Frankreich im 19. Jahrhundert: Eine Kulturgeschichte [1 ed.] 9783205210399, 9783205210375


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German Pages [383] Year 2020

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Frankreich im 19. Jahrhundert: Eine Kulturgeschichte [1 ed.]
 9783205210399, 9783205210375

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Thomas Hellmuth

Frankreich im 19. Jahrhundert Eine Kulturgeschichte

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co.KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Henri Gervex, Une séance de jury de peinture, © akg-images / Erich Lessing, AKG227209 Das auf dem Buchcover abgedruckte Gemälde „Une scéance du jury de peinture“ (Die Jury des Salons, Henry Gervex, 1885) zeigt die Auswahl von Kunstwerken für den Pariser Salon, einer regelmäßig stattfindenden Kunstausstellung, durch eine Jury, die ihre Zustimmung oder Ablehnung mit erhobenen Spazierstöcken oder Regenschirmen ausdrückte. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Vorgaben der „Académie des beauxarts“ (Akademie der Schönen Künste), die als alleinige Instanz in Fragen der Kunst galt, vom Künstler auch berücksichtigt worden waren. Lange Zeit war die Karriere eines Künstlers davon abhängig, ob er einmal im Salon ausgestellt hatte. Erst in den 1880er Jahren, in der Dritten Republik, wurden andere Salons als Konkurrenz zum traditionellen gegründet. Auf dem Gemälde von Gervex entscheiden nur Männer, Künstler und Kunstliebhaber bzw. Kunstsammler, über die Qualität eines Gemäldes. Frauen waren bei der Auswahl nicht zugelassen. Das Gemälde steht symbolisch für die geschlechtliche Rollenbilder in der bürgerlichen Gesellschaft: Im Hintergrund ist das im Sinne des Klassizismus zu einem Ideal verklärte Gemälde einer nackten Frau zu sehen, das allein Männer beurteilen. Zwar durften auch Malerinnen im Pariser Salon ausstellen, vor allem dienten Frauen aber als Modell und waren als Objekte dem männlichen Blick und der männlichen Begierde ausgesetzt. Als Künstlerinnen wurden Frauen kaum oder erst allmählich akzeptiert (und in der Folge von der Geschichte mehr oder weniger vergessen). Korrektorat: Ute Wielandt, Schöps Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21039-9

Inhalt

Von der Kunst, die Perspektiven zu wechseln – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Die eingezäunte Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2 Der offene Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.3 Das kulturelle Regelsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.4 Geschlechterrollen und Sexualmoral . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.5 Die Erfindung der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Bürgerliche Vergesellschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Die „zivilisierte“ Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2 Ideologische Infiltration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.3 „Zivilisierung“ des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2.4 Widerstand an der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.5 Integration der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .108

3. Die Vielfalt in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.1 Der Mythos des verkannten Genies . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2 Die eingezäunte Freiheit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.3 Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 4. Widersprüche und Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4.1 Der Verlust des „Ganzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .210 4.2 Kompensation und Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4.3 Rückkehr in die eingezäunte Freiheit: Politik und offener Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

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Inhalt

Von der Kunst, ein passendes „Röcklein“ zu schneidern – ein Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Zeittafel – politische Entwicklung seit 1789 . . . . . . . . . . . . . . 263 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Quellen und Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .329 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Sach- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Von der Kunst, die Perspektiven zu wechseln – eine Einleitung Auf einem 2003 veröffentlichten Album der französischen Musikgruppe „Têtes Raides“ („Sture Köpfe“) findet sich ein Chanson mit dem Titel „Civili“. Dieses spielt mit gängigen musikalischen Harmonien, die sich aber dann doch immer wieder auflösen. Die Musik gleitet über in Lärm, bricht mit herkömmlichen Hörgewohnheiten und entspricht so gar nicht den Erwartungen, die üblicherweise an ein klassisches französisches Chanson gestellt werden. Der Text, der an manchen Stellen an konkrete Poesie erinnert, korreliert mit den in der Musik auftretenden Dissonanzen: „Civili civila / Civilalisation / wenn das Leben, wenn Lisa / Lisa Recht hatte / Werden wir weder in den Liedern / noch im Wasser meines Weins / die Zivilisationen / von morgen erschaffen“.1 Als Illustration zum Chanson ist im Textheft, das dem Album beigelegt ist, eine „Histoire de France“, eine „Geschichte Frankreichs“, abgebildet, die in Flammen steht. Das Spiel mit solchen Provokationen mag freilich – angesichts der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen – heikel sein und gerade im deutschsprachigen Raum ein beklemmendes Gefühl hervorrufen. Betrachten wir jedoch die Geschichte Frankreichs seit dem 19. Jahrhundert und die Instrumentalisierung von Geschichte bei der französischen Nationsbildung, wird diese Provokation durchaus verständlich und kann letztlich sogar als Kritik am Faschismus interpretiert werden. „Têtes Raides“ schaffen eine Art „verkehrte Welt“ und wenden die Mittel der Diktatur gegen diese selbst. Eine solche Perspektive setzt voraus, sich mit der Aufklärung und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, die noch immer unsere Gegenwart prägen, zu beschäftigen. Damit sind aber auch die damit verbundenen Widersprüche zu analysieren, die sich etwa im Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus manifestierten. Die Moderne, die ihre Wurzeln in der Aufklärung hat und eng mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Beziehung steht, lässt sich keineswegs als eine Erfolgsgeschichte verklären, die direkt in eine bessere, demokratische Welt mündete. Vielmehr bewegt sich die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft, mit der sich das vorliegende Buch am Beispiel Frankreichs genauer beschäftigt, bis heute auf einen steinigen und oft nicht klar abgesteckten Weg, der auch auf Abwege führen kann, die in autokratischen und diktatorischen Systemen enden. Diese sind nicht das Gegenteil zur bürgerlichen Gesellschaft, das

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Von der Kunst, die Perspektiven zu wechseln – eine Einleitung

„Böse“, mit dem etwa der Faschismus in christlicher Tradition oftmals bezeichnet wird, sondern ein Teil von ihr, eine Fehlentwicklung, die immer wieder droht.2 Daher beschreiben „Têtes Raides“ die bürgerliche Gesellschaft provokant als ein „So lala“, als eine „Civilalisation“, die sich „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“, die säkularisierte Dreifaltigkeit der Französischen Revolution, zwar auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zugleich verwässert sie aber den „Wein“ und scheint nicht imstande, die „Zivilisationen / von morgen [zu] erschaffen“, die eine bessere Welt und individuelle Freiheit garantieren – eine Freiheit, wie sie die Aufklärung postuliert hat, eine Freiheit in sozialer Verantwortung und nicht eine grenzenlose Freiheit, in der das Individuum allein auf sich selbst zurückgeworfen, d.h. im neoliberalen Sinn aus dem gesellschaftlichen Verband losgelöst ist. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die verstörende Illustration zum Chanson „Civili“ verstehen: Die französische Nation wird seit dem 19. Jahrhundert in den Tiefen der Vergangenheit verankert und dadurch – letztlich auch mit ihren Widersprüchen und somit als „Civilalisation“ – legitimiert. Nun lässt sich aber Geschichte nicht mit Vergangenheit gleichsetzen. Der Historiker oder die Historikerin (wobei die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert freilich weitgehend Männern vorbehalten war) haben nicht unmittelbar Zugang zur Vergangenheit. Sie können sich ihr nur über Quellen annähern, die sie aus der Gegenwart heraus interpretieren. Somit ist Geschichte ein Konstrukt, das immer auch Gefahr laufen kann, politisch instrumentalisiert zu werden. Es verwundert daher nicht, dass „Têtes Raides“ die „Geschichte Frankreichs“ in Flammen aufgehen lassen, zumal etwa der Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus sowie die rechtsextremen Bewegungen dem Begriff der „Zivilisation“ Hohn sprechen. In ihrer Kritik stehen „Têtes Raides“ nicht allein. So hatte etwa der Grundschullehrer Gaston Clémendot bereits 1923 bei seinen Kollegen enormes Aufsehen hervorgerufen, als er auf einer Versammlung des „Syndicat national des instituteurs“ (SNI), der „Nationalen Gewerkschaft der Grundschullehrer“, die Abschaffung des Geschichtsunterrichtes forderte. Die Gräuel des Ersten Weltkrieges vor Augen, betrachtete er den Geschichtsunterricht als eine Voraussetzung für zukünftige Kriege, weil dieser den Hass gegen Fremde fördere und den Krieg glorifiziere. In einer Gesellschaft aber, die Geschichte auch weiterhin als Zivilisierungsprozess verstand, stieß seine Forderung auf Ablehnung und Verständnislosigkeit.3 Auch aufgrund ihres zunehmenden Bedeutungsverlustes nach dem Ersten Weltkrieg wollte bzw. konnte die „Grande Nation“ nicht darauf verzichten, ihre Ursprünge in den Tiefen der Vergangenheit zu verorten.

Von der Kunst, die Perspektiven zu wechseln – eine Einleitung

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Im vorliegenden Buch soll freilich die Geschichte Frankreich keineswegs abgeschafft, sondern die Vergangenheit aus einer anderen Perspektive als der von „Têtes Raides“ oder Gaston Clémendot kritisierten nationalgeschichtlichen, nämlich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet werden. Diese dient nicht dazu, eine bestimmte politische Situation zu legitimieren oder das Selbstverständnis einer sozialen Gruppe, wie sie im weiteren Sinn auch die Nation darstellt, zu verfestigen. Ganz im Gegenteil übt sich die Kulturgeschichte in konstruktiver Gesellschaftskritik und analysiert gesellschaftliche Phänomene in ihren vielfältigen Zusammenhängen. Dabei hinterfragt sie die Geschichtspolitik und betrachtet die Vergangenheit – im Sinne von Multiperspektivität – aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ihr ist daher auch der Konstruktionscharakter von Geschichte bewusst, die Tatsache, dass es „die“ eine historische Wahrheit freilich nicht gibt. Dennoch sind ihre Ergebnisse nicht willkürlich, sondern an wissenschaftliche Regeln gebunden, die in wissenschaftlichen Kreisen anerkannt sind und somit argumentativ nachvollziehbar. Kulturgeschichte bedeutet aber nicht nur die Relativierung vermeintlicher „Wahrheiten“, sondern ermöglicht auch einen breiteren Zugang zur Vergangenheit als andere historische Teildisziplinen. Wir nähern uns also der französischen Vergangenheit des 19. Jahrhunderts nicht etwa aus einer traditionellen politikgeschichtlichen Perspektive, mit der sich – auch im deutschsprachigen Raum – ohnehin schon zahlreiche Publikationen beschäftigen. Vielmehr wird ein breiter Kulturbegriff verwendet, der über die Beschäftigung mit Musik, Kunst und Literatur hinausgeht. Unter „Kultur“ werden daher im Folgenden alle immateriellen und materiellen Produkte menschlichen Handelns sowie menschliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster subsumiert. Selbst Politik ist als kulturelles Produkt zu verstehen, das mit Musik, Kunst und Literatur, mit wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen sowie mit einzelnen Akteuren und Akteurinnen in ein Beziehungsnetz eingewoben ist.4 „Kultur“ umfasst damit auch Sprache und Kommunikation, „verschiedene kollektive Codes, sowohl verbale als auch nonverbale“, also auch „die Gesten, die Mimik sowie die Arten des Zusammenseins und Nichtzusammenseins“. Zur ihr gehören „auch Gegenstände, sobald sie durch ihren Gebrauch sinnhaft werden, […] eine gemeinsame Art […], die Welt zu betrachten“.5 Die vollständige Erfassung dieses Beziehungsnetzes ist selbstverständlich unmöglich, auch wenn im Folgenden mehrere tausend Seiten zur Verfügung stünden. Um sich ihm aber anzunähern und die Komplexität von Gesellschaften zumindest ansatzweise zu erfassen, müssen die Ebenen der Makro- und Mikrogeschichte miteinander in Verbindung gesetzt werden. Die Kulturgeschichte hat

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Von der Kunst, die Perspektiven zu wechseln – eine Einleitung

daher „die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Stockwerken des Bauwerks“, wie Robert Muchembled die unterschiedlichen gesellschaftlichen Untersuchungsräume umschreibt, zur Aufgabe.6 Diese vertikale Perspektive ist schließlich durch eine horizontale zu ergänzen: Auch die Beziehungen der verschiedenen Räume auf den Stockwerksebenen, etwa zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur, sind freilich in eine kulturgeschichtliche Betrachtung miteinzubeziehen. Eine zeitliche, räumliche und inhaltliche Einschränkung erscheinen somit in der Kulturgeschichte als problematisch, müssen aber aus arbeitsökonomischen Gründen bzw. aufgrund der Unmöglichkeit, die Vergangenheit in ihrer Komplexität vollständig zu erfassen, vorgenommen werden. Das vorliegende Buch beschäftigt sich daher mit dem 19. Jahrhundert, unternimmt aber immer wieder „Ausflüge“ in das 18. und auch 20. Jahrhundert. Räumlich beschränkt es sich auf Frankreich, obwohl etwa der französische Sozial- und Kulturhistoriker Chris­ tophe Charle nicht zu Unrecht die Notwendigkeit betont, „die Kulturgeschichte aus der Bevormundung der nationalen Territorialisierung zu befreien“.7 Wie schwierig eine solche Befreiung aber ist, zeigt sich bei seiner europäischen Kulturgeschichte unter anderem darin, dass ein erweiterter Blickwinkel auf Europa die Grenzen lediglich verschiebt, nicht zuletzt auch, weil Europa definiert werden muss. Außerdem entfliehen ein Historiker oder eine Historikerin niemals der Sozialisation, die sie in ihrer Weltwahrnehmung und ihrem Selbstverständnis prägt. Ihre daraus resultierenden Interessen wirken sich auf die Ergebnisse der historischen Forschungen aus, womit sie letztlich selbst ein Teil der Geschichtsschreibung, ihres eigenen historischen Werkes, sind.8 So findet sich etwa auf dem Cover von Charles europäischer Kulturgeschichte bezeichnenderweise ein französisches Kunstwerk abgebildet: „La Danse“, eine Skulptur von Jean-Baptiste Carpeaux, die 1869 als Teil eines größeren Skulpturengruppe für die „Opéra Garnier“ angefertigt wurde. Die Skulptur, die Bacchus umgeben von nackten Tänzerinnen zeigt, führte in der Öffentlichkeit wegen der angeblich obszönen Darstellung zu heftigen Diskussionen. Daher war sie sogar einem Akt von Vandalismus ausgesetzt und wurde mit schwarzer Tinte bemalt.9 Letztlich präsentiert Charle mit dem Coverbild ein Detail französischer Kulturgeschichte, das aber unter einem bestimmten Blickwinkel auch übernationale Bedeutung haben kann. So lässt es sich auch als Beispiel für dem Umgang mit Sexualität oder auch für die zentrale Rolle der Provokation in der bürgerlichen Gesellschaft allgemein verstehen. Die hier vorliegende Kulturgeschichte Frankreichs, die wegen der Komplexität von kulturhistorischen Zugangsweisen explizit als „eine“ Kulturge-

