangte (Post ipsam vero, ad caeteras feminas hoc gaudium resurrectionis priusquam ad apostolos vel quoslibet viros pervenit).46

Eine weitere Provokation gegenüber den etablierten Lehrmeinungen liegt in Abaelards differierender Bezugnahme auf die Autorität des Paulus im Kontext der Thematisierung des Osterapostolats Marias von Magdala vor. Während unter Berufung auf 1 Kor 14,34, wonach Frauen in den gemeindlichen Versammlungen schweigen und sich unterordnen sollen, die Verkündigung der Osterzeuginnen häufig heruntergespielt wurde, rekurriert jener am Ende der Rede bei einem Vergleich von Phönix und Christus auf Gal 3,28: Wer nämlich ist so einzigartig und an Würde hervorragend wie Christus (Quis enim unicus et dignitate singularis ita ut Christus)? In diesem ist auch weder Männliches noch eine Frau, wie der Apostel sagt (In quo quoque nec masculum, nec feminam Apostolus esse dicit): weil im Leib Christi, der die Kirche ist, die Verschiedenheit der Geschlechter keine Würde bewirkt (quia in Christi corpore, quod est Ecclesia, nullam dignitatem diversitas sexuum operatur); nicht die Beschaffenheit der Geschlechter, sondern die der Verdienste beachtet Christus (nec sexuum qualitatem, sed meritorum Christus attendit).47

Auch in der byzantinischen Literatur lässt sich der Aposteltitel für Maria von Magdala belegen. Nach Theophanes Kerameus (12. Jh.) wurde sie „den Aposteln Apostel“ (4@#Q$U !"#$ %&"'!()"*$ %&('!")"+; Hom. 30); er verwendet – wie bei solchen Funktionsbezeichnungen im Griechischen üblich – den maskulinen Begriff. Dabei problematisiert er ihr Geschlecht, an die klassischen Stereotypen anknüpfend: ... und obwohl sie weiblich war (X$[ Q\+^ *_#$), transzendierte sie die Natur mit männlicher Sinnesart ('`> j{#U> %$|\+Q=> }>~|=€• j|*>ƒ…$'U).48

Eine ähnliche Aussage begegnet in Hom. 31, auf die Osterbotinnen im Plural bezogen: ... und sie werden den Aposteln Apostel (X$[ *>'$U '*†- }%*#'&+*U- }%&#'*+*U) und den Verkündern Verkünder (X$[ '*†- Xƒ|^‡U Xƒ|^X=-), und sie überwinden die Natur (X$[ >UXˆ#U '`> j{#U>) und zeigen sich den Männern überlegen (X$[ 'ˆ> }>~|ˆ> ‰%@|'=|$U ~=€X>^>'$U) ...49

46

47 48 49

PL 178,485b. Auf den apostola apostolorum-Titel geht Abaelard auch in Ep. 7 kurz ein (siehe PL 178,246b). PL 178,488c–d. PG 132,632b. PG 132,644c.

Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala

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Des Weiteren nennt Theophanes Kerameus Maria von Magdala in Hom. 30 „Jüngerin des Erlösers“ ('*Š ‹Œ'\|*- …$Qƒ'|U$) sowie „Verkünderin der Auferstehung“ ('\}>$#'•#=Œ- =Ž$*…*Q=#€$) noch nicht existiert hätte, weiters theologisch, indem er die geläufige Gegenüberstellung mit Eva ins Spiel bringt, und beruft sich schließlich auf die von Paulus selbst als Lehrerin und Predigerin des Glaubens (~U~•#X$+*> X$[ Xƒ|^X$ %€#'=Œ-) bestellte Thekla.51 So zeigt sich ein „breites Spektrum divergierender theologischer Lehrmeinungen“52 in der byzantinischen Tradition bezüglich des apostolischen Engagements von Frauen.

4.2 Ikonographische Beispiele für die Verkünderin Im 11. und 12. Jh. entstehen neben dem dominanten Noli me tangere-Bildtypus53 auch Darstellungen, die an Joh 20,18 anknüpfen und Maria Magdalena in ihrer Rolle als apostola apostolorum porträtieren. Beispielsweise lässt eine Miniatur des Evangeliars Heinrichs des Löwen (2. Hälfte 12. Jh.; Abb. 1)54 Maria von Magdala dynamisch vor sieben Jünger treten, welche ihr fast alle die Köpfe zuwenden, um ihr zuzuhören. Dabei wirkt die Erdscholle, auf der sie steht, wie ein Podest. Das ihr zugewiesene breite Bildfeld, das sie in voller Höhe einnimmt, Petrus als Anführer der Jüngergruppe direkt gegenüber, unterstreicht ihre Autorität, die im verkündigten Wort liegt. In den Medaillons, die als Hintergrund für die Osterbotin fungieren, sind Adler zu erkennen, welche als Himmelfahrtssymbol auf Jesu Botschaft in Joh 20,17 hinweisen. Wie für diese Stilepoche typisch, wird Maria von Magdala mit Kopfbedeckung, in antikisierendem

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PG 132,632c. PG 132,645a–b. Hier klingt die Bedeutung der Thekla-Überlieferung in der Ostkirche an. Eva Maria SYNEK, Heilige Frauen der frühen Christenheit: Zu den Frauenbildern in hagiographischen Texten des christlichen Ostens (Das östliche Christentum 43; Würzburg: Augustinus-Verlag, 1994), 206. Die Ikonographie der Begegnungsszene Marias von Magdala mit dem Auferstandenen wird vor allem durch Joh 20,17 bestimmt, wobei die – unpräzise, aber wirkmächtige – VulgataÜbersetzung der ersten Worte Jesu noli me tangere („berühre mich nicht!“) diesem Bildtyp den Namen gibt. Zu einer detaillierten exegetischen Auseinandersetzung mit dem Vers siehe etwa TASCHL-ERBER, „Recognition“. Das Evangeliar wurde im Auftrag des Herzogs in der Benediktinerabtei Helmarshausen gefertigt und war als Stiftung für den Braunschweiger Dom bestimmt.

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langem Kleid und Mantel (hier mit kostbaren Verbrämungen an den Säumen) dargestellt.55 Deutlich tritt der Einfluss der Osterliturgie zu Tage: Die Spruchbänder geben einen Teil der Ostersequenz Victimae paschali laudes wieder. So besagt die Banderole, die Petrus mit zwei anderen Jüngern im Vordergrund hält und auf deren Inhalt der zum Sprechgestus ausgestreckte Zeigefinger des äußeren Jüngers deutet: Dic nobis Maria, Quid vidisti in via?

Sag uns, Maria, was hast du auf dem Weg gesehen?

Maria antwortet: Sepulcrum Christi viventis Et gloriam vidi resurgentis ...56

Das Grab Christi, der lebt, und die Herrlichkeit des Auferstandenen sah ich ...

Die untere Bildreihe blendet zu den vorhergehenden Szenen in Joh 20 zurück, der Begegnung mit dem Auferstandenen (V14–17) und dem Dialog mit den Engeln (V13), die hier auf einem offenen Sarkophag sitzen (zu ihrer Position vgl. V12; der aufgerollte Stoffballen zwischen ihnen erinnert wiederum an die konkurrierende Grabesszenerie, welche Petrus und „der Jünger, den Jesus liebte“ in V5–7 vorgefunden haben).57 Wenn die Engel Maria, die sich die linke Hand vor das traurige Gesicht hält (in der Rechten trägt sie ihr Spruchband), fragen: „Frau, was weinst du?“ (Mulier, quid ploras?), wird auch schon Jesu daran anschließende Frage aus Joh 20,15 aufgenommen: „Wen suchst du?“ (Quem queris?). Maria antwortet gemäß Joh 20,13 (vgl. auch V2): „Weil sie meinen Herrn weggenommen haben, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (Quia tulerunt dominum meum et nescio ubi posuerunt eum). Links davon artikuliert sie dem Auferstandenen gegenüber noch einmal dasselbe Missverständnis (vgl. V15): „Herr, wenn du ihn weggenommen hast, sollst du mir sagen, wo du ihn hingelegt hast“ (Domine, si tu sustulisti eum, dicito mihi, ubi posuisti eum). Freilich verweist ihre Haltung der Proskynese (vgl. dazu die Szene in Mt 28,9) schon auf das spätere Erkennen Jesu (siehe Joh 20,16). Aus V17 wird nicht das noli me tangere-Motiv zitiert, sondern sogleich der Auftrag des Auferstandenen: „Geh zu meinen Brüdern (und Schwestern) und sag ihnen: Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater“ (Vade ad fratres meos et dic eis: Ascendo ad patrem meum et patrem vestrum). Die beiden unteren Eckmedaillons mit der Gegenüberstellung der „Braut Kirche“ (Ecclesia Sponsa) und der Synagoge (oben: David – Salomo) verbildlichen, wie auch die Zitate aus dem Hohenlied zeigen, die seit Hippolyt geläufige typologische Deutung der Osterbotin. 55 56 57

Zudem trägt sie in allen mir bekannten Miniaturen im Unterschied zu den Jüngern Schuhe. Marias Rede findet sich in abgekürzter Schreibweise gemäß der üblichen Praxis. Dem entspricht auch die Fortsetzung von Marias Osterbotschaft in der Sequenz Victimae paschali laudes, welche nach der tridentinischen Reform (bis heute) beibehalten wurde: ... Angelicos testes, / Sudarium et vestes. / Surrexit Christus spes mea, / Praecedet suos in Galilaeam. („... die Engel als Zeugen, / das Schweißtuch und die Binden. / Auferstanden ist Christus, meine Hoffnung, / Er wird den Seinen nach Galiläa vorangehen.“) Auf das Zeugnis der Apostolin folgt das österliche Glaubensbekenntnis ihres Auditoriums.

Apostolin und Sünderin: Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala

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Abb. 1 Maria Magdalena als apostola apostolorum, Miniatur aus dem Evangeliar Heinrichs des Löwen, Helmarshausen, 2. Hälfte 12. Jh. Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek. Cod. Guelf. 105 Noviss. 2°, fol. 171r. (Bildnachweis: Herzog August Bibliothek)

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Abb. 2 Florentinischer Magdalenenmeister, „Die Heilige Maria Magdalena mit acht Szenen aus ihrem Leben“, 2. Hälfte 13. Jh. Auf Holz, 164 x 76 cm. Florenz: Galleria dell’ Accademia. Inventarnummer 8466. (Foto: akg-images / Rabatti – Domingie)

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Ebenso tritt Maria von Magdala beispielsweise in einer Illustration eines Psalters aus der englischen Abtei St. Albans (1. Hälfte 12. Jh.) als Lehrerin der Elf auf.58 Im Ingeborg-Psalter (um 1200)59 verkündet sie den (hier sitzenden) Zwölf vidi dominus, „ich habe den Herrn gesehen“ (vgl. Joh 20,18), wie ein kleines Spruchband besagt.60 Im Spätmittelalter tauchen ferner Darstellungen der Missionspredigt Maria Magdalenas gemäß der Legendenüberlieferung auf: An die Erzählung von der Meerfahrt der Heiligen mit glücklicher Landung bei Marseille hatte sich ihre vita apostolica geknüpft, wo jene ihren apostolischen Auftrag in der Evangelisierung der Provence fortsetzt. Darstellungen der Predigerin finden sich etwa in Magdalenenzyklen, welche die Szenen aus den Evangelien (vor allem Lk 7; Joh 11; Joh 20) mit denen des südfranzösischen Legendenkreises erweitern,61 wie die florentinische Magdalenentafel eines anonymen Meisters (2. Hälfte 13. Jh.; Abb. 2). Der Redegestus der Missionarin (in der zweiten Bildreihe rechts), die vor dem Hintergrund einer Stadtarchitektur Frauen und Männer den Glauben lehrt, erscheint dabei parallel zu dem des Auferstandenen in der links befindlichen Noli me tangere-Szene. Zum typischen Bildprogramm der Magdalenenvita gehören jedoch auch Motive der vita eremitica der Heiligen, die sich nach der Missionierung der Provence in eine Felsgrotte zu einem 30-jährigen asketischen Bußleben zurückzieht und schließlich von einem Priester entdeckt wird. Insbesondere die Elevatio-Szene, die Erhebung der Büßerin im Haarkleid62 (ein Motivtransfer von der Legende der heiligen Agnes) durch Engel zu den sieben Gebetszeiten, stellt in der spätmittelalterlichen Ikonographie ein beliebtes Motiv dar. Außerdem zeigt die Magdalenentafel die wunderbare Speisung durch Engel, die letzte Kommunion und das Begräbnis der Heiligen. Die große frontale Ganzfigur präsentiert die haarummantelte Büßerin, deren Schriftrolle sie als Typos der SünderInnen erweist: Ne despe(re)tis vos qui peccare soletis exemploque meo vos reparate Deo. 58

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Verzweifelt nicht, ihr, die ihr zu sündigen pflegt, und nach meinem Beispiel versöhnt euch mit Gott!

Der Albani-Psalter entstand vermutlich im Auftrag der Christina von Markyate, einer Einsiedlerin, nach 1145 erste Priorin von Markyate. Der Psalter wurde für Ingeborg von Dänemark, die zweite Ehefrau des französischen Königs Philipp II. August, angefertigt. Ähnliche Miniaturen finden sich außerdem etwa im Queen Mary Psalter (British Library, London) sowie in einem Manuskript der St. John’s College Library, Cambridge (beide aus dem frühen 14. Jh.). Auch im Magdalenenfenster (Anfang 13. Jh.) der Kathedrale Notre Dame in Chartres tritt Maria von Magdala als apostola apostolorum auf, ebenso im Passionsfenster unter der Westrose (12. Jh., noch aus der romanischen Kathedrale). Erste Ansätze einer Verbildlichung der Magdalenenvita tauchen im 12. Jh. auf, ab dem 13. Jh. kommen Szenen aus der Legendenüberlieferung hinzu. Ikonographische Belege zur predigenden Maria Magdalena (häufig auch auf einer Kanzel) bietet JANSEN, Making, 67– 75. Der im 13. Jh. durch franziskanische Spiritualität in Italien aufgekommene Bildtyp der eremitischen Büßerin verändert sich ab dem 15./16. Jh. in Richtung teilweiser bis völliger Nacktheit und wird ab der Renaissance zunehmend erotisch formuliert.

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5. Wichtige Beispiele lateinischer und griechischer Hagiographie 5.1 Jacobus de Voragine Ihren bedeutendsten Niederschlag fand die damalige Legendenentwicklung in der Legenda aurea (1263–1273) des Dominikaners und späteren Erzbischofs von Genua Jacobus de Voragine (ca. 1230–1298). In dieser weit verbreiteten mittelalterlichen Legendensammlung wurden die unterschiedlichen Elemente der Magdalenenlegenden mit umfassender Quellenkenntnis in einer bald kanonisch gewordenen Vita zusammengefasst, die als allgemeines Traditionsgut den Predigten, den lateinischen und volkssprachlichen63 Dichtungen wie den großen Bildzyklen zugrunde lag. Der Hauptfokus richtet sich hier auf die „nachbiblischen“ Ereignisse, breiten Raum erhält dabei die (etwa ab 1200 anzusetzende) marsilische Episode mit der Bekehrung des Fürstenpaares und der späteren wunderbaren Rettung der auf Maria Magdalenas Fürbitte hin schwangeren Fürstin und ihres Kindes. Die erste Predigt der apostola apostolorum in Marseille schildert die Legenda aurea folgendermaßen: Da nun Maria Magdalena sah, wie das Volk sich zu dem Tempel sammelte, den Abgöttern zu opfern, stund sie auf mit heiterem Angesicht und riet ihnen mit weislichen Worten von dem Dienst der Abgötter und predigte ihnen Christum mit großer Zuversicht. Da verwunderte sich alles Volk der Schönheit ihres Angesichts und der Süßigkeit ihrer Rede. Das war kein Wunder, daß der Mund, der den Füßen unsres Herrn so süße und innige Küsse hat gegeben, besser denn die andern das Wort Gottes mochte predigen. 64

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Für den deutschsprachigen Raum verweise ich etwa auf das mittelhochdeutsche Passional (um 1300), wo sich die Magdalenenvita im zweiten Teil, genannt „der apostelen buoch“ bzw. „der boten buoch“, findet. Der Saelden Hort („Des Glückes/Heiles Hort“, um 1300), auch als „alemannische Magdalenenlegende“ bekannt, motiviert Maria Magdalenas weltliches Leben dadurch, dass sie auf der Hochzeit zu Kana als Braut von Johannes um Jesu willen verlassen wird (von Jacobus de Voragine abgelehnt). Nach Jesu Himmelfahrt verkaufen die betanischen Geschwister den gesamten Familienbesitz (wie in der Legenda aurea), um „als zwelf botten und zwelf bottin“, als Apostel und Apostolinnen, zu leben (vgl. die Praxis der Predigerorden; Textausgabe von Heinrich ADRIAN, Der Saelden Hort: Alemannisches Gedicht vom Leben Jesu, Johannes des Täufers und der Magdalena [DTMA 26; Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1927], 190; ähnlich im Passional). Zum umfangreichen deutschsprachigen Legendenmaterial siehe Madeleine BOXLER, „Ich bin ein Predigerin und Appostlorin“: Die deutschen Maria-Magdalena-Legenden des Mittelalters (1300–1550): Untersuchungen und Texte (DLAS 22; Bern: Lang, 1996). Vgl. ferner MAISCH, Maria Magdalena, 57–59. Zitiert aus Richard BENZ, Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine (Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 101984), 473. Für eine rezentere Übersetzung der Legenda aurea siehe William Granger RYAN, Golden Legend (2 Bde; Priceton: Princeton University Press, 1993).

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5.2 (Pseudo-)Hrabanus Maurus Interessanter erscheint jedoch eine Magdalenenvita65, die unter dem Namen des Abtes Hrabanus Maurus von Fulda (um 780–856) überliefert ist, aufgrund von stilistischen und inhaltlichen Indizien allerdings weit später (12. Jh.) datiert wird.66 Im Unterschied zur Legenda aurea ist die umfangreiche Vita nicht als Volksbuch konzipiert, sondern betreibt in höherem Maße Theologie. Etliche der populären Erzählelemente fehlen (noch?), beispielsweise die wunderbare Überhöhung der Meerfahrt (in einem steuerlosen Boot). Gegenüber der vita eremitica, die sich in den hagiographischen Sammelwerken im Allgemeinen an die Missionstätigkeit Maria Magdalenas anschließt,67 äußert sich (Pseudo-)Hrabanus kritisch. Im Vordergrund steht hier die vita apostolica, welche aber eine asketisch-kontemplative Dimension erhält. Dass die Heilige von Engeln in den Himmel erhoben und mit himmlischer Speise gestärkt worden sei, bezeichnet er als ein apocryphum, lässt aber eine „mystische“ Verstehensweise gelten.68 Dagegen erklärt er die übrige Erzählüberlieferung, die der Legende der Maria Aegyptiaca entliehen sei, für blanke Erfindung. Die ausführliche Darstellung der biblischen Ereignisse rückt neben Jesus Maria von Magdala ins Zentrum und bietet neben der harmonisierenden Darlegung des Evangelienstoffs theologische Exkurse. So stellt etwa eine Reflexion über die dreifache Salbung der Füße (vgl. Lk 7; Joh 12), des Hauptes (Mk 14; Mt 26) und des Leichnams Jesu (Mk 16,1; Lk 24,1) Maria Magdalena als nachzuahmendes Beispiel heraus, als Typos der (weiblich konnotierten) Seele, die sich in verschiedenen Stufen mystisch Gott annähert.69 Die zum Teil mystische Sprache bedient sich auch erotischer Bilder, der Braut-Typologie entsprechend. In der breiten Wiedergabe der verschiedenen Ostererzählungen der Evangelien, die dadurch ein besonderes Gewicht erhalten, unterstreicht (Pseudo-)Hrabanus mehrfach Erstzeugenschaft und Beauftragung Marias von Magdala.70 Sie erhält die Ersterscheinung des Auferstandenen (während die konkurrierende Petrustradition – nach den beiden Marien in Mt 28 – auf den dritten Platz verwiesen wird),71 ist die erste Glaubende (gegenüber den beiden Jüngern, die bloß Marias Worte bezüglich des Grabbefunds bestätigt sehen; diff. Joh 20,8) und erste Verkünderin des Osterevangeliums. Wiederholt 65

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De vita beatae Mariae Magdalenae et sororis ejus sanctae Marthae (PL 112,1431–1508). Eine Übersetzung bietet David MYCOFF, The Life of Saint Mary Magdalen and Her Sister Martha (CistSS 108; Kalamazoo: Cistercian Publications, 1989). Das Werk wird Hrabanus auch „erst von spätmittelalterlichen Handschriften bzw. Werkverzeichnissen zugeschrieben“ (GÖSSMANN, „Maria Magdalena“, 57). Vgl. auch HANSEL, Maria-Magdalena-Legende, 17.111 (Anm. 136). Anders etwa Der Saelden Hort. PL 112,1496c. Siehe bes. PL 112,1480b–1481b. Im Blick auf Joh 20 zeigen sich in der Rezeptionslinie Augustinus – Gregor – Odo die üblichen Topoi, beispielsweise die allegorische Deutung des Gärtners, der in Marias Herzen den Samen des Glaubens sät, die Erklärungen zu V17 oder die Eva-Typologie. Vgl. PL 112,1477b.

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wird sie als apostola bezeichnet oder erfolgt ein ausdrücklicher Rekurs auf ihr Apostolat.72 Schließlich resümiert (Pseudo-)Hrabanus: Mit vielfacher Auszeichnung göttlicher Würde ist sie nämlich bereichert worden, indem sie allein mit der ersten Erscheinung gerühmt worden ist; indem sie durch die Ehre des Apostolats erhöht worden ist; indem sie als Verkünderin der Auferstehung Christi eingesetzt worden ist; indem sie als Prophetin der Himmelfahrt zu den Aposteln bestimmt worden ist. 73

Wie bei Honorius74 wird Maria Magdalena auch ein Platz bei der Himmelfahrt Jesu (mit Verkündigungsauftrag) und beim Pfingstereignis zugesprochen. Hier schließen sich die in der Apostelgeschichte (bes. Apg 1–8) berichteten Ereignisse an. Nach der Aufteilung der Missionsgebiete begleitet sie Maximinus in den Westen, um in der Evangelisierung der Provence ihre Aufgabe als Apostolin fortzusetzen: Es ist also nötig (Oportet igitur), dass sie, wie sie als Apostolin der Auferstehung Christi bestimmt worden ist zu den Aposteln (ut sicut anastasis Christi apostola destinata est ad apostolos) und als Prophetin seiner Himmelfahrt (et ascenionis eius prophetissa), so auch Verkünderin der Glaubenden auf der ganzen Welt werde (sic et credentium in toto orbe fieret evangelista).75

Ihre Predigt- und Wundertätigkeit in Aix erhält einigen Raum.76 Vor ihrem Tod erscheint Jesus seiner sehnsuchtsvollen „besonderen Freundin“ (specialis amica)77 mit einer Schar von Engeln. Maximinus bestattet ihren Leichnam und lässt eine Basilika über ihrem Grab bauen. Indessen sieht Marta Engelschöre die Seele ihrer Schwester in den Himmel tragen; bevor sie selbst den ersehnten Tod erleidet, erscheint ihr die Apostolin. Maximinus verfügt, dass er neben Maria Magdalena bestattet werde. Die Vita schließt mit dem Hinweis, dass der heilige Ort des nach ihm benannten Klosters (SaintMaximin) von keinem König oder Fürsten mit Waffen betreten werden solle – aber auch von keiner Frau. Diese Notiz verdeutlicht, dass Maria von Magdala in der Vita als Symbol- und Identifikationsfigur in einem männlich-monastischen Kontext dient. Der Fokus liegt stets auf ihrem Beispiel der Umkehr (auf das sie bei ihrer Predigt auch selbst verweist),78 ihrer Liebe,79 der Kontemplation.80 Dennoch bleibt ihre Porträtierung als Apostolin, Prophetin und Predigerin bemerkenswert.

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Siehe PL 112,1474b.1475a.1476b (wie in 1475b ist zudem von ihren coapostolis, „Apostelkollegen“, die Rede).1š79c; in späteren Kontexten 1š85b.1š88a.1š95c.1502c.1503c. PL 112,1479c. Multiplici enim divinae dignationis praemio ditata est, dum prima apparitione sola glorificata est; dum apostolatus honore sublimata est; dum anastasis Christi evangelista institua est; dum prophetissa ascensionis ad apostolos destinata est. Vgl. PL 172,981b. PL 112,1495b–c. Siehe PL 112,1494–1496. Siehe PL 112,1488a.1502c. Vgl. PL 112,1495a. Vgl. bereits die Predigten Gregors und Odos sowie die Evangelienharmonie Otfrieds von Weißenburg (um 790–875). Das erste Evangelienzitat im Prolog ist Joh 11,5.

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5.3 Nikephoros Kallistos Xanthopoulos Im Vergleich zum umfangreichen hagiographischen lateinischen Material existiert in der Bibliotheca Hagiographica Graeca (BHG) eine einzige, ausführliche Magdalenenvita, der Lobpreis „auf die heilige und apostelgleiche Salbenträgerin Maria Magdalena“81 von Nikephoros Kallistos Xanthopoulos (ca. 1256–1335). Wenngleich die „ehrwürdige Jüngerin des Logos“ (#=…>` '*Š ›& œ X$[ "#$%&#'*+*> …^|*j&|*> •$|€$> '`> •$ƒ> (BHG 1162; siehe PG 147,539–576). PG 147,576a. ... '${'ž ~*'@*> %•>'Œ- X$[ 'Ÿ 'ˆ> }%*#'&+Œ> (PG 147,541c). Dazu SYNEK, Frauen, 60: „Das Loblied auf die, die – so Xanthopoulos – alle heiligen Frauen in irgendeiner Weise übertroffen hat, bezeugt besonders schön, daß es Theologen gab, die trotz der Bedenken ihrer Kollegen nicht aufhörten, am Ärgernis der ‚apostolischen Frau‘ aus ‚apostolischer Zeit‘, die zur wesentlichen Begründerin der ‚apostolischen Tradition‘ geworden war, festzuhalten.“ Anne JENSEN, „Maria von Magdala – Traditionen der frühen Christenheit“, in Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung (hg. v. Dietmar Bader; Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg; München: Schnell & Steiner, 1990), 33–50; š6, erkennt in der „Verbindung zur Gottesmutter ... den Versuch ..., zwei in Konkurrenz stehende Heiligenkulte miteinander zu versöhnen“. Ähnlich scheint

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gezeichnet. Die knappen biblischen Hinweise über ihre Nachfolge werden ausgemalt, indem sie in verschiedene Evangelienszenen eingetragen wird (so besucht sie etwa Maria und Marta und ist Zeugin der Auferweckung des Lazarus). Ihre Zeugenschaft bei der Passion wird ausgestaltet, indem sie mit dem Gekreuzigten ein Gespräch führt und ihn dabei auch auffordert, seiner Mutter und „Johannes“ Trost zuzusprechen. Später interveniert sie bei Josef von Arimathäa wegen des Begräbnisses. Mit Jesu Mutter beweint sie seinen Leichnam, wobei sie jener die Liebkosung des Gesichts überlässt. Die Osterevangelien harmonisiert Xanthopoulos, indem er Maria Magdalena mehrmals zum Grab kommen lässt und verschiedene Begegnungen mit Jesus erzählt. Deutlich wird jedoch ihre Rolle als Erstzeugin des Auferstandenen und apostola apostolorum hervorgehoben. Außerdem wird sie Zeugin der von ihr zuvor verkündeten Himmelfahrt und empfängt am Pfingsttag gemeinsam mit der Mutter Jesu und den (anderen) Aposteln die verheißenen Geistesgaben. Jesu Missionsauftrag entsprechend, macht sie sich wie alle anderen Apostel auf den Weg, um auf ausgedehnten Reisen das Evangelium zu verkünden. Dass sie in Rom bei Kaiser Tiberius wegen des ungerechten Todes Jesu Klage gegen Pilatus erhebt, erinnert an den apokryphen Brief des Tiberius an Pilatus. Wenn sie als Missionarin unter anderem auch nach Gallien kommt (außerdem nach Phönizien, Syrien, Ägypten und Pamphylien), wird freilich mit keinem Wort die sich seit dem 11. Jh. entwickelnde südfranzösische Legendenüberlieferung erwähnt. Vielmehr endet die Vita entsprechend der ostkirchlichen Tradition (ab dem 6. Jh.), die das Grab Marias von Magdala in Ephesus lokalisiert:85 Nach ihrer Heimkehr nach Palästina geht sie zurück nach Ephesus, wo sie Johannes und die ihm anvertraute Mutter Jesu verlassen hat. In dieser Gegend stirbt sie nach einer kurzen Krankheit und wird von Johannes und Maria begraben. Von dort werden ihre Reliquien später nach Konstantinopel überführt.86

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(Pseudo-)Hrabanus auf einen Ausgleich bedacht, wenn er die gegenseitige Zuneigung nach Jesu Himmelfahrt schildert; in PL 112,485b erhält die Himmelskönigin den Vorrang. JENSEN, „Maria von Magdala“, šš–46, stellt eine anonyme griechische Vita vor, welche die südfranzösische Legendenüberlieferung mit der Ephesustradition harmonisiert: Nach Ostern klagt Maria Magdalena zunächst Pilatus in Rom an, schließt sich nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem Petrus an, der sie später einem gewissen Maximos anvertraut; hier knüpfen die in der Legenda aurea berichteten Ereignisse an. Als der marsilische Fürst nach Rom reist, erhält er von Petrus die Empfehlung, sich von Maria Magdalena taufen zu lassen. Diese tauft ihn und sein Haus sowie alle BewohnerInnen von Marseille, baut Kirchen, verwaltet die Stadt, lehrt und predigt auch in der Umgebung. Statt der vita eremitica folgt jedoch ihr Lebensende in Ephesus. 899 ließ Kaiser Leo VI. die in Ephesus verehrten sterblichen Überreste Marias von Magdala (mit denen des Lazarus aus Kition [Larnaca] auf Zypern) nach Konstantinopel überführen.

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6. Von der heiligen Apostolin zur erotischen Sünderin Die mittelalterlichen Zeugnisse dokumentieren eine vielschichtige, keineswegs einheitliche Rezeption Marias von Magdala. Die beliebte Heilige fungiert nicht mehr bloß als heilsgeschichtlicher Typos, sondern erhält eine individuelle Biographie und wird zur mächtigen Fürsprecherin und Wunder wirkenden Helferin. Einzelne theologische Lehrmeinungen sowie manche Elemente der Legendenüberlieferung treten durchaus in Spannung zu restriktiveren kanonistischen Texten und dem etablierten kirchlichen Amtsverständnis.87 Während im Zuge der Reformbewegungen des Hochmittelalters das Apostolat Marias von Magdala (trotz des Lehr- und Predigtverbots für Frauen)88 akzentuiert wird, überlagert jedoch gleichzeitig das Bild der bußfertigen Sünderin das Gedächtnis der Apostolin und untergräbt ihre Autorität. Mehrfach wird die Heilige im Sinne (kirchen-)politischer Ziele und Legitimationsinteressen instrumentalisiert, auch um gegenüber als häretisch bekämpften Strömungen das aufgebrochene Protest- und Erneuerungspotential in „orthodoxe“ Bahnen zu lenken.89 Mit dem Anbruch der Reformation und des Humanismus endet die Epoche der großen Heiligenverehrung. Der Zeitgeist ändert sich, die Reliquienstreitigkeiten machten jegliche Ansprüche unglaubwürdig. Mit der Kritik an der allegorischen Schriftauslegung schwindet die typologische Dimension in der Magdalenenfigur. Zweifel an der Mischgestalt und der Echtheit der provenzalischen Legenden werden laut.90 Ab der Renaissance verliert Maria Magdalena ihren Heiligenschein. Die in der mittelalterlichen Mystik verwendeten erotischen Bilder werden zunehmend ihrer Metaphorik entkleidet, die Darstellung der Entblößtheit büßt ihre Unschuld ein. Wie ein Blick auf das dominierende Bildprogramm zeigt, richtet sich der Fokus nun statt auf die große Heilige als Vorbild und Patronin aller Sündigenden und auf Erlösung Hoffenden auf die liebende, 87 88

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Zu den diversen Lösungsversuchen der Prediger siehe JANSEN, Making, 54–66. Breites Echo fand Ambrosius, der in Exp. Luc. 10,155–157.165 vom noli me tangere-Motiv in Joh 20,17 den Ausschluss der Frauen vom „Verkündigungsamt“ ableitete. Auch für WaldenserInnen und KatharerInnen diente Maria Magdalena als Identifikationsfigur: Waldensische (und andere) Predigerinnen beriefen sich auf sie, KatharerInnen rezipierten gnostische Vorstellungen der Partnerin Jesu. Einen interessanten Vergleich zum frühchristlichen Konflikt zwischen gnostisch-charismatischen Kreisen und petrinisch-hierarchischer Kirche zieht JANSEN, Making, 85, wenn sie Maria Magdalenas Funktion als (weibliche) Symbolfigur der in den neuen Orden kirchlich kanalisierten Reformbestrebungen analysiert: „Symbolic disempowerment allowed the mendicants to construct an identity, gendered female, which was in and of itself a powerful critique of the wealthy and masculinized institutional Church represented by Saint Peter.“ Bereits in einer Kopenhagener Handschrift von 1431 scheint im Zusammenhang mit der im Spätmittelalter innerhalb der niederdeutschen Sprachgrenze verbreiteten Legende von der Bekehrung Maria Magdalenas die Notiz auf, dass „einige“ deren Sündhaftigkeit in Frage stellen (vgl. HANSEL, Maria-Magdalena-Legende, 114f.). Die erste exegetische Kontroverse provozierte Jacques Lefèvre d’Étaples (um 1450–1536) an der Sorbonne, seine Werke (De Maria Magdalena et triduo Christi disceptatio 1517/18, De tribus et unica Magdalena 1519) kamen auf den Index.

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verführerisch schöne Sünderin, Projektionsfigur für sexuelle Phantasien und Ängste. In der unterwürfigen Haltung reuiger Demut kommt vermehrt eine erotische Komponente ins Spiel. Die Büßerin wird vom Himmel auf die Erde geholt, aus der von Engeln Getragenen in mystischer Ekstase wird die gefallene Frau91 am Boden.

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Ab dem Mittelalter zeugen zahlreiche Magdalenenorden, -klöster und -asyle von Maria Magdalena als Schutzpatronin „gefallener“ Mädchen und Frauen.

Frauen in Bibelkommentaren des 12. und 13. Jahrhunderts Gary Macy Santa Clara University Im Jahr 1995 veröffentlichte Kari Elisabeth Børresen zwei Artikel, die die patristischen und mittelalterlichen Interpretationen von Gen 1,27 und 1 Kor 11,7 darlegen.1 Diese bahnbrechenden Arbeiten setzen den Rahmen für spätere Studien über die Sichtweise biblischer Frauen während dieses frühen Zeitraums. In diesem Beitrag möchte ich die Arbeit, die von Børresen angefangen wurde, fortsetzen, indem ich die Darstellung von Frauen in einigen weiteren Kommentaren zu 1 Kor, die während des 12. und 13. Jh. entstanden sind, analysiere. Diese kurzen Diskussionen sind weder als vollständige Untersuchungen der Sicht von Frauen bei diesen Autoren intendiert, noch sind dies die einzigen Autoren, die hätten untersucht werden können. Das Ziel dieses Artikels ist viel bescheidener. Er zeigt die Darstellung von Frauen bei fünf mittelalterlichen Theologen auf, die den ersten Brief des Paulus an die Korinther kommentiert haben. Da keiner dieser Theologen in den bahnbrechenden Pionieraufsätzen besprochen wird, wird diese Darlegung hoffentlich dazu beitragen, das Bild, das sich über Frauen in den biblischen Kommentaren des Mittelalters herausgebildet hat, zu vervollständigen.

1. Augustinus und Ambrosiaster: Mann und Frau Abbild Gottes – oder nur der Mann? Wie Børresen ausgeführt hat, gab es zwei starke Traditionen der Sichtweise von Frauen in der frühen mittelalterlichen Auslegung: Basierend auf dem anonymen Autor des 4. Jh., den Erasmus als „Ambrosiaster“ identifiziert, weil sein Kommentar zu Paulus im Mittelalter Ambrosius zugeschrieben wurde,2 sieht die eine Tradition ausschließlich Männer nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Frauen wären nicht nach dem Abbild Gottes geschaffen, sondern nach jenem der Männer. Weiterhin wären 1

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Kari Elisabeth BØRRESEN, „God’s Image, Man’s Image? Patristic Interpretation of Gen. 1,27 and I Cor. 11,7“, in The Image of God: Gender Models in Judaeo-Christian Tradition (hg. v. ders.; Minneapolis: Fortress Press, 1995), 187 –209, und DIES., „God’s Image, Is Woman Excluded? Medieval Interpretations of Gen. 1,27 and I Cor. 11,7“, in ebd., 210– 235. Der Kommentar Ambrosiasters zur Genesis wurde Augustinus zugeschrieben, wodurch die Herkunft der patristischen Positionen zur Stellung der Frauen noch unklarer wurde. Zu diesem Thema vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, „Imago Dei, privilège masculin? Interprétation augustinienne et pseudo-augustinienne de Gen. 1,27 et I Cor. 11,7“, Aug. 25 (1985): 213– 234, und Gary MACY, „Fake Fathers: Pseudonymous Sources and Forgeries as the Foundation for Canonical Teaching on Women in the Middle Ages“, in Mind Matters: Studies of Medieval and Early Modern Intellectual History in Honour of Marcia L. Colish (Disputatio 21; hg. v. E. Ann Matter, Cary J. Nederman und Nancy Van Deusen; Turnhout: Brepols, 2010), 157–170.

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Frauen geschaffen, um Männern zu dienen und insbesondere sich ihnen zu unterwerfen.3 John Hilary Martin hat aufgezeigt, dass Ambrosiaster sich nachdrücklich gegen das Priesteramt von Frauen ausgesprochen hat, indem er ein solches Amt als häretisch bezeichnete.4 Ambrosiasters Einfluss in dieser Hinsicht blieb bis ins späte 11. Jh. weitgehend unbeachtet oder unbekannt. Seine Schriften erfuhren jedoch ein Revival, um die Reformbewegung des 11. Jh. in ihrem Bestreben zu unterstützen, jegliche Spuren von Frauen, die in früheren Jahrhunderten Ämter innegehabt hatten, auszulöschen.5 Die zweite Tradition, die auf den Schriften von Augustinus basiert, verstand Männer und Frauen gleichermaßen als Ebenbild Gottes. Für Augustinus bedeutet die Passage in 1 Kor 11,7, vir quidem non debet velare caput suum quoniam imago et gloria est Dei mulier autem gloria viri est, nicht, dass Frauen nicht nach dem Bild Gottes geschaffen seien. Tatsächlich wurden Menschen, Männer und Frauen, nach dem Bild Gottes geschaffen, da Menschen, was den Geist, nicht den Körper anbetrifft, Gott ähnlich sind. Männer und Frauen unterscheiden sich nur körperlich, nicht aber in ihrem Geist. Diese Stelle sollte demnach im übertragenen Sinne verstanden werden. Vir steht hier für den höheren Part des menschlichen Geistes und mulier für den niedrigeren, der mit irdischen Angelegenheiten belastet ist.6 Nach Børresen war Augustinus der erste Autor, der sich direkt gegen 1 Kor 11,7 stellte, indem er behauptete, dass auch Frauen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen seien.7 Das bedeutet aber nicht, dass Augustinus Männer und Frauen in ihrer Geschöpflichkeit als gleich ansah. Männer und Frauen seien nur gleich in ihren Seelen. In ihrer tatsächlichen körperlichen Existenz wären Männer überlegen. Børresen betont, dass der grundsätzliche Konflikt zwischen Gottheit und Weiblichkeit unverändert bleibt, da die heilbringende Gottebenbildlichkeit der Frauen auf die Schöpfungs3

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Für eine Zusammenfassung des Denkens Ambrosiasters und seines späteren Einflusses vgl. BØRRESEN, „God’s Image, Man’s Image?“, 191–194, und DIES., „God’s Image, Is Woman Excluded?“. Vgl. John H. MARTIN, „The Ordination of Women and the Theologians in the Middle Ages“, EsVe 16 (1986): 115–177; 133–134. Martins langer Artikel erschien in zwei Teilen, der zweite Teil: „The Ordination of Women and the Theologians in the Middle Ages (II)“, EsVe 18 (1988): 87–143, und wurde neu herausgegeben mit den ins Englische übersetzten lateinischen Anmerkungen von Bernard COOKE und Gary MACY, Hg., A History of Women and Ordination 1: The Ordination of Women in Medieval Context (New York: Scarecrow, 2002), 31–160. Zur Einführung Ambrosiasters durch mittelalterliche Exegeten vgl. Gary MACY, The Hidden History of Women and Ordination (New York: Oxford University Press, 2007), 91 –93. Für eine ausführlichere Analyse des augustinischen Denkens vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, Subordination and Equivalence: The Nature and Role of Woman in Augustine and Thomas Aquinas (Kampen: Kok Pharos, 1995), 1–140; DIES., „God’s Image, Man’s Image?“, 198– 205, und DIES., „Patristics“, in Dies., From Patristics to Matristics: Selected Articles on Christian Gender Models (hg. v. Øyvind Norderval und Katrine Lund Ore; Roma: Herder, 2002), 15–89. Vgl. BØRRESEN, „God’s Image, Man’s Image?“, 199, und DIES., „Patristics“, 40.

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ordnung zurückgeht, trotz ihrer Abweichung von der modellhaften männlichen Menschlichkeit.8 Nichtsdestotrotz ermöglichte Augustins Auslegung von 1 Kor eine Form spiritueller Gleichwertigkeit, die einen theologischen Rahmen für die frühmittelalterliche Annahme einer nicht geschlechtlich verstandenen Gleichheit von Männern und Frauen bereitstellte.9 Die im Folgenden besprochenen Autoren repräsentieren oft nicht die tatsächliche Lehre Ambrosiasters oder Augustins. Die Texte mittelalterlicher Kommentatoren basierten meist auf Sententiae, Zusammenfassungen und Exzerpten der authentischen Werke Augustins und Ambrosiasters, und sind so zwangsläufig ungenau oder stellen den ursprünglichen Gedanken des zitierten Autors gar falsch dar. Dieser Beitrag versucht weder zu evaluieren, wie genau und sorgfältig der jeweilige Autor das eigentliche Werk Augustins oder Ambrosiasters verstanden hat, noch jene Texte Augustins oder Ambrosiasters zu identifizieren, die sie verwendet haben mögen, so interessant und wichtig eine solche Untersuchung auch wäre. Vielmehr soll verdeutlicht werden, wie jeder Autor den Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Menschen verstand. Die Tradition des Ambrosiaster verweist hier auf die Lehre, der zufolge nur Männer nach dem Abbild Gottes geschaffen seien, Frauen aber nicht. Die Tradition Augustins steht für die Lehre, nach der eine Unterscheidung von Männlichem und Weiblichem innerhalb eines jeden Menschen existiert. Die höhere Natur oder die Vernunft stellt das männliche, überlegene Element in jeder Person dar, das daher über die niedrigere Natur oder die Sinnlichkeit herrschen soll, welche das weibliche, unterlegene Element in jeder Person darstellt. In diesem Fall sind sowohl Männer als auch Frauen nach dem Abbild Gottes geschaffen.

2. Bruno der Kartäuser Das erste Werk, das in diesem Artikel behandelt wird, ist ein Paulus-Kommentar, der Bruno, dem Gründer des Kartäuserordens, der ungefähr von 1084 bis 1090 aktiv war, zugeschrieben wird. Allerdings gibt es Zweifel bezüglich der Urheberschaft sowohl bei diesem Kommentar als auch bei dem Bruno zugeschriebenen Psalmenkommentar. Diese Kommentare bilden einen Teil einer Gruppe von Werken, die die Schule von Laon beeinflussten, aus der die sehr einflussreiche Glossa ordinaria zur Bibel unter der Leitung von Anselm und Ralph von Laon entstand.10 Der Kommentar Brunos stellt ein

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Vgl. BØRRESEN, „God’s Image, Man’s Image?“, 204. Siehe auch ebd., 199: „It is important to note that all patristic exegesis understands this text as literally affirming men’s exclusive God-likeness.“ Literatur zu diesem Phänomen siehe bei MACY, Hidden History, 115–117. Diese Monographie vertritt die These, dass ein solches Verständnis der spirituellen Gleichheit die Ordination von Frauen im frühen Mittelalter ermöglichte. Vgl. Gary MACY, „Some Examples of the Influence of Exegesis on the Theology of the Eucharist in the Eleventh and Twelfth Centuries“, RThAM 52 (1985): 64–77.

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hervorragendes Beispiel der monastischen Exegese dar, die die beiden nicht zu vereinbarenden Traditionen von Ambrosiaster und Augustinus miteinander verbindet.11 Der Kommentar beginnt mit der Beschreibung des Problems des Paulus: Männer in Korinth beteten mit bedecktem Kopf, während Frauen unverhüllt beteten. Das sei nach Paulus sowohl gegen die Natur als auch gegen die Sitte.12 Der Kommentar Brunos erklärt zuerst jedoch, dass Christus das Haupt aller Männer sei. So wie der Kopf der Menschen alle Sinne beinhalte, mit Ausnahme des Tastsinns, so schließe Christus als unser Haupt alle Sinne mit ein.13 Frauen jedoch seien aus der Seite von Männern geschaffen und sollten diesen daher untergeordnet sein. Deswegen seien, wie Paulus sage, Männer das Haupt der Frauen. Darum sollten Frauen ihren Kopf als Zeichen ihrer Unterwerfung bedecken. Der Kommentar Brunos stellt das Schuldgefühl, das Frauen empfinden sollten, da sie für den Sündenfall verantwortlich seien, näher heraus. Sie sollten daher aus Scham ihren Kopf bedecken, wenn sie beten oder prophezeien.14 In Anlehnung an Ambrosiaster besagt der Kommentar Brunos, dass Männer das Ebenbild und der Ruhm Gottes sind, Frauen aber der Ruhm der Männer.15 Männer dienen Gott, und Frauen dienen Männern.16

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Zu früheren monastischen Autoren, die sowohl Ambrosiaster als auch Augustinus benutzten vgl. BØRRESEN, „God’s Image, Is Woman Excluded?“, 210–214. PL 153,179d–183b. Et quemadmodum in capite omnes sensus habemus, et nullum in corpore praeter tactum, quem habemus iterum in capite; sic omnes sensus nostri consentire, et cooperari debent capiti suo Christo. (PL 153,180b) „Und wie wir im Kopf alle Sinne haben und keinen im Körper außer dem Tastsinn, den wir wiederum im Kopf haben; so müssen all unsere Sinne übereinstimmen und zusammenwirken mit ihrem Haupt Christus.“ (für die Übersetzung der lateinischen Texte hier und im Folgenden danken wir Anneliese Felber und Andrea TaschlErber). Omnis mulier orans aut prophetans (sicut supra expositum est) non velato capite, deturpat proprium caput, quod semper velare deberet, in signum ejus erubescentiae, quod totius perditionis causa sit mulier, et maxime cum in Ecclesia suo praesentatur judici, cui omne genus hominum infestum fecit, dum diabolo consensit, et ad consentiendum eidem virum impulit. (PL 153,180d) „Jede Frau, die mit unverhülltem Haupt betet oder prophetisch redet (wie oben dargelegt worden ist), entstellt ihr eigenes Haupt, das sie immer verhüllen muss als Zeichen ihrer Schande, weil die Ursache allen Verderbens die Frau ist, und insbesondere, wenn sie in der Kirche ihrem Richter vorgeführt wird, dem (gegenüber) das ganze Menschengeschlecht feindlich gehandelt hat, indem sie dem Teufel gezustimmt hat und auch den Mann angetrieben hat diesem zuzustimmen.“ Vir est imago et gloria Dei. Sed mulier est gloria viri; quia debet a viro gubernari; et si bene gubernata fuerit, gloriam habet super his quae mulier bene gessit. (PL 153,181a) „Der Mann ist Bild und Ehre Gottes. Die Frau aber ist Ehre des Mannes, denn sie muss vom Mann geleitet werden; und wenn sie gut geleitet worden ist, hat er Ehre über das, was die Frau gut ausgeführt hat.“ Etenim vir non est creatus propter mulierem, ut serviret ei, quia Deo soli; sed mulier creata est propter virum, ut omni servitute maneret in adjutorio viri. (PL 153,181b) „Denn der Mann wurde nicht wegen der Frau geschaffen, dass er ihr diene, sondern allein Gott; aber

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Der Kommentar führt an, dass es auch eine allegorische Interpretation dieser Passage gibt, und übernimmt dafür die augustinische Tradition: Vir soll hier als Vernunft und mulier als Sinnlichkeit verstanden werden, da die Vernunft bei Männern und die Sinnlichkeit bei Frauen stärker ausgeprägt seien.17 Natürlich seien Männer wie Frauen sowohl mit Vernunft als auch Sinnlichkeit ausgestattet.18 Was Paulus hier vorschlage, sei, dass die Vernunft die Sinnlichkeit beherrschen sollte, bei Männern wie Frauen. Indem er Augustinus folgt, besteht der Kommentar Brunos darauf, dass sowohl Männer als auch Frauen in Bezug auf die Erlösung gleich sind.19 Brunos Kommentar versucht sodann, die beiden entgegengesetzten Traditionen der großen Kirchenlehrer, „Ambrosius“ (nach damaligem Verständnis, = Ambrosiaster) und Augustinus, in Einklang zu bringen. Die Interpretation von „Ambrosius“ entspreche der wörtlichen Bedeutung des Textes. Frauen seien von Natur aus den Männern untergeordnet und daher nicht als Ebenbild Gottes erschaffen, wohingegen Augustinus 1 Kor 11,7 allegorisch so interpretiere, dass vir den höheren Teil und mulier den niedrigeren Teil des menschlichen Geistes repräsentiere. In diesem Sinne seien Männer und Frauen als Ebenbild Gottes geschaffen, wenngleich das Ebenbild in den Männern stärker ausgeprägt sei. Ein Vergleich der beiden Verstehensweisen zeigt die Tendenz von Brunos Kommentar, sich auf die Seite von „Ambrosius“, das heißt Ambrosiasters, zu stellen. Sein Kommentar zu 1 Tim ist der erste mittelalterliche Kommentar, der Ambrosiaster folgt, indem er die Vorstellung abweist, dass Frauen jemals irgendeine Art von Amt in der frühen Kirche innehatten. Der Kommentar wird später durch einige Versionen der

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die Frau wurde geschaffen wegen des Mannes, dass sie in gänzlicher Knechtschaft bleibe zur Hilfe des Mannes.“ Haec praemissa leguntur sub allegoria sic: Vir qui in prima creatione factus fuit a Deo, in multa rationalitatis fortitudine significat rationem, quae semper regere debet sensualitatem; mulier autem quae non adeo fortis fuit, sicut vir, significat sensualitatem quae, bene gubernata, obedire debet rationi. (PL 153,182b) „Diese Prämissen werden allegorisch so verstanden: Der Mann, der in der ersten Schöpfung von Gott geschaffen worden ist, bezeichnet in der großen Stärke der Rationalität die Vernunft, die immer die Sinnlichkeit leiten muss; die Frau aber, die nicht so stark war wie der Mann, bezeichnet die Sinnlichkeit, die, gut geleitet, der Vernunft gehorchen muss.“ Et licet per virum rationem, per mulierem accipiamus sensualitatem, non tamen negamus quin utrumque sit in utroque, et ratio in muliere vir dicitur; et sensualitas in viro mulier appellatur. (Ebd.) „Und wenn wir auch durch den Mann Vernunft, durch die Frau Sinnlichkeit empfangen, leugnen wir dennoch nicht, dass beides in beiden ist und dass die Vernunft in der Frau ‚Mann‘ genannt wird und die Sinnlichkeit im Mann ‚Frau‘.“ Licet in prima creatione vir mulierem praecesserit, vere alter non praecedet alterum in salvatione. (PL 153,182c) „Mag auch in der ersten Schöpfung der Mann der Frau vorausgegangen sein, wird in der Tat der eine dem anderen nicht vorausgehen in der Erlösung.“

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Glossa ordinaria kopiert und in der Folge unter Theologen und Kanonisten weit verbreitet.20

3. Glossa ordinaria Der zweite unserer Texte war sogar noch einflussreicher als jener, der Bruno zugeschrieben wird. Tatsächlich weist sein herkömmlicher Titel, Glossa ordinaria, darauf hin, dass er als der gebräuchliche Kommentar, der konsultiert werden sollte, betrachtet wurde. Die Glossa ordinaria existierte jedoch in vielen Versionen und, basierend auf der Arbeit von Beryl Smalley, wird allgemein angenommen, dass sie in der Schule von Laon verfasst, dann von Gilbert von La Porrée überarbeitet (media glosatura) und schließlich irgendwann zwischen 1135 und 1143 im Kommentar von Petrus Lombardus in die endgültige Form (magna glosatura) gebracht wurde.21 Wenn man den Einfluss des Kommentars von Bruno auf die Glossa ordinaria voraussetzt, so ist ihr Kommentar zu 1 Kor eine ziemliche Überraschung. Die Glossa beginnt mit der Behauptung, dass Christus alle spirituellen Sinne innehat, genauso wie der Kopf alle körperlichen Sinne kontrolliert.22 Sie eröffnet die Bühne für die Interpretation dieses Textes: „Gott schuf den ganzen Menschen gemäß seinem Bild einerseits dem Geist nach, aber damit man nicht glaubt, dass nur der Geist nach diesem Bild geschaffen wurde, fügte er hinzu, männlich und weiblich schuf er (den Menschen) andererseits dem Körper nach.“23 Die Glossa beinhaltet eine kurze Passage, die auf Ambrosiaster basiert und darauf hinweist, dass Frauen geschaffen wurden, um Männern zu helfen.24 Dann aber fügt sie die augustinische Tradition, dass „männlich“ hier 20

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Zum Kommentar Brunos zu 1 Tim und seinem Einfluss vgl. MACY, Hidden History, 91–93. Zum Gebrauch des Kommentars durch die Schule von Laon vgl. Beryl SMALLEY, The Study of the Bible in the Middle Ages (Blackwell: Oxford, 31983), 73. Vgl. SMALLEY, The Study of the Bible, 60–65. Ich habe die Ausgabe der Glossa aus dem 12. Jh., die in der Stiftsbibliothek in Salzburg aufbewahrt wird, verwendet. Ich danke Herrn Dr. Zier, dass er mir eine Digitalausgabe des Manuskripts zur Verfügung gestellt hat. Der betreffende Text lautet: Caput uiri christus in quo omnis habent sensus spirituales sicut in capite corporales. (Salzburg, Stiftsbibliothek Sankt Peter, a. viii. 30, 125,1) „Das Haupt des Mannes ist Christus, in dem alle spirituellen Sinne gehalten werden wie im Haupt die körperlichen.“ Fecit deus hominem totum ad imaginem suam hoc secundum spiritum sed ne putes solum spiritum factum in quo imago addit masculum et feminam fecit illud hoc secundum corpus. (ebd.). Homo ad imaginem ut sicut deus preest omnibus per omnipotentiam sic homo terrenis per intelligentiam. Femina in adiutorium ut haberet uir gloriam de ea cum ei preiret ad deum et se ei daret imitandum sanctitate. (Ebd., 125,2) „Der Mensch (wurde) nach seinem Bild (geschaffen), sodass, wie Gott alles durch seine Allmacht leitet, so der Mensch/Mann das Irdische durch seinen Verstand. Die Frau (wurde) als Hilfe (geschaffen), damit der Mann Ehre hat über sie, wenn er ihr vorausgeht zu Gott und er ihr gewährt, ihn in Heiligkeit nachzuahmen.“

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Vernunft bedeute und das Weibliche sich auf die fleischliche Natur beziehe, unmittelbar hinzu.25 Die Glossa fährt fort mit einem zweiten Zitat von Ambrosiaster,26 um es wiederum mit einem Zitat der augustinischen Tradition zu korrigieren.27 Der Kommentar beendet diesen Abschnitt mit einer Passage, die, auf Augustinus basierend, deutlich darlegt, dass Männer und Frauen gleich sind in ihrer Ähnlichkeit zu Gott.28 In einem Bruch mit der monastischen Tradition gibt die Glossa, obwohl sie sich des Kommen25

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Quod si ratione consentiente id est non cohibente animalis ad exteriora nimis progreditur mox ambo ueritate nudati apertis oculis conscientie ad uidendum quam indecori sunt folia dulcium fructuum sine ipsis fructibus id est sine operibus bona uerba conterunt ut male uiuentes bene loquendo turpitudinem suam contegant. (Ebd.) „Wenn nun, wenn die Vernunft zustimmt, das heißt, wenn sie nicht die triebhafte Natur zügelt, bald darauf beide allzu früh zum Äußeren voranschreiten, durch die Wahrheit der Erkenntnis entblößt, mit offenen Augen, um zu sehen, wie hässlich die Blätter süßer Früchte sind ohne Früchte selbst, das heißt ohne Werke die guten Worte, mühen sie sich ab, dass sie, schlecht lebend, durch gutes Reden ihre Schande bedecken.“ Vir est imago dei quia sicut ex deo omnia ita ex adam omnes homines et sic conseruat auctoritatem unius principii quod ab uno omnia contra illum qui deus esse uoluit. (Ebd.) „Der Mann ist Gottes Bild, da – wie aus Gott alles (ist) – so aus Adam alle Menschen (stammen), und so bewahrt er die Gültigkeit eines einzigen Ursprungs, weil von einem Einzigen alles (ist) gegenüber jenem, der Gott sein wollte.“ Vel uir principaliter creatus est ad imaginem dei in quo naturaliter amplius uiget ratio quasi ipse sit ratio que est gloria dei. Mulier est ipsa sensualitas que subseruiendo gloria est rationis quia hoc in femina naturaliter preualet. De quo non est uir ut a sensuali regatur rationalis, sed ipsa de uiro ut ab eo regatur et sic docet quia non est uir creatus id est rationalis ut subseruiat sensualitati sed econtrario et ideo femina uelet caput. (Ebd.) „Auch ist der Mann ursprünglich geschaffen nach dem Bild Gottes, in dem naturgegeben die Vernunft weit stärker ist, weil er gleichsam selbst die Vernunft ist, die die Ehre Gottes ist. Die Frau ist die Sinnlichkeit selbst, die durch unterwürfiges Dienlichsein die Ehre der Vernunft ist, weil das in der Frau naturgegeben überwiegt. Und daher ist es nicht so, dass der Mann als das Vernunftgemäße vom Sinnlichen beherrscht wird, sondern dass sie selbst vom Mann herkommend von ihm beherrscht wird, und so lehrt er, dass nicht der Mann geschaffen ist, das heißt das Vernunftgemäße, dass er der Sinnlichkeit dienlich sei, sondern im Gegenteil, und daher soll die Frau ihr Haupt verhüllen.“ Vir est imago sed in genesi dicitur fecerit deus hominem ad imaginem dei masculum et feminam. Quomodo ergo uir imago ut non uelet et non mulier? Sed hoc in natura humane mentis et mistice loquitur de uelationem. Aliter inane est. Homo est imago dei secundum rationalem mentem in quo dicitur renouari in agnitionem dei ubi nullus sexus est sed idem est femina cum uiro et mulier cum uiro id est tota illa substantia. (Ebd.) „Der Mann ist das Bild, aber in der Genesis heißt es, dass Gott den Menschen geschaffen hat nach dem Bild Gottes als männlich und weiblich. Wie also ist der Mann Bild, sodass er nicht verhüllt, und die Frau nicht? Aber das wird von der Natur der menschlichen Denkkraft und auf mystische Weise ausgesagt über die Verhüllung. Andernfalls ist es nichtig. Der Mensch ist Bild Gottes gemäß seiner vernunftgemäßen Denkkraft, in welcher er erneuert wird, wie es heißt, zur Erkenntnis Gottes, wo es keine geschlechtliche Differenzierung gibt, sondern dasselbe das Weibliche mit dem Männlichen und die Frau mit dem Mann ist, das heißt, jene ganze Substanz.“

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tars von Ambrosiaster bewusst ist, der Lehre von Augustinus den Vorrang: Paulus sollte nicht so verstanden werden, als ob er leugne, dass Männer und Frauen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind.

4. Gilbert von La Porrée Gilbert von La Porrée folgt der Glossa und stellt seinen Kommentar unmittelbar in die augustinische Tradition. Mit vir meine Paulus die Seele, die die sinnlichen Emotionen leitet, so wie ein Ehemann in der Ehe den Ton angibt.29 Dass ein Mann das Haupt einer Frau sei, bedeute des Weiteren, dass die Seele die sinnlichen Emotionen, die animalischen Instinkte, das heißt das Weibliche, beherrscht.30 Gilbert legt dar, dass mit bedecktem Kopf zu beten oder zu prophezeien nicht die volle Freiheit unter Beweis stellt; wir müssen unsere animalischen Sinne kontrollieren, wenn wir Christus, unserem Haupt, nachfolgen.31 Es ist hier offensichtlich, dass die Freiheit, die aus der Nachfolge Christi resultiert, auf die gesamte menschliche Gattung zutrifft, Männer und Frauen. Gilbert wusste jedoch von der Lehre Ambrosiasters und schließt eine Passage aus der Glossa ein (hier identifiziert als Ambrosius-Zitat), die darauf besteht, dass der Mann nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, sodass, wie alles von einem einzigen Gott kommt, auch alle menschlichen Wesen von einem einzigen Menschen stammen.32 29

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Hoc loco uir anime intelligitur eo quod animalem affectionem tamquam maritus coniugere regit. (Cambridge University, Pembroke College MS 78, fol. 150r2) „An dieser Stelle wird der Mann als Seele verstanden, deshalb weil er die triebhafte Neigung wie der Ehemann die Ehefrau beherrscht.“ Accipit per que etiam sit capud mulieris id est uir regens scilicet sicut dictum est animalem quacquam in his inferioribus operatur affectionem. (Ebd.) „Er nimmt an, deshalb auch ist er das Haupt der Frau, das heißt der Mann wirkt beherrschend, wohlgemerkt, wie gesagt worden ist, auf jede triebhafte Neigung in diesen unteren Teilen.“ Nam que capud obuolutum minus est liberum. Uir qui velato capite aut orat aut prophetat libertatem quam plenitudinem christi species noster illi adherens ad regendos animales sensus creditur accepisse non esse quodam modo monstrat. (Ebd.) „Denn ein verhülltes Haupt ist weniger frei. Ein Mann, der mit verhülltem Haupt betet oder prophezeit, zeigt, dass die Freiheit, die als Fülle Christi unsere Spezies, jenem anhaftend, zum Leiten der triebhaften Sinne empfangen hat, wie man glaubt, auf gewisse Weise nicht bestehe.“ Ambrosius. Hec imago dei in uiro in hoc consideratur quod unus deus unum hominem fecit ut sicut ab uno sunt omnia ita et ab uno homine omnis homines. Sic enim unius uisibilis dei unus uisibilis homo in terris habet imaginem quia sic unum deus in uno homine unius principis autoritatem conseruat utique ad confusionem diaboli qui uno deo neglecto deitatem et dominium sibi uoluit usurpare. (Ebd., fol. 150v1) „Ambrosius. Dieses Bild Gottes im Mann wird auf diese Weise betrachtet, dass ein Gott einen Menschen geschaffen hat, dass – wie von einem alles ist – so auch von einem Menschen alle Menschen (stammen). So nämlich hat der eine sichtbare Mensch auf Erden das Bild des einen sichtbaren Gottes, weil so Gott in einem Menschen die eine Gültigkeit des einen Ursprungs bewahrt, zumal zur Verwirrung des Teufels, der sich, nachdem der eine Gott gering geschätzt worden war, die Gottheit und Herrschaft aneignen wollte.“

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Gilbert folgt aber nicht der Lehre Ambrosiasters, dass Frauen deshalb nicht nach dem Ebenbild Gottes geschaffen seien. Dass Frauen die helfenden Partnerinnen von Männern seien, bedeute nur, dass Vernunft die niederen Begierden kontrollieren sollte.33 In Anlehnung an Augustinus bestätigt Gilbert, dass beide Geschlechter mit einer menschlichen Natur geschaffen wurden, die den Geist besitzt, der wiederum das Ebenbild Gottes darstellt.34 Gilbert zeigt ein durch und durch augustinisches Verständnis der Beziehung zwischen Männern und Frauen. Beide sind dadurch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, dass beide Vernunft besitzen, die, mit der Hilfe Christi, die niederen Leidenschaften kontrollieren und ein tugendhaftes Leben wählen kann. Gilbert fügt seinem Kommentar eine zeitgenössische Bemerkung hinzu, indem er die Lehre der Katharer (hier als Manichäer identifiziert) zurückweist. Diese behaupteten, dass Frauen von Männern stammten, insoweit ihre Körper betroffen sind, ihr Geist und ihre Seele aber von Gott stammten. Tatsächlich, so legt Gilbert dar, sind Körper, Seele und Geist von Männern wie Frauen von Gott geschaffen.35 Was Körper, Vernunft und Geist anbetrifft, bestätigt er also die Gleichheit von Männern und Frauen als Ebenbilder Gottes. So ist es keine Überraschung, dass Gilbert in seinem Kommentar zu 1 Tim akzeptiert, dass Frauen pastorale Stellen einnehmen können. Auch hier folgt er nicht den Darlegungen in Ambrosiasters Kommentar.36

5. Robert von Bridlington Der Kommentar von Petrus Lombardus (die magna glosatura) führt, wie Børresen darlegt, die monastische Praxis wieder ein, die Positionen von Ambrosiaster und Augustinus nebeneinander zu präsentieren, ohne sie zu harmonisieren. In Bezug auf die monastische Tradition, die der Glossa ordinaria vorausgeht, kommt sie zu dem 33

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Scilicet in adiutorium uiri non utique ut uirum mulier sed ut uir mulierem adiuuet quia sicut dictum est appetitum anime per quem uoluptates corporis operamur homo mens interior tamquam uirilis ratio subiugatum. (Ebd.) „Wohlgemerkt als Hilfe für den Mann, gewiss nicht, dass die Frau den Mann, sondern dass der Mann die Frau unterstütze, weil der Mensch auf die Leidenschaften des Körpers als innere Denkkraft wie die männliche Vernunft wirkt, durch die, wie gesagt worden ist, das Streben der Seele unterworfen ist.“ Et quam in utroque sexu humana natura spiritu mentis ad imaginem dei facta. Quanto magis in id quod eternum est sese extendit tanto magis reformatur in imaginem dei. (Ebd.) „Und so ist in beiden Geschlechtern die menschliche Natur im Geist der Denkkraft als Bild Gottes geschaffen worden. Je mehr sie sich ausstreckt auf das, was ewig ist, desto mehr wird sie zum Bild Gottes verwandelt.“ Vnde contra manicheos qui dicunt mulierem ex uiro esse secundum corpus ex deo autem secundum anima et spiritu ait. Omnia autem id est corpus et anima et spiritus et uiri et mulieris ex deo sunt. (Ebd.) „Daher sagt er gegen die Manichäer, die behaupten, dass die Frau aus dem Mann dem Körper nach, aus Gott aber der Seele und dem Geiste nach sei: Alles aber, das heißt, Körper, Seele und Geist sowohl des Mannes als auch der Frau sind aus Gott.“ Vgl. MACY, Hidden History, 96.