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schichte bezeichnet wird, nimmt einen solch anderen Blickwinkel ein. Trotz nationaler Einschränkung versucht sie, die Treppen zwischen den „unterschiedlichen Stockwerke“ der Gesellschaft auf und ab zu steigen sowie die Gänge, welche die Räume auf den einzelnen Stockwerken miteinander verbinden, abzuschreiten und deren Türen zu öffnen. Manchmal gelingt dies durchaus mit Leichtigkeit, manchmal auch mit viel Mühe. Und manchmal mag das virtuose Spiel auf den verschiedenen Tonleitern der Kulturgeschichte für manchen Leser oder manche Leserin auch als partiell gescheitert erscheinen. Insgesamt gesehen eröffnet sich diesen aber doch ein faszinierender, über den nationalen „Tellerrand“ hinausreichender Einblick in die französische Gesellschaft des „langen“ 19. Jahrhunderts. Dies gelingt, weil ein bestimmter Blick auf diese Gesellschaft geworfen bzw. das Thema, das einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen werden soll, eingegrenzt wird. Ausgehend von der Definition des bürgerlichen Gesellschaftsmodells wird die Durchsetzung und die partielle Transformation des Modells auf den „unterschiedlichen Stockwerken des Bauwerks“ untersucht: auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, damit auch in den unterschiedlichen Lebenswelten und gelegentlich auch in ihrer Auswirkung auf die individuelle Identitätsbildung. Gleichzeitig öffnen wir die Türen zwar nicht aller, aber doch einiger Räume auf den einzelnen Stockwerken, etwa zur Kunst und Literatur sowie zur Tischkultur. Wir durchwandern die Verbindungsgänge, etwa von der Kultur zur Politik, verharren in manchen Räumen und widmen uns gleichsam dem Interieur, unter anderem den unterschiedlichen Malstilen sowie ihrem Verhältnis zueinander. Somit gelingt es, das bürgerliche Gesellschaftsmodell in den städtischen Zentren und im ländlichen Raum festzumachen, Politik mit Trinkkultur und Tanzstilen zu verbinden sowie Musik, Kunst und Literatur als Ausdruck eines bürgerlichen Kosmos zu analysieren. Diskursräume werden analysiert und damit der Mythos der so genannten „Gegenkulturen“ aufgedeckt, zumal sich der Widerstand gegen den „Mainstream“ als Teil eines offenen Diskurses erweist, der sich als unverzichtbares Korrektiv gegenüber dem gesellschaftlichen Stillstand und somit als überlebensnotwendiger Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft entpuppt. Aber auch die Widersprüche, die diese Gesellschaft birgt, kommen zur Sprache, etwa die nationale Manipulation und Indoktrination, die den von der Aufklärung postulierten „mündigen“ Bürger diametral gegenüberstanden. Ebenso wird die Behäbigkeit des bürgerlichen Normen- und Regelsystems, die den Menschen in seiner Handlungsfreiheit immer wieder beengte, thematisiert. Diese Behäbigkeit führte zu vergeblichen Fluchtversuchen, welche die Verzweifelten aber zu-

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meist wieder in die bürgerliche Realität zurückwarfen. Letztlich waren die Bürger und Bürgerinnen dazu „verdammt“, gesellschaftlich zu partizipieren und auf diese Weise die Regeln und Normen zu erweitern, gleichsam das Regelkorsett zu lockern. Dabei gerieten sie aber auch auf Abwege, folgten rechtsextremen Ideologien und Bewegungen, die keineswegs eine Randerscheinung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern inmitten dieser zu finden waren. So wurden dem Rassismus und Antisemitismus die Türen vieler Räume, die sich auf den verschiedenen „Stockwerken des Bauwerkes“ befinden, weit geöffnet. Die vorliegende Kulturgeschichte liefert also ein vielschichtiges und vielfarbiges Gemälde, das sich beim Lesen zu einem – freilich nicht harmonischen, sondern mit Dissonanzen durchzogenen – Ganzen fügt. So wie das Chanson „Civili“ von Têtes Raides mit Harmonien bricht, um auf die Widersprüche der bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft und somit auf die Gefahren, welche diese bedrohen, hinzuweisen, wird auch der Leser des vorliegenden Buches durch manche Dissonanzen aufgerüttelt und zur Reflexion angeregt. Dazu werden mehrere historische Teildisziplinen, unter anderem die Sozialgeschichte, Politikgeschichte und Alltagsgeschichte sowie die historische Anthropologie, miteinander verschränkt. Eine Art kulturgeschichtliches Referenzsystem entsteht, das eben keine isolierte nationale Kulturgeschichte erlaubt und am Beispiel Frankreichs einen – nicht immer gefälligen – Einblick in einen zentralen Bereich der Kulturgeschichte des Okzidents, in das so genannte „bürgerliche Zeitalter“, gibt.

1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell Welche unbegreifliche Kunst wies uns den Weg, die Menschen zu unterwerfen, um sie frei zu machen […]? Wie ist es möglich, daß sie gehorchen und keiner befiehlt, daß sie dienen und keinen Herrn haben […]? (Jean-Jacques Rousseau, Encyclopédie)1

Mit bürgerlicher Gesellschaft werden gewöhnlich Damen und Herren in zauberhaften Abendgarderoben assoziiert, glanzvolle Bankette, prunkvolle Ballsäle oder prächtige Bauten und Boulevards. Bürgerliche Theater- oder Opernhäuser, aber auch Wohnhäuser scheinen sich durch einen enormen und zugleich sinnlosen Aufwand an Materialien, Ornamenten und durch prahlerische Fassaden auszuzeichnen. Hinter dem Prunk und dem Zauberhaften, der freilich einen Teil der bürgerlichen Gesellschaft ausmachte, steckt aber ein System von Werten und Lebensstilen, das die unterschiedlichen bürgerlichen Gruppen zusammenhielt und schließlich weite Teil der Gesellschaft erfasste, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen bzw. im Sinne einer bürgerlichen Binnendifferenzierung.2 Nicht jeder konnte sich Karten und Garderobe für einen Opernbesuch leisten. Es kostete aber nichts, sich an der Hysterie zu beteiligen, die ein Opernstar zuweilen hervorrief. Die bürgerliche Gesellschaft ist demnach nicht als eine „Klasse“ im marxistischen Sinn zu analysieren, sondern als ein – aus der Aufklärung geborener – kultureller Kosmos zu verstehen, der sich vom Ancien Régime abgrenzte, allerdings keineswegs eine Homogenisierung der vielfältigen sozialen Struktur bzw. unterschiedlicher sozialer Gruppen ermöglichte. Ein neuer Mensch und eine neue Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft, musste geschaffen und damit der „Zivilisation“ zum Durchbruch verholfen werden. Die damit verbundenen Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster sind im Sinne Pierre Bourdieus als „Habitus“ zu verstehen.3 Der Habitus ist einerseits durch milieu- bzw. kulturbedingten Vorgaben geprägt und trägt damit zu deren Erhalt bei, andererseits können oder müssen diese Vorgaben notwendigerweise auch verändert werden, um ökonomischen und sozialen Wandlungsprozessen gerecht zu werden.4 Das bürgerliche Gesellschaftsmodell ist daher keineswegs statisch, sondern ständigen Veränderungen unterworfen. Gewisse Fixpunkte,

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

gleichsam Koordinaten im Zeitenwandel, sind jedoch erhalten geblieben: eine bestimmte Auffassung von individueller Freiheit, d. h. die Idee einer eingezäunten Freiheit, das Prinzip des offenen Diskurses sowie spezifische kulturelle Regeln und Normen.

1.1 Die eingezäunte Freiheit

„Zivilisierung“ bedeutete zunächst die Abschaffung des Ancien Régime und die Errichtung eines Verfassungsstaates. Max Weber hat diese Entwicklung als Übergang von der „traditionellen“ zur „legitimen Herrschaft“ bezeichnet. Zwar waren die Entscheidungen des traditionellen Herrschers „streng traditional gebunden, soweit diese Bindung aber Freiheit“ ließ, erfolgten die Entscheidungen auch nach „juristisch unformalen und irrationalen Billigkeits- und Gerechtigkeitspunkten des Einzelfalls“. Die an der Aufklärung orientierte Französische Revolution legte nun die Grundlage5 für eine weitgehend kontrollierbare Herrschaft, die nicht mehr durch Gott, sondern durch das – wie auch immer definierte – „Volk“ legitimiert war: „Gehorcht wurde nicht [mehr] der Person, kraft deren Eigenrecht, sondern der gesatzten Regel“.6 Und diese „gesatzte Regel“ ist wiederum Ausdruck einer „volonté génerale“, wie Jean-Jacques Rousseau schreibt, eines „Gemeinwille[ns], der stets auf die Erhaltung und das Wohl des Ganzen und jedes einzelnen Teiles gerichtet ist und die Quelle des Gesetzes darstellt“.7 Diese „legitime Herrschaft“ hatte der englische Arzt und Philosoph John Locke bereits im 17. Jahrhundert als Voraussetzung für die bürgerliche Freiheit betrachtet. In seinem Werk „Two treatises of government“ (Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1681) sah er diese im „Naturzustand“ begründet: Die natürliche Freiheit des Menschen bedeutet, auf Erden keine ihm übergeordnete Macht anzuerkennen, dem Willen oder der gesetzgeberischen Autorität von niemandem unterworfen zu sein und lediglich das Naturrecht als Regel anzuerkennen. Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft heißt, sich nur der legislativen Gewalt zu beugen, die im Staat nach allgemeiner Zustimmung etabliert worden ist; nicht der Autorität und keinem Gesetz außer denjenigen, welche die gesetzgebende Gewalt gemäß des in ihr gesetzten Vertrauens erlässt.8

Bürgerlicher Individualismus ist somit nicht möglich, ohne in das Kollektiv eingebunden zu sein. „Der Mensch, der nur seinem besonderen Wille gehorcht, ist

1.1 Die eingezäunte Freiheit

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der Feind der Menschheit“, schreibt Denis Diderot in der berühmten, von ihm und Jean Le Rond d’Alembert 1749 herausgegebenen „Encyclopédie“.9 Die individuelle Freiheit besteht laut viertem Artikel der französischen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ vielmehr darin, „alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet“.10 Somit scheint die Bereitschaft des Einzelnen, sich freiwillig in ein von der Gemeinschaft errichtetes „Gehege“ zu begeben, eine notwendige Voraussetzung, um die in der Gesellschaft größtmögliche Freiheit zu garantieren.11 Mit diesem „Gehege“ ist nichts anderes als ein „Gesellschaftsvertrag“ gemeint, der das Zusammenleben der „freien“ Individuen regeln soll. Im Detail beinhaltet dieser „Gesellschaftsvertrag“ zunächst das „Privatrecht“, das die Grenzen der Freiheit des Einzelnen zu Gunsten der größtmöglichen Freiheit aller festlegt. Um das Überschreiten dieser Grenzen zu verhindern, bedarf es zusätzlich des Staates, „der das Gewaltmonopol besitzt, aber nur im Freiheitsinteresse nutzen darf“.12 Neben das Privatrecht trat somit das öffentliche Recht, das die Einhaltung des ersteren garantiert. Ergänzt wurde diese Grundlage moderner Demokratie durch die so genannte Gewaltentrennung, die zunächst den Monarchen „zähmen“ und den Machtmissbrauch des staatlichen Souveräns verhindern sollte. Bereits im Werk von John Locke wird dem König als Exekutive das Parlament als Legislative gegenübergestellt. Charles de Montesquieu setzte neben diese beiden Gewalten schließlich die Judikative, welche die Gesetzgebung und das Handeln der Exekutive auf ihre Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit zu überwachen hat.13 Als sich die französische Monarchie nicht in Richtung einer konstitutionellen Monarchie weiterentwickeln ließ, wurde das Prinzip der Gewaltentrennung von der Republik übernommen. Die Frage der Balance zwischen Legislative und Exekutive hat im Übrigen in der französischen Geschichte immer wieder zu heftigen politischen Konflikten geführt, etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als Charles de Gaulle und seine Anhänger eine Verfassung forderten, die den Präsidenten gleichsam als tragenden Pfeiler des politischen Systems betrachtete und ihm daher weitreichende Rechte eingeräumt hätte bzw. – in der Fünften Republik – auch eingeräumt hat.14 Ohne Zweifel hat die bürgerliche Gesellschaft mit der „legitimen Herrschaft“ den Grundstein unserer modernen Demokratie geschaffen. Dies zeigt sich auch in der „Zivilisierung“ von Gewalt, in ihrer Verstaatlichung, womit sie gebändigt und somit für die bürgerliche Freiheit ungefährlich gemacht wurde.15 Als Beispiel kann etwa der so genannte „Zug der Frauen nach Versailles“ im Oktober 1798 dienen, ein Protestmarsch, der letztlich von revolutionären „Aktivisten“, von

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

Männern, in geregelte Bahnen geleitet und instrumentalisiert wurde. „Maillard16 ergreift […] eine Trommel“, schreibt Thomas Carlyle in seinem 1837 erschienen Werk „The French Revolution“, steigt die Haupttreppe hinunter und schlägt mit lauten Wirbeln und kräftigem Ran-tan, ran-tan seinen Schelmenmarsch: nach Versailles, vorwärts nach Versailles! Wie man auf einem Kessel aber eine Wärmeflasche oder dergleichen zu schlagen pflegt, wenn wütende weibliche Bienen oder verzweifelt umherfliegende Wespen sich vor ihrem Stock sammeln sollen, und die wütenden Insekten, sobald sie es hören, sich denn auch wirklich darum sammeln, wie um eine Führung, die bisher nicht vorhanden war, – so sammeln sich denn auch jetzt die Mänaden um den gewandten Maillard […].17

Carlyles Vergleich der aufständischen Frauen mit Insekten und Mänaden hinterlässt freilich einen bitteren Beigeschmack. Dennoch weist er auf die Zähmung der Massen hin, auf den Versuch, die Wut und den Protest zu kanalisieren. Das „Rant-tan“, das Trommeln, lässt die Aufständischen in Gleichschritt marschieren und verwandelt die existentielle Forderung nach Brot in eine geordnete Demonstration, in der die Forderung nach Freiheit und Gleichheit dominiert.18 Im zunehmenden Maße wandte sich der Staat gegen spontane Gewaltakte, etwa in Beauvais (Oise), wo Revolutionsgegner gezwungen wurden, unter einem Freiheitsbaum der Revolution zu huldigen. Die Gemeindeverwaltung, beunruhigt über diese von ihr nicht genehmigten Aktionen, ließ daraufhin Zäune um den Freiheitsbaum aufstellen.19 Auf die „Befriedung“ der Bevölkerung weist auch die Guillotine hin, die nicht als grausames Folter- und Hinrichtungswerkzeug galt, sondern als geeignetes Mittel, um das Töten schneller und gleichsam „humaner“ als im Ancien Régime zu gestalten. Die Guillotine ist somit ein Symbol für das gewandelte Verständnis von Gewalt, für deren Zähmung und Humanisierung. In der „Carmagnole“, einem Revolutionslied, heißt es: „Man muss die Riesen kürzen / Und die Kleinen vergrößern / Alle gleich groß / Das ist das wahre Glück“.20 Wohl nicht zufällig wird mit diesen Versen die Guillotine assoziiert, zumal die staatliche kontrollierte Gewalt durchaus dazu dienen sollte, der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Prinzipien – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – zu ihrem Durchbruch zu verhelfen. Allerdings wurde die Guillotine seit 1848 nicht mehr öffentlich aufgestellt, sondern der Tod gleichsam ausgeblendet – ein weiterer Beleg für die sanfte Evolution der Sensibilität.21 Sogar die Abschaffung der Todesstrafe wurde zuneh-

1.1 Die eingezäunte Freiheit

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mend diskutiert. Der Historiker und Politiker François Guizot hatte etwa 1822 in seiner Schrift „De la peine de mort en matière de politique“ (Die Todesstrafe als Thema der Politik) die Abschaffung der Todesstrafe bei politischen Verbrechen gefordert. Und auch Victor Hugo attackierte zeit seines Lebens die Todesstrafe, etwa in seinem Roman „Le dernier jour d’un condamné“ (Der letzte Tag eines Verurteilten, 1829).22 „Wir wollen im Übrigen nicht allein die Abschaffung der Todesstrafe“, schrieb er 1832 im Vorwort zur Neuauflage des Romans, „wir wollen eine völlige Neugestaltung des Strafsystems in all seinen Formen […]. Die Guillotine schwankt.“23 Dennoch sollte die Todesstrafe in Frankreich erst am 9. Oktober 1981, unter der Präsidentschaft von François Mitterand, offiziell abgeschafft werden. Gleichzeitig mit der Errichtung des bürgerlichen Verfassungsstaates kam es zur Säkularisierung der Gesellschaft sowie zur Trennung von Kirche und Staat; hatte doch die Kirche das verhasste Ancien Régime legitimiert. „Ein Hindernis bereitete die Kirche schon durch die Prinzipien ihres Regiments den Prinzipien, die jene Männer in der weltlichen Regierung zur Geltung bringen wollten“, schreibt Alexis de Tocqueville in seinem 1856 veröffentlichten Buch „Der alte Staat und die Revolution“ (L’Ancien Régime et la Révolution). „Sie stützte sich vornehmlich auf die Tradition, jene äußerten eine große Verachtung gegen alle Institutionen, die sich auf Ehrfurcht vor der Vergangenheit gründen; sie erkannte eine höhere Autorität über der individuellen Vernunft an, jene appellierten gerade ausschließlich an diese Vernunft; sie gründete sich auf eine Hierarchie, jene strebten nach Ausgleichung aller Rangstufen.“24 Bereits 1791 wurden Geistliche in den Beamtenstatus versetzt und mussten daher einen Eid auf die Verfassung schwören. Wer diesen verweigerte, lief Gefahr, überwacht, auf eine schwarze Liste gesetzt und inhaftiert zu werden.25 In manchen Departements ging die Entchristianisierung sogar noch weiter, etwa in Nièvre, wo jede gottesdienstliche Handlung außerhalb der Kirche verboten und per Dekret die Zerstörung aller religiösen Zeichen außerhalb der Kirche, beispielsweise der Kreuze und Kreuzwege, angeordnet wurde.26 Religiöse Konventionen und Tabus wurden gebrochen, etwa das Verbot aufgehoben, während bestimmter Perioden wie der Fasten- oder Adventzeit zu heiraten.27 Zudem versuchten die Revolutionäre, die christlichen Bezüge aus dem französischen Wortschatz zu entfernen und gleichzeitig, wie Lynn Hunt schreibt, „die Geschichte der klassischen Antike zum Modell einer neuen, unschuldigen Gesellschaft, einer idealen Republik“, hochzustilisieren.28 Das „Saint“ wurde in den alten Namen gestrichen, während antike Namen wie Brutus, Grachus oder Spartakus, aber auch „Constitution“ (Ver-

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

fassung) zu Modenamen avancierten. Ferner erhielten Orte neue Bezeichnungen: Versailles, als ehemalige Residenz des Königs ein Symbol des alten Systems, wurde etwa in Berceau-de-la-Liberté („Wiege der Freiheit“) oder die Kathedrale Notre Dame in „Tempel der Vernunft“ umbenannt.29 Und auch der 1793 eingeführte Revolutionskalender weist keinerlei christliche Bezüge mehr auf: Die Monate wurden zum Beispiel nach den Merkmalen der Jahreszeit benannt, etwa der „Vendémaire“, der „Weinmonat“, der den ersten Monat des Revolutionskalenders (22. September bis 21. Oktober) bezeichnete.30 In ganz Frankreich tanzten die Sansculotten – Arbeiter und Kleinbürger, die im Gegensatz zu den von Adeligen getragene Kniebundhosen („culotte“) lange Hosen trugen und die radikalen Jakobiner unterstützten – um säkularisierte Scheiterhaufen, die sie auf den Marktplätzen aus Beichtstühlen, holzgeschnitzten Heiligen und anderen brennbaren religiösen Gegenständen errichtet hatten. Ähnlich wie in der „verkehrten Welt“ des Karnevals stapelten sie auf Karren, die von Eseln gezogen wurden, die Insignien der alten Macht, gemeinsam mit Puppen, die Könige und Päpste darstellten und schließlich verbrannt wurden.31 Trotz aller Bemühungen, die religiöse Tradition auszulöschen, blieben die regionale und die nationale Kultur in Frankeich aber weiterhin partiell christlich bzw. katholisch gefärbt. Während etwa der Revolutionskalender zunehmend als kurioses Produkt der revolutionären Ära betrachtet wurde, übernahm der republikanische Kalender neuerlich die christlichen Feiertage. Und auch die staatliche Verwaltung des religiösen Kulturerbes, seine Einbettung in das „patrimoine national“ (S. 112), das „nationale Kulturerbe“, ließ letztlich die Auslöschung der religiösen Traditionen, wie sie die Revolutionäre gewünscht hatten, nicht zu. Außerdem waren religiöse Praktiken als Bestandteil kollektiver und individueller Identitäten nicht einfach von heute auf morgen abzuschaffen. Maurice Agulhon unterscheidet daher zwei Formen von Zivilreligionen: Einerseits eine „Religion“, die dem Christentum diametral gegenüberstand und daher mit diesem inkompatibel war. Sie zeichnete sich durch die Erziehung zum Rationalismus sowie durch Feste und Riten aus, welche die kirchlichen Bräuche ersetzen sollten. Andererseits vertraten gemäßigte Republikaner wie Léon Gambetta32 oder Jules Ferry33 die Ansicht, dass der Katholizismus in Frankreich nicht einfach entwurzelt werden könne, und plädierten daher für eine Zivilreligion, welche die von der Republik akzeptierten Religionsgemeinschaften einbinden sollte.34 Unter „Zivilreligion“ wurde daher ein bürgerliches Glaubensbekenntnis verstanden, eine Art Vernunftreligion, die zum einen bürgerliche Tugenden wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Toleranz, zum anderen aber auch die Überschneidungen

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mit religiösen Grundsätzen sucht.35 Letztlich sollte sich ein katholisch gefärbter Laizismus, ein „Katholaizismus“36, durchsetzen. Dennoch hat sich seit der Französischen Revolution eine gänzlich neue Lebenseinstellung gegenüber der Welt herausgebildet, die in der wirtschaftlichen Entwicklung, im Individualismus und Rationalismus der bürgerlichen Gesellschaft sowie in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Glauben, der Kirche und den Autoritäten begründet liegt. Zunehmend betrachtete der Mensch das Diesseits, das er nach seinen Wünschen gestaltbar erlebte, als seine Heimat. „Man könnte in diesem Sinne von einem neuzeitlichen Lebenspositivismus sprechen“, schreibt Bernhard Groethuysen, „von einer Zentrierung des Lebens in sich selbst, von einer Emanzipation des Lebens nicht nur gegenüber dieser oder jener Deutung der Welt, sondern gegenüber allen kosmischen Anschauungen überhaupt.“37 Diese „Emanzipation des Lebens“, der Ausbruch aus den Fesseln der christlichen Vergangenheit, spiegelt sich im „percement“, im „Durchbruch“ durch die Stadt. Alte Stadtmauern und Gebäude wurden abgerissen; anstelle dieser schufen Plätze und Boulevards weite Räume im engen Stadtgefüge.38 Das Individuum erhielt damit Bewegungsfreiheit, und die Städte, die früher durch dicht aneinander gedrängte Häuser und enge Gassen geprägt waren, wurden mit Licht durchflutet – nicht von ungefähr wird die Aufklärung im Französischen als „siècle des lu­mières“, als „Jahrhundert der Lichter“, bezeichnet. „Wenn man eine Avenue so weit führt, dass ihr Ende nicht zu sehen ist“, schreibt der Architekt EtienneLouis Boullée, „vermitteln die Gesetze der Optik und die perspektivischen Effekte den Eindruck von Unermesslichkeit“.39 Bereits 1791 ließ der revolutionäre Pariser Stadtrat auf der Place Louis XV, der heutigen Place de la Concorde, die Bäume fällen und die Gärten pflastern, um gleichsam ein „Volumen der Freiheit“ zu schaffen, wie Richard Sennett die weiten, beinahe grenzenlosen Räume im Pariser Stadtensemble bezeichnet.40 Der neu gestaltete Platz wurde in „Place de la révolution“ umbenannt und entsprach einem neuen Raumempfinden, dem Bedürfnis einer weithin unbegrenzten Bewegungsfreiheit, das aus dem Individualismus der Aufklärung resultierte. Und dennoch wurde die weitläufige „Place de la révolution“ von gleichförmigen Gebäuden eingefasst, zumal eine bestimmte Vorstellung von individueller Freiheit, die eingezäunte Freiheit eben, auf den städtischen Raum projiziert wurde. „Kurz gesagt: Raum ist ein Praxisraum“, schreibt Michel de Certeau41 und weist darauf hin, dass Straßen, Plätze und Monumente nicht nur Bauwerke sind, sondern auch Sinn vermitteln. Dieser ist wiederum vom sozialen und kulturellen Umfeld abhängig, in dem Menschen agieren.42 So begann das Bürgertum „die urbane Landschaft als ein Mittel zu ver-

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

wenden, um ihre Verschiedenheit von der Aristokratie auszudrücken“.43 Somit entspricht die Einzäunung der Place de la révolution dem bürgerlich-liberalen Prinzip der „legalen“ Herrschaft und symbolisiert eine Freiheit, die nur innerhalb eines – durchaus wandelbaren – normativen Rahmens möglich sein sollte: im Rahmen einer Verfassung sowie bestimmter kultureller Regeln und Normen. Dieses bürgerliche, dieses vermeintlich unendliche und doch „eingezäunte“ Universum symbolisierte Boullée, ein „Revolutionär des Raumes“, 1793 in seinem Projekt eines „Tempels der Natur und Vernunft“. Er bediente sich bei diesem Tempel, der im Übrigen nie realisiert wurde, der Form einer Kugel. Die untere Halbkugel, die so genannten „Hälfte der Natur“, sollte einen Erdkrater darstellen, die obere Halbkugel, die „Hälfte der Vernunft“, war als Kuppel gedacht, die vollständig glatt und ungebrochen war. Genau auf der Höhe, wo Natur und Vernunft zusammentrafen, sollten die Menschen in einem Säulengang die Weiten des bürgerlich-aufgeklärten Universums bewundern können. Blickten sie nach oben, erschien ihnen der Raum grenzenlos, der aber doch durch die Kuppel begrenzt war. Und auch der felsige Erdkrater, der die „Hälfte der Natur“ bildete, wirkte unermesslich.44 Jules Michelet hatte, bezogen auf das Marsfeld, nicht umsonst „die Leere“ als Denkmal der Französischen Revolution bezeichnet: „Das Empire hat seine Säule, und es hat den größten Anteil am Triumphbogen; das Königtum hat seinen Lourve, seinen Invalidendom; die feudale Kirche von 1200 thront noch immer in Notre-Dame […]. Und die Revolution hat als Denkmal … die Leere …“45 Während der Julimonarchie wurde in Paris die Politik des „percement“ fortgesetzt.46 Letztlich war es aber Georges-Eugène Haussmann vorbehalten, dem bürgerlichen Raum seine „Unermesslichkeit“ zu verleihen. Als Präfekt des Département de la Seine ließ er zwischen 1853 und 1870 ganze mittelalterliche Pariser Viertel abreißen, betrieb die „Boulevardisierung“ der Stadt und zeichnete für die Errichtung der Pariser Oper und der Bibliothèque Nationale, die Erweiterung des Louvre und die Eisenkonstruktion der Pariser Markthallen verantwortlich. Haussmann schuf zudem offene Freizeiträume, etwa den Bois de Boulogne und den Bois de Vincennes.47 Das neu gestaltete Paris sollte nach der Vorstellung Napoleons III. den Ruhm Frankreichs in die ganze Welt hinaustragen – ein Ruhm, den Frankreich der bürgerlichen Gesellschaft zu verdanken hatte, die paradoxerweise gerade unter der Herrschaft eines autokratischen Regimes, dem Zweiten Kaiserreich, eine ihrer Blütezeiten erlebte. Hauptverantwortlich für die bauliche Modernisierung war letztlich auch das Großbürgertum, das die Finanzen kontrollierte.48 Das Haussmann‘sche Paris hatte somit, freilich neben der verbesserten