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Schluss, die lockere Vermischung von Augustinus und Pseudo-Augustinus erreiche mit Petrus Lombardus ihren Höhepunkt.37 Nichtsdestotrotz war diese Vermischung etwas, das er den beiden Kommentaren, der Glossa ordinaria und jenem von Gilbert von La Porrée, hinzufügte. Tatsächlich könnte man sagen, dass Petrus Lombardus wieder eine stärkere Präsenz Ambrosiasters in eine scholastische Tradition einführte, die diesem eine weit weniger prominente Rolle zugemessen hatte als jener von Augustinus. Obwohl jedoch Petrus Lombardus beide Traditionen einschließt, meint Børresen, dass er Augustinus gegenüber Ambrosiaster vorzieht.38 Robert von Bridlington, der um ca. 1150 schrieb, war ein englischer Zeitgenosse des Petrus Lombardus. Er war kein eigenständiger Denker, aber unterscheidet sich hinreichend genug von Gilbert oder Petrus Lombardus, dass er dennoch erwähnenswert ist. Zuerst diskutiert Robert ausgiebig, was Paulus in 1 Kor 9,5 gemeint haben könnte, wenn er von den Frauen spricht, die die Apostel auf ihren Reisen begleiteten. Sicherlich wusste er von den Frauen, die Jesus in seinem Wirken unterstützten, einschließlich Maria Magdalena, Johanna und Susanna.39 Der Herr habe sie in seine Gemeinschaft aufgenommen, um herauszustellen, dass Frauen nicht von der Erlösung ausgeschlossen sind.40 Da Robert kurz nach der Einführung des Zölibats im Jahr 1139 schrieb, rang er offensichtlich mit der Vorstellung, dass die Apostel mit ihren Ehefrauen reisten. Er weist darauf hin, dass im ursprünglichen griechischen Text gyne sowohl Frau also auch Ehefrau bedeuten kann.41 Hier ist sich Robert jedoch ganz sicher, dass Paulus Schwes37

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Vgl. BØRRESEN, „God’s Image, Is Woman Excluded?“, 216. Für Børresens Analyse von Petrus Lombardus vgl. ebd., 216f. „It is essential to note in all these reassuring formulas, the normative difference between creationally ordered gender hierarchy on one side, and female subjection or slavery as resulting from the first sin on the other, is obscured. Nevertheless, sexual difference is regularly defined as restricted to the corporeal sphere, especially when femaleness is concerned.“ BØRRESEN, „God’s Image, Is Woman Excluded?“, 217. In euuangelio enim luce scriptum est. Et factum est deinceps et ipse iter faciebat per ciuitates et castella predicans et euuangelizans regnum dei et duodecim cum illo et mulieres alique que erant curate a spiritibus inmundis et infirmitatibus. Maria que uocatur magdalene de qua vii demonia exierant iohanna uxor cuze procuratoris herodis et susanna et alie multe que ministrabant ei de facultatibus suis. (Cambridge, Cambridge University Library, MS. Dd.8.14, fol. 108r1–r2) „Im Evangelium nämlich ist mit Erleuchtung geschrieben: Und es geschah hierauf und er wanderte durch die Städte und Dörfer, predigte und verkündete das Reich Gottes, und die Zwölf (waren) mit ihm und einige Frauen, die geheilt worden waren von unreinen Geistern und Krankheiten, Maria, die genannt wird Magdalenerin, von der sieben Dämonen ausgezogen waren, Johanna, die Frau des Chuzas, des Prokurators des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihm (regelmäßig) dienten mit ihren Möglichkeiten“ (vgl. Lk 8,1–3). Dominus etiam in comitatu suo mulieres habuit ne aliene uiderentur a salute. (Ebd., fol. 108r2) „Der Herr hatte in seiner Begleitung auch Frauen, damit sie nicht fern vom Heil erscheinen.“ Numquid non habemus potestatem mulieres vel uxores circumducendi sicut ceteri apostoli quia gune apud grecos et mulieres et uxores significat sed iungat et illud quod in grecis codicibus est. (Ebd., fol. 108r2–v1) „Haben wir etwa nicht die Möglichkeit, Frauen oder

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tern im Geiste meinte und nicht Ehefrauen, da es, abgesehen von Petrus, nicht klar sei, ob die anderen Apostel Ehefrauen gehabt hätten.42 Wenn Petrus Lombardus am Ende seiner Analyse der Unterordnung von Frauen mit Nachdruck die spirituelle Gleichheit von Männern und Frauen betonte, so neigte Robert dazu, den Unterschied zwischen Männern und Frauen zu unterstreichen. Robert geht von der Annahme aus, dass Christus, der der inkarnierte Mittler zwischen Gott und Mensch ist, wie Gott über alle herrscht. Dann baut er auf dem Beispiel, das Gilbert geboten hat, auf und bezieht es auf den Körper. In unserem Leib ist der Kopf viel größer als die anderen Teile, die den Körper bilden. Durch den Kopf sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen wir und Christus beherrscht die Männer durch Weisheit in ähnlicher Weise. Frauen jedoch werden durch Männer beherrscht.43 Robert räumt

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Ehefrauen herumzuführen wie die übrigen Apostel (vgl. 1 Kor 9,1), weil gyne bei den Griechen sowohl Frau wie auch Ehefrau bedeutet, aber er soll auch jenes hinzufügen, was in den griechischen Handschriften steht.“ Vbi enim de comedendo et bibendo et de ministratione sumptuum permittitur et de sororibus mulieribus sic infertur perspicuum est non uxores debere intelligi sed eas ut diximus que de sua substantia ministrabant. Aut certe si gunaisas (sic) uxores accipimus non mulieres, id quod additur sorores tollit uxores. Et ostendit eas germanas in spiritu fuisse non conjuges. Quamquam excepto apostolo petro non sit manifeste relatum de aliis apostolis quod uxores habuerunt. Et cum de uno scriptum sit ad de ceteris tacitum intelligere debemus sine uxoribus eos fuisse. (Ebd., fol. 108v1.) „Wenn es nämlich bezüglich Essen und Trinken und bezüglich des Dienstes mit Mitteln gestattet wird und bezüglich Schwester-Frauen (vgl. 1 Kor 9,5) so vorgebracht wird, ist klar, dass sie nicht als Ehefrauen verstanden werden dürfen, sondern als diese, die, wie wir gesagt haben, von ihrem Vermögen (immer wieder) dienten. Andernfalls, wenn wir gynaikas als Ehefrauen verstehen und nicht als Frauen, hebt das, was hinzugefügt wird, ‚Schwestern‘, die (Möglichkeit von) ‚Ehefrauen‘ auf. Und er zeigt, dass diese Schwestern im Geiste gewesen sind, nicht Gattinnen. Indessen ist, mit Ausnahme des Apostels Petrus, von den anderen Aposteln nicht ausdrücklich berichtet, dass sie Ehefrauen hatten. Und weil es von dem einen geschrieben ist, von den übrigen unerwähnt, müssen wir verstehen, dass sie ohne Ehefrauen waren.“ Accipe exemplum. Si in tuis membris multum distat inter caput et cetera membra, certe omnia membris faciunt unum corpus. Multum tamen inter caput quod regit et cetera que reguntur. Et enim in ceteris membris non sentis nisi tangendo. In capite autem et uides et audis et gustas et olfacis et tangis. Si tanta est excellentia capitis ad cetera membra quanta est excellentia capitis universe ecclesie, id est, hominis illius quem mediatorem uoluit deus esse inter deum et hominis in quo sunt omnes thesauri sapientie et scientie absonditi. Caput ergo uiri christus quia regitur a sapientia. Uir autem caput mulieris que regitur a uiro. (Ebd., fol. 117v1) „Vernimm ein Beispiel: Wenn bei deinen Gliedern ein großer Unterschied besteht zwischen dem Haupt und den übrigen Gliedern, machen gewiss alle Glieder (zusammen) einen einzigen Körper. Ein großer Unterschied (besteht) dennoch zwischen dem Haupt, das leitet, und den übrigen, die geleitet werden. Denn du spürst mit den übrigen Gliedern nicht außer beim Berühren. Mit dem Haupt aber siehst du, hörst du, schmeckst du, riechst du und berührst du. Wenn so groß der Vorzug des Hauptes in Bezug auf die übrigen Glieder ist, wie groß ist der Vorzug des Hauptes der ganzen Kirche, das heißt, jenes Mannes, von dem Gott wollte, dass er Mittler zwischen Gott und Menschen sei, in dem alle

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ein, dass Frauen der Ruhm Gottes sind, indem er durch sie glorifiziert wird, aber das sei eine zweitrangige Bedeutung. Männer sind von Anfang an das Bild und der Ruhm Gottes. Frauen sind der Ruhm von Männern, wenn sie ihnen untergeordnet sind.44 Robert fügt eine interessante Interpretation der Paulusstelle ideo debet mulier potestatem habere supra caput suum et propter angelos (1 Kor 11,10) hinzu. Nachdem er die üblichen Interpretationen, dass die Engel Prediger von Gottes Wort sind, vorgetragen hat, gibt er einen Text wieder, in dem Ambrosiaster behauptet, dass die Engel als die Bischöfe verstanden werden könnten, die die Person Christi repräsentieren. Es ist, zitiert Robert, als ob Frauen aufgrund ihrer Schuld und wegen der Erbsünde vor einem Richter stünden, und sie sollten deswegen verschleiert sein.45 Robert bekräftigt eindeutig, dass Frauen als Hilfe für Männer geschaffen wurden, sodass Männer sich dafür rühmen könnten, sie zu Gott zu führen und ihnen ein Vorbild der Heiligkeit zu bieten.46

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Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind. Das Haupt des Mannes also ist, weil er von Weisheit geleitet wird, Christus. Der Mann aber ist das Haupt der Frau, die vom Mann geleitet wird.“ Est et mulier gloria dei a quo et ad quem glorificandum creata est, sed secundo loco. Vir enim principaliter ad ymaginem dei creatus est. Mulier postea ex costa uiri formata est; atque ideo uir caput discoopertum debet habere ut super mulierem principatum ostendatur habere. Probat autem quod mulier est gloria uiri, non uir eius; dum subiungit. (Ebd., fol. 117v2) „Es ist auch die Frau Ehre Gottes, von dem und zu dessen Verherrlichung sie geschaffen ist, aber an zweiter Stelle. Der Mann nämlich ist vom Ursprung her nach dem Bild Gottes geschaffen. Die Frau ist später aus der Rippe des Mannes gebildet worden; und daher muss der Mann sein Haupt unbedeckt haben, damit gezeigt wird, dass er über die Frau den Vorrang hat. Er gesteht aber zu, dass die Frau die Ehre des Mannes ist, nicht der Mann ihre (Ehre); sofern sie sich unterordnet.“ Angelos uocat predicatores qui in altiori loco consistebant cum predicarent. Propter hoc ergo dicit mulieres debere uelare caput quia sparsis crinibus facilius aspicientes ad libidinem irritant angelos qui uerbum dei populo nunciant. Ambrosius. Mulier in ecclesia propter reuerentiam episcopalem non habeat caput liberum sed uelamine tectum nec habeat potestatem loquendi quia episcopus personam habet christi. Quasi ergo ante iudicem sic ante episcopum qui uicarius domini est et propter reatus originem uelata, id est, subiecta debet uideri. (Ebd., fol. 118r1) „Die Engel nennt er Verkündiger, die sich an einem höher gelegenen Ort aufstellen, wenn sie verkündigen. Deswegen also sagt er, dass die Frauen ihr Haupt verhüllen müssen, weil sie bei ihrem Anblick mit wallenden Haaren leichter die Engel zur Begierde reizen, die das Wort Gottes dem Volk verkünden. Ambrosius. Die Frau soll in der Kirche wegen der bischöflichen Ehrfurcht das Haupt nicht frei haben, sondern mit einem Schleier bedeckt, und soll nicht die Erlaubnis zu sprechen haben, weil der Bischof die Rolle Christi innehat. Wie also vor dem Richter, so muss sie vor dem Bischof, der der Stellvertreter des Herrn ist, und wegen der Ursünde verhüllt, das heißt, unterworfen erscheinen.“ Vgl. AMBROSIASTER, Ad Corinthios prima 11,9 (CSEL 81,2,122f.). Femina in adiutorium data est ut haberet uir gloriam de ea cum ei preiret ad deum et se ei daret imitandum sanctitate sicut ipse esset gloria dei cum eius sapientiam sequeretur. (Ebd.) „Die Frau ist zur Hilfe gegeben, damit der Mann Ehre über sie habe, wenn er ihr vorausgeht zu Gott und er ihr die Möglichkeit gibt, ihn an Heiligkeit nachzuahmen, wie er selbst die

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Robert fügt am Ende seines Kommentars Augustins Interpretation dieser Stelle hinzu, nach der alle Menschen, Männer und Frauen, dieselbe Natur teilen, die nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Sein Verweis auf die Differenz zwischen Männern und Frauen zielt dabei auf die Aufteilung von höheren und niedrigeren Erkenntnisfähigkeiten im Geist selber.47 Meist jedoch bevorzugt Robert die Interpretation Ambrosiasters gegenüber der von Augustinus und unterscheidet sich damit signifikant von der Glossa, von Gilbert und sogar von Petrus Lombardus. Roberts Kommentar scheint jedoch, im Gegensatz zu denen seiner Zeitgenossen, nur geringen Einfluss auf spätere Exegeten zu haben.

6. Hugo von St. Cher Das letzte Werk, das hier analysiert werden soll, ist der einflussreiche Paulus-Kommentar des dominikanischen Theologen Kardinal Hugo von St. Cher (ca. 1200–1263). Er ist ein älterer Zeitgenosse von Thomas von Aquin und Bonaventura und schreibt zwei Kommentare, einen wortgetreuen zu verschiedenen Begriffen und Redewendungen und eine stärker theologische Darstellung. In beiden Kommentaren interpretiert Hugo Paulus im übertragenen Sinn und lehnt fast vollständig die Tradition ab, 1 Kor 11,7 im Sinne einer Unterordnung von Frauen gegenüber Männern zu verstehen. Im erstgenannten Kommentar erklärt Hugo, dass Männer Frauen überlegen seien, da sie den Frauen Gott vermittelten48 und Frauen über Gott belehrten.49 Doch auch hier

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Ehre Gottes ist, wenn er dessen Weisheit folgt.“ Vir etiam gloria dei est ex quo est quique eum principaliter glorificat. Mulier est gloria uiri ex quo est et cui subseruit. (Ebd., fol. 118r2) „Der Mann ist auch Ehre Gottes, von dem er stammt und den er vom Ursprung her verherrlicht. Die Frau ist die Ehre des Mannes, von dem sie stammt und dem sie dient.“ Sed hoc in natura humane mentis et mistice loquitur de uelatione aliter inane est. Homo quippe est imago dei secundum rationalem mentem in qua dicitur renouari in agnitione dei ubi nullus sexus est sed idem est femina cum masculo et mulier cum uiro, id est, tota illa substantia una est imago dei et in mentibus eorum communis natura. Sed ex sexu corporum significatur distributio mentis. Est pars eminens que se extendit in id quod eternum est que est imago dei et ideo non est cohibenda uelo ut se inde contineat. (Ebd., fol. 118v1) „Aber das wird von der Natur der menschlichen Denkkraft und auf mystische Weise ausgesagt über die Verhüllung, andernfalls ist es nichtig. Der Mensch freilich ist Bild Gottes gemäß seiner vernunftgemäßen Denkkraft, in welcher er erneuert wird, wie es heißt, zur Erkenntnis Gottes, wo es keine geschlechtliche Differenzierung gibt, sondern dasselbe ist das Weibliche mit dem Männlichen und die Frau mit dem Mann, das heißt, diese ganze Substanz zusammen ist Bild Gottes und in deren Seelenkräften ist die gemeinsame Natur. Aber aufgrund des Geschlechts der Körper wird die Aufteilung des Geistes angezeigt. Es gibt einen herausragenden Teil, der sich ausstreckt auf das, was ewig ist, der das Bild Gottes ist und daher nicht mit einem Tuch umschlossen werden darf, sodass er sich daher hindert.“ Quarta ratio est, quod vir magis accedit ad naturam capitis quam mulier, quia ipse immediate se habet ad Deum, sed mulier mediante viro. (HUGO DE SANCTO CARO, Opera omnia in universum vetus et novum testamentum [8 Bde; Venedig: Pezzana, 1732], 7:fol. 102r1. „Das vierte Argument ist, dass der Mann mehr an die Natur des Hauptes herankommt

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beeilt sich Hugo darauf hinzuweisen, dass Frauen rationale Wesen seien, sonst könnten sie nicht belehrt werden.50 Für Frauen sei es weniger wichtig, eine Kopfbedeckung zu tragen oder nicht, als vielmehr bescheiden zu sein.51 Die Meinung einiger, Paulus beabsichtigte, Frauen das Prophezeien und Beten zu verbieten, weist Hugo zurück. Vielmehr vertritt er die Ansicht, Paulus erlaube Frauen zu prophezeien, wenn sie ihren Kopf bedecken, vorausgesetzt die Prophezeiung sei eine Form von Lobpreis.52 Maria Magdalena sei es sogar erlaubt gewesen, mit unbedecktem Kopf zu predigen, da nicht

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als die Frau, weil er sich selbst unmittelbar zu Gott verhält, die Frau aber aufgrund der Vermittlung des Mannes.“ Pars est secundum substantiam, & possessionem. Item ipsa est gloria viri si eam bene rexerit. Eccl. 30. a. Qui docet filium, laudabitur in illo, & gloriabitur in medio, &c. Similiter qui docet uxorem, gloria ejus est, quia ei quae rationalis creatura est, praeest. (Ebd.) „Sie ist ein Teil gemäß der Substanz und ihrer Zugehörigkeit. Ebenso ist sie selbst die Ehre des Mannes, wenn er sie gut leitet. Sir 30,1: Wer den Sohn lehrt, wird wegen jenem gelobt und verherrlicht in der Mitte etc. Ähnlich, der die Ehefrau lehrt, dessen ist Ehre, weil er ihr vorsteht, die ein vernünftiges Geschöpf ist.“ Non enim est magnum si homo praeest brutis, sed quando rationalibus, 1 Tim. 2. d. Docere autem mulieri non permitto, nec dominari in virum. Sed si est gloria, viri est; ergo quo non habet uxorem, sine gloria est. Sic dictur Prov. 25. a. Ne gloriosus appareas coram Rege. (Ebd.) „Es ist nämlich nichts Großes, wenn der Mensch vernunftlosen Wesen vorsteht, sondern wenn (er) den vernunftbegabten (vorsteht). 1 Tim 2,12: Zu lehren aber gestatte ich der Frau nicht, auch nicht über den Mann zu herrschen. Aber wenn sie Ehre ist, ist sie des Mannes; also ist, wer keine Gattin hat, ohne Ehre. So sagt Spr 25,6: Zeig dich nicht ruhmvoll vor dem König.“ Nam si non velatur mulier, tondeatur.] id est, sicut nullo modo vellet tonderi, ita ullo modo sit quin habeat caput velatum. Ipsae vero non omnino velatum volunt habere, & ideo accidit illud Ezech. 39. Gog & Magog vastabat Ecclesiam: Gog tectum, Magog detectum; quia mulieres ornantes se, quae in parte tegunt capita sua, & in parte detegunt, magnam partem ecclesiae destruxerant provocantes homines ad luxuriam, & faciunt contra hoc praeceptum Apostoli, & maxime illae quae sibi faciunt coronas quasi sint reginae, & nulli sint subjectae. (Ebd., fol. 101v2) „Denn wenn eine Frau sich nicht verhüllt, soll sie geschoren werden (1 Kor 11,6). Das heißt, wie sie auf keinen Fall geschoren werden will, so soll es auf jeden Fall sein, dass sie ihr Haupt verhüllt hat. Sie selbst wollen es aber nicht gänzlich verhüllt haben, und daher ereignet sich bei Ez 39 das: Gog und Magog verwüsteten die Kirche: Gog bedeckt, Magog unbedeckt; denn die Frauen, die sich schmücken und die zum Teil ihr Haupt bedecken und zum Teil entblößen, hatten einen großen Teil der Kirche zerstört, indem sie die Menschen zum Luxus reizten, und sie machen das gegen diese Vorschrift des Apostels, und besonders jene, die sich Kronen machen, gleichsam als ob sie Königinnen und keinem unterworfen wären.“ Quidam volunt hic dicere quod aliquando licuit hoc mulieribus, sed postea Apostolus hoc removit, primo Timoth. Secundo Docere autem mulieri non permitto, nec huic dominari in virum. Sed potest melius dici quod prophetare pro laudare sumitur. (Ebd.) „Manche wollen hier sagen, dass dies einst den Frauen erlaubt war, aber später der Apostel dies beseitigt hat. 1 Tim 2,12: Zu lehren aber gestatte ich der Frau nicht, auch nicht dieser über den Mann zu herrschen. Aber es kann besser gesagt werden, dass prophetisch Reden für Loben verwendet wird.“

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die Bedeckung entscheidend sei, sondern die Sittlichkeit.53 Häufig interpretiert Hugo Paulus im Literalsinn so, dass er auf die Überlegenheit des Ordensklerus über die diözesane Geistlichkeit verweise. Hugo bezieht die paulinische Anordnung, dass Männer ihr Haupt nicht bedecken sollten, auf die geistliche Tonsur, die die Mönche in größerem Ausmaß erhalten als die diözesane Geistlichkeit, was wiederum auf deren engere Beziehung zu Gott hinweise.54 In seiner Interpretation von Paulus behauptet Hugo, wenn Frauen nicht nach dem Ebenbild Gottes geschaffen seien, bedeute das, dass unsere Ähnlichkeit zu Gott in der Vernunft bestehe und nicht in der Begierde.55 Hugo erklärt, wie die verschiedenen 53

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Contra, Magdalena oravit sparsis crinibus, Luc. 7. f. Solutio. Ostentationem prohibet Apostolus sed non solum in crinibus, sed similiter in vestibus, & et caeteris ornamentis. Et constat eam nolle, scilicet, quod decalvetur: quasi dicat non debet velle illud. Si igitur vult ostentare capillos, auferantur. (Ebd., fol. 102r2) „Im Gegenteil, Magdalena betete mit wallenden Haaren, Lk 7,37f. Lösung: Prahlerei verbietet der Apostel, aber nicht nur bezüglich der Haare, sondern ähnlich bezüglich der Kleidung und des übrigen Schmuckes. Und es steht fest, dass sie freilich nicht will, dass sie kahlgeschoren wird: gleichsam will er sagen, sie darf jenes nicht wollen. Wenn sie daher die Haare zeigen will, sollen sie entfernt werden.“ Vir quidem non debet, &c] quia est immediate Deo subjectus, cui servire regnare est. Et in signum hujus Clerici habent coronas minores, & Religiosi majores, quia magis immediate sunt sub dominio Dei. (Ebd., fol. 102r1) „Der Mann allerdings darf nicht etc., weil er unmittelbar Gott unterworfen ist, dem zu dienen Herrschen bedeutet. Und zum Zeichen dessen haben die Kleriker kleinere Kränze und die Ordensmänner größere, weil sie unmittelbarer unter der Herrschaft Gottes sind.“ Vgl. auch: Loquitur Apostolus non de quodlibet velamine, sed de quibusdam similibus velaminibus mulierum, quae data sunt eis in signum subjectionis (Velato capite.) Ideo tondentur Clerici, & pauci relinquuntur capilli, quia pauca debent retinere temporalia, & in tali loco ut neque verticem operiant neque aspectum impediant. Num. 8. A. Tolle Levitas, & radant omnes pilos carnis suae; non dicit, Evellant, qua hoc est Claustralium. (Deturpat caput suum.) Ergo Clericus sine corona deturpat caput suum. (Ebd., fol. 101v1–2) „Es spricht der Apostel nicht über irgendeinen Schleier, sondern über gewisse ähnliche Schleier der Frauen, die ihnen zum Zeichen der Unterwerfung gegeben sind. (Mit verhülltem Haupt [1 Kor 11,4].) Deshalb werden die Kleriker geschoren und es bleiben wenige Haare zurück, weil sie wenig Irdisches behalten sollen, und an solcher Stelle, dass sie weder den Scheitel bedecken noch den Anblick behindern. Num 8,6f.: Sondere die Leviten ab und sie sollen alle Haare ihres Körpers rasieren; nicht sagt er, sie sollen (sie) herausreißen, weil das für die Klosterleute ist. (Er entstellt sein Haupt [1 Kor 11,4].) Daher entstellt der Kleriker ohne Kranz sein Haupt.“ Dan. 13. a. Exarserunt in concupiscentia ejus. Ipsa non est imago Dei: imago dicitur convenientia, & similitudo in ratione principii: ita naturaliter non est imago. Inane est quod dicitur, idest, non plenum in opere hujus capituli expositionis, quae plena est sapientia, & disputatione. (Ebd., fol. 102r2) „Dan 13,8. Sie entbrannten in Begierde zu ihr. Diese selbst ist nicht Bild Gottes: Bild wird genannt die Übereinstimmung und Ähnlichkeit in der Weise des Ursprungs; so ist sie von Natur aus nicht Bild. Nichtig ist, was gesagt wird, das heißt, nicht vollständig im Werk der Darlegung dieses Kapitels, die voller Weisheit und Erörterung ist.“

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Dinge, die über Menschen, Männer und Frauen, gesagt werden, so dargelegt werden, dass sie sich auf die Innenwelt des Menschen beziehen. Menschliche Vernunft habe zwei Teile, den höheren, mit dem Göttliches betrachtet und der deshalb „männlich“ genannt wird, während der niedrigere Teil sich um die irdischen Dinge kümmert und daher „weiblich“ genannt wird. „Die Frau“, der weniger wertvolle Teil des Verstandes, ist der Ruhm des Mannes, wenn er als der höhere Teil den niedrigeren weise beherrscht und dieser gehorcht.56 Hugo ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Frauen weder von der Gnade noch von der Bekehrung ausgeschlossen sind, indem er Gal 3,28 zitiert, „wir sind alle eins in Jesus Christus“.57 Für Hugo war demnach, genauso wie für Gilbert von La Porrée, 1 Kor nicht vorrangig darauf bedacht, die spirituelle Minderwertigkeit von Frauen im Verhältnis zu Männern darzulegen. Vielmehr sei die allegorische Interpretation der ursprüngliche Sinn, insbesondere jener, den Augustinus dem Paulusbrief zuschreibt.

7. Schlussfolgerung Auch wenn diese fünf Kommentare aus dem 12. und 13. Jh. nur eine Auswahl mittelalterlicher Bibelkommentare darstellen, scheinen sie darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit der scholastischen Exegeten 1 Kor 11,7 weder als Behauptung der spirituellen Überlegenheit der Männer über Frauen interpretiert noch deren Gleichheit in Bezug auf Seele und Geist leugnet. Das würde sich ziemlich auffallend sowohl von der Meinung unterscheiden, die in theologischen wie kanonischen Texten des gleichen Zeitraums zu finden ist, als auch von früheren monastischen Kommentaren.58 Wenn diese Auswahl für das gesamte Corpus des scholastischen Bibelkommentars repräsentativ ist 56

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Aliter quod dicitur de viro, & homine, & muliere, exponitur de interiori homine. Ratio habet duas partes, superiorem quae contemplatur divina, & dicitur vir; & inferiorem quae terrena, & dicitur mulier. Caro serpens est qui suggerit sensualitati, idest, inferiori parti rationis. Vel sensualitas brutalis est serpens, quae non peccat, sed peccatum suggerit. Mulier, idest, inferior pars rationis, est gloria viri, idest, superioris partis quando illam bene regit, & ipsa sibi obtemperat, & obedit. (Ebd., fol. 102r2) „Was sonst über den Mann und den Menschen und die Frau gesagt wird, wird dargelegt über den inneren Menschen. Die Vernunft hat zwei Teile, einen höheren, der das Göttliche betrachtet und ‚Mann‘ genannt wird; und einen niederen (Teil), der irdisch und ‚Frau‘ genannt wird. Das Fleisch ist die Schlange, die auf die Sinnlichkeit Einfluss nimmt, das heißt, den niederen Teil der Vernunft. Insbesondere die rohe Sinnlichkeit ist die Schlange, die nicht sündigt, sondern die Sünde eingibt. Die Frau, das heißt, der niedere Teil der Vernunft, ist die Ehre des Mannes, das heißt, des höheren Teiles, wenn er jene gut leitet und sie selbst ihm gehorcht und folgt.“ Sine muliere idest, ita quod excludatur mulier a gratia, nec a converso, Gal 3. d. Non est Judaeus neque Graecus, &c. omnes enim vos unum estis in Christo Jesu. (Ebd., fol. 102r1) „Ohne Frau, das heißt so, dass die Frau ausgeschlossen wird von der Gnade, nicht von der Bekehrung, Gal 3,28: Nicht ist Jude noch Grieche etc. Alle nämlich seid ihr eins in Christus Jesus.“ Vgl. BØRRESEN, „God’s Image, Is Woman Excluded?“.

Frauen in Bibelkommentaren des 12. und 13. Jahrhunderts

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– und viel ist zugegebenermaßen in diesem Bereich noch zu forschen –, dann wurde die Heilige Schrift von den biblischen Exegeten nicht notwendigerweise so verstanden, dass sie in der geistlichen Gottesbeziehung Frauen den Männern gegenüber in eine untergeordnete Position stellte, wie sehr sie auch als körperlich unterlegen verstanden wurden. Das würde darauf hinweisen, zumindest als Arbeitshypothese, dass andere Faktoren eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende, Rolle dabei spielten, die Minderwertigkeit von Frauen zu etablieren, die im späteren mittelalterlichen theologischen Denken vorausgesetzt wurde.59

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Für eine Erörterung solcher Faktoren vgl. MACY, Hidden History, 11–127.

Die Bibel und die Frauen in der moralisch-didaktischen Literatur Spaniens María Isabel Toro Pascua Universidad de Salamanca In memoriam Conchi, Freundin auf immer

1. Einleitung Von ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre einmal abgesehen, zählt die Bibel zu jenen Büchern oder, besser gesagt, Büchersammlungen, die der abendländischen Kunst seit dem frühesten Mittelalter die meisten Motive, Geschichten, Bilder und Themen geliefert haben. Die Bibel und die aus ihr abgeleitete Tradition1 speisen einen Großteil der literarischen Bilderwelt des Mittelalters. Sie dienen als primäre Autorität, sowohl in Fragen der Lehre als auch in der Ausprägung der offiziellen Kultur der Epoche.2 So ist anzunehmen, dass die Bibel unweigerlich auch in den moralisch-didaktischen Schriften präsent ist, die von Anfang an als solche entstanden und in theoretischer wie praktischer Hinsicht sehr eng mit den eigentlichen Lehrinhalten verknüpft gewesen sind. Dies trifft sowohl für die Traktat-Literatur zu als auch für die Erzählungen, die die RezipientInnen durch die Darstellung vorbildlicher Lebensläufe in den guten Sitten unterweisen wollten. Doch die Bibel wird auch in den eher spielerischen Werken präsent sein, die gelegentlich in der Maske der didaktischen oder moralisierenden Texte daherkommen. Diese passen entweder ihre Darstellung an die hagiographischen Schemata an, wie dies in einigen fiktiven Erzählungen der Fall ist, oder behandeln einfach bestimmte Themen, in denen das Erbauliche oder Beispielhafte sehr viel Raum einnimmt. Meist geschieht dies mit dem Ziel, mithilfe bekannter biblischer Grundsätze

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Alle Autoren, die sich mit der Präsenz der Bibel in der mittelalterlichen Kultur befasst haben, weisen darauf hin, dass es nicht angemessen ist, die Heilige Schrift als absolute und einzige auctoritas für das Biblische zu betrachten. Wer von der Bibel im Mittelalter spricht, meint damit gleichzeitig die Kenntnis all dessen, was durch die religiösen Gebräuche (vor allem die Liturgie, die Predigten und die Andachtspraktiken) und natürlich auch durch die um die Bibel herum entstandene Literatur vermittelt wurde; in diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass Lektüre und Studium der Bibel in den darauf spezialisierten Kreisen vor allem anhand der Glossa ordinaria und der Historia scholastica von Petrus Comestor erfolgten. Vgl. hierzu Francisco RICO, Alfonso el Sabio y la „General estoria“: Tres lecciones (Letras e ideas 3; Barcelona: Ariel, 21984), 49. Mit diesen beiden Dimensionen der Präsenz des Biblischen in der spanischen Literatur des Mittelalters befasst sich: María Isabel TORO PASCUA und Gregorio del OLMO LETE, Hg., La Biblia en la literatura española 1.1: Edad Media: El Imaginario y sus géneros; 1.2: Edad Media: El texto: funete y autoridad (La Dicha de Enmudecer; Madrid: Trotta, 2008). Im Folgenden werde ich auf einige der darin enthaltenen Beiträge Bezug nehmen.

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oder Beispiele Verhaltensweisen zu rechtfertigen oder sogar den Inhalt ganz konkreter Episoden darauf aufzubauen. In all diesen Fällen ist die Bibel eine der unverzichtbaren Quellen für die Erforschung der Thematik der weiblichen Lebenswelt. Auch wenn die Art ihrer Verwendung von der jeweiligen Zielsetzung des betreffenden Texts abhängt, wird doch die Literatur immer das schon vorgefertigte Frauenbild widerspiegeln, das den anerkannten Wissensautoritäten der mittelalterlichen Kultur – und damit in allererster Linie der Bibel, wie sie damals verstanden wurde – entspricht. Auf dieser ideologischen Grundlage lassen sich dann konkretere Verwendungen unterscheiden, so etwa die einfache Erwähnung biblischer Frauen als Beispiel für einen tugendsamen oder lasterhaften Lebenswandel; der Gebrauch von in der Bibel etablierten Archetypen weiblichen Verhaltens als Basis für das narrative Gerüst der Erzählung; die Herstellung von Parallelen zwischen biblischen Passagen und der konkreten Situation literarischer Protagonisten und sogar die rhetorische Verwendung biblischer Episoden, in denen Frauen eine Rolle spielen.3

2. Das literarische Frauenbild und die Autorität der Bibel Das literarische Frauenbild, das sich uns im Mittelalter darbietet, hängt direkt mit den Kategorien zusammen, nach denen die mittelalterliche Welt geordnet war. Dazu gehören jene, die durch die schriftliche Überlieferung autorisiert waren, d. h. sich auf das principium auctoritatis und damit auf ein unanfechtbares Kulturgut stützen konnten, und jene, die durch die Erfordernisse der Gesellschaftsordnung bedingt waren, in der die Frauen eine reichlich eingeschränkte Rolle spielten. Die Bibel und insbesondere das Buch Genesis wird zu einer der grundlegenden Autoritäten bei der Entstehung des Frauenbildes. Nicht umsonst sollte der biblische Text dazu dienen, die aus anderen Wissensbereichen abgeleiteten Grundsätze zu erklären, sodass zwischen Letzteren und Ersterem ein beständiger Dialog entstand, aus dem man übereinstimmend folgerte, dass die Frau von Natur aus sowohl in physischer wie auch in moralischer Hinsicht ein untergeordnetes Wesen sei. Die sprichwörtliche Sündhaftigkeit „der Frau“ war demnach in der weiblichen Natur angelegt und hatte nichts mit ihrer individuellen Veranlagung zu tun. Dieser Grundsatz erklärt auch, weshalb eine tugendhafte Frau, die also die ihrem Geschlecht angeborenen Grenzen zu überwinden vermochte, etwas so Außergewöhnliches war.4 Martín de Córdoba drückt das in seinem Jardín de nobles doncellas, 3

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Ich beabsichtige keine erschöpfende Untersuchung dieser Verwendungsarten im umfangreichen Corpus der spanischen moralisch-didaktischen Literatur des Mittelalters, dazu fehlt hier der Platz. Die im Folgenden angeführten Beispiele veranschaulichen den vielfältigen Einsatz der Bibel bei der Behandlung des hier diskutierten Themas. Siehe dazu bereits: María Isabel TORO PASCUA, „‚Sic vos non vobis‘: La imagen de la mujer, vía transmisora de conocimiento en la literatura medieval“, in El conocimiento del pasado: Una herramienta para la igualdad (hg. v. María Carmen Sevillano et al.; Salamanca: Plaza Universitaria, 2005), 219–240.

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einem moralisch-didaktischen Traktat über die weibliche Erziehung, den er der damaligen Prinzessin und späteren kastilischen Königin Isabel widmete, so aus: Die Frauen sind von Natur aus schwach und ängstlich, aber wenn es geschieht und sie sich eine Sache zu Herzen nehmen und sich der Angst entledigen, dann können nicht einmal die Giganten das ertragen, was sie vermögen.5 Diese Vorstellung geht auf die antike Naturphilosophie zurück. Die Schriften des Aristoteles (De animalium generatione) und Plinius! des Älteren (Historia naturalis) wurden von den Philosophen und Medizinern des Mittelalters und auch der nachfolgenden Epochen als unentbehrliche Quellen benutzt. In ihnen wurde die Idee vertreten, dass „die Frau“ vom Augenblick ihrer Entstehung an ein untergeordnetes Wesen sei – eine Tatsache mithin, die weder dem Willen noch irgendwelchen anderen äußeren Einflüssen gehorche, sondern schlicht und einfach die Folge ihrer Verfasstheit als natürliches Lebewesen sei.6 Diese fundamentalen Leitsätze hat das Christentum schon sehr früh übernommen. Die ältesten christlichen Autoren etablierten eine Auffassung, von der sich ein Großteil der kirchlichen Meinungen über „die Frau“ ableitet, die auch in späteren Epochen eine Konstante bilden sollte: Die Ansicht von der notwendigen und natürlichen Unterordnung der Frau unter den Mann konnte sich auf die Autorität des Aristoteles stützen.7 Doch die Kirchenväter beriefen sich zudem auf die biblische Autorität, die den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Epoche in diesem Fall in keiner Weise widersprach, sondern im Gegenteil in dieselbe Richtung wies. Schon das Buch Genesis genügte als Argument, um die Erschaffung der Frau mit den Bedürfnissen des Mannes zu begründen: Dixit quoque Dominus Deus: Non est bonus esse hominem solum: faciamus ei adiutorium simile sibi.

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MARTÍN DE CÓRDOBA, Jardín de nobles doncellas (hg. v. Félix García; Joyas Bibliográficas 10; Madrid: Joyas Bibliográficas, 1953), 84. Zum Bezug auf Aristoteles vgl. z. B. Historia animalium X,4. Einer jener Schriftsteller, die sich ausführlicher mit der natürlichen Schwäche der Frau auseinandergesetzt haben, war Pere TORROELLA in seinem Maldezir de mugeres: „Muger es un animal / que se dize hombre imperfecto, / procreado en el defecto / del buen calor natural“; ich verwende die klassische Ausgabe von Pedro BACH Y RITA, Hg., The Works of Pere Torroella: A Catalan Writer of the Fifteenth Century (New York: Instituto de las Españas, 1930), 211. In diesem Zusammenhang sei an die Auffassung erinnert, die Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica vertritt: Videtur quod mulier non debuerit produci in prima rerum productione. Dicit enim philosophus, in libro de Generat. Animal. [II, cap. 3], quod femina est mas occasionatus. Sed nihil occasionatum et deficiens debuit esse in prima rerum institutione. Ergo in illa prima rerum institutione mulier producenda non fuit (pars I, q. 92, a. 1). Diese notwendige Unterordnung, die mit der physischen und moralischen Minderwertigkeit der Frau begründet wird, rechtfertigt ihren Ausschluss aus zahlreichen Bereichen und Funktionen der mittelalterlichen Gesellschaft, die so unterschiedlich sind wie die intellektuelle Betätigung, die Regierung oder die Übernahme von Verantwortung im kirchlichen oder weltlichen Bereich.

Bibel und Frauen in moralisch-didaktischen Traktaten

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Und Gott sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei: Machen wir ihm eine Hilfe, ihm ähnlich (Gen 2,18).

Diese „Hilfe“ bedarf, zumal nach den ersten im Paradies begangenen Sünden, der ständigen Überwachung durch den Mann: Mulieri quoque dixit: (...) in dolore paries filios et sub viri potestate eris, et ipse dominabitur tui. Zur Frau sprach er: (…) in Schmerzen wirst du Kinder gebären und unter der Herrschaft des Mannes wirst du sein, er aber wird dich beherrschen (Gen 3,16).

Auf diese Bibelverse der Vulgata stützen Autoren wie der heilige Augustinus von Hippo (Confessiones XIII,32,47) oder der heilige Thomas von Aquin (Summa Theologica, pars I, q. 92, a. 3) vieles von dem, was sie über die unstrittige Unterordnung der Frau unter den Mann geschrieben haben. Der Mann sei der Erste der Menschen, in sich vollständig und von keinem anderen Wesen abstammend, auch wenn sie zugeben müssen, dass die Frau aus einer nobleren Materie, aus der Rippe des Mannes, geschaffen worden ist als der Mann, der aus dem Lehm der Ackererde geformt wurde.8 Aus dieser Vorstellung der Unvollkommenheit wird eine zweites Argument für die weibliche Eigenschaft abgeleitet: die natürliche Tendenz der Frau zur Sündhaftigkeit. Ihre Schwäche mache sie überdies zu einem äußerst geeigneten Werkzeug, um das Übel in der Welt zu verbreiten, wie es den Absichten des Bösen entsprach: Er war die treibende Kraft und sie das wirksamste Mittel, um die diabolischen Handlungen auszulösen und zu entfesseln.9 In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht vergessen, dass die Patristik und die traditionelle Exegese der biblischen Texte, z. B. 1 Tim 1,12–14, die Frau als dasjenige Geschöpf vor Augen stellen, das, obwohl als zweites geschaffen, als erstes sündigte, weil sie auch als Erste der teuflischen Versuchung anheimfiel und den Mann und damit die ganze Menschheit mit sich ins Unglück riss:10 Docere autem mulierem non permitto, neque dominari in virum: sed esse in silentio. Adam enim primus formatus est: deinde Eva: et Adam non est seductus: mulier autem seducta in praevaricatione fuit. Zu lehren gestatte ich einer Frau nicht, auch nicht, dass sie über den Mann herrsche, sondern sie sei still. Denn Adam wurde zuerst geschaffen, danach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, sondern die Frau hat sich zur Übertretung verführen lassen.

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Vgl. MARTÍN DE CÓRDOBA, Jardín, 14. Thomas von Aquin erklärt dies so: Videtur quod non fuerit conveniens modus et ordo primae tentationis. Sicut enim ordine naturae angelus erat superior homine, ita et vir era perfectior muliere: sed peccatum pervenit ab angelo ad hominem: ergo pari ratione debuit pervenire a viro in mulierem, ut scilicet mulier per virum tentaretur, et non e converso. (Summa Theologica, pars II–II, q. 165, a. 2.) Zum Frauenbild in der mittelalterlichen Theologie vgl. Adelina SARRIÓN, „Mujeres, religión e Iglesia“, in DIES., Beatas y endemoniadas: Mujeres heterodoxas ante la inquisición: Siglos XVI a XIX (Alianza Ensayo 222; Madrid: Alianza, 2003), 27–136; 27–38.

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María Isabel Toro Pascua

Augustinus befasst sich ausführlich mit diesem Thema und gelangt dabei zu der Überzeugung, dass die von der Frau hervorgerufene Sexualität der deutlichste Ausdruck der menschlichen Verderbtheit ist und unumkehrbar zum Tode führt.11 Vor diesem Hintergrund fällt es leicht die Beziehungen zu verstehen, die sich durch die typologische Interpretation zwischen den menschlichen Geschlechtern etablierten. Theologisch gesprochen drücken sich diese Beziehungen in den beiden in der Literatur so erfolgreichen Interpretationspaaren Christus – Adam und Maria – Eva, den Erlösern und Verderbern der Menschheit, aus, wobei „die Frau“ bei der Auslegung solcher Entsprechungen unweigerlich sehr viel schlechter wegkommt als der Mann.12 Der Gegensatz und der Abstand zwischen den beiden Frauenfiguren sind jedenfalls größer als jener zwischen ihren männlichen Pendants, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Nachkommen Evas unmöglich an Maria – ihr nachahmenswertes Vorbild – herankommen können. Während des gesamten Mittelalters galt einerseits die Mutterschaft als einer der lobenswertesten Aspekte der Weiblichkeit, der noch am ehesten dazu angetan war, die Frau in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen; andererseits trug die Mutterschaft den Makel der Erbsünde an sich, insofern gerade sie Verzicht auf die Vollkommenheit Marias verlangte, die Mutter und Jungfrau zugleich war. Wie dem auch sei, diese Sicht „der Frau“ als eines den natürlichen Trieben hilflos ausgelieferten Wesens wird sich zu einem Argumentationsprinzip entwickeln, dessen sich die mittelalterliche Literatur häufig bedient – wenngleich es nicht unbedingt ihre primäre Intention war, das weibliche Geschlecht zu tadeln oder zu loben.13 Auf diese Weise verwandelte sich die von Aristoteles und den unanfechtbaren Leitsätzen der mittelalterlichen Theologie abgeleitete Vorstellung von „der Frau“ in einen häufig verwendeten literarischen Topos: einen bequem verfügbaren Gemeinplatz, der in vielen

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Einige Abschnitte der Werke von Augustinus lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, vgl. z. B. De Genesi ad litteram XI,30,39 oder De Civitate Dei XIV,14. Die Typologie Eva – Maria, ein beliebtes Thema in der mittelalterlichen Literatur (das auch zu dem rhetorischen Wortspiel Eva – Ave Anlass gab), ist in mittelalterlichen Enzyklopädien wie dem Lucidario aufgeführt: Richard P. KINKADE, Los „Lucidarios“ españoles (Madrid: Gredos, 1968), 77–311; 108f. Natürlich dient diese Vorstellung auch als Basis und Ausgangspunkt in der literarischen Debatte zwischen Frauenfeinden und Frauenfreunden, die in Spanien während des 15. Jh. mit besonderer Intensität geführt wurde. Argumente für beide Positionen fand man in ausreichender Anzahl in zwei Werken von Giovanni Boccaccio, De mulieribus claris und Corbaccio, die seit der Zeit Johannes II. in Kastilien häufig imitiert wurden. Zu den Verteidigern der Frauen zählten Traktatschreiber wie Álvaro de Luna, Alonso de Cartagena oder Diego de Valera, Dichter wie Juan de Mena, Hugo de Urríes, Juan del Encina oder Pedro Manuel de Urrea, und Romanschriftsteller, insbesondere Juan de Flores und Diego de San Pedro. Vgl. hierzu die Arbeiten von Jacob ORNSTEIN, „La misoginia y el profeminismo en la literatura castellana“, Revista de Filología Hispánica 3 (1941): 219–232, und Michael SOLOMON, The Literature of Misogyny in Medieval Spain: The „Arcipreste de Talavera“ and the „Spill“ (Cambridge Studies in Latin American and Iberian Literature 10; Cambridge: Cambridge University Press, 1997).

Bibel und Frauen in moralisch-didaktischen Traktaten

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Fällen keinerlei Bewertung, sondern die schlichte Feststellung einer unumstößlichen Wahrheit enthielt. So gesehen überrascht es nicht, dass die weisheitliche Literatur mit Sprüchen und Sprichwörtern gespickt ist, die auf den ausschweifenden Charakter und den übermäßigen Ehrgeiz der Frauen verweisen und beides auf ihre „natürliche Unterlegenheit“ gegenüber dem Mann zurückführen.14 Doch vor allem die moralisch-didaktischen Traktate stützen ihre Thesen und Argumente – gar nicht immer nur mit Blick auf die Frauen – auf diese grundlegenden Prinzipien und ordnen damit das natürliche Wissen der biblischen Autorität unter. Die Bibel bot in den meisten Fällen dafür einen wichtigen Katalog von exempla, mit denen sich das Gesagte untermauern ließ. In diesem literarischen Bereich wird uns „die Frau“ als eine der größten Gefahren für „den Mann“ vor Augen geführt, weil in ihr der Ursprung der männlichen Schwäche wurzelt, die ihn zu unangemessenen Verhaltensweisen verleiten kann. Dies gilt beispielsweise für den Vergel de consolación von Jacobo de Benavente, einen moralischen Traktat aus der zweiten Hälfte des 13. Jh., der mehrfach Episoden aus der Bibel zur Veranschaulichung verschiedener Verhaltensmuster verwendet.15 In seiner Warnung vor dem verderblichen Einfluss „der Frau“ begnügt sich der Autor nicht damit, uns an Adams Sündenfall zu erinnern, sondern ruft seinen Lesern auch jene biblischen Männer ins Gedächtnis, die trotz ihrer moralischen Stärke oder ihrer Weisheit durch die Schuld der Frauen gesündigt haben. Die bloße Anspielung auf diese Gestalten macht das konkrete Bibelzitat bereits überflüssig, weil alle erwähnten Beispiele zur üblichen Topik gehörten: Alle sollte es zum Nachdenken nötigen, dass die Gesellschaft von Frauen Adam und Salomo in die Irre führte und allein die Begegnung und das Wort einer Frau Petrus dazu brachten, Jesus zu verraten.16 Ganz anders wird derselbe Stoff beim Verfasser eines der wichtigsten Fürstenspiegel des 13. Jh., des Castigos del rey don Sancho IV, eingeführt. Der für die Erziehung des Prinzen Ferdinand IV. verfasste Traktat bietet konkrete Richtlinien für die gute Regierung, und es fehlt darin auch nicht an Empfehlungen, die sich auf die bestmögliche Art der Rechtsprechung beziehen; in diesem Zusammenhang ist folgender Ratschlag grundlegend: Non mengues justiçia por consejo, nin por ruego de muger („Nie 14

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Pedro Díaz de Toledo greift dies in seinen Glossen zu den Proverbios de Séneca mehrfach auf; als Beleg mag z. B. das folgende Zitat dienen: „La mujer, como su ser es imperfecto, es, como dize Aristótiles, varón menguado non se trae assi naturalmente a dexar los estremos e tomar el medio nin por discursu de mucho tiempo nin por doctrina“, Proverbios de Séneca glosados por Pedro Díaz de Toledo (Zaragoza: Pablo Hurus, 1491), f. 2v; ich verwende das Exemplar aus der Nationalbibliothek in Madrid, Sign. Inc. 317. Vgl. zu diesem Traktat die Arbeiten von Hugo O. BIZZARRI, „Sobre la autoría del Vergel de consolaçión del alma: Teorías existentes y su interpretación“, RET 46 (1986): 215–224, und DERS., „Deslindes editoriales sobre el Vergel de consolación del alma“, Incipit 14 (1994): 105–218. Hugo O. Bizzarri befasst sich auch mit der Präsenz der Bibel in besagtem Werk: DERS., „La Biblia en la prosa homilética y moral“, in La Biblia en la literatura española 1.2: Edad Media: El texto: funete y autoridad (hg. v. María Isabel Toro Pascua und Gregorio del Olmo Lete; La Dicha de Enmudecer; Madrid: Trotta, 2008), 195–252; 225.

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sollte man von der Gerechtigkeit absehen, weder aufgrund einer Bitte noch aufgrund des Ersuchens der Frau“). Der Grundsatz wird sodann mit Salomos Urteil im Streit der beiden Frauen (1 Kön 3,16–28) und mit dem Urteil Daniels über die von den beiden Ältesten zu Unrecht angeklagte Susanna (Dan 13) veranschaulicht.17 Besonders interessant ist die Unterschiedlichkeit der hier verwendeten Beispiele der biblischen Frauenwelt: Während es sich im ersten Fall um mulieres meretrices, um Prostituierte, handelt, haben wir es im zweiten Fall mit einem über jeden Zweifel erhabenen Muster an Tugend zu tun. Die an den Prinzen gerichtete Unterweisung jedoch befasst sich nicht mit dem gegensätzlichen Charakter und auch nicht mit dem Verhalten der jeweiligen Frauen, sondern mit der schlichten Tatsache, dass das Gesuch einer Frau einfach deshalb, weil es sich um eine Frau handelt, den Regierenden zu Ungerechtigkeit verleiten kann. Der literarische Text setzt einfach die „natürliche Eigenart“ der Frauen voraus, ohne näher auf die als Beispiele angeführten Verhaltensweisen einzugehen, die im didaktischen Traktat hinter der Vorstellung von der gefährlichen Natur „der Frau“ zurücktreten. In anderen Fällen macht die Literatur die Frau zur direkten Ursache männlicher Fehltritte wie der Sünde der Wollust, die in der Regel ihrerseits als Ursache größerer Übel angesehen wird.18 Auch wenn es in diesen Kontexten in erster Linie darum geht, das unmoralische Verhalten des Mannes aufzuzeigen, wird doch unmissverständlich deutlich, dass das unsittliche Handeln des Mannes durch die Schönheit der Frau hervorgerufen wird. Deshalb liegt der gesamten Darstellung implizit die Warnung vor den Frauen zugrunde, da sie eine Gefahr darstellten, vor der man sich hüten muss. Die biblische Episode von David und Batseba (2 Sam 11) war ein perfektes Beispiel, mit dem sich diese Vorstellung veranschaulichen und ganz unstrittig belegen ließ, dass die ungezügelte Wollust selbst den tugendhaftesten aller Männer zum schlimmsten aller Verbrechen verleiten konnte. Juan Ruiz ist nur einer der vielen Autoren, der diese Geschichte aus der Bibel gemeinsam mit den Beispielen anderer, von ähnlichen Begehrlichkeiten besiegter Männer in seinem Libro de buen amor als Beweis dafür anführt, dass die Luxuria immer und überall sei (257a):19 Der Prophet David wurde von der Luxuria überwältigt, Indem er Uria töten ließ, als er ihn in den Krieg schickte, In die erste Reihe ihn stellte und sagte: Überbringt diesen Brief Joab und kehrt zurück! Aus Liebe zu Batseba, der Frau des Uria, Beging König David einen Mord und verfehlte sich gegen Gott: 17 18

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Ebd., 237–243. So erklärt Fernán Pérez de Guzmán beispielsweise, dass die Luxuria die dritte Sünde sei, von den natürlichen sei sie die schlechteste und Ursache jeglichen größeren Übels: Confesión rimada, in DERS., Las setecientas (Sevilla: Jacobo Cromberger, 1506; Faksimileausgabe von Antonio Pérez Gómez, Cieza: La fonte que mana y corre, 1965), V76a–c, Sign. fr. Juan RUIZ, Libro de buen amor (hg. v. Alberto Blecua; Letras Hispánicas 70; Madrid: Cátedra, 1992).

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Aus diesem Grund war es ihm den Rest seiner Tage verwehrt, in den Tempel zu gehen. Tu große Buße für deine Meisterwerke [der Sünde]! (258f.)

Wie in den zuvor genannten Fällen wird auch hier die Frau nicht direkt als Individuum beschuldigt; vielmehr ist es ihre Natur, die sie unweigerlich zur Sünde verleitet. Unter diesem Blickwinkel ist es leicht, die furchtbaren Folgen der männlichen Wollust zu betonen und die Frau dabei gewissermaßen zu entschuldigen, weil ihre verführerischen Fähigkeiten angeboren seien und es nur dem Mann ansteht, sie zu überwinden. Martín de Córdoba erklärte dazu, dass in den Frauen die Vernunft nicht so stark sei wie in den Männern, die aber aufgrund der größeren Vernunft, die sie haben, die fleischlichen Begierden einbremsen können.20 Auf diese Weise wird „die Frau“ zur ersten Ursache und gleichzeitig zum letzten Opfer der Sünde des Mannes, wie es Pero López de Ayala in seinem Libro rimado de Palacio in aller Deutlichkeit formuliert: Als König David sah in Einsamkeit Batseba sich baden und sie begehrte Nachdem er sie geraubt hatte zwang er sie zur Liebe Verursachte er großes Leid bei Gott, unserem Herrn.21

Diese Möglichkeit der Entlastung der Frau findet sich deutlich ausgeprägt in der Crónica del rey don Rodrigo, die traditionell Pedro de Corral zugeschrieben und ungefähr auf das Jahr 1430 datiert wird. Tatsächlich handelt es sich um ein romanhaft fabulierendes Werk, das Elemente von Rittererzählungen enthält und auf dem historischen Hintergrund der Legende vom Untergang Spaniens aufbaut. Bei der Erschaffung dieser Fantasiewelt spielte die Bibel eine wichtige Rolle, und das nicht nur als Inspiration für einige der darin beschriebenen Abenteuer, sondern auch als interpretative Folie für eine implizite Parallele zwischen König Don Rodrigo und den biblischen Königen Salomo und David.22 Trotz der spielerischen Absicht der vorgeblich historischen Erzählung ist es nicht schwierig, aus der ganzen Geschichte eine moralische Lehre zu ziehen: Der Untergang des Königreichs ist die Folge der sündhaften Wollust seines Königs, der auf diese Weise der langen Liste der von der Liebe besiegten Männer einen weiteren Namen hinzufügt. Jedenfalls wurzelt die Schuld von Florinda Cava23 – und vielleicht auch die Schuld der Batseba und anderer Frauen, die einfach durch ihr Frausein zur Sünde der Wollust 20 21

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MARTÍN DE CÓRDOBA, Jardín, 56. Pero LÓPEZ DE AYALA, Libro rimado del Palaçio (hg. v. Jacques Joset; Clásicos; Madrid: Alhambra, 1978), 84. Zu den biblischen Einflüssen in diesem Werk vgl. Aurora LAUZARDO UGARTE, „La Biblia como modelo estructural y temático de la Crónica sarracina de Pedro de Corral“, O-Clip: Cuadernos del seminario Federico de Onís 1 (1991): 69–114, und María Isabel TORO PASCUA, „La Biblia en la literatura de ficción en la Edad Media“, in La Biblia en la literatura española 1.1: Edad Media: El Imaginario y sus géneros (hg. v. ders. und Gregorio del Olmo Lete; La Dicha de Enmudecer; Madrid: Trotta, 2008), 237–270; 254–256. Florinda Cava ist die Tochter des Ritters Don Julián, die am Hofe von König Rodrigo zur Heilung seines Aussatzes aufgenommen und dort verführt oder vergewaltigt wurde. Es

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verleiten – letztlich nicht in ihrer naturgegebenen verführerischen Veranlagung, sondern in ihrer Unfähigkeit, die Wirkung ihres weiblichen Naturells auf Männer durch Tugend zu neutralisieren.24 Denn nichts anderes schreibt der Verfasser der Crónica, als er die Handlung Florindas mit dem Hinweis verurteilt, dass sie so laut schreien hätte können, dass die Königin sie gehört hätte, wenn sie es nur gewollt hätte. Sie aber zog es vor zu schweigen, was bedeutet, dass es ihr mit dem König gefallen habe.25 Er bezieht sich damit offensichtlich auf die biblische Regelung von Dtn 22,24.27, die vergewaltigte Frauen dann für unschuldig hielt, wenn niemand ihre Hilferufe hatte hören können. Auf diese Rechtsgepflogenheit bezieht sich wohl auch Susanna, als sie versuchte, ihre Unschuld durch lautes Schreien zu retten (Dan 13,24).

3. Literarische Verwendungen der Bibel 3.1 Biblische Frauen als Vorbilder So ließen sich biblische Frauenfiguren leicht in Topoi oder Klischees zur Veranschaulichung menschlicher Laster und Tugenden verwandeln. Schließlich genügte ihre bloße Erwähnung oder eine kurze Zusammenfassung ihrer Geschichte und war keinerlei Exegese oder Kommentar mehr vonnöten, um die moralische Bedeutung der betreffenden Gestalt heraufzubeschwören und auf den literarischen Stoff zu projizieren. Zu dem typologischen Paar Eva – Maria kommen andere Frauen hinzu, die Lob oder Tadel verdienen, wie die bereits erwähnten Susanna und Batseba, sodass sowohl die ernstere Literatur wie auch die, die einzig zum Zweck der Unterhaltung eines höfischen Publikums entstand, auf einen umfangreichen Katalog zurückgreifen konnte. Erwartungsgemäß erweist sich die Bibel bei der Veranschaulichung der Sünden von speziellem Nutzen. Das belegt beispielsweise Teófilos Gebet zur heiligen Jungfrau in Nr. XXIV/XXV (Strophen 826–831) der von Gonzalo de Berceo erzählten Milagros de Nuestra Señora aus dem 13. Jh. In einem von der biblischen und hagiographischen Tradition geprägten Bußtext ist neben Petrus, Longinus, David und den Völkern von Ninive explizit von der „Heiligen Magdalena, der Schwester des Lazarus“ und von „der Ägypterin“ die Rede. Etwa zur selben Zeit verwendet auch der anonyme Verfas-

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scheint, dass der Vater sich dadurch gerächt hat, dass er das Vorrücken der Muslime befördert hat, das in der Invasion fast ganz Spaniens endete. Man darf nicht vergessen, dass die Tugend der Frau in der Überwindung ihrer naturgegebenen moralischen Begrenzungen wurzelt. Wenn man dies bedenkt, versteht man leicht, weshalb die mittelalterlichen Tugendkataloge überwiegend aus Frauen bestehen, die ihre Jungfräulichkeit oder Keuschheit mit ihrem Leben verteidigten, oder weshalb gerade die reuigen Prostituierten oder die jungfräulichen Märtyrerinnen in den hagiographischen Erzählungen einen so großen Raum einnehmen. Pedro de CORRAL, Crónica del rey don Rodrigo, postrimero rey de los godos (Crónica sarracina) (hg. v. James Donald Fogelquist; 2 Bde; Clásicos Castalia 257; Madrid: Castalia, 2001), 1:455.