1.1 Die eingezäunte Freiheit

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Möglichkeit polizeilicher Überwachung, zwei Funktionen: einerseits den Ruhm der Kaiserzeit zu bezeugen, andererseits dem Bürgertum zur Repräsentation zu dienen und ihm zudem Bewegungsraum zu schaffen, jenes „Volumen der Freiheit“, in dem der „Flaneur“, der Spaziergänger, seine Heimat fand. Während die Aristokratie die Kutsche zur Fortbewegung benutzte, ging der Bürger zu Fuß durch die Stadt, flanierte über die weiten Plätze und Boulevards, entspannte sich dabei und gab sich dem Gefühl des Unendlichen hin, beschränkte sich nicht auf Details, sondern erfasste das Ganze des bürgerlichen Universums.49 Zugleich sollte der „Flaneur“ aber auch kritischer Beobachter sein, der die Schattenseiten und Widersprüche dieses bürgerlichen Universums aufspürte. Er war die Verkörperung des (männlichen) Individualisten und des perfekten Bürgers, indem er als „unaufhörlicher Müßiggänger, Leseratte oder Schaufensterbummler“ auftrat, „der die Stadt Paris als ein für ihn inszeniertes Schauspiel betrachtete“.50 Ob die breiten und langen Boulevards sowie die großen Plätze aber tatsächlich die Entfaltung seiner individuellen Freiheit gestatteten, ist freilich in Frage zu stellen. Möglicherweise ging die „Individualität […] wieder verloren, sobald man auf die Straße trat, wo man einer Vielzahl von Menschen begegnete, wo aber keiner mehr den anderen betrachtete“.51 Unabhängig davon führte die Umgestaltung von Paris zu einer stärkeren Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Durch geschlossene Häuserfronten oder durch Gartenmauern und Gärten, gleichsam Sicherheits- bzw. Übergangszonen, wurde die Autonomie der Privatsphäre geschaffen, die sich deutlich vom öffentlichen Straßenraum abgrenzte,52 vom „Bürgersteig“, auf dem sich der Bürger als „Flaneur“ weitgehend unerkannt unter Bürger mischte. Diese Zweiteilung des bürgerlichen Raumes in eine private und eine öffentliche Sphäre hatte sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts angekündigt, als Gebäude mit Zimmern, die nicht miteinander verbunden waren, durch geschlossene Wohnsysteme abgelöst wurden, d.h. durch ganze Wohnungen, in die sich nun Familien zurückziehen und sich von anderen Familien weitgehend abgrenzen konnten. Ferner wurden Vorzimmer eingeführt, die ebenfalls als Übergangszonen zwischen öffentlichem und privatem Raum dienten.53 Dennoch bildeten Öffentlichkeit und Privatheit auch weiterhin kein wirkliches Gegensatzpaar, zumal sich Elemente des Privaten in den öffentlichen Raum ausdehnten: Während der Restauration stieg etwa die Anzahl der Fenster in den Häuserfronten, die sich der Straße zuwandten. In der Julimonarchie wurden Balkone modern, die am Ende des Zweiten Kaiserreiches in allen Etagen vorzufinden waren.54 Mit diesen Fenstern und Balkonen entstanden Interferenzzonen, in denen Privatheit und Öffentlichkeit einander überlagerten.

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

Der private Raum war aber ursprünglich notwendig gewesen, um den öffentlichen bürgerlichen Raum, das „Volumen der Freiheit“, überhaupt „anzudenken“ und zu konstituieren. Die neue Form des Wohnens mit allen ihren Interferenzzonen weist auf die Geburt der bürgerlichen Gesellschaft im (semi-)privaten Raum und ihren Transfer in den öffentlichen Raum hin. In ihr spiegelt sich der gleichsam „organische“ Zusammenhang von Privatheit und Öffentlichkeit.55 Ohne die Erfindung des Privaten – die individuelle geistige Beschäftigung im Studierzimmer und in der hauseigenen Bibliothek, schließlich die private Diskussion mit Gleichgesinnten in Salons und Cafés – hätte sich die öffentliche Meinung nicht etablieren können, zumal im (semi-)privaten Raum die Voraussetzungen für den offenen Diskurs geschaffen wurden, der als ein zentrales Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet werden kann.56

1.2 Der offene Diskurs

Der offene Diskurs ist nicht nur als Abwägen und Zusammenprallen unterschiedlicher Aussagen bzw. als Konsenssuche innerhalb eines vorgegebenen normativen Rahmens zu verstehen. Vielmehr umfasst er auch so genannte „Grenzüberschreitungen“, Aussagen und Handlungen, die angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte als unerhört gelten und Aufsehen erregen, aber dennoch eine Diskussion bzw. einen Disput nach sich ziehen. Freilich ist man, um mit Michel Foucault zu sprechen, nur „im Wahren […], wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss“.57 Allerdings sind der „Austausch und die Kommunikation […] positive Figuren innerhalb komplexer Systeme der Einschränkung“,58 d.h. dass etwa rhetorische wie schriftliche Regeln vorgegeben sind, die aber dennoch das „Unerhörte“ zulassen. Dies gilt umso mehr für die bürgerliche Gesellschaft, deren Normen- und Regelsystem – wie noch anhand der Entwicklung der Kunst und Literatur gezeigt werden soll – im Laufe des 19. Jahrhunderts ausgedehnt wurde. Die Grenzen wurden durchlässig, die Infragestellung von Grenzen selbst zur Regel. Der offene Diskurs ist daher ein Inklusionskonzept: Einerseits schreibt er einen auf Rationalismus basierenden Typus von Kommunikation vor, andererseits ist er aber im Bezug auf Sachthemen durchaus offen,59 weshalb das „Unerhörte“ letztlich gehört wird und somit die bürgerliche Gesellschaft bereichern und weiterentwickeln kann. Der jeweilige Diskurs dreht sich also nicht um die eigene Achse, sondern lässt sich durchaus erweitern, weshalb hier der Begriff des offenen Diskurses gewählt wurde.

1.2 Der offene Diskurs

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Dieser offene Diskurs resultierte nicht zuletzt aus der „fureur d’apprendre“, der „Leidenschaft zu lernen“, die das Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert erfasst hatte.60 Eine wichtige Voraussetzung für diese Leidenschaft ist die zunehmende Bedeutung der Literalität. „Das Schreiben steigert die Bewußtheit“, meint der Medientheoretiker Walter Ong. „Um zu leben, um voll zu verstehen, benötigen wir nicht nur Nähe, sondern auch Entfernung. Schreiben schafft diese Entfernung […]. Es beflügelt das Selbstgefühl und begünstigt eine bewußtere Interaktion zwischen Personen. Schreiben ist Bewußtseinserweiterung.“61 Folglich ist auch die kritische Betrachtung der Gesellschaft nur aus der Entfernung, d.h. mit dem Aufkommen der schriftlichen Kultur möglich, die schließlich ihren maßgeblichen Teil zum Kampf gegen das feudale System beitragen sollte. Roger Chartier hat die Geschichte der Produktion und Aneignung von Texten untersucht und dabei entdeckt, dass mit der vermehrten Zirkulation des Gedruckten zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert die schöpferische Freiheit des Individuums, obzwar Regeln unterworfen, gefördert wurde.62 Nicht zufällig stieg im 18. Jahrhundert die Zahl der Zeitungen stark an. In Paris gab es 1785 bereits 14 regelmäßig erscheinende Zeitungen. Während der Französischen Revolution wurde schließlich die Zensur abgeschafft und in der Folge eine unübersehbare Zahl von Zeitungen gleichsam über Nacht herausgegeben. Auch royalistische Blätter konnten zunächst unter dem Schutz der Pressefreiheit publizieren werden. Weil die Revolutionäre aber befürchteten, die Revolutionsgegner mit solchen Zeitungen zu stärken, wurden sie 1792 verboten.63 Tatsächlich bedingt Literalität nicht nur Reflexion, sondern beeinflusst auch das Handeln. Sie ermöglicht den politischen Diskurs und damit auch die Durchsetzung politischer Ideen, womit sie letztlich zur Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft beitrug. „Sie [die Literaten, Anm. d. V.] beschäftigten sich unablässig mit den Gegenständen, die sich auf die Regierung beziehen“, schreibt Alexis de Tocqueville im Jahr 1856. Täglich hörte man sie sprechen über den Ursprung der Gesellschaft und deren primitive Formen, über die ursprünglichen Rechte der Bürger und der Staatsgewalt, über die natürlichen und künstlichen Beziehungen untereinander, über den Irrtum oder die Berechtigung des Herkommens und über die Prinzipien der Gesetze. […] Die Schriftsteller gaben dem Volke, das diese Revolution machte, nicht nur ihre Ideen, sondern auch ihr Temperament und ihre Stimmung.64

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

In dem von Caron de Beaumarchais 1784 verfassten Theaterstück „Le mariage de Figaro“ (Die Hochzeit des Figaro) tritt etwa der Diener Figaro als Kritiker und Gegner des Grafen Almaviva auf. Bei der Uraufführung soll es, wohl wegen des politisch brisanten Inhalts, drei Tote gegeben haben. Im Stück „La mère coupable“ (Die Schuld der Mutter), das Beaumarchais 1792, also bereits während der Französischen Revolution, schrieb, rettet Figaro schließlich dem ruinierten Grafen, der noch dazu verbürgerlicht wird, das Leben. „Figaro“, meinte Napoleon Bonaparte, „das war die fortschreitende Revolution“.65 Wenn nun der Adel in der Literatur thematisiert wurde, etwa in „Liaisons Dangereuses“ (Gefährliche Liebschaften, 1792) von Pierre Choderlos de Laclos, dann als absterbende Gesellschaft.66 Zudem verlor die so genannte „Ständeklausel“ an Bedeutung, die das Bürgertum und die unteren Schichten nur in Komödien auftreten hatte lassen. „Man gelangt nicht immer dann zur Revolution“, schreibt Alexis de Tocqueville, „wenn eine schlimme Lage zur schlimmsten wird.“67 Voraussetzung ist vielmehr, dass sich eine soziale Gruppe, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung erlangt hat, in ihrer weiteren Entfaltung eingeschränkt sieht und überdies einen konkreten Entwurf von der Zukunft besitzt.68 Bei der Französischen Revolution war dies der Fall: Das Bürgertum hatte längst eine unanfechtbare Stelle in der Gesellschaft eingenommen, wurde aber durch das absolutistische System in seinem Handeln beschränkt. Und die aufgeklärte Literatur hatte bereits das Modell einer neuen Gesellschaft formuliert, das die Revolutionäre schließlich zu verwirklichen versuchten. Entstanden war dieses Modell unter anderem in so genannten „Salons“, halbprivaten Zusammenkünften, die seit dem 17. Jahrhundert zunächst von gebildeten Damen der aristokratischen Gesellschaft organisiert wurden. Sie boten den Gelehrten und Schriftstellern einen Raum, um über Politik und gesellschaftliche Veränderungen zu diskutieren. Zu den Stammgästen des bekannten Salons von Madame Marie-Thérèse de Geoffrin gehörten um 1750 unter anderem Philosophen wie d’Alembert, der Schriftsteller Bernard Le Bovier Fontenelle, der Naturforscher Georges Louis Leclerc Graf von Buffon sowie der Publizist und Diplomat Melchior Grimm. Es verwundert daher auch nicht, dass Madame Geoffrin die Herausgabe der 35-bändigen „Encyclopédie“ finanziell unterstützte.69 Die „Encyclopédie“, zugleich Nachschlagewerk und Kampfinstrument der Aufklärung,70 sollte den Fortschritt der Naturwissenschaften, der Technik und der Geschichte dokumentieren. Im Gegensatz zur absoluten Gewalt des Fürsten und zur Regelung der Wirtschaft durch das Zunftwesen wurden die eingezäunte Freiheit des Individuums, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit

1.2 Der offene Diskurs

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von Industrie und Handel gefordert. In einem Brief an Voltaire schreibt Diderot: „Dies soll unser Leitspruch sein: keine Nachsicht für die Abergläubischen, die Fanatiker, die Ignoranten oder für die Narren, Übeltäter oder Tyrannen. Ich möchte unsere Brüder vereint sehen im Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen.“71 Am Beispiel der „Encyclopédie“ zeigt sich deutlich, wie Salons die private mit der öffentlichen Sphäre vermischten und gleichsam eine Brücke zwischen zwei Welten darstellten, die lediglich zwei Seiten einer Medaille, der Aufklärung und der bürgerlichen Gesellschaft, waren. Neben den Salons, deren Zugang auf die bürgerliche und intellektuelle Elite beschränkt war, entwickelten sich seit dem 18. Jahrhunderts auch Cafés zu Orten, an denen unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallten und somit der offene Diskurs gepflegt wurde. Cafés ermöglichten eine „lecture collective“72, ein „kollektives Lesen“, indem Zeitungsartikel vorgelesen wurden. Damit konnten auch „häufig […] die Grenzen zwischen Bücherlesern und Analphabeten übersprungen“ werden.73 Literalität wurde in den Cafés wieder oralisiert, schriftlicher und mündlicher Diskurs ergänzten einander. Vor der Revolution entstanden in diesen Cafés politische Zirkel, etwa im Pariser Café „Procope“, in dem sich zunächst alle konkurrierenden politischen Gruppen trafen. Später konnte diesen Gruppen jeweils ein eigenes Café zugeordnet werden.74 Raum für den offenen Diskurs boten auch die Restaurants, die in den zwei Jahrzehnten vor der Revolution entstanden waren und neben den Cafés als bürgerliche Orte schlechthin gelten können. Das erste große Pariser Restaurant, „La Grande Taverne de Londres“, war von Antoine Beauvilliers in den 1780er Jahren eröffnet worden. Die Revolution erhöhte schließlich die Nachfrage nach solchen Einrichtungen, zumal viele Deputierte zur Nationalversammlung, die aus der Provinz stammten, in Pensionen wohnten und ihre Mahlzeiten außerhalb einnahmen. Der steigende Bedarf an Restaurants wurde zunächst durch Köche gedeckt, die ihre Anstellung verloren hatten, weil ihre aristokratischen Dienstgeber geflüchtet oder bemüht waren, durch eine wenig aufwändige Haushaltsführung nicht als Revolutionsgegner verdächtigt zu werden. Als neue Möglichkeiten der Existenzsicherung bot sich diesen Köchen die Gründung eines Restaurants an.75 „Sie sind Wirte geworden“, schreibt der Schriftsteller Louis Sébastien Mercier 1789, „und haben angekündigt, dass sie für alle gegen Bezahlung die Wissenschaft des Maules, wie Montaigne sagt, lehren und praktizieren werden.“76 Diese „Wissenschaft“ förderte auch eine andere „Wissenschaft“: die Politik. So gründete etwa ein Koch des Prinzen Condé, der unmittelbar nach dem Sturm auf die Bastille in das Exil geflüchtet war, ein Restaurant, zu dessen Stammkunden führende

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

Jakobiner zählten.77 Die steigende Zahl von Restaurants in Paris zeigt gleichsam seismographisch die Dursetzung der bürgerlichen Öffentlichkeit an: 1789 existierten in Paris rund 50 Restaurants, 1820 bereits 3.000.78