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ser des Libro de Alexandre, einer Lebensbeschreibung Alexanders des Großen im Stil eines Fürstenspiegels und mit zahlreichen Hinweisen auf die Kultur der Epoche gespickt,26 dieselbe Vorgehensweise und Zielsetzung; hier erscheint Lots Frau als Beispiel der Trägheit (2393b, Gen 19,17–26), während Ester gemeinsam mit Adam die Sünde des Hochmuts veranschaulicht (2409cd, Est 4,9–16). Von diesen didaktischen Bereichen einmal abgesehen, kommen besagte literarische Mittel auch in der höfischen Literatur des 15. Jh. zum Einsatz, und zwar in eher moralisierenden oder zumindest exemplarischen Zusammenhängen. Die Quellen, auf die man dort zurückgreift, haben wenig oder gar nichts mit der Bibel und ihrer traditionellen Auslegung, sondern mit dem Repertoire der frauenfreundlichen Literatur zu tun, das sowohl biblische als auch historische und mythologische Frauenfiguren der heidnischen Antike anführt. Vor allem in den an Frauen gerichteten Lobschriften ist diese Verwendung exemplarischer Frauengestalten unvermeidlich – etwa im Prolog zum Cancionero, den Pedro Manuel de Urrea kurz vor dem Jahr 1513 als Widmung an seine Mutter, Doña Catalina de Híxar, die Gräfin von Aranda, verfasst: Auch wenn unsere Herrschaft nicht wegen anderer Dinge als wegen einer so unvergleichlichen Keuschheit geschätzt werden müsste, wäre immer noch genügend da, um den Frauen Ruhm und Krönung zu geben, weil gewiss dort, wo dieser leuchtet, nichts verdunkelt werden kann. Wie sehr werden die höfischen Frauen gelobt, seien es jüdische oder christliche, nur für ihre Keuschheit. Nicht umsonst finden wir heute so viele Bücher, voll mit ihren berühmten Geschichten! (...) Von den Jüdinnen: über Sara, als sie von Pharao gefangen genommen wurde; über Ester, Judit und Elisabet, die Frau von Zacharias, von der Johannes der Täufer geboren wurde. 27

Auch die Cancionero-Dichtung und die fiktive Prosa des 15. Jh. bedienen sich mehr als einmal des Mittels, eine Liste tugendhafter Frauen aufzustellen, mit der sich der Stand der höfischen Frau auf das moralische Niveau dieser Archetypen heben lässt. Die Cárcel de amor, ein Werk von Diego de San Pedro, das 1492 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, bietet uns hierfür ein kostbares Beispiel: Hier defilieren die großen Matronen der klassischen Welt Seite an Seite mit den Frauen der Bibel: Sara (Gen 12,9–20), Debora (Ri 4–5), Ester (Est 2–8), Simsons Mutter (Ri 13), Judith (Jdt 8–14) und Elisabet (Lk 1,5–25.39–80),28 die alle in den großen Verzeichnissen tugendhafter Frauen – etwa bei Álvaro de Luna oder Diego de Valera – erfasst sind.

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Vgl. Jorge GARCÍA LÓPEZ, „La Biblia en la cuaderna vía del siglo XIII“, in La Biblia en la literatura española 1.1: Edad Media: El Imaginario y sus géneros (hg. v. María Isabel Toro Pascua und Gregorio del Olmo Lete; La Dicha de Enmudecer; Madrid: Trotta, 2008), 35– 68; 37; unter anderem befasst sich dieser Beitrag eingehend mit den beiden hier erwähnten Werken. Vgl. Pedro Manuel de URREA, Cancionero (hg. v. María Isabel Toro Pascua; 3 Bde; Larumbe 74; Zaragoza: Prensas Universitarias/Instituto de Estudios Altoaragoneses, 2012), 1:16f. Diego de SAN PEDRO, Cárcel de amor (hg. v. Carmen Parrilla; Biblioteca Clásica 17; Barcelona: Crítica, 1995), 75.

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3.2 Archetypen biblischer Erzählungen und literarische Themen Die mittelalterliche Literatur begnügt sich nicht damit, die Bibel als einen Katalog von Namen zu verwenden, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichsten Laster und Tugenden veranschaulichen lassen. Nicht selten greift sie auch auf die Heilige Schrift zurück, um ihr den Handlungsablauf der Erzählungen zu entnehmen, die dadurch einen ausgeprägt exemplarischen Charakter erhalten. Die biblische Geschichte wird somit zur Folie, die die Interpretation erleichtert, auch wenn es sich um Werke ohne erklärte didaktische oder moralische Zielsetzung handelt. Vor diesem Hintergrund ist die Präsenz der Bibel in der fiktiven Prosa des Mittelalters leicht zu verstehen. Ihr liegt im Wesentlichen das ritterliche Ideal zugrunde, ein Verhaltenskodex, der sich vor allem an biblischen Vorbildern orientiert, wenn es etwa darum geht, für Witwen und Waisen einzutreten (Ex 22,22–24; Dtn 14,29 u. a.), hilfsbedürftige Mädchen zu beschützen (Ex 2,16–22) oder insbesondere seinen Glauben mit dem eigenen Leben zu verteidigen.29 Neben diesen allgemeinen Themen finden wir jedoch auch einige konkrete Abenteuer, in denen Frauen eine Rolle spielen und die auf biblische Erzählvorlagen zurückgehen: so etwa die Geschichten von Müttern, die aus schierer Verzweiflung auf den Gedanken verfallen, ihre eigenen Kinder zu essen, um zu überleben (von der Königin in El rey Guillelme bis hin zur verzweifelten Mutter in La destruición de Jerusalén), ein Motiv, das in der mittelalterlichen Literatur häufig Verwendung findet, uns jedoch direkt an Dtn 28,53, 2 Kön 6,28f. und Klgl 2,20 denken lässt. Auch die Verteidigung einer zu Unrecht der Sittenlosigkeit beschuldigten Frau, die man beispielsweise in Dan 13 in der Geschichte von Susanna und den beiden Ältesten findet, kommt angefangen bei Enrique, fi de Oliva bis hin zum Cárcel de amor in den meisten dieser Werke vor. Die falsche Vergewaltigungsklage einer empörten Frau, etwa in der Demanda del Santo Grial oder Tristán de Leonís, erinnert an die Geschichte des keuschen Josef in Gen 39,7–20.30 Die biblische Verurteilung der Frauen, die vor oder außerhalb der Ehe Beziehungen unterhalten (Dtn 22,20f.), ist ein Tatbestand, der in verschiedenen dieser Werke wie etwa dem Baladro del sabio Merlín oder dem Amadís de Gaula die Handlung in Gang setzt. Um sich solcher Anschuldigungen zu erwehren, bitten einige dieser Frauen um ein Gottesurteil, wie es in Num 5,11–28 beschrieben wird und dem sich im Protevangelium des Jakobus (16,2) und im Pseudo-Matthäusevangelium (12,3) sogar Maria selbst unterziehen muss. Da man aus Dtn 24,16 herauslas, dass eine schwangere Frau nicht hingerichtet werden durfte, konnten viele Protagonistinnen in

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Zur Präsenz der Bibel in der fiktiven Prosa, auf die hier nur am Rande eingegangen werden kann, vgl. TORO PASCUA, „La Biblia en la literatura de ficción“, 254–256. In diesem Zusammenhang wird jedoch auch gerne auf die Geschichte von Phädra und Hippolytos zurückgegriffen, wie sie Ovid im 15. Buch der Metamorphosen erzählt. Zu diesem volkstümlichen Motiv vgl. John D. YOHANNAN, Joseph and Potiphar’s Wife in World Literature: An Anthology of the Story of the Chaste Youth and the Lustful Stepmother (A New Directions Book; New York: New Directions, 1968).

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diesen Geschichten aus ebendiesem Grund ihr Leben retten oder ihre Bestrafung zumindest hinauszögern.31 Unter all diesen fiktiven Texten sind diejenigen hervorzuheben, die sich einen hagiographischen Anstrich geben – wie jene, die in der Handschrift h-I-13 der Biblioteca del Escorial erhalten sind und später verschiedenen echten Heiligenviten als Vorlage gedient haben.32 Eine dieser Erzählungen ist der Noble cuento del emperador Carlos Maynes y de la reina Sebilla, su mugier; dieses Werk geht auf eine französische Chanson de geste, die Chanson de Sebille, zurück, in der das Schicksal der Braut Karls des Großen geschildert wird, nachdem diese des Ehebruchs angeklagt und vom Hof verbannt worden war.33 Unter den Erlebnissen der Königin finden sich viele der oben erwähnten Elemente wieder. So wird Sebille fälschlich des Ehebruchs bezichtigt und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, aufgrund ihrer Schwangerschaft wird ihre Bestrafung jedoch ausgesetzt. Schließlich wird sie verbannt und irrt umher, bis es ihr gelingt, ihre Ehre wiederherzustellen. Auch wenn feststeht, dass die Handlung sich entlang der üblichen ritterlichen und höfischen Verhaltensmuster entwickelt, war es gerade aufgrund dieser Beispielhaftigkeit möglich, das Werk als erbauliche Erzählung zu lesen.

3.3 Parallelen zwischen Bibelpassagen und literarischen Gestalten Im vorangegangenen Abschnitt haben wir gesehen, dass die Literatur ihre narrative Struktur zuweilen an biblische Vorlagen angleicht und die literarische Gestalt auf diese Weise durch die Übereinstimmungen mit dem Leben der biblischen Figur exemplarischen Charakter erhält. In den nun folgenden Fällen dient die Parallele nicht nur als Interpretationsschablone, die dem literarischen Text moralisches Gewicht verleiht, sondern erweist sich als ein denkbar wirkungsvolles Mittel, Situationen und Gestalten

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Wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe, bedeutet dies natürlich nicht zwangsläufig, dass die Autoren ihre fiktiven Erzählungen ausschließlich an diese biblischen Vorbilder anlehnten. Man muss eher von narrativen Archetypen ausgehen, die den verschiedenen Epochen und literarischen Traditionen gemeinsam waren oder – was sehr viel plausibler erscheint und der vorangegangenen Erklärung nicht widerspricht – von einer geschickten Wiederverwertung von Motiven, die sich als wirkungsvoll erwiesen hatten. Dennoch besteht offenbar kein Zweifel daran, dass diese unverkennbaren Bezüge sowohl den Autoren wie auch den Lesern bewusst waren und gezielt eingesetzt wurden, um eine gewisse Parallelität zwischen den beiden Situationen zu unterstreichen, vgl. TORO PASCUA, „La Biblia en la literatura ficción“, 240. Vgl. John R. MAIER und Thomas D. SPACCARELLI, „Ms. Escurialense h-I-13: Approaches to a Medieval Anthology“, La Corónica 11 (1982–1983): 81–84. Das Werk war spätestens seit dem 14. Jh. in kastilischer Sprache im Umlauf und wurde zwischen 1500 und 1623 sechsmal aufgelegt. Vgl. die Ausgabe der gedruckten Fassung bei Nieves BARANDA, Hg., Historias caballerescas del siglo XVI (2 Bde; Biblioteca Castro; Madrid: Turner, 1995).

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absolut gleichzusetzen und sie sogar in spiritueller Hinsicht auf dieselbe Stufe zu stellen. Erwartungsgemäß wird diese Vorgehensweise häufig in hagiographischen Texten verwendet. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele, ein besonders bedeutsames führt Gonzalo de Berceo in seinem Poema de santa Oria ein: Der Bezug auf die alttestamentliche Erzählung von der Jakobsleiter (Gen 28,12–17) stellt hier eine Parallele her, die Orias Visionen und Prophezeiungen gewissermaßen den Echtheitsstempel aufdrückt: Hörend auf die Ermahnungen, die Ollalia gab Von dort her, wo sie war, hob Oria seine Augen nach oben Und sah einen Turm, der sich in den Himmel erhob Und reichlich geschmückt war, was er sah und ihn erstaunte. Es waren Stiegen und Freitreppen am Turm, Wie sie sonst in ausgebauten Festungen zu finden sind. Ich stieg viele hinauf, in gewundenen Pfaden, Wo sonst die abenteuerlichen Geister sind Kaum war Jakob am Rand des Aufstiegs Sah er die Engel niedersteigen auf der Treppe, Dass das klar das Werk Gottes war, zeigte sich einsichtig, Aber im Kampf mit ihnen verlor er sein Bein (XLI–XLII).34

Im Zusammenhang mit solcher Bibelverwendung sei auf jene Texte hingewiesen, die mit der Geschichte der Kreuzzüge verbunden sind. La gran conquista de Ultramar, die Ende des 13. Jh. in Anlehnung an die französische Übersetzung der Historia rerum in partibus transmarinis gestarum des Wilhelm von Tyrus und seiner Nachfolger verfasst worden ist, vermischt bekanntlich Informationen aus anderen historischen Werken und mehr oder weniger ausführlichen kastilischen Prosafassungen französischer und provenzalischer Chansons de geste über den Ersten Kreuzzug; einige von ihnen entbehren jeder historischen Grundlage. Die Bibel dient diesem Werk als Basis und liefert eine große Anzahl einprägsamer Bezüge, um die Taten der Kreuzfahrer hervorzuheben. Anhand der kanonischen und apokryphen Evangelien werden sogar Kurzfassungen des Lebens Christi rekonstruiert und in das Credo der christlichen Ritter transformiert. Wichtiger ist jedoch, dass die Bibel auch als Inspirationsquelle für einige Szenen aus dieser Chronik fungiert, die die Herkunft Gottfrieds von Bouillon, der der Held dieses Ersten Kreuzzugs war, glorifizieren sollen. So liefert die Verkündigung beispielsweise die Vorlage für die Engelsvision von Beatriz, der Großmutter des Helden, nach ihrer Hochzeitsnacht mit dem Caballero del Cisne. Die Frühreife, die Gottfrieds Mutter Ida von Bouillon schon als kleines Mädchen an den Tag legt, ist der der Jungfrau Maria nachempfunden, wie sie in den apokryphen Evangelien geschildert wird

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Gonzalo de BERCEO, Poema de Santa Oria (hg. v. Isabel Uría Maqua; Clásicos Castalia 107; Madrid: Castalia, 1987), 103f. Diese Parallele zwischen der Bibel und Berceos Gedicht hat GARCÍA LÓPEZ, „La Biblia en la cuaderna vía“, 49, aufgezeigt.

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(Pseudo-Matthäusevangelium 6,1).35 Auch wenn es sich um eine vorgeblich historische, fiktionale Erzählung handelt, werden in den erwähnten Episoden biblische Stoffe verarbeitet, um Parallelen zwischen den Vorfahren des Kreuzfahrers und der Mutter Christi herzustellen, womit die Geburt des Helden eine unverkennbar transzendente Bedeutung erhält.

3.4 Rhetorische Verwendungen der Bibel Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Bibel in der mittelalterlichen Literatur – und durchaus nicht nur in den moralisch-didaktischen Texten – nicht selten als unerschöpfliche Quelle rhetorischer Mittel benutzt wird. Zuweilen handelt es sich um Zitate oder sententiae, die der intertextuellen Ausschmückung dienen. Dies weist darauf hin, dass das heilige Buch tatsächlich als weisheitliches Werk betrachtet wird. In den meisten, wenn nicht sogar in allen Fällen ist allerdings nicht davon auszugehen, dass die Dichtung direkt aus dieser Quelle geschöpft hat. Diese Aussprüche hatten sich nämlich in der Volkssprache und in der parömiologischen Literatur in Form von Sprichwörtern oder Redewendungen verselbständigt, die die mittelalterliche Literatur, ob sie nun ihre ursprüngliche Herkunft kannte oder nicht, gerne verwendete: Bekannterweise ist eine Krone Die Frau für ihren Mann, dies eine Proklamation sein kann, die alle Schäden proklamiert.36 Mulier diligens corona est viro suo (Prov. 12,4). Eine gewissenhafte Frau ist die Krone ihres Mannes.37

Gewagter sind andere rhetorische Verwendungen biblischer Frauenbilder in Kontexten, die mit der Frauenthematik eigentlich nichts zu tun haben. Wie im größeren Teil der auf den vorangegangenen Seiten vorgestellten Fälle gelangt auch dort das Bild nicht auf direktem Wege, sondern vermittelt durch den Sprachgebrauch des Mittelalters in die Literatur. Ein gutes Beispiel hierfür finden wir bei Juan de Mena, der in seinen Coplas de los pecados mortales die Segnungen der Dichtung mit den heidnischen Sklavinnen vergleicht, die, „nachdem ihnen die Nägel und die Haare geschnitten wurden, als Hebräerinnen gelten konnten – rein, gereinigt und gesegnet“ (primero seyendo cortadas / las uñas e los cabellos, / podían […] / fazerlas israelitas / puras, linpias y

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ALFONSO X, REY DE CASTILLA, La gran conquista de Ultramar (hg. v. Louis Cooper; 4 Bde.; Publicaciones del Instituto Caro y Cuevo 51; Bogotá: Instituto Caro y Cuervo, 1979), 1:169f.; 2:495–498. Que, si dizen que es corona / la muger de su varón, / también puede ser pregón / que todos daños pregona. URREA, Cancionero, 2:415: Komposition 42, V211–214. Sebastián de HOROZCO, Teatro universal de proverbios (hg. v. José Luis Alonso Hernández; AcSal.F 182; Salamanca: Universidad de Salamanca, 1986), 304.

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benditas),38 eine eindeutig an Dtn 20,10–13 angelehnte Formulierung. Tatsächlich aber ist dieser Vergleich der nützlichen und guten Seiten der Dichtkunst mit den von den Israeliten gefangenen und bekehrten Sklavinnen schon Jahrhunderte vorher von Hieronymus angestellt worden, als er sich mit der Frage befasste, inwiefern das Christentum von der heidnischen Kultur profitieren könne.39 Übersetzung: Gabriele Stein

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Juan de MENA, Obras completas (hg. v. Miguel Ángel Pérez Priego; Clásicos universales Planeta: Autores hispánicos 175; Barcelona: Planeta, 1989), 308f. Joaquín GIMENO CASALDUERO, „San Jerónimo y el rechazo y la aceptación de la poesía en la Castilla de finales del siglo XV“, in La creación literaria de la Edad Media y del Renacimiento (hg. v. dems.; Ensayos; Madrid: Porrúa Turanzas, 1977), 45–65. Zur Verwendung der Bibel in der Cancionero-Dichtung vgl. María Isabel TORO PASCUA, „La Biblia en la poesía de cancionero“, in La Biblia en la literatura española 1.1: Edad Media: El Imaginario y sus géneros (hg. v. ders. und Gregorio del Olmo Lete; La Dicha de Enmudecer; Madrid: Trotta, 2008), 125–172.

Christinnen und Jüdinnen lesen die Bibel in den spanischen Königreichen Gemma Avenoza Universitat de Barcelona Frauen hatten im Mittelalter nur eingeschränkten Zugang zur Schriftkultur und stellten einen sehr geringen prozentualen Anteil der alphabetisierten Bevölkerung dar. Die mittelalterliche Gesellschaft kann aber nicht pauschal, sondern nur unter Berücksichtigung der verschiedenen Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt, analysiert werden. Für die Fragestellung dieses Beitrags sind das auf der einen Seite die Ordensfrauen und auf der anderen Seite die Frauen des Adels, die (christlichen) Frauen der städtischen Kaufmannsschichten und die jüdischen Frauen. Außerdem ist zu beachten – und das gilt für jede der genannten Gruppen –, dass der Zugang zur Schriftkultur nicht immer unmittelbar stattfand, sondern das laute Vorlesen sehr weit verbreitet war, sodass viele Frauen zwar weder lesen noch schreiben, mit den Texten, die uns hier beschäftigen, aber sehr wohl vertraut sein konnten. Im Folgenden wird für jede der genannten Schichten auf der Grundlage dokumentarischer, historischer und literarischer Quellen untersucht, welches Buch oder welche Bücher der Bibel am häufigsten gelesen (oder gehört) wurden, in welchen (liturgischen, persönlichen, häuslichen usw.) Situationen diese Lektüre stattfand und wie schließlich die Beziehung der Frauen zur Bibel als Buch im Hinblick auf ihre Verbreitung, Übersetzung oder Weitergabe beschrieben werden kann.

1. Zugang der Mädchen zur Alphabetisierung 1.1 Privilegierte Gruppen In der mittelalterlichen Gesellschaft war die Zahl der alphabetisierten Personen in städtischen Gebieten höher als auf dem Land.1 Doch auch innerhalb der Städte war die Situation alles andere als einheitlich. Berger geht davon aus, dass 50% der Männer des städtischen Adels von Valencia lesen konnten, während 90% der Kleriker des Lesens 1

Francisco GIMENO BLAY, „Aprender a escribir en la Península Ibérica: De la Edad Media al Renacimiento“, in Escribir y leer en Occidente (hg. v. Armando Petrucci und Francisco M. Gimeno Blay; Publicaciones del Seminari Internacional d’Estudis sobre la Cultura Escrita 2; València: Universitat de València, 1995), 125–144; 136. Angesichts der Unmöglichkeit, die des Lesens oder Schreibens kundigen Bevölkerungsanteile im Mittelalter zu beziffern, verweist Gimeno auf Angaben, die den Anteil der alphabetisierten Bevölkerung im 16. Jh. bei 10 oder 15% ansetzen, erinnert aber daran, dass die Frauen „die Gruppe der großen Ausgeschlossenen“ sind: „ein Ausschluss, der nicht seltsam anmutet, weil es in den Gesellschaften mit nur spärlich verbreiteter Schriftkultur ein allgemeines Phänomen war, dass Frauen in die Mündlichkeit verbannt wurden“.

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kundig waren. Unter den städtischen Arbeitern dagegen war die Lesefähigkeit eine Ausnahme, auch wenn der prozentuale Anteil der lesenden Männer immer noch höher lag als der der Frauen. Allerdings hebt Berger hervor, dass interessanterweise der Adel die einzige Gesellschaftsklasse zu sein scheint, in der es in Bezug auf die Lesefähigkeit offenbar keine Geschlechterunterschiede gegeben hat.2 Selbst in einer mehrheitlich analphabetischen Gesellschaft sind viele Eltern darauf bedacht, dass ihre Kinder eine überdurchschnittlich gute Bildung erhalten, Lesen und Schreiben lernen, die Grammatik beherrschen und sogar Zugang zu einer höheren Bildung erhalten. Diese Haltung ist typisch für die privilegierteren Gesellschaftsgruppen. Allerdings wurden die Jugendlichen aus guten Verhältnissen nicht alleine, sondern meist gemeinsam mit Kindern aus weniger bemittelten Gesellschaftsschichten erzogen, die die Erstgenannten bedienten und auf diesem Wege ebenfalls universitäre Studien betreiben konnten. Das gilt jedoch nicht für die Mädchen, denen zumindest diese letzte Etappe der Bildung verwehrt war.3

1.2 Lesen und/oder Schreiben lernen im Hinblick auf die künftige gesellschaftliche Stellung der jungen Frau4 García Herrero5 weist darauf hin, dass die mittelalterliche Bildung in erster Linie pragmatisch war. Die Mädchen, die für das Ordensleben bestimmt waren, traten früh ins Kloster ein, um Lesen zu lernen. Die übrigen jungen Frauen bereiteten sich auf die Ehe vor und mussten, je nachdem welcher Gatte (Edelmann, Handwerker usw.) ihnen bestimmt war, über unterschiedliche Kenntnisse verfügen. In einem adeligen Haushalt – vom Königshaus ganz zu schweigen – war das Lesen eine unerlässliche Fertigkeit, und für eine Dame eigneten sich nur die schicklichsten Bücher: Insbesondere der Umgang mit angemessenen Büchern und vor allem mit den Heiligen Schriften (bei einigen Autoren wie etwa dem Caballero de La Tour-Landry die einzig zulässige Lektüre) erlaube die Formung des Geistes und die Nachahmung erbaulicher Vorbilder. Der Dominikaner Giovanni Dominici empfahl Frauen, die Evangelien immer bei sich zu tragen und sie sogar auswendig zu lernen.6 Ein mittelalterlicher Verfasser von Texten über die Bildung rät, den Mädchen das Schreibenlernen zu erlassen, vorausgesetzt es ist keine Schande für ihren Stand, nicht 2

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Siehe Philippe BERGER, Libro y lectura en la Valencia del Renacimiento (2 Bde; Estudios universitarios [Institución Alfons el Magnànim] 19–20; Valencia: Edicions Alfons el Magnànim, 1987), 1:363. Frauen mit Zugang zu einer universitären Bildung waren seltene Ausnahmen. Die Ordensfrauen und Beginen werden in anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes thematisiert und deshalb hier nicht berücksichtigt. María del Carmen GARCÍA HERRERO, Las mujeres en Zaragoza en el siglo XV (2 Bde; Sagardiana: Estudios Feministas 4; Zaragoza: Prensas Universitarias de Zaragoza, 22006), 1:131–168. Vgl. GARCÍA HERRERO, Las mujeres, 1:139.

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lesen und schreiben zu können. Die Auffassung, dass die Lektüre den Frauen moralische Vorteile bringe und ein Heilmittel gegen Müßiggang sowie eine optimale Vorbereitung darauf sein könne, ihre Männer zu unterstützen, ist jedoch allgemein verbreitet.7

1.3 Dauer des Unterrichts und behandelte Texte Gimeno Blay hat die Verträge untersucht, die das Interesse einiger Eltern dokumentieren, ihre Kinder Lesen und Schreiben lernen zu lassen. Diejenigen Vereinbarungen, die sich nur auf den Erwerb der Lesefähigkeit beziehen, sehen kürzere Fristen und niedrigere Kosten vor, als sie für das Erlernen sowohl des Lesens als auch des Schreibens veranschlagt werden. Sie reichen, was die Dauer betrifft, von einigen wenigen Monaten bis hin zu mehreren Jahren. Das didaktische Material umfasst Alphabete zum Erlernen der Buchstaben und Silben sowie Lesetexte, die im hoch- und spätmittelalterlichen Spanien in einigen Psalmen und den wichtigsten Gebeten (Vater unser, Ave Maria, Credo) bestanden.8 In der jüdischen Welt fingen die Kinder mit fünf Jahren an, Lesen und Schreiben zu lernen: Sie begannen mit der Lektüre der Tora, um dann im Alter von etwa zehn Jahren zum Studium des Talmud überzugehen. Die höhere Bildung erhielten sie in den Jeschiwot, den Talmudschulen, unter der Leitung eines Schriftgelehrten. Von diesen Formen der Lektüre und Zugängen zur Bildung waren die Mädchen jedoch ausgeschlossen.9

1.4 Bildungsstätten für christliche und jüdische Mädchen Die adeligen Familien legten Wert darauf, dass ihre Töchter eine Bildung erhielten, die ihrer Bestimmung entsprach und sie darauf vorbereitete.10 Wer für das Ordensleben vorgesehen war, trat mit sieben oder acht Jahren in ein Kloster ein und lernte dort gemeinsam mit anderen Mädchen, die vor der Eheschließung nach dem Willen ihrer 7

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Vgl. Xavier RENEDO, „Llegir i escriure a la tardor de l’edat mitjana“, in Actes del IXè Col·loqui Internacional de Llengua i Literatura Catalanes (hg. v. Rafael Alemany et al.; 3 Bde; BAOl 124–126; Alacant: L’Abadia de Montserrat, 1993), 2:209–222, und Rosanna CANTAVELLA, „Lectura i cultura de la dona a l’edat mitjana: Opinions d’autors catalans“, Caplletra 3 (1988): 113–122. GIMENO BLAY, „Aprender“, 129. Eleazar GUTWIRTH, „Religión, historia y las Biblias romanceadas“, RCT 13 (1988): 115– 133; 127, und Enrique CANTERA MONTENEGRO, Aspectos de la vida cotidiana de los judíos en la España medieval (Madrid: UNED, 1998), 89f. Zu den spanischen Jeschiwot vgl. Michael RIEGLER, „Were the Yeshivot in Spain Centers for the Copying of Books?“, Sef. 57 (1997): 373–398. Einen Überblick über die weibliche Bildung und den Zugang der Frauen zur Kultur im mittelalterlichen Katalonien bietet CANTAVELLA, „Lectura“.

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Familien im Kloster ausgebildet werden sollten, unter Anleitung der Novizenmeisterin Lesen, Gesang und Liturgie (Studium der Ordensregel und des Stundengebets).11 In diesem Umfeld war der Leseunterricht unerlässlich, weil die Ordensfrauen in der Lage sein mussten, das Stundengebet zu lesen. In den Bibliotheksverzeichnissen finden sich neben den liturgischen Büchern (Psalterien, Stundenbücher, Sonntagslesungen, Heiligenkalender, Breviere, Evangeliare usw.) Bibeln, Bücher aus dem Alten Testament, Passionserzählungen und Heiligenviten, durch die die jungen Adeligen mit der Heiligen Schrift in Berührung kamen. Andere Familien stellten Lehrerinnen ein, die sich der Ausbildung der Mädchen in ihrem eigenen Haus annehmen sollten. Für wohlhabende Familien war dies immer eine Option.12 In anderen, selteneren Fällen wird in Städten, wo ein Lehrer die Jugendlichen und Erwachsenen Lesen lehrte, gelegentlich auch die Existenz einer Lehrerin erwähnt.13 Vinyoles dokumentiert aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. den Fall der unverheirateten Estefania Carròs, die eigenverantwortlich Frauen ausbildete und dem Vater einer ihrer Schülerinnen den Rat gab, bei der Unterbringung des Mädchens zu berücksichtigen, was sie selbst aus sich machen wolle.14 Dennoch ist die Bildung der Frauen alles in allem nur spärlich dokumentiert. Beceiro führt das Schweigen der dokumentarischen Quellen über diesen Aspekt darauf zurück, dass jedes Lernen als Privatangelegenheit aufgefasst wurde, die nur den tatsächlichen oder fiktiven Verwandtenkreis etwas anging und deshalb nicht in öffentlichen Dokumenten und Akten zu erscheinen brauchte.15 Die jüdischen Mädchen waren aus der Schule, die ihre Brüder besuchten, ausgeschlossen, und ihr Zugang zum Lesen und Schreiben beschränkte sich auf das häusli-

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Die „freiras santiaguesas“ (Jakobusschwestern) leisteten Hervorragendes in der Ausbildung der Mädchen und sind bestens erforscht; vgl. Josemi LORENZO ARRIBAS, „Madres sabias, musas y monjas cantoras: transmisión musical y magisterio femenino“, Arenal: Revista de Historia de las Mujeres 6 (1999): 5–29; 18; María ECHÁNIZ SANS, Las mujeres de la orden militar de Santiago en la Edad Media (Estudias de historia; Salamanca: Junta de Castilla y León, 1992), 248; Isabel BECEIRO PITA, „Modelos de conducta y programas educativos para la aristocracia femenina (siglos XII–XV)“, in De la Edad Media a la Moderna: mujeres, educación y familia en el ámbito rural y urbano (hg. v. María T. López Beltrán; Atenea 30; Málaga: Universidad, 1999), 37–72; 67f. María del Carmen CARLÉ, La sociedad hispano-medieval 3: Grupos periféricos: Las mujeres y los pobres (Historia; Buenos Aires: Gedisa, 1988), 22, dokumentiert testamentarische Verfügungen zugunsten einer Frau, die „Doña Inés das Lesen lehrte“. BECEIRO PITA, „Modelos“, 68. Vgl. Teresa VINYOLES, „Nacer y crecer en femenino: niñas y doncellas“, in Historia de las mujeres en España y América Latina 1: De la Prehistoria a la Edad Media (hg. v. Isabel Morant et al.; Historia. Serie menor; Madrid: Cátedra, 2005), 479–500; 491: „ella querrá hacer de sí misma“. Vgl. BECEIRO PITA, „Modelos“, 66: „… a la concepción de todo aprendizaje como un asunto privado, que incumbía al círculo de parentesco real o ficticio y, por lo tanto, no tenía por qué figurar en documentos y actas de tipo público“.

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che Lernen mit der Mutter oder, wenn es sich um besonders wohlhabende Familien handelte, mit eigens eingestellten Lehrerinnen, wie es bei den ChristInnen üblich war.16 Diejenigen Mädchen, deren Familien einem Handwerk nachgingen, konnten in den väterlichen Betrieben mitarbeiten und erwarben wie alle anderen Lehrlinge auch zumindest rudimentäre Lese- und Schreibkenntnisse, um die Rechnungen überprüfen und die Hinweise notieren zu können, die für die Abwicklung des Geschäfts unerlässlich waren.17 Mit diesen Fähigkeiten konnten sie ihre künftigen Ehemänner unterstützen, die die Werkstätten der Schwiegerväter in der Regel dann weiterführten, wenn keine Söhne vorhanden waren. In einem solchen Fall umfasste das Lesenlernen natürlich keine biblischen Texte.

2. Zugang zur Lektüre von Frauen, die nicht lesen konnten 2.1 Gemeinschaftliche Lektüre von Christinnen – Beispiele aus dem weltlichen und klösterlichen Bereich Frauen, die des Lesens nicht mächtig waren, konnten die biblischen Texte durch die gemeinschaftliche Lektüre kennen lernen, wie sie in der klösterlichen Welt alltägliche Praxis und auch im weltlichen Bereich nicht unüblich war. Vinyoles hat den dokumentierten Fall der katalanischen Adeligen Sancha Ximenis untersucht, die lesen und schreiben konnte. Sie besaß ein Stundenbuch sowie eine Ars moriendi, woraus sie den Frauen, die ihr Gesellschaft leisteten, vorzulesen pflegte. Ihre Nichte, die Ordensfrau Beatriu de Cabrera, bittet sie, einer Frau, über die sie oft mit ihr gesprochen hatte, lo braviari del morí e les hores zu zeigen. Dies versteht Vinyoles so, dass Sancha der

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Enrique CANTERA MONTENEGRO, „La mujer judía en la España medieval“, Espacio, Tiempo y Forma 3: Historia Medieval 2 (1989): 37–64; 48: „In der Bibel gibt es kein Gebot, das befiehlt, die Frauen im religiösen Gesetz zu unterweisen. Der Talmud ist absolut gegen eine religiöse Ausbildung von Frauen. Während also die Jungen im Alter von fünf oder sechs Jahren in eine Schule geschickt wurden, wo sie die Grundlagen einer strikt religiösen Erziehung erhielten, blieben die Mädchen zuhause, wurden von ihren Müttern in ihren religiösen Pflichten, moralischen Verantwortlichkeiten und häuslichen Aufgaben unterwiesen und lernten häufig nicht einmal Lesen.“ In den Lehrverträgen wird gewöhnlich festgehalten, dass derjenige, der den Lehrling einstellte, diesen nicht nur das Handwerk, sondern auch Lesen und Schreiben lehren sollte. Was die jüdischen Händler betraf, so führten diese ihre Bücher in hebräischer Sprache, weshalb die Frauen der Familie sich kaum nützlich machen konnten, wenn sie nicht im Lesen und Schreiben ausgebildet worden waren; vgl. die Untersuchung über das in hebräischer Schrift abgefasste Aljamiado-Manuskript eines Kaufmanns, der sich der arabischen, katalanischen, aragonesischen und hebräischen Sprache bediente: Meritxell BLASCO ORELLANA, Manuscrito hebraicoaljamiado de la Biblioteca Nacional de Cataluña: „Codex Soberanas“ (ms. nº 3090, siglo XIV) (Catalonia hebraica 1; Barcelona: PPU, 2003).

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Frau das Stundenbuch und die Ars moriendi18 – beides Texte, die biblische Passagen (aus dem Neuen Testament und den Psalmen) enthalten – vorlesen soll. Sancha Ximenis lebte in der Gesellschaft anderer Frauen, die sie bedienten und gemeinsam mit ihr Stoffe webten. Deshalb ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Ars moriendi nicht auf Latein, sondern in der Volkssprache abgefasst war. Das Stundengebet wurde aufgrund seines liturgischen Charakters auf Latein vorgetragen – ob die Leserinnen es verstanden oder nicht.

2.2 Teilnahme von Jüdinnen an der Liturgie durch volkssprachliche Texte – mündliche Weitergabe von religiösen Ritualen und häusliche Praktiken im Alltag Das Alltagsleben der jüdischen Familie bietet viele Gelegenheiten, biblische Passagen (vor allem aus den Psalmen) zu rezitieren. Dem Vater oblag es, diese Gebete auf Hebräisch beim Morgengrauen, vor den Mahlzeiten und abends zu sprechen, doch die Existenz von volkssprachlichen Texten wie dem Siddur der katalanischen Konvertiten weist darauf hin, dass diese häusliche Liturgie auch in der allen bekannten Sprache, dem Romanischen, gehalten wurde.19 Die Mündlichkeit ist für die jüdischen Frauen damit der wichtigste Zugang zur Kenntnis der in den häuslichen Gebeten enthaltenen biblischen Texte.20 Jüdinnen waren vom Erlernen des Hebräischen und ebenso von der Erfüllung der religiösen Pflichten befreit bzw. ausgeschlossen – diese waren Sache der Männer. Da die Erfüllung der häuslichen Aufgaben und Arbeiten als ein im eigentlichen Sinne religiöses Tun betrachtet wird, greift hier das talmudische Prinzip, wonach derjenige, der sich mit einer religiösen Handlung beschäftigt, von einer weiteren zeitgleichen befreit ist.21 Dieser Ausschluss von der heiligen Sprache verhinderte nicht, dass die frömmeren Frauen dennoch Zugang zur Tora hatten. Das beweist die von Cantera veröffentlichte Dokumentation, in der über die Anwesenheit von Frauen in der Synagoge zu lesen ist, dass diese Frauen gottesfürchtig waren, ihren Raum neben der 18

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Vgl. VINYOLES, „La cotidianeidad“, 125: „lo braviari del morí e les hores a una mujer de quien le había hablado muchas veces“. Vgl. Jaume RIERA, El siddur en català dels conversos jueus (s. XV) conservat a la Reial Acadèmia (Barcelona: Real Acadèmia de Belles Arts de Sant Jordi, 1993). Dies ist nicht der einzige Beleg für die Existenz volkssprachlicher Gebetbücher, denn in einem Vermerk aus dem Nationalen Historischen Archiv (AHN Inquisición, Buch 1245, fol. 33v) lesen wir, dass jeder sein eigenes Gebetbuch in die Synagoge mitbrachte und daraus die Gebete in Romanisch las, weshalb es von einigen daher das Alltagsbuch genannt wurde, da es die täglichen Gebete enthielt. CANTERA, Aspectos, 81: „Auch geschah es häufig und sogar noch vor dem Beten, dass man einige Momente auf die Lektüre der Tora verwandte“. Siehe auch Maddalena del BIANCO COTROZZI, „Le ebree di fronte alla Bibbia“, in Donne e Bibbia: Storia ed esegesi (hg. v. Adriana Valerio; Bologna: Dehoniane 2006), 139–158. Vgl. CANTERA, „La mujer“, 49: „principio talmúdico de que quien está comprometido en un acto religioso está exento de otro simultáneo, siendo así que los quehaceres y labores domésticas son considerados como un acto propiamente religioso“.

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Synagoge hatten und ihnen dort von einem Rabbiner in ihrer Sprache des Romanischen alle Gebete vorgelesen wurden, die in der Synagoge in Hebräisch gebetet wurden (AHN Inquisición, Buch 1325, fol. 44v).22 Auf diese Weise hörten die gottesfürchtigen Frauen die vollständigen Toralesungen in der Volkssprache im Lauf ihres Lebens ebenso oft wie die Männer. In der gemeinschaftlichen Liturgie wurde die hebräische Lesung von einer volkssprachlichen Übersetzung begleitet, da die spanischen Juden im täglichen Leben das Romanische verwendeten und nur über begrenzte Kenntnisse des biblischen Hebräisch verfügten. Gutwirth stützt sich bei der Erklärung dieser Besonderheit auf einen jüdischen Autor des 13. Jh.: Rabbi Yona von Girona (gest. Toledo 1263) rät dem Leser in seinem Sefer Ha-Yr’ah: „Er soll die wöchentliche Perikope des Pentateuchs mit der übrigen Gemeinde dadurch ergänzen, dass er jeden Vers des hebräischen Textes zweimal und die aramäische Übersetzung, das Targum, einmal liest. Und wenn er kein Targum hat, soll er den Vers zweimal auf Hebräisch und einmal in der Volkssprache lesen, was besser ist, als den Vers dreimal auf Hebräisch zu lesen, weil das Targum – und mehr noch die Volkssprache – dazu da ist, dass die Nichtgelehrten das Hebräische verstehen.“23

Neben den liturgischen Riten des Schabbats gibt es einen eng mit den Frauen verbundenen Tag, das Purimfest, zur Erinnerung an den Sieg, den dank des Eingreifens der Königin Ester Israel über seine Feinde errang. Diese Geschichte findet sich in der Schriftrolle, die während des Purimfests verlesen wird, der Megillat Ester. Nun kam im Jahr 1378 Isaac bar Sheshet Barfat nach Saragossa und wurde von der dortigen Gemeinde mit allen Ehren empfangen. Schon bald jedoch fiel ihm auf, dass deren Sitten locker und nachlässig waren. Wenig später berichtete er Rabbi Nissim von Girona in einem Brief von seinen Erlebnissen: Vor dem Purimfest sagten sie mir, dass es seit etwa dreißig Jahren bei ihnen Brauch sei, den Frauen das Buch Ester direkt aus einer in der Volkssprache geschriebenen Rolle (la’az) vorzulesen, und ich sagte ihnen, dass das nicht richtig ist. 24

Barfat verweist zudem auf die Meinungen von Nachmanides, Adret und Vidal von Tolosa. Für ihn sind diese Rabbiner Autoritäten, die seine Einschätzung bestätigen, dass es nicht zulässig sei, das Buch Ester in volkssprachlicher Übersetzung vorzulesen. Für die Juden von Saragossa bedeutete hingegen Nachmanides’ Satz darin irrt man vielerorts (das heißt, vielerorts wird das Buch Ester den Frauen in der volkssprachlichen Übersetzung vorgelesen), dass der Brauch, das Buch Ester in Übersetzung zu

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Vgl. CANTERA, „La mujer“, 47: „e las que heran devotas hellas se tenían su cámara junta a la sinagoga para que estubiesen e un rrabi que les rreszase en rromanze todo lo que en la sinoga se rreçava en hebrayco“. DERS., Aspectos, 223, edierte diesen Text auf der Grundlage von Buch 1245, fol. 160v; diese Dokumentensammlung zur Instruktion der Inquisitoren enthält einige Kapitel über die Gebräuche der Juden. GUTWIRTH, „Religión“, 122. Ebd., 121.

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lesen, zur Zeit des Nachmanides an mehreren Orten verbreitet war und die Juden aus Saragossa ihre örtlichen Sitten daher nicht aufgeben müssten.25

3. Vorlieben der Frauen für bestimmte biblische Texte 3.1 Lektüre oder mündliche Weitergabe bei Jüdinnen: Ester, in täglichen Gebeten vorkommende Psalmen und die Tora Die Texte, mit denen jüdische Frauen in der Regel und immer auf dem Wege der mündlichen Weitergabe in Berührung kamen, waren, wie wir gesehen haben, das Buch Ester und einige in den täglichen Gebeten enthaltene Psalmen. Frauen mit einer stärker ausgeprägten Frömmigkeit gingen in die Synagoge und hörten dort die volkssprachliche Lesung aus der Tora, womit ihre Kenntnis der heiligen Texte größer gewesen sein dürfte als die der Christinnen, die den Gottesdienst besuchten und die Texte dort nur auf Latein zu hören bekamen.

3.2 Christinnen: die Evangelien und die im Stundenbuch enthaltenen Psalmen In den Bibliotheken christlicher Damen fand sich eine große Zahl von Stundenbüchern, Psaltern und anderen Andachtstexten, außerdem Exemplare des Neuen Testaments und der Vita Christi, die meist aus Zusammenfassungen der Passionsberichte bestanden. Daneben sind es wiederum die Psalmen oder zumindest einige Psalmen, die als Bestandteile des (lateinischen) Stundengebets in der Lektüre und im Gebet der Frauen eine herausragende Rolle spielen. Breiter waren die Interessen der Königin Violant de Bar, die Carroza de Vilaragut um eine katalanische Bibel zur Abschrift für ihren Hausgeistlichen bat und sich zudem in ihren Briefen für die Moralia in Iob (von Gregor dem Großen), die Vida de Jesucrist (von Francesc Eiximenis) und die Evangelis, eine katalanische Übersetzung der Evangelien, interessierte. Weil er um dieses Interesse der 25

Vgl. ebd.: „quiere decir que la costumbre de leer el libro de Ester en traducción estaba difundida en tiempos de Nahmánides por varios lugares y por lo tanto los judíos zaragozanos no abandonarían las costumbres locales“. Er weist darauf hin, dass das Buch Ester, das so eng mit der weiblichen Welt verbunden ist, zu denjenigen zählt, die in der Biblia de Alba nicht mit Randglossen versehen sind, womit Mosé Arragel seine Abneigung gegenüber diesem Buch zum Ausdruck bringt; und auch in den Postillae des Nikolaus von Lyra ist kein kastilischer Text zum Buch Ester erhalten. Wenn das Fehlen dieser volkssprachlichen Kommentare nicht auf Zufälle der handschriftlichen Überlieferung zurückzuführen ist (sowohl die Kommentare von Arragel wie auch die in Romanisch verfassten von Nikolaus von Lyra sind nur in einer einzigen Version auf uns gekommen), muss man wohl davon ausgehen, dass ihre Verfasser oder Übersetzer sich für dieses Buch nur sehr wenig interessiert haben. Dieser Sachverhalt ist schwierig zu erklären. Erwähnung verdient vielleicht, dass der Name Gottes im Buch Ester nicht vorkommt. Damit wird auch gerechtfertigt, dass Esterrollen reich illustriert werden können.

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Königin wusste, widmete Antoni Canals ihr seinen Tractat de confessió.26 De Courcelles weist darauf hin, dass im Unterschied zu den Lektürevorlieben der Männer, die die komplette Bibel, insbesondere das Buch Genesis und die Offenbarung, bevorzugten, in den Bibliotheken von mindestens sechs katalanischen Frauen des 15. und 16. Jh. Exemplare des Neuen Testaments und daneben Versionen der Vita Christi (von Isabel von Villena oder von Ludolf von Sachsen) zu finden waren.27

4. Die Frauen und die Verbreitung von Bibelhandschriften als materieller Besitz 4.1 Frauen aus dem christlichen Adel vererben Bücher oder verschenken sie an ihre Töchter bei deren Eintritt in den Ehe- oder Ordensstand Die Informationen über die Besitztümer adeliger Frauen stammen im Wesentlichen aus notariellen Dokumenten, vor allem aus ihren Testamenten oder, wenn es im Zusammenhang mit dem Erbe zu Rechtsstreitigkeiten gekommen ist, auch aus den Prozessakten. In den Bestandslisten erscheint zuweilen ein Buch unter den persönlichen Besitztümern der Verstorbenen, und die testamentarischen Vermächtnisse enthalten in der Regel Verfügungen über Andachtsbücher, Stundenbücher oder Evangeliare, die für die Töchter bestimmt sind.28 Anlässlich der Eheschließung pflegten die Mütter ihren

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Vgl. Glòria SABATÉ MARÍN und Lourdes SORIANO ROBLES, „Reinas catalanas: Mujeres, lectoras y protectoras de la cultura (siglos XIV–XV)“, in Mujer y cultura escrita: Del mito al siglo XXI (hg. v. María del Val González de la Peña; Biblioteconomía y administración cultural 117; Gijón: Ediciones Trea, 2005), 85–96; 88; Isabel de RIQUER, „Los libros de Violante de Bar“, in Las sabias mujeres: Educación, saber y autoría (siglos III–XVII) (hg. v. María del Mar Graña Cid; Colleción Laya 13; Madrid: Breogán, 1994), 161–173; 170. Die Rolle, die die katalanischen Königinnen bei der Verbreitung der biblischen und mystischen Texte spielten, würde eine eigene Untersuchung verdienen. Dominique de COURCELLES, „Recherches sur les livres et les femmes en Catalogne aux XVe et XVIe siècles. Figures et lectrices“, in Des femmes et des livres: France et Espagnes, XIVe–XVIIe siècle (hg. v. dems. und Carmen Val Julián; Études et rencontres de l’École des chartes 4; Paris: École des Chartes, 1999), 95–114; 103f. BERGER, Libro, 360, betont, dass der Besitz von Büchern noch keine Garantie dafür war, dass diese auch gelesen wurden: „Wenn das gewählte Kriterium der Besitz des Buches ist, muss sogleich auf den Fall der Frauen verwiesen werden.“ Aus den Bestandslisten geht nicht eindeutig hervor, ob die Bücher den Männern oder den Frauen gehörten: Die Notare ordnen die Stundenbücher meist dem Besitz der Frauen zu; in anderen Fällen wissen wir allerdings mit Sicherheit, dass das Buch einer Frau gehörte, weil sie es bei einer Versteigerung erstanden hat.

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Töchtern kostbare Stundenbücher zu schenken, die zuweilen nicht so sehr als Lektüre, sondern eher als das gedacht waren, was Penketh ein „fashionable accessory“ nennt.29 Der bekannteste Fall, in dem eine Mutter ihren Töchtern Bücher vermacht, ist der von Isabella der Katholischen, die für ihre fern vom Hof lebenden verheirateten Töchter biblische oder der Bibel verwandte Lektüren auswählte.30 Im Jahr 1500 sucht sie einige Bücher für ihre Tochter María (†1517) aus, darunter zwei Missalien, eine Vita Christi, einige Ausgaben der Evangelien und Briefe, Stundenbücher, ein Brevier und ein Psalterium. Im darauffolgenden Jahr wählt sie einige andere Bücher für ihre Tochter Catalina (†1536), wobei sich einige Titel wiederholen: ein Brevier und einige Stundenbücher, zwei Missalien und Ausgaben der Briefe und Evangelien, sowie zwei weitere Bücher, die denen, die María im Jahr 1500 erhalten hatte, sehr ähnlich sind: die Coplas de Vita Christi und eine Passion.31 Johanna I. von Kastilien dagegen bekam von der Königin Isabella keine Bibel: Sie musste sich mit der Lektüre einer kleinen, handgeschriebenen Bibel – in welcher Sprache, ist nicht verzeichnet – im Oktavformat begnügen, die unter den Büchern ihrer Mutter, die Karl V. in der Zitadelle von Simancas aufbewahrte, erscheint und heute verloren ist.32

Das Interesse dieser Damen konzentrierte sich auf die neutestamentlichen Texte. Aus dem Alten Testament fanden nur diejenigen Stellen aus dem Buch der Psalmen Beachtung, die in die Liturgie eingebettet waren.

4.2 Jüdische Frauen und Bücher Über die Situation der jüdischen Frauen besitzen wir nur spärliche Informationen, weil die Weitergabe der Bücher und aller familiären Besitztümer üblicherweise den Weg über die Männer nahm. Mit der Hochzeit gingen die Gegenstände, die die Frau als Mitgift in die Ehe brachte oder die sie später mit ihrer Arbeit erwerben würde, in den 29

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Sandra PENKETH, „Women and Books of Hours“, in Women and the Book: Assessing Visual Evidence (hg. v. Jane H. M. Taylor und Lesley Smith; London: British Library, 1996), 266– 280; 268. Vgl. José Luis GONZALO SÁNCHEZ-MOLERO, „Isabel la Católica: Su influencia en la bibliofilia regia femenina del siglo XVI“, in La Reina Isabel y las reinas de España: Realidad, modelos e imagen historiográfica (hg. v. María V. López Cordón und Gloria A. Franco Rubio; Madrid: Fundación Española de Historia Moderna, 2005), 157–176, und DERS., „Portugal y Castilla a través de los libros de la princesa Juana de Austria: ¿Psyche lusitana?“, in Las relaciones discretas entre las monarquías hispana y portuguesa: las casas de las reinas (siglos XV–XIX) (3 Bde; hg. v. José Martínez Millán und María P. Marçal Lourenço; La Corte en Europa; Madrid: Polifemo, 2008), 3:1643–1684. Elisa RUIZ GARCÍA, Los libros de Isabel la Católica: Arqueología de un patrimonio escrito (Instituto del Libro y la Lectura Serie maior 6; Salamanca: Instituto del Libro y la Lectura, 2004), 56.120–122.277–279.280–283. GONZALO, „Isabel la Católica“, 104.

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Besitz des Mannes über, der sie so verwaltete, als ob sie ganz und gar sein Eigentum wären, und die daher eine Frau ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht einmal mehr verschenken durfte.33

5. Die Frauen und die Verbreitung der Bibel als spirituelles Erbe 5.1 Christliche Adelige schreiben oder geben Versionen der Heiligen Schrift in Auftrag Parrilla hat diejenigen Schriften untersucht, die im Mittelalter in Kastilien Frauen zugeeignet waren: 50% der insgesamt 110 Werke (70 Autoren, 51 individuelle und einige kollektive Widmungsempfängerinnen) sind spirituelle Texte;34 ein Teil davon befasst sich direkt oder indirekt mit der Bibel. Eines dieser Werke ist die Übersetzung der Predigten Gregors des Großen zum Buch Ezechiel, die Gonzalo de Ocaña für Königin María von Kastilien (†1445) angefertigt hat.35 Nicht weniger interessant ist die romanische Version des Neuen Testaments mit Kommentaren, die die Herzogin von Plasencia, Leonor de Pimentel, bei ihrem Beichtvater Juan López de Salamanca in Auftrag gab. Diese Evangelios moralizados36 verbinden die lateinischen neutestamentlichen Texte des liturgischen Jahres mit einer Erläuterung in der Volkssprache und einer ausführlichen Darlegung der darin enthaltenen Moral. Das Ergebnis ist eine kultivierte Predigt als Grundlage für die persönliche Andacht der Herzogin.37 Der Hof war ein bevorzugter Ort für die Bildung der Jugendlichen, aber leider wissen wir nur wenig über die Erziehung der adeligen Mädchen an den spanischen Höfen des Mittelalters. In Kastilien entstand in den ersten Jahren des 15. Jh. im Umfeld des späteren Königs Johann II. von Kastilien und unter dem Schutz des weisen Pablo de 33

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CANTERA, Aspectos, 83. Zur rechtlichen Situation der jüdischen Frauen im Mittelalter in der Krone Aragon vgl. Elka KLEIN, „Public Activities of Catalan Jewish Women“, Medieval Encounters 12 (2006): 48–61. Zu Widmungsträgerinnen eines Werks und den kulturellen und sozialen Implikationen siehe Carmen PARRILLA, „Notas acerca de lecturas femeninas en el siglo XV“, in Estudios de Filología y Retórica en homenaje a Luisa López Grigera (hg. v. Elena Artaza et al.; Serie Letras; Bilbao: Universidad de Deusto, 2000), 347–354; 347f. Vgl. PARRILLA, „Notas“, 351f.: „Der Autor rühmt den Wunsch der Leserin, sich auf das Gebiet der Schriftexegese eines so komplexen Werks vorzuwagen (…). Die Königin steht folglich mit anderen angesehenen Lesern und namentlich mit Pérez de Guzmán auf einer Stufe, der bei demselben Ocaña die Dialoge des heiligen Gregor in Auftrag gegeben hatte.“ Juan LÓPEZ DE SALAMANCA, Evangelios moralizados (hg. v. Arturo Jiménez Moreno; Textos Recuperados 24; Salamanca: Universidad, 2004). Vgl. Gemma AVENOZA, „Las traducciones de la Biblia en castellano en la Edad Media y sus comentarios“, in La Biblia en la literatura española 1.2: Edad Media: El texto: fuente y autoridad (hg. v. María Isabel Toro Pascua und Gregorio del Olmo Lete; Dicha de Enmudecer; Madrid: Trotta, 2008), 13–75; 54f.

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Burgos38 eine Adelselite, die sich durch ihre Bibliophilie und ihr Interesse an romanischen Übersetzungen biblischer Texte auszeichnen sollte. Doch Johann war nicht der einzige Infant des Hofs. Seine Schwester Maria (1401–1450), die spätere Königin von Aragon, wurde in demselben Umfeld und gemeinsam mit anderen jungen Adeligen erzogen. Ihr literarischer Geschmack als Erwachsene und ihre Bibliophilie lassen ahnen, dass der Einfluss der Umgebung des Prinzen und seines gelehrten Erziehers auch die adeligen Mädchen erreichte, die am Hof heranwuchsen. Johann II., Santillana, Haro, Guzmán und Velasco besaßen Bibeln und Kommentare, und Maria sammelte in ihrer Bibliothek die besten und erlesensten Stücke der geistlichen Literatur ihrer Zeit, unter denen die Texte mit biblischer Thematik einen beträchtlichen Teil ausmachten. Das beweist hinreichend, dass die Damen an jenem Hof im Hinblick auf die gedanklichen Strömungen, die die Neugier ihrer männlichen Altersgenossen weckten, nicht außen vor blieben. Der Hof von Johann II. war keine Ausnahme. Am Hof Ferdinands I. von Aragon wuchs gemeinsam mit seiner Gemahlin, Königin Eleonore von Alburquerque, auch Isabella von Urgell (1410–1470)39 auf, eine Dame, die den Anstoß zur portugiesischen Übersetzung der Vita Christi von Ludolf von Sachsen gab, einem der wichtigsten Beispiele für die auf neutestamentliche Texte gestützten christologischen Reflexionen des Mittelalters.

5.2 Jüdische Frauen geben auswendig Gelerntes im Kryptojudaismus weiter Die erste Erziehung der Mädchen und Jungen oblag der Mutter. Von ihr lernten sie auch die Gebete, in denen Teile der Psalmen enthalten waren. Dieses weiblich bestimmte Lernen tritt in den Zeiten der Verfolgung durch die Inquisition zutage, wenn Beschuldigte, denen man Kryptojudaismus vorwarf, letztlich gestanden, dass die Mutter oder eine andere Frau aus der Verwandtschaft sie in die Kenntnisse des Glaubens und der kulturellen und religiösen Riten des Judentums eingeführt habe.40 Jacobs weist 38

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Bischof von Burgos und vor seiner Konversion Großrabbiner, Mitglied des königlichen Rates, Erzieher des minderjährigen Prinzen. Seine Beziehungen zur Königin und Mitregentin Doña Catalina de Lancaster waren nicht immer die besten. Desungeachtet widmete er ihr die Siete edades del mundo, ein auch als Biblia en coplas bezeichnetes Werk. Don Pablo war einer der großen Gelehrten seiner Zeit und gemeinsam mit Nikolaus von Lyra in ganz Europa als kritischer Bibelkommentator bekannt. Isabella war die älteste Tochter des Grafen von Urgell, der Anspruch auf den Thron von Aragon hatte, bis sich Ferdinand I. von Aragon im Kompromiss von Caspe gegen ihn durchsetzte. Nach einem vergeblichen Aufstand wurde der Graf eingekerkert; seine Töchter blieben unter königlicher Obhut. Als es Zeit für die Ehe war, heiratete Isabella Peter von Coimbra (†1449), den Onkel und, solange er noch minderjährig war, auch Vormund des portugiesischen Königs Alfons V. Renée LEVIN MELAMMED, Heretics or Daughters of Israel? The Crypto-Jewish Women of Castile (New York: Oxford University Press, 2002), und Janet Liebman JACOBS, Hidden Heritage: The Legacy of the Crypto-Jews (Berkeley: University of California Press, 2002).

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darauf hin, dass schon die frühesten Untersuchungen zum Kryptojudaismus die Bedeutung der Frauen hervorheben. Sie gewährleisteten, dass ihre Kinder den Glauben und die Traditionen des Judentums kennen lernten.41 Jacobs schließt sich Levin Melammed an, der darauf verweist, dass zwar die Organisation der jüdischen Gemeinden und die Religionspraxis der Männer mit dem Verschwinden der Synagogen und der Lehrhäuser zusammengebrochen sei, dass aber die Frauen, die niemals von einem Zentrum außerhalb ihres Hauses abhängig gewesen sind und sich in ihrer religiösen Bildung nicht auf Bücher gestützt haben, die Tradition nach wie vor hochhielten.42 Anhand von Texten aus dem 16. Jh., die sich auf Mexiko beziehen, veranschaulicht Jacobs, dass die Frauen eine zentrale Rolle bei der Weitergabe der kulturellen und religiösen Praktiken des Judentums spielten, und belegt dies am Beispiel des PurimFestes, das für die Kryptojüdinnen von ganz besonderer Bedeutung war: In remembering the life of Queen Esther, one prayer in particular was reported to have been of special significance to the fasting crypto-Jewish women. This psalm, the Prayer of Esther, was recited during the observance of her fast. (...) An excerpt from the liturgy, which is found in the Apocrypha, reveals the sense of sorrow and grief that the Fast of Esther engendered among the observant women.43

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Sie führt die Aussage eines von der Inquisition des Kryptojudaismus Beschuldigten an, in der dieser gesteht, dass seine Mutter ihn, als er dreizehn Jahre alt war, beiseite genommen und ihm erklärt habe, der Glaube an Jesus Christus sei ein Irrglaube und er müsse sich an das Gesetz des Mose halten, und dass sie ihn alles Nötige gelehrt habe, um dieses Gesetz zu befolgen (JACOBS, Hidden Heritage, 42–49; 46). LEVIN MELAMMED, Heretics, 32. Laut einem im Nationalen Historischen Archiv (AHN Inquisición, Buch 1325, fol. 53r–v) aufbewahrten Dokument über die religiösen Praktiken der Juden verwendeten sie für ihre Zeremonien und Riten vier Bücher: „Das erste wurde in ihrer Sprache des Romanischen orachy genannt, was soviel wie ‚Lebensweg‘ bedeutet. In ihm befanden sich die Gebete für Pascha und für das Fasten. Das zweite wurde in ihrer Sprache yoredea genannt, was ‚Erweis der Weisheit‘ bedeutet und Vorschriften über verbotene Speisen, wie etwa Blut, Milchiges und Fleischiges zusammen, enthielt. Das dritte wurde hebem hacjer, Stein der Hilfe, genannt; in ihm ging es um Heiratsversprechen, um Ehe und Scheidung. Das vierte Buch, yoshem mispat, dessen Name ‚Brustschild des Rechts‘ bedeutet [fol. 53v], widmete sich Streitfällen zwischen ihnen und war wie das Buch von Montalbo [ein juristischer Traktat] bei uns. Diese vier Bücher hat ein Weiser herausgegeben und zusammengetragen, der bei ihnen Rabenu Yaacob hieß, was auf Romanisch ‚unser Lehrer Rabbi Jakob‘ heißt. Er galt unter ihnen als ein großer Lehrer ihres Gesetzes und hatte in der Stadt Ocaña eine Akademie mit vielen Studenten. Er stellte diese vier Bücher aus allen Büchern des Talmud zusammen, der aus siebzig Büchern besteht und den sie sibim gemaroth nannten, das heißt siebzig Bücher. Diese siebzig Bücher lasen die großen Weisen den Studenten in den Akademien vor, denn für die Bücher des Alten Testaments gab es an jedem Ort einen Rabbi, der die jungen Männer darin unterwies. Diese nämlich waren keine Bücher der Wissenschaft, weil die jungen Männer das Hebräische und das Romanische beherrschten.“ JACOBS, Hidden Heritage, 59.

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6. Abwesenheit von Frauen in Bibelkommentaren Außerhalb des klösterlichen Umfelds ist uns in den spanischen Gebieten keine Frau bekannt, die im Mittelalter einen Kommentar zur Heiligen Schrift verfasst hätte. Die ohnehin nicht zahlreichen Werke stammen von Ordensfrauen wie Isabella von Villena und Konstanze von Kastilien. Das Werk der Klarissin Isabella von Villena (†1490) ist eine Art Bibelkommentar für Frauen und stammt von einer Angehörigen des Königshauses. Isabella von Villena schreibt eine katalanische Vita Christi für ihre Nonnen, die Klarissinnen des Dreifaltigkeitsklosters in Valencia, und widmet ihr Werk der Königin Maria von Aragon. Nach Ansicht von Hauf ist sie außerdem die Verfasserin des Tractat de la Passió.44 Beide Werke enthalten profunde Reflexionen zum Neuen Testament. In der Tradition des christologischen Denkens verfasste auch die kastilische Dominikanerin Konstanze (†1478), die mit dem Hof Johanns II. von Kastilien verbunden war, Werke für ihre Nonnen im Kloster Santo Domingo el Real in Madrid. Obwohl der heilige Hieronymus für die Frauen ein Curriculum vorsah, das mit der Geburt beginnen sollte und Gebet und Studium, Einfachheit der Kleidung und Nahrung, Kurzweil und innere Sammlung, solide Latein-, Griechisch- und Hebräischkenntnisse, Lektüre, Kommentare, das Erlernen der biblischen Bücher vom Psalter bis zum Hohelied sowie die ihrem Geschlecht zugewiesenen Aufgaben umfasste,45 war dieses Programm in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht üblich. Auch Hieronymus! Empfehlung, wonach die Frauen regelmäßig lesen sollten, wurde nicht vorbehaltlos angenommen. Wenn es schon bei den ChristInnen Stimmen gab, die den Frauen vom Lesen abrieten, so war die Ablehnung in der jüdischen Welt noch größer. Als Beleg für die Einstellung der spanischen Rabbiner sollen uns hier die Kommentare dienen, die der Rabbiner Mosé Arragel de Guadalajara ergänzend zu seiner im Auftrag des Großmeisters von Calatrava, Luis de Guzmán, zwischen 1420 und 1430 angefertigten kastilischen Bibelübersetzung verfasste und die er La memorativa nannte.46 Der Großmeister wünschte sich eine volkssprachliche Bibelübersetzung, die, anders als die ver44

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Isabel de VILLENA, Vita Christi (hg. v. Albert H. Hauf; Les millors obres de la literatura catalana 115; Barcelona: Edicions 62, 1995). Vgl. Consuelo FLECHA GARCÍA, „Orden simbólico y educación en San Jerónimo“, in De los símbolos al orden simbólico femenino (siglos IV–XVII) (hg. v. Anna I. Cerrada Jiménez und Josemi Lorenzo Arribas; Colección Laya 20; Madrid: Asociación Cultural Al-Mudayna, 1998), 72–86; 81: „un currículum que había de empezar a desarrollar a partir del nacimiento, y que incluía oración y estudio, austeridad en vestidos y alimentación, juegos y recogimiento, conocimientos sólidos de latín, de griego y de hebreo, lectura, comentarios y aprendizaje de los libros de la Biblia, desde el salterio hasta el cantar de los cantares, y las tareas asignadas por su sexo“. Vgl. Gemma AVENOZA, Biblias medievales castellanas (San Millán de la Cogolla: CILENGUA, 2011), 197–254. Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe von Antonio PAZ Y MELIA, Hg., Biblia (Antiguo Testamento) traducida del hebreo al castellano por Rabi Mose Arragel de Guadalfajara (1422–1433?) y publicada por el Duque de Berwick y de Alba (2 Bde; Madrid: Imprenta Artística, 1920–1922).

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fälschenden Romanceamientos seiner Zeit, einen korrekten Text für die Lektüre enthalten47 und überdies von einem Bibelkommentar begleitet sein sollte. Dieser Kommentar sollte die Meinungen der „neuen Rabbiner“ enthalten, die Nikolaus von Lyra in seinen Postillae nicht berücksichtigt hatte, und zudem die christlichen Meinungen vor allem an denjenigen Stellen mit einbeziehen, wo sie von denen der Juden abwichen. Nachdem er zunächst versucht hatte, sich diesem Auftrag seines Herrn zu entziehen, bewältigte Arragel die Aufgabe und lieferte Don Luis eine großartige glossierte Bibel, während sein Kommentar für alle, die Genaueres über das Denken und die Haltung seiner jüdischen und christlichen Zeitgenossen zur Heiligen Schrift erfahren wollen, von unschätzbarem Wert ist. Mosé Arragel wich nicht um ein Jota vom traditionellen, auf der Bibel basierenden Denken über „die Frau“ und ihre intellektuellen Fähigkeiten ab. Die jüdische Frau wurde traditionell vom Erlernen des Talmuds ausgeschlossen, und der Grund hierfür fand sich im Buch Deuteronomium, wo in Dtn 29,9f. in einer Aufzählung Frauen erst hinter den Würdenträgern genannt sind. Daraus schloss man, dass sie sich während der Reden hinter den Männern zu halten haben. Hier aber muss man anmerken, dass Mose erzählte, wie Israel saß, um diese Rede des Mose zu hören, die der Text hier wiedergibt: zuvorderst die Stammesführer, dann die Ältesten, also die Weisen und Lehrer und alle Arten von Ältesten gemäß dem Gesetz – hierzu zählen jene Lehrer, die die Juden damals Sanhedrin nannten, das heißt die Richter; dann die Anführer und Listenführer; dann alle gewöhnlichen Leute; dann die Familien, damit sind hier die Kinder gemeint; dann die Frauen; dann die Fremden; dann die Holzarbeiter und Wasserträger; und diese alle saßen geordnet, um das Gesetz zu hören, und es ist eine sehr vornehme Sitte, dass an ehrenvollen Orten sich alle ihrem Rang gemäß setzten.48

Während einige Rabbiner, wie bereits erwähnt, die Frauen von den Gebetspflichten entbanden, weil sie sich um Wichtigeres zu kümmern hätten, rechtfertigten andere die Tatsache, dass die Frauen von der Erfüllung der Vorschriften oder vom Gebet ausgeschlossen waren, mit ihrer fehlenden Intelligenz, wobei für die Argumentation einleitend auf Koh 7,28f. zurückgegriffen wird: Und noch weiter suchte meine Seele. Weil nämlich einen, der zur Wissenschaft gelangt und sie von Grund auf kennt, ich nur einen einzigen unter tausend fand, der dies so versteht, und ich finde, dass ich keine einzige Frau fand, die dieses so versteht, da ihre 47

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Von vierzehn mittelalterlichen kastilischen Bibelhandschriften überliefern nur zwei eine Übersetzung der Vulgata. Die übrigen sind Übersetzungen aus dem Hebräischen, wenngleich ihre Besitzer christliche Adelige sind (diejenigen Handschriften, die isolierte Textstücke überliefern, sind hier nicht berücksichtigt). Nähere Informationen bietet Francisco J. PUEYO MENA, „Biblias romanceadas y en ladino“, in Sefardíes: Literatura y lengua de una nación dispersa: XV Curso de Cultura Hispanojudía y Sefardí (hg. v. Iacob M. Hassán und Elena Romero; Colección Humanidades 96; Cuenca: Univ. de Castilla-La Mancha, 2008), 193–263. Mosé ARRAGEL, Glosa, in PAZ, Biblia, Glosse 238 zum Buch Deuteronomium (Hervorhebung hier und im Folgenden durch Verf.).

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Gemma Avenoza Auffassungsgabe dürftig ist und sie insgesamt beschränkt sind; diese Erfahrung des großen Mangels in der Frau muss sogar Anlass sein, die Gesellschaft der Frauen zu meiden und zu fliehen.49

Obwohl sie den Frauen aufgrund ihrer begrenzten Intelligenz den Zugang zum Verständnis der Schrift verwehren, bestehen dieselben Rabbiner in einer Auslegung von Dtn 31,9–13 darauf, dass sie den Schriftlesungen zuhören, weil diese ihnen auch dann von Nutzen seien, wenn sie sie nicht verstünden: Da in den Erlassjahren [...] unendlich viele Menschen nach Jerusalem zogen, sagt er, dass sie dort allen zusammen, allen, auch Frauen und Kindern, zum Laubhüttenfest das Gesetz öffentlich vorlasen. Alle, die gebildet sind, erführen einige Geheimnisse im Gesetz. Die Frauen, die kein solches Urteilsvermögen haben, wurden gerettet durch das Hören, auch wenn sie es nicht verstanden. Die Kinder hatten zweifachen Nutzen: den einen, dass sie etwas lernten, indem sie das Gesetz hörten, [und den zweiten,] dass sie sich wenigstens an das Gesetz hielten, das ihnen öffentlich vom Lehrstuhl herab vorgelesen wurde; und auch die Fremden, da sie zum Gesetz kamen, indem sie es dort hörten, wären besser unterrichtet.50 Übersetzung: Gabriele Stein

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ARRAGEL, Glosse 98 zu Kohelet. ARRAGEL, Glosse 259 zu Deuteronomium; vgl. 1 Tim 2.

Iuravit ad Sancta Dei Evangelia, tactis corporaliter Scripturis Bibel, Häretikerinnen und Inquisitoren Marina Benedetti Università degli Studi, Mailand In der festen Verbindung von Bibel, HäretikerInnen und Inquisitoren befindet sich die Heilige Schrift an der Spitze einer Pyramide, auf die die beiden anderen zulaufen: Sowohl die HäretikerInnen (Frauen und Männer) als auch die Inquisitoren sind mit der Heiligen Schrift vertraut. Wegen ihrer selbständigen Textinterpretation und der persönlichen Hingabe, die die Glaubensrichter als von der orthodoxen Vulgata abweichend ansehen, sehen sich Frauen wie Männer vor die Inquisitoren gestellt.

1. Die Rolle der Bibel im Inquisitionsprozess Die Verbindung Bibel – HäretikerInnen – Inquisitoren verweist auf ein Bild von großer emotionaler und visueller Wirkung, die über die juristische Bedeutung hinausgeht: den Eid super Sancta Dei Evangelia. Der Akt des Schwörens auf die Bibel vor den Inquisitoren, die sich auf die Bibel berufen, steigert durch den unmittelbaren Kontakt mit der Bibel einerseits die Heiligkeit des Eides und andererseits die zentrale Stellung des Textes, auf den man schwört, wobei dessen Bedeutung und Gewicht verändert werden. Man kann sich die emotionale Intensität des Momentes kaum vorstellen, da das Buch, auf das man schwört – tactis corporaliter Scripturis –, zur sicht- und berührbaren Konkretisierung vergangener und gegenwärtiger Entscheidungen wird, die vor dem Richter schicksalsbestimmend werden. Es ist allerdings zu fragen, ob man die Heiligkeit dieses Eides, der von vielen HäretikerInnen aufgrund von Mt 5,33–37 verweigert wurde, immer anerkannte. Vor allem muss man bedenken, dass es in einigen Fällen wahrscheinlich die erste Gelegenheit war, die Quelle von Versen, die man auswendig gelernt, in der Einsamkeit bedacht und mit anderen erörtert hatte, aus der Nähe zu sehen und mit Händen zu berühren. Ad Sancta Dei Evangelia zu schwören, bedeutete, einem gerichtlichen Verfahren mittels eines für gewöhnlich entrückten Objekts Feierlichkeit zu verleihen: Von der Bibel hörte man, aber man berührte sie nicht, ihre Worte hallten in den Kirchenschiffen und im Innern jedes Einzelnen wider, doch die Heilige Schrift war in ihrer Gegenständlichkeit nie gegenwärtig. Auf der einen Seite die HäretikerInnen, auf der anderen die Inquisitoren, in der Mitte die Bibel: Das Vorzeigen der Bibel und der Eid auf die Bibel, mit all seiner symbolischen Aussagekraft, steigern sich zu einer heiligen Handlung, die in rechtlicher Hinsicht aus Gläubigen HäretikerInnen macht. Die Bibel, die Quelle religiöser und lebenswichtiger Entscheidungen, leitet zwar die Verhöre ein, tritt aber während der einzelnen Verfahrensschritte nicht in Erscheinung. Im Gegensatz zu dem, was man erwarten könnte, gibt es während der Inquisitionsprozesse keine ausdrückliche Bezugnahme auf die Heilige Schrift und auch keine Informationen bezüglich ihrer Verwendung: Man würde eine heftige Auseinandersetzung

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Marina Benedetti

mit Zitaten, einen ausführlichen Gebrauch von Bibelstellen oder auch theologische Dispute erwarten, die jedoch im Mittelalter nicht stattfinden. Die Interpretation der Männer der Kirche steht nicht zur Diskussion. Daraus folgt – paradoxerweise –, dass man recht wenig über die Bibelkenntnisse derjenigen weiß, die sich den Repräsentanten des officium fidei stellen und bisweilen ihr Leben auf dem Scheiterhaufen deswegen beenden mussten, weil sie ihr Leben ganz nach der Bibel ausgerichtet hatten. Das Verhör der Inquisitoren kreist um das Wer, Wo, Wann, Wie und vermeidet, gemäß dem nicht zu hinterfragenden Gebot der Inquisitorenhandbücher (non est disputandum cum hereticis), Fragen der Interpretation der Heiligen Schrift, also das Warum. Paradoxerweise – das muss unterstrichen werden – macht es gerade der von den Inquisitoren verwendete Filter schwierig, die heuristischen Probleme zu lösen: was waren die in der Exegese von den HäretikerInnen bevorzugten schriftlichen Quellen (nur selten haben sich ihre Bücher erhalten), die Inhalte ihrer Predigten (nur selten verfällt der Notarstil nicht in die Wiederholung stereotyper errores, Irrtümer) oder die Umstände der Vervielfältigung religiöser Texte und ihrer Verbreitung (nur selten interessiert sich ein Inquisitor dafür), gar nicht zu reden von den Zeugenaussagen in den Prozessen, die fast immer unvollständig auf uns gekommen sind. Hinzufügen mag man noch, dass die Bibel nur ziemlich selten in einem vollständigen Exemplar vorlag. In den Akten der Inquisition ist die Bibel – worunter man wohl einzelne Teile von ihr verstehen muss – ein quasi „dezentralisiertes“ Zentrum der Schwerkraft: Die Rolle von Frauen, ihr Verhältnis zur Heiligen Schrift und ihre Interpretation stellen sich sogar als noch „ex-zentrischer“ heraus. Um das Thema „Bibel und HäretikerInnen“ hat man sich nur wenig gekümmert, und wenn, dann im Hinblick auf philologische, exegetische und inhaltliche Probleme.1 Auch wenn die Bibel zentral ist, so hat doch die Geschichtsforschung das Verhältnis der Inquisition zur Bibel vernachlässigt. Ganz und gar außer Acht gelassen wurde bislang die Relation Bibel – Häretikerinnen – Inquisitoren: ein doppelter Salto, exegetisch und hermeneutisch, dekliniert im Femininum. Beim derzeitigen Forschungsstand können nur einleitende Beobachtungen gemacht werden, die sich auf zwei exemplarische Beispiele stützen: auf die Waldenserinnen und den Fall der Guglielma von Mailand und, da dieser Beitrag nicht auf alle Fälle eingehen kann, auf die dualistischen Katharer und die Lollarden. Die Lücken in der Dokumentation erlauben keine durchgehende, einheitliche und in sich stimmige Rekonstruktion ihrer Doktrin oder Ekklesiologie. Daraus folgt unvermeidlich eine sich nur auf Einzelstücke und Fragmente stützende analytische Vorgehensweise, wobei die Untersuchung selbst sich auf ein breit dokumentiertes Spektrum bezieht. 1

Zum Verhältnis Frauen – Heilige Schrift und Häretiker (männlich) – Heilige Schrift vgl. Adriana VALERIO, „Per una storia dell’esegesi femminile“, in La Bibbia nell’interpretazione delle donne (hg. v. Claudio Leonardi, Francesco Santi und Adriana Valerio; Millennio medievale 34; Florenz: SISMEL – Edizoni del Galluzzo, 2002), 3–21; Grado Giovanni MERLO, „Bibbia ed eretici del pieno medioevo“, in La Bibbia nel medioevo (hg. v. Giuseppe Cremascoli; CBSt 16; Bologna: Dehoniane, 1996), 425–437. Wichtig für das Verhältnis zwischen Häresie und Schriftunterweisung: Egbert SCHLARB, Die gesunde Lehre: Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe (MThSt 28; Marburg: Elwert, 1990).

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Der Zusammenhang Bibel – Häretikerinnen – Inquisitoren ist nur im konkreten Aufeinandertreffen von Individuen – zur Verteidigung eines Systems auf der einen Seite, als „Wahl“ (!"#$%&') auf der anderen –, das zum existentiellen (und gerichtlichen) turning point wird, analysierbar. Obwohl Frauen – wie Männer – an den mittelalterlichen Bewegungen der kritischen Religiosität teilnehmen, ist ihre Zahl meist gering, wodurch sich die Wahrnehmung eines großen und verbreiteten Phänomens als falsch erweist. Eine so augenfällig geringe weibliche Präsenz muss in mehrfacher Weise verstanden werden: Ein erster Blick zeigt das Fehlen weiblicher Protagonisten auf der gerichtlichen Ebene. Untersucht man den Inhalt der Zeugenaussagen von Männern, wächst die Zahl der Frauen beachtlich. Analysiert man die Rolle der Frauen in den Zeugenaussagen der Männer, dann eröffnet sich eine Welt voll selbständiger, tatkräftiger, wortstarker Persönlichkeiten. Die Akten der Inquisition lassen sich auf mehreren Ebenen lesen. Da sie ein semiotisches Elaborat bzw. eine sinnstiftende Konstruktion darstellen, können wir v. a. den Sinn erfassen, der von der juristisch-dogmatischen Denkweise der Inquisitoren geprägt ist.2 Aus quantitativer Sicht kann eine oberflächliche Lektüre der Quellen entmutigend sein. Aber wenn man Schritt für Schritt in das Dickicht der Worte der Verhörten eindringt, ergibt sich ein unwiderlegbarer qualitativer Sachverhalt: Die bedeutsamen Bezüge zur Heilige Schrift werden von Frauen vorgebracht. Dabei muss man sich den doppelten Androzentrismus vergegenwärtigen: Erstens vermitteln Männer die Bibel als materielles Buch und als Gottesbotschaft, und zweitens bilden sie den Filter der Inquisition, der sich im redaktionellen Prozess der Notare und Richter niederschlägt. Ihre 2

Über die Stimmen von Frauen, die sich mittelbar in den Inquisitionsprozessen Gehör verschaffen, jedoch ohne die Bibel zu berücksichtigen, siehe die feministische Position von Jo Ann MCNAMARA, „De quibusdam mulieribus: Reading Women’s History from Hostile Sources“, in Medieval Women and the Sources of Medieval History (hg. v. Joel Rosenthal; Athen: University of Georgia Press, 1990), 237–258; Dinora CORSI, „‚Interrogata dixit‘: Le eretiche nei processi italiani dell’inquisizione (secolo XIII)“, in Essere minoranza: Comportamenti culturali e sociali delle minoranze religiose tra medioevo ed età moderna (hg. v. Marina Benedetti und Susanna Peyronel; CSSV 21; Turin: Claudiana, 2004), 73–98; Marina BENEDETTI, „Donne valdesi nelle fonti della repressione tra XV e XVI secolo“, in Chiesa, vita religiosa, società nel medioevo italiano: Studi offerti a Giuseppina De Sandre Gasparini (hg. v. Mariaclara Rossi und Gian Maria Varanini, Rom: Herder, 2005), 33–51. Für die Neuzeit siehe Susanna PEYRONEL, „Mogli, madri, figlie: donne nei gruppi eterodossi italiani del Cinquecento“, in Donne delle minoranze: Le ebree e le protestanti d’Italia (hg. v. Claire Honess und Verina Jones; Nostro tempo 64; Turin: Claudiana, 1999), 45–65; Anne JACOBSON SCHUTTE, „Putte pericolanti, donne perdute: la storia al femminile nelle fonti inquisitoriali“, in L!Inquisizione romana: metodologia delle fonti e storia istituzionale (hg. v. Andrea Del Col und Giovanna Paolin; Inquisizione e società: Quaderni 1; Triest: Edizioni Università di Trieste, 2000), 91–102. Ohne Berücksichtigung der Rolle der Bibel Dyan ELLIOTT, Proving Woman: Female Spirituality and Inquisitional Culture in the Later Middle Ages (Princeton: Princeton University Press, 2004), und Daniela MÜLLER, „Femmes devant l’Inquisition“, in Autour de Montaillou: Un village occitane (hg. v. Emmanuel Le Roy Ladourie; Castelnaud La Chapelle: L’Hydre, 2001, 167–184.

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Texte – das sei betont – sprechen eine androzentrische Sprache, womit sie den Worten eine dominant männliche Genderperspektive aufdrücken und somit deren Sinn verändern. Ferner, wenn Frauen schon im Allgemeinen marginalisiert werden, unterliegen Häretikerinnen einem doppelten Prozess der Entfernung vom gesellschaftlichen und religiösen Gravitationszentrum: als Frauen und als Häretikerinnen. Dennoch wäre es sehr vereinfachend, an ein „dominantes“ und ein „nachgebendes“ Geschlecht zu denken. Das paulinische Wort mulieres in ecclesia taceant (1 Kor 14,34) ist die kanonische Begründung für das Schweigen der Frauen, aus der die insgesamt geringe Zahl von Frauen vor Gericht oder aber das Schweigen des Gerichts über die Frauen resultieren: ein doppelter Strudel des Schweigens. Über Frauen muss man nicht reden. Das, was sich – ich wiederhole: durch eine oberflächliche Lektüre der Quellen – ergibt, ist sowohl eine schweigende Gegenwart der Bibel als auch eine schweigende Gegenwart der Frauen. Vertieft man aber die Analyse, wird die geringe Quantität, in der Frauen begegnen, durch die inhaltliche Qualität der Beiträge ausgeglichen, mit der die Frauen ihr anfänglich verdunkeltes Erscheinungsbild umkehren und zu strahlenden Protagonistinnen und Verbreiterinnen einer machtvollen Botschaft werden. In der Neuzeit wird dieses Phänomen zu einer „Feminisierung der Häresie“3 und durch die Verfolgung der Hexen zu einer „gewaltsamen Feminisierung“ führen. Aber in diesem Fall stellt sich das Problem von abweichenden Quelleninterpretationen ganz offenkundig nicht, und das Ergebnis des langwierigen Prozesses zeigt sich in unübersehbarer Weise.

2. Wahl eines biblischen Lebens: die sorores in Christo Auch im Fall der apostolischen Bewegungen gibt es noch keine Untersuchung längerer Zeiträume, die umfassend die radikale Form der Hingabe an das Evangelium, die für Frauen eine gefährliche Tätigkeit on the road mit sich bringt, erhellt.4 Die religiöse 3 4

JACOBSON SCHUTTE, „Putte pericolanti, donne perdute“, 17. Zur Predigt von Frauen – vor allem in der Anfangszeit – hat sich in den letzten zehn Jahren ein reges internationales Interesse herausgebildet, ausgehend von Grado Giovanni MERLO, Valdesi e valdismi medievali: Identità valdesi nella storia e nella storiografia (Turin: Claudiana, 1991), 69–92; Peter BILLER, The Waldenses 1170–1530: Between a Religious Order and a Church (CStS 676; Aldershot: Variorum, 2001), 125–158; Beverly Maine KIENZLE, „The Prostitute-Preacher: Patterns of Polemic against Medieval Waldensian Women Preachers“, in Women Preachers and Prophets through Two Millennia of Christianity (hg. v. Beverly Maine Kienzle und Pamela Walker; Berkeley: University of California Press, 1998), 99–113; Jörg FEUCHTER, „Waldenserinnen im Mittelalter“, in Die Waldenser: Spuren einer europäischen Glaubensbewegung: Begleitbuch zur Austellung in Bretten (hg. v. Günter Frank, Albert de Lange und Gerhard Schwinge; Bretten: WMV, 1999), 51– 69; zum langen Zeitraum vom 13. bis zum 14. Jh. siehe Marina BENEDETTI, „La predicazione delle donne valdesi“, in Donne cristiane e sacerdozio: Dalle origini all’età contemporanea (hg. v. Dinora Corsi; Rom: Viella, 2004), 135–158, und DIES., Donne valdesi nel medioevo (BSSV 198; Turin: Claudiana, 2007); zuletzt: Peter BILLER, „Women and Dissent“, in Medieval Holy Women in the Christian Tradition, c. 1100–c. 1500 (hg. v.

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Welt derer, die sich für eine Wahl der – mehr oder minder radikalen – Hingabe an die Botschaft Jesu Christi und die apostolische Wanderpredigt sowie die Verkündung „neuer Zeiten“ entschließen, ist durch eine allumfassende Lebensentscheidung bedingt: Durch die Lektüre der Evangelien bewirken die Worte Jesu Christi eine Lebensführung nach der Frohbotschaft des Neuen Testaments im Alltag. In diesem Kontext trifft man ausschließlich Verweise aus den Evangelien. Am Beispiel des kurzen häretischen Abenteuers von frater Dolcino von Novara und von soror Margherita von Trient, vor allem aber der Apostoli Christi (oder novi Apostoli oder pauperes Christi) und der sorores in Christo, zeigt sich eine relevante weibliche Präsenz bis in die Spitzen der congregatio spiritualis: eine dynamische Teilnahme an der apostolischen Aktivität, für uns stumm und nahezu ausschließlich durch Namen zu fassen.5 Wie und wo lernen diese Frauen? Was und wann predigen sie? In diesem spezifisch religiösen Kontext sind die Bezüge zur Bibel als materiellem Objekt ausgesprochen selten, während Verweise auf Bibelstellen in den Schriften der Mission und des Projekts der religiösen Erneuerung in ziemlich großer Zahl erscheinen. Die Weissagung über die bevorstehenden Veränderungen an der Spitze der Kirche werden dabei insbesondere durch Jesaja begründet (16,14; 21,1.7; 22,23.25). Man müsste nicht annehmen, dass Frauen an der Aktualisierung der Heiligen Schrift teilgenommen haben, wenn ihre Bibelkenntnis nicht selbstverständlich wäre, da die Bibel für Predigerinnen das wichtigste Arbeitsinstrument darstellt. In diesem strukturellen Mangel an Informationen, der ausschließlich dem Fehlen von Quellen geschuldet ist, ergibt sich der bemerkenswerteste Aspekt aus der Selbstbezeichnung sorores in Christo. Diese Bezeichnung zieht sich quer durch die Geschichte religiöser Bewegungen – orthodoxer und heterodoxer – und findet sich von Hieronymus bis zu Kardinal Ugolino von Ostia, dem späteren Papst Gregor IX., in einem Brief an Klara von Assisi, bis zu den Waldenserinnen des 16. Jh. Dabei wurde das, was offensichtlich als eine Entscheidung „am Rand“ erscheinen sollte, in Übereinstimmung mit dem Charisma Jesu Christi zu einer Entscheidung von „langer Dauer“ transformiert. Quellenmäßig besser belegt ist der Fall der Pauperes de Lugduno sive Valdenses. Um deren Entwicklung, angefangen von den 1170er Jahren, zu verstehen, muss man ihre Ursprünge analysieren. Der große ethisch-religiöse – und kulturelle – Antrieb von Valdes von Lyon hatte eine wahrhaftige Revolution ausgelöst. Der Dominikaner und Inquisitor Etienne de Bourbon schreibt, dass Valdes, nachdem er curiosus intelligere die Evangelien auf Lateinisch gehört hatte, die Übersetzung von multi libri Biblie, von vielen biblischen Büchern, und von Aussprüchen der Kirchenväter (auctoritates sanctorum multe per titulos congregatas, que Sentencie appellabant) in die Volkssprache in Auftrag gegeben habe. Er habe sie auswendig gelernt und begonnen zu predigen

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Alastair Minnis und Rosalynn Voaden; Brepols Essays in European Culture 1; Turnhout: Brepols, 2010), 133–162. Die herausragende Persönlichkeit der Margherita von Trient zeigt sich auch in der Verbissenheit, mit der die Kirchenmänner sich in den Prozessen mir ihr beschäftigten; vgl. Marina BENEDETTI, „Margherita ‚la bella‘? La costruzione di un’immagine tra storia e letteratura“, Studi medievali 50 (2009): 105–131.

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und dazu aufzufordern, wie die Apostel die biblische Vollkommenheit zu leben (proposuit servare perfectionem evangelicam ut apostoli servaverant).6 Wir wissen nicht genau, welche Bücher der Bibel übersetzt wurden, aber wir wissen, wie man sie lernte (auswendig), wo man predigte (auf den Straßen und Plätzen) und wer einbezogen war (multi homines et mulieres – viele Männer und Frauen). Aber vor allem ist es offenkundig, dass die heiligen Texte kein ausschließlicher Besitz der Männer der Kirche oder einfach der Männer waren. Es ist eine Zeit der Experimente und des dynamischen Aufbruchs, der Männer wie Frauen, Unwissende und Analphabeten (tam homines quam mulieres, idioti et illitterati) miteinbezog: Trotz des Widerwillens der Kirchenmänner, konkret von Frauen zu sprechen, musste der Inquisitor Etienne de Bourbon der Beteiligung der Frauen, deren Ausmaß man nur an der Stärke der Reaktion der katholischen Polemik bemessen kann, Beachtung schenken. Um die Tragweite dieser Anteilnahme zu schmälern, schreckte er nicht davor zurück, den paulinischen Spruch mulierculae oneratae peccatis (vgl. 2 Tim 3,6) zu verwenden. Die Verbreitung des Diktums aus 2 Tim 3,1–9 sollte einen weitreichenden Einfluss haben und ein negatives Frauenbild formen, ohne das Positive einer häufigen Benutzung der Heiligen Schrift zu überdecken, die den mulierculae im Gefolge von Valdes Freiheit bescherte: die Freiheit des Wortes und des Verhaltens, die die polemische und herabsetzende Reaktion, „sie der Sünden zu bezichtigen“, hervorrief. Diese Zeugnisse aus der Anfangszeit, die aus dem Umfeld der Inquisition stammen, belegen mit der kargen Definition „waldensische Frauen“ (mulier valdensis), qualifiziert mit dem Verb predicare, „predigen“, die aktive Rolle in der Verbreitung des Gotteswortes durch die Wanderpredigt. Zwischen dem Ende des 12. und den ersten Jahrzehnten des 13. Jh., nachdem man das Evangelium auswendig gelernt hatte, begibt sich ein „apostolisches Paar“ – gebildet auch von Frauen – auf den Weg der Mission, um das Evangelium zu verkünden.7 Die Lesung der Bibel und die Predigt des Wortes Christi haben eine befreiende Funktion, auch wenn man nichts Genaues über den Inhalt dieser Predigt sagen kann. Wir müssen uns mit einem paulinischen Bild zufrieden geben: Die Verringerung des Freiraums für die Frauen (mulieres in Ecclesia taceant – „die Frauen sollen in der Kirche schweigen“ 1 Kor 14,34), das heißt das Schweigen der Frauen, schreitet voran – und wird programmatisch in Übereinstimmung mit ihrer Abwesenheit in den Quellen (das Schweigen über Frauen). Gleichwohl verschwinden sie nicht ganz, und ihre Stimme verstummt nicht. Von der Gelegenheit zur Freiheit, die die Lektüre der Heiligen Schrift in der Zeit des Valdes von Lyon charakterisiert, verliert sich im 14. Jh. jede Spur, da uns die Gerichtsverfahren vor allem von Personen, Begegnungen, Wanderbewegungen und stereotypen errores erzählen. Die Heilige Schrift scheint aus dem religiösen Alltagsleben zu verschwinden, sei es als Objekt, sei es als Wort, und mit ihm verlieren sich die Spuren von predigenden Frauen. Sie werden erst wieder am Ende des 15. Jh. auftauchen. Unerwarteterweise erheben sich die Stimmen anderer Frauen. In den Prozes6 7

Vgl. MERLO, Valdesi e valdismi medievali, 74. Vgl. MERLO, Valdesi e valdismi medievali, 93–112; BENEDETTI, „La predicazione delle donne valdesi“, 139–145.

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sen im Piemont des 14. Jh. trifft man auf das Echo der Bibel in nur zwei Fällen, in zwei Zeugenaussagen von Frauen. Am 25. Mai 1373 wird eine Frau aus Lanzo namens Fina vom Inquisitor, der sie in der Burg ihres Heimatortes verhört, dazu gedrängt, ihre Gedanken über die Eucharistie zu eröffnen. Die Frau hatte eine eigene Stellungnahme zum Problem der Transsubstantiation ausgearbeitet und ihre eigenen Überlegungen mit anderen diskutiert. Sie gibt zu, immer an der Gegenwart des Leibes Christi in der geweihten Hostie gezweifelt zu haben. Als sie jedoch ihre eigene Ungewissheit dem Geistlichen vor Ort, dem Priester Leonardo, offenbarte, ließ sie sich in Teilen von seinen Worten überzeugen. Fina fährt fort, über das nachzudenken, was ihr als eine mit den Mitteln des Verstandes nicht zu durchdringende Aporie von Verkündigtem und physischer Erscheinung erscheint. Nach der Ansicht Finas würde sich Christus nicht leibhaftig, sondern per graciam in der Hostie befinden, so wie es im Evangelium – per graciam – heißt: Ubicumque fuerint duo vel tres congregati in nomine in medio eorum sum.8 Fina denkt über den Vers Mt 18,20 nach (Ubi enim sunt duo vel tres congregati in nomine meo, ibi sum in medio eorum) und bezieht ihn auf ein Problem, das sie nicht mehr loslässt. Eines Tages, als sie mit anderen Frauen spricht, erläutert sie den Widerspruch und löst ihn in einer kreativen Deutung auf: Seht, Werteste, die Worte, die in der Messe gesprochen werden, zeigen, wann Christus da ist, denn gleich nach der Erhebung der Hostie sagt der Priester: „Vater unser, der du bist im Himmel.“ Seht, wie schnell er dann einen großen Sprung macht.9

In der Kirche verfolgt Fina die Messe. Der zentrale Moment der liturgischen Synaxis – die Erhebung der geweihten Hostie – lässt in ihr ein originelles Bild entstehen: den „großen Sprung“. Der Leib Christi, verwandelt in die Hostie, wie es ihr der Priester Leonardo und die Vision dargestellt haben, würde bei den Worten des Priesters: Pater noster qui ex [sic! lies: es] in cellis sofort in den Himmel aufsteigen. Die einfache Vernunft, das unbedarfte Schriftverständnis und ein schlichter Deutungsansatz werden von dem angeregt, was sie hört, sieht und versteht – und gemeinsam mit Freunden entwirft sie die Vision vom „großen Sprung“. Wanderprediger trugen Bücher mit biblischen und religiösen Texten mit sich, lasen sie vor, erklärten sie. Frauen hörten ihnen im häuslichen Bereich zu. Sie prägten sich die wichtigsten Gebote ein, gestalteten sie aus, überprüften sie, indem sie das, was während einer Messe geschah, einer scharfen Kritik unterzogen. Fina hatte ihr Verhör mit dem rituellen Eid iuravit ad Sancta Dei Evangelia, tactis corporaliter Scripturis begonnen; eine andere Frau hat jedoch die Unzulässigkeit der Eidesleistung mit einem diesbezüglichen Zitat aus den auctoritates, aus der Bibel, vertreten: Am 14. Februar 1335 wird Peroneta, genannt Bruna, befragt, worüber die seygnores bzw. die WanderpredigerInnen gepredigt hätten. Ihre Antwort hat in Bezug 8

9

Siehe bei Grado Giovanni MERLO, Eretici e inquisitori nella società piemontese del Trecento (Turin: Claudiana, 1977), 264. Videte, carissime, illa que dicuntur in missa demonstrant quando Christus est ibi, quia cito post ellevacionem hostie sacerdos dicit ‚Pater noster qui ex [lies: es] in cellis‘, videte quam cito facere unum magnum saltum (ebd.).

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auf das zentrale (religiöse und juristische) Problem der Zulässigkeit der Eidesleistung, die einige Häretiker mit dem Hinweis auf Mt 5,33–37 verweigerten und dessen Worte in den Verhören häufig ihren Widerhall fanden (sit autem sermo vester, est, est: non, non), den Charakter einer absoluten Originalität. Im Fall von Peroneta wird das Gebot, nicht zu schwören, da jeder Schwur eine Todsünde darstelle (omne iuramentum est peccatum mortale), von der auctoritas Salomons begleitet, die sich aus Jesus Sirach ableitet: iurationi non adsuescat os tuum (Sir 23,9) und vir multum iurans implebitur iniquitate (23,12). Um die Unzulässigkeit der Eidesleistung, der sie sich im Übrigen nicht zu Beginn des Verhörs entzieht, zu rechtfertigen, nimmt Peroneta Zuflucht bei alttestamentlichen Zitaten, die sonst nirgendwo in den Verhören der Inquisition auftauchen. Ferner belegt ihr Verhörprotokoll ein hohes Bewusstsein von der Vergangenheit der Waldenser, die mit einer Erzählung aus fernen Zeiten zu einem originellen Zeugnis ausgestaltet wird: Als Christus in den Himmel aufstieg, ließ er auf der Erde zwölf Apostel zurück, die seine Worte predigen sollten. Vier von ihnen bewahrten seine Bücher, die acht anderen aber gingen, um Gärten zu bestellen, und sangen aus anderen Büchern, und keiner verstand sie. Die anderen vier aber sangen aus den Büchern Christi, und jedermann verstand sie. Als davon die acht, die stärker waren, erfuhren, vertrieben sie die vier aus der Kirche. Und da die vier auf den Platz gegangen waren und dort sangen, vertrieben die acht sie vom Platz. Und da begannen die vier heimlich bei Nacht umherzuziehen.10

Peronetas Erzählung ist eine legendenhafte Ausgestaltung der Anfangszeit und der Verstoßung der Pauperes de Lugduno sive Valdenses, der Armen von Lyon, aus der Kirche. Diese Erzählung wurde die Wurzel ihrer eigenen Religiosität. Das Zeugnis drückt das Bewusstsein einer Authentizität aus, die unter den Umständen eines heimlichen Christentums gelebt wurde und die Peroneta am Ende ihrer Erzählung erläutert: Wir folgen dem Weg der vier, bei denen die Bücher Christi verblieben waren; die Priester und Kleriker aber folgen dem Weg der anderen acht, die auf der breiten Straße gehen wollten.11

Neben der legendenhaften Ausgestaltung der Rechtfertigung einer erzwungenen Ausgrenzung der vier Apostel wird die Bewahrung und die Verwendung der Bücher Christi, d. h. der Evangelien, unterstrichen. Das konnten alle verstehen, wenn es ihnen von denen erläutert wurde, die nicht der „breiten Straße“ folgten, auf der die acht Apostel reisten und die zu Mt 7,13 führt (Intrate per angustam portam: quia lata porta, et spa10

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Quando Christus ascendit in celum relinquit .XII. apostulos in mondo, qui eius fidem predicarent. Quorum quatuor retinuerunt eius libros, alii vero octo iverunt ad faciendum ortos et cum aliis libris cantabant et nullus eos intelligebat. Alii autem .IIII. cantabant in libris Christi et omnes ipsos intelligebant. Quod audientes illi .VIII. fuerunt forciores et expulerunt illos .IIII. de ecclesia. Et cum ipsi .IIII. ivissent ad plateam et ibi cantarent, illi .VIII. fuerunt forciores et eiecerunt eos de platea. Et tunc illi .IIII. ceperunt ire occulte et de nocte. MERLO, Eretici e inquisitori, 220 (siehe auch zum Vorhergehenden). Nos tenemus viam illorum .IIII. quibus remanserunt libri Christi; sacerdotes vero et clerici secuntur viam aliorum .VIII. qui volebant tenere viam grossam (ebd.).

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tiosa via est, quae ducit ad perditionem, et multi sunt qui intrant per eam). Aber Peroneta verkündet eine noch interessantere Botschaft. Die Authentizität des Wortes Jesu Christi ist nur in den Büchern enthalten, die die Wanderprediger in die Häuser der gläubigen Waldenser brachten: das Haus, der Ort, wo traditionell Frauen am leichtesten Zugang hatten, wo Fina und Peroneta in ihrem häuslichen Alltag ihren schlichten Deutungsansatz entwickelten und eine religiös ausgestaltete Vergangenheit behüteten und überlieferten und wo sie die Bücher Christi sahen und berührten und eben nicht nur hörten. Auch in diesem Fall wird ein wertvoller Bericht bewahrt und überliefert, allein von zwei Frauen mit ähnlichem Namen: Peroneta (genannt Bruna) aus den Tälern von Lanzo im Piemont und Peironeta von Beauregard aus dem Rhônetal, die durch Zeit und Ort allerdings weit entfernt sind. Gehen wir nun zum großen gerichtlichen corpus vom Ende des 15. Jh. über, wo die von den WanderpredigerInnen benutzten parvi libri, von denen einige Exemplare in den provenzalischen Alpen bis in unsere Tage überlebt haben, konkret wieder auftauchen. Das Fehlen einer vollständigen und modernen kritischen Edition gestattet es noch nicht, sich dem heuristischen Knoten von philologischen und exegetischen Problemen der „Bücher der Häretiker“ zuzuwenden. Es tauchen fragmentarische Zeugnisse von Predigerinnen in der Gestalt sprachloser Schatten auf, Frauen, von denen man wiederum oft nur den Namen kennt. 1494 wird in Beauregard im Rhônetal Peironeta, die Frau des Bäckers, verhört. Ihr Prozess ist nicht nur vollständig überliefert, sondern auch als solcher der einzige gegen eine Waldenserin. Wir wissen schon, dass sie eine Version der Erinnerung an die Anfänge zu den Akten gegeben hat, aber auch andere Elemente stellen eine Gemeinsamkeit zwischen ihrer Aussage und der von Peroneta, genannt Bruna, her. Peironeta erzählt, wie sie in Kontakt mit den WaldenserInnen getreten ist. Eines Tages stellt ihr ein Mann in der Absicht, sie dazu zu bringen, sich dem Glauben der Waldenser anzunähern, eine Frage, die der Notar außergewöhnlicherweise im romanischen Volgare aufzeichnet: Aves vous iames auvi parlar dung plen pung de mond que si non era tout le monde saria a fin?

Habt ihr je von einer kleinen Gruppe von Menschen sagen hören, dass, wenn es sie nicht gäbe, die ganze Welt unterginge?12

Peironeta hatte schon ähnliche Worte von ihrem eigenen Seelsorger während der Predigt am Palmsonntag gehört: Ces ung plen pung de gent que sosten tot le monde et si aquello gent non era tot le monde saria a fin.

Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die die ganze Welt erhält, und wenn es jene Menschen nicht gäbe, ginge die ganze Welt unter.

In diesem Widerhall von Gen 18,32 (reichen nicht zehn Gerechte aus, um Sodom vor dem Zorn und der Strafe Gottes zu retten?) könnte man eine Bestätigung der Entschei12

Der Prozess ist ediert von Marina BENEDETTI, „‚Digne d*estre veu‘: Il processo contro Peironeta di Beauregard“, AISP 18 (2005): 121–158; 153 (dort auch die folgenden Zitate).

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dung der „vier Apostel“ erblicken, die die „Bücher Christi“ retten und nun auch „plen pung de mond“ sind: eine kleine Gruppe Gerechter, die die Welt retten wird. Der Mann trifft in Peironeta eine vorbereitete Gesprächspartnerin und, um sie dazu zu bringen, eine Entscheidung zu treffen, beharrt er: Et daquelles gens vos parle yeu?

Und von welchen Personen sprecht ihr?

Er fordert sie auf, die Predigt der barba, also der Meister der Wanderprediger, anzuhören. Dieses Zeugnis zeigt, wie eine scheinbar einfältige Person – Peironeta selbst beschreibt sich als simplex et ignara – nicht nur die Sprache der Männer der Kirche versteht, sondern auch für einen Diskurs gewappnet ist, der von der Bibel genährt wird. Sie berichtet, Wanderprediger in ihrem eigenen Haus beherbergt zu haben, nachdem sie sich den Pauperes de Lugduno sive Valdenses angeschlossen hat. Diese hätten ein kleines Buch (parvus liber) bei sich getragen, in dem sich die Evangelien und die Zehn Gebote (Evangelia et decem precepta legis)13 befanden, die sie, wie die Apostel in die Welt hinausziehend, allen bringen sollten, da sie von Gott ausgesandt seien, den katholischen Glauben zu erneuern (se fore missum ex parte Dei ad reformandum fidem catholicam).14 Die Worte von Peroneta, genannt Bruna, und von Peironeta von Beauregard sind seltene und kostbare Funde, die uns die Rezeption und Ausgestaltung eines Ursprungsmythos, der zu einer Heilsbotschaft wird, vor Augen führen. Die beiden Frauen, durch die wir auch von der bewussten Aneignung von Bibelversen wissen, bewahren diese Ursprungserzählung, die wir nur durch sie kennen. Das Bild religiöser Frauen verdichtet sich zwischen dem Ende des 15. und dem Beginn des 16. Jh. in dem Ausdruck „Frauen, die mit den Lehrern im Studium der Sekte außerhalb ihrer Heimat zusammen sind“ (mulieres que sunt cum ipsis magistris in studio secte extra patriam).15 Über die Inhalte des intellektuellen und religiösen Engagements dieser Frauen, die mit den magistri das Studium betreiben, kann man lediglich Vermutungen ex silentio anstellen. Erst in dem Augenblick, in dem sich die Waldenser der protestantischen Reformation anschließen, treten die sogenannten sorores in Christo, die Schwestern in Christus, auf. Das sind Frauen, die in der Erinnerung allein aufgrund ihres Namens, der auf die Hingabe an die Nachahmung Christi verweist, weiterleben und unerwarteterweise an ein zeitlich und räumlich weit entferntes Phänomen anschließen: an die sorores in Christo der congregatio spiritualis von frater Dolcino von Novara und soror Margherita von Trient. Mit der Namensgleichheit wird auf die vielfältigen Möglichkeiten verwiesen, die Bibel auszulegen und nach ihr zu leben.

13 14 15

Ebd., 149. Ebd., 150. Unediertes Ms., Archivio di Stato di Torino, Materie ecclesiastiche, cat. 38, mazzo 1.

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3. Der Heilige Geist und die weibliche Neugründung der Kirche Die Erwartung der Endzeit und der spirituellen Wiedergeburt wirkt in der Geschichte des Christentums auf die Entwicklung von religiösen Ansätzen, die von einer präsentischen Eschatologie und von weiblicher Prophetie bestimmt sind, unterschiedlich prägend. Es ist nicht leicht, sogleich die fehlenden Verbindungsglieder zu finden, die von den Anfängen des Christentums über die Bewegung des Montanismus bis zum Mittelalter reichen. Es ist jedoch auffällig, dass zwischen dem Ende des 13. und dem Beginn des 14. Jh. plötzlich Frauen auftauchen, die sich in der Predigt, der Lehre oder in der Prophetie als vom Heiligen Geist geleitet verstehen.16 Es kann nicht verwundern, dass dafür das Matthäusevangelium der bevorzugte Bezugspunkt ist. In diesem zeitlichen Kontext haben wir nur einen einzigen Fall, wo ein von einer Frau verfasster Text mit Gerichtsakten, die auf uns gekommen sind, verglichen werden kann. Es handelt sich um ein Zeugnis, das in seiner Einzigartigkeit monumentalen Charakter gewinnt: den Spiegel der einfachen Seelen von Marguerite Porete, der von biblischer Symbolik und Rede überquillt. Trotz der Verurteilung zum Tod auf dem Scheiterhaufen hat Marguerites Buch in zahlreichen Exemplaren überlebt. Zudem sind die Akten des Inquisitionsprozesses erhalten, aus denen vor allem der unbeugsame Wille der Frau entgegentritt, sich nicht den Richtern zu stellen und auf ihre Fragen nicht zu antworten.17 Diese Haltung führt Marguerite am 1. Juni 1310 in Paris auf den Scheiterhaufen. Der Widerstand gegen den Eid und die Entscheidung, nicht auf die Fragen der Inquisitoren zu antworten, ist Ausdruck der bewussten Ablehnung einer auctoritas, des Glaubensgerichts und seiner Richter, die sich auf den dogmatischen und juristischen Rat von Theologen und Kanonisten stützen und sich gezwungen sehen, allein die geschriebenen Worte des Spiegels zu analysieren und zu beurteilen. Dieses Buch ist Ausgangs- und Endpunkt der Anklage. Marguerite schweigt und lässt ihr Buch sprechen, das zum einzigartigen und unvergänglichen „Zeugnis“ einer rebellischen und eigensinnigen Frau (rebellis et contumax) wird. Es ist das würdevolle und nicht zu brechende Schweigen einer Persönlichkeit, die sich entschieden hatte, ihre religiöse Auffassung in einer eigenständigen Schrift niederzulegen, ohne sich der juristisch-dogmatischen Macht von Richtermönchen zu beugen, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Rolle und ihrer Vorurteile unfähig waren, Marguerites Position zu verstehen, und ihrer Pflicht nachkommen mussten, sie zu beurteilen und zur Einsicht zu führen. Marguerites Schweigen ist ebenso außergewöhnlich wie ihre Worte. In ihrem Fall trägt tatsächlich eine Frau die Verantwortung für das eigene Schweigen. Blicken wir nun nach Mailand, wo sich im Jahr 1300 ein Prozess abspielte, der uns nur unvollständig vorliegt. Geführt wurde er gegen die Anhängerinnen und Anhänger der Guglielma von Mailand oder genauer gegen diejenigen, die sich selbst „Söhne des Heiligen Geistes“ (filii Spiritus sancti) nannten. Es handelt sich um eine Gruppe von Frauen und Männern, die zu den führenden Kreisen der Bürgerschaft gehörten, aber 16 17

Vgl. MCNAMARA, „De quibusdam mulieribus“, 242.245. Der Prozess ist ediert in Paul VERDEYEN, „Le procès d’inquisition contre Marguerite Porete et Guiard de Cressonessart (1309–1310)“, RHE 81 (1986): 47–94.

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auch zu Familien von eher bescheidener Herkunft, und sich zur Verehrung der heiligen Guglielma zusammenschlossen, die in der Zisterzienserabtei von Chiaravalle beigesetzt war und verehrt wurde. Die Zisterziensermönche „konstruierten“ ein Heiligenleben, indem sie Heiligenviten rezitierten und sie dann so in Bezug zur heiligen Guglielma setzten, dass sie auf diese zu verweisen schienen.18 Diese hagiographische Verknüpfung von Modellen, die von der Heiligen Schrift inspiriert waren, erzeugt eine derartige Identifikation der Heiligen mit Jesus Christus, dass sie sich auf dem Totenbett gezwungen sah, sich dagegen zu verwahren, dass man an ihrem Körper die Wundmale Jesu zu entdecken meinte (Vos credebatis videre quod non videbitis propter incredulitatem vestram19). So sollte bezeugt werden, dass man zu einem Zeitpunkt, da sie noch nicht einmal tot war, an ein bereits fortgeschrittenes Stadium der Christomimesis, der Christusnachahmung, glaubte. Die Worte der Frau kreisen um die Sittenlehre des Evangeliums und um die christliche Liebe. Zu Lebzeiten hätte sie gesagt: „Hütet euch vor Meineid, Betrug und Wucher“ (Caveatis vobis a periuriis et deceptionibus et usuris), und – in unverkennbarer Anspielung auf Ps 22,7: „Ich bin eine niedere Frau und ein niederer Wurm“ (Ego sum vilis femina et vilis vermis), während sie auf dem Totenlager in Anspielung auf Joh 13,34 (Mandatum novum do vobis: ut diligatis invicem, sicut dilexi vos, ut et vos diligatis invicem) ihre Gefolgsleute gemahnt hätte, „zusammenzustehen und einander in Liebe und Ehre zu halten“ (se tenere, amare et honorare ad invicem). Dem können noch weitere Worte, die aus den Abschiedsreden Jesu entlehnt wurden, hinzugefügt werden, die als Prophetie der Auferstehung interpretierbar sind: „Eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht sehen; und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich sehen“ (modicum et non videbitis me et iterum modicum et videbitis, Joh 16,16–19 sowie 16,10).20 Dieser letzte Ausspruch zeigt, wie sich auf einer hagiographischen Ebene die Prägung der Christomimesis in eine eschatologische Projektion einpflanzt, in der Rückkehr und Auferstehung Christi in der charismatischen Figur Guglielmas zusammenfließen. Man könnte das als praktische Exegese und als konkreten Gebrauch der Bibel, als eine in Erwartung einer neuen Zeit auf eine Frau „angewandte“ Interpretation der Evangelien bezeichnen. Dies trifft umso mehr zu, da sich im narrativen Kontext des Johannesevangeliums, auf den hier angespielt wird, auch der lange Einschub über den Parakleten, den Tröster, findet (Joh 16,5–13) und Jesus seinen JüngerInnen in den Abschiedsreden einen „anderen“ Parakleten verspricht, der ihn während seiner Abwesenheit vertreten wird: ein „Jemand“, den man auch als eine „persona“ bezeichnen kann. 18

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Vgl. Marina BENEDETTI, Hg., Milano 1300: I processi inquisitoriali contro le devote e i devoti di Guglielma (Milano medievale 2; Mailand: Libri Scheiwiller, 1999), 152. Ebd., 170. Zu dieser Verfahrensweise, das „Leben“ einiger Heiliger zu gestalten, siehe VALERIO, „Per una storia dell’esegesi femminile“, 12: „si presenta come un’illustrazione, un’ermeneutica esistenziale, un’esegesi pratica della Bibbia“; zur Feminisierung Christi siehe Caroline Walker BYNUM, Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages (Publications of the Center for Medieval and Renaissance Studies 16; Berkeley: University of California Press, 1982). BENEDETTI, Milano 1300, Zitate auf den Seiten 182.140.170.

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Es ist kein Zufall, dass Guglielma als Felix bezeichnet wird (weshalb die VerehrerInnen ihre Kinder Felix, Filixollus/Filixolla oder Paraclitolus nennen) und ihr die Eigenschaften des Parakleten, des Fürsprechers und Trösters zuerkannt werden, wie aus den Worten eines Anhängers deutlich wird: „Wenn er traurig oder einsam war, ging er zu ihr und entfernte sich nicht, ohne von ihr Trost oder Aufheiterung erfahren zu haben.“21 Aber damit noch nicht genug: Das pneuma ist „Geist der Wahrheit“, insofern er an „alles erinnern wird, das ich euch gesagt habe“ (Joh 14,26); das heißt, Guglielma werden hier die Worte Jesu Christi zugeschrieben! Es ist wichtig zu betonen, wie die Sensibilität gegenüber dem Weiblichen auch den männlichen Horizont einbezieht und überzeugt, um so das religiöse Bewusstsein jenseits der Geschlechterdifferenz zum Ausdruck zu bringen. Auseinander treten werden die Unterschiede erst mit der „radikalen“ Position der Maifreda da Pirovano, soror des Ordens der Humiliatinnen, die sich zum Sprachrohr Guglielmas bzw. des Heiligen Geistes macht und dabei auf Themen zurückgreift, die schon viele Jahrhunderte zuvor im Montanismus begegnen.22 Wie reagieren die Inquisitoren? In den Mailänder Prozessen lässt sich ein seltener Fall finden, in dem der Inquisitor ein ganz knappes theologisches Streitgespräch zulässt, um den Glauben an die vermeintliche Fleischwerdung des Heiligen Geistes in der Gestalt Guglielmas in der Erwartung der Ankunft des Parakleten zu widerlegen. Der Inquisitor fragt einen Angeklagten, ob er glaube, dass man den reinen und ungeteilten Geist sehen, erspüren und ertasten könne (credit quod Spiritus purus et simplex possit videri palpari et tangi).23 Ganz eindeutig ist hier der Bezug auf Lk 24,39, der darauf abzielt, der Identifikation Guglielmas mit dem Heiligen Geist die „materielle Grundlage“ zu entziehen. Die Attacke des mit dem officium fidei in Mailand Beauftragten mündet nicht in ein Geflecht von Bibelzitaten, die, wie wir bereits wissen, niemals das wuchernde Gestrüpp der Inquisitionsakten durchziehen; andererseits stellt der Bezug auf die Bibel die unabdingbare Grundlage der filii Spiritus sancti, der Söhne des Heiligen Geistes dar, die an die Fleischwerdung des Heiligen Geistes in Guglielma glauben und darin eine ganz konkrete Glaubenserfahrung erlebt haben. Die Besonderheit des Falles von Guglielma besteht nicht allein darin, dass die Prozessakten erhalten geblieben sind, sondern vor allem im Glauben an die Inkarnation des Heiligen Geistes in einer Frau. Woher kann eine solche Überzeugung rühren? An diesem Punkt müssen wir uns kurz den historisch-theologischen Wurzeln der „weiblichen“ Interpretation des Heiligen Geistes zuwenden. Man muss sich vor Augen führen, dass in den semitischen Sprachen der Geist (ruah) weiblichen Geschlechts ist. Weniger leicht ist es herauszubekommen, welche Quellen Guglielmas Anhängerinnen und Anhänger, die zumeist religiösen Gemeinschaften angehörten und kirchliche Einrichtungen besuchten, gelesen haben könnten. Wir wissen, dass ein Traktat, der den Aposteln zugerechnet wurde, die Didascalia Apostolorum, in der sich die weibliche Form des

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BENEDETTI, Milano 1300, 240. Über Frauen und Montanismus siehe insbesondere Christine TREVETT, Montanism: Gender, Authority and the New Prophecy (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), 151–197. BENEDETTI, Milano 1300, 68.

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Heiligen Geistes findet, im Okzident in einer lateinischen Übersetzung bekannt war (die in der Folgezeit ihren Weg in die Biblioteca Capitolare von Verona fand).24 Da wir nicht in Erfahrung bringen können, welche Texte im religiösen Milieu der filii Spiritus sancti, der Söhne des Heiligen Geistes, von denen nicht wenige religiösen Gemeinschaften angehörten oder ihnen nahestanden, zirkulierten, wollen wir uns auf die von ihnen verfassten Texte konzentrieren. Die Annahme der Christomimesis beschränkt sich nicht auf die Übernahme der Worte Jesu Christi. Die neuen Zeiten finden ihren Ausdruck in dem Unterfangen, die Kirche neu zu gründen. Nach dem Zeugnis von soror Maifreda („wie die Jünger Christi die Evangelien, die Briefe und die Prophetien geschrieben hatten, so hatte Andreas, indem er die Titel veränderte, Evangelien, Episteln und Prophetien geschrieben“) hört sich das so an: „Zu jener Zeit sprach der Heilige Geist zu seinen Jüngern“ (in illo tempore dixit Spiritus sanctus discipulis suis), „Epistel der Sibilla an die Einwohner Novaras“ (Epistola Sibilie ad Novarienses) und „Prophetie des Propheten Carmeo“, die sich an nicht näher bezeichnete Bürger und Völker richtete (Prophetia Carmei prophete ad tales civitates et gentes).25 Mutando titulos: Die tiefreichende Assimilation biblischer Texte und die Überzeugung von der angekündigten Wiedergeburt führen dazu, dass die kanonischen Evangelien, Briefe und Prophetien „umgeschrieben“, neu geschrieben, werden. Die „Neufassungen“ wetteifern mit ihren Vorlagen auf höchstem stilistischen Niveau, da sie sich vor die Notwendigkeit gestellt sehen, durch Episteln und Weissagungen eine Botschaft zu verkünden (wie es schon frater Dolcino von Novara getan hatte), in denen die Anhängerinnen und Anhänger der Guglielma durch unmissverständliche und glanzvolle Titel zu Protagonisten werden: Carmeo ist kein fiktiver Name, sondern ist mit Carmeo von Crema zu identifizieren; Sibilla ist keine mythische Wahrsagerin, sondern ganz ohne Zweifel Sibilla Malconzati, eine der frühesten Anhängerinnen. Der Sinn von mutando titulos ist nicht eindeutig, auch nicht in Bezug auf das Zeugnis, demzufolge Andreas Saramita libri et scripture de illa sancta Guillelma et de vita sua (eine Beschreibung, die an einen hagiographischen Inhalt denken lassen könnte) und einen Psalter besaß, aus denen er in Versammlungen vorlas. Tatsächlich finden sich auf einem Zettel in diesem Psalter die Worte: filii Spiritus sancti sunt dispersi et in carcere positi.26 Dadurch ergibt sich eine weitere Verbindung von Schriftauslegung (die Zerstreuung der filii Spiritus käme einer erneueten Zerstreuung der Jünger beim Tode Christi gleich, vgl. Joh 16,32) und dem tatsächlichen historischen Sachverhalt (wenn wir an die Verurteilungen denken, die den Prozessen folgten). Offenkundig ist 24

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Erik TIDNER, Didascaliae Apostolorum, Canonum Ecclesiasticorum, Traditionis apostolicae versiones latinae (TU 75; Berlin: Akademie Verlag, 1963). Interrogata si audivit et docta fuit ab ipso Andrea quod sicut discipuli Christi scripserunt Evangelia, Epistolas et Prophetias, ita et ipse Andreas mutando titulos scripsisset Evangelia et Epistolas et Prophetias sub hac forma, videlicet: „In illo tempore dixit Spiritus sanctus discipulis suis“ et cetera, et „Epistola Sibilie ad Novarienses“, et „Prophetia Carmei prophete ad tales civitates et gentes“ et cetera. BENEDETTI, Milano 1300, 100 (auch die weiteren Zitate auf dieser Seite). Vgl. ebd., 268.

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die Überwindung der Tradition durch die Einfügung einer weiblichen Figur: Epistola Sibilie ad Novarienses. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass die Rolle des Propheten Carmeo, einem Mann, zugeschrieben wird. Diese außergewöhnliche religiöse Gruppierung hat auf die Geschichtswissenschaft einen widersprüchlichen (und bisweilen von ideologischer Härte bestimmten) Zauber ausgeübt.27 Die Unvollständigkeit der Gerichtsakten erzeugt bisweilen einen kaleidoskopischen Eindruck, wobei die Daten manchmal inkongruent und schwierig in schlüssiger Weise zu interpretieren sind. Gleichwohl lassen sich Zeichen einer wohlüberlegten Bibelexegese und einer Ausarbeitung neuer religiöser Texte finden, die der Inquisitor in Händen hat und die er den Angeklagten zeigt. Was sie enthielten, ist nicht klar. Offensichtlich ist hingegen ihr Verschwinden. Auch in diesem Fall erscheint in den Prozessakten niemals die Bezeichnung Biblia. Es finden sich Hinweise auf die Evangelien, die Briefe und die Legenden der Heiligen Katharina und Margarete (man beachte: auch Jeanne d’Arc bezieht sich auf diese). Nach und nach lässt der Filter der Inquisition Informationen durchsickern, die das Bild einer Religiosität zeichnen, die von der Erwartung einer neuen Zeit durchzogen ist, in der der Heilige Geist in der Gegenwart handelt und die tiefe Ergebenheit an die Bibel Wirklichkeit ist. Dies geht so weit, dass die AnhängerInnen in den Prozessen der Inquisition eine neuerliche, kollektive Passion erleben.28 Die Begegnung bzw. Konfrontation mit dem officium fidei wird in den Weg zur Erlösung eingeordnet und dabei Teil eines Vorgehens, das die Bibel aktualisiert. Dies geht aus den zitierten dramatischen Belegen hervor: „Einer der Jünger muss sie verraten und in die Hände der Brüder (fratres) übergeben, so wie Judas Christus verraten und in die Hände der Juden gegeben hat“ und, wie bereits gezeigt, „die Söhne des Heiligen Geistes wurden zerstreut und eingekerkert“, und vor allem die Anhänger „glauben die Passion aus Liebe zum Heiligen Geist zu erleben, wie schon die Apostel sie aus Liebe zu Christus durchlebt haben“.29 In einem Alltag, der von der Heiligen Schrift durchzogen ist, gerät die eigene Lebenswirklichkeit, sogar in ihren verheerendsten Seiten, zur Projektionsfläche der Wiedergeburt. Der Filter der Inquisition erlaubt zumindest, den Kontext zu erfassen. Es steht außer Frage, dass die familia spiritualis aus Männern und Frauen bestand und dass Letztere eine Hauptrolle spielten, wobei die genauen Umstände ihres Engagements nicht immer ausgemacht werden können. Die Analyse der Terminologie, angewendet auf die geistliche Familie, zeigt, dass diese sich nicht von der engen Anlehnung an die Diktion des religiösen Schriftguts löst: Die zwei wichtigsten Mitglieder der 27

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Einen Überblick über die Forschung gibt Marina BENEDETTI, Io non sono Dio: Guglielma di Milano e i Figli dello Spirito santo (Mailand: Biblioteca Francescana, 22004), 109–157; nicht unerwähnt bleiben soll hier die Studie von Luisa MURARO, Vilemina und Mayfreda: Die Geschichte einer feministischen Häresie (Freiburg i. Br.: Kore, 1987), der das große Verdienst zukommt, das ideologische Potential der Geschichte Guglielmas bewusst zu machen, die in Bezug auf historische Daten allerdings mit großer Vorsicht zu benutzen ist und zudem für unser Thema nichts beiträgt. Vgl. BENEDETTI, Io non sono Dio, 103–107. Vgl. DIES., Milano 1300, 74.106.