1.3 Das kulturelle Regelsystem

Die eingezäunte Freiheit und das gesellschaftliche Prinzip des offenen Diskurses spiegeln sich im kulturellen Regelsystem des bürgerlichen Frankreichs, das – trotz mancher Anleihen aus dem Ancien Régime – zur Abgrenzung von der aristokratischen Welt diente und somit als Ausdruck der bürgerlichen Emanzipation zu interpretieren ist. Der bürgerlichen Gesellschaft anzugehören bedeutete, spezifische Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster zu übernehmen, die von Sozialisation und somit von einem bürgerlichen „kollektiven Gedächtnis“79 (S. 59) abhängig waren. Honoré Daumier stellt etwa in seiner Zeichnung „Le Connaisseur“ einen älteren Herrn dar, welcher – der Realität entrückt und in höchster ästhetischer Erregung – in einem mit Kunstwerken vollgestopften Zimmer auf eine verkleinerte Nachbildung der Venus von Milo blickt. Letztlich präsentiert er hier ein gesellschaftlich vorgegebenes Modell des bürgerlichen Kunstgenusses, das sich im kollektiven Gedächtnis verankert hat und dem der Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft über das Mittel spezifischer Kunstbetrachtung zugrunde liegt. Ganz in diesem Sinne wollte der Journalist und Verleger Edouard Charton mit der Kunst das „Gefühl der Liebe zum Schönen“ in der französischen Nation geweckt sehen, um den „Fortschritt ihrer Zivilisation“ und „ihren Ruhm“ zu gewährleisten.80 Folglich kann gleichsam der Müßiggang, der temporäre Rückzug aus der Öffentlichkeit, als zentraler Bestandteil des bürgerlichen Gesellschaftsmodells betrachtet werden.81 1875, als Charton dieses leidenschaftliche Plädoyer für die Kunst schrieb, liebte das Bürgertum die Oper, begeisterte sich für das Theater oder interessierte sich für Museen und Gemäldegalerien – oder tat zumindest so, um zu beweisen, dass man zur bürgerlichen Gesellschaft gehörte. Kunst und bürgerliche Gesellschaft waren untrennbar miteinander verbunden. Prächtige Gebäude wurden errichtet, in denen die Kunst eine Heimat finden sollte, etwa die von Charles Garnier im neubarocken Stil entworfene und zwischen 1862 und 1875 realisierte Pariser Oper, die „Opéra“. Als Höhepunkt des Pariser Kulturlebens ließ sich das Bürgertum den Pariser Salon nicht entgehen – eine staatliche Kunstausstellung, die seit 1791 zunächst unregelmäßig und seit 1831 alljährlich stattfand. Bis in die

1.3 Das kulturelle Regelsystem

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1880er Jahre galt der Pariser Salon als maßgebende Institution für die bildenden Künste. 1849 wurde er in die Tuilerien und 1850 in den Palais-National (PalaisRoyal) verlegt, später schließlich in den Palais de l’Industrie, der für die Weltausstellung von 1855 errichtet worden war.82 Die Dimension dieser Ausstellung war nicht nur für damalige Verhältnisse beeindruckend: Im Salon von 1880 konnten die Zuschauer etwa 3.975 Ölgemälde und 2.063 Aquarelle, Pastellbilder, Miniaturen, Kunstglasscheiben, Emaillearbeiten, Porzellangeschirr und Steingut bewundern, ferner 131 Skultpuren, 111 Architekturstudien und -projekte, 305 Stiche und 100 Lithografien.83 Das bürgerliche Interesse für die Kunst wurde aber nicht nur durch Museums- und Ausstellungsbesuche bewiesen, sondern auch, wie es der „Connaisseur“ von Daumier vorzeigt, durch das Sammeln von Kunstgegenständen. Während die Reicheren wertvolle Sammlungen anlegten, begnügten sich die weniger Begüterten mit Kopien von Gemälden und Plastiken (S. 153).84 „Niemand sagt einem Sammler, was er sammeln und wieviel Zeit, Geld oder Energie er seiner Sucht widmen soll“, schreibt Peter Gay. „Aber die Motive für das Sammeln deckten […] ein breites Spektrum von Triebkräften ab, die ihre tiefsten Wurzeln im Unbewussten haben.“85 Und da bekanntlich das Unbewusste zu keinem geringen Teil durch Sozialisationsprozesse determiniert ist, waren Sammler geradezu gezwungen, bestimmten Trends zu folgen. Der Kunstkritiker Théophile Thoré veranschaulicht diesen Zwang am Beispiel von Alexandre Decamps, der sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Orientmaler und noch dazu als technischer Erneuerer größter Beliebtheit erfreute: „Ohne einen Decamps kann man keine Sammlung anfangen, und jeder, der einen Decamps besitzt, ist verloren; er beginnt die Malerei zu lieben; er muß Bilder sammeln: voilà, schon ist er ein Sammler.“86 Untergebracht waren die privaten Kunstsammlungen in den bürgerlichen Villen und Wohnungen, deren Interieur im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr an Antiquitätengeschäfte, Kunsthandlungen oder Galerien erinnerte.87 Im „grand salon“ (großen Salon) dieser bürgerlichen Privatmuseen ahmte die bürgerliche Dame die Salons des 18. Jahrhunderts nach. An einem bestimmten Tag, einem „jour fixe“, empfing sie ihre Gäste und inszenierte gleichsam das Theater der Bürgerlichkeit: Gedichte wurden rezitiert und aus Romanen vorgelesen, über die jüngste Theateraufführung diskutiert oder Kammerkonzerte gegeben. Nicht selten dilettierten die Gastgeberin oder ihre Tochter selbst auf dem Klavier, das zur unentbehrlichen Ausstattung des bürgerlichen Haushaltes geworden war. Bereits um 1840 zählte man in Paris rund 20.000 Klaviere.88 Für die Töchter aus „gutem Hause“, ganz gleich ob sie nun Begabung hatten oder nicht, war es

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

eine Verpflichtung, den Klavierunterricht zu besuchen. In Paris standen dafür um 1860 über 20.000 Klavierlehrer zur Verfügung.89 Manche der regelmäßigen Zusammenkünfte der bürgerlichen Elite in einem „grand salon“ wurden zu gesellschaftlichen Ereignissen, an denen bekannte Künstler und Künstlerinnen der Opéra Comique, der Opéra oder der Comédie-Française mitwirkten.90 „Le Figaro“ berichtete um 1900 in der Rubrik „Le Monde & la Ville“ unter anderem auch regelmäßig über bekannte Pariser Salons und bestätigte immer wieder den großen „Erfolg für alle diese bewundernswerten Künstler“.91 Der Ruf eines Salons hing letztlich von der Gastgeberin ab. „Kennen Sie eine andere Stadt der Welt“, fragte etwa die britische Schriftstellerin Violet Trefusis im Zusammenhang mit dem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg etablierten Pariser Salon von Marie-Louise Bousquet, „wo man jeden Donnerstag zu einer Frau eilen würde, die weder jung noch schön noch reich ist? Einfach nur, weil sie Esprit besitzt.“92 Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte der Salon aber seine politische Bedeutung verloren und sich zu einem kulturellen Ereignis gewandelt, das sich nicht selten durch Oberflächlichkeit auszeichnete. So schreibt etwa der Schrifsteller Prosper Mérimée Anfang der 1860er Jahre in Erinnerung an Juliette Récamier, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen der bekanntesten Salons in Paris führte: Man findet in einem Salon eine gewisse Anzahl vorgefertigter Meinungen und Ideen, die man übernimmt und anderswo verbreitet. Er ist ein Arsenal, dem man Munition entnimmt, um Lärm zu machen. […] Es ist notwendig, Leute mit Geist anzulocken und sie festzuhalten. Man muss ihren Geist jenen näher bringen, die nur Titel oder Geld haben.93

Viele Republikaner waren daher davon überzeugt, dass die Republik keine Salons benötige, weil die Oberflächlichkeit der Konversation in den Salons an die Aristokratie des Ancien Régime erinnere. So bezeichnet das „Große Universalwörterbuch“ von Pierre Larousse unter dem Schlagwort „Salon“ diesen als „tot“. Gleichzeitig belehrt es jene, die deswegen „den Verlust des Esprit der Konversation“ befürchteten: „Wenn man darunter die Kunst versteht, nichts im eleganten Stil zu verbreiten, die Kunst, gelangweilt seine Zeit zu verlieren, werden wir die Letzten sein, darüber zu klagen, dass sich der französische Esprit letztlich ernsthaften Angelegenheiten und Gedanken widmet.“94 Die Oberflächlichkeit, die Larousse beklagt, zeigt sich unter anderem auch darin, dass die Zeitung „Le Figaro“ seit 1913 die Berichte über private und öffent-

1.3 Das kulturelle Regelsystem

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liche Gesellschaften in der Rubrik „Le Monde & la Ville“ vermischte, während etwa in den 1870er Jahren, in den ersten Jahren der Dritten Republik, noch eine strikte Trennung stattgefunden hatte. Dieser Wandel scheint weniger darauf zurückzuführen zu sein, dass „die republikanische Elite ab diesem Zeitpunkt [seit der Jahrhundertwende, Anm. d. V.] einen integralen Bestandteil des mondänen Pariser Netzwerks“ bildete, also von der französischen gesellschaftlichen Elite endlich akzeptiert wurde, wie Anne Martin-Fugier meint.95 Denn republikanische Politiker waren auch zuvor Teil der gesellschaftlichen Elite und somit Gäste diverser Salons gewesen, etwa bei Aline Ménard-Dorian, die der „gauche caviar“96, der „Kaviar-Linken“, eine gleichsam gesellige Heimat gab, unter anderem dem Journalist Henri Rochefort sowie dem späteren französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau. Ein anderer Salon, der von Republikanern gerne besucht wurde, war jener von Madame und Monsieur Henry Liouville, wobei der Gastgeber selbst in der Nationalversammlung als Deputierter saß.97 Daher lässt sich die Vermischung öffentlicher Gesellschaften, etwa von Empfängen, mit privaten Salons bei der Berichterstattung in „Le Figaro“ wohl darauf zurückführen, dass sich die Dritte Republik nach politischen Krisen wie der Boulanger-Krise (S. 248) und der Dreyfus-Affäre (S. 249) gefestigt hatte. Offizielle Gesellschaften verloren nun ihren oftmals politischen Charakter und nahmen die Form eines kulturellen Ereignisses an, das – genauso wie die Salons, der Opernund Theaterbesuch oder das Dîner in einem vornehmen Restaurant – die bürgerliche Gesellschaft im Kleinen abbildete. In diesen öffentlichen und (semi-)privaten Räumen der bürgerlichen Gesellschaft war es notwendig, den vorgegebenen Normen zu entsprechen und etwa die „richtige“ Haltung beim Sitzen oder Stehen, zu Tisch oder beim Tanz zu beherrschen. Wer die vorgeschriebenen Regeln in den jeweiligen Räumen – im privaten Salon, im Theater oder in der Oper, beim Flanieren oder in den Cafés und Restaurants – nicht beherrschte, war sofort als jemand entlarvt, der nicht zu bürgerlichen Gesellschaft gehörte. Als Teil der bürgerlichen Körper- und Bewegungskultur spiegelte eine spezifische Körperhaltung die eingezäunte Freiheit und lehrte das Individuum, sich darin auch angemessen zu bewegen. So entsprach etwa das Verhalten beim bürgerlichen Tanz den Prinzipien der „legalen Herrschaft“: Die Tanzpartner agierten gemeinsam, behinderten einander nicht und durchkreuzten mit anderen Paaren das Tanzparkett, freilich ohne mit diesen zusammenzustoßen. Eine Tanzveranstaltung war ohne Zweifel ein buntes Treiben, das aber letztlich in geregelten Bahnen verlief, obwohl kein Tanzmeister wie bei den adeligen Gesellschaftstänzen für Ordnung sorgte. Die Autonomie

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eines Tanzpaares wurde – im Sinne des „Naturzustandes“, wie ihn John Locke definiert hatte – durch jene der anderen tanzenden Paare mitbestimmt, und der Rhythmus der Musik zähmte die Wildheit der Bewegungen. Dennoch verschmolz die gesamte Tanzgesellschaft wie ein natürlicher Organismus zu einem Ganzen.98 Auf dem Gemälde „Le Bal du Moulin de la Galette“ (1876) hat Pierre-Auguste Renoir eine Tanzveranstaltung in einer „guinguette“ verewigt, einem Gartenlokal auf dem Montmartre, in dem die „petite bourgeoisie“ (Kleinbürgertum) und das so genannte „einfache“ Volk verkehrten (siehe Tafel 1). Die auf dem Gemälde dargestellten Gäste vermischen sich zu einer vibrierenden Einheit, in der sich jedoch die tanzenden Paare, eingegrenzt von einer Menschenmenge und verloren in Zweisamkeit, die durch die verschwommene Darstellung des Tanzbodens99 noch verstärkt wird, ungehindert bewegen können. Die einzelnen Tanzpartner verschmelzen aber letztlich miteinander; das „Ich“ und das „Du“ suchen und finden einander im „Volumen der Freiheit“. Renoirs Gemälde lässt den Menschen nicht als „geschlossene Persönlichkeit“ erscheinen, sondern verweist auf ein „Geflecht der Angewiesenheit der Menschen aufeinander“, auf eine „Figuration“, die Norbert Elias am Beispiel der gesellschaftlichen Tänze veranschaulicht: Man denke an eine Mazurka, ein Menuett, eine Polonaise, einen Tango, einen Rock’n Roll. […] Die gleiche Tanzfiguration kann gewiß von verschiedenen Individuen getanzt werden; aber ohne eine Pluralität von aufeinander ausgerichteten, voneinander abhängigen Individuen, die miteinander tanzen, gibt es keinen Tanz; wie jede andere gesellschaftliche Figuration ist eine Tanzfigur relativ unabhängig von den spezifischen Individuen, die sie hier und jetzt bilden, aber nicht von Individuen überhaupt.100

Im Gegensatz zu den Gesellschaftstänzen der aristokratischen Gesellschaft war freilich der bürgerliche Tanz auf weitgehende individuelle Autonomie ausgerichtet. Allerdings existierten Regeln, die einerseits die Autonomie aller Tanzpaare, andererseits aber auch deren Verschmelzung zu einem Ganzen ermöglichten, in dem sich die Individuen aber dennoch entfalten konnten. Der Cotillon, eine der beliebtesten Tanzformationen des – paradoxerweise so bürgerlichen101 – Zweiten Kaiserreiches, der in der Regel am Schluss eines Balles gebildet wurde, ist Ausdruck dieser schwierigen Verbindung von Individualismus und kollektiver Vorgabe. Immer wieder werden dabei neue Paare zusammengeführt, die einen kurzen Rundtanz, meist einen Walzer, tanzen. Dieser Walzer, der bürgerliche