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Gruppe werden jeweils filius unigenitus (Andreas Saramita) und dominus vicarius oder dominus Dei gratie genannt, womit auch soror Maifreda von Pirovano bezeichnet wird. Es ist bemerkenswert, dass auf sie Bezeichnungen männlichen Geschlechts bezogen werden, wodurch das weibliche Geschlecht unter dem einförmigen Prägestempel des Männlichen augenscheinlich verschwindet. Im Fall von soror Maifreda von Pirovano verwischen die Konturen der Worte und Taten weniger stark. Als Angehörige einer der einflussreichsten Mailänder Familien, Nichte des Kardinals Casati und soror im Orden der HumiliatInnen, erklärt ihr familiärer und religiöser Kontext die souveräne Beherrschung einer von religiösen Texten geprägten Ausdrucksweise. In dem Moment, im dem sich einige Anhänger unsicher über die Rückkehr des Heiligen Geistes in Guglielma zeigen, spricht soror Maifreda sie in folgender Weise an: „Unsere Herrin hat mich geheißen, euch auszurichten, dass sie der Heilige Geist ist. Und ich sage es euch, auch wenn es viele Thomasse, d. h. viele Ungläubige gibt.“30 Der allfällige Rückgriff auf den Unglauben des Apostels Thomas findet sich an dem Punkt, in dem soror Maifreda die Funktion der Mittlerin zwischen Guglielma und ihren AnhängerInnen annimmt. Am Ende des Johannesevangeliums unterstreicht diese Perikope den absoluten Wert des Glaubens und die Notwendigkeit zu glauben, ohne zu sehen. Wie vorhersehbar, führen die Inquisitoren eine genaue Untersuchung über diesen Vorfall durch. In einem von vielen Verhören begegnet ein weiterer Beweis von Maifredas Schriftgelehrtheit: „Und ihr alle werdet am Tage des Gerichts nicht gerecht sein, wenn ihr vor ihr erscheinen werdet“. Zur Bestätigung des Gewichts ihrer Worte fügt sie lapidar hinzu: „Mag mit mir sein, was auch immer sein will.“31 Andreas Saramita und soror Maifreda von Pirovano schreiben. Andreas hatte sich darauf konzentriert, einige Briefe, Prophetien und Evangelien umzuschreiben. Er besaß Bücher über das Leben Guglielmas und einen Psalter, in dem man auf einem Zettel lesen konnte: „Die Söhne des Heiligen Geistes wurden zerstreut und in den Kerker geworfen.“ (Filii Spiritus sancti erant dispersi et in carcere positi). Soror Maifreda beschränkt sich nicht darauf zu predigen und die Heiligen Katharina und Margarete zu zitieren, sondern schreibt Litaneien und poetische Texte über den Heiligen Geist. Andere schreiben Gesänge: All das zu Ehren Guglielmas, in einem Klima der Naherwartung der spirituellen Wiedergeburt, in dem der Heilige Geist wirkt und eine Exegese charismatischer Art begünstigt, in der die Frauen Protagonistinnen sein können, wie die Prophetie Joëls sagt (2,28[3,1]): Effundam spiritum meum super omnem carnem: et prophetabunt filii vestri et filiae vestrae. Durch die hostile sources – die für gewöhnlich Frauen verschweigenden Inquisitionsprozesse – hindurch lassen sich außergewöhnlich charismatische Stimmen vernehmen. Übersetzung: Wolfram Benziger 30

31

Domina nostra dixit mihi quod vobis debeam dicere quod ipsa [est] Spiritus sanctus et ego vobis dico, licet inter vos sint multi Thome, hoc est increduli. BENEDETTI, Milano 1300, 234. Omnes predicti essent inexcusabiles in die iudicii quando comparerent coram ea, et predicta verba dicebat dicta soror Mayfreda addendo: „Sit de me quicquid esse potest“ (ebd., 224).

Frauen, Bibel und Dämonologie im 15. Jahrhundert Dinora Corsi Università degli Studi, Florenz Si se plaingnent les dessusdittes dames De pluseurs clers qui sus leur mettent blasmes Dittiez en font, rimes, proses et vers, En diffamant leurs meurs par moz divers; (…) Mais se femmes eussent les livres fait Je sçay de vray qu autrement fust du fait, Car bien scevent qu a tort sont encoulpées, Si ne sont pas a droit les pars coupées, Car les plus fors prenent la plus grant part, Et le meilleur pour soy qui pieces part. (Christine de Pizan, Epistre!au!Dieu!d’Amours, V259–262.417–422)1

Die jüngere Geschichtsschreibung sagt, dass der Diskurs über die Hexen (also die dämonologische Literatur) ein wesentlicher und zentraler Bestandteil der Kultur in der frühen Neuzeit war. Stuart Clark wies auf die Notwendigkeit hin, die Traktate über die Hexerei als einen lebendigen Teil der wissenschaftlichen, theologischen und politischen Debatte des 15.–17. Jh. zu betrachten und sie in ihrer Logik und ihrem Kontext, in dem sie entstanden sind, zu interpretieren, ohne sie als Verirrungen zu isolieren.2 Der englische Historiker verknüpft Hexerei mit der eschatologischen Vision dieser Zeit, um auf die enge Abhängigkeit des Phänomens der Hexerei von der Kultur dieser Epoche, in der sie größte Sichtbarkeit und Bedeutung erlebte, hinzuweisen. Es war die Zeit, in der man glaubte, dass die Hexerei an Intensität zunehmen würde, weil – wie man in der Heiligen Schrift lesen konnte (Offb 12,12) – die Ankunft des Antichrists näher kam und Hexen nichts anderes als dessen Vorläuferinnen wären. In diesen kulturellen Rahmen reihen sich Phänomene wie z. B. Besessenheit, das Auftreten von Ungeheuern und andere außergewöhnliche Ereignisse, alles Zeichen des unmittelbaren Endes der Welt, ein. Clark folgend bestehen auch andere Wissenschaftler auf der Not1

2

Christine de PIZAN, Oeuvres poétiques de Christine de Pisan (hg. v. Maurice Roy; 3 Bde; Société des Anciens Textes Français 24; Paris: Didot, 1886–1891), 2:9.14. „So klagen die obgenannten Damen über so manche Gelehrte, die sie mit Tadel überhäufen, darüber Traktate verfassen, Reime, Prosa- und Versstücke und dabei ihre Sitten mit vielen Worten verleumden. (…) Aber wenn Frauen die Bücher geschrieben, so weiß ich fürwahr, daß es anders geschehen wäre, denn sie wissen sehr wohl, daß man sie zu Unrecht beschuldigt, doch es werden die Teile nicht gerecht geteilt, denn die Stärksten nehmen den größten Anteil, und das Beste behält für sich, der die Stücke teilt.“ Übersetzung von Maria STUMMER, Christine de Pizan: Der!Sendbrief!vom!Liebesgott!(L’Epistre!au!Dieu!d’Amours) (Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 1; Graz: Leykam, 1987), 24.29f. Vgl. Stuart CLARK, Thinking with Demons: The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe (Oxford: Oxford University Press, 1997).

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wendigkeit, Hexerei nicht als ein isoliertes und anormales Phänomen zu betrachten, sondern als bedeutenden Aspekt der Religiosität des christlichen Westens.3

1. Einleitung Sollten diese Interpretationsvorschläge begründet sein – und sie sind es sicherlich, dann ist es selbstverständlich, dass auch jene Frauen, die der Hexerei beschuldigt wurden, ganz in diese Herangehensweise miteinbezogen werden müssen. Sie sind als Subjekte der Geschichte und der Religionsgeschichte zu behandeln und nicht, oder nicht nur, als Objekte der männlichen Frauenfeindlichkeit, wie große Teile der Geschichtsschreibung es simplifizierend darstellen und damit die quaestio des Vorkommens so vieler weiblicher Subjekte in der großen Hexenjagd umschreiben wollten.4 Die Geschichten der Frauen müssen stattdessen mit dem Leben und den Erfahrungen der mulieres religiosae, der religiösen Frauen, in Beziehung gebracht werden, die, in ihren vielfältigen Formen (formae) der „Bewegungen weiblicher Religiosität“, das spätmittelalterliche Europa durchzogen und prägten. Solche Interpretationsstrategien öffnen Horizonte und stellen die Frage, was für ein Gewicht das Wissen der Frauen und damit ihre Macht, ihre Lehre und die Weitergabe des Wissens bei der Erstellung des Profils der „Hexe“ hatten, das die große Verfolgung auslöste. Letztlich ist es die Frage nach der Ausübung kirchlicher Ämter. Man denke nur an Guglielma von Mailand, die von ihren fideles, ihren AnhängerInnen, als Inkarnation des Heiligen Geistes angesehen wurde: Die Akzeptanz eines solchen Vorgangs hätte die männliche kirchliche Hierarchie umgeworfen, sie durch eine weibliche ersetzt und den Aufstieg einer Päpstin zum Oberhaupt der Kirche ermöglicht. Die Geschichte Guglielmas spielt sich in Mailand am Ende des 13. Jh. ab; ebenfalls im 13. Jh. entsteht die Legende der Päpstin Johanna, die von einer Frau erzählt, die sich zum Papst hatte wählen lassen, zwei Jahre lang die Kirche leitete und Priester weihte: eine Frau, die die höchste Stufe der kirchlichen Hierarchie erreichte und sich priesterliche Funktionen und Befugnisse, die die Kirche den Frauen immer verwehrte, widerrechtlich aneignete. Die Päpstin musste freilich stürzen, ein Opfer des natürlichsten Vorgangs der Welt, der zutiefst und ausschließlich mit dem weiblichen Körper verbunden ist: durch die Geburt eines Kindes. Alain Boureau betont, dass die Geschichte Johannas der Angst vor weiblicher Subversion des Heiligen eine Gestalt 3

4

Siehe besonders Michael BAILEY, Battling Demons: Witchcraft, Heresy, and Reform in the Late Middle Ages (Magic in History; University Park: Pennsylvania State University Press, 2003). Diese These, die auch von Jules Michelet vertreten wurde (DERS., La sorciére [Paris: Dentu, 1862]; deutsch: Die Hexe [hg. v. Traugott König; München: Rogner & Bernhard, 1974]), unterliegt ständigen Überprüfungen, vgl. u. a. Peter MAXWELL-STUART, Storia delle streghe e della stregoneria (Universale storica Newton 7; Rom: Newton & Compton, 2003) und Michaela VALENTE, „Caccia alle streghe: storiografia e questioni di metodo“, in Dimensioni e problemi della ricerca storica 2 (1998): 99–118; 111.

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gab. Das 13. Jh. muss unter dramatischen Umständen erkennen, dass der befürchtete Angriff der Frauen direkt gegen die Spitze der irdischen Heiligkeit, das Papsttum, gerichtet ist. Die Gefahr der Usurpation der Macht hat also klar zur Herausbildung der Figur der Hexe beigetragen.5 Die Gefahr einer widerrechtlichen Aneignung des Priesteramtes, ausgedrückt durch die Legende von der Päpstin Johanna und entwickelt aus den theologischen Thesen der AnhängerInnen der Guglielma, kann jedoch nicht allein die Bildung der Figur der Hexe erklären; man muss ihr die vielfältigen religiösen Erfahrungen der Frauen während der vorangegangenen Jahrhunderte des Mittelalters zur Seite stellen. Es ist notwendig, das Blickfeld zu erweitern und andere bedeutende Darstellerinnen im weiten Panorama der Ursachen aufzuführen, die die Ängste der Kirche genährt und zur „Erfindung“ der Hexerei geführt haben. Vielsagend sind die Wesenszüge einiger Figuren, die die Wahl, den Reichtum dieses Weges und die Polysemie seiner Züge und Bedeutungen ausdrücken.6 Die Tatsache, dass Frauen Funktionen übernahmen, die ausschließlich Vorrechte des Priesteramtes waren, und die Anerkennung, die sie in dieser Rolle bekamen, stellten eine Gefahr für die kirchliche Hierarchie dar. Diese sah ihre Rolle als Mittlerin des Übernatürlichen in Frage gestellt, die ihr seit den ersten Jahrhunderten des Christentums zugestanden wurde. Erasmus von Rotterdam erläutert dies sehr gut im Gespräch zwischen dem Abt und der gelehrten Frau. Er lässt Magdalia sagen: Wenn ihr nicht auf der Hut seid, wird es noch so weit kommen, daß wir in den Theologenschulen den Vorsitz führen und in den Kirchen predigen. Wir werden eure Mitren an uns reißen.7

Alberto Tenenti begründet die große Hexenverfolgung damit, dass gegen 1450 der Klerus sich einer Art von Konkurrenz in der Vermittlung des Transzendenten gegenüber gesehen hätte: Leuten, die sich des Teufels bedienten, um einen gotteslästerlichen Kult zu zelebrieren und um Hexenkunst und Wunderheilungen durchzuführen.8 Bezüglich der Päpstin Johanna ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich unter den antipäpstlichen Werken von Pier Paolo Vergerio aus dem Jahr 1557 eine Schrift mit 5

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Vgl. Alain BOUREAU, La papessa Giovanna: Storia di una leggenda medievale (Microstorie 20; Turin: Einaudi, 1991), 272; bzgl. der Päpstin Johanna ist folgende Studie von Bedeutung: Elisabeth GÖSSMANN, Mulier papa: Der Skandal eines weiblichen Papstes: Zur Rezeptionsgeschichte der Gestalt der Päpstin Johanna (APTGF 5; München: IudiciumVerl., 1994). Vgl. Dinora CORSI, „Mulieres religiosae e mulieres maleficae nell’ultimo Medioevo“, in „Non! lasciar! vivere! la! malefica“:! Le streghe nei trattati e nei processi (secoli XIV–XVII) (hg. v. ders. und Matteo Duni; Biblioteca di Storia 7; Florenz: Firenze University Press, 2008), 19–42. ERASMUS VON ROTTERDAM, Vertrauliche Gespräche (hg. u. übers. v. Kurt Steinmann; Zürich: Diogenes, 2000), 147. Ruggiero ROMANO und Alberto TENENTI, Il Rinascimento e la Riforma (1378–1598): La nascita della civiltà moderna (Storia universale dei popoli e delle civiltà 9,2; Turin: UTET, 1972).

auen, die

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dem Titel Geschichte des Papstes Johannes VIII., der Hexe und Hure war befindet. Es handelt sich um ein provokantes Werk, das ganz gegen die römische Kirche gerichtet war. Es bildet die meisterhafte Synthese jener Frau, die priesterliche Rollen und Funktionen usurpiert, mit Frauen, die der Hexerei beschuldigt werden. Diese Prämissen muss man sich vor Augen halten, um nicht oberflächlich zu behaupten, die Dämonologie und die Zunahme der Hexerei seien aus einer eschatologisch-apokalyptischen Weltsicht mit der Absicht entstanden, die bedrohliche Anwesenheit und das Wirken des Teufels als Zeichen für das Nahen des Endes der Zeiten demonstrieren zu können. Desgleichen ist es vereinfachend, zu denken, der Frauenhass alleine sei der Boden, auf dem das „Unkraut“ der Hexenverfolgung wuchs, wenngleich es zutrifft, dass ein Großteil der dämonologischen Literatur diese Denkweise häufig aufnimmt und deren Aussagen verstärkt: Als Abkömmlinge pleno jure von Eva seien die Frauen „Sammelbecken“ aller möglichen Laster und Werkzeuge des Teufels. Besonders die Bibel wird – zusammen mit heidnischen Autoren und Schriftstellern des christlichen Altertums – eine starke Waffe in den Händen vieler Dämonologen. Sie berufen sich auf die Heilige Schrift, um aus dem biblischen Text die Wahrheit über die Macht und die Taten des Teufels in der Welt zu gewinnen und dadurch die neu aufgetretene Erscheinung der Hexerei zu beweisen. Dieser neue „Charakter“ des alten Feindes, des Teufels, ruft sowohl Schrecken als auch große Aufmerksamkeit unter den Theologen und Dämonologen hervor, weil man Hexen als menschliche Wesen sieht, die mit ihm körperlichen Verkehr haben. Daraus leitet sich die zudem recht beunruhigende Überzeugung vieler ab, die Zunahme der Hexerei sei ein Zeichen des unmittelbaren Endes der Zeiten, so dass also der ganze Eifer, die Tatkraft und Härte vieler boni homines notwendig wäre, um die bevorstehende Gefahr, die durch die mulieres maleficae verkörpert werde, zu vernichten. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jh. beginnt eine Debatte über diese komplexe Materie, die von der Gruppe jener Autoren belebt wurde, die über Hexerei schrieben. Es ist jene Zeit, in der die Verfechter der dämonologischen Theorie dazu aufgerufen wurden, ausführlich und systematisch zu zeigen, aus welchen Gründen die Hexerei als Tatsache zu betrachten und wie sie in den Kontext der christlichen Theologie einzugliedern sei. Es ist aber auch die Zeit, in der die Argumente gegen diese neue Konstruktion ausgedrückt wurden und mit einer gewissen Freiheit zu zirkulieren begannen. In dem Moment, als sich die Diskussion über die Hexerei zu beleben beginnt, ist die Bibel jenes Werkzeug, das die Kontroverse anleitet und aus der die Begründungen genommen werden, mit denen die Befürworter der Existenz der Hexerei und ihre Gegner, die Skeptiker, argumentieren. Zwischen 1435 und 1437 schrieb der Dominikaner und Theologe Johann Nider den Formicarius;9 diese Abhandlung voller Doktrin und „Wissen“ erreicht den Dominikaner und Inquisitor Heinrich Kramer, den Autor des Malleus maleficarum (1484 oder

9

Der Formicarius wurde erstmals in Köln ungefähr um 1475 veröffentlicht; zum Autor und zur Abhandlung siehe das interessante Buch von BAILEY, Battling Demons.

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1485).10 In seiner Nachfolge treffen wir, um nur die wichtigsten zu nennen, auf den Ordensbruder Bartolomeo Spina aus Pisa, Autor der Questio de strigibus (1523),11 und Gianfrancesco Pico della Mirandola mit seiner Strix (1523):12 Alle drei schrieben ihre Werke, um die Existenz der Hexerei und die von den Hexen verübten Untaten zu beweisen. Die kleine Gruppe ihrer Gegner bestand aus den Rechtsgelehrten Ulrich Molitor (De lamiis et pytonicis mulieribus, 1487),13 Giovanfrancesco Ponzinibio (De lamiis et 10

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Es wird heute generell angenommen, dass Kramer der Hauptautor des Malleus ist. Zur umstrittenen Autorschaft vgl. Günter JEROUSCHEK und Wolfgang BEHRINGER, „Das unheilvollste Buch der Weltliteratur? Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des ‚Malleus Maleficarum‘ und zu den Anfängen der Hexenverfolgung“, in Heinrich KRAMER (Institoris), Der Hexenhammer: Malleus Maleficarum (hg. v. Wolfgang Behringer und Günter Jerouschek; München: dtv, 2000), 31–37; Klaus-Bernard SPRINGER, „Dominican Inquisition in the Archdiocese of Mainz (1348–1520)“, in Praedicatores, Inquisitores 1: The Dominicans and the Medieval Inquisition: Acts of the 1st International Seminar on the Dominicans and the Inquisition 23–25 February 2002 (Dissertationes historicae 29; Rom: Istituto Storico Domenicano, 2004), 345–351; Tamar HERZIG, „Heinrich Kramer e la caccia alle streghe in Italia“, in „Non! lasciar! vivere! la! malefica“:! Le! streghe! nei! trattati! e! nei! processi! (secoli! XIV–XVII) (hg. v. Dinora Corsi und Matteo Duni; Biblioteca di Storia 7; Florenz: Firenze University Press, 2008), 167–196; INSTITORIS, Henricus, und Jacobus SPRENGER, Malleus maleficarum 1: The Latin Text (hg. v. Christopher S. Mackay; Cambridge: Cambridge University Press, 2006), 103ff. Dieser Ausgabe entnehme ich alle Zitate der Abhandlung von Kramer (ab jetzt Malleus maleficarum); die deutsche Übersetzung stammt aus KRAMER, Hexenhammer. Bartolomeo SPINA, Quaestio de strigibus: Una cum tractatu de praeeminentia Sacrae Theologiae et quadruplici Apologia de Lamiis contra Ponzinibium (Roma: In Aedibus Populi Romani, 1576); bezüglich der intensiven Ermittlungsverfahren, die von Spina während seiner Zeit als Vikar der Inquisition in Modena gegen die Hexerei durchgeführt wurden, und des Beitrags, den seine dämonologischen Abhandlungen zur Verbreitung der Hauptthesen Kramers in Italien leisteten, vgl. Matteo DUNI, Tra religione e magia: Storia del prete modenese Guglielmo Campana (1460?–1541) (Studi e testi per la storia religiosa del Cinquecento 9; Florenz: Olschki, 1999), 28–39. Vgl. die neue kritische Ausgabe von Jean-François PIC DE LA MIRANDOLE, La Sorcière: Dialogue en trois livres sur la tromperie des démons (hg. v. Alfredo Perifano; De diversis artibus 81; Turnhout: Brepols, 2007). In dieser 1523 geschriebenen Abhandlung wird Kramers Werk ausdrücklich als „Hammer“ (malleus) gelobt, um diejenigen Skeptiker zu vernichten, die der harten Verfolgung der Hexerei entgegentraten. Im April 1523 besorgte Leandro Alberti, Mitbruder Spinas, die Ausgabe der Strix, die er dann ins Italienische übersetzte; seine Übersetzung (1524 vervollständigt) war das erste Werk in italienischer Sprache, das in Italien veröffentlicht wurde, und spielte eine wichtige Rolle bei der Erweiterung der Zielgruppe, da sie die Theorie der Hexerei jenen Lesern zugänglich machte, die das Lateinische nicht beherrschten; vgl. HERZIG, „Heinrich Kramer e la caccia“, 193f. Ulrich MOLITOR (von Müller, †1501) lebte in Konstanz, wo er Rechts- und Staatsanwalt am bischöflichen Gericht und Berater des Erzherzogs Sigismund von Österreich war; De lamiis et pytonicis mulieribus wurde erstmals – gleichzeitig auf Lateinisch und Deutsch – 1489 in Reutlingen von Johann Othmar veröffentlicht; für diesen Artikel wurde folgender Text

auen, die

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excellentia utriusque iuris, 1511)14 und Andrea Alciato (Parergon iuris libri),15 denen sich der Franziskaner Samuele de Cassinis anschloss. Er hatte 1505 seine Questio lamiarum veröffentlicht, in der er die Wirklichkeit der Taten, derer die Hexen beschuldigt wurden, bestritt.16 Alle diese Autoren äußerten deutliche Zweifel bezüglich einiger Aspekte des Verbrechens der Hexerei, und dies in expliziter oder impliziter Polemik gegen die Inquisitoren, obwohl man auch von ihnen nicht gerade sagen kann, sie hätten sich offen für die Verteidigung der Hexen und also der Frauen eingesetzt. Ich werde hier nicht die theoretischen und ideologischen Voraussetzungen der Repression vertiefen, die in den Brevieren über die Anwesenheit des Teufels in der Welt, seine Macht und seine Taten angeschnitten werden. Es handelt sich um Breviere, die im Malleus maleficarum systematisiert werden. Dieses Hauptwerk der Hexenverfolgung arbeitet die dämonologische Literatur des 15. Jh. weiter aus und bildet den Eckpfeiler großer Teile dieser Literatur der Neuzeit.17 Dies sind die Jahrzehnte, die in der Geschichte der Hexenverfolgung von zentraler Bedeutung werden, da man an der Umkehrung der Interpretation des Canon episcopi, einer frühmittelalterlichen Verurteilung des Hexenglaubens, bis hin zur Aufhebung dieses Canons arbeitet.18 Wenn noch im 14. Jh. die Sünde im Aberglauben besteht, der Teufel könne Menschen an übermenschlichen Kräften teilhaben lassen, bestand die Sünde während des Humanismus und der Renaissance darin, nicht daran zu glauben, die Frauen könnten durch einen Pakt mit dem Teufel (pactum diabolicum) tatsächlich übernatürliche Kräfte erwerben. Im Folgenden sollen einige dieser Breviere kurz vorgestellt werden. Ich werde mich mit dem princeps der Dämonologen des 15. Jh., Heinrich Kramer, mit seinem vielleicht berühmtesten Anhänger, Gianfrancesco Pico della Mirandola, und mit seinem

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benutzt: Malleorum quorundam maleficarum tam veterum quam recentium autorum: Tomus secundus (Frankfurt: Basse, 1582), 34–91. Bzgl. Ponzinibio siehe Matteo DUNI, „Le streghe e i dubbi di un giurista: il De lamiis et excellentia utriusque iuris di Giovanfrancesco Ponzinibio (1511)“, in La centralità del dubbio: Un progetto di Antonio Rotondò (hg. v. Luisa Simonutti und Camilla Hermanin; Studi e testi per la storia della tolleranza in Europa nei secoli XVI–XVIII 13; Florenz: Olschki, 2010), 3–26. Die Bücher, die das Werk bilden, wurden nicht alle gleichzeitig gedruckt, sondern in zwei folgenden Ausgaben. Siehe Andrea ALCIATI, Parergon iuris libri III (Basel: Hervagius, 1538) und DERS., Parergon iuris libri VII posteriores (Lyon: Gryphius, 1544). Das Werk wurde wahrscheinlich in Pavia gedruckt, vgl. Renzo RISTORI, „Cassini, Samuele“, in Dizionario biografico degli italiani (74 Bde; Rom: Instituto della Enciclopedia Italiana, 1960-2010), 21:487–489; 488. Bezüglich seiner komplexen Verlagsgeschichte vgl. Federico PASTORE, La fabbrica delle streghe: Saggio sui fondamenti teorici e ideologici della repressione della stregoneria nei secoli XIII–XVII (Pasian di Prato: Campanotto, 1997), 139–171. Bartolomeo Spina schreibt die Quaestio di strigibus mit dem klaren Ziel ostendere quod ea que dicuntur fieri a strigibus vera sunt pro magna parte, und in diesem Zusammenhang widerlegt er den Canon episcopi; vgl. Sergio ABBIATI, Attilio AGNOLETTO und Maria Rosaria LAZZATI, La stregoneria: Diavoli, streghe inquisitori dal Trecento al Settecento (Studio 114; Mailand: Mondadori, 1984), 254–256.

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ersten Gegner Ulrich Molitor beschäftigen. Ziel ist es, den Beitrag herauszuarbeiten, den die Bibel (unfreiwillig) für die Konstruktion des Hexenbildes leistete. Von einem „unbeabsichtigten“ Beitrag ist deswegen zu sprechen, weil der manipulierende und manchmal betrügerische Gebrauch der Heiligen Schrift nicht unerwähnt bleiben kann; ein Divertissement, in dem der Malleus maleficarum herausragt. Es empfiehlt sich, diese Abhandlung als Grundlage des dämonologischen Systems darzustellen.

2. Die Vorgänger Kramers Die dem Hexenhammer vorausgehende Dämonologie konzentriert sich nicht auf Hexerei als geschlechtsspezifische Erscheinung, sondern sieht das Phänomen als solches, wer auch immer der Schöpfer sein mag, Frau oder Mann.19 Johann Nider ist der Autor einer Schrift, die von der Geschichtsschreibung als die erste dämonologische Abhandlung angesehen wird. Sein Formicarius möchte der Existenz magischer Kräfte eine theologische Grundlage geben und kommt zu einfachen Lösungen, die von den komplizierten theologischen und philosophischen Spekulationen der späteren Abhandlungen weit entfernt sind. Er spricht noch nicht von Hexen, sondern von einer Art übelwollender (malefica) Sekte, deren Einzelheiten noch nicht klar definiert sind – abgesehen vom Überwiegen des weiblichen Elementes. Das Werk konzentriert sich nicht auf eine eintönige Litanei über die Frauen, sondern behandelt den maleficus, seine zahlreichen Hexenmeister beiderlei Geschlechts (utriusque sexus) und deren Künste (exerciciis), eben die maleficia. Ein grandis maleficus ist derjenige, der die Föten im Mutterleib der Frauen tötet und die fruchtbaren Tiere unfruchtbar macht.20 Im Prolog der Abhandlung hatte Nider geschrieben: Nec me suspicetur faciliter credere hominibus quibuslibet praesertim feminis, quas nisi sint probatae plurimum semper in talibus delirare suspicor.21 Der Autor zweifelt an der Wahrhaftigkeit vieler Geschichten von Männern und noch öfter von Frauen, die schwächere und leichter für phantastische Visionen anfällige Wesen seien. Er ist jedenfalls skeptisch, was die Wahrhaftigkeit ihres nächtlichen Fluges betrifft, und geht mit dem Canon episcopi konform. Die deskriptive Absicht des Dämonologen ist hier ganz klar: Er bietet den LeserInnen Einblick in die Welt der Magie, allerdings keinen authentischen, da er ja schon durch seine inquisitorische Erfahrung beeinflusst ist. Allerdings ist er noch frei von den interpretativen Kodifikationen, die in der Folge dem Ganzen Einheit und Dichte geben werden. Fünfzig Jahre später sollte diese Abhandlung in die Hände Kramers gelangen, der das kulturelle und schriftstellerische Erbe dazu nutzen wird, um das unselige Konstrukt des Malleus maleficarum zu errichten.

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Vgl. hierzu die bei Martine OSTORERO, Agostino PARAVICINI BAGLIANI und Kathrin UTZ TREMP, Hg., L’imaginaire! du! sabbat:! Édition critique des textes les plus anciens (1430– 1440) (Lausanne: Université de Lausanne, 1999), erschienenen Quellen. Johann NIDER, Formicarium (Douai: Bellerus, 1602), V,3. Vgl. ebd., fol. 2v.

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Der Philosoph und Theologe Alfonso Tostado, der spätere Bischof von Avila, beschäftigt sich nicht weiter mit der Welt der Hexen, vielmehr ist er interessiert an der theoretischen Frage der Wirklichkeit des nächtlichen Fluges der Frauen, die gestanden hatten, der Gesellschaft der Diana anzugehören. Seine Dissertation über den Canon episcopi liefert den späteren dämonologischen Argumentationen eine höchst wertvolle Interpretationsgrundlage, die von Jean Vineti22 und Nicolas Jacquier23 aufgenommen wurde und dann in den Malleus maleficarum einfloss. Er benutzte zum Beweis für die Behauptung, der Teufel habe die Macht, Körper zu transportieren, die Verse Lk 4,9 und Mt 4,5–8 (die Versuchung Christi, der vom Teufel auf die Zinnen des Tempels gebracht wird), die ab hier für die Argumentation grundlegend sind.24 Nun beginnt die Debatte zwischen Skeptikern und Verfechtern der Existenz der modernen Hexenkunst. Jacquier beteiligt sich daran mit seiner Schrift Flagellum haereticorum fascinariorum, die wesentliche Züge herausarbeitet, aber noch nicht von den Hexen als solchen spricht. Der französische Dämonologe bezeichnet die Hexen und Hexenmeister als fascinarii. Er erarbeitet eine Theorie über die diabolischen Mächte, von ihm stammt die erste Definition der Hexerei als neue Häresie. Er beschäftigt sich in der Tat mit der Unterscheidung zwischen den leichtgläubigen Frauen des Canon episcopi und der modernen, wirklich existierenden „Sekte und Ketzerei der Hexenmeister“, die sich den Teufeln hingibt. Frauen, die glauben, Diana oder Herodias zu folgen, sind Opfer eines teuflischen Betruges, während diejenigen Frauen, Männer und sogar Geistliche, die untereinander furchtbare Untaten begehen und somit der ganzen Menschheit schaden, bewusste Komplizen des Teufels sind: In dieser Sekte oder Synagoge der Hexenmeisterei finden sich nicht nur Frauen, sondern auch Männer zusammen und, was noch schlimmer ist, auch Geistliche und Ordensbrüder, die mit den Teufeln, die ihnen in verschiedenen Erscheinungsformen entgegentreten, verkehren und sich mit ihnen unterhalten. Diese lassen sich von ihnen bei ihrem echten Namen rufen, sie beten sie an und verehren sie, Küsse darbietend, auf Knien. Sie erkennen sie als Herren und Meister an und verleugnen Gott, den katholischen Glauben und seine Geheimnisse. (…) Es erscheint deshalb klar, dass ein großer Unterschied zwischen dieser Sekte der Hexenmeisterei, ihrer realen Kommunikation mit den Teufeln und jener phantastischen Illusion der schlafenden Frauen besteht. Da nämlich, wie unser Herr 22

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Der französische Dominikaner, Theologe und Inquisitor Jean Vineti (gestorben um 1470) schreibt gegen 1450 den Tractatus contra daemonum invocatores, der 1483 in Paris veröffentlicht wird. Das Werk ist ein Ausdruck der durch die Systematisierung entstehenden Spannung, die die Dämonologie des 15. Jh. kennzeichnet; er beginnt bei dem Canon episcopi und nimmt seine Argumente für die Welt der „daemonum invocatores“ aus langen Zitaten der Summa theologiae von Thomas von Aquin. Nicolas Jacquier, Dominikaner, Theologe und Inquisitor, schreibt 1458 das Flagellum haereticorum fascinariorum, welches erst 1581 in Frankfurt gedruckt werden sollte. Der Kommentar zum Canon episcopi von Alfonso Tostado (ca. 1400–1455) mit dem Titel „An homines aliquando portentur a diabolo per diversa loca“ ist in seinen Commentaria in Primam Partem Matthaei, Quaest. XLVII, Kap. IV enthalten; seine Werke wurden zum ersten Mal 1501–1503 in Venedig gedruckt.

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und Erlöser sagt, ein Baum an der Frucht erkannt wird, „denn ein schlechter Baum bringt schlechte Früchte“ (Mt 7,17).25

Sehr interessant in der Entwicklung der Debatte über die Hexerei sind die zwei kurzen Traktate von Girolamo Visconti.26 Er beschränkt sich nicht auf theoretische Abhandlungen, sondern knüpft an die Prozesse an, die gerade im Kloster von Sant’Eustorgio, wo er Lehrer der Logik war, stattfanden. Er ist ein externer Beobachter in einer Situation, in der der Fürst von Mailand Francesco Sforza, dem die Traktate gewidmet sind, mehrfach mit Anweisungen zum Schutz der der Hexerei beschuldigten Frauen eingreift. Canon episcopi, Domina ludi, die Echtheit des nächtlichen Fluges und des „Spieles“, die Hexerei als Häresie: Das sind die Themen, die er sich zu diskutieren vornimmt. Bezüglich der Frauen schreibt er: Man muss wissen, dass es in der Mehrzahl Frauen sind, die sich zum „Spiel“ begeben, aber auch Männer gehen dorthin. Und da die Frauen zahlreicher als die Männer sind, spricht die Abhandlung mehr über diese. Und nicht nur diejenigen von einfacher Herkunft, sondern auch die Adeligen haben sich mit dieser Schande befleckt und besitzen einige ihnen zugewiesene Teufel.27

Er fragt sich auch, warum solche Handlungen mehr von Frauen als von Männern durchgeführt werden, und antwortet, dass die Lehre Gottes von Gott zu Christus hinabsteigt und von Christus zum Manne und vom Mann zur Frau; der Apostel Paulus bewahrt diese Anordnung im ersten Brief an die Korinther (11,3f.). Stattdessen wurde die Lehre des Teufels vom Teufel zur Frau weitergegeben, wie in der Genesis (3,1–6) steht, weil diese eine geringere Sensibilität und Unterscheidungsgabe besaß. Von der Frau kam sie zum Mann; deswegen findet man die erwähnten Sünden mehr bei den Frauen als bei den Männern. Dies ist, hochverehrter Fürst, was ich beabsichtigte, über die Hexen zu sagen.28

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Nicolas JACQUIER, Flagellum hæreticorum fascinariorum (Frankfurt: Basse, 1581), 41f.: In hac autem fascinariorum secta sive synagoga, conveniunt non solum mulieres, sed viri, et quod deterius est, etiam ecclesiastici et religiosi qui stant et loquuntur cum daemonibus perceptibiliter, inter eos apparentibus varijs formis et a quibus daemones faciunt se nominari proprijs nominibus, quos ipsi fascinarij, genibus flexis et osculis exhibitis adorant et colunt recipiendo eos in dominos et magistros, abnegando Deum et fidem catholicam et fidei!mysteria.!(…) Patet igitur longam esse differentiam inter hanc fascinariorum sectam, realemque ipsorum cum daemonibus communicationem et illam fantasticam mulierum dormientium illusionem. Cum enim, ut ait dominus et salvator noster, ex fructu cognoscatur arbor, quia mala arbor malas facit fructus. Der Dominikaner Girolamo Visconti (†1478), Lehrer der Logik im Mailänder Konvent von Sant’Eustorgio, beteiligt sich an der Debatte über die Hexerei mit zwei kurzen um 1460 verfassten Traktaten: Lamiarum sive striarum opusculum und Opusculum de striis, die 1490 in Mailand in einem einzigen kleinen Band erscheinen. Girolamo VISCONTI, Opusculum de striis; die lateinische Ausgabe der Verse war mir nicht zugänglich; die Zitate stammen aus ABBIATI, La stregoneria, 97. Lamiarum sive striarum opusculum, zitiert nach ebd., 93f.

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3. Die Töchter Kains Etwa zwanzig Jahre später und unter den Vorzeichen einer ganz anderen auctoritas wurde die von dem Dominikaner Heinrich Kramer geschriebene Abhandlung veröffentlicht. Der Malleus maleficarum ist, was Verbreitung und Einfluss anbelangt, das opus princeps. Seine Kraft beruht auf dem häufigen Gebrauch der Heiligen Schrift und christlicher Autoren, die zu dem Zweck zitiert werden, Theorien, Argumentationen, Schmähungen und Verurteilungen zu bestätigen. So entwickelt sich der Hexenhammer sofort zum wichtigsten theoretischen Bezugspunkt und zur reichhaltigsten Sammlung von praktischen Anweisungen und Arbeitsmitteln zur Verfolgung der Hexen, deren Zahl, wie sein Autor sagt, gerade deswegen stark zugenommen habe, weil sie nicht mit genügend Energie verfolgt wurden. Sein enormer Einfluss auf die spätere Literatur wird auch nicht durch die Tatsache gemindert, dass er mit deutlichen Rückgriffen auf die Doktrin Thomas von Aquins und unter Bezugnahme auf das Wissen verschiedenster Autoren geschrieben wurde.29 Es ist hier aus Platzgründen leider nicht möglich, wäre aber sehr interessant zu untersuchen, wie stark der Malleus maleficarum in der Abhängigkeit des De planctu ecclesiae steht, das der Franziskaner Alaro Pelajo um 1330 als Großinquisitor am Hof von Avignon verfasste. Dieses Werk wurde in Ulm seit 1474 gedruckt. Vielleicht würde man bemerken, dass es Kramer inspirierte und er daraus Wissen und Zitate entnahm, um eine „referenzierte“ Schmährede gegen die Frauen zu schreiben.30 Der Hexenhammer wird bezeichnenderweise mit einer Glosse (Gen 6,2–4) eröffnet, die aus der Patristik des 4. Jh. wiederaufgenommen wurde: Die Glosse [zu Gen Videntes filij dei filias hominum] sagt zweierlei: Erstens, daß unter den Söhnen Gottes die Söhne Seths verstanden werden und unter den Töchtern der Menschen die Töchter Kains. Zweitens sagt sie, daß es nicht unglaublich sei, daß nicht von Menschen, sondern von Dämonen, die mit Frauen unzüchtig sind, derartige Menschen, d. h. Riesen, erzeugt werden.31

Diese Stelle zeigt zweifellos, wie am Anfang bereits das Ziel klar erkennbar ist: die Verurteilung der Frauen aufgrund ihres missratenen Wesens, der Unzucht und des schändlichen Umgangs mit den Dämonen. Deswegen verdienen sie es nicht, dem „tugendhaften“ Zweig der Nachkommenschaft Adams anzugehören, der in Gen 5,1–32 von Set bis Noach beschrieben wird, wobei aber die ersten drei Söhne ausgelassen 29

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Eine vollständige Liste der Quellen von Kramer befindet sich in Malleus maleficarum, 152– 169. „Tutto ciò che il Malleus contiene di più misogino è esplicitato nel De planctu ecclesiae“, schreibt Jean DELUMEAU, La paura in Occidente (secoli XIV–XVIII): La città assediata (Saggi; Turin: SEI, 1979), 490. KRAMER, Hexenhammer, 180. “Videntes! filij! dei! filias! hominum”! etc.! glosa! duo! dicit:! primo, quod per filios dei filij Seth intelliguntur et per filias hominum filie Cayn; secundo dicit quod non est incredibile non ab hominibus sed a quibusdam demonibus qui mulieribus sunt improbi huiusmodi homines, id est, gigantes esse procreatos (Malleus maleficarum, 245).

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wurden – vielleicht weil sie schon gestorben waren wie Abel, oder weil sie sich des göttlichen Segens unwürdig erwiesen haben wie Kain. Und so fließt in einem üblen Missverhältnis das unwürdige Blut Kains, „des Unaussprechlichen“, gerade in den Adern des weiblichen Geschlechts. Trotzdem, fügt Kramer hinzu, muss man sagen, dass, wenn auch die [Heilige] Schrift im Alten Testament von den Frauen meistens Schlechtes berichtet, und zwar wegen der ersten sündigenden Frau, nämlich Eva und ihrer Nachahmerinnen, so sagt [doch] Hieronymus nachher wegen der Veränderung des Namens im Neuen Testament, nämlich Eva in Ave: „Alles, was der Fluch Evas Böses gebracht hat, hat der Segen Marias hinweg genommen.“ Daher ist über diese sehr viel und immer Lobenswertes zu predigen.32

Man kann jedoch nicht verneinen, so führt er weiter aus, dass sich in dem so schwachen Geschlecht der Frauen eine größere Anzahl von Hexen als unter dem der Männer befindet: Und es bringt nichts, Argumente für das Gegenteil herzuleiten, da, abgesehen von den glaubwürdigen Aussagen vor Gericht, die Erfahrung selbst dieses glaubhaft macht. 33

In seinem Werk bietet der Dominikaner eine vielfältige Auswahl der weiblichen „Tugenden“ an: außer dass Frauen schön und eitel sind, sind sie auch untreu und verlogen, betrügerisch und ehrgeizig, neidisch und jähzornig, unzüchtig und unersättlich, wollüstig und verführerisch, leichtgläubig und boshaft, schwach und klatschsüchtig mit anstößiger Zunge. Kramer thematisiert ihre malitia und charakterisiert sie mit den Worten von Sir 25,15f.: Kein Gift ist schlimmer als Schlangengift, kein Zorn schlimmer als Frauenzorn. Lieber mit einem Löwen oder Drachen zusammenhausen, als bei einer bösen Frau wohnen.

Er erklärt genauer, dass dieser Text an vielen vorhergehenden oder nachfolgenden Stellen von der Bosheit der Frauen spricht, um dann wie folgt zu schließen: „Klein ist jede Bosheit gegen die Bosheit der Frau“ (vgl. Sir 25,19). Kramer benutzt hier zum ersten Mal eine Bibelstelle in unrichtiger Weise, und zwar bezüglich des Zorns, der sich im Alten Testament auf „den Feind“ bezieht und nicht auf die Frauen. Geradezu einen exegetischen Betrug im Sinne des Ausnutzens mangelnder Bibelkenntnis führt er aus, wenn er sich, um die Verse von Sir zu unterstreichen, auf den Kommentar von Pseudo-Johannes Chrysostomos zu Mt 19,10 bezieht und schreibt: 32

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KRAMER, Hexenhammer, 230. […]! quod licet in veteri testamento scripture vt plurimum mala loquantur de mulieribus et hoc propter primam preuaricatricem mulierem, scilicet Euam, et imitatrices eius, tamen expost in nouo testamento propter mutationem nominis, ut Eua in Aue, et vt! ait! Jeronimus,! “Totum quod intulit mali maledictio Eue, totum abstulit benedictio Marie,” vnde plurima et semper laudabilia sunt de ipsis predicanda (Malleus maleficarum, 285). KRAMER, Hexenhammer, 225. Et quidem in contrarium (in) argumenta deducere non expedit cum ipsa experientia preter verborum et fidedignorum testimonia talia facit credibilia (Malleus maleficarum, 282).

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Dinora Corsi Es ist nicht zuträglich zu heiraten. Was anders ist die Frau als die Feindin der Freundschaft, eine unentrinnbare Strafe, ein notwendiges Übel, eine natürliche Heimsuchung, ein wünschenswerter Verlust, eine häusliche Gefahr, ein ergötzlicher Schaden, 34 ein Fehler der Natur, mit schöner Farbe bemalt?

Chrysostomos! Glosse erläutert den Vers des Matthäusevangeliums, der von der freiwilligen Enthaltsamkeit spricht, und Kramer wendet ihn gegen die Frauen, indem er den Buchstaben und dessen Sinn verzerrt. Von zentraler Wichtigkeit für das Thema, das uns hier interessiert, ist die Quaestio VI des ersten Buches mit dem Titel Sequitur quo ad ipsas maleficas demonibus se subijcientibus. Unter diesem allem Anschein nach generischen Titel webt der Hexenhammer ein dichtes Geflecht aus Bibelzitaten, die er betrügerisch auslegt, um den Frauen alle möglichen Arten von Bosheiten und vor allem die Schuld am Untergang der Königreiche der Welt35 auch aufgrund ihrer liederlichen Sexualität und unersättlichen Wollust anzulasten: Alles [geschieht] durch fleischliche Begierde, die bei ihnen unersättlich ist. Prov. penult. [Spr 30]: „Drei Dinge sind unersättlich etc. und das vierte, das niemals sagt: genug!, nämlich der Schlund der Gebärmutter.“ Darum haben sie auch mit den Dämonen zu schaffen, um ihre Lust zu stillen. Vieles könnte hier ausgeführt werden. Aber den Verständigen erscheint es offensichtlich genug, daß es kein Wunder ist, daß man mehr Frauen von der Ketzerei der Zauberer befallen findet als Männer. Daher ist es auch folgerichtig, die Ketzerei nicht als die der Zauberer, sondern als die der Hexen zu bezeichnen, damit die Benennung vom Wichtigeren her erfolge. Und gepriesen sei der Höchste, der das männliche Geschlecht vor so großer Schändlichkeit bis heute bewahrte. Da er in demselben für uns geboren werden und leiden wollte, deshalb hat er es auch bevorzugt.36

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KRAMER, Hexenhammer, 227. “Non! est! caput! nequius super caput colubri et non est ira super iram mulieris. Commorari leoni et draconi placebit quam habitare cum mulierem nequam”.![…]!“Breuis!est!omnis!malitia!super!malitiam!mulieris”.!Hinc!Crisostomus!super! Matthei XIX (“non expedit nubere”):! “Quid! aliud est mulier nisi amicicie inimica, ineffugabilis pena, necessarium malum, naturalis tentatio, desiderabilis calamitas, domesticum! periculum,! delectabilie! detrimentum,! malum! nature,! bono! colore! depicta?” (Malleus maleficarum, 284). In Mt 19,1–12 diskutiert Jesus öffentlich über Ehescheidung und Enthaltsamkeit und sagt: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch. Da sagten die Jünger zu ihm: Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten“ (V8–10). Vgl. Malleus maleficarum, 289f. KRAMER, Hexenhammer, 238. Omnia per carnalem concupiscentiam que quia in eis est insatiabilis (Prouerbiorum penulto!“Tria!sunt!insatiabilia”!etc. “et quartum quod nunquam dicit! ‘sufficit,’”! scilicet! os! vulue) – vnde et cum demonibus causa explende libinidis [sic! richtig: libidinis] se agitant. Plura hic deduci possent sed intelligentibus satis apparet non mirum quod plures reperiuntur infecti heresi maleficorum mulieres quam viri. Vnde et consequenter heresis dicenda est non maleficorum sed maleficarum, vt a potiori fiat

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So schreibt Kramer, aber in der Vulgata (Spr 30,15f.) liest man stattdessen: Drei sind es, die nie satt bekommen, vier sagen nie: „Genug"“ Das Totenreich, der Mutterschoß, die Erde, die des Wassers niemals satt wird, das Feuer, das nie sagt: „Genug!“37

Auch die männliche Begierde wird in bestimmter Weise von den Frauen geweckt, weswegen aus dieser Sicht Frauen selbst an den Vergewaltigungen, die sie erleiden, schuld sind. Er benutzt hierzu Gen 34 und erzählt die Vergewaltigung Dinas durch Sichem wie folgt: Als Sichem Dina aufbrechen sah, um die Frauen des Landes aufzusuchen, verliebte er sich in sie, riß sie an sich und schlief mit ihr, und seine Seele wurde mit ihr vereinigt, Gen. 34 und nach der Glosse: „Einer schwachen Seele ergeht es so, wenn sie, wie Dina, in Vernachlässigung eigener Belange, fremde Geschäfte besorgt. Sie wird verführt durch 38 den Umgang und wird eines Sinnes mit dem Verbotenen.“

Weiterhin sagt er, dass die Versuchung der Begierde auch ohne Hexen entstehen könne, aber hauptsächlich durch die Anstiftung der Teufel: Damit wird die Vergewaltigung Tamars durch den eigenen Bruder Amnon erklärt (2 Sam 13,2f.). Es besteht gar kein Zweifel, dass ein jeder dem Satan ausgeliefert sei, der wie ein Sklave seinen Trieben gehorcht. Kramer unterstreicht es zweimal, wenn er beschreibt, wie die Hexen für gewöhnlich „den Männern die Geschlechtsteile entfernen“, um diese schließlich in beträchtlichen Zahlen – zwanzig oder dreißig – in Vogelnestern oder einem Kästchen zu sammeln, „wo sie sich wie Lebewesen bewegen, Hafer und Futter essend, wie sie von Vielen gesehen worden sind“.39 In beiden Abschnitten nimmt der Autor die Worte auf, die der Engel an Tobias richtet: „Über die Sklaven der Begierden hat der Teufel die Gewalt.“ Hier ist das Zitat nicht präzise, es bezieht sich aber höchstwahrscheinlich auf Tob 6,14ff., wo die Frau (Sara), welche der Jüngling auf nachdrückliche Aufforderung des Engels heiraten soll, bereits siebenmal verheiratet war. Jedes Mal starben die Ehemänner noch in derselben Nacht im Hochzeitszimmer, in dem sie sich mit ihr vereinigen sollten, weil ein eifersüchtiger Dämon alle tötete, die sich ihr näherten. Man hat den Eindruck, dass Kramer auch in diesem Absatz Boshaftigkeiten über eine Frau, nämlich die unwissende und

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denominatio. Et benedictus altissimus qui virilem speciem a tanto flagitio vsque in presens sic preseruat, in quo vtique cum pro nobis nasci et pati voluit, ideo et ipsum priuilegiauit (Malleus maleficarum, 292). Tria sunt insaturabilia et quartum quod numquam dicit sufficit: infernus et os vulvae et terra quae non satiatur aqua, ignis vero numquam dicit sufficit. KRAMER, Hexenhammer, 251. (…) Et secundum glosam: Jnfirme anime sic accidit: quando postpositis proprijs, vt Dina, aliena negocia curat, seducitur consuetudine et fit vna vnitate sensus cum illicitis (Malleus maleficarum, 303). KRAMER, Hexenhammer, 426. Qui libidini deserviunt, in eo diabolus accipit potestatem. (…) ubi et quasi viventia membra se movent vel avenam vel pabulum consumendo, prout a multis visa sunt et communi fama refert (Malleus maleficarum, 432f.).

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unschuldige Sara, verbreiten wollte.40 Am Ende schließt er damit, dass all dies ein Werk der dämonischen Täuschung sei, allerdings nicht, ohne zuvor die Aufmerksamkeit seiner Leser durch eben jene groteske Erzählung zu wecken.41 Hinsichtlich des beunruhigenden Phänomens der Zunahme der Hexen bemerkt er, dass der Hauptgrund hierfür zu suchen sei in dem schmerzliche(n) Zank zwischen verheirateten und nicht verheirateten [Frauen] und Männern, ja selbst auch unter den heiligen Frauen. Was dann [erst] unter den übrigen? Du siehst nämlich in der Genesis, wie groß die Unduldsamkeit und der Neid der Sara gegen Hagar war, nachdem sie empfangen hatte, Gen. 21; wie groß [der Neid] der Rachel gegen Lea wegen der Söhne, die Rachel nicht hatte; wie groß [der Neid] der Hanna gegen Peninna, die fruchtbar war, während sie selbst unfruchtbar blieb, 1 Regum 1; wie groß [der Neid] der Mirjam gegen Moses, Nume. 12. Daher murrte sie und verunglimpfte Moses, weswegen sie auch mit Aussatz geschlagen wurde; wie groß [der Neid] der Martha gegen Magdalena, die untätig sitzen blieb, während Martha aufwartete, Lukas 10. Daher auch Eccl. 37 [Sir 37,11]: „Besprich dich mit der Frau darüber, worüber sie sich ereifert“, wie wenn er sagen würde, man kann mit ihr nicht übereinkommen, weil immer Rivalität, d. h. Neid, in einer bösen Frau ist. Wenn sie so untereinander hetzen, wieviel mehr gegenüber den Männern!42

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In der Bibelausgabe Diodati steht bei Tob 6,17: temo!ch’entrando!da!lei!anch’io!muoia,!con! ciò!sia!cosa!ch’un!demonio!l’ami,!il! quale!non!offende!se!non!quelli!che!s’accostano!a!lei („Ich befürchte, dass auch ich, wenn ich bei ihr eintrete, sterben werde, da eine Art Dämon sie liebt, der jeden angreift, der sich zu ihr legt.“). „Es berichtet nämlich einer, daß, als er das Glied verloren hatte und sich zur Wiedererlangung der Gesundheit an eine Hexe gewandt hatte, sie dem Kranken befahl, auf einen Baum zu steigen und ihm erlaubte, sich aus dem Nest, in dem mehrere Glieder waren, sich das, was er wollte, zu nehmen. Als jener versuchte, ein großes zu nehmen, sagte die Hexe: ‚Du solltest dieses nicht nehmen‘, und fügte hinzu, daß er nach dem eines Pfarrers gegriffen hätte“ (KRAMER, Hexenhammer, 427). Retulit enim quidam quod dum membrum perdidisset et quandam maleficam causa recuperande sanitatis accessisset, illa, ut quendam arborem ascenderet, infirmo iniunxit et ut de nido in quo plurima erant membra si quod vellet accipere! posset! indulsit.! Et! cum! ille! magnum! quoddam! accipere! attentasset,! “Non”,! ait! malefica,!“illud!accipias,”!et!quia uni ex plebanis attineret subiunxit (Malleus maleficarum, 433f.). KRAMER, Hexenhammer, 232f. Et reuera potissima causa deseruiens in augmentum maleficarum est dolorosum duellum inter maritatos et non maritatas feminas et viros, imo et inter ipsas feminas etiam sanctas: quid tunc de ceteris? Vides enim in Genesi quanta fuit impatientia et inuidia Sare ad Agar postquam concepit (Genesis xxi), quanta Rachel ad Lyam propter filios quos non habebat Rachel (Genesis xxx), quanta Anne ad Fenennam fecundam ipsa sterili existente (i Regum i), quanta Marie ad Moisen (Numeri xij), vnde murmurauit et detraxit Moisi, propter quod et lepra percussa, quanta Marthe ad Magdalenam ipsa sedente et Martha ministrante (Luce x), vnde et Ecclesiastici xxxvij: “Tracta! cum muliere de his que emulatur,”!quasi!dicat, “Non!est!tractandum!cum!ea!quia!semper! emulatio, id est, inuidia est in mala muliere.”! Et que inter se sic agitantur, quanto magis aduersus viros! (Malleus maleficarum, 287).

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Auf dieses Klima der Überwachung und Disziplinierung, dem die Frauen unterworfen sind, muss zurückgeführt werden, was in Bezug auf diejenigen geschrieben wird, die sich nicht lenken lassen (ex natura vitium nolle regi), sondern ihren eigenen Impulsen und nicht nur ihnen folgen möchten. Sie wollen die Befehle erteilen und wenn die Männer sich nicht unterordnen, bereiten sie Gift zu, befragen Seher und Wahrsager: Ecce maleficia! Bezüglich des dominium mulierum bezieht er sich auf Ciceros Paradoxa stoicorum (V,II,36), der sagt, dass ein Mann, der unfähig ist, sich den Befehlen seiner Frau zu widersetzen, schlimmer sei als die Sklaven. Dies sei bei genauerem Hinsehen der Grund, warum Frauen die Schuld am Untergang aller Weltreiche tragen: Suchen wir nach, finden wir, daß fast alle Reiche der Welt durch die Frauen zerstört worden sind. Das erste, ein glückliches Reich, nämlich Troja, wurde wegen des Raubes einer Frau, nämlich der Helena, zerstört, und viele tausend Griechen wurden getötet. Das Reich der Juden erlitt viele Übel und Vernichtungen wegen der furchtbaren Königin Jezabel und ihrer Tochter Athalja, Königin im Königreich Juda, die die Söhne ihres Sohnes töten ließ, damit sie nach seinem Tod selbst herrsche. Aber beide [Frauen] wurden getötet. Das Reich der Römer hatte viel Schlimmes auszustehen wegen Kleopatra, der Königin von Ägypten, einer ganz schlimmen Frau. Ebenso auch andere [Reiche]. Daher ist es kein Wunder, wenn die Welt [auch] jetzt unter der Boshaftigkeit der Frauen leidet.43

Die Schmähungen steigern sich bis hin zur Aussage: So ist die [Frau], von der Eccl. 7 [Sir 7,26] spricht und über die jetzt die Kirche jammert wegen der ungeheuren Menge der Hexen: „Ich fand die Frau bitterer als den Tod, die die Schlinge des Jägers ist, ein Netz ihr Herz, Fesseln sind ihre Hände. Wer Gott gefällt, wird jene fliehen. Wer aber ein Sünder ist, wird von ihr gefangen werden.“ Sie ist bitterer als der Tod, d. h. der Teufel. Apokalypse 6 [Offb 6,8]: „Sein Name ist Tod.“44

Der Vers in der Offb bezieht sich aber nicht auf die Frauen, sondern auf die Figur, die bei der Öffnung des vierten Siegels erscheint: Wieder einmal benutzt Kramer die Heilige Schrift in verfälschender Weise, so wie er es übrigens wenige Zeilen zuvor tut, wo

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KRAMER, Hexenhammer, 235. Inuenimus fere omnia mundi regna propter mulieres fuisse euersa. Primum enim quod fuit regnum felix, scilicet Troye, propter raptum vnius femine, scilicet Helene, destructum est, multis milibus Grecorum occisis. Regnum Judeorum multa mala et exterminia habuit propter pessimam reginam Jezabel et filiam eius Athaliam reginam in regno Jude, que occidi fecerat filios filij vt eo mortuo ipsa regnaret, sed vtraque occisa. Regnum Romanorum multa mala sustinuit propter Cleopatram reginam Egipti, pessimam mulierem. Et sic de alijs. Vnde non mirum si mundus iam patitur ob malitiam mulierum (Malleus maleficarum, 289f.). KRAMER, Hexenhammer, 237. Hec est de qua Ecclesiaste vij et de qua iam ecclesia lamentatur! propter! ingentem! multitudinem! maleficarum:! “Jnueni amariorem morte mulierem, que laqueus est venatorum, sagena cor eius, vincula sunt manus eius. Qui placet deo, fugiet illam; qui autem peccator est, capietur ab ea.”! Amarior! est! morte, id est, diabolo: (Apocalysis [sic! richtig: Apocalypsis] vi) “Nomen!illi!mors.” (Malleus maleficarum, 291).

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er sich zwecks einer weiteren heftigen Schmähung gegen alle Frauen auf Spr 5,3f. bezieht, wo Männer vor dem Umgang mit Ehebrecherinnen gewarnt werden. Ein ganzes Kapitel ist dem Verbrechen der unheiligen Opferung Neugeborener an den Teufel seitens der Hexenmütter und Hebammen gewidmet. Hier werden verschiedene Arten vorgestellt und kommentiert, wie dies möglich sei. Der Hexenhammer legt demnach die Grundlagen für das furchtbare Gesetz fest, das die Jagd in den darauf folgenden Jahrhunderten kennzeichnen wird, und das im tragischen Weiterwirken der Schuld der Hexen in deren Genealogie die Töchter für die Delikte der Großmütter und Mütter schuldig werden lässt: Wer kann sagen, dass die Verbrechen der Mütter oder anderer – was die Bestrafung betrifft – nicht auf die Kinder zurückfallen?

Erstaunlicherweise bezieht er sich auf Ex 20,5: „Ich, JHWH, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der da heimsucht die Schuld der Eltern an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied bei denen, die mich hassen.“45 Nach einer langen Argumentation unter Zuhilfenahme verschiedenster Zeugnisse kommt er schließlich zu der Schlussfolgerung, dass, wie die Erfahrung zeigte, die Töchter von Hexen unter ihresgleichen als Nachahmerinnen der mütterlichen Verbrechen verrufen sind, ja daß auch die ganze Nachkommenschaft gleichsam angesteckt ist. Und der Grund dafür und für alles Vorangegangene ist ja, daß sie immer einen Überlebenden zu hinterlassen haben und mit allen Kräften nach Vermehrung jener Ruchlosigkeit aufgrund des mit dem Dämon eingegangenen Paktes zu streben haben. Wie konnte es denn [sonst] geschehen, daß, wie sehr häufig ermittelt worden ist, unreife Mädchen von acht oder zehn Jahren Stürme und Hagelschläge zusammengebraut haben, wenn nicht aufgrund eines solchen Paktes im Rahmen einer solchen gotteslästerlichen Opferung durch die Hexenmutter das Kind verwunschen worden wäre? 46

Der von der Heiligen Schrift vorgegebene Weg führt ihn an das Ende des zweiten Buchs, wo er die LeserInnen darüber informiert, im dritten Teil des Werkes werde „über die Ausrottung der Hexen als dem äußersten Mittel zu handeln sein. Denn das ist die letzte Zuflucht der Kirche, wozu sie auch nach dem göttlichen Gebot verpflichtet wird, wie es heißt: ‚Die Zauberer sollst du nicht leben lassen.‘“47 Von nun an lassen die 45

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So Malleus maleficarum, 469: Ego dominus zelotes visitans peccata patrum in filios vsque in terciam et quartam generationem. KRAMER, Hexenhammer, 281. Experientia denique demonstrat semper filias maleficarum in consimilibus tanquam imitatrices maternorum scelerum esse diffamatas, imo et totam quasi progeniem esse infectam. Et huius quidem et omnium precedentium ratio quia superstitem semper habent relinquere et in augmentum illius perfidie summis conatibus ex pacto cum demone inito tendere. Vnde enim contingere posset, quod sepissime repertum est, puellas impuberas, vt octo vel decem annorum, tempestates et grandines concitasse nisi ex tali pacto sub tali oblatione sacrilega diabolo per matrem maleficam infantem execrasse? (Malleus maleficarum, 471); die stirps der Hexen erscheint in den Prozessen vom frühen 16. Jh. an. KRAMER, Hexenhammer, 596. Vnde et consequenter in tertia parte operis de exterminio maleficarum quo ad vltima remedia tractandum erit. Hoc ipsum enim vltimum ecclesie

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Schriften ihren Platz den Konstitutionen und Dekreten eines Gratian und Nikolaus Eymerich. Die Vernichtung der Hexen kann also beginnen.

4. In der Nachfolge Kramers Wenige Jahrzehnte nach dem Traktat Kramers schreibt der einflussreiche Gelehrte Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469–1533) sein Werk Strix und beteiligt sich mit dem ganzen Gewicht seiner philosophischen und religiösen Ausbildung an der Debatte über die Hexerei, deren kulturelles Substrat er unter großem Einsatz seiner Kenntnisse der klassischen Autoren herausstellt. Das Werk steht in der Nachfolge des Hexenhammers und dessen inquisitorischer Vorschriften und Positionen. Er ist sowohl von der Existenz der Hexen überzeugt, als auch von der Notwendigkeit, diese mit dem Feuer zu bestrafen, um sie der Ausübung der Hexenkunst und der Teilnahme am Hexensabbat zu überführen. Pico bezieht sich vornehmlich auf die Klassik – die Strix ist eine endlose Aufzählung dessen, was griechische und lateinische Autoren alles über die Magie geschrieben haben – und benutzt die Bibel in zurückhaltender und kluger Weise. Er greift fast immer Abschnitte auf, die bereits von früheren Autoren erwähnt wurden, versieht diese aber mit manch interessanter „Neuigkeit“. Das offensichtliche Ziel ist es, die Präsenz der Dämonen in der Welt zu beweisen, die sich in verschiedenen Formen unter den Menschen einschleichen. Philostrat etwa nennt diese „Empusen, Lamien, Angsteinflößer“. Und tatsächlich findet sich in Jes [34,14] im Kontext des Auftretens von Dämonen das Hochzeitsbett der Lamien.48

Wiederum handelt es sich hier um ein verfälschtes biblisches Zitat, da der Prophet im zitierten Kapitel die letzten schrecklichen Kämpfe beschreibt, die JHWH gegen die Völker, insbesondere Edom, führen muss: Wüstentiere werden sich mit Hyänen begegnen, ein Bocksgeist nähert sich dem anderen; dort findet auch Lilit Ruhe und eine friedliche Unterkunft. (Jes 34,14)

Die Absicht jedenfalls ändert sich nicht: Es geht darum, die Merkmale der „Verbündeten der Dämonen“ (1 Kor 10,20) zu beschreiben („Ich will nicht, dass ihr in der Gemeinschaft der Dämonen seid.“), ihre bösartigen Handlungen darzulegen und somit die Todesstrafe als Notwendigkeit erscheinen zu lassen, zu der die Überführten zweifelsfrei verurteilt werden sollten: Im Deuteronomium [18,9–12] wird befohlen, die Hexen und Zauberer zu töten. Nach Lev 20,27 sollten die Wahrsager und jene, die die Wahrsagerei benutzten, gesteinigt werden.49

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refugium ad quod etiam ex diuino obligatur, vt dictum est, precepto:!“Maleficos!ne!patiaris viuere super terram.” (Malleus maleficarum, 556); das Bibelzitat Ex 22,18. PIC DE LA MIRANDOLE, La Sorcière, 69: Daemones igitur sese hominibus insinuant variis sub simulacris "#$%&'*+ -/#0/1 /2 #%3#%-&40/1 dicuntur a Philostrato. Sed enim apud Esaiam prophetam, ubi occursus daemoniorum citatur, Lamiae cubile novimus.

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5. Eine andere Stimme Die erste Stimme, die sich in offenem Widerspruch zu Kramer erhebt, ist die von Ulrich Molitor, Rechtsgelehrter und Jurist in Konstanz. An ihn hatte sich Erzherzog Sigismund von Österreich gewandt, damit dieser die Zweifel über die Existenz der Hexen und ihre tatsächlichen Kräfte aufkläre, nachdem in Innsbruck 1485 durch etliche Inquisitionsprozesse viele Personen fälschlich der Hexerei angeklagt worden waren. Der Tiroler Landtag hatte in seiner Versammlung von 1487 die Grausamkeit der Prozesse beklagt. Dies war eine recht heikle Lage für den Erzherzog, da der amtierende Inquisitor Heinrich Kramer war, der Dominikanerpater, der von Papst Innozenz VIII. durch die Bulle Summis desiderantes affectibus von 1484 die Vollmacht erhalten hatte, gegen Hexerei vorzugehen. Zudem hatte Kaiser Maximilian I. Kramer zusammen mit dessen Mitbruder Jakob Sprenger unter seinen persönlichen Schutz genommen (16. November 1486), auf dass ihnen jede Hilfe zuteil würde, ihren Auftrag bestmöglich auszuführen. Um der Aufforderung Erzherzog Sigismunds nachzukommen, begann Molitor, ein Traktat zu verfassen, in dem er vorschlug, in einer „offiziellen Schrift“ seine Meinung zur Plage der Lamien und Zauberinnen darzustellen, von denen man sage, „sie hätten sich in den letzten Jahren in den Ländereien seines Staates weit ausgebreitet“. In De lamiis et pytonicis mulieribus gibt er ohne Umschweife zu, nicht an die Kräfte der Lamien zu glauben, indem er sich auf die Evangelien bezieht und die Glosse zu Gen 6,2–4 widerlegt, mit der Kramer seinen Malleus eröffnet hatte. Er widmet sich den Passagen der Heiligen Schrift, auf die sich der Hexenhammer in Bezug auf die Kräfte der Dämonen und den Glauben an die Kräfte der Hexen berufen hatte. Die Themen, die er zu diskutieren gedenkt, sind in elf Punkten dargelegt. Sie beziehen sich alle auf die „Lamien und Pythien“ und die Fragen, ob diese Hagelschlag hervorrufen, den Männern und Kindern Schaden zufügen, die Virilität eines Mannes beschädigen, Form und Figur der Menschen verändern, einen Besen oder Tiere reiten und sich von einem Ort zum anderen transportieren, ein sexuelles Verhältnis mit dem Dämon haben, geheime Dinge wissen, und darüber hinaus, ob sie durch das Feuer vernichtet werden könnten – und schließlich, „ob der Teufel in menschlicher Form mit solchen Frauen Beischlaf haben könnte“.50 Er geht dabei mit den Lamien und den Zauberinnen, den „verfluchten Weibern“, nicht nachsichtig um, dennoch hält er sie nicht für fähig, diese Erscheinungen hervorzurufen. Der Teufel jedoch sei dazu fähig. In diesem Sinn sollten die Wunder Moses (fälschlich anstelle von Aaron zitiert) gegen die Magier und Zauberer des Pharao Ex 7,10–13 gelesen werden, oder auch Ijob 1,18f., wo geschrieben steht, dass durch das Eingreifen des Teufels ein starker Wind sein Haus zerstörte und seine Kinder darunter begrub und tötete. Derselbe Absatz und dieselbe auctoritas dienen ihm dazu, 49

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In Deuteronomio malefici et incantatores iubentur interfici. In libro levitico Ariolos et Pythonico spiritu usos lapidibus obruendos lege cautum est (ebd., 103). An Diabolus possit in forma hominis cum huiusmodi mulieribus commisceri? MOLITOR, „De lamiis et pytonicis mulieribus“, 82.

Frauen, Bibel und Dämonologie im 15. Jahrhundert

147

den Glauben zu widerlegen, die Frauen könnten ihren eigenen Kindern Schaden zufügen, auch wenn dies dieselben verfluchten Lamien erzählt hätten, nachdem sie – erst einmal gefangen – unter der Folter zugegeben hätten, aus Hass gegen die Eltern deren Kinder mit derartigen Übeln gepeinigt zu haben. Er fügt mit Nachdruck hinzu, dass er sich nicht von bestimmten, unter der Folter erpressten Bekenntnissen überzeugen lasse, und fragt weiter, welche anderen Argumente oder Autoritäten hierfür beizubringen wären.51 Die Frauen sind nicht einmal neue Circen, wie Volksglaube und Anklagen denken lassen könnten, und daher sind sie unfähig, die Körper der Männer in Tiere zu verwandeln. Nicht einmal der Teufel könnte dies, wenn er auch, solange es Gott zulässt, die Augen in seinen Bann ziehen und die anderen Sinne täuschen könnte, aber er könne wahrhaftig nicht Menschen und Tiere in andere Wesen verwandeln. Die Lamien sollten also sich selbst und anderen mit Hilfe des Teufels das Aussehen anderer Menschen oder das von Tieren geben können? Dies würde nur scheinbar geschehen, durch von den Dämonen hervorgerufene Blendung des Auges: „Praestigium, dicitur quasi praestingens oculos, wie Isidor im achten Buch seiner Etymologien sagt.“ Der Teufel könne die Wahrnehmungsorgane beeinflussen, so dass uns ein Ding als ein anderes erscheint.52 Zu dem Diskussionspunkt, ob sich die Lamien auf einem Besen fliegend oder auf einem Wolf reitend zu ihren Versammlungen begeben, bezieht sich Molitor nicht auf die Bibel, sondern auf den Canon episcopi (c. XXVI, q. V), der dieses Problem auf einfache Weise löst, indem er sie mit der teuflischen Illusion, mit den Eindrücken und Darstellungen der vom Dämon hervorgerufenen Bilder erklärt: Aber wären doch nur diese Frauen allein in ihrem Unglauben zugrunde gegangen, und hätten sie nicht viele Menschen mit sich in den Untergang des Unglaubens hineingezogen!53

Bei der Frage, ob der Dämon sie von einem beliebigen Ort an den der Versammlung transportieren könne, kommt Dan 14,33–39 zu Hilfe, wo geschrieben steht, dass ein Engel des Herrn Habakuk bei den Haaren ergriff und ihn nach Babylonien transportierte, sowie auch Apg 8,39f., wonach der Geist des Herrn Philippus entrückte, weswegen 51

52

53

(…) quodque maledictae mulieres quandoque comprehensae asseruerunt in torturaque recognoverunt! ob! invidiam! parentum! (…). Audisti quod confessionibus talibus per metum extortis non saturabor, quid igitur aliud rationis seu auctoritatis in medium adducis? Ebd., 40. Zu den Gedankengängen vgl. ebd., 45–50.75.78.87. Unter den vielen verschiedenen Bereichen des Wissens, mit denen die Hexerei eine enge Verbindung einging und in denen sie in der frühen Neuzeit bedeutende Spuren hinterließ, befindet sich die Geschichte der Sinne und insbesondere diejenige des Sehsinnes, vgl. dazu Stuart CLARK, „La storia della stregoneria e il senso della vista“, in „Non! lasciar! vivere! la! malefica“: Le streghe nei trattati e nei processi (secoli XIV–XVII) (hg. v. Dinora Corsi und Matteo Duni; Biblioteca di Storia 7; Florenz: Firenze University Press, 2008), 97–114. HARTMANN, Wolfgang, Hg., Das Sendhandbuch des Regino von Prüm (AQDGMA 42; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004), 421.

auen, die

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Dinora Corsi

man ihn später in Aschdod fand. Was sich bei ihren geheimen Versammlungen abspiele, wo sie speisen, trinken, sich gegenseitig nahe kommen und sich Wollust beschaffen, wie sie selbst unter der Folter zugeben, dabei geht Molitor auf Nummer sicher und bezieht sich wiederum auf den Canon episcopi und die Illusionen des Teufels.54 Mehrfach kehrt er zur tatsächlichen Macht der Dämonen zurück, um zu bekräftigen, dass sie diese nicht besitzen, außer Gott hätte es ihnen erlaubt oder anderweitig festgelegt, und deshalb könnten sie weder das Wetter beeinflussen noch den Menschen schaden. Noch viel weniger könnten dies die Hexen und nur deren eigene Dummheit überzeuge sie davon. Ihre Leichtgläubigkeit führe sie in die Irre, aber weder Unwetter, noch Hagelschlag oder andere Katastrophen könnten aufgrund ihres Tuns auftreten.55 Was das Wüten der Elemente betrifft, bleibt aber noch etwas zu klären: Wie ist es möglich, fragt er sich, dass ein ganzer Landstrich verwüstet werde, wenn doch nicht alle seine Bewohner der Todsünde anheim gefallen seien? Der Gerechte verdirbt mit dem Sünder, antwortet er und beruft sich auf Gen 19 (die Zerstörung von Sodom und Gomorra) und 2 Sam 24,15, wo David vor Gott sündigt, da er das Volk zählen lässt, woraufhin wegen seiner Schuld (nur der eines Einzelnen) Tausende Menschen sterben müssen. Da aber solche Frauen, wie der Text im Canon episcopi XXVI, q. V, sagt, Gott verleugnen und sich Satan hingeben, indem sie den Teufel verehren und ihm opfern, wer bezweifelt, dass ein jedes Dorf, in dem solche frevelhaften Frauen ungestört leben, jegliches Unglück und derartige Zerstörung aufgrund der Strafe der himmlischen Majestät zu fürchten habe?56

Es gibt also Situationen, in denen Gott eine derartige Bestrafung zulässt (Ijob 1,18f.), dennoch kann keine Katastrophe durch das Wirken solcher Frauen hervorgerufen werden, sondern nur durch den normalen Verlauf der Natur oder eben mit der Erlaubnis Gottes, der es in seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit zulässt, dass solche Strafen durch das Werk der Dämonen auftreten, entweder um die Menschen zu züchtigen oder um ihnen Möglichkeiten geistlicher Verdienste anzubieten. Molitor fährt in seinen Überlegungen fort und trifft auf einen neuralgischen, den Dämonologen wichtigen Punkt, zu dem Kramer oft seine einflussreiche positive Meinung geäußert hatte, nämlich ob der Teufel, wenn er solchen Frauen in menschlicher 54

55 56

MOLITOR, „De lamiis et pytonicis mulieribus“, 54: Sed utinam hae solae in perfidia perijssent, non multas secum ad infidelitatis interitum provocassent; 79: Utrum dictae mulieres conveniant ad convivia, mutuo bibant et comedant et sibi mutuo loquantur, ac se invicem cognoscant. Vgl. ebd., 65.68.75. Cum autem tales mulieres, ut ait textus in cap. Episcopi 26, quaestione quinta, Deum abnegant et se satanae tradunt, diabolum adorantes, et sacrificia sibi offerentes, quis dubitat quin una tota villa in qua tales sceleratae mulieres degunt et tollerantur, interficiora omnia et huiusmodi ruinam divinae ex maiestatis ultione timere habeat (ebd., 73). Die Forschung zur Natur und ihren Grenzen war Teil des geistigen Horizonts der Hexenjäger, die ja darauf abzielten, von den Dämonen hervorgerufene sogenannte übernatürliche Vorgänge zu erkennen und diese sowohl von den ganz natürlichen Ereignissen als auch von den Wundern zu unterscheiden.

Frauen, Bibel und Dämonologie im 15. Jahrhundert

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Gestalt beischläft, mit ihnen Geschlechtsverkehr haben kann und ob aus diesem Verhältnis Kinder entstehen könnten. Der Autor des De lamiis bezweifelt, dass ein menschliches Wesen aus dem Zusammensein eines Inkubus mit einer Frau entstehen kann. Nur Jesus wurde von einer Frau, von Maria, durch das Wirken des Heiligen Geistes geboren.57 Am Ende seines Traktats bekräftigt er wiederum, dass, auch wenn diese maledictae mulieres keine Macht hätten, Übles zu bewirken, sie sich dennoch auf dämonische Anstiftung hin, aus Verzweiflung, Armut, Hass auf ihre Nachbarn oder wegen anderer Versuchungen, die der Teufel in ihnen hervorruft und denen sie nicht widerstehen können, von Gott entfernt haben. Sie bringen dem Bösen Opfergaben dar, womit sie Apostasie begangen haben und der Häresie verfallen sind. Aufgrund der Verwirrung ihres Willens hätten sie sich dem Teufel hingegeben. Diese Frevelhaften müssten nach dem bürgerlichen Recht mit dem Tode bestraft werden.58 Wegen Apostasie also müssen diese Frevelhaften bestraft werden, denn sie sind frevelhaft und Opfer des Dämons, aber nicht als Personifikationen alles Schlechten und als Ursache so vieler Übel für die Menschen, wie Kramer es sieht, denn sie wären bloß verzweifelte und arme Geschöpfe. Mir scheint, dass man Ulrich Molitor das Bestreben zugestehen kann, die sozialen und menschlichen Beweggründe zu verstehen, deretwegen die Frauen sich von Gott entfernen. Er beschließt seine Schrift am Ende mit der an sie gerichteten Aufforderung, sich des bei der Taufe ausgesprochenen Glaubensbekenntnisses zu erinnern, und gibt ihnen den Rat, sich mit dem Zeichen des Kreuzes zu verteidigen, wenn der Teufel sie jemals versuchen sollte. Sein De lamiis ist ein interessanter Versuch, eine ausgewogene Interpretation des Problems der Hexerei zu geben, und kann ohne Zweifel als Avantgarde einer zukünftigen Literatur angesehen werden, die – wenn auch noch durchdrungen von der Überzeugung der Existenz jener Frauen, die sich dem Teufel verschrieben haben – jedenfalls weit von den erbitterten Angriffen des Hexenhammers und der offiziellen dämonologischen Literatur entfernt ist. Das Buch versucht in substantieller Weise die Schäden zu begrenzen, welche die Hexenjagd hervorrief.59 Auf dem von Molitor eingeschlagenen Weg werden sich nach und nach Samuele de Cassinis, Giovanfrancesco Ponzinibio, Andrea Alciato und andere Autoren mit ihren skeptischen Traktaten bewegen, in denen sie über die Wirklichkeit der Hexerei und die Übeltaten der Hexen schreiben. Es sind Werke, in denen in expliziter oder impliziter Polemik gegen die Leichtgläubigen und die Inquisitoren auch deutliche Zweifel in Bezug auf Hexerei und deren Verbrechen formuliert wurden. 57

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An Diabolus possit in forma hominis cum huiusmodi mulieribus commisceri? (…) Dico quod ex incubo et muliere non procreatur homo. Nec unquam inventus est homo qui ex spiritu et muliere natus sit, praeterque Salvator Dominus noster Iesus Christus qui summi Dei patris misericordia dignatus est sine commistione virili de spiritu sancto ex gloriosissima vergine in mundo nasci (ebd., 82f.). Vgl. ebd., 89; er bezieht sich auf das Gesetz De maleficis et mathematicis, in Corpus Iuris Civilis Iustinianei (C. 9,18,6). Vgl. PASTORE, La fabbrica delle streghe, 166.

auen, die

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Dinora Corsi

Dennoch sind einige Jahrzehnte nötig, bis ein Meilenstein in der Verteidigung der der Hexerei angeklagten Frauen erscheint. Man muss bis zum Jahr 1563 warten, als Johann Wier in Basel sein De praestigiis daemonum et incantationibus ac veneficiis herausgibt.60 Mit diesem Traktat und mit den Waffen der Vernunft wollte der Schüler von Cornelius Agrippa von Nettesheim die dämonologische Polemik auf ihre Wurzeln zurückführen: Seiner Ansicht nach war der Moment gekommen, den Malleus maleficarum wegzulegen und zum malleus daemonum zu greifen. Die Hexen seien nicht verantwortlich für irgendein Vorkommnis, wenn nicht für ihre eigene Leichtgläubigkeit, die allerdings von bei ihnen anzutreffenden medizinischen Gegebenheiten bedingt sei. Sie sollten also nicht der Verurteilung zur Todesstrafe anheimfallen, da sie ja Opfer der Macht Satans seien. Um diese Argumentation und die Forderung, sie nicht zum Tod zu verurteilen, noch deutlicher zu betonen, verweist Wier ebenfalls auf Ex 22,18 und zeigt, dass gemäß der Version der Septuaginta der im Vers gebrauchte Terminus (#$%&$'*+- */ 23%42*467383) männlich ist und deshalb auf die Magier und nicht auf die Hexen zu beziehen sei.61 Später, genauer im Jahr 1577, sollte er ein Kompendium seines weitgefassten Traktats herausgeben, in dem er unter dem Titel De lamiis kurz die umstrittenen Argumente bezüglich der Hexen darstellte, und es mit folgenden Worten eröffnen: Ich kann Gott, dem Größten und Besten, nicht genug danken für einen solchen Reichtum an Argumentationen, den er meiner Feder verliehen hat, durch deren Verbreitung es möglich war, die Grausamkeit abzumildern, die gegen unschuldiges Blut wütete, und dem Gemetzel menschlicher Wesen ein Ende zu setzen, das nichts anderes als ein Werk des Dämons war in seiner furchtbaren Grausamkeit und seiner Tyrannei; und dies ist in Wahrheit das beste Opfer, welches man [Gott] darbringen kann.62

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Johann WIER (oder WEYER), De praestigiis daemonum, et incantationibus, ac veneficiis: Libri V (Basel: Oporinus, 1563). Zu Wier siehe Michaela VALENTE, Johann Wier: Agli albori! della! critica! razionale! dell’occulto! e! del! demoniaco (Studi e testi per la storia religiosa del Cinquecento 12; Florenz: Olschki, 2003), und DIES., „La critica alla caccia alle streghe da Johann Wier a Balthasar Bekker“, in „Non! lasciar! vivere! la! malefica“: Le streghe nei trattati e nei processi (secoli XIV–XVII) (hg. v. Dinora Corsi und Matteo Duni; Biblioteca di Storia 7; Florenz: Firenze University Press, 2008), 67–82. Zum Skeptizismus und der Kritik an der Hexenjagd vgl. Matteo DUNI, „Skepticism“, in Encyclopedia of Witchcraft: The Western Tradition (hg. v. Richard M. Golden; 4 Bde; Santa Barbara: ABCClio, 2006), 4:1044–1050, sowie Hartmut LEHMANN und Otto ULBRICHT, Hg., Vom Unfug des Hexen-Processes: Gegner der Hexenverfolgung von Johann Weyer bis Friedrich Spee (Wolfenbütteler Forschungen 55; Wiesbaden: Harrassowitz, 1992). Johann WIER, Opera omnia: Quorum contenta versa pagina exhibet: Accedunt indices rerum & verborum copiosissimi (Amsterdam: Vanden Berge, 1659 [Editio nova et hactenus desiderata]), 196ff. Satis justas Deo optimo maximo gratias agere nequeo, quod meo calamo tale suppeditarit scribendi argumentum, cuius publicatione effectum sit, ut et plurimis in locis deferbuerit saevitia grassandi in sanguinem innocentem: et truculenta atrocitas ac diaboli tyrannis a laniena humana, qua nullum ipsi fragrantius est holocaustum, arceatur (ebd., 673).

Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess Constant J. Mews, Monash University und Carmel Posa, University of Notre Dame Australia Heloisa (ca. 1095–1164) ist den meisten vor allem als Geliebte und intellektuelle Partnerin des umstrittenen Philosophen und Theologen Petrus Abaelardus (1079–1142) bekannt. Den Großteil ihres Lebens verbrachte sie jedoch in klösterlichen Institutionen, wo ihr Leben natürlich stark von der Bibel geprägt war: Sie hörte und sang die Texte im Rahmen der Klosterliturgie und studierte sie im Rahmen der lectio divina, die im Benediktinerorden sehr wichtig war (vgl. Benediktsregel 48). Als junges Mädchen erhielt sie ihre erste Erziehung im Benediktinerkloster von Argenteuil und später im Kloster der Kathedrale von Notre-Dame in Paris; dort lebte sie im Haus ihres Onkels Fulbert, der Abaelardus als ihren Privatlehrer engagierte. Die Beziehung zwischen den beiden entwickelte sich aus einem intensiven Briefwechsel (ca. 1115–17); Heloisa wurde schließlich schwanger und gebar den gemeinsamen Sohn Astralabius. Nach einer gewissen Zeit des Widerstandes ergab sie sich dann doch Abaelardus’ Drängen auf Heirat; nach der geheimen Eheschließung ging sie zurück nach Argenteuil. Für die Klausur entschied sie sich jedoch erst, als Abaelardus kastriert worden und in St. Denis ins Kloster eingetreten war (ca. 1117/18). Später wurde sie Priorin der Gemeinde. Nach 1129, als Suger von Saint-Denis die Nonnen vertrieb, um sie durch Mönche seiner eigenen Abtei zu ersetzen, übernahm sie das Paraklet-Kloster, das Abaelardus ursprünglich als Eremitage für sich selbst und seine Schüler vorgesehen hatte. Unter ihrer Leitung wurde es als Benediktinerkloster anerkannt, dessen angesehene Äbtissin sie wurde. Sowohl die ersten Liebesbriefe zwischen Heloisa und Abaelardus als auch ihre spätere Korrespondenz sind vom biblischen Text durchdrungen.1 In beiden Sammlungen 1

Die Liebesbriefe wurden zuerst herausgegeben von Ewald KÖNSGEN, Epistolae duorum amantium: Briefe Abaelards und Heloises? (MLST 8; Leiden: Brill, 1974), ein Nachdruck mit Übersetzung von Constant J. Mews und Neville Chiavaroli findet sich bei Constant J. MEWS, The Lost Love Letters of Heloise and Abelard: Perceptions of Dialogue in TwelfthCentury France (New York: Palgrave Macmillan, 22008), 215–313. Verweise auf die Epistolae benutzen diese 2. Auflage; sie enthält ein Zusatzkapitel, „New Discoveries and Insights (1999–2007)“, 179–202: Hier werden neue Entdeckungen seit der ersten Auflage von 1999 zusammengefasst, die Abaelardus und Heloisa als Autoren der Briefe identifizieren. Die spätere Korrespondenz findet sich in ABAELARDUS, Historia Calamitatum (hg. v. Jacques Monfrin; Paris: Vrin, 1962). Historia calamitatum [HC] und Briefe 2–8, in ABAELARDUS und HELOISA, Lettres d’Abélard et Héloïse (hg. v. Éric Hicks und Thérèse Moreau; Paris: Librairie Générale Française, 2007), englische Übersetzung: ABAELARDUS, The Letters of Abelard and Heloise (übers. v. Betty Radice, rev. v. Michael Clanchy; London: Penguin, 2003). Brief 9, in ABAELARDUS, Letters IX–XIV: An Edition with an Introduction (hg. v. Edmé R. Smits; Groningen: Bouma, 1983), 219–237; englische Übersetzung: Jan M. ZIOLKOWSKI, Letters of Peter Abelard: Beyond the Personal (Medieval Texts in Translation; Washington: Catholic University of America Press, 2008), 10–33. Zu

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Constant J. Mews und Carmel Posa

bezieht sich Heloisa – direkt oder indirekt – auf die Heilige Schrift, um ihre Argumente Abaelardus gegenüber zu bekräftigen. Besonders in den früheren Briefen bewegt sie sich frei zwischen direkten Zitaten aus der Bibel und Anspielungen auf sie, mit derselben Leichtigkeit wie alle anderen monastischen Schriftsteller ihrer Zeit. In den Problemata Heloissae hingegen finden wir konkrete Hinweise darauf, auf welche Weise Heloisa für ihre Paraklet-Gemeinde die Bibel studierte.2 Dieses Werk lässt besonders gut die Grundeigenschaften jener Studien erkennen, zu denen Abaelardus sie aufgefordert hatte und die sie voller Glauben und Gehorsam vorantrieb. Die Fragen, die in den Problemata gestellt werden, stehen jedoch für Besorgnisse, die Heloisa ihr ganzes Leben lang beschäftigten und die immer wieder in ihren Briefen auftauchen. Sie zeugen von ihrer ethischen Interpretation der Bibel und konzentrieren sich auf die Bestrebung, im Angesicht der Sünde die Integrität des eigenen Lebens zu bewahren, sowie auf die Bedeutung der Liebe, besonders im Hinblick auf die „Freiheit des Evangeliums“.

1. Die verlorenen Liebesbriefe Heloisas lebenslange Beschäftigung mit den ethischen Anforderungen der Bibel zeigt sich zum ersten Mal in der umfangreichen Sammlung von über hundert Briefen und Gedichten, die als Epistolae duorum amantium bekannt sind. Im frühen 12. Jh. wurden sie von einem kontroversen magister und seiner brillanten Schülerin verfasst, die er im 50. Brief als Soli inter omnes etatis nostre puellas philosophie discipule3 bezeichnet. Am Anfang jener Briefe nutzt die junge Frau das Hohelied als reichhaltige Quelle für Bilder, mit denen sie ihren Geliebten ansprechen kann. Vor allem geht es ihr darum, die enge Verbindung zwischen ihrem Herzen und ihrem Körper zu betonen: Amori suo precordiali omnibus aromatibus dulcius redolenti, corde et corpore sua: arescentibus floribus tue juventutis, viriditatem eterne felicitatis.4

Während Abaelardus in seinen Briefen vor allem auf extravagante Weise seine leidenschaftliche Liebe betont, legt Heloisa mehr Wert darauf, die spirituelle Ernsthaftigkeit ihrer Hingabe hervorzuheben. In die Grußformel des neunten Briefes packt sie eine

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Heloisas Lese- und Schreibausbildung im Vergleich zu anderen Frauen ihrer Zeit vgl. Constant J. MEWS, „Women Readers in the Age of Heloise“, in Die lesende Frau (hg. v. Gabriela Signori; Wolfenbütteler Forschungen 120; Wiesbaden: Harrassowitz, 2009), 81– 111. Problemata Heloissae, PL 178,677b–730b. Englische Übersetzung: Elizabeth M. MCNAMER, The Education of Heloise (Lewiston: E. Mellen Press, 1991), 111–183. „The only disciple of philosophy among all the young women of our age“ Brief Nr. 50 (Mews, 254). „To her heart’s love, more sweetly scented than any spice, she who is his in heart and body: the freshness of eternal happiness as the flowers fade of your youth.“ Brief Nr. 1 (Mews, 214).

Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess

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ganze Reihe von biblischen Anspielungen, hier auf Joh 5,35 und Mt 5,14 sowie auf 1 Kor 9,24: Ardenti lucerne, et civitati supra montem posite: sic pugnare ut vincat, sic currere ut comprehendat.5

Nun macht sie sich die Sprache des Begehrens zu Eigen, die sie in den Psalmen vorfindet: Sicut lassus umbram, et siciens desiderat undam, ita te desidero videre. 6

Dass sie wiederholt Gott als Zeugen für die Ernsthaftigkeit ihrer Liebe anruft, lässt den großen Idealismus erkennen, den sie in diese Liebesbeziehung investiert. Dieser Idealismus wird schon früh auf eine harte Probe gestellt, als sie herausfindet, dass Abaelardus nicht immer dieselben hohen Standards der selbstlosen Liebe einhält, die sie für sich selbst aufgestellt hat.7 Der Bezug auf das Hohelied zieht sich durch die gesamte Korrespondenz. Im 84. Brief verwendet sie Texte daraus, um einen Moment von großer rhetorischer Intensität zu schaffen: tu solus michi placebas supra omnem dei creaturam, teque solum dilexi, diligendo quesivi, querendo inveni, inveniendo amavi, amando optavi, optando omnibus in corde meo preposui, teque solum elegi ex milibus, ut facerem tecum pignus.8

Bei der Formulierung könnte Heloisa von einer ähnlichen Adaption des Hohelieds inspiriert worden sein, die beim Offizium für die heilige Agnes benutzt wurde; jedenfalls findet sich das Material auch in Epithalamica, einer für den Paraklet (ob von Abaelardus oder Heloisa, bleibt unklar) verfassten Sammlung.9 Welchen Einfluss die Bibel auf die junge Heloisa ausübte, zeigt sich besonders deutlich in ihrer Wortwahl zur Beschreibung der Liebe. Während ihr Lehrer seine Liebe zu ihr als intensiven und grenzenlosen amor bezeichnet, ist sie von der Verbindung zwischen amor und zwei biblischen Schlüsselbegriffen, dilectio und caritas, fasziniert. Die Grußformel zum Abschluss ihrer ersten langen Diskussion über die

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„To a burning lamp and city set on a hill: may he fight in order to conquer, run in order to win.“ Brief Nr. 9 (Mews, 218). „Just as the weary desire shade and the thirsty long for water, so I desire to see you.“ Brief Nr. 6 (Mews, 216). Siehe Brief Nr. 11 (Mews, 220). „Only you have pleased me above all God’s creatures and only you have I loved. Through loving you, I searched for you; searching for you, I found you; finding you, I desired you; desiring you, I chose you; choosing you, I placed you before everyone else in my heart, and picked you alone out of thousands, in order to make a pledge with you.“ Brief Nr. 84 (Mews, 286). Vgl. Thomas J. BELL, Peter Abelard after Marriage: The Spiritual Direction of Heloise and Her Nuns Through Liturgical Song (CistSS 211; Kalamazoo: Cistercian Publications, 2007), 65.

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Constant J. Mews und Carmel Posa

Liebe entspinnt sich aus Eph 3,17, und die feinsinnige Synthese aus diesen drei Begriffen ist schwierig zu übersetzen: Dulcissimo anime sue presidio, et in eius caritatis radice plantato, illa in cuius dilectione firmiter es constitutus, et in cuius mellifluo amoris sapore bene fundatus: quod ab ira distat et odio.10

Was die römischen Liebesdichter als amor zelebrierten, ist für Heloisa tief in der selbstlosen caritas und dilectio verankert, die Christus selbst verkörpert habe. Mit diesem Brief fordert sie von ihrem Lehrer eine Antwort auf ihre Frage nach der Natur von amor: Er leitet seine Definition zwar größtenteils aus der Liebesdefinition in Ciceros De amicitia ab, passt sie aber an die Begrifflichkeiten der Dialektik an und behauptet, dass diese Liebe nur bei ihnen beiden vorkomme. Der Lehrer verweist hier auf den einen Satz aus Ciceros De amicitia, den Abaelardus in Sic et Non (134,21) zusammen mit vielen Texten von Augustinus über die caritas nennt. Daraus ergibt sich erstens, dass dieser junge liebende Philosoph tatsächlich Abaelardus ist, und zweitens, dass sein frühes Liebesverständnis viel weltlicher ist als ihre idealistische, von der Bibel und der klassischen Literatur geprägte Sicht. In ihrer Antwort (Brief Nr. 25) verfolgt sie den Gedanken, dass verus amor nie völlig umgesetzt werden könne, indem sie Teile aus einem Brief von Hieronymus an Rufinus zum Thema der wahren Freundschaft zitiert. Die dilectio dieser beiden war dazu bestimmt, immer weiter zu wachsen. Die junge Heloisa verfügte über genug Zeit, um ihre Briefe in einem gereimten Prosastil zu verfassen, der in der monastischen Literatur üblich war, aber im scholastischen Milieu des 12. Jh. immer mehr aus der Mode kam, und kannte auch das Alte Testament sehr gut. Auf einen besonders leidenschaftlichen Brief (Nr. 26), in dem ihr Liebhaber ihren Körper als „so voller Feuchtigkeit“ bezeichnet und sie auffordert: „Enthülle, was du versteckt hast, decke auf, was du verborgen hältst“, antwortet sie mit einer Aufforderung zur Tugendhaftigkeit und Anspielungen auf Bibelfiguren: Oculo suo: Bezelielis spiritum, trium crinium fortitudinem, patris pacis formam, Idide profunditatem.11

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„To the sweetest protector of her soul, planted at the root of her caring love, she in whose love you are firmly established and in whose honeyed taste of love you are well founded: whatever is far from anger and hate.“ Brief Nr. 23 (Mews, 228). „To her eye: the spirit of Bezalel [der in Ex 31,2 gepriesene Künstler], the strength of the three locks of hair [der für sein Haar berühmte Simson, Ri 16,13–17], the beauty of the father of peace [Abschalom, wörtlich „Friedensvater“, 2 Sam 14,25], the depth of Ididia [Jedidja, „Liebling JHWHs“, ist nach 2 Sam 12,25 der Name für Salomo].“ In den Anmerkungen zum Brief Nr. 27 (Mews, 236) wird der Bezug auf Ididia Isidors Etymologiae 7,6,65 zugeordnet. Wahrscheinlicher ist, dass er direkt von Hieronymus inspiriert war, vielleicht von seinem Kommentar zu Ez 14,48, vgl. HIERONYMUS, Commentariorum in Hiezechielem libri XIV et Commentariorum in Danielem libri III (hg. v. Franciscus Glorie; CChr.SL 75; Turnhout: Brepols, 1964), 734 (Zeile 1722), einem Text, den Abaelardus genau zu dieser Zeit konsultierte.

Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess

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In einem seiner Briefe hatte Hieronymus Salomos moralische Reinheit als Ididia bezeichnet und sie der sexuellen Zügellosigkeit des Ahas als spezifisches Gegenbeispiel gegenübergestellt.12 Die junge Heloisa benutzt in ihrem scharfen Kommentar Hieronymus’ starkes Interesse für die Hebraica veritas der Bibel dazu, Abaelardus an deren ethische Lehren zu erinnern. In Heloisas frühen Briefen sind die Verweise auf die Bibel so zahlreich, dass hier nicht alle dokumentiert werden können. Die zweite Hälfte der Korrespondenz zeugt von einer Beziehung, die immer mehr Spannungen aufweist: Abaelardus versucht, sich aus der Intensität dieser Beziehung zurückzuziehen, während Heloisa gegenüber seiner Widerspenstigkeit auf ihrer Treue beharrt. In ihrem letzten Brief (112a): Ubi est amor et dilectio, ibi semper fervet exercicium („Where there is passion and love, there always rages effort“) stellt sie absichtlich einen Bezug zwischen der Schwierigkeit ihrer Beziehung und dem Beispiel Christi her, das am Gründonnerstag mit dem Lied Ubi caritas et amor, Deus ibi est zelebriert wird. Abaelardus erweckte in ihr zwar große Gefühlsregungen, aber sie fand darin nicht die spirituelle Erfüllung, nach der sie sich sehnte.

2. Die spätere Korrespondenz In den späteren Briefen verwendet Heloisa die Bibel nicht weniger deutlich als zuvor. Mit den Auszügen aus der Heiligen Schrift verfolgt sie vor allem zwei Ziele: Das erste ist, die Beziehung zwischen Abaelardus und ihr selbst zu definieren, aber auch sein Verhältnis zu ihrer Gemeinde, deren Gründer und spiritueller Führer er ist. Im zweiten Brief z. B. verwebt sie ihren Text mit den Worten aus dem Matthäusevangelium, indem sie über ihre Gemeinde schreibt: Doces et ammones rebelles, nec proficis; frustra ante porcos divini eloquii margaritas spargis. Qui obstinatis tanta impendis, quid obedientibus debeas considera; qui tanta hostibus largiris, quid filiabus debeas meditare.13

Das zweite Ziel betrifft die Wahrung ihrer eigenen Integrität. Wie schon in den Liebesbriefen, in denen es um ihre Liebesbeziehung zu Abaelardus geht, so verteidigt sie hier die Integrität ihrer Identität als Nonne angesichts des recht unorthodoxen Eintritts der beiden ins religiöse Leben. Im zweiten und vierten Brief, in denen ihr die Bibel als Resonanzboden für ihr Gewissen dient, analysiert sie ihre eigene Gedankenwelt ganz genau, besonders im Hinblick auf ihre Berufung ins Kloster und ihre fortdauernde 12

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Ep. 72,3; in HIERONYMUS, Epistulae LXXI–CXX (hg. v. Isidor Hilberg; CSEL 55; Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, 21996), 10. „Du lehrst und mahnst die Empörer und richtest nichts aus. Vergeblich wirfst du die Perlen des göttlichen Worts vor die Säue. Der du für Widerspenstige so viel aufwendest, betrachte, was du den Gehorsamen schuldig bist. Deinen Widersachern schenkst du so reichlich, bedenke, was du deinen Töchtern schuldig bist!“ Brief Nr. 2 (Hicks, 142; deutsche Übersetzung: ABAELARDUS, Der Briefwechsel mit Heloisa [übers. u. hg. v. Hans-Wolfgang Krautz; Stuttgart: Reclam, 1989], 63); vgl. Mt 7,6.

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Liebe zu Abaelardus. Besonders deutlich wird diese Art des Bibelbezugs im vierten Brief, in dem sie sich anhand der Beispiele sündhafter Frauen wie Delila und der Frau des Ijob systematisch verurteilt und die Integrität ihrer eigenen Berufung als Nonne in Frage stellt.14 Ihr Widerstreit mit der Natur der Sünde bereitet ihr sorgenvolle Gedanken, die sie ihrem spirituellen Führer Abaelardus in monastischer Tradition offenbart. Sie konzentriert sich hierbei besonders auf die Freude, die sie an ihrer Liebe zu Abaelardus empfindet, eine Sünde, die sie weder bereuen kann noch wird. Wiederum in Bezug auf Ijob schreibt sie: Quomodo etiam penitentia peccatorum dicitur – quantacumque sit corporis afflictio –, si mens adhuc ipsam peccandi retinet voluntatem, et pristinis estuat desideriis? … Unde et merito sanctus Job cum premisisset: „Dimittam adversum me eloquium meum“ (id est: laxabo linguam et aperiam os per confessionem in peccatorum meorum accusationem), statim adjunxit: „Loquar in amaritudine anime mee.“15

Es geht hier nicht einfach darum, einen Mangel an Reue einzugestehen. Mit der Haltung von Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein tritt sie Gott bescheidener gegenüber als jene, die ihre Reue nur vorspielen. Indem sie sich Paulus’ Brief an die Römer zu Eigen macht, schreit sie ihren Wunsch heraus, aus ihrem eigenen Unglück befreit zu werden: O vere me miseram et illa conquestione ingemiscentis anime dignissimam: „Infelix ego homo! quis me liberabit de corpore mortis hujus?“ Utinam et quod sequitur veraciter addere queam: „Gratia Dei per Jhesum Christum Dominum nostrum.“16

Aus dieser bescheidenen Position heraus zeigt sie sich dem Leser als eine Frau, die ihre eigenen Gedanken und Handlungen im Spiegel der Heiligen Schrift betrachtet.17 Da sie sich Gottes prüfender Anwesenheit bewusst ist, will sie die Heuchelei vermeiden, die aus der Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und innerer Realität entsteht. Dennoch verkehrt sie ihre eigene Verurteilung ins Gegenteil, als sie die wahre Natur dieser Heuchelei infrage stellt. Bei ihrer Suche begleiten sie die Worte der Psalmen, die sie vom täglichen Rezitieren im Rahmen der klösterlichen Liturgie so gut kennt: 14 15

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Vgl. Brief Nr. 4; Hicks, 176 (Radice, 67). „Wie kann man da von wahrer Reue sprechen, wo das Herz den Willen zur Sünde noch festhält und in den alten Sehnsüchten glüht? ... Darum, wenn der fromme Hiob sagt: ‚Ich will meine Klage bei mir gehen lassen!‘ d. h., ich will meine Zunge lösen und meinen Mund öffnen im Bekenntnis zur Anklage meiner Sünden, so fügt er mit Recht hinzu: ‚Ich will reden in der Betrübnis meiner Seele.‘“ Brief Nr. 4; Hicks, 178 (Krautz, 85f.); vgl. Ijob 10,1. „O ich wahrhaft Elende, die ich jenen Seufzer einer jammervollen Seele verdiene: ‚Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?‘ O könnte ich auch die darauffolgenden Worte aus vollem Herzen nachsprechen: ‚Die Gnade Gottes durch Jesum Christum, unsern Herrn.‘“ Brief Nr. 4; Hicks, 180 (Krautz, 86f.); vgl. Röm 7,24. Vgl. Brooke Heidenreich FINDLEY, „Sincere Hypocrisy and the Authorial Persona in the Letters of Heloise“, Romance Notes 45 (2005): 281–292.

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Aliquid laudis apud homines habens, nichil apud Deum mereor, qui cordis et renum probator est et in abscondito videt. Religiosa hoc tempore judicor in quo jam parva pars religionis non est ypochrisis, ubi ille maximis extollitur laudibus qui humanum non offendit judicium.18

Die Psalmen lehren Heloisa das ethische Verhalten Gott gegenüber, das sie selbst so beschreibt: sicut scriptum est: „Declina a malo, et fac bona.“19 Während sich ihr die tiefere Bedeutung dieser Texte immer mehr erschließt, erkennt sie, dass die Grundlage jedes Verhaltens die Gottesliebe sein muss. So fügt sie hinzu: Et frustra utrumque geritur quod amore Dei non agitur.20 Bei ihrer Bibellektüre muss Heloisa diese Grundorientierung bei behalten haben: die Integrität des eigenen Verhaltens zu finden durch die Prüfung der inneren Intention, die sich immer nach dem Liebesgebot des Evangeliums richten muss. Ihre erste Bitte an Abaelardus, den spirituellen Führer der Parakletgemeinde, betrifft eine historische Darstellung religiöser Frauen. Die zweite ergibt sich aus der Tatsache, dass die Benediktsregel speziell für Männer geschrieben worden war. Sie erbittet von ihm also eine Klosterregel, die sich spezifisch an die Bedürfnisse der Frauen richtet, und beschreibt einige Details dieser Regeln gleich selbst.21 Den Kampf gegen die Heuchelei, den Heloisa im vorherigen Brief so persönlich beschrieben hat, betreibt sie nun weiter, diesmal bezüglich der Regeln und Vorschriften für das religiöse Leben im Kloster.22 Heloisa scheint jene kritisieren zu wollen, die glauben, ein Leben nach der Benediktsregel bedeute lediglich das wörtliche Befolgen der Vorschriften, und dabei das Grundethos der Regel außer Acht lassen. Durch kühnen Gebrauch der Heiligen Schrift gibt sie ihren Argumenten weitere Nahrung: Quod si predicte Regule tenor a nobis impleri non potest, vereor ne illud apostoli Jacobi in nostram quoque damnationem dictum sit: „Quicumque totam Legem observaverit, offendat autem in uno, factus est omnium reus.“23

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„Bei den Menschen habe ich ein gewisses Ansehen, vor Gott aber, der Herz und Nieren prüft und ins Verborgene sieht, habe ich kein Verdienst. Man nennt mich fromm zu einer Zeit, in der nur der geringste Teil der Frömmigkeit nicht Heuchelei ist; wo der mit höchsten Lobsprüchen gepriesen wird, der im menschlichen Urteil keinen Anstoß erregt.“ Brief Nr. 4; Hicks, 182 (Krautz, 87); vgl. Ps 7,10. „As it is written: ‚Turn from evil and do good.‘“ Brief Nr. 4; Hicks, 182 (Radice, 69); vgl. Ps 37,27. „Both are vain if not done for love of God.“ Brief Nr. 4; Hicks, 182 (Radice, 69). Vgl. Brief Nr. 6; Hicks, 230 (Radice, 94). Vgl. Carmel POSA, „Specialiter: The Language of the Body and Bodies in the Letters of Heloise“, Magistra: A Journal of Women’s Spirituality in History 11/1 (2005): 3–25. „Können wir aber nicht den ganzen Anspruch der Regel erfüllen, so fürchte ich, es möchte in jenem Worte des Apostels Jakobus auch unsere Verurteilung ausgesprochen sein: ‚So jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an einem, der ist’s ganz schuldig.‘“ Brief Nr. 6; Hicks, 232 (Krautz, 118f.). Heloise wird dieses Zitat in den Problemata erneut, und aus exakt denselben Gründen, verwenden.

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Sie stellt hier die wörtliche Lesart an sich in Frage, nicht nur in Bezug auf die Klosterregeln, sondern auch auf die Bibel selbst. Aus einem wörtlichen Verständnis des Jakobusbriefes – oder in diesem Fall auch der Benediktsregel – würde folgen, dass jeder, der gegen ein einziges Gebot verstößt, genauso bestraft wird wie jemand, der alle Regeln bricht. Eine wörtliche Auslegung des Jakobusbriefes erscheint also nicht angebracht, und so nutzt Heloisa alternative biblische Quellen, um gegen die Verurteilung ihrer monastischen Berufung zu argumentieren. Paulus’ Einstellung gegenüber dem Gesetz im Römerbrief bietet ihr reichlich Material: Der Glaube an Christus stehe über dem mosaischen Gesetz.24 Aus Heloisas Konzentration auf die Heilige Schrift geht hervor, dass die Grundintention der Gottesliebe das Fundament aller Handlungen bilden solle. Das Evangelium ist für sie der einzige wirkliche Bezugspunkt, jenseits aller anderen Gesetze, Regeln oder Vorschriften. Sie merkt an: Nichil quippe inter Judeos et Christianos ita separat sicut exteriorum operum et interiorum discretio, presertim cum inter filios Dei et diaboli sola caritas discernat, quam plenitudinem legis et finem precepti Apostolus vocat.25

Das Ziel des spirituellen Lebens sind also die Liebe und die Intention, und nicht einfach nur das Gesetz. Heloisa betont dieses Konzept erneut unter Bezugnahme auf die Psalmen und Paulus und warnt den Leser/die Leserin, dass Gott alles über unsere inneren Beweggründe wisse: Non itaque magnopere que fiunt, sed quo animo fiant pensandum est, si illi placere studemus, qui ‘cordis et renum probator est’, et ‘in abscondito videt’, ‘qui judicabit occulta hominum, Paulus inquit, secundum Evangelium meum’, hoc est: secundum mee predicationis doctrinam.26

Wie immer stellt sie das Wesen der Sünde und des ethischen Verhaltens in den Mittelpunkt ihrer Argumentation, um ihr eigenes Leben zu rechtfertigen. Wenn etwas aus Liebe getan werde, könne es keine Sünde sein. Als Äbtissin einer Frauengemeinde

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Vgl. z. B. Brief Nr. 6; Hicks, 240 (Radice, 98). Hier flicht sie Röm 4,15 und 5,20 in ihre Argumentation ein. „Nichts unterscheidet Christen und Juden so sehr als die Trennung von äußeren und inneren Werken; denn die Liebe allein, die der Apostel des Gesetzes Erfüllung und Ende nennt, scheidet die Söhne Gottes von denen des Teufels.“ Brief Nr. 6; Hicks, 252 (Krautz, 130). Heloisas antisemitischer Tonfall mag für moderne LeserInnen schockierend sein, zeugt aber nicht unbedingt von einer antisemitischen Einstellung: Er spiegelt vielmehr die kognitiven Grenzen der christlichen Theologie des 12. Jh. wider. „Wir müssen also weniger abwägen, was geschieht, als aus welcher Gesinnung es geschieht, wenn wir dem gefallen wollen, der Herz und Nieren prüft und im Verborgenen sieht, der, wie Paulus sagt, ‚richten wird das Verborgene der Menschen laut meines Evangeliums‘, d. h. nach der Lehre meiner Predigt.“ Brief Nr. 6; Hicks, 262 (Krautz, 135); vgl. Ps 7,10 und Röm 2,16.

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rechtfertigt sie den Kampf mit der Integrität, den sie in den vorherigen Briefen ausgetragen hat: Nisi enim prius prava voluntate animus corrumpatur, peccatum esse non poterit, quicquid exterius agatur in corpore.27

Der Kern von Heloisas Argument ist hier das Wesen der menschlichen Existenz (animus), nicht nur dessen ethische Handlungen. Hierzu schreibt Georgianna, dass Heloisa das, was sie die „Freiheit des Evangeliums“ nennt, den einengenden Vorschriften des Gesetzes gegenüberstellt. Sie argumentiert, dass die Liebe – und nicht das Gesetz – das Ziel des spirituellen Lebens sei. Vorschriften, die das äußerliche Verhalten regeln, seien unpassend und vielleicht sogar irrelevant für das Ideal der spirituellen Vollkommenheit.28 Mit einem Zitat aus dem Matthäusevangelium untermauert Heloisa ihre These: Alioquin Legis opera et servitutis ejus, sicut ait Petrus, importabile jugum, euvangelice libertati esset preferendum, et suavi jugo Christi et ejus oneri levi. Ad quod quidem suave jugum et onus leve per semetipsum Christus nos invitans: „Venite, inquit, qui laboratis et onerati estis“.29

Aus dem Evangelium hat Heloisa gelernt: wenn von Intention die Rede ist, geht es um die Liebe, nicht um die Last der Vorschriften oder die Anklage der Sünde. Aus dem Bibeltext bezieht sie die treibende Kraft, die ihr beim Verstehen der Fragen und Probleme des Lebens hilft.

3. Problemata Heloissae Im achten und neunten Brief, mit denen er auf Heloisas sechsten Brief antwortet, fordert Abaelardus die Äbtissin des Paraklet und ihre Nonnen zum Bibelstudium auf. Das Ziel des Lebens im Kloster, zu dem sowohl Abaelardus als auch Heloisa sich verpflichtet hatten, war die Verwandlung des Menschen durch das Liebesgebot der Evangelien. Diese auch in der Benediktsregel angestrebte Verwandlung erfolgte durch

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„For unless the spirit be first corrupted by evil intention, whatever is done outwardly in the body cannot be a sin.“ Brief 6; Hicks, 262 (Radice, 108). Vgl. Linda GEORGIANNA, „In Any Corner of Heaven: Heloise's Critique of Monastic Life“, in Listening to Heloise: The Voice of a Twelfth-Century Woman (hg. v. Bonnie Wheeler; New York: St. Martin"s Press, 2000), 187–216; 199. Siehe auch Adriana VALERIO, „Il dramma della coscienza: Eloisa“, in Cristianesimo al femminile: Donne Protagoniste nella Storia delle Chiese (hg. v. ders.; Neapel: D’Auria, 1990), 77–94. „Wo nicht, so müßten ja die Werke des Gesetzes und das, wie Petrus sagt, unerträgliche Joch seiner Knechtschaft der Freiheit des Evangeliums vorzuziehen sein: dem sanften Joch Christi und seiner leichten Last. Christus selbst lädt uns ein zu diesem sanften Joch, zu dieser leichten Last: ‚Kommet her zu mir‘, ruft er, ‚alle, die ihr mühselig und beladen seid.‘“ Brief Nr. 6; Hicks, 264 (Krautz, 136f.); vgl. Apg 15,10 und Mt 11,28.

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einen graduellen Prozess der Anpassung an die Heilige Schrift. Im achten Brief benutzt Abaelardus die Spiegelmetapher Gregors des Großen, um sein Ziel hervorzuheben: Hoc nobis speculum beatus commemorans Gregorius in II Moralium ait: „Scriptura sacra mentis oculis quasi quoddam speculum opponitur, ut interna nostra facies in ipsa videatur, ubi etenim feda, ibi pulcra nostra cognoscimus. Ibi sentimus quantum proficimus, ibi a profectu quam longe distamus.“30

Da die Benediktsregel sehr stark auf die Heilige Schrift Bezug nimmt, war die Kenntnis der Bibel für das Leben im Kloster zwingend notwendig. Weder das christliche Leben, wie es in der Bibel beschrieben wird, noch die Regel, die eine Anleitung zum Leben im Kloster darstellt, konnten ohne Bibelstudium verstanden werden. Die Problemata Heloissae beinhalten neben einem Einleitungsbrief von Heloisa zweiundvierzig Fragen, oder Probleme, die sich ihr und ihrer Gemeinde beim Studium der Bibel gestellt hatten. Auch Abaelardus’ Antworten auf jedes dieser Probleme sind enthalten.31 In ihrer Einleitung erwähnt Heloisa die monastische Tradition der Frauen der Vergangenheit sowie deren Verhältnis zu ihren geistlichen Vätern, um wieder einmal Abaelardus an seine Rolle als spiritueller Führer der Gemeinde und ihres Bibelstudiums zu erinnern. Sie zitiert das Beispiel der römischen Frauen im Umfeld des Hieronymus, besonders Marcella und Asella, die ihrem spirituellen Führer und Leiter Fragen stellten. Hier positioniert Heloisa sich selbst wirkungsvoll als Marcella und weist Abaelardus die Rolle des Hieronymus zu. Abaelardus hatte sich schon in der Vergangenheit mit diesem identifiziert, als er Heloisa mit Paula, einer weiteren berühmten Freundin des Hieronymus, verglich.32 Im neunten Brief benutzt er dieselbe Parallele, um Heloisas eifriges Streben nach mehr Bibelkenntnis hervorzuheben.33 Heloisa wiederum greift das Thema erneut auf: Ebenso wie Hieronymus, der Marcella für ihr Bibelstudium gelobt habe, solle Abaelardus ein Vater und Lehrer für seine Gemeinde sein.34 Sie macht sich Sorgen, dass ihr Bibelstudium in Frustration münden würde, wenn sie und ihre Gemeinde nicht verstünden, was sie da läsen. Mit einem Zitat aus Hieronymus’ Brief an Rusticus merkt sie an: Ama scientiam

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„An diesen Spiegel erinnert uns der heilige Gregorius im zweiten Kapitel seiner Moralia: ‚Die Heilige Schrift wird unserem geistigen Auge vorgehalten wie ein Spiegel, daß wir hierin unser inneres Gesicht wahrnehmen können. Hier erkennen wir unsere häßlichen wie unsere schönen Züge. Hier merken wir, was für Fortschritte wir gemacht haben und wie weit wir vom Fortschritt entfernt sind.‘“ Brief Nr. 8; Hicks, 540 (Krautz, 288). Sowohl Dronke als auch Ziolkowski beschreiben die Überlieferung dieses Textes durch die Abtei von St. Victor; vgl. Peter DRONKE, „Heloise’s Problemata and Letters: Some Questions of Form and Content“, in Petrus Abaelardus (1079–1142): Person, Werk und Wirkung (hg. v. Rudolf Thomas; TThSt 38; Trier: Paulinus-Verlag, 1980), 53–73; 53, und ZIOLKOWSKI, Letters, 10. Vgl. HC; Hicks, 118 (Radice, 36). Vgl. Brief Nr. 9; Smits, 231 (Ziolkowski, 25). Vgl. Problemata, PL 178,678c (McNamer, 112).

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Scripturarum, et carnis vitia non amabis.35 Diese Aufforderung zum Bibelstudium zeigt den Unterton, der allen Fragen der Heloisa zugrunde liegt: Es ist die Suche nach völliger Integrität im Klosterleben, die ihr besonders in ihrer späteren Korrespondenz mit Abaelardus und eben in den Problemata Heloissae Sorgen bereitet. Im neunten Brief bezeugt Abaelardus sein Vertrauen in Heloisas Kenntnis der biblischen Sprachen – Hebräisch, Griechisch und Latein – und ermutigt die Gemeinde, diese unter Heloisas Leitung zu erlernen. Ihre herausragenden Sprachkenntnisse bestätigt nicht nur Abaelardus: auch ihr Zeitgenosse, Petrus Venerabilis, war von ihrer Begabung beeindruckt, und der spätere Chronist William Godell bestätigte der Äbtissin des Paraklet ebenfalls diese außerordentliche Qualität.36 Heloisa nutzt Hieronymus’ Briefe an die römischen Frauen auch, um ihre eigene Autorität zu rechtfertigen. Indem sie an Hieronymus’ hohe Meinung von Frauen und von deren Bibelstudium erinnert, stellt sie auch sich selbst ein positives Zeugnis aus. 37 Heloisa und ihre Gemeinde befinden sich Abaelardus gegenüber nicht einfach in einer Position als discipulae doctori, filiae Patri38, wie man sonst vielleicht anhand der Frage-Antwort-Struktur annehmen könnte. Sie ist für Abaelardus auch eine Lehrerin, ebenso wie Marcella mit ihren Fragen Lehrerin des Hieronymus war. In den Problemata wird kein bestimmter systematischer Zugang zum Bibelstudium präsentiert. Die dort gestellten Fragen stammen aus dem täglichen Gebrauch und Studium der Heiligen Schrift, und man kann daher annehmen, dass es sich um einen Kontext der lectio divina handelt, wie sie von der heiligen Regel vorgeschrieben wird. Die vielen unterschiedlichen Probleme, mit denen sich Heloisa beschäftigt, zeigen, dass sie sich über viele verschiedene Themen aus dem Alten und Neuen Testament Gedanken gemacht hat, wie zum Beispiel: die wörtliche Interpretation eines Textes; logische Widersprüche in einem Text oder zwischen Texten; ethische Schwierigkeiten, die in einem Text vorkommen; Erklärungen jüdischer Bräuche in einem Text; einfache historische Fragen zur Bedeutung von ansonsten komplexen Texten. Schließlich, wie immer, spielt die Bedeutung der Sünde eine zentrale Rolle, besonders in der letzten Frage der Sammlung. Es ist klar erkennbar, dass Heloisas Fragen eher die wörtliche und historische Interpretation der Bibel betreffen und weniger die allegorische Auslegung, die ansonsten für die monastischen Autoren typisch ist. Man muss jedoch auch bedenken, dass Heloisas eigentlicher Schwerpunkt auf dem tropologischen Verständnis der Heiligen Schrift liegt, also auf der ethischen Bedeutung des Textes. Ihr geht es darum, dass sie und ihre

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„Love the knowledge of the Scriptures, and you shall not love the vices of the flesh.“ Ebd.; vgl. Hieronymus, Ep. 125,11; in: HIERONYMUS, Epistulae CXXI–CLIV (hg. v. Isidor Hilberg; CSEL 56/1; Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, 21996), 130. Vgl. Constant MEWS und Micha J. PERRY, „Peter Abelard, Heloise, and Jewish Biblical Exegesis in the Twelfth Century“, JEH 62 (2011): 3–19. Vgl. Problemata, PL 178,677b (McNamer, 111). „Disciples to our teacher, as daughters to our father.“ Ebd., PL 178,678c (McNamer, 111).

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Gemeinde die Bedeutung des Textes gründlicher interpretieren können, um daraus mehr Nutzen für ihr Leben im Kloster zu ziehen.39 Heloisa verflicht die umfassende Tradition der lectio divina mit den neu erlangten Methoden der quaestio und disputatio, indem sie ihre eigene ganz persönliche Erfahrung und die der Frauen im Allgemeinen mit der Bibel berücksichtigt. Ihre Fragen betreffen das Bibelstudium ihrer Gemeinde: Die Frauen wollen den Text um seiner selbst willen verstehen, ihn seiner Bedeutung entsprechend in der Liturgie verwenden, ihn im privaten Gebet verinnerlichen und ihr Leben formen und verbessern, wie es der transformative Zweck der Benediktsregel ist. Schon in ihrer allerersten Frage zeigt Heloisa ihre Absicht bei der Reihe von Problemen, mit denen sie Abaelardus konfrontiert. Diese erste Frage betrifft die Bedeutung der Rolle des Heiligen Geistes, wie Jesus sie im Johannesevangelium beschreibt: Quid est quod Dominus in Evangelio Joannis de Spiritu quem missurus erat promittit, dicens: Et cum venerit ille, arquet mundum de peccato, et de justitia, et de judicio: De peccato quidem, quia non crediderunt in me; de justitia vero, quia ad Patrem vado, et jam non videbitis me; de judicio autem, quia princeps mundi hujus jam judicatus est? (Joan. xvi,8–11.)40

Anders als bei der Namenswahl für Kloster üblich, hatte Abaelardus seine Eremitage, die später die Parakletgemeinde wurde, unter den Schutz des Heiligen Geistes gestellt: daher die Namenswahl des griechischen Begriffes Paraklet, Tröster. Indem Heloisa den Heiligen Geist gleich in ihrer ersten Frage in den Mittelpunkt stellt, gibt sie Abaelardus die Möglichkeit, seine Position gegenüber dem Heiligen Geist und die Namenswahl sowie seine kontroversen Lehren über die Dreifaltigkeit41 zu erläutern, aber sie unterstreicht auch das Bedürfnis ihrer Gemeinde, sich durch die Handlungen des Heiligen Geistes in der Welt zu identifizieren. Sie fragt also eigentlich Abaelardus danach, was es seiner Meinung nach bedeute, die Gemeinde des Paraklet, also des Trösters, zu sein. Das Thema der Identität ist für Heloisa hier genauso zentral wie in allen vorherigen Briefen. Ihrer Meinung nach kann die Integrität der eigenen Identität nur erreicht werden, wenn man die Widersprüche, die man in sich selbst entdeckt, ehrlich benennt 39

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Vgl. Johannes Cassianus, Collationes XIV: „Über die geistliche Wissenschaft“; deutsche Übersetzung: JOHANNES CASSIANUS, Sämmtliche Schriften 1 (BKV 59; Kempten: Kösel, 1879). Die Bibelkenntnis wurde im monastischen Umfeld in zwei Bereiche eingeteilt: die historische Interpretation, aus der praktische Kenntnis erwuchs, und das spirituelle Verständnis. Dieses beinhaltete Tropologie, Allegorie und Anagogie. „Was ist das, was der Herr im Evangelium des Johannes über den Geist, den er schicken wollte, verspricht, wenn er sagt: ‚Und wenn jener kommt, wird er der Welt die Augen öffnen für die Sünde, die Gerechtigkeit und das Gericht: für die Sünde zunächst, weil sie nicht an mich glaubten; für die Gerechtigkeit dann, weil ich zum Vater gehe und ihr mich nicht mehr sehen werdet; für das Gericht aber, weil der Fürst dieser Welt schon gerichtet ist.‘?“ Problema i, PL 178,678d–679a (Krautz, 305). Abaelardus’ Lehre vom Wesen der Trinität wurde 1121 in Soissons verurteilt. Vgl. Michael T. CLANCHY, Abelard: A Medieval Life (Oxford: Blackwell, 1999), 242–244.

Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess

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und sich mit ihnen auseinandersetzt. In den Problemata konzentriert sich Heloisa wieder auf die Fragen nach Integrität, Widerspruch und Inkonsistenz, die sie und ihre Schwestern bei ihrer Bibellektüre entdeckt haben. Diese Fragen lenken sie vom Studium und Verständnis der Heiligen Schrift ab, und damit von der Erfüllung ihrer monastischen Bestimmung. Da die wörtliche Interpretation der Heiligen Schrift immer zu solchen Widersprüchen und Inkonsistenzen führt, müssen diese aufgedeckt und erklärt werden, um die tiefere Bedeutung des Bibeltextes zu enthüllen. Nach der Definition der Identität der Parakletgemeinde in der ersten Frage bleibt Heloisa weiter beim Wunsch nach Integrität. In der zweiten Frage geht es darum, ob es möglich sei, die in Jak 2,10f. vorgeschriebenen Regeln einzuhalten: Quid est illud in Epistola Jacobi: Quicunque autem totam legem servaverit, offendat autem in uno, factus est omnium reus?42

Wie zuvor schon gesagt, ist dies derselbe Text, auf den sich Heloisa auch im sechsten Brief der späteren Korrespondenz beziehen wird, als sie um Hilfe bei der Umsetzung der Benediktsregel bittet. Natürlich ist es unmöglich, diese biblische Vorschrift umzusetzen, wenn man den Text wörtlich nimmt. Dronke vermutet, dass auch die 14. Frage der Problemata, die sich mit der Bedeutung der Seligpreisungen beschäftigt, wieder mit Heloisas starkem Bestreben nach Integrität zu tun hat: Dort fragt sie, warum die Seligpreisungen der Bergpredigt so klingen, als ob jede alleine genügen würde, um selig zu werden.43 Die beiden Bibeltexte, die Vorschrift des Jakobus und die Seligpreisungen des Matthäus, scheinen sich gegenseitig zu widersprechen, wenn man mit einer wörtlichen Bibellektüre an sie herantritt. Diese Position vertritt Heloisa in vielen Fragen der Problemata. In der neunten Frage erinnert sie zum Beispiel daran, dass Jesus das Gesetz gleichzeitig befolgt und bricht, als er in Mt 8,2 den Aussätzigen heilt: Unde super hoc quaestione movemur qua ratione Dominus in hoc facto legi contraire simul et obtemperare videatur, Leprosum quippe tetigit, quod lex prohibet, et mundatum ad sacerdotem misit, et ad offerendam hostiam, sicut lex jubet.44

In den Fragen 15–20, 24 und 25 tauchen zahlreiche Beispiele für solche Dilemmata auf, denen ihre Schwestern beim Bibelstudium begegnen. Eine wörtliche Interpretation der Bibel verleitet zu irrationalen Positionen und Widersprüchen, die für eine korrekte christliche Lebensweise unhaltbar sind. 42

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„What does this mean in the Epistle of James: ‚For whoever keeps the whole law, but falls short in one particular, has become guilty in respect to all of it.‘“ Problema ii, PL 178,679c (McNamer, 113). Vgl. DRONKE, „Heloise’s Problemata and Letters“, 60. „Das veranlasst uns zu der Frage, wie der Herr dabei dem Gesetz zugleich offenkundig zuwiderhandelt und gehorcht. Er hat den Aussätzigen berührt, was das Gesetz verbietet, den Reingewordenen aber zum Priester geschickt und zur Darbringung des Opfers angehalten, wie das Gesetz es befiehlt.“ Problema ix, PL 178,691b (deutsche Übersetzung aus: ABAELARD, Leidensgeschichte und Briefwechsel mit Heloisa [übers. u. hg. v. Eberhard Brost; Sammlung Weltliteratur; Heidelberg: Lambert Schneider, 41979], 372).

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Um logische Widersprüche innerhalb des Textes geht es zum Beispiel in der vierten Frage. Hier wundert sich Heloisa darüber, dass im Evangelium geschrieben steht, Jesus sei drei Tage und drei Nächte lang begraben gewesen, wenn doch Constat quippe Dominum sexta feria de cruce depositum esse sepultum, et Sabbato quievisse in sepulcro, et sequenti nocte Dominicae diei resurrexisse quarta vigilia. Unde certum est per unam tantum integram noctem praecedentem Sabbatum, et per integram ipsius Sabbati diem in sepulcro fuisse.45

Für solche Texte können allegorische Interpretationen geeignet sein, aber Heloisa sorgt sich, wie immer aufgrund ihres eigenen Integritätskonflikts, mehr um die historische Genauigkeit und die tropologische Bedeutung des Textes. Heloisa bemerkt weiterhin in den Fragen 37 und 38, dass Jesus das Alte Testament ungenau zitiert und verwendet. In Frage 38 beispielsweise bemerkt sie: Illud quoque testimonium Zachariae prophetae, quod Dominus in Matthaeo inducit de seipso dicens: Scriptum est enim: Percutiam pastorem, et dispergentur oves gregis (Matth. xxvi,31), nonnullam generat quaestionem. Hoc enim Zacharias de pseudopropheta potius quam de Domino dicere videtur.46

Sie beweist ihre Bemerkung mit einem ausführlichen Zitat aus dem Alten Testament. 47 Außerdem befasst sie sich mit Inkonsistenzen zwischen Detaildarstellungen in den Evangelien, wie zum Beispiel (in der fünften Frage) bei der Auferstehung, dem Verrat des Petrus an Jesus (Frage 39) und dem Widerspruch zwischen der paulinischen Vorschrift bezüglich der jüdischen Reinheitsbestimmungen und dem Essen von Opferfleisch einerseits und dem Ausspruch Jesu andererseits, dass nur das, was aus einem Menschen herauskomme, diesen verunreinigen könne (Frage 24).48 Hier wiederholt Heloisa das Argument, das sie schon zuvor vorgebracht hat, um die innere Motivation als ethisch wichtiger zu erweisen als ein äußerliches Zur-Schau-Stellen der Befolgung von Regeln oder Gesetzen.49 Abgesehen von Heloisas Konzentration auf die inneren Absichten ist die Sünde das überragende Thema ihrer Diskussion biblischer Themen in den Problemata. Die Fragen 2, 8, 10–13, 17, 19, 20, 24 sowie die letzte Frage 42 befassen sich alle in irgend45

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„It is agreed that the Lord was taken down from the Cross and buried on Friday, and lay in the tomb on Saturday, and on the next night, in the last darkness of Sunday morning rose again. Therefore it is certain that for only one whole night preceding the Saturday, and for one whole day of Saturday itself was he in the tomb.“ Problema vi, PL 178,682c (McNamer, 117). „Also producing not a few questions is that quotation from the Prophet Zachariah, which the Lord brings forth from within himself in Matthew, saying, ‚For it is written, „I will strike the shepherd, and the sheep of the flock will be dispersed.“‘ (Mt 26:31). For Zachariah seems to say this about a false prophet rather than about the Lord.“ Problema xxxviii, PL 178,719b–c (McNamer, 169). Vgl. Sach 13,3–7. Vgl. Mt 15,11; Röm 14,23; 1 Kor 8,7. Ein besonders gutes Beispiel hierfür findet sich in Brief Nr. 6; Hicks, 260–262 (Radice, 107f.). Vgl. Röm 9,24.

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einer Form mit der Sünde. Besonders interessant ist Heloisas Kommentar zur Ehebrecherin aus dem Johannesevangelium in Frage 8: Quod Dominus pro adultera liberanda Judaeis respondit: Qui sine peccato est vestrum, primus in eam lapidem mittat (Joan. viii,7) et sic eam eruit, nonnihil habet quaestionis.50

Hier stellt Heloisa das Recht der Menschen in Frage, Urteile und Bestrafungen auszuüben, da die Sünde überall im menschlichen Leben herrsche. Auch Frage 19 behandelt dasselbe Thema, diesmal im Matthäusevangelium: Quod illud est, quod sequitur: Nolite judicare, ut non judicemini. In quo enim judicio judicaveritis, judicabimini? (Matth. vii,1). Quid enim si injustum fecerimus judicium? nunquid simile recipiemus?51

Heloisas eigene Erfahrungen mit Sünde und Verurteilung sind hier von zentraler Bedeutung, denn sie dachte ständig über die ungerechte Strafe nach, die Abaelardus durch seine Kastration erfahren musste. Auch ihre eigene Unfähigkeit, ihre sogenannte verbotene Liebe zu ihm ehrlich zu bereuen, beschäftigte sie, was auch aus ihren späteren Briefen hervorgeht. In den Problemata wünscht sich Heloisa eben diese Gnade Gottes und strebt danach, die biblische Bedeutung von Reue und Vergebung zu verstehen. Im Mittelpunkt dieser Betrachtung des menschlichen Handelns steht Heloisas Verständnis der biblischen Aufforderung zur Liebe. Diverse Fragen in den Problemata befassen sich mit der zentralen Bedeutung der Liebe und dem Verhältnis von Gesetz und Liebe.52 In der 16. Frage stellt sie, ebenso wie im vierten Brief, die Frage nach dem Widerspruch in Paulus’ Schriften zwischen der Befolgung des Gesetzes, in dessen Mittelpunkt die Liebe steht, und der Unvollkommenheit des Gesetzes. Quomodo ad perfectionem mandatorum deest aliquid legi, cum illa etiam duo praecepta dilectionis Dei et proximi sufficere omnino videantur, nec aliquid perfectionis deesse?53

Durch alle Schriften Heloisas zieht sich kontinuierlich das Argument, dass man sich im Grundsatz immer in Richtung der Liebe orientieren solle, zu der Christus im Evangelium auffordert. Dass sie sich mit der inneren Motivation beschäftigt, passt zu dieser grundsätzlichen Lebensausrichtung an einer einzigen Intention. Auch in der 12. Frage steht die Liebe im Mittelpunkt, als Heloisa die Sünde des Neides und die Großzügigkeit Gottes kommentiert: 50

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„Wenn der Herr, um die Ehebrecherin zu befreien, den Juden antwortet: ‚Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie‘, und ihr so aus der Not hilft, so ist dabei doch manches zu bedenken.“ Problema viii, PL 178,689d (Brost, 369). „What does the following mean: ‚Stop judging that you may not be judged. For as you judge, so will you be judged.‘ (Matt. 7:1–2) Does this mean that if we make an unjust judgment, we will receive an unjust one in return?“ Problema xix, PL 178,707d (McNamer, 152). Vgl. Problema 12, 16, 20 und 29. „How can anything be lacking to the Law for the perfection of its commandments, when the two precepts of love of God and neighbour would seem entirely to suffice, nor to lack any perfection?“ Problema xvi, PL 178,703d–704a (McNamer, 147).

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Constant J. Mews und Carmel Posa Illud quoque nonnihil quaestionis habet quod in Matthaeo legimus de operariis in vineam missis, quorum priores tantem novissimis invidisse videntur, et adversus patremfamilias murmurasse ut tale mererentur responsum: An oculus tuus nequam est, quia ego bonus sum? (Matth. xx,15.)54

Heloisa verwendet in diesem Kommentar Material paganer Autoren, eine Reminiszenz an ihre früheren Schriften. In der Antwort auf diese Frage kommt klar ihre Absicht zum Vorschein, Abaelardus zu trösten, der die Verfolgung durch seine Zeitgenossen zuvor als invidiam atque odium55 („Neid und Hass“) interpretiert hatte. Heloisas letzte Frage, in der sie sich mit der Natur der Sünde im Verhältnis zu den Worten und Taten Jesu Christi beschäftigt, fokussiert all diese Themen in einer Zusammenfassung: Utrum aliquis in eo quod facit a Domino sibi concessam, vel etiam jussum, peccare possit quaerimus.56

Hier fragt Heloisa tatsächlich: Wie kann man sündigen, wenn man beabsichtigt zu lieben? Diese rhetorische Frage hat Heloisa schon in ihren Briefen beantwortet. Von Anfang an war sie von der Kraft der Liebe motiviert gewesen, und zwar von der Freiheit der Liebe im Evangelium. Was sie hier von Abaelardus erwartet, ist die Anerkennung dieser biblischen Tatsache. Viele der Problemata zeigen eine rein wörtliche Exegese. Die 41. Frage zum Beispiel lautet einfach, wer den Bericht vom Tod des Mose verfasst habe, wenn man doch glaube, dass Mose die Gesetzbücher geschrieben habe. Es sei also nicht möglich, dass er – es sei denn, in einer prophetischen Art und Weise – über seinen eigenen Tod geschrieben habe. Bemerkenswert ist hier Heloisas besonderes Interesse an den Details der wortwörtlichen Interpretation jüdischer Riten und Bräuche. Die 30. Frage sucht nach einer Erklärung der genauen Daten der jüdischen Feiertage, und in der 35. Frage geht es darum, welche liturgische Funktion Samuel von seiner Mutter Hanna erhalten habe (1 Sam 18f.).57 Während frühere christliche Interpretationen sich vor allem auf allegorische und typologische Auslegungen solcher Stellen konzentrierten, interessiert Heloisa sich für die wörtliche Bedeutung.58 In der 36. Frage befasst sich Heloisa etwa mit 1 Sam 2,35f. und fragt nach der Identität des treuen Nachfolgers des Eli, der Anwendung und wörtlichen Bedeutung der Phrase ambulabit coram Christo meo, „er

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„Auch jene Stelle wirft keine geringfügigere Frage auf, die wir bei Matthäus lesen: über die in den Weinberg geschickten Arbeiter, von denen die früheren so sehr die letzten beneidet und gegen den Hausvater gemurrt zu haben scheinen, daß sie eine solche Antwort verdienten: ‚Ist dein Auge darum scheel, weil ich gütig bin?‘“ Problema xii, PL 178,693b (Krautz, 307f.). HC; Hicks, 80. „We inquire whether anyone can sin in doing what the Lord has permitted or even commanded.“ Problema xlii, PL 178,723a (McNamer, 174). Vgl. Problema xxxv, PL 178,716d (McNamer, 165). Vgl. MEWS und PERRY, „Peter Abelard“.

Heloisas Engagement für die Bibel: Ein kontinuierlicher Prozess

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wird vor meinem Gesalbten einhergehen“, und nach der Bedeutung der Münz- und Brotgabe.59 Heloisas Fragen 31 bis 35 betreffen schließlich direkt Hannas Mutterschaft im 1. Buch Samuel. Vielleicht sucht sie in der allegorischen Reflexion dieser Geschichten Trost wegen ihrer eigenen durchkreuzten Mutterschaft.60 Heloisa schenkte Abaelardus während ihrer kurzen Affäre einen Sohn, Astralabius. Dieser kommt zwar kaum in den Schriften der beiden vor, aber Heloisa spielt oft auf ihre eigene Erfahrung als Mutter an, als sie Abaelardus in ihren späteren Briefen zu trösten versucht. Dort verteidigt sie die Mutterrolle der Frauen durch Anspielungen auf berühmte Mütter oder Väter aus der Bibel.61 Innerhalb der Problemata bezieht sich Heloisa wieder auf ihre ganz persönlichen Erfahrungen, als sie die Geschichte aus dem Alten Testament von Hanna und ihrem Sohn Samuel erzählt. In der 31. Frage schreibt sie: Quid est postmodum, quod Anna respondit Eli sacerdoti: Nequaquam, inquit, Domine mi; nam mulier infelix nimis ego sum, vinumque, et omne quod inebriare potest, non bibi; sed effudi animam meam in conspectu Domini. Ne reputes ancillam tuam, sicut unam de filiabus Belial? (1 Reg. i,15.)62

Der Mutterschaft beraubt, hatte Hanna unter Tränen im Tempel zu Gott gebetet. Ebenso hatte Heloisa im zweiten und vierten Brief der späteren Korrespondenz Abaelardus ihr Herz ausgeschüttet und auf Trost von ihm gehofft. Diese Frage kann man also im Hinblick auf Heloisas eigene Erfahrungen als unglückliche Frau betrachten. Auch ihr wird die Mutterschaft vorenthalten, und sie stellt ihr eigenes Unglück neben das der Hanna. Als sie allerdings weiter über Hannas Geschichte nachdenkt, dringt sie tiefer in die Allegorie ein und findet in Frage 32 Hannas Verwandlung: Quid est etiam illud de Anna: Vultusque illius non sunt amplius in diversa mutati? (1 Reg. i,18)63

Heloisa betont weiter die Hoffnung, die sie selbst als Mutter hegt, als sie in der 33. Frage über Hannas prophetischen Gesang spricht: Quid et illud est: Oravit Anna, et ait: Exsultavit cor meum in Domino? etc. (1 Reg. ii,1.) Hoc quippe canticum verba gratiarum vel prophetiae potius habet quam orationis.64

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Vgl. Problema xxxvi, PL 178,717b–d (McNamer, 166f.). Vgl. Juanita Feros RUYS, „Quae Maternae Immemor Naturae: The Rhetorical Struggle over the Meaning of Motherhood in the Writings of Heloise and Abelard“, in Listening to Heloise: The Voice of a Twelfth-Century Woman (hg. v. Bonnie Wheeler; New York: St. Martin"s Press, 2000), 323–339; 323. Vgl. z. B. Brief Nr. 6; Hicks, 240 (Radice, 98); vgl. 1 Tim 5,14. „What does it mean that Hannah replied to Eli the Priest: ‚It isn’t that, my Lord; I am an unhappy woman. I have had neither wine or liquor; I was only pouring out my troubles to the Lord. Do not think your handmaid a daughter of Belial.‘ (1 Sam 1:15–16).“ Problema xxxi, PL 178,714d–715a (McNamer, 162). „Also, what does it mean when said of Hannah: ‚And she no longer appeared downcast.‘ (1 Sam 1:18)?“ Problema xxxii, PL 178,715c (McNamer, 163).

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Constant J. Mews und Carmel Posa

Ein Verweis auf das Magnificat auf Marias Lippen fehlt hier völlig,65 ebenso wie eine typologische Interpretation in Bezug auf Christus. Vielmehr benutzt Heloisa den Bibeltext, auch im Lichte der vorherigen Fragen, als Spiegel ihres eigenen Lebens. Wie Ruys bemerkt, fährt Heloisa fort, Abaelardus zu versichern, dass jene mütterliche Liebe und der Akt des Bemutterns nicht notwendigerweise aufhören, nur weil sie sich nun in Klausur befinde.66

4. Fazit Die abschließende Frage (42) der Problemata Heloissae beschäftigt sich damit, ob man sündigen kann, indem man etwas tut, was von Gott erbeten wurde. Sie erfordert von Abaelardus eine ausführliche Antwort auf die Frage, die Heloisa eigentlich stellen will: ob das Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren (Gen 1,28), jemals eine Sünde darstellen könne. In ganz einfachen Begriffen fasst sie hier noch einmal die Fragestellung zusammen, die die gesamten Problemata durchzieht: was das wahre ethische Verhalten ausmache, unabhängig davon, was die religiöse Autorität vielleicht manchmal als Sünde verstehen könnte. Es entsteht hier eine tiefe Verbindung zu der Überzeugung, die die junge Heloisa in den Epistolae duorum amantium ausdrückt, dass der Körper dem Herzen folgen müsse, und vor allem den Anforderungen der wahren Liebe. Seit ihrer Jugend war sie vom Bibeltext geprägt worden, dem sie in der Liturgie begegnete und den sie durch die Kommentare des Hieronymus studierte, die wiederum oft für gebildete Frauen verfasst worden waren. Mit Abaelardus teilte sie die Überzeugung, dass ein intelligenter Leser/eine intelligente Leserin nur durch ein rigoroses Studium hinter die scheinbaren Widersprüche und Paradoxa der Heiligen Schrift blicken und ihre eigentliche Bedeutung verstehen könne. Dass ihre Fragen zu den ersten Kapiteln der Genesis oder zur Bedeutung der Äußerungen der Heiligen Paulus und Jakobus über die Sünde einen starken Einfluss auf Abaelardus’ spätere Gedanken über diese Texte ausgeübt haben, steht wohl außer Frage. Von diesen Fragen war Heloisa seit ihrer Jugend fasziniert gewesen, als sie zum ersten Mal versucht hatte, die Botschaft der Bibel mit der Wahrheit ihres eigenen Lebens zu vereinbaren.

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„And what does this mean: ‚Hannah prayed, and said: „My heart exults in the Lord,“‘ etc. (1 Sam 2:1)? For this canticle has the words of thanksgiving or prophecy more than of prayer.“ Problema xxxiii, PL 178,715c (McNamer, 163). Vgl. Lk 1,46–55. Vgl. RUYS, „Quae Maternae Immemor Naturae“, 331.

Bibel und Poesie Bibelepik einer Frau (Ava) – Bibelepik über eine Frau (Judit) Magda Motté Universität Duisburg Seit dem 9. Jh. sind bedeutende Werke poetischer geistlicher Dichtung des Früh- und Hochmittelalters in deutschen Dialekten überliefert, allerdings nur wenige Autoren mit Namen (Adso, Ezzo, Hartmann, Hildegard von Bingen, Hrotsvita von Gandersheim, Notker von St. Gallen, Otfrid von Weißenburg); hingegen blieben die Dichter bedeutender Texte, z. B. von Christus und die Samariterin, Wiener Genesis, Vorauer Genesis, Ältere und Jüngere Judith, anonym. In der Regel schreibt die Forschung die meisten anonymen Werke männlichen Autoren zu. Doch entstand vor allem im Bereich der Klöster und Höfe eine Anzahl geistlicher Dichtungen zu Bibel oder Liturgie auch von Frauen. Inzwischen geht man bei etlichen anonym tradierten Gebeten wie dem Arnsteiner Mariengebet, dem Gebet einer Frau, der Mariensequenz aus Seckau, dem St. Trudperter Hohenlied u. a. aufgrund der Darstellungsperspektive von weiblicher Herkunft aus. Ob Letzteres jedoch, wie lange angenommen, von Herrad von Hohenburg stammt, ist heute umstritten.1 Im Rahmen dieser Untersuchung stellt sich nicht nur die Frage nach schreibenden Frauen und ihrem Umgang mit der Bibel, sondern auch die nach dem Wie der Adaption biblischer Themen samt deren Interpretation durch Frauen bzw. über biblische Frauen aus männlicher Sicht. Das soll an zwei markanten Beispielen aus dem gleichen zeitlichen und handschriftlichen Umfeld dargestellt werden: an den Gedichten der Frau Ava (1120) sowie an dem Epos Ältere Judith (ca. 1100) eines unbekannten Verfassers.

1. Avas neutestamentliche Bibeldichtung Nu sul wir mit sinnen sagen von den dingen, wie daz zît ane viench daz diu alte ê zergiench. (V1–4)2

1

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Nun werden wir mit Besonnenheit davon sprechen, wie die Zeit begann, als das Alte Testament zu Ende ging.

Vgl. Gustav EHRISMANN, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters 2: Die mittelhochdeutsche Literatur 1: Frühmittelhochdeutsche Zeit (Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen 6/2/1; München: Beck, 21954), 169f.212f.; Wiebke FREYTAG, „Geistliche Autorinnen vom frühen Mittelalter bis ins 12. Jahrhundert“, in Deutsche Literatur von Frauen 1: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (hg. v. Gisela Brinker-Gabler; München: Beck, 1988), 65–76. Kurt SCHACKS, Hg., Die Dichtungen der Frau Ava (Wiener Nachdrucke 8; Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1986), 11. Übertragungen ins Neuhochdeutsche von der Verfasserin.

Magda Motté

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Mit diesen Worten beginnt eine einzigartige Dichtung des 12. Jh.: das umfangreiche volkssprachliche Bibelwerk einer Frau, der inclusa Ava. Es sticht nicht nur dadurch hervor, dass unter all den anonymen Dichtungen hier eine namentlich genannte, lokalisierbare Person am Werk ist, sondern dass ihre Gedichte die gesamte Heilsgeschichte nach dem Neuen Testament zum Inhalt haben. Denn abgesehen von zahlreichen Kurztexten beziehen sich die umfangreichen Dichtungen der Zeit meist auf das Erste Testament oder auf die Apokalyptik und sind wie gesagt in der Regel anonym überliefert. Wenn Frau Ava schon nicht „große“ Dichtung geschaffen hat, so nimmt ihr Werk in jedem Fall eine Ausnahmestellung ein, dies schon des gewählten thematischen Rahmens wegen. Gegenüber alttestamentlicher Bibelepik ist neutestamentliche rar. In der hier behandelten Periode hat unser Raum keine Darstellung des Lebens Jesu und überhaupt kein neutestamentliches Werk größeren Umfangs mehr hervorgebracht.3

Die Fragen nach der Autorschaft dieser Frau, ihren Quellen und der Einheit der Gedichte, die in zwei bekannten Handschriften, der Vorauer (12. Jh.) und der Görlitzer (14. Jh.), unterschiedlich dokumentiert sind, beschäftigen die Forschung seit langem. Inzwischen ist unstrittig: Die Gedichte sind eine Einheit und stammen von einer Frau.4

1.1 Lebensdaten der Dichterin Frau Avas Lebensdaten liegen zwischen 1060 und 1127. Über ihre Biographie ist wenig bekannt. Wie aus den Schlussversen des Jüngsten Gerichts hervorgeht, war sie verheiratet und hatte zwei Söhne (zwäier chinde muoter, „Mutter von zwei Kindern“ V394), Hartmann (?) und Heinrich (?),5 und sie spricht liebevoll von ihnen. Beide waren vermutlich Geistliche, die ihrer Mutter in ihrem literarischen Schaffen zur Seite standen, aber nicht wörtlich „an der Abfassung der Werke beteiligt waren“6. Gemeinhin wird die Dichterin mit einer Ava inclusa identifiziert. Ihr Tod wird für das Jahr 1127 in mehreren Annalen und Nekrologien (bei einigen mit Datum VII./VIII. Idus Februari) verzeichnet (Ava inclusa obiit), darunter denen des Stiftes Melk, ohne dass ein Grund angegeben ist. Daraus kann auf die besondere Bedeutung ihrer Person geschlossen werden. Wenn sich dieser Eintrag tatsächlich auf die Dichterin bezieht, 3

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5 6

Vgl. Fritz Peter KNAPP, Geschichte der Literatur in Österreich: Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (hg. v. Herbert Zeman; Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1994), 122. Vgl. u. a. Adolf LANGGUTH, Untersuchungen über die Gedichte der Ava (Budapest: Hornyánszky, 1880), 2f.; EHRISMANN, Geschichte der deutschen Literatur, 169f.212f.; Edgar PAPP, „Ava“, in Die deutsche Literatur des Mittelalters – Verfasserlexikon (hg. v. Kurt Ruh et al.; 14 Bde; Berlin: de Gruyter, 21978–2008), 1:560–565. Vgl. auch SCHACKS, Frau Ava, 281. Anke ROEDER, „Das Leben Jesu“, in Kindlers Literaturlexikon im dtv (25 Bde; dtv 3141– 3165; München: dtv, 1974), 13:5539f.; 5539.

Bibel und Poesie

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dann ist anzunehmen, dass sie nach dem Tode ihres Mannes als Klausnerin im Stift Melk lebte.

1.2 Avas poetische Bibeldichtung Dieser Frau Ava wird die poetische Bearbeitung der biblischen Geschichte sowie dreier weiterer bibelnaher Gedichte zugeschrieben: Johannes Das Leben Jesu Die sieben Gaben des Heiligen Geistes Der Antichrist Das Jüngste Gericht

30 Str. 209 Str. 12 Str. 12 Str. 35 Str.

446 Verse 2272 Verse 146 Verse 118 Verse 406 Verse

Diese fünf Gedichte bilden nach dem Zeugnis der Dichterin selbst als „Buch“ (buoch) eine Einheit und präsentieren ein „heilsgeschichtliches Gesamtkonzept“,7 wie dies die biblischen Bücher bezeugen, angefangen mit der neuen Zeitrechnung der Ankündigung der Geburt des letzten Propheten Johannes über das Leben, die Passion und die Auferstehung Jesu, die Geistsendung sowie die Entstehung der jungen Kirche bis zur Darstellung der Anfechtungen durch satanische Mächte und der Vollendung im Jüngsten Gericht. Das Gedicht Die sieben Gaben des Heiligen Geistes im Anschluss an die Beauftragung der Evangelisten durch Petrus beschreibt sozusagen als Ergebnis der Heilsgeschichte den „Stufenweg der Vollendung“8 und die Kraftquelle zur Bewältigung kommender Versuchungen. Die stilistischen Unterschiede der Gedichte, die einige Forscher wie de Boor als Beweis für verschiedene Autoren anführen, gehen nach der überzeugenden Argumentation von Adolf Langguth, Friedrich Maurer, Eoliba Greinemann, Barbara GutfleischZiche u. a. auf die jeweils verschiedenen Inhalte und Intentionen der Gedichte zurück.9

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8

9

Barbara GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen biblischer Stoffe: Die illustrierten Handschriften der Altdeutschen Genesis und des Leben Jesu der Frau Ava (EHS.DS 1596; Frankfurt: Lang, 1997), 140; s. auch Richard KIENAST, „Ava-Studien I“, ZDA 74 (1937): 1–36; 5–11.27–34. Eoliba GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava: Untersuchungen zur Quellenfrage (Diss., Universität Freiburg i. Br., 1968), 136; s. auch GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 140. Vgl. Helmut de BOOR, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung: 770–1170 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1; München: Beck, 1949), 151–181; LANGGUTH, Untersuchungen, 68ff.; Friedrich MAURER, Hg., Die Dichtungen der Frau Ava (ADTB 66; Tübingen: Niemeyer, 1966), IX–XV; IX–XI; GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 132–241, bes. 141–155; GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 2–5.

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1.2.1 Johannes Das Gedicht Johannes erzählt in 446 Versen das Leben des Täufers von der Ankündigung seiner Geburt bis zu seinem Tod.10 Die Dichterin folgt zunächst der lukanischen Kindheitsgeschichte – einschließlich der Verkündigung an Maria (V80–159) – ohne legendäre Einschübe, allerdings mit Kommentaren. So betont die Dichterin zum Beispiel die Tugend der Eltern Elisabeth und Zacharias (V15f.)11 und die fürstliche Herkunft Marias aus dem Stamme Jesse als Übergang von der Verkündigung an Zacharias zu der an Maria (V80–88). Die Darstellung des öffentlichen Lebens des Johannes bis zur Taufe Jesu beruht hingegen auf allen vier Evangelien, das Ende des Täufers nur auf Matthäus und Markus.12 Mehrfach betont Ava die schriftliche Quelle: Man liset von Johanne (V211.221)13

Wir lesen von Johannes

Der Schwerpunkt dieses Gedichts liegt auf der Verkündigung und der Geburt des Johannes als Beginn der Heilsgeschichte, was sich bereits aus der Anzahl der Verse (192 für die Vorgeschichte und nur 120 für das Lebensende des Johannes) ergibt. Ava nutzt die Geschichte des Johannes wie einen Prolog, um ihr „heilsgeschichtliches Lehrgedicht“14 Das Leben Jesu einzuleiten. Durch die Gestaltung der Verkündigung an Maria sind beide Gedichte aufeinander bezogen. In Johannes wird die Szene bibelgetreu erzählt; die Worte des Engels folgen der Lukaserzählung, auch wenn die Dichterin einleitend Marias Herkunft, Tugend und Reaktion frei ausmalt. Ihre Intention ist die Gegenüberstellung von Zacharias! Zweifel und Marias Glauben: wie mach ich gelouben diu grôzen gotes tougen? (V65)15

wie kann ich des großen Gottes Wundertat glauben?

Dô sprach Sande Marîe: „an gote bin ich zwîvels vrîe. ich geloube sînen gewalt uber junch unde uber alt.“ si sprach: „ecce ancilla domini, nâch dînen worten gescehe mir"“ (V153–158)16

Da sprach die heilige Maria: „Gott gegenüber bin ich ohne Zweifel. Ich glaube seiner Allmacht über Junge und Alte.“ Sie sprach: „Siehe, ich bin Gottes Magd, nach deinen Worten geschehe mir"“

Damit wird bereits auf das zentrale Gedicht Das Leben Jesu hinüberverwiesen.

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Infolge der Überlieferung in zwei verschiedenen Handschriften, der Vorauer (Steiermark) und der Görlitzer, beide z. T. nach bereits verderbten Vorlagen, ist die Verszählung in den verschiedenen neueren Ausgaben nicht immer einheitlich. Vgl. GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 27. Auf Einzelnachweise der Stellen sowie auf die von Ava benutzten Homilien, Hymnen und Sequenzen der Feste des Täufers muss hier verzichtet werden, vgl. dazu ebd., 29 –48. SCHACKS, Frau Ava, 27. GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 48f. SCHACKS, Frau Ava, 15. Ebd., 23.

Bibel und Poesie

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1.2.2 Das Leben Jesu Hier stellt Ava die Vita17 Jesu dar, angefangen von Gottes Ratschluss nach der Weissagung der Propheten und der Verkündigung bis zu Himmelfahrt und Pfingsten. Mit einer Reflexion über das Geheimnis der Menschwerdung leitet sie ihr Gedicht ein: Gott wird Mensch aus einer Jungfrau, um die gestörte Ordnung der Schöpfung wiederherzustellen (V1–22). Noch einmal greift sie die Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26– 38) auf, aber diesmal nicht biographisch auf Maria bezogen, sondern theologisch gedeutet mit Rückgriff auf prophetische Anspielungen (Jer 31,22; Jes 7,14; Ez 44,2; Ps 71,6) und Kommentare der Kirchenväter, insbesondere auf deren Gegenüberstellung Eva – Maria. Kienast spricht hier von einem Hymnus, der Das Leben Jesu einleite.18 Daran anschließend versucht die Dichterin aus der Fülle des Materials die Stationen des Lebens Jesu chronologisch zu ordnen, wobei sie vorzugsweise Texte der Sonn- und Feiertagslesungen von Advent bis Pfingsten wählt. Die Gestaltung der Passion nimmt den breitesten Raum ein. Dagegen fehlen alle Gleichnisse sowie die Lehr- und Streitgespräche, ja diese scheint sie sogar bewusst ausgeklammert zu haben, wie die Passage Jesus und die Samariterin (V707–750) zeigt. Abgesehen von einem zusammenfassenden Bericht über Jesu Wundertaten (V923–936), werden nur Die Hochzeit zu Kana als Erweis von Jesu göttlicher Macht, Jesus und die Kanaanäerin als Beleg seiner Sendung zu den Heiden, Der Blinde von Jericho (Lk 18,31–43) im Zusammenhang mit der Leidensvorhersage und Die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1–38) als Auslöser der Konfrontation mit den Pharisäern dargestellt. Diese Wunder stehen in ausdrücklichem Zusammenhang mit Jesu heilsgeschichtlichem Auftrag als Sohn Gottes und unterstreichen Avas Intention. So verzichtet Ava in der Wiedergabe des Geschehens bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11) z. B. auf alle Details, weitet aber den Dialog zwischen Jesus und seiner Mutter eigenständig aus. Als Maria seine göttliche Kraft herausfordert, antwortet Jesus ihr:

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vil lieber sun mîn, hie ist verzert der wîn ze dirre wirtscefte. nu erzäige dîne gotlîche chrefte! (Vv. 623–626)19

Mein geliebter Sohn, der Wein ist aufgebraucht bei diesem Festmahl. Nun beweise deine göttliche Kraft!

wîp, hôre her zuo mir, waz gehôrt daz zuo mir oder zuo dir? her nâch chumet diu zît, wilt du merchen, guot wîp, daz ich vil wol erzäige dir, waz ich hân von dir. (Vv. 629–634)20

Frau, höre mir zu, ist das mein oder dein Anteil? Später kommt die Zeit, da wirst du erkennen, gute Frau, wenn ich dir vieles zeigen werde, was ich von dir habe.

Vita bedeutet mehr als Biographie, diese umfasst die äußeren Daten, jene noch Auftrag und Sendung. Vgl. KIENAST, „Ava-Studien I“, 29; vgl. auch GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 51–55. SCHACKS, Frau Ava, 95.

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Ava legt Jesus Worte in den Mund, die den Unterschied der Herkunft („Frau, was habe ich mit dir? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, Joh 2,4) zwischen dem, was er von seiner Mutter hat, und dem, was ihm von Gott zukommt, ahnen lassen. Die menschliche Natur wird Maria in seinem Leiden (seine „Stunde“) erkennen müssen.21 Auffallend ist, dass die Dichterin in dem begrenzten Rahmen von Jesu öffentlichem Wirken bis zur Passion sechs Erzähleinheiten Frauen widmet: Jesus und die Samariterin (Joh 4,5–42), Jesus und die Kanaanäerin (Mt 15,21–28), Die Salbung der Füße Jesu durch die Sünderin (Lk 7,36–50), Jesus bei Maria und Marta (Lk 10,38–42), Die Salbung in Betanien (Joh 12,1–8), Jesus und die Ehebrecherin (Joh 8,1–11). Doch lässt die Gestaltung keine betont weibliche Interpretation erkennen. Sie folgt, abgesehen von Kürzungen, inhaltlich den biblischen Vorlagen und betont stets Jesus als den Messias. So verkündet ihn die Samariterin (direkte Rede!) und die Dichterin bestätigt es: „... nu wizzet, daz iz wâr ist: iz ist der häilige Christ.“ si sagete rehte, daz er was der chunftige Messias. (V737–740)22

„... Nun erkennt, es ist wahr: es ist der heilige Christ.“ Sie sagte die Wahrheit, dass er der künftige Messias wäre.

Ähnlich ruft im nächsten Abschnitt die kanaanäische Frau sogar zweimal: fili Davit, nu wis mir genâdich! (V757f.)23 fili Davit, erbarme dich uber mich vil armez wîp! (V771f.)24

Sohn Davids, nun erweise mir deine Gnade! Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir sehr armen Frau!

Wie Ava die Verkündigung an Maria mit unterschiedlicher Intention gestaltet, so auch die Erzählungen über die Salbungen. Im ersten Text werden verschiedene Angaben aus den Evangelien um die Frauengestalt, die als Maria von Magdala in die Frömmigkeitsgeschichte eingeht, zusammengefügt, im zweiten steht die symbolische Vorwegnahme der Salbung des Leichnams Jesu im Mittelpunkt. Wiederum betont Ava hier Jesus als den Gottessohn: mit dem hêren balsamum salbete si den gotesun (V1129f.)25

mit kostbarem Balsam salbte sie den Gottessohn

Auch der Besuch Jesu bei Maria und Marta wird deutend erzählt. Zunächst folgt Ava dem Lukastext, in der dritten Strophe jedoch weicht sie ab, indem sie Jesus für Marta Partei ergreifen lässt, er sagt: 20 21

22 23 24 25

Ebd. GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 73f., verweist in diesem Zusammenhang auf einen Traktat des Augustinus über die Zweinaturenlehre, auf den sie sich möglicherweise bezieht. SCHACKS, Frau Ava, 105. Ebd., 107. Ebd. Ebd., 134f.

Bibel und Poesie vil nôtdurft daz dienest ist (V974)26

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der Dienst ist sehr notwendig

Hier wird keine Ermahnung ausgesprochen, sondern der Dienst als „notwendig“ erachtet, den Marta weiterhin versieht.27 Wie die Evangelien zielt auch Avas Erzählung auf eine ausladende Schilderung der Passion und Auferstehung. Sie bezieht sich sowohl auf die Synoptiker als auch auf Johannes.28 Nach der Wahl des Matthias als Nachfolger für Judas folgt – als eine nicht biblische Erweiterung der Ava – die Bestellung der vier Evangelisten. Petrus ruft zur Verkündigung des Evangeliums auf und gebietet zu dichten und zu schreiben. Damit greift Ava im weitesten Sinne auf die Apostelgeschichte zurück, darüber hinaus legitimiert sie ihren eigenen Beruf, zu dichten und zu schreiben, um den Christen ihrer Zeit die Vita des Herrn nahezubringen. Exkurs zur Quellenlage Es ist zwar nicht die Aufgabe dieses Beitrags die komplizierte Quellenlage zu diskutieren, aber ein Hinweis auf die verschiedenen Vorlagen ist für die Bestimmung der AvaGedichte als Interpretation biblischer Texte nicht unwichtig. Nach einhelliger Meinung der Forschung besaß Ava eine hohe Bildung und Offenheit für die biblische Literatur ihrer Zeit. Doch sind alle Rückschlüsse auf gesicherte Quellen spekulativ, mehr oder weniger belegbar: Kienast vertritt z. B. die Auffassung, Avas Quellen seien die Bibel und zeitgenössische theologische Literatur; auch Stein glaubt, Avas Gedichte seien ohne Kenntnis einer Gesamtbibel und einzelner Bibelkommentare undenkbar; dagegen sehen Schacks, Greinemann und Gutfleisch-Ziche die Quellen in Liturgie und Predigt.29 So ist es nach neueren Forschungen unwahrscheinlich, dass Ava ihr Epos unmittelbar nach einer Gesamtbibel verfasst hat, wenn auch in einzelnen Strophen die Annäherung an die Vulgata deutlich zu sein scheint. Wie Greinemann überzeugend darlegt, hat sich die Autorin mehr als wahrscheinlich für ihr Werk, besonders für Johannes und Das Leben Jesu, der Leseordnung der Evangelien des Kirchenjahrs, das heißt eines Evangeliars, bedient; dies macht ein tabellarischer Vergleich zwischen liturgischen Lesungstexten und Strophen der Gedichte deutlich.30

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Ebd., 121. GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 5–88, verweist hier auf zeitgenössische typologische Schriftauslegungen der beiden Grundformen religiöser Lebensgestaltung: Dienst und Kontemplation. Für Einzelnachweise siehe die Tabellen von GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 34f., und GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 212–216. Vgl. ebd., 152–155, und die dort angegebene Literatur. Vgl. GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 134–135; GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 212–216. Letztere verweist hier auf die zu der Zeit übliche Leseordnung, vgl. Theodor KLAUSER, Das römische Capitulare Evangeliorum: Texte und Untersuchungen seiner ältesten Geschichte 1: Typen (LWQF 28; Münster: Aschendorff, 1935, 21971).

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Magda Motté

Dass die Dichterin jedoch keine schlichte Paraphrase der evangelischen Texte schreibt, sondern auch andere Quellen hinzuzog, davon zeugen ihre Erweiterungen, Kommentare und Erklärungen, z. B. hat die Höllenfahrt – seit dem 12. Jh. „Bestandteil von Leben-Jesu-Zyklen“ und „mehrfach in volkssprachlichen religiösen Dichtungen gestaltet“31 – keine Vorlage in den Evangelien. Nach Gutfleisch-Ziche hat sie zudem auch auf Bilderzyklen zurückgegriffen und einzelne Szenen (z. B. Maria bei der Verkündigung am Betpult in einem Raum, Ochs und Esel an der Krippe u. a.) – anders als es der biblische Text nahelegt – den Bildervorlagen entsprechend frei nachgestaltet.32 Schröder, Kienast und de Boor verweisen schließlich hinsichtlich des Gedichts Das Leben Jesu auf die Struktur mittelalterlicher Dramen, z. B. auf die lateinischen Osterfeiern aus Prag und Orléans sowie ein Passionsspiel. Sie sehen die Ähnlichkeit in der dramatischen Struktur, die einzelne viel gespielte Szenen herausgreift und auf die Lehrstücke verzichtet.33 Bemerkenswert ist, dass die Dichterin zahlreiche lateinische Zitate einfügt; so antwortet Maria: „ecce ancilla domini“ (Johannes V157)34 oder in der Verkündigung an die Hirten zitiert sie: „Gloria in excelsis“ (Leben Jesu V158),35 beim Lobgesang des Simeon: „Nunc dimittis“ (Leben Jesu V332)36 u. a. Es handelt sich jeweils um Formeln, die fester Bestandteil der Liturgie sind. In der Erzählung von Marias Besuch bei Elisabet notiert sie: „und sang Magnificat“ (unde sanch Magnificat, Leben Jesu V96)37, ohne es zu zitieren, ebenso bei Zacharias! „Benedictus“ (Johannes V192)38 und bei Simeons „Nunc dimittis“ (Leben Jesu V332). 1.2.3 Die sieben Gaben des Heiligen Geistes In logischer Folge der Ereignisse am Pfingstfest schließt die Dichterin eine Betrachtung über Die sieben Gaben des Heiligen Geistes an. Diese haben ihre Basis in Jes 11,2, aber darauf wird nicht ausdrücklich Bezug genommen. Hier dienen sie der Anleitung zu einem spirituellen Leben aufgrund des Heilsversprechens Jesu. Ava verbindet die Geistgaben nicht wie andere Kommentatoren mit den Stationen des Lebens Jesu, sondern mit den vier Elementen, Erde, Feuer, Wasser, Luft, und den drei Seelenkräften: Gedächtnis, Verstand, Wille.

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GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 198. Z. B. in Bezug auf die in räumlicher Nähe befindlichen Bildprogramme des „Antiphonars von St. Peter“ in Salzburg und des sog. „Perikopenbuchs aus St. Erentrud“; vgl. ebd., 196f. Ein Indiz für die Abhängigkeit vom Benediktbeuerner Osterspiel liegt etwa in der Beschreibung der Engel am Grab vor, von denen einer nach der dort angeführten Regieanweisung ein weißes, der andere ein rotes Gewand trägt; so auch bei Ava. Vgl. ROEDER, „Das Leben Jesu“, 5540. SCHACKS, Frau Ava, 23. Ebd., 59. Ebd., 73. Ebd., 53. Ebd., 25.

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Avas Rückgriff auf liturgische Perikopen, der für Das Leben Jesu als relativ gesichert gilt, ist für die drei letzten Gedichte nicht so deutlich. Greinemann hat als mögliche Quelle für Die sieben Gaben des Heiligen Geistes auf die Bergpredigt (Mt 5,3– 12), das Evangelium von Allerheiligen, hingewiesen und eine Verbindung der sieben Gaben des Geistes mit den sieben Seligkeiten gesehen, ganz so, wie Augustinus dies anregt.39 1.2.4 Der Antichrist und Jüngstes Gericht In diesen Gedichten wendet sich Ava Geschehnissen der Endzeit zu (vgl. Mt 24). Der große Gegenspieler Christi tritt auf und sucht die Christen durch falsche Zeichen und Wunder irrezuleiten. Dazu wird das Land von Seuchen und Zwietracht heimgesucht. Elija und Henoch wollen ihn besiegen, aber sie vermögen nichts auszurichten. Sein eigener Übermut bringt ihn zu Fall. Nach Knapp sieht die Dichterin in dieser apokalyptischen Zeit nicht fernliegende Ereignisse, sondern ihre Gegenwart, sich und ihre Mitmenschen als schwer geprüfte Opfer. Deshalb sucht sie diese in Anlehnung an Lk 21,20–24 zu trösten:40 Sô hevet iuwer houbet unde iuwer hende, sô nâhet uns diu wâre urstende (Antichrist V27f.)41

Dann erhebet euer Haupt und eure Hände, es naht uns die wahre Auferstehung.

Im abschließenden Gedicht über das Endgericht schildert die Dichterin fünfzehn Zeichen, die dem Kommen des Herrn vorausgehen, bis er selbst mit Engeln und Heiligen erscheint. Der Gesamtkomplex endet in der Mahnung zu einem christlichen Leben. Für die beiden letzten Gedichte werden die verschiedensten Vorlagen als Quellen diskutiert. Auch hier hat Greinemann die überzeugendsten Argumente. Unstrittig ist der Rückbezug auf die biblischen Perikopen des letzten und des ersten Sonntags im Kirchenjahr, Mt 25,31–46 (vgl. auch Mt 24,3–42 par. Mk 13,14–20; Lk 21,20–24), und alttestamentliche apokalyptische Schriften. Die Autorin belegt in einer treffenden Detailanalyse, dass Ava immer wieder biblische Aussagen, wie sie in Homilien zu den Evangelien zur Sprache kamen, in eigener Weise verarbeitet. So entspricht z. B. die Anweisung zu einem gottgefälligen Leben Jesu Gebot der Barmherzigkeit (Mt 25,31– 46). Gutfleisch-Ziche verweist für Antichrist außerdem auf die Weltgerichtsdarstellung im Hortus deliciarum, die „zahlreiche, auch bei Ava genannte Details“42 aufweise. Das gilt vor allem für das Jüngste Gericht – hier nennen die meisten Forscher noch das

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Vgl. Almut MUTZENBECHER, Hg., Sancti Aurelii Augustini: De sermone Domini in monte: Libros duos (CCSL 35; Turnhout: Brepols, 1967), 7–13 (I,3,10–4,12), mit Verweis auf Jes11,2; seine Homilie ist Bestandteil der Matutin des Festes und war Ava als Quelle mit großer Wahrscheinlichkeit bekannt. Durch Textvergleich kommen andere Forscher hinsichtlich der Sieben Gaben auf eine Verbindung zum St. Trutperter Hohenlied und zur Vorauer Genesis, was aber nur für die theologische Sichtweise gelten kann. Vgl. KNAPP, Geschichte der Literatur, 121. SCHACKS, Frau Ava, 243. GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 587.255.

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Ezzo-Lied, Himmel und Hölle, die Altdeutsche Genesis u. a.43 Die im ersten Teil des Jüngsten Gerichts von Ava geschilderten 15 Tage mit Unheilszeichen lassen keinen direkten Bezug zu Vorlagen erkennen.44 Der Topos war zwar verbreitet und hat seine Grundlage vielleicht in Apokryphen, etwa der Apokalypse des 4. Buches Esra oder der Thomas-Apokalypse. Die Stoffe beider Gedichte waren allgemein geläufiges Predigtgut der Zeit um die Jahrtausendwende.

1.3. Bibelepik der Frau Ava Wenn Ava ihr Werk auch nicht unmittelbar auf der Grundlage einer Vollbibel schrieb, sondern sich an einem Lektionar, dem Brevier, an Bilderzyklen und vielen anderen bibelbezogenen Texten orientierte, so ist ihre Dichtung doch im Ganzen durch und durch von den Evangelien und der Apostelgeschichte abhängig. Außerdem greift sie gedanklich mehrfach auf das Erste Testament zurück. Es bleibt offen, ob sie den Grundtext nicht doch einem Evangeliar entnommen hat, denn mehrfach ist die direkte Anlehnung an die Vulgata festzustellen, z. B. bei Jesus bei Maria und Marta. Ava hat eine Dichtung verfasst und keine Nacherzählung der Bibel geschrieben, sondern – nach dem Motto: „Was die Bibel verschweigt, erzählen die Dichter“45 – diese als Stoffquelle frei genutzt. Als Dichterin ist es ihr unbenommen, aus dem Gedächtnis zu zitieren, Auswahl und Anordnung der Erzählabschnitte vorzunehmen, Teile der vier Evangelien nach Art einer Evangelienharmonie miteinander zu verbinden, Details hinzuzufügen oder wegzulassen, sich als auktoriale Erzählerin einzubringen und Kommentare zu geben. Dass sie eine Dichtung und keine Bibelübersetzung vorlegen wollte, davon zeugen die versifizierte Form (germanische Langverse mit Binnenreim und Zäsur in der Mitte) und persönliche Stilelemente. Immer wieder kommt bei literarischen Werken von Frauen die Frage auf: Woran erkennt man, dass der Text von einer Frau stammt? Gibt es eine weibliche Ästhetik? Gegen eine solche Annahme wehren sich mit Recht die künstlerisch (und wissenschaftlich) tätigen Frauen. Überzeugende Kunstwerke sind neutral. Zwar mag es im Sujet, in der Intention oder in der Personengestaltung Unterschiede geben, die als männliches oder weibliches Schreiben bezeichnet werden können, aber sie sind nicht geschlechtsabhängig, sondern austauschbar, das heißt beide Schreibweisen können von Frauen und Männern gleichermaßen angewandt werden. So zeigt Ava als auktoriale

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Vgl. bes. KIENAST, „Ava-Studien I“, und GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 155– 164. Vgl. KNAPP, Geschichte der Literatur, 121. Magda MOTTÉ, „Was die Bibel verschweigt, erzählen die Dichter“, in Der Heiligen Schrift auf der Spur: Beiträge zur biblischen Intertextualität in der Literatur (hg. v. Maria K#a$ska, Jadwiga Kita-Huber und Pawe# Zarychta; Beihefte zum Orbis Linguarum 83; Dresden: Neisse, 2009), 50–67.

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Erzählerin ein vertieftes Verständnis für die beteiligten Personen, was als weibliches Schreiben gelten könnte.46 Als Adressaten ihrer Gedichte hatte Ava wahrscheinlich Liturgie feiernde Menschen ihres Standes (adelige Laien? Frauenkloster?) im Blick. Darauf deuten nicht zuletzt die lateinischen Zitate hin.47 Auch wenn sie Mahnungen ausspricht – vielfach schließt sie sich als Adressatin dabei ein –, dient ihr Werk nicht zur Belehrung, vielmehr zur „erbaulichen Meditation über das Heilsgeschehen“48. Es war möglicherweise als Tischlektüre für die Klostergemeinschaft bestimmt. Dass ihre Gedichte sich jedoch nicht nur an Frauen richten, ist der Anrede „meine lieben Herren“ (lieben mîne hêrren, z. B. Leben Jesu V297) zu entnehmen. Dennoch – darüber sind sich die meisten Forscher einig – ist hier eine Frau am Werk, die mit großem Einfühlungsvermögen (compassio) die Gefühle der beteiligten Personen, z. B. der Samariterin am Brunnen, Marias und Martas, des Nikodemus und der Mutter Jesu unter dem Kreuz, insbesondere den Schmerz der Maria Magdalena am Grab, schildert.49 Wenn z. B. Otfried von Weißenburg in seiner Dichtung den Schmerz der Maria Magdalena einfühlsam darstellt, so scheint bei Ava eine besonders persönliche Anteilnahme durch, was auch Forscher wie Fritz Martini lange vor einer feministisch orientierten Sichtweise anerkennen: Das Gedicht wird von einer persönlichen Laienfrömmigkeit durchlebt, die vor allem das Menschliche an den Leiden, den Wunden und dem Tode Christi begreift und sich dem Schmerz der Gottesmutter zuwendet. Die Sendung Christi wird ganz vom Gefühl her nachempfunden – es ist deutlich, wie ein neues mystisches Erleben die Sprache zum Schwingen bringt.50

Auch in der Auswahl der Perikopen von Hilfe suchenden Frauen, wie der Sünderin, der kanaanäischen Frau, der Frau der Salbung, mag ein Indiz für das Einfühlungsvermögen einer Frau liegen. Langguth und Knapp nennen zudem die Hervorhebung der Seligpreisung der Jungfräulichkeit als eigenwillige weibliche Interpretation von Lk 23,29 durch Ava (Antichrist V33–44).51

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Vgl. Elisabeth GÖSSMANN, „Die Selbstverfremdung weiblichen Schreibens im Mittelalter: Bescheidenheitstopik und Erwählungsbewußtsein: Hrotsvith v. Gandersheim, Frau Ava, Hildegard v. Bingen“, in Begegnung mit dem „Fremden“: Grenzen – Traditionen – Vergleiche: Akten des VIII. Internationalen Germanistenkongresses Tokyo 1990 (hg. v. Eijir% Iwasaki; 11 Bde; München: Iudicium, 1991), 10:193–200; 198f.; dagegen sehen GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava, 58, und GUTFLEISCH-ZICHE, Volkssprachliches und bildliches Erzählen, 144f., hier ausschließlich den umfassenden heilsgeschichtlichen Aspekt betont, da eine verständnisvolle Darstellung Männer wie Frauen betrifft. Vgl. LANGGUTH, Untersuchungen, 116f. KNAPP, Geschichte der Literatur, 118. Vgl. ROEDER, „Das Leben Jesu“, 5541f. Fritz MARTINI, Deutsche Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart (KTA 196; Stuttgart: Kröner, 91958), 29. Vgl. LANGGUTH, Untersuchungen, 103f.; KNAPP, Geschichte der Literatur, 118.

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In diesem Sinne setzt das Werk der Ava in einer vornehmlich von Männern bestimmten kirchlichen und liturgischen Praxis im 12. Jh. einen Meilenstein biblischer Rezeption. Ihr Werk ist im Zusammenhang des Themas Die Bibel und die Frauen ein wertvolles Dokument, weil hier eine namentlich fassbare Frau zum ersten Mal in frühmittelhochdeutscher Sprache Gedichte verfasste, die biblische Geschichten unmittelbar interpretieren.

2. Bibelepik über eine Frau: Judit Neben Maria von Magdala hat keine Frau der Bibel in Literatur und Kunst soviel Interesse erregt wie Judit. Und keine biblische Figur wirft in Bezug auf Frauenforschung so viele Deutungsmöglichkeiten auf wie Judit. Das lässt sich bereits an frühen volkssprachlichen Juditdichtungen des 12. Jh. zeigen. Es ist hier nicht der Ort, die Fülle mittelalterlicher Juditübersetzungen und Juditdichtungen der verschiedenen Länder, also versifizierte, gereimte, volkssprachliche Texte mit einer gezielten Deutungsabsicht, zu erörtern, dazu sei auf die umfangreiche Untersuchung von Henrike Lähnemann verwiesen. Dennoch sei erwähnt, dass nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in den Nachbarländern, sowohl in einer angelsächsischen als auch in einer Veroneser Handschrift, im mittelfranzösischen Makkabäerroman und bei Aelfric Grammaticus dichterische Bearbeitungen des Buches Judit zu finden sind.52 Hier wird der Fokus auf ein frühmittelhochdeutsches Werk gelegt, die Ältere Judith (1100). Es ist wie die Jüngere Judith (1110) und die Gedichte der Ava in der Vorauer Handschrift überliefert. Doch während die Jüngere Judith dem Vulgatatext „ängstlich, fast Wort für Wort“ folgt“53, also keine besondere Interpretation aufweist, ist die Ältere Judith aufgrund der freien Gestaltung des Stoffes bemerkenswert.

2.1 Die Ältere Judith – Bekennerin der Allmacht Gottes Diese Dichtung eines anonymen Autors ist Teil einer größeren Einheit, die von Konrad Hofmann Nabuchodonosor genannt wurde und zwei umfangreiche selbständige Gedichte umfasst: Die drei Jünglinge im Feuerofen und die Ältere Judith.54 Der Stoff ist den Büchern Daniel und Judit entnommen und die Aussageintention beider Gedichte wird auf eigenwillige Weise theologisch miteinander verschränkt. Denn der Dichter entwirft – wie Frau Ava – ein großes Epos der Heilsgeschichte, den geistigen Kampf 52

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Vgl. Henrike LÄHNEMANN, Hystoria Judith: Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (ScFr 20; Berlin: de Gruyter, 2006), 10–13. Paul PIPER, Die geistliche Dichtung des Mittelalters (2 Bde; Zürich: Olms, 1986), 1:204. Vgl. Konrad HOFMANN, Ueber die mittelhochdeutschen Gedichte von Salomon und Judith und Verwandtes (SBAW.PPH 1, München: Franz in Komm., 1871), 553 –566; 557f.; vgl. auch PIPER, Dichtung, 1:215–222.

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zwischen den Heiden mit ihren Göttern auf der einen Seite sowie den Gläubigen mit dem einzigen, wahren Gott Israels auf der anderen. Von Anfang an lässt der Dichter keinen Zweifel daran, wem der Sieg gehört, wenn er eingangs Gott als den Waltenden preist und diese Verse in ähnlicher Weise am Ende wiederholt, so dass sie wie eine Klammer beide Gedichte umfassen. Das erste Gedicht schildert die Auseinandersetzung des Königs Nebukadnezzar mit den drei jungen Männern, die er in den Feuerofen werfen ließ, weil sie sich vor dem von ihm errichteten goldenen Standbild nicht zur Anbetung niederwerfen wollten. Doch die Flammen schaden den Männern nicht, sie gehen umher und loben den einzigen unsichtbaren Gott. Das beeindruckt den König so stark, dass er die drei freilässt und ihren Gott als Retter anerkennt (Dan 3,1–97). Dieser Vorgabe folgt auch der Text mit dem Unterschied, dass hier am Ende nicht Nabuchodonosor (= Nebukadnezzar) den wahren Gott preist, sondern das Volk den Lobpreis der Jünglinge (vgl. Dan 3,51–90) aufgreift. Damit werden diese sozusagen zu Missionaren, was auf den „Sitz im Leben“ des Gedichts, die Bekehrung der Heiden, verweist. Die hier ausgesparte Erzählung von der Einsicht des Königs führt unmittelbar zu Judith.55 Auch hier geht es um den Sieg JHWHs über die Abgötter. Den drei Männern wird gleichwertig als Bekennerin des wahren Gottes eine Frau gegenübergestellt.

2.2 Poetisierung der biblischen Vorlage Das Gedicht setzt die Kenntnis des Buches Judit voraus, denn der Dichter geht höchst souverän mit der Vorlage um.56 Im Stil des mittelalterlichen Heldenlieds baut der Dichter die dramatische Geschichte um seine Protagonistin auf. Judit ist schön, tapfer, intelligent, wehrhaft und steht exemplarisch für eine selbständige Frau. Immer wieder betont er leitmotivisch ihre Gottesfurcht, wenn sie sich für ihr blutiges Geschäft stets im Gebet der Hilfe Gottes versichert: zi goti wol digiti (V144.168.182.204)57

zu Gott wollte sie flehen

Ihr Gegenspieler Holofernes, Herzog (= Heerführer) des Königs, wird als bösartiger Feind wie eine Verkörperung Satans eingeführt. Bereits während er siegessicher seine Leute zur Belagerung der Stadt und Vernichtung aller Hebräer anstachelt, weiß der Leser/Hörer jedoch, dass ihm Judit zum Verhängnis wird; denn bevor sie überhaupt in Erscheinung tritt, schreibt der Dichter zweimal vorausdeutend: sit slug in Judith ein wib (V100)58 da slug in du schoni Juditha (V108)59 55 56 57

58 59

später erschlug ihn Judit, eine Frau da erschlug ihn die schöne Judit

Vgl. LÄHNEMANN, Hystoria Judith, 106f. Vgl. ebd., 126–130. Friedrich MAURER, Hg., Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts (3 Bde; Tübingen: Niemeyer, 1964-1970), 1:406f. Übertragungen von der Verfasserin. Ebd., 405. Ebd.

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Damit steht von der ersten Strophe des Judit-Gedichts an sein Untergang durch die Hand dieser Frau fest. Auch das Begehren des Holofernes, die Stadt mit allen Mitteln zu erobern, wird vom Dichter mit einem leitmotivischen Wort begleitet: di burc (di) habit er gerni (V118.154.188)60

die Stadt hätte er gern [eingenommen]

Schließlich zeigt sich die dichterische Phantasie des Verfassers in der Namensgebung der Stadt: nicht Betulia (Jdt 4), sondern Bathania (V108)61 ist der Gegenpol zu Babilonia. Dem heidnischen sündigen Babel (Gen 11,1–9) wird damit das neutestamentliche Betanien gegenübergestellt. Es ist der Ort eines der großen Machterweise Jesu (Auferweckung des Lazarus, Joh 11) und der Ausgangspunkt seines letzten Wegs nach Jerusalem.62 Gegen diese Stadt (hier burc) und ihre gläubigen Bewohner – das heißt gegen diese göttliche Wirklichkeit – rennt Holofernes an und will sie vernichten, wie sein König die Jünglinge, indem er ihr das Wasser abgräbt. Ganz nach literar-poetischer Dramaturgie wird Judit erst in der 7. Strophe in die Handlung eingeführt. Bewundernd beschreibt der Dichter ihre Gottesfurcht, ihre Schönheit und die Vorbereitung auf ihre Tat, dann den Gang mit ihrer Magd Ava ins feindliche Lager.63 In radikaler Verknappung der Vorlage wechselt der Autor in der 8. Strophe die Perspektive wieder auf Holofernes und sein Begehren: Er will sowohl die Stadt als auch die Frau besitzen, die mit Attributen der Verlockung geschildert wird. Judit wird von den Kriegern aufgespürt und wie eine Jagdtrophäe zu Holofernes gebracht. Dann aber mutiert sie „vom Beuteobjekt zum handlungsleitenden Subjekt“64. Ist die Handlung bisher ganz aus der Perspektive des Holofernes und der Krieger geschildert, so bestimmt von der 9. Strophe an Judits Perspektive das Geschehen, dem Holofernes ergeben zustimmt: „Frau, das tue ich gern“ (vrowi, daz dun ich gerni V176).65 Anders als in der Vorlage schlägt sie hier ein großes Hochzeitsfest nach höfischer Art vor. Wiebke Freytag macht in dem Zusammenhang auf eine feine Sprachunterscheidung aufmerksam: Hier im Bereich galanter höfischer Zeremonie wird Judit als „Herrin“ (vrove) in ihrer gesellschaftlichen Stellung bezeichnet, dort aber, wo sie ihre Frauenrolle als Kämpferin übersteigt und tötet, in ihrer Geschlechterrolle als „Frau“ (wib); denn das Kriegsgeschäft gehört nicht zu den Aufgaben einer höfischen

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Ebd., 405.407. Vgl. ebd., 405. Vgl. LÄHNEMANN, Hystoria Judith, 112–115. Ähnlich hat der Dichter auch den Burgherrn bzw. die Priesterschaft als biscof (V136; MAURER, Dichtungen, 405) „christianisiert“. Die Texte Frau Ava und Ältere Judith sind nicht nur durch die Überlieferung in derselben Handschrift aufeinander bezogen, sondern auch durch den Namen Ava: Name der Dichterin – Name von Judits Dienerin. Ava = Awe entstammt der indogermanische Wurzel *awa = Heil, Segen (vgl. LÄHNEMANN, Hystoria Judith, 117), ein Hinweis auf den guten Ausgang; auch der Engel verweist am Ende nochmals auf die Magd (din wib Awin V208; MAURER, Dichtungen, 407). LÄHNEMANN, Hystoria Judith, 119. MAURER, Dichtungen, 406.