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Tanz par excellence, erscheint nur auf den ersten Blick als ein von Regeln völlig befreites, geradezu hemmungsloses Drehen. Als er sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in Frankreich durchzusetzen begann, gestaltete sich die französische Version sogar deutlich komplizierter als der Wiener Walzer. Es war nicht nur vorgeschrieben, auf Zehenspitzen zu tanzen, sondern auch Pirouetten zu schlagen und andere Grundfiguren der klassischen Ballsaaltänze einzuhalten.102 Der Bruch mit den Traditionen des Ancien Régimes erfolgte nicht, wie es die Revolutionäre gewünscht hatten, mit ihrer Auslöschung, sondern durch ihre Transformation. Mit dem gesellschaftlichen Siegeszug des Bürgertums wurde jedoch laut Norbert Elias „vieles von dem, was im Ursprung spezifisch höfisch und gewissermaßen unterscheidender Sozialcharakter der höfischen Aristokratie, dann auch der höfischen Bürgergruppe war, in einer immer intensiveren Ausbreitungsbewegung und ganz gewiß in bestimmter Weise umgebildet“.103 Außerdem kamen neue kulturelle Elemente hinzu, womit letztlich ein kulturelles Regelsystem geschaffen wurde, das zur Abgrenzung gegenüber der höfischen Welt dienen konnte. Auch die französische „haute cuisine“ hatte sich zunächst in einem spezifisch höfischen Rahmen entwickelt. Bereits im 17. Jahrhundert wurden Ess- und Trinkexzesse sowohl in adeligen als auch bürgerlichen Kreisen durch eine Mäßigung an der Tafel abgelöst, von der „eleganten Schlichtheit“ bzw. vom „französischen Modell“. Alle Bereiche der Tischkultur wurden davon erfasst: Das System der Tischregeln verkomplizierte sich zunehmend, die Rezepte wurden verfeinert, Trinkgläser und Essgeschirr unterlagen einer Vereinheitlichung, aber auch die Ausstattung der Speisezimmer veränderte sich grundlegend. Im 18. Jahrhundert erlangte der Begriff des „régime alimentaire“ (Diät) in medizinischen Kreisen besondere Bedeutung, und auch Rousseau übernahm ihn in seinen Schriften, indem er von Mäßigung sprach und unverfälschte Nahrungsmittel empfahl.104 „Natürlichkeit“ und „Einfachheit“ wurden der Künstlichkeit gegenübergestellt. Die Aufklärung dehnte diesen Gegensatz auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus, etwa auch auf die Kleidungsgewohnheiten und die Köperpflege: Einengende Kleidung wurde kritisiert, reifenlose Röcke wurden favorisiert und während der Französischen Revolution gewannen fließende, an die Antike erinnernde Gewänder an Bedeutung.105 Ferner war der Begriff der „Sauberkeit“ nicht mehr nur an der Kleidung ablesbar, sondern betraf nun direkt den Körper. Die Haut sollte gleichsam von Schmutz „befreit“ werden, um „atmen“ und „transpirieren“ zu können. Damit in Verbindung wurde auch die Künstlichkeit des Parfums als Widerspruch zur Mentalität des Bürgertums betont, wobei hier vor allem die Praxis gemeint war, eindringliche Körpergerüche mit „Potpourris“ zu überdecken.

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Parfüms wurden nicht abgelehnt, wenn sie nicht betäubend und stark riechend, sondern nuanciert und verfeinert waren.106 Die Fähigkeit zur Differenzierung steht in Verbindung mit der „sensibilité“, der Empfindsamkeit, die der Aufklärer François Arnail de Jaucourt als Voraussetzung für soziales Handeln beschrieb: „[…] die Empfindsamkeit bringt den tugendhaften Menschen hervor. Die Empfindsamkeit ist die Mutter der Menschlichkeit und des Großmutes; sie fördert das Verdienst, unterstützt den Geist und hat die Überzeugung zur Folge.“107 Ohne Zweifel galt diese Empfindsamkeit auch als Voraussetzung für die Verfeinerung der Küche. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren etwa Grimond de la Reynière und Jean-Anthelme Brillant-Savarin, zwei Pioniere der französischen Gastronomie, von der Notwendigkeit eines feinen Geschmacks überzeugt. Und auch Urbain Dubois und Émile Bernard, deren „Cuisine Classique“ 1856 in der ersten Auflage erschien, empfahlen, Mahlzeiten zwar reich und luxuriös zu gestalten, aber auf Übermaß und Übertreibung zu verzichten.108 Der empfindsame „Connaisseur“ – nicht nur der Kunstliebhaber, sondern auch der Feinschmecker – setzte sich durch und sollte offen für neue kulinarische Entdeckungen sein. „Nun leben wir in einer Epoche“, schreibt Auguste Vitu 1890 in „Le Figaro“, in der die Gourmets nicht mehr in allen Dingen warten wollen und gewohnt sind, sich nicht mehr nach der natürlichen Ordnung der Jahreszeiten zu bedienen, sondern nach dem unmittelbaren Anspruch ihres feinen Geschmacks. Unsere Väter gaben sich zufrieden, die Schoten im Frühling, die Kirschen im Sommer, den Gutedel [eine Tafeltraube bzw. Rebsorte zur Erzeugung leichter weißer Tischweine, Anm. d. V.] im Herbst zu essen. Der kulturelle Fortschritt, die schnelle Entwicklung der Kommunikation hat die Jahreszeiten verändert und die Breitengrade angenähert. Man serviert auf unserer Wintertafel Schoten, Spargel, Trauben und Erdbeeren. Die Treibhäuser sorgen dafür, ebenso der Süden Europas und das östliche Britisch-Indien und Burma […].109

Die damit verbundene ständige Verfeinerung des Geschmackes, die sowohl im Kunstsinn als auch im Rationalismus des Bürgertums, unter anderem in der Entstehung der Ernährungswissenschaft, begründet lag, verwandelte die „haute cuisine“ gleichsam zu einer „grande cuisine“. Dadurch kam es zu einer französischen Hegemonie bei den Handbüchern für Berufsköche, die der französischen Küche verstärkt zu internationalem Ruhm verhalf.110 So war etwa die belgische „grande bourgeoisie“ (Großbürgertum), für die im Übrigen ein Besuch von Paris ein kulturelles „Muss“ darstellte, im 19. Jahrhundert mehr an der französischen

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Küche als an lokalen belgischen Spezialitäten interessiert. Von den sechs angesehensten Restaurants in Brüssel wurden Ende des 19. Jahrhunderts vier von Franzosen geführt. „Paris war die Norm“, schreibt Peter Scholliers, „und es war eine große Ehre für die besten Restaurants von Brüssel, wenn sie sich mit jenen von Paris verglichen sahen.“111 Mit der Revolution und dem Sieg des Bürgertums über die Aristokratie war ein Wendepunkt in der Ess- und Trinkkultur eingetreten: Die professionelle Kochkunst trennte sich durch die Gründung von Restaurants zunehmend von der häuslichen, und die Präsentation der Mahlzeiten, sowohl die Reihenfolge als auch die Komposition der einzelnen Gänge, unterlag einem starken Wandlungsprozess. So wurde der so genannte „Service à la française“, der aus dem Ancien Régime stammte und zunächst von der bürgerlichen Gesellschaft übernommen worden war, im Laufe des 19. Jahrhunderts vom „Service à la russe“ abgelöst.112 Woher der „Service à la russe“ stammt, ist im Übrigen unbekannt. Die Legende erzählt, dass er erstmals beim russischen Botschafter Alexander Kurakin in Paris eingeführt worden sei. Der „Service à la française “schrieb vor, dass eine Mahlzeit, ähnlich einem Theaterstück, in drei Akte geteilt wird. Der erste Akt setzte sich aus Suppe und Vorspeisen, der zweite aus Braten und Geflügel, manchmal auch aus „foie gras“ (gestopfte Gänseleber), der dritte schließlich aus Desserts zusammen. Wie Grimond de La Reynière in seinem „Almanach des gourmands“ (1803) vorschlägt, sollten im ersten Akt „vins rouges ordinaires“ oder „grands ordinaires“ getrunken werden, meist leichte Rotweine aus dem Süden, die oft mit Wasser vermischt den Durst löschten. Für den zweiten Akt waren die „vins fins“ der Bourgogne und aus Bordeaux vorgesehen. Die Desserts wurden schließlich von Süßweinen begleitet, von Muskateller, einem Barsac oder einem Loupiac, eher selten von Sauternes.113 Im Übrigen kamen die vielen Gerichte eines Aktes nicht einzeln hintereinander, sondern alle auf einmal auf den Tisch. Die Speisen wurden daher schnell kalt, und auch eine gleichmäßige Aufteilung der Speisen war kaum möglich, da jeder einfach gemäß seinem Appetit zugreifen durfte. Dabei stießen die Gäste unbeabsichtigt aneinander und überkreuzten Hände und Arme, beschränkten sich folglich in ihrer individuellen Freiheit. Nicht zuletzt darum kam daher seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der „Service à la russe“ in Mode, der sich um 1890 endgültig durchsetzen sollte. Nun wurden die Gänge – damals oft acht bis zehn an der Zahl – hintereinander serviert. Der Koch oder die Kellner tranchierten das Fleisch, das früher als Ganzes auf den Tisch gekommen war, bereits in der Küche oder auf einem dafür eigens

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vorgesehenen Tisch neben der Tafel. Kuchen und Torten wurden ebenfalls vor dem Servieren in einzelne Portionen geteilt. Das Gemälde eines anonymen Malers mit dem Titel „Frédéric découpant un canard au restaurant La Tour d’Argent“ (um 1900) zeigt den Restaurantbesitzer Frédéric Delair, bewundert von seinen Kellnern, beim Zerlegen eines „caneton Tour d’Argent“, einer spezifisch zubereiteten Jungente, für die sein Restaurant berühmt war (siehe Tafel 2). Das Tranchieren wurde, wie das Kochen und Servieren im Allgemeinen, zur Kunst hochstilisiert, als eine Arbeit, die der Erfahrung und des Könnens sowie höchster Konzentration und Anmut bedarf. Der „Service à la russe“ führte aber nicht nur die „Kunst“ des Tranchierens ein, sondern sah auch eine andere Reihenfolge bei den Speisen vor: Während die „foie gras“ beim „Service à la Française“ nach dem Braten serviert worden war, bildete sie nun einen Bestandteil der ersten beiden Gänge; dabei wurde ein süßer Weißwein – Sauternes, Rheinwein oder ungarischer Tokaj – getrunken. Es folgten Krustentiere und Fisch, die von einem leichten, trockenen und aromatischen Wein begleitet wurden, etwa von einem Chablis, Montrachet, Meursault oder Hermitage. Rotweine kamen erst im zweiten Teil des Mahles auf den Tisch, zum Fleisch, zur Ente oder zum gebratenen Wild oder zum Wild in Sauce. Der Bordeaux ging immer dem kräftigeren Burgunder voran, und die Angewohnheit, alte Weine auf dem Ofen zu erwärmen, wie sie etwa in Gustave Flauberts „Éducation sentimentale“ beschrieben wird,114 kam allmählich aus der Mode. Zudem wurde der Käse vom Dessert getrennt und meist mit einem Salat serviert; Wein war hier nicht vorgesehen. Champagner, in Verbindung mit Eis auch gefroren und gezuckert, begleitete das Dessert. In Abgrenzung zum Ancien Régime,115 das mit dem „Service à la française“ assoziiert wurde, symbolisierte die bürgerliche Festtafel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die zivile Gesellschaft, den Verfassungsstaat: Die Tischregeln, die mit Gesetzen verglichen werden können, gaben einen bestimmten Verhaltens- und Handlungsrahmen vor, innerhalb dessen sich das Individuum frei bewegen durfte. Für Rotwein war zwar ein eigenes Glas vorgesehen, es bestand allerdings keine Pflicht, dieses Getränk auch zu konsumieren. Ferner zeichnete sich die Festtafel durch ihre Offenheit aus, denn die Sicht und Aufmerksamkeit des Tischgastes durfte nicht durch eine zu hohe und pompöse Tischdekoration gestört werden. Der „Service à la française“ war zu reich und zu verführerisch für den Blick gewesen, hatte abgelenkt, die Gesellschaft in mehrere Teile gegliedert. Im Gegensatz dazu galt der „Service à la russe“ als egalitär und republikanisch, weil er einerseits eine gerechtere Aufteilung der Speisen, andererseits die Unter-

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haltung gleichberechtigter Bürger und Bürgerinnen, das Gespräch „face à face“ und somit den offenen Diskurs, ermöglichte.116 Ein anderer Grund für den Erfolg des „Service à la russe“ war der mit ihm verbundene größere Bewegungsraum des Einzelnen, d.h. die individuelle Freiheit im „Volumen der Freiheit“, das durch die Tischregeln geschaffen und durch das weiße und reine Tischtuch noch unterstrichen wurde. „Das Tischtuch muss ganz weiß sein, es ist die Grundlage des Dekors“, schreiben Urbain Dubois und Émile Bernard in ihrer „Cuisine Classique“.117 Sie hatten erkannt, dass mit Hilfe eines weißen Tischtuches die Speisen besonders hervorgehoben werden konnten und der individuelle Genuss, aber auch die Erfahrung der Geselligkeit nicht durch überflüssigen Zierrat gestört wurde. Die eingezäunte Freiheit, wie sie die Aufklärung formuliert hat, kommt folglich im „Service à la russe“ zum Ausdruck: Jeder genießt für sich, ohne die anderen in ihrem Genuss zu stören. Der individuelle Genuss erhöht sich aber durch die Einbindung in eine Gemeinschaft, die den Austausch von unterschiedlichen Meinungen zulässt. „Um gut zu essen, ist es notwendig, mindestens zwei, höchstens zwölf [Personen, Anm. d. V.] zu sein“, schreibt Chatillon-Plessis 1894. „Allein am Tisch leidet der Tischgast daran, nicht über die erlebte Befriedigung sprechen zu können. In zu großer Gesellschaft riskiert er, von den Meditationen abgelenkt zu sein, zu denen ihn die Gerichte inspirieren müssen.“118 Diese Warnung hinderte Gastgeber freilich nicht daran, auch größere Gesellschaften einzuladen. So beauftragte etwa der französische Präsident die „traiteurs“ bzw. Speiselieferanten „Potel et Chabot“, das „banquet des maires“, das „Bankett der Bürgermeister“, am 22. September 1900 in Paris zu organisieren. Von den über 36.000 eingeladenen Gästen kamen rund 22.000 in den Jardin des Tuileries, in dem riesige Zelte mit 360 Tischen aufgestellt waren. „Potel et Chabot“ hatten alle Lebensmittelgeschäfte und Wirte mit Rang und Namen, dazu 1.800 Oberkellner, 3.600 gewöhnliche Kellner und 3.000 Geschirrwäscher mobilisiert.119 Innerhalb dieser Menschenmasse bildeten sich aber wohl die kleinen Gruppen, die Chatillon-Plessis als Voraussetzung für den wahren kulinarischen Genuss empfahl, ein individueller Genuss, der sich in der Gemeinschaft von Bürgern erhöhte. Die bürgerliche Gesellschaft und auch die Republik sind im Festmahl gewissermaßen in reinster Ausprägung repräsentiert,120 wie ein von Chatillon-Plessis beschriebenes Festbankett in Vizille (Isère), einem Ort in der Nähe von Grenoble, deutlich zum Ausdruck brachte: „Als der Präsident der Republik in den Bankettsaal eintrat, stellte sich eine ‚lärmende‘ Stille ein, während eine hinter dem Tapetenbehang verborgene Musikkapelle auf einen Schlag mit der Marseillaise begann.“121

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Die Gäste trugen selbstverständlich Schärpen mit den Farben der Trikolore und Orden für die Verdienste um die Republik. Bei solchen Festbanketten oder im Restaurant vermischten sich private und öffentliche Sphäre im Sinne der Erziehung des Individuums zum Bürger: Das Festmahl wird zum lehrhaften „spectacle“, zu einem Theaterstück, das die ideale bürgerliche Gesellschaft modellhaft vorführt. Der Tisch im Restaurant, eigentlich eine semiprivate Sphäre, steht in einem öffentlichen Raum und bildet gleichsam eine Bühne, die von den anderen Gästen beobachtet wird. Der Speisesaal ist dagegen der Zuschauerraum, in dem die Zuschauer zugleich auch Schauspieler sind, zumal sie ihrerseits wieder an einem Tisch speisen und somit eine eigene Bühne bespielen. „Die Köche (und die Architekten des Dekors) wären also die Regisseure“, schreibt Bruno Girveau, „die Küchengehilfen die Bühnentechniker und die Kellner die leitenden Bühnentechniker.“122 Émile Zola hat dieses „spectacle“, das auch im bürgerlichen Salon zur Aufführung kam, in seinem Roman „Nana“ (1880) beschrieben und zugleich kritisiert, indem er es nicht mehr als Modell, sondern als Staffage einer durch und durch verkommenen Gesellschaft beschreibt: „[…] die Kellner [räumten] unter den lauten Anordnungen des Maître d’hôtel schon den Tisch ab. Sie überstürzten sich, rempelten sich an und ließen die Tafel verschwinden, wie Bühnenarbeiter die Dekoration eines Ausstattungsstücks auf den Pfiff des Maschinenmeisters in die Versenkung zaubern.“123 Marcel Proust vergleicht wiederum in seinem Buch „Unterwegs zu Swann“ (1913), dem ersten Band seines Hauptwerkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die Teilnehmer an einem Abendessen mit Schauspielern, die gerade ein Stück zum Besten geben: Der IchErzähler, der sich an seine Kindheit erinnert, darf nicht am Abendessen teilnehmen. Aus Sehnsucht nach der Nähe seiner Mutter schreibt er einen Brief, den ihr das skeptische Dienstmädchen zustellen soll: „Ich ahnte, daß in ihren Augen das Ansinnen, meiner Mutter eine Botschaft zu überbringen, wenn Gäste da waren, ebenso unmöglich erscheinen mochte wie einem Theaterportier die Idee, einem Schauspieler auf offener Szene einen Brief zu überreichen.“124 Auch die Zuschauer im Theater oder in der Oper fungierten im Übrigen als Schauspieler. Vor allem das „spectacle“ in den Theaterlogen, für die wohlhabende Bürger und Bürgerinnen meist ein Jahresabonnement besaßen, konkurrierte nicht selten mit dem dargebotenen Bühnenstück: Das Bürgertum präsentierte sich in Frack und Abendkleid, empfing Gäste und diskutierte über Kunst und Kultur oder beobachtete die anderen Theatergäste im Parkett, in den Rängen oder in den gegenüberliegenden Logen.125 Beispielhaft zeigen sich die Ähnlichkeiten zwischen Theater und Festmahl bei einem Bankett, das die Stadt Marseille

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Abb. 1 Das Festmahl als „spectacle“: Frauen beobachten ihre Ehemänner beim Festmahl anlässlich des „Banquet offert à M. de Lesseps par la ville de Marseille dans la salle de l’Opéra“ am 6. November 1858 (L’Illustration, 6. November 1858).

im November 1858 zu Ehren des früheren französischen Konsuls in Kairo, Ferdinand de Lesseps, veranstaltete. Lesseps hatte 1854 die Konzession zur Erbauung des Suezkanals erworben und in der Folge die „Compagnie universelle du canal maritime de Suez“ gegründet.126 Während die Männer beim Festmahl im Parkett saßen, durften ihre Ehefrauen das Schauspiel von den Rängen und Logen aus beobachten.127 Ein „spectacle“ anderer Art, bei dem auch die Damen aus guter Gesellschaft ihre „Schauspielkunst“ erproben durften, bot die Pariser Oper im März 1889, als ein Wohltätigkeitsball für die Französische Gesellschaft in St. Petersburg abgehalten wurde. Der Gastronomiekritiker Chatillon-Plessis feierte diesen Ball als „einzigartiges Ereignis in der Gastronomie“: „[…] die Wunder des Festes fanden vor allem in den Foyers und Galerien statt, wo das erstaunlichste kulinarische Schauspiel gegeben wurde.“128 Dort wurde der Opernbesucher auch bei anderen Anlässen „selbst gleichsam zum Schauspieler erhob[en], der im Flanieren durch luxuriöse Raumfluchten und umrahmt von wucherndem Dekor gesellschaftliche Riten inszenierte“.129

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Ein Verstoß gegen die Tischregeln kam einem Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft gleich. Eine Papiertapete, die 1855 von der Manufaktur Jules Desfossé nach der Zeichnung „Les Prodigues“ (Die Verschwender) des klassizistischen Malers Thomas Couture angefertigt wurde, zeigt die Folgen eines bacchantischen Soupers im berühmten Etablissement „Maison d’Or“: Zwei Männer sind mit einem Narren- bzw. Harlekinkostüm bekleidet, ein dritter trägt enge Hosen und einen bunten Umhang. Alle dargestellten Personen haben jegliche körperliche Kontrolle verloren, sind ihres Verstandes und somit ihrer bürgerlichen Ehre beraubt. Die weibliche Begleitung schläft auf dem Boden, ihren Kopf lasziv auf einem Schemel gestützt, und trägt ein Kleid mit weitem Dekolleté, das den Blick auf die verführerischen Schultern und Brüste lenkt. Vielleicht ungewollt erinnert die Kleidung der dargestellten Personen an die Aristokratie des Ancien Régime, von der sich das Bürgertum abzugrenzen versuchte. Die Tapete „Les Prodigues“ (siehe Tafel 3) erscheint wie eine Minimalversion von Coutures bekanntestem, zwischen 1845 und 1847 entstandenem Historiengemälde „Les Romains de la décadence“ („Die Römer der Verfallszeit“), das ein buntes orgiastisches Treiben darstellt, teils nackte Leiber, die sich den sinnlichen Vergnügungen hingeben. „Les Romains de la décadence“ wurde im Pariser Salon von 1847 präsentiert und bestätigte den Maler, Schriftsteller und Kunstkritiker Théophile Gautier in seiner Annahme, dass der hemmungslose Lebensgenuss letztlich in Ermüdung ausarte. Eine deutlichere Warnung vor bürgerlicher Dekadenz und gesellschaftlichem Niedergang konnte nicht ausgesprochen bzw. gemalt werden.130 Émile Zolas Roman „Nana“ (1880) erscheint wie das literarische Spiegelbild der „Römer der Verfallszeit“. Bei einem Dîner, zu dem die Konkubine Nana einen lüsternen bourgeoisen Kreis geladen hat, werden die exquisitesten Gerichte serviert: Spargelpüree Comtesse, Bouillon à la Deslignac, getrüffelte Würstchen aus Kaninchenhirn und Dampfnudeln mit Parmesan als Vorspeise, Rheinkarpfen à la Chambord, Rehrücken à l’anglaise als Zwischengerichte, Hühnchen à la Maréchale, Seezungenfilets in pikanter Kräutersoße und Gänseleberschnitten als erster, Braten in getrüffeltem Filet und gespicktes, d.h. mit Speck durchzogenes Perlhuhn in Gelee als zweiter Hauptgang, schließlich Mandarinensorbet als Nachspeise. Keiner der Gäste nimmt allerdings Notiz von all diesen Köstlichkeiten; die Gespräche beinhalten vielmehr sexuelle Anspielungen oder kreisen um die Biografien der anderen anwesenden Konkubinen. Selbst der Wein bleibt unbeachtet. Bankier Steiner, der sich nach Nana gleichsam verzehrt, hat aufgrund seiner sexuellen Gier jegliche Kontrolle über sich verloren: „‚Léoville oder Chambertin?‘, murmelte ein Kellner und steckte den Kopf zwischen Nana

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und Steiner hindurch gerade in dem Moment, als dieser leise auf sie einsprach. ‚Wie? Was?‘, stotterte er verwirrt. ‚Was Sie wollen, ganz egal.‘“131 Ein Exkurs in das 20. Jahrhundert sei an dieser Stelle erlaubt: Claude Chabrol hat den Verstoß gegen die Tischmanieren in seinem Spielfilm „Les Fantômes du chapelier“ („Die Fantome des Hutmachers“, Frankreich 1982), einer Verfilmung des gleichnamigen Romanes von Georges Simenon, ebenfalls aufgegriffen: Ein von Michel Serrault gespielter Hutmacher, zugleich Mörder und Verzweifelnder an der Gesellschaft, kompensiert das Bedürfnis nach sexueller Trieberfüllung mit unmäßigem Essen.132 Zwei bürgerliche „Sündenfälle“, der übermäßige Appetit und der Verlust der Kontrolle über die sexuellen Triebe, werden miteinander in Beziehung gesetzt.

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Das bürgerliche Gesellschaftsmodell sah unterschiedliche Geschlechterrollen vor, die nicht unbedingt aus einer prinzipiellen Frauenfeindlichkeit resultierten, sondern in der bereits in der Aufklärung verwurzelten Auffassung, dass die Familie bzw. Ehe als eine in der Natur begründete und organische Einheit zu betrachten sei. „Jede menschliche Gesellschaft, auch die kleinste, die aus Mann und Weib und Kindern besteht, ist ein Körper“, schrieb der deutsche Aufklärer Joachim Heinrich Campe 1789, „und zu jedem Körper gehören Haupt und Glieder. Gott selbst hat gewollt und die ganze Verfassung der menschlichen Gesellschaft auf Erden, soweit wir sie kennen, ist danach zugeschnitten, dass nicht das Weib, sondern der Mann das Haupt sein sollte.“133 Einen ähnlichen Gedanken hatte bereits Rousseau in seinem „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ (1755) formuliert, indem er der Frau eine spezifische Rolle in einer Republik zuschreibt: „Könnte ich jene teure Hälfte der Republik vergessen, die das Glück der anderen Hälfte ausmacht und deren Sanftheit und Weisheit den Frieden und die guten Sitten in ihr aufrechterhalten?“134 Die Frau scheint der Aufklärung „als Objekt der Vorstellung des männlichen Subjekts, das sich an ihre Stelle setzt. […] Folgt man der Sicht des männlichen Philosophierens, so gibt es zwei Diskurse – einen Diskurs des Mannes über den Mann und einen Diskurs des Mannes über die Frau […].“135 Gemäß der „natürlichen“ Berufung, so glaubten insbesondere die männlichen Zeitgenossen, sei die Vernunft ein männliches Privileg, wogegen Frauen eher von Gefühlen geleitet würden: „Das schöne Geschlecht“, schreibt Immanuel Kant,

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hat ebenso wohl Verstand als das männliche, nur es ist ein schöner Verstand, der unsrige [jener der Männer, Anm. d. V.] soll ein tiefer Verstand sein, welches ein Ausdruck ist, der einerlei mit dem Erhabenen bedeutet. […] Tiefes Nachsinnen und eine lange fortgesetzte Betrachtung sind edel, aber schwer und schicken sich nicht wohl für eine Person, bei der die ungezwungenen Reize nichts anders als eine schöne Natur zeigen sollen.136

Daher seien laut Montesquieu „Verstand und Schönheit niemals bei ihnen [den Frauen, Anm. d. V.] vereint. Wenn die Schönheit die Herrschaft verlangt, läßt der Verstand sie nicht zu, und wenn der Verstand sie einnehmen könnte, dann ist die Schönheit vorbei.“137 Und Campe, der sich intensiv mit dem Erziehungsideal von Rousseau auseinandersetzte und dem 1792 die Ehrenbürgerschaft der Französischen Republik verliehen wurde, sah im Mann „die unverkennbaren Anlagen zu einem größeren, weiter blickenden und mehr umfassenden Verstande“.138 Der Mann galt zudem als aktives, die Frau als passives Wesen, womit auch die Rollen in der Gesellschaft definiert waren: Die Öffentlichkeit sollte dem Mann vorbehalten sein, die private oder – wird die Institution des Salons berücksichtigt – die semiprivate Sphäre vor allem der Frau. Sie hatte den Haushalt zu führen und war für die Regeneration des Ehegattens zuständig.139 Dieser musste wiederum für den Erhalt und die Zukunft der Familie sorgen, seine Ehefrau sich dafür seiner Autorität unterwerfen, allerdings unter Bewahrung einer gewissen weiblichen Würde, wie Ernest Legouvé im Jahr 1867 meinte: „Die Sitten sind dergestalt, dass eine Frau, zu der ihr Ehemann sagt: ‚Ich befehle Ihnen‘, durch diesen Befehl nichts an ihrer Würde verliert.“140 Das bedeutete nichts anderes, als das die Frau jene angeblich von der Natur auferlegten Pflichten mit Stolz akzeptieren und befolgen sollte. Der Mann übertrug seiner Ehegattin die Organisation des Privaten und des Hauswesens sowie der Freizeit. Somit „entkam [sie] nicht dem [bürgerlichen, Anm. d. V.] moralischen Imperativ, der forderte, dass jeder etwas Brauchbares für die Gesellschaft verrichtet“.141 Von Kind auf wurden die jungen Mädchen aus bürgerlichem Milieu für ihre zukünftige Rolle als „reine de l’interieure“, als „Königin der Häuslichkeit“, vorbereitet. „Man kann ein junges Mädchen beurteilen, wenn man sein Zimmer aufsucht“, heißt es in einem Benimmratgeber. „Man erkennt sofort seine Eignung als Hausfrau.“142 Für junge Mädchen, aber auch für Burschen galten die „bals blancs“, die „weißen Bälle“, bei denen sich die zukünftigen Bräute in Weiß kleideten, als eine Art Heiratsmarkt. War ein Mädchen erst einmal in die Gesellschaft eingeführt, sollte sie im Laufe eines Jahres verheiratet werden. Die Furcht von Madame Josserand in

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Zolas Roman „Pot-Bouille“ (Ein feines Haus, 1882), ihre Töchter nicht „unter die Haube“ zu bringen, kommt nicht von ungefähr. In Zolas Roman träumen Mütter, wenn sie Einladungen in einen Salon erhalten, mit „weit geöffnetem Mund und fletschenden Zähnen“ und mit „rasende[r] Gier nach Schwiegersöhnen“, ihre Töchter zu verheiraten.143 Tatsächlich gehörte es zu einem gesellschaftlichen „Muss“, nach dem Pensionat, das neben der Mutter auf die zukünftige gesellschaftliche Rolle vorbereitete, nur eine kurze Zeit bis zur Hochzeit verstreichen zu lassen.144 Die ungleiche Rollenaufteilung, die zur Herausbildung eines „hegemonialen Männlichkeitsmodells“ führte, in dem „Frauenrollen und Weiblichkeit […] in Relation zur Männlichkeit definiert“ werden,145 betrifft auch die weibliche und männliche Sexualität: Triebhaftigkeit und Trieberfüllung galten im bürgerlichen Gesellschaftmodell nicht grundsätzlich als verwerflich. Allerdings wurden hier lediglich dem Mann großzügige Zugeständnisse gemacht, zumal er angeblich über eine Dynamik verfügte, die zwar ungezügelte sexuelle Triebhaftigkeit zur Folge haben, für die Gesellschaft aber auch konstruktiv genutzt werden konnte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Familie bzw. die Ehe, in der die Ehefrau aufgrund ihrer vermeintlichen sinnlichen Veranlagung die Funktion übernehmen sollte, die überschüssigen sexuellen Triebe des Mannes zu entladen. Damit sollte sie dem Ehegatten helfen, die verbleibende Dynamik in der Öffentlichkeit in Tätigkeiten umzuwandeln, die von der bürgerlichen Gesellschaft als sinnvoll erachtet wurden.146 Eine ähnliche Funktion wie die Ehe besaß offenbar auch die Kunst: Der bereits erwähnte „Connaisseur“ von Daumier, der verzückt eine Nachbildung der nackten Venus von Milo betrachtet, scheint seine Triebhaftigkeit in das bürgerliche Regelsystem zu integrieren, indem er den Kunstgenuss gleichsam als „Triebableiter“ verwendet (S. 26). Die vorgeschriebenen Regeln der Kunstbetrachtung und die Geschlechterrollen besaßen somit eine gemeinsame Funktion: den Erhalt und die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft. So lange nun der Mann keine Ehe einging, erschien die Prostitution durchaus als ein geeignetes Mittel, um seine sexuellen Triebe zu bändigen. Freilich scheint der Bürger aber ständig vom „Verrat des Penis“ bedroht, vom Wahn der Triebe. „Seine [des Penis, Anm. d. V.] Tragödie ist seiner Vortrefflichkeit immanent“, schreiben Jean-Paul Aron und Roger Kempf. „Ist er aktiv, dreht er durch.“147 Daher musste das Umfeld, in dem der Bürger die Kontrolle verlieren konnte, überwacht und registriert, d.h. in ein rationales bzw. bürokratisches System integriert werden. Dabei legte das Gesetz zwei behördliche Kategorien von Prostitution fest: die „prostitution tolérée“ und die illegale bzw. versteckte Prostitution, die

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„prostitution clandestine“. Die „tolerierte Prostitution“ unterschied sich danach, ob sie hinter verschlossenen Türen, in den „maisons de tolérance“, oder auf der Straße ausgeübt wurde. Die in den „maisons de tolérance“, etwa im „La Fleure blanche“, im „Le Chabanais“ oder im „Aux Belles Poules“ tätigen Prostituierten erhielten die Bezeichnung „filles à numéro“, weil sie in eigenen Bordelllisten registriert und mit Nummern geführt wurden. Jene Prostituierte, die den Straßenstrich vorzogen oder keine andere Möglichkeit als diesen hatten, mussten in einer von der Polizeipräfektur erstellten Liste erfasst werden, erhielten eine Gewerbekarte und wurden daher als „filles en carte“ bezeichnet. Die behördlichen Regeln zur legalen Ausübung der Prostitution waren äußert streng: Den Prostituierten war es verboten, auf der Straße in Gruppen aufzutreten, sich auffällig und provokant zu kleiden oder Männer in Begleitung einer Frau oder eines Kindes anzusprechen. Sie durften sich in keinen öffentlichen Einrichtungen aufhalten, sich Kirchen nicht weiter als zwanzig Meter nähern und mussten freilich die Umgebung von Schulen meiden.148 Außerdem war es Prostituierten, die außerhalb der „maisons de tolérance“ arbeiteten, nur gestattet, zwischen sieben und elf Uhr abends um Freier zu werben; „sie verfügten, um sich zur Schau zu stellen, nur über kurze Intervalle, welche die Arbeits- und Schlafenszeit ihrer eventuellen Kunden berücksichtigten“, schreibt Alain Corbin.149 Jene, die diese Regeln als geschäftshemmend empfanden, sich den vielfach entwürdigenden medizinischen Untersuchungen entziehen oder sich nicht stigmatisieren lassen wollten, betrieben ihr Geschäft in der Illegalität. Die „police des mœurs“, die Sittenpolizei, überwachte die Einhaltung der Regeln und ging – nicht selten mit Willkür und Gewalt – gegen die „prostitution clandestine“ vor. Immer wieder wurden dabei Frauen fälschlicherweise der illegalen Prostitution bezichtigt und inhaftiert, ohne ein Delikt begangen zu haben.150 Die Erfüllung verbotener Triebe stand für ungezügelte Aktivität in der Nacht, die das Unbürgerliche symbolisierte,151 auch weil in der Dunkelheit die Übersicht verloren ging und sich der Blick vom Ganzen auf kleine Details richtete, die von Straßenlaternen nur spärlich beleuchtet und daher nur verschwommen wahrgenommen wurden. Dinge und Menschen waren in der Dunkelheit nur noch zu erahnen und somit dem Gefühl und der Einbildung ausgeliefert. Die nächtliche Welt entzog sich der rationalen Betrachtungsweise, entglitt dem Verstand. Deshalb gehörten den Straßendirnen – wenn auch offiziell nur zu bestimmten Zeiten – die Schatten der Nacht und die verborgenen Winkel, in denen sie sich ihren bürgerlichen Freiern feilboten, die sich ihrer überschüssigen Triebe zu entledigen trachteten. Dagegen wurden Prostituierte, die in den Bordellen

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arbeiteten, gleichsam „verbürgerlicht“. So konnten die luxuriösen „maisons de tolérance“ oder „maisons de rendez-vous“, die in eleganten Mietshäusern von Damen mit untadeligem Ruf geleitet wurden, nur während des Tages aufgesucht werden. Die dort beschäftigten noblen Prostituierten, die „grandes horizontales“, die wie wohlanständige Bürgerinnen gekleidet waren, empfingen ihre Kunden in einem bürgerlichen Salon, gaben sich nicht selten als Ehegattinnen aus, die selbst das Abenteuer suchten, und erfüllten den Liebesakt in einem Raum, der dem ehelichen Schlafzimmer nachempfunden war. Aber auch die weniger luxuriösen Bordelle boten den Freiern zunehmend eine bürgerliche Atmosphäre, damit diese den „Verrat des Penis“ leichter verdrängen konnten.152 Kontrollverlust war nur im Verborgenen gestattet, zumal er – wie bereits in den Ausführungen über die bürgerlichen Tischsitten erwähnt – unweigerlich die Gefährdung der bürgerlichen Gesellschaft bedeutete. Daher wurde er mit den beharrenden Kräften des Ancien Régime, das als Inbegriff der sexuellen Ausschweifungen und Laster galt, gleichgesetzt: „Was ist nun […] angesichts der adeligen Sittenlosigkeit erbaulicher als die Reinheit, erhebender als das Abschrecken von der Ausschweifung?“153 Insbesondere die Onanie galt in diesem Zusammenhang als widernatürlich und somit als eine der gefährlichsten Bedrohungen der bürgerlichen Gesellschaft. Das bekannte Werk „Onania“ von Samuel Auguste Tissot, eine lateinische Abhandlung über die Selbstbefriedigung, war bereits 1755 erschienen, wurde 1760 ins Französische übersetzt und bis 1905 mehrfach aufgelegt.154 Tissot übernahm darin alle Krankheiten, die bereits in der 1723 erstmals publizierten Abhandlung „Onania, or the Heinous Sin of Self-Pollution“ zu finden sind.155 Selbstbefriedigung führe, wie die Zeitgenossen glaubten, nicht nur zu Schmerz in den Geschlechtsorganen und in den Gedärmen, sondern ganz allgemein zur Auszehrung des Körpers sowie zur Arbeitsunfähigkeit in einer von Leistung und Arbeit geprägten Gesellschaft, letztlich auch zum Schwachsinn und sogar zum Tod.156 Daher befürchtete der Arzt J.-B.-D. Demeaux gar die „Degenerierung der Familien und des Menschengeschlechtes“, denn die jungen, durch die Onanie „in der Blüte ihrer Jahre erschöpften Menschen können nur schwächliche Wesen erzeugen, die zu einem vorzeitigen Tod oder einem siechen Leben verurteilt sind“.157 Die „Scientia sexualis“, meint Michel Foucault, „erklärte die heimlichen Gewohnheiten der Schüchternen und die kleinen, einsamen Manien zu Gefahren für die gesamte Gesellschaft und stellte ans Ende der ungewöhnlichen Lüste nichts geringeres als den Tod der Individuen, den der Generation, den der Spezies“.158 Mit der Durchsetzung der Eugenik als wissenschaftliche Lehre erhielt die geradezu hysterische Angst vor den Folgen der Onanie eine zusätzliche prob-

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lematische Komponente, zumal zukünftige Generationen nun auch durch das Erbgut gefährdet schienen. Vor dem Hintergrund rückläufiger Geburtenraten sowie demografischer und militärischer Unterlegenheit gegenüber dem „Erbfeind“ Deutschland musste dieser vermeintlichen Bedrohung in Frankreich besondere Bedeutung zukommen. Allerdings wurde die französische Eugenik stark von Jean-Baptiste de Monet Lamarck geprägt, vom so genannten „Lamarckismus“, der von einer allmählichen Anpassung von Lebewesen an ihre Umgebung ausging.159 Laut Lamarck würden sich wandelnde „Lebensbedingungen einen großen Einfluss auf die Handlungen der Tiere haben“ und deren „Organisation und Form“ verändern.160 Ein Hoffnungsschimmer blieb somit erhalten, zumal die Lamarck’schen Erkenntnisse auch auf die Gesellschaft übertragen wurden. Demnach schienen die Umweltbedingungen für eine gedeihliche Entwicklung des Menschen und somit der Gesellschaft gestaltbar zu sein, etwa durch die Verbesserung von Wohnverhältnissen oder – im weiteren Sinne – durch die Disziplinierung des Körpers, insbesondere durch die „gymnastique“, die angeblich die einzelnen Körperteile in ein harmonisches Verhältnis zueinander bringen konnte.161 Laut dem politisch weit rechts stehenden Journal „Le Drapeau“162 fördere die „Leibeserziehung […] nicht allein die körperlichen Kräfte, sondern auch die Prinzipien der Führung und Disziplin, ohne die kein Bürger dem Vaterland einen Dienst erweisen kann“.163 Damit schien sie geeignet, sowohl dem Zusammenhalt der französischen Nation zu dienen als auch den verheerenden Sprengstoff im Körper, die Raserei der Triebe, zu entschärfen. Bereits in den 1830er Jahren war der Turnunterricht gleichsam erfunden worden: In Paris, Montpellier, Metz, La Flèche und Saint-Cyr wurden so genannte „gymnases“ (Turnhallen) eröffnet. Als Vorbild diente der Pariser „gymnase“, der von Francisco Amorós geleitet wurde, einem spanischen Offizier, der mit der napoleonischen Armee nach Frankreich gekommen war. Der Erfolg der „gymnases“ ließ zunächst aber noch auf sich warten.164 Erst 1869, während des Zweiten Kaiserreiches, wurde der Turnunterricht per Dekret in den Schulen eingeführt und Anfang der 1880er Jahre von der Dritten Republik neuerlich bestätigt, nicht zuletzt als Folge der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg. Als Vorbild diente die militärische Ausbildung, als Ziel galt die Erziehung zum „Citoyensoldat“165 im Geiste der Französischen Revolution von 1789. Überall in Frankreich entstanden während der Dritten Republik Turnvereine, die – wie auch die Schule – Körperertüchtigung, Fortschritt und „patrie“ (Vaterland) miteinander verbanden:166 Deutlich zeigt sich dieser angebliche Zusammenhang am Beispiel eines „Championnat International de Gymnastique“, eines internationalen

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Turnwettbewerbs, der anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1900 im Vélodrome de Vincennes, einer Radrennbahn, veranstaltet wurde. Sport galt dabei als „Zeichen der Modernität“ und „Beweis für den Aufschwung“.167 Ein Plakat, das die Wettkämpfe ankündigte, zeigt die Trikolore in Verbindung mit der lorbeerumkränzten Abbreviatur für die Französische Republik, der „RF“. Stolz wird sie von einem Sportler präsentiert, während ihm eine Allegorie des Sieges mit einem Lorbeerzweig, dem Symbol für Unsterblichkeit und Triumph, einen erfolgreichen Wettkampf prophezeit. Die Anspielung auf die Größe und den Ruhm Frankreichs ist offensichtlich. Der Kontrolle der so verderblichen Triebe dienten seltsame Erfindungen: Um 1815 erfand etwa der Orthopäde Guillaume Jalade-Lafond ein spezifisches Korsett, um sowohl Burschen als auch Mädchen daran zu hindern, insbesondere während des Schlafes die Genitalien und erogenen Zonen zu berühren und somit den „pollutions nocturnes“168, den „nächtlichen Verschmutzungen“, zu verfallen. Zum selben Zweck empfahl der bereits erwähnte Arzt J.-B.-D. Demeaux169 im Jahr 1849, den unteren Teil einer Zwischenwand, die zwei Zimmer voneinander trennte, zu entfernen, ein Bett durch diese Öffnung zu schieben und auf diese Weise – mit Hilfe eines an der Öffnung befestigten Polsterstreifens – den Penis vom Oberkörper zu isolieren. Das Zimmer, in dem sich Kopf und Brust befanden, sollte ständig erleuchtet sein und eine Vertrauensperson während der Nacht auf jede Bewegung des Kindes achten.170 Vor allem die Internate galten den bürgerlichen Moralhütern als gefährliche Masturbationsherde.171 Demeaux drängte daher das Ministerium für staatliches Erziehungswesen zur Einrichtung von Schlafsälen nach seinem Modell. Neben dem Turnen und regelmäßigen Reinigungsbädern schlug er außerdem vor, die Zöglinge und Schüler im nackten Zustand mehrmals im Jahr zu untersuchen, die Hosentaschen, welche die Onanie erleichtern würden, abzuschaffen und nicht