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Dame.66 Judit arrangiert das Fest, bedient sich listig selbst, um Holofernes trunken zu machen. Ähnlich wie in der biblischen Vorlage betont der Dichter auch hier ihre starke Verbundenheit mit Gott im Gebet, denn wie Nabuchodonosor für Holofernes, so ist Gott für Judit der Auftraggeber. Als er vom Schlaf übermannt wird, kann Judit handeln. Sie stiehlt ihm sein Schwert und betet wiederum, um sich ihrer guten Absicht zu versichern: su sprach: „nu hilf mir, alwaltintir got der mir zi lebini gebot, daz ich armin giloubigin irlosi uon de heidinin.“ (V196–199)67

Sie sprach: „Nun hilf mir, allgewaltiger Gott, der mich ins Leben rief, dass ich diese armen Gläubigen von den Heiden erlöse.“

Dann kommt der Umschlag: Der Dichter schildert nicht die blutige Tat, sondern führt einen Engel vom Himmel ein, der Judit die Hand führt, sie zur Tat ermutigt, das Schwert zu nehmen, zu handeln und in die Stadt zurückzukehren. Damit wird Gott zum Handelnden, er befreit das Volk, Judit ist das Werkzeug. Mit der Einführung des Engels greift der Dichter zum einen auf Achiors Deutung des Geschehens im Buch Judit (Jdt 14,10), zum anderen auf die alte Erzähltradition biblischer Ereignisse zurück; denn an zahlreichen Nahtstellen der biblischen Geschichte wird das Eingreifen Gottes mittels eines Engels dokumentiert oder in Gang gesetzt und die menschliche Tat als Gottes Handeln in der Geschichte gedeutet.68

2.3 Die Ältere Judit – mehr als eine Paraphrase Judit wird also hier stark auf ihre Rolle als schöne Frau und von Gott Geleitete konzentriert. Da der Dichter ihre Tat nicht unmittelbar schildert, sondern durch die Vision eines Engels abmildert, steht die Heldin am Ende rein, ohne blutige Hände da. Genau diese blutigen Hände haben die Figur in den folgenden Jahrhunderten bis heute so zwiespältig, aber auch den Stoff so dankbar für dramatische Versionen gemacht. Die Ältere Judith ist ein literarisches Kunstwerk, das in Judit ein Wesen zeigt, in dem die verschiedenen Züge weiblicher Existenz Herrin und Frau zu einer Einheit verschmelzen. Den Kunstcharakter dieses Gedichts fasst Lähnemann gegen Ende ihrer Deutung wie folgt zusammen:

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67 68

Vgl. Wiebke FREYTAG, „Zur topischen Verarbeitung von Hrabans Allegorese in den ‚Drei Jünglingen im Feuerofen& und in der ‚Älteren Judith&“, in Aspekte des 12. Jahrhunderts: Freisinger Kolloquium 1998 (hg. v. Wolfgang Haubrichs; Wolfram-Studien 16; Berlin: Erich Schmidt, 2000), 192–234; 226. MAURER, Dichtungen, 407. LÄHNEMANN, Hystoria Judith, 123f.: „Diese Judithversion endet nicht mit blutigem Handwerk (doppelter Schlag durch die Halsader, Abtransport, Schaugericht mit dem Kopf auf der Lanze und Plünderung des Heerlagers), sondern in der Reinheit der göttlichen Legitimation.“

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Die selbständige Umformung des Skopus, des Lokalkolorits und des Erzählstils fordert ein intensiveres Verständnis der Geschichte als das nacherzählende Beibehalten. Die starke Reduktion der Namenfülle etwa gibt den einzelnen Erwähnungen ein stärkeres Gewicht; die Wahl von bathania als Gegenort zu babilonia, die Heraushebung der Dienerin Judiths, die beziehungsvolle Verbindungen innerhalb der Vorauer Handschrift herstellt, verdichten das Geschehen, statt es paraphrasierend zu verteilen. Wendungen, die aus Kenntnis der Vulgata bzw. gelehrter Literatur hergeleitet werden können (etwa die Formeln für Judith, die Handlung und Bezeichnung der Diener des Holofernes, die Schönheitsbeteuerung), werden nicht einfach übernommen, sondern neu arrangiert.69

Diese beiden Beispiele aus der Vorauer Handschrift geben ein zutreffendes Bild vom selbständigen, kreativen Umgang mit biblischen Vorlagen von Frauen und über Frauen. Zwar handelt es sich bei den Gedichten der Frau Ava nicht um hohe Poesie, aber um eine biblische Lehrdichtung, die von einem begründeten Selbstbewusstsein ihrer Verfasserin zeugt. Die Ältere Judith hingegen weist bereits etliche Elemente einer literarisch dramatischen Adaption auf, wie sie besonders seit dem 19. Jh. z. B. von Friedrich Hebbel, Georg Kaiser, Jean Giraudoux, Rolf Hochhuth u. a. vorgenommen wurde.

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Ebd., 127f.

Weibliche Metaphern von der Heiligen Schrift zu Julian von Norwichs Offenbarungen Kari Elisabeth Børresen Universität Oslo

1. Bilder des Weiblichen in der Bibel Jeder Diskurs über Gottes Aktivität uns gegenüber, quoad nos, erfolgt auf der Grundlage von bio-sozio-kulturell konditionierter Erfahrung. Da sowohl die Heilige Schrift als auch die nachfolgende biblische Interpretation in männerzentrierten Gesellschaften entstanden sind, wird die traditionelle christliche Theologie vor allem durch männliche Rede von Gott verbalisiert. In der Hebräischen Bibel wird Gott überwiegend mit männlichen Metaphern wie König, Krieger, Richter und patriarchalischer Ehemann beschrieben. Dennoch erscheinen in einigen Texten ausnahmsweise auch weibliche Bilder. Jesaja vergleicht JHWH mit einer Frau in den Wehen, die ächzt und keucht (42,14). Gott benimmt sich wie eine stillende Mutter: „Vergisst etwa eine Frau ihren Säugling, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Sollten selbst diese vergessen, ich werde dich niemals vergessen.“1 (49,15). Diese göttliche Mutterschaft wird weiter beschrieben: „Wie einen, den seine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. An Jerusalem sollt ihr getröstet werden.“ (66,13). Von Hosea stammt der eindrucksvolle Vergleich zwischen JHWHs schrecklicher Liebe zu Israel und einer Bärin, der ihre Jungen genommen werden (13,8). Im Neuen Testament wird Gott zwar oft als Vater, und Christus als Sohn und Herr bezeichnet, aber zwei Gleichnisse nutzen auch weibliche Bilder: Das Reich der Himmel gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Maß Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war. (Mt 13,33; vgl. Lk 13,20f.) Oder welche Frau, die zehn Drachmen hat, zündet nicht, wenn sie eine Drachme verliert, eine Lampe an und kehrt das Haus und sucht sorgfältig, bis sie sie findet? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und spricht: Freut euch mit mir! Denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut. (Lk 15,8–10)

Metaphern des Weiblichen finden sich in Worten Jesu, denn er vergleicht sich mit einer Henne, die ihre Küken unter ihren Flügeln schützt (Mt 23,37; vgl. Lk 13,34), und bei Paulus, der im Glauben Kinder gebiert (Gal 4,19), stillt (1 Kor 3,1f.) und ernährt (1 Thess 2,7–9). Das Bild der Muttermilch erscheint auch in anderen Briefen (Hebr 5,12f.; 1 Petr 2,2).

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Bibelzitate in diesem Beitrag nach der Elberfelder Bibel (revidierte Fassung).

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2. Metaphern des Weiblichen in der patristischen und mittelalterlichen Exegese Einige dieser Schrifttexte werden so interpretiert, dass Gott sich durch die Inkarnation Christi wie eine Frau erniedrigt.2 Wichtige Beispiele hierfür sind Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandria und Augustinus. Im Kontext der göttlichen Pädagogik spielt Irenäus auf den mütterlichen Aspekt Christi an: Und darum bot er, der das vollkommene Brot des Vaters war, sich uns selbst als Milch dar wie Kindern, was seine Ankunft als Mensch bedeutet, damit wir, wie von der Brust seines Fleisches ernährt und durch solche Milchspeise daran gewöhnt, das Wort Gottes zu essen und zu trinken, das Brot der Unsterblichkeit in uns zu haben vermögen, das der Geist des Vaters ist.3

Clemens verwendet eine Fülle solcher mütterlicher Metaphern, um zu erläutern, wie Gottes inkarniertes Wort die Gläubigen durch die Eucharistie ernährt.4 In einem außergewöhnlichen Text erweitert Clemens diese weibliche Bildsprache auf die ewige Geburt des präexistenten Sohnes durch Gottvater, wie es für die Inkarnation des Wortes nötig ist: Aber auch Gott selbst ist Liebe, und aus Liebe ließ er sich von uns schauen. Und das Unaussprechliche seines Wesens wurde Vater, das gegen uns Mitleidige aber wurde Mutter. Und infolge seiner Liebe nahm der Vater eines Weibes Wesen an, und der deutliche Beweis dafür ist der Sohn, den er selbst aus sich erzeugte; und die aus Liebe geborene Frucht ist Liebe.5

Augustinus setzt sich mit der mütterlichen Menschlichkeit Christi vor allem in seinem Psalmenkommentar auseinander, in dem er sowohl das Bild der schützenden Flügel als auch das von Jesus als Mutterhenne benutzt. Bei der Erklärung von Ps 91,4 bezieht Augustinus sich explizit auf Christus als beschützende Mutter Weisheit. Indem er die Mutterhenne mit Zitaten von Joh 1,14 und Phil 2,6–8 kombiniert, integriert er Mutterschaft und Inkarnation. So erhält die menschliche Natur Christi eine weibliche Funktion, die ihn verletzlich macht:

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Vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, „L!usage patristique de métaphores féminines dans le discours sur Dieu“, RTL 13 (1982): 205–220; nachgedruckt in DIES., From Patristics to Matristics: Selected Articles on Gender Models (hg. v. Øyvind Norderval und Katrine Lund Ore; Rom: Herder, 2002), 93–108. Haer. IV,38,1. Deutsche Übersetzung aus: IRENÄUS VON LYON, Adversus Haereses: Gegen die Häresien (hg. v. Norbert Brox; FC 8; 5 Bde; Freiburg i. Br.: Herder, 1993–2001), 4:335. Paed. I, VI,34,3–38,3; 41,2–42,3. Quis div. 37,1f. Deutsche Übersetzung aus: KLEMENS VON ALEXANDRIEN, Der Erzieher II-III: Welcher Reiche wird gerettet werden? (übers. v. Otto Stählin; BKV 2,8; München: Kösel, 1934), 268f.

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Fugiamus sub alas matris Sapientiae, quia et ipsa Sapientia infirmata est propter nos, quia Verbum caro factum est.6

Hier muss angemerkt werden, dass diese Interpretation sich gut in die androzentrische Symbolik einpasst, die das menschliche Element als weiblich ansieht, da es als untergeordnet und schwach gilt. Augustinus verfolgt dieses Thema weiter beim Zitat aus 1 Kor 1,25 („das Schwache Gottes ist stärker als die Menschen“). Er interpretiert es dahingehend, dass Gottes Weisheit in Christus durch die Menschwerdung geschwächt wird: Mater nostra sapientia dei, per carnis susceptionem infirmata quoddammodo.7 Im Kommentar zu Ps 59,6 zitiert Augustinus Mt 23,37 und Phil 2,68, um zu betonen, dass das inkarnierte Wort, das alle Nationen unter die schützenden Flügel nimmt, seine göttliche Majestät nicht aufgibt: Ergo hoc maternae infirmitatis est, non amissae maiestatis.8 Augustinus’ Auslegung von Psalm 102,7 bezieht sich auf die Legende von der Pelikanmutter, die sich die Brust aufreißt, um ihre toten Küken mit ihrem eigenen Blut wiederzubeleben. Dieses Bild aus dem 3. Jh. wurde benutzt, um Christi Tod und Auferstehung zu illustrieren. Mit einem Hinweis auf die Mutterhenne und zwei Zitaten von Paulus über seine väterlichen (1 Kor 4,15) und mütterlichen (Gal 4,19) Funktionen schließt Augustinus: Christus habet enim paternam auctoritatem, maternum affectum; sicut et Paulus pater est et mater est.9 Anselm von Canterbury paraphrasiert diesen Text in seinem Gebet an Paulus, wo er den Apostel eine affectuosa mater nennt. Durch seine Predigten gebiert und ernährt Paulus die Gläubigen. Später, in Bezug auf Jesus als Mutterhenne, betont Anselm, dass Gott die größte Mutter ist: Ergo tu, domine deus, magis mater. Am Kreuz gebiert Christus durch seinen Tod und stirbt in Geburtsqualen.10 Diese Analogie zwischen der Kreuzigung und den Geburtswehen ist typisch für das Mittelalter und erscheint auch bei der Kartäuserpriorin Marguerite d’Oingt (†1310)11 und bei Birgitta von Schweden. In ihren Reuelaciones sagt Christus: Durch mein Leiden gebar ich die Menschheit als Mutter, und ich brachte sie aus der Dunkelheit des Todes zum ewigen Tag. Indem ich sie mit großer Anstrengung in meinem Schoß trug, erfüllte ich alle Prophezeiungen. Ich nährte sie mit meiner Milch, indem ich sie mit meinen Worten und dem Gesetz des Lebens fütterte. 12

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„Nehmen wir Zuflucht unter die Flügel von Mutter Weisheit, denn sogar die Weisheit selbst ist wegen uns geschwächt worden, da das Wort Fleisch geworden ist.“ (Enarrat. Ps. XC,II,2) [Deutsche Übersetzung in Anm. 6–9: Anneliese Felber]. „Unsere Mutter ist die Weisheit Gottes, durch die Annahme des Fleisches ist sie gewissermaßen geschwächt.“ (Quaest. ev. 1,36). „Daher ist das ein Zeichen mütterlicher Schwäche, nicht verlorener Würde.“ (Enarrat. Ps. LVIII,I,10). „Er hat väterliche Autorität, einen mütterlichen Gemütszustand; gleichwie ist auch Paulus Vater und Mutter.“ (Enarrat. Ps. CI,I,8). Oratio 10, in Opera omnia II,3. Pagina Meditationum 33.36. Rev. VI,19,18–23.

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3. Julians innovative Rede von Gott In diesem Kontext der traditionellen Exegese bietet Julian von Norwich († nach 1416) ein hervorragendes Beispiel einer weiblichen Gottesrede. Bekannt unter dem Namen des männlichen Heiligen, dem die Kirche St. Julian in Conisford neben ihrer Zelle in Norwich geweiht war, ist ihr liturgisches Fest seit 1980 Teil des anglikanischen Kalenders. Julian gelingt es, den fundamentalen Graben zu überbrücken, der im Christentum die Gottheit von der Weiblichkeit trennt, indem sie das traditionelle, aber atypische Thema der inkarnierten Mutterschaft Christi in einen neuen, dreifaltigen Gottesbegriff verwandelt.13 Als Julian am 13. Mai 1373 im Alter von dreißigeinhalb Jahren todkrank war, wurde sie auf wundersame Weise durch eine Offenbarung der allumfassenden Gnade Gottes geheilt, die durch Christi Erlösertod am Kreuz ausgeführt wurde (I,201 [125]; II,207 [127]; 2,285 [177]; 2,289 [179]).14 Julian beschrieb dieses Ereignis in zwei Versionen der Offenbarungen, einem kurzen, bald nach ihren Visionen, und einem längeren, etwa zwanzig Jahre später fertiggestellten Bericht, der aus der theologischen Reflexion dieser Erfahrung resultierte. Julians kurze Version liegt in einem einzigen Manuskript von ca. 1450 vor, das 1909 identifiziert und 1911 veröffentlicht wurde. Die lange Version ist in drei leicht voneinander abweichenden Kopien aus dem 17. Jh. erhalten; die erste Veröffentlichung erfolgte 1670.15 Verglichen mit anderen, weiter 13

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15

Vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, „Christ notre Mère, la théologie de Julienne de Norwich“, MFCG 13 (1978): 320–329; DIES., „Julian of Norwich: a Model of Feminist Theology“, in DIES., und Kari VOGT, Women s Studies of the Christian and Islamic Traditions (Dordrecht et al.: Kluwer Academic Publishers, 1993), 295–314 [nachgedruckt in DIES., From Patristics to Matristics, 231–246]; DIES., „Giuliana di Norwich“, in Il Grande Libro dei Santi: Dizionario Enciclopedico (hg. v. Claudio Leonardi, Andrea Riccardi und Gabriella Zarri; 3 Bde; Mailand: San Paolo, 1998), 2:968–970. Dieser Aufsatz bezieht sich auf die kritische Ausgabe von Edmund COLLEDGE und James WALSH, Hg., A Book of Showings to the Anchoress Julian of Norwich (STPMIS 35; 2 Bde; Toronto: Pontifical Institute of Medieval Studies, 1978). Diese basiert hauptsächlich auf dem Pariser Manuskript und bietet außerdem einen biblischen Index und theologische Anmerkungen. Die römischen Nummern beziehen sich auf die Kapitel ihres kurzen Textes, arabische Nummern auf den langen Text (Erläuterung siehe Anm. 15). Die Seiten in Klammern beziehen sich auf die Übersetzung: DIES., Julian of Norwich: Showings (New York: Paulist Press, 1978). Eine neuere kritische Ausgabe bieten Nicholas WATSON und Jacqueline JENKINS, Hg., The Writings of Julian of Norwich: A Vision Showed to a Devout Woman and A Revelation of Love (Medieval Women: Texts and Contexts 15; Turnhout: Brepols, 2006). Darin erfolgt eine stärker literarisch und linguistisch geprägte Analyse. Da im Deutschen keine zuverlässige Übersetzung des längeren Textes existiert, werden die englischen Zitate belassen; die Übersetzung des kurzen Textes stammt aus: JULIAN OF NORWICH, Offenbarungen von göttlicher Liebe (übers. v. Elisabeth Strakosch; CMe 36; Einsiedeln: Johannes Verlag, 21988). Diese Manuskripte sind: London, British Library MS Additional 37790 (kurzer Text); Paris, Bibliothèque Nationale, MS Fonds Anglais 40; London, British Library MS Sloane 2499; London, British Library MS Sloane 3705 (langer Text).

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verbreiteten englischen Glaubensschriften von Richard Rolle (†1349) und Walter Hilton (†1396) sind Julians Offenbarungen nüchtern und intellektuell anspruchsvoll. Sie erweist darin eine gründliche Kenntnis der biblischen, patristischen und mittelalterlichen Quellen sowie der Literatur in Volkssprache. Diese Gelehrtheit lässt auf eine Ausbildung in einem (vermutlich benediktinischen) Kloster schließen. Julians Konzentration auf die Passion Christi ist typisch für das späte Mittelalter, aber sie zeigt nicht die übliche Faszination am Leiden Christi als solchem. Im Kontrast zur damals gängigen, angstvollen Suche nach einem gnadenvollen Gott zeigt Julian ihr Grundvertrauen in das universelle Heil durch Christi Worte und ihren Kommentar: „Ich will alles gut machen, ich werde alles gut machen, ich darf alles gut machen, ich kann alles gut machen, und du selbst sollst sehen, daß alles gut sein wird.“ Wenn er sagt, Er darf, verstehe ich, daß damit der Vater gemeint ist; wenn Er sagt, Er kann, verstehe ich, daß damit der Sohn gemeint ist[,] und wenn Er sagt: ich will, verstehe ich, daß damit der Heilige Geist gemeint ist, und wenn Er sagt, ich werde, verstehe ich, daß damit die Einheit der seligen Dreifaltigkeit gemeint ist, drei Personen in einer Wahrheit. Und wenn Er sagt: du selbst sollst sehen, verstehe ich, daß damit gemeint ist, daß die ganze Menschheit, die erlöst werden soll, in die Einheit der seligen Dreifaltigkeit aufgenommen werden soll. (XV,249 [151; Strakosch, 67f.]; 31,417 [229]; vgl. XIII,245 [149]; 32,422 [231]; 63,618 [305])

Julian ist sich darüber im Klaren, dass ihr grundlegender Glaube an die göttliche Liebe sich nicht mit den traditionellen Konzepten der Sünde, der Verdammnis und Gottes eifersüchtiger Gerechtigkeit verträgt. Augustinus’ (und später auch Luthers) selbstbezogener Suche nach einem gleichzeitig herrschenden und gnadenvollen Gott wird klar widersprochen: Obwohl die Personen der Heiligen Dreifaltigkeit alle ihre Wesenszüge in gleichem Maße besitzen, wurde mir am meisten die Liebe gezeigt, da sie uns am nächsten steht. In diesem Wissen sind wir am meisten blind, denn viele Menschen glauben zwar daran, daß Gott allmächtig ist und alles zu tun vermag, und daß Er allwissend ist und alles tun kann, aber daß Er all-liebend ist und alles tun will, dazu sind sie zu kleinlich. (XXIV,274f. [168; Strakosch, 95])

In der ersten Version wiegt Julian ihren weiblichen Mangel an Lehrautorität laut 1 Kor 14,34f. und 1 Tim 2,11f. mit einem Appell an Gottes offenbarten Willen auf: Aber Gott sei davor, daß ihr sagen oder es so auffassen solltet, daß ich eine Lehrerin bin, denn das meine ich nicht und habe es niemals gemeint, bin ich doch eine armselige Frau, schwach und hinfällig. Aber ich weiß wohl, was ich sage, denn ich habe es in der Schau von Ihm empfangen, der der allerhöchste Lehrer ist. Wahrhaftig, die Liebe bewegt mich dazu, es euch zu berichten, denn ich wünschte, daß Gott erkannt wird, und daß meine Mitchristen ebenso angespornt würden, wie ich selbst es sein möchte, die Sünde zu hassen und Gott zu lieben. Aber soll ich deshalb, weil ich eine Frau bin, glauben, daß ich euch nicht von der Güte Gottes sprechen soll, da ich doch in demselben Augenblick sah, wie sehr es Sein Wille ist, daß sie erkannt werde? (VI,222 [135; Strakosch, 41])

Dieser typisch mittelalterliche Verweis darauf, dass Gott schwache Frauen auswählt, wenn er etwas mitteilen möchte, fehlt in der zweiten Version, die verfasst wurde, als

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Julians Ruf der Heiligkeit schon wohlbekannt war.16 Dennoch besteht die längere Version auf der Konformität mit der kirchlichen Lehre, was wahrscheinlich darauf hindeutet, dass klerikale Schreiber an der Überlieferung des Manuskripts beteiligt waren.

4. Gottes Mutterschaft in Christus Julians innovativer Gottesbegriff ist deswegen so originell, weil sie Christi Mutterschaft auf die präexistente Ebene der Trinität transponiert. Als Frucht ausgedehnter Meditation über ihre Offenbarungserfahrung findet diese Doktrin der Mutterschaft Christi ihren Weg in die lange Version der Offenbarungen.17 Obwohl Julian auf der patristischen und mittelalterlichen Auslegung weiblicher Metaphern in der Bibel aufbaut, ist es wichtig festzustellen, dass ihr Werk wenige Referenzen zu diesen weiblichen Darstellungen enthält. Folgende Beispiele seien angemerkt: In Kapitel 52 spielt sie auf Jes 66,13 an („Gott freut sich, dass er unsere Mutter ist“). Spuren von Weish 7,10–12 und Sir 24,24f. finden sich in Kapitel 54 („die tiefe Weisheit der Dreifaltigkeit ist unsere Mutter“). Sie beschreibt Christi mütterliches Verhalten mit Anspielungen auf 1 Petr 2,2; Jes 66,12f. und Gal 4,19 in Kapitel 60. Lk 15,10 klingt in Kapitel 63 an, wo die Zerstörung der Sünde Freude im Himmel hervorruft, aber von der Frau, die ihre verlorene Münze findet, ist nicht die Rede. In Kapitel 28 beschreibt Julian das Mitleid und Erbarmen Christi, indem sie das Bild der Mutterhenne (Mt 23,37) mit Mt 11,28f. „Kommet her zu mir ... ich will euch erquicken“ verknüpft. Und dennoch wird die mütterliche Art seiner erlösenden Liebe hier nicht erwähnt.18 Der offensichtliche Grund für das Fehlen von traditionellem Material ist Julians Theologie, die die männerzentrierten Grenzen der Heiligen Schrift wie auch der nachfolgenden Exegese überschreitet. Diese Originalität wird in den Kerntexten ihrer langen Version der Offenbarungen greifbar, wo die Metapher der Mutter dazu dient, die dreifaltige Ganzheit als Schöpferin und Erlöserin zu verbalisieren: I contemplated the work of all the blessed Trinity, in which contemplation I saw and understood these three properties: the property of the fatherhood, and the property of the motherhood, and the property of the lordship in one God. In our almighty Father we have our protection and our bliss, as regards our natural substance, which is ours by our creation from without beginning, and in the second Person, in knowledge and wisdom we have our perfection, as regards our sensuality, our restoration and our salvation, for he is our Mother, brother and saviour; and in our good Lord the Holy Spirit we have our reward and our gift for our living and our labour, endlessly surpassing all that we desire in his marvellous courtesy, out of his plentiful grace. For all our life consists of three: in the first we have our being, and in the second we have our increasing, and in the third we have our fulfilment. The first is nature, the second is mercy, the third is grace. As to the

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9,321–323 (191f.); 33,427–429 (234f.); 46,490–494 (258f.). Die Metapher der Mutterschaft findet sich in: 48,502 (262); 52,546 (279); 54,563 (285); 57 – 63,580–618 (292–305); 74,675 (325); 83,724 (340). 52,546 (279); 54,563 (285); 60,598 (298); 63,614 (303); 28,410 (226–227).

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first, I saw and understood that the high might of the Trinity is our Father, and the deep wisdom of the Trinity is our Mother, and the great love of the Trinity is our Lord; and all these we have in nature and in our substantial creation. And furthermore I saw that the second Person, who is our Mother, substantially the same beloved Person, has now become our Mother sensually, because we are double by God's creating, that is to say substantial and sensual. Our substance is the higher part, which we have in our Father, God almighty, and the second Person of the Trinity is our Mother in nature in our substantial creation, in whom we are founded and rooted, and he is our Mother of mercy in taking our sensuality. And so our Mother is working on us in various ways, in whom our parts are kept undivided; for in our Mother Christ we profit and increase, and in mercy he reforms and restores us, by the power of his Passion, his death and his Resurrection he unites us to our substance. So our Mother works in mercy on all his beloved children who are docile and obedient to him, and grace works with mercy, and especially in two properties, as it was shown, which working belongs to the third Person, the Holy Spirit. He works, rewarding and giving. Rewarding is a gift for our confidence which the Lord makes to those who have laboured; and giving is a courteous act which he does freely, by grace, fulfilling and surpassing all that creatures deserve. Thus in our Father, God almighty, we have our being, and in our Mother of mercy we have our reforming and our restoring, in whom our parts are united and all made perfect man, and through the rewards and the gifts of grace of the Holy Spirit we are fulfilled. And our substance is in our Father, God almighty, and our substance is in our Mother, God all wisdom, and our substance is in our Lord God, the Holy Spirit, all goodness, for our substance is whole in each Person of the Trinity, who is one God. And our sensuality is only in the second Person, Christ Jesus, in whom is the Father and the Holy Spirit; and in him and by him we are powerfully taken out of hell and out of the wretchedness on earth, and gloriously brought up into heaven, and blessedly united to our substance, increased in riches and nobility by all the power of Christ and by the grace and operation of the Holy Spirit. (58,582–588 [293–295])

5. Holistischer Gottesbegriff In diesem grundlegenden Kapitel 58 erklärt Julian, wie die ganze Dreieinigkeit quoad nos, in unserer Erschaffung und in der Erlösung der Menschheit durch den inkarnierten Christus, wirkt, dort wo Gottes präexistente Weisheit und Gottes gekreuzigter Christus zusammenkommen. Durch eine Erweiterung des Themas von 1 Kor 1,24f.30 bestätigt Julian, dass die Dreieinigkeit von „Vaterschaft“, „Mutterschaft“ und „Herrschaft“ als Beispiel für Gottes Tätigkeit als Schöpfer, Erlöser und Gnadengeber dient. In ihrem neuen holistischen Gottesbegriff wendet Julian diese trinitarische Wechselbeziehung auf die menschliche Ebene an, um zu beschreiben, wie Gottes fortgesetzte Schöpfung und erlösende Menschwerdung die spirituellen und körperlichen Elemente der Menschheit vereinen. Es ist daher wichtig zu betonen, dass Julians Verwendung der Worte substannce und sensualyte keine dualistische Anthropologie impliziert. Im Gegenteil, Julians innovative Theologie zielt darauf ab, den männerzentrierten Dualismus der traditionellen Doktrin zu korrigieren. Der Mensch besteht aus Körper,

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„sinnlicher Seele“ und Intellekt, wird also durch die enge Verbindung zwischen Gott und der Menschheit vereinigt: God is closer to us than our own soul, for he is the foundation on which our soul stands, and he is the mean which keeps the substance and the sensuality together, so that they will never separate. (56,570f. [288f.])

Dies bedeutet, dass die Ganzheit des Menschen durch die Einheit von Gottheit und Menschheit in Christus, der zweiten Person der Dreifaltigkeit, gewährleistet wird. And so in Christ our two natures are united, for the Trinity is comprehended in Christ, in whom our higher part is founded and rooted; and our lower part the second person has taken, which nature was first prepared for him. (57,577f. [291])

Indem er unsere menschliche „Sinnlichkeit“ in sich aufnimmt, stellt der inkarnierte Christus deren perfektes Gleichgewicht mit unserer menschlichen „Substanz“ wieder her (55,565–569 [286–288]). Julians trinitarische Mutterschaft gewährleistet ebenso die Ganzheit der gesamten Schöpfung, die in der erlösten Menschheit erneuert wird: God is essence in his very nature; that is to say, that goodness which is natural is God. He is the ground, he is the substance, he is very essence or nature, and he is the true Father and the true Mother of natures. And all natures which he has made to flow out of him to work his will, they will be restored and brought back to him by the salvation of man through the operation of grace. For all natures which he has put separately in different creatures are all in man, wholly, in fulness and power, in beauty and in goodness, in kingliness and in nobility, in every manner of stateliness, preciousness and honour. (62,610–613 [302f.])

Um die intime Einheit zwischen Gott und der gottähnlichen Menschheit zu beschreiben, benutzt Julian eine beeindruckende Metapher von einer interagierenden trinitarisch-menschlichen Schwangerschaft: And I saw no difference between God and our substance, but, as it were, all God; and still my understanding accepted that our substance is in God, that is to say that God is God, and our substance is a creature in God. For the almighty truth of the Trinity is our Father, for he made us and keeps us in him. And the deep wisdom of the Trinity is our Mother, in whom we are all enclosed. And the high goodness of the Trinity is our Lord, and in him we are enclosed and he in us. We are enclosed in the Father, and we are enclosed in the Son, and we are enclosed in the Holy Spirit. And the Father is enclosed in us, the Son is enclosed in us, and the Holy Spirit is inclosed in us, almighty, all wisdom and all goodness, one God, one Lord. (54,561–564 [285])

Auf dieselbe Weise benutzt Julian die physiologische Bindung zwischen Mutter und Kind als Bild für die Nähe des menschgewordenen Christus zu uns Menschen, verwirklicht im Leib seiner Mutter. Dieser Text stellt auch die Priorität der Mutterschaft Christi vor Marias mütterlicher Funktion fest: For in the same time that God joined himself to our body in the maiden!s womb, he took our soul, which is sensual, and in taking it, having enclosed us all in himself, he united it to our substance. In this union he was perfect man, for Christ, having joined in himself

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every man who will be saved, is perfect man. So our Lady is our mother, in whom we are all enclosed and born of her in Christ, for she who is mother of our saviour is mother of all who are saved in our saviour; and our saviour is our true Mother, in whom we are endlessly born and out of whom we shall never come. (57,579f. [292])

Marias Mutterschaft wird hier als instrumentell und zweitrangig beschrieben. Da für Julian das Konzept von Christus als trinitarischer Mutter im Mittelpunkt steht, ist ihre Mariologie entsprechend unauffällig: Our Mother in nature, our Mother in grace, because he wanted altogether to become our Mother in all things, made the foundation of his work most humbly and most mildly in the maiden!s womb. (60,594f. [297])19

Um Gottes Gnade zu beschreiben, die aus Christi erlösender Mutterschaft fließt und von der Mutter Kirche kanalisiert wird, nutzt Julian auch Metaphern der Geburt und der Kindererziehung. Indem sie die Kirche mit Christi Leib gleichsetzt (Eph 5,25–32) und auf das Blut und das Wasser verweist, die aus Christi Seite herausfließen (Joh 19,34), verschmilzt sie die jeweiligen mütterlichen Funktionen: And therefore it is a certain thing, and good and gracious to will, meekly and fervently, to be fastened and united to our mother Holy Church, who is Christ Jesus. For the flood of mercy which is his dear blood and precious water is plentiful to make us fair and clean. The blessed wounds of our saviour are open and rejoice to heal us. The sweet gracious hands of our Mother are ready and diligent about us; for he in all his work exercises the true office of a kind nurse, who has nothing else to do but attend to the safety of her child. (61,607f. [301f.])

Hier ist es wichtig festzustellen, dass Julian Joh 19,34 nicht mit Evas Erschaffung aus Adams Rippe in Gen 2,21–23, einem Standardthema in der patristischen Exegese, kombiniert. Dies bedeutet, dass die Kirche nicht auf ihre typologische Funktion als gehorsame Braut Christi beschränkt wird, sondern als Mittlerin der erlösenden Mutterschaft Christi verstanden wird.

6. Julians hermeneutische Gewandtheit Julians inklusiver Diskurs ist ziemlich anspruchsvoll. Ihre Verwendung der Formel „er ist unsere Mutter“, dieser paradoxen Kombination eines männlichen Pronomens und eines weiblichen Substantivs, beruht meiner Meinung nach auf der Absicht, die Mutmaßlichkeit der menschlichen Gottesrede deutlich zu machen. Sie erklärt deswegen, dass die in diesem Leben verfügbare Gotteserfahrung einem elementaren Alphabet ähnelt: God is the foundation of our natural reason; and God is the teaching of Holy Church, and God is the Holy Spirit, and they are all different gifts, and he wants us to have great

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Maria wird auch erwähnt in: IV,214 (131); V,217 (132); X,234 (142); XIII,242f. (146f.); 6,305 (185); 7,310f. (187); 25,398–401 (221–223); 44,483 (255f.); 51,534.539f. (274f.277).

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Kari Elisabeth Børresen regard for them, and to accord ourselves to them. For they work continually in us, all together, and those are great things; and of his greatness he wants us to have knowledge here, as it were in an ABC. That is to say that we can have a little knowledge of that of which we shall have the fulness in heaven, and that is to further us. (80,707f. [335])

Auf dieselbe Art und Weise charakterisiert Julian ihr Gleichnis vom Herrn und seinem Diener in Kapitel 51, das Gott und seinen inkarnierten, leidenden und auferstandenen Sohn darstellt: Also in this marvellous example I have teaching within me, as it were the beginning of an ABC, whereby I may have some understanding of our Lord!s meaning, for the mysteries of the revelation are hidden in it, even though all the showings are full of mysteries. (51,539 [276])

Dieses Gleichnis ist sehr wichtig, weil Julian hier die traditionell männerzentrierte Typologie umformt, die auf der Grundlage von Röm 5,12 und 1 Kor 15,20–23.45–49 Christus als neuen Adam sieht. Sie präsentiert ein komplexes Zusammenspiel von Theologie und Anthropologie, indem sie die Rettung der Menschheit durch den trinitarischen Christus mit Adam verbindet, der die gefallene und erlöste Menschheit repräsentiert: In the servant is comprehended the second Person of the Trinity, and in the servant is comprehended Adam, that is to say all men. And therefore when I say ‘the Son’, that means the divinity which is equal to the Father, and when I say ‘the servant’, that means Christ!s humanity, which is the true Adam. By the closeness of the servant is understood the Son, and by his standing left is understood Adam. The lord is God the Father, the servant is the Son, Jesus Christ, the Holy Spirit is the equal love which is in them both. When Adam fell, God!s Son fell; because of the true union which was made in heaven, God!s Son could not be separated from Adam, for by Adam I understand all mankind. (51,532f. [274])

Aus der modernen Perspektive der sogenannten Inklusivsprache ist interessant, dass Julian beim Schreiben über Christen im Allgemeinen darauf achtet, „Mann und Frau“ beziehungsweise „Männer und Frauen“20 zu schreiben. Eine wichtige sprachliche Präzision in Julians mittelenglischer Originalfassung, die in modernen Übersetzungen verschleiert wird, ist ihre genderfaire Formel, mit der sie Gottes trinitarische Selbstoffenbarung als Vater und Mutter beschreibt. Dort werden die Worte I it am als I am he wiedergegeben.21 Dieses Paradoxon tritt auch in anderen Texten auf, in denen Julian danach strebt, ihre Offenbarungen den anderen ChristInnen verständlich zu machen: Again and again our Lord said: I am he, I am he, I am he who is highest. I am he whom you love. I am he in whom you delight. I am he whom you intend. I am he who is all. I am he whom Holy Church preaches and teaches to you. I am he who showed himself before to you. The number of the words surpasses my intelligence and my understanding and all my powers, for they were the most exalted, as I see it, for in them is compre20

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VI,220f. (134); XVII,256 (154f.); XX,264 (161); XXIII,272 (167); XXIV,274 (168); 8,319 (190); 10,326 (193); 14,353 (204); 34,431 (235); 39,449 (244); 62,613 (303); 65,627 (308). 59,590 (295f.); 60,597.600 (298f.).

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hended I cannot tell what; but the joy which I saw when they were revealed surpasses all that the heart can think or the soul may desire. And therefore these words are not explained here, but let every man accept them as our Lord intended them, according to the grace God gives him in understanding and love. (26,402f. [223f.]; 83,722 [339])

7. Urahnin der feministischen Theologie Auf Julians gründliche Kenntnis der patristischen und mittelalterlichen Theologie sowie ihre herausragende Stellung in der Geschichte der christlichen Doktrin wurde schon in der ersten kritischen Ausgabe ihrer Offenbarungen hingewiesen.22 Als feministische Theologin habe ich die Begriffe „Matristik“ und „matristische Theologie“ geprägt, um die griechisch-lateinische Inkulturation der alten Kirchenväter mit der mittelalterlichen Inkulturation europäischer Kirchenmütter zu vergleichen.23 Aus meiner historisch-theologischen Perspektive bewerte ich diese beiden Zeiträume als die wichtigsten Innovationen in der Geschichte des Christentums. Hierzu eine wichtige Beobachtung: Wenn die neuere theologische Anthropologie Frauen und Männer als männliche und weibliche nach Gottes Bild geschaffene Menschen definiert, so stellt diese Anpassung an die moderne westliche Kultur einen radikalen Bruch mit früheren Definitionen des Schöpfungsvorbilds Imago Dei als männlich oder asexuell dar.24 Vorweggenommen durch führende Kirchenmütter wie Hildegard von Bingen und Julian von Norwich, entdeckte auch die feministische Theologie des 19. Jh. das doktrinale Zusammenspiel von Gottheit und gottähnlicher Menschheit wieder. Die norwegische Pionierin Aasta Hansteen und nach ihr die nordamerikanische Elizabeth Cady Stanton und ihr Kreis ignorierten die mittelalterliche Matristik, in der die weibliche Rede von Gott auch dazu diente, die charismatische Autorität von Frauen zu sichern, und beschrieben stattdessen Gott durch weibliche Metaphern, um soziale und politische Rechte für „Godlike women“ zu erreichen.25 Auch protestantische Exegeten akzeptierten bald dieses neue Konzept der holistischen Gottähnlichkeit unterschiedlicher, aber gleichwertiger Menschen. Dies hatte jedoch

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COLLEDGE und WALSH, Hg., A Book of Showings, 43–59. Zum Kapitel 59 siehe ebd., 151: „her magisterial teaching on the motherhood of God, teaching which stands as an unique theological achievement in the Church!s spiritual traditions“. Kari Elisabeth BØRRESEN, Abschnitt „Matristics“, in DIES., From Patristics to Matristics, 143–272; DIES., „Matristica“, in Nuovo Dizionario Patristico e di Antichità Cristiane (hg. v. Angelo Di Berardino; 3 Bde; Genua: Marietti, 22006–2008), 2:3149–3156; DIES., „Matristics“, in Encyclopedia of Ancient Christianity (hg. v. Angelo Di Berardino; 3 Bde; Downers Grove: InterVarsity Press, im Druck). Vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, Hg., The Image of God: Gender Models in Judaeo-Christian Tradition (Minneapolis: Fortress Press, 1995). Vgl. Aasta HANSTEEN, Kvinden skabt i Guds Billede [Nach Gottes Bild geschaffene Frauen] (Christiania: Dybwad, 1878); Elizabeth CADY STANTON, et al., The Woman’s Bible I (Woman and the Church in America 40; New York: European Publishing Company, 1895).

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weniger feministische Gründe, sondern galt eher der Umformung der dualistischen Anthropologie der platonisierenden Kirchenväter. Nachdem die holistische Definition der Imago Dei auch innerhalb der katholischen Lehre nach dem 2. Vatikanischen Konzil (1962–1965) akzeptiert wurde, wurde folglich das traditionelle Konzept der asexuellen menschlichen Gottähnlichkeit geschwächt. Gleichwohl bleibt die frühere patristische Definition der asexuellen Imago Dei für die orthodoxe Theologie normativ. Dennoch beschreibt die Hauptlinie der christlichen Doktrin Gott immer noch als mannähnlich oder metasexuell, was eine Inkohärenz zwischen der aktualisierten Anthropologie und dem überholten Gottesbegriff zur Folge hat. Infolgedessen beruft sich die katholische feministische Theologie auf die neue Imago Dei der Frauen, um die traditionelle Ungeeignetheit der Frauen für kultische Ämter abzuschaffen, die im kanonischen Recht des Mittelalters präzise als impedimentum sexus (Hindernis aufgrund des Geschlechts) definiert wird. Dieser Ausschluss vom Priesteramt bleibt im Codex Iuris Canonici von 1983 bestehen: Sacram ordinationem valide recipit solus vir baptizatus („Die heilige Weihe empfängt gültig nur ein getaufter Mann.“ c. 1024). Die Konsequenz ist, dass gottähnliche Frauen nicht als christusähnliche Priester (in persona Christi) fungieren können.26 Auch in den Gesetzen der orthodoxen Kirchen gelten Frauen als ungeeignet für kultische Funktionen; weibliche Priester und Bischöfe existieren nur in der protestantischen Minderheit des Christentums. In dieser Situation, in der die Inkulturation der Glaubenslehre zum Stillstand gekommen ist, zeigt Julians kreativer Gottesbegriff ihren exemplarischen Wert für die theologische Erneuerung. Da Julians Sprache auf ihrer Erfahrung als Frau basiert, korrigiert und bereichert sie die männliche Formulierung der traditionellen Theologie. Nur wenn diese mit den Erfahrungen des männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen ausgedrückt wird, wird Theologie zu einem vollkommenen menschlichen Diskurs über Gott. Im historischen Kontext, in dem sich die Interaktion zwischen dem menschlichen Gottesbegriff und der gottähnlichen Menschheit kulturell verschiebt, ist Julians Modell für die holistische Imago Dei der Frauen auf der göttlichen Ebene ihr größter Verdienst. Indem sie Gottes schöpferische und erlösende Tätigkeit mit männlichen ebenso wie weiblichen Metaphern beschreibt, versucht Julian die Gesamtheit Gottes durch die Ganzheit des Menschen zum Ausdruck zu bringen. Sie verwandelt den für die christliche Tradition untypischen Gebrauch weiblicher Metaphern und beschreibt die mütterlichen Eigenschaften Christi im Einklang mit der traditionellen Frauenrolle ihrer Kultur, in der die Mutter beschützend, nährend und voller Mitleid ist. Dennoch besitzt Julians Gottesbegriff eine tiefe Originalität, da sie die metaphorische Mutterschaft Christi von seiner inkarnierten Menschlichkeit auf 26

Vgl. Kari Elisabeth BØRRESEN, „The Ordination of Women: To Nurture Tradition by Continuing Inculturation“, in DIES., From Patristics to Matristics, 275–287; DIES., „Cristianesimo e diritti umani delle donne: impedimentum sexus“, in Le Donne cristiane e il sacerdozio: Dalle origini all età contemporanea (hg. v. Dinora Corsi; Rom: Viella, 2004), 261–271; DIES., „Defending Women!s Cultic Incapability: Impedimentum Sexus“, Rivista di Storia del Cristianesimo 5 (2008): 543–549.

Weibliche Metaphern von der Heiligen Schrift zu Julian von Norwich

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seine göttliche Natur als zweite Person der Dreifaltigkeit ausweitet. Mit ihren weiblichen Metaphern zur Beschreibung von „our Mother God all Wisdom“ löst Julian die traditionelle männerzentrierte Christologie und die zugehörige typologische Genderhierarchie ab, in der Christus der neue Adam ist und die Kirche oder Maria seine untergeordnete neue Eva darstellt. Julian versteht die kenosis Christi in Phil 2,6–11 als mütterlich und interpretiert Joh 1,14 (homo factus est) in einem neuen, inklusiven Sinn als perfekte Menschlichkeit, über die traditionell-androzentrische Idee der perfekten Männlichkeit gemäß Eph 4,13 (vir perfectus) hinaus. Durch die Verschiebung männlicher und weiblicher Eigenschaften von der menschlichen auf die göttliche Ebene überwindet Julians innovative holistische Theologie die im Christentum grundsätzlich vorhandene Unvereinbarkeit zwischen Gottheit und Weiblichkeit. In Julians Offenbarungen wird die trinitarische Wechselbeziehung in Begriffen der menschlichen Gesamtheit formuliert, so dass männliche und weibliche Metaphern für Gott den gottähnlichen Frauen und Männern entsprechen. Durch ihre Sprache, die das weibliche Geschlecht mit einbezieht, wird Julian – sowohl mit ihrer Intention als auch mit dem Inhalt ihrer Lehre – zu einer beispielhaften Urahnin der feministischen Theologie.

Theodora Palaiologina und andere Gelehrte, Kopistinnen und Exegetinnen in Byzanz Rosa Maria Parrinello Università di Torino Anstatt des Webstuhls hast du ein Buch in der Hand, statt der Spule einen Federkiel, Frau! du betest Hermes an und opferst Kalliope, und stellst Aphrodite in den Hintergrund. Was machst du da? Ich weiß es nicht, für Bücher! Dreh wieder die Spindel, webe den Stoff, denk an die Wolle und verflechte die Fäden. Die Briefe und das Wissen sind für Männer gedacht. Davon überzeuge dich der große Aischylos, der sagt: „Darum wird sich der Mann kümmern, die Frau soll nicht daran denken.“ (Johannes Tzetzes, Giambi1)

1. Frauen und Bildung in Byzanz Diese jambischen Verse schrieb der byzantinische Gelehrte Johannes Tzetzes im 12. Jh. an eine Frau, die sich der Schedographie widmen wollte, einer grammatikalischen Schulübung von nicht gerade höchstem Niveau. Er fasst darin die Gemeinplätze gegen Frauen zusammen und hält Weben und Sticken für geeignete Aktivitäten, aber bestimmt nicht Lesen und Schreiben.2 Der Text enthält aber auch die Information, dass es im Konstantinopel des 12. Jh. eine gewisse Anzahl „gebildeter“ Frauen gab.3 Dies ist sicher nicht der richtige Ort, um über weibliche Kultur in Byzanz zu sprechen. Es genüge hier der Hinweis, dass in der byzantinischen Welt die Frauen aus historischen, sozialen und kulturellen Gründen sowohl von der passiven Lesekultur (Lesenlernen) als auch in noch stärkerem Maße von der aktiven Lesekultur (literarische Produktion) ausgeschlossen waren. Von dieser Regel gibt es nur einige wenige Ausnahmen: Die eklatantesten sind Kassia, eine Dichterin aus der Mitte des 9. Jh., und eine Historikerin, Anna Komnena (1083–1153), die das schönste Werk der gesamten byzantinischen Literatur, die Alexiade, verfasste. Die einzig mögliche literarische Bildung war wohl die Lektüre der Heiligen Schriften: Deswegen kennen wir die Namen 1

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Silvio G. MERCATI, „Giambi di Giovanni Tzetze contro una donna schedografa“, ByzZ 44 (1951): 416–418. Enrico V. MALTESE, „Donne e letteratura a Bisanzio: Per una storia della cultura femminile“, in DERS., Dimensioni bizantine: Donne, angeli e demoni nel Medioevo greco (Turin: Paravia Scriptorium, 1995), 111–137; 120. Vgl. Angeliki E. LAIOU, „The Role of Women in Byzantine Society“, JÖB 32.1 (1982): 233–260; jetzt in DIES., Gender, Society and Economic Life in Byzantium (CStS 370; Ashgate: Variorum, 1992); vgl. auch DIES., „Observations on the Life and Ideology of Byzantine Women“, ByzF 9 (1985): 59–102; jetzt in DIES., Gender, Society and Economic Life.

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einiger Hagiographinnen und Hymnographinnen. Meist ist jedoch außer den Namen nichts bekannt, sieht man einmal von einigen bekannteren Persönlichkeiten4 ab.

1.1 Frauenbildung und gebildete Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft Die byzantinische Gesellschaft ist, um mit den Worten von Judith Herrin zu sprechen, eine „von Männern dominierte Gesellschaft“, in der der Einfluss von Frauen meist verschwiegen wird: Dieses Schweigen ist unter kulturellem Gesichtspunkt besonders evident, da HistorikerInnen hier meist gezwungen sind, auch bei der Geschichte der Frauen auf von Männern verfasste Quellen zurückzugreifen.5 Also ist der Übergang von einer androzentrischen Perspektive zu einer „gender-orientierten Forschung“ umso schwieriger, je weniger die Geschichte der Frauen sich auf Schriften von Frauen stützen kann. Die Analyse der Spezifika und die Konstruktion des Weiblichen, auch in seiner Beziehung zum männlichen Geschlecht, wird ein Stück weit durch Quellen verfälscht, die – da sie von Männern verfasst wurden – dazu neigen, sich auf die Aktivitäten und Heldentaten der Männer zu konzentrieren. Die Herausforderung, eine transformative Geschichte zu schreiben, die die Ereignisse mit Berücksichtigung der Rolle von Frauen neu betrachtet, und nicht eine Kompensationsgeschichte, steht also teilweise noch aus. Hinzugefügt werden muss jedoch, dass einige Aspekte, wie etwa der der Matronage, der Netzwerke unter Herrscherfrauen und der geistlichen Freundschaften, innerhalb derer es Beziehungen zwischen Männern und Frauen gab, zumindest seit den letzten zwanzig Jahren Eingang in die Byzantinistik gefunden haben. Dies ist auch der Berücksichtigung der Sozialgeschichte zu verdanken, die zum Großteil von Alexander Kazhdan und seiner Schule eingeführt worden ist.6 Grosdidier de Matons hatte schon Ende der sechziger Jahre mit beinahe einzigartigem Einfühlungsvermögen darauf hingewiesen, dass die byzantinischen Quellen fast alle auf den Hof und die Männer, in jedem Fall aber auf den Kaiser und dessen 4

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Vgl. Hans-Georg BECK, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich (HAW 12,2,1; München: C.H. Beck, 1959), 429.461.603f.698.797: Er erwähnt die hl. Martha, die Mutter des Säulenheiligen Simeon des Jüngeren, im 6. Jh.; Sergia aus dem Kloster der hl. Olympias in Konstantinopel im 7. Jh.; Thekla, Autorin eines Hymnus an die Theotokos, im 9. Jh.; Theodosia im 9. Jh.; die in diesem Aufsatz behandelte Theodora Palaiologina Raulaina; eine Palaiologina, Verfasserin von Hymnen an den hl. Demetrius in der ersten Hälfte des 14. Jh. Vgl. Judith HERRIN, „In Search of Byzantine Women: Three Avenues of Approach“, in Images of Women in Antiquity (hg. v. Averil Cameron und Amélie Kurth; London: Routledge, 1993), 167–189. Genannt seien hier als Beispiele Alexander KAZHDAN, Bisanzio e la sua civiltà (Rom: Laterza, 1995); orig. russ. Vizantijskaja kultura (Moskau: Nauka, 1968); DERS. und Ann WHARTON EPSTEIN, Changes in Byzantine culture in the Eleventh and Twelfth Centuries (Berkeley: University of California Press, 1985); DERS. et al., Hg., The Oxford Dictionary of Byzantium (3 Bde; New York: Oxford University Press, 1991).

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Reich zentriert waren, in dem Frauen, abgesehen von den Kaiserinnen, nicht in der Öffentlichkeit auftauchten. Texte, aus denen die Lebensbedingungen von Frauen rekonstruiert werden können, sind etwa: Rechtssammlungen, aus denen die Stellung der Frauen vor dem Gesetz hervorgeht,7 historische Werke Kaiserinnen betreffend, Biographien und Lebensgeschichten weiblicher Heiliger oder Grabreden, auf halbem Wege zwischen Hagiographie und Geschichtsschreibung.8 Zu diesen Quellen kommen die Regeln der Nonnenklöster hinzu sowie deren Gründungsdokumente, wenn die Gründerin aus der Kaiserfamilie oder aus dem Adel stammte. All dies sind Quellen, die meist recht wenig über die Beziehung der Frauen zur Kultur im Allgemeinen und zum Bibeltext im Besonderen aussagen. Sicher ist, dass der Status der Frauen sich auf zwei antithetische Bibelfiguren gründet: auf Eva, die Verführerin und Ursache der Erbsünde, und Maria, die Mutter Gottes und Mittlerin der Erlösung und der Erneuerung der Menschheit. Dazu ist allerdings die These von Averil Cameron zu erwähnen, die meint, dass bis mindestens ins 6. Jh. Thekla, die Schülerin des Paulus, ein „weibliches Gendermodell“ für die Christinnen gewesen sei. Die Vorstellung von Maria als Erlöserin der Menschheit sei hingegen eine Konsequenz der frühchristlichen Literatur, die sie so emphatisch als Jungfrau und „Theotokos“ dargestellt hätte. Dies falle mit der Verbreitung von Ikonen und Bildern der Jungfrau mit dem Kind zusammen, die genau im 6. Jh. begonnen habe.9 An die Gegenüberstellung von Eva und Maria erinnert die Dichterin Kassia den Kaiser Theophilos im Rahmen einer Art Schönheitswettbewerb, bei dem die schönsten Mädchen des Reiches vor dem Kaiser auftreten und er aus ihnen eine Gemahlin auswählen muss.10 Beim Anblick von Kassia, einem Mädchen von außerordentlicher Schönheit, bricht es aus ihm heraus: „Die Quelle allen menschlichen Leids war eine Frau“. Die Antwort kommt prompt: „Und der Lauf der gesamten Erneuerung der Menschheit begann mit einer Frau“. Es war eine schlagfertige Antwort, die die junge Frau nicht nur von der Wahl ausschloss, sondern sie auch für immer ins Kloster verwies. In Byzanz existierte eine ständige Spannung zwischen dem asketisch-christlichen Ideal der Jungfräulichkeit, das im Rahmen des Klosterlebens verwirklicht werden 7

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Vgl. Joëlle BEAUCAMP, Le statut de la femme à Byzance (4e–7e siècle) 1: Le droit imperial; 2: Les pratiques sociales (TMCB 5–6; Paris: De Boccard, 1990–1992). Vgl. Jean GROSDIDIER DE MATONS, „La femme dans l’Empire byzantin“, in Histoire mondiale de la femme (hg. v. Pierre Grimal; 4 Bde; Paris: Nouvelle Librairie de France, 1965– 1967), 3:12. Vgl. Averil CAMERON, „Early Christianity and the Discourse of Female Desire“, in Women in Ancient Societies: An Illusion of the Night (hg. v. Léonie J. Archer, Susan Fischler und Maria Wyke; London: Macmillan, 1994), 153–168; 163. Im Jahr 821 entschied die Kaiserinmutter Euphrosine, dass es für ihren Sohn Theophilos (regierte 829–842) Zeit zum Heiraten sei, und schrieb einen Schönheitswettbewerb zur Auswahl der Braut aus. Solche Wettbewerbe fanden seit Ende des 8. und im gesamten 9. Jh. recht regelmäßig statt: Von der Hauptstadt aus bereisten zuständige Beamte das ganze Reich, ausgerüstet mit dem sog. kaiserlichen Maß, einer Tabelle mit den Idealmaßen der Bewerberinnen (Statur, Brust, Fuß). Vgl. Enrico V. MALTESE, „Donne a Bisanzio: misogamia colta e popolare tra l’XI e il XV secolo“, in DERS., Dimensioni bizantine, 25–48; 25.

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konnte, und der Förderung der Ehe, die eine legitime Basis für sexuelle Beziehungen und die Zeugung von Kindern bot. Die hauptsächliche Rolle von Frauen bestand darin, die Kinder aufzuziehen, sich um sie zu kümmern, sie die Psalmen zu lehren und ihnen Geschichten aus der Bibel oder von Heiligen zu erzählen. Dies hinderte aber nicht daran, Frauen als Elemente sexueller Versuchung zu betrachten. Während der Menstruation und vierzig Tage nach der Geburt eines männlichen sowie achtzig Tage nach jener eines weiblichen Kindes wurden sie als unrein erachtet, und aufgrund der imbecillitas sexus galten sie als schwach und nicht vertrauenswürdig.11 Diese letztere Überzeugung wurde von Frauen selbst geteilt; so etwa von Theodora Palaiologina, der Gründerin des Klosters von Lips, auf die im letzten Abschnitt noch zurückzukommen sein wird: Sie behauptet, Frauen seien ihrer Natur nach schwach und bräuchten aufmerksamen Schutz. Das Ideal der Heiligkeit erfüllte eine Frau nur als Jungfrau oder als Witwe: In jedem Fall musste sie ihre eigene Weiblichkeit verleugnen und „männlich werden“ (siehe die Äußerung der Perpetua „ich wurde zum Mann gemacht“; Theodota, die Mutter des Psello, beklagt sich darüber, kein Mann zu sein und sich deswegen keine Bildung zulegen zu können, ohne sich dafür schämen zu müssen; ähnlich auch Anna Komnena, von der später noch die Rede sein wird).12 Zu diesem Thema erscheint mir eine Äußerung von Michel Foucault erhellend: In von Männern für Männer gemachten Moralstrukturen bestehe die Erarbeitung eines Selbstbildes als moralisches Subjekt darin, sich selbst eine Struktur der Männlichkeit aufzuerlegen, denn nur wenn man sich gegenüber sich selbst als Mann verhalte, könne man jene männliche Aktivität kontrollieren und beherrschen, die man in der sexuellen Praxis gegenüber anderen annehme.13 Betrachten wir den Bildungszyklus der Mädchen: Während es für Jungen Schulen gab, wurden die Mädchen ab dem sechsten/siebten Lebensjahr zuhause von den Eltern oder von Vormunden unterrichtet. Ziel der Erziehung war für ein Mädchen das Leben im Haushalt als Ehefrau und Mutter: So lernten sie von kleinstem Alter an zu spinnen, zu weben und zu sticken. Der Unterricht in den Klöstern sah nicht viel anders aus. Die Mädchen lernten zu lesen und zu schreiben, sie lernten die Psalmen auswendig und studierten weitere Bücher der Septuaginta.14 Im Alter von 7–8 Jahren wurde ein Mädchen verlobt und, laut der alten Regel des in Byzanz gültigen römischen Rechts, mit 12 Jahren verheiratet, aber es fehlt nicht an Beispielen von Eheschließungen in noch jüngerem Alter (z. B. heiratete die kleine Simonis, Tochter von Andronikos II., im Alter von fünf Jahren den Sohn des Königs von Serbien, die Ehe wurde auch voll-

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Vgl. Alice-Mary TALBOT, „La donna“, in L’uomo bizantino (hg. v. Guglielmo Cavallo; L’uomo nella storia; Rom: Laterza, 1993), 143–176; 144. Vgl. dazu Eva NARDI, Né sole né luna: L’immagine femminile nella Bisanzio dei secoli XI e XII (Quaderni 16; Florenz: Olschki, 2002), 199ff. Siehe dazu Sabina LOVIBOND, „An Ancient Theory of Gender: Plato and the Pythagorean Table“, in Women in Ancient Societies: An Illusion of the Night (hg. v. Léonie J. Archer, Susan Fischler und Maria Wyke; London: Macmillan, 1994), 88–101: 95. Vgl. TALBOT, „La donna“, 146f.

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zogen).15 Die Erziehung, die einem Mädchen bis zur Hochzeit zuteil wurde, dauerte höchstens drei Jahre und wurde von Elena Giannarelli treffend als „monastische Pädagogik“16 definiert: Das Ziel war weder eine echte Ausbildung, noch eine kulturelle Basis oder ein kritischer Geist, sondern es ging nur darum, der kleinen Schülerin die Grundlage für ein Leben in Frömmigkeit und Gebet zu geben. Dies bedeutete ein bescheidenes Niveau der konfessionellen Alphabetisierung zum Zweck der !"#$%&')*+, der Einsperrung im Brautgemach, wie es der römischen und – noch vorher – griechischen Praxis entsprach. Was Frauen erwartete, war also ein zurückgezogenes Leben, eingeschlossen im Gynaikeion, im Haus des Ehemannes, ein Leben für die Pflege der kleineren Kinder und die Hausarbeit, insgesamt ein Leben, in dem eine kulturelle Bildung, die über das ganz grundsätzliche Wissen hinausging, völlig überflüssig und nutzlos wurde.17 Da sie aus dem politischen Leben ausgeschlossen waren, widmeten sich viele Frauen mit Leidenschaft den religiösen Auseinandersetzungen ihrer Zeit. Bei der Gegenbewegung zum Ikonoklasmus gingen oft Frauen, leidenschaftliche Anbeterinnen der Ikonen, „auf die Barrikaden“: Eine Frau, Irene, berief im Jahr 787 das Konzil von Nicäa ein, um die Bilder zu rehabilitieren, und eine weitere Frau, Theodora, Witwe des Theophilos, beendete den Ikonoklasmus im Jahr 843.18 Frauen waren zwar aus dem Klerus ausgeschlossen, aber sie waren am privaten Religionsunterricht beteiligt: Sie übertrugen ihren eigenen Glauben auf ihre Kinder, brachten ihnen die Psalmen bei und erzählten Geschichten aus dem Leben der Heiligen. Das Leben der Athanasia von Aegina bezeugt, dass die Heilige an Sonn- und Feiertagen ihre Nachbarinnen zusammenrief und ihnen aus der Heiligen Schrift vorlas. Irene von Chrysobalanton predigte sogar vor großen Scharen von Frauen und Mädchen.19 Basilius von Caesarea, eine der wichtigen christlichen Stimmen zur Jugenderziehung, sagt, dass die Klassiker gelesen werden könnten, da sie zur paideia gehörten, doch sein Bruder, Gregor von Nyssa, behauptet in der seiner Schwester gewidmeten Vita Macrinae, dass die Mutter sich sehr angestrengt habe, das Mädchen nicht etwa in - /01 )234", sondern 5"!6 -%7+ )234" (d. h. nicht in der profanen, sondern in „unserer Weisheit“8 zu erziehen. Allerdings beinhaltete die Erziehung zur christlichen Weisheit natürlich nicht die gesamte Bibel, sondern nur das Buch der Weisheit und das Psalmenbuch. Angesichts dieser kurzen Betrachtungen ist es leicht zu verstehen, warum es nur so wenige von Frauen verfasste Texte gibt. In Anbetracht von deren Abwesenheit schauen wir uns einige Aussagen von Männern über Frauen an.

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Vgl. TALBOT, „La donna“, 149. Elena GIANNARELLI, La tipologia femminile nella biografia e nell’autobiografia del IV secolo (Rom: Istituto storico italiano per il Medio Evo, 1980), 35. Vgl. NARDI, Né sole né luna, 46. Vgl. CAMERON, „Early Christianity“, 163. Vgl. ebd., 164.

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1.2 Männliche Stimmen über Frauenbildung Der große Klosterreformator Theodor Studites (759–826) erinnert in seiner Lobschrift über seine Mutter Theoktiste daran, dass diese im Bewusstsein ihres Analphabetismus allein zu studieren begonnen habe – natürlich nicht tagsüber, um ihrer Familie nicht Zeit und Aufmerksamkeit zu entziehen, sondern nachts – und so das Buch der Psalmen gelernt habe. Studites schreibt in seinem reichhaltigen, erhalten gebliebenen Schriftwechsel auch an Kassia, die schon erwähnte Dichterin, sowie an andere Frauen, vor allem Nonnen, und erwähnt dabei ihre Kenntnis des !&92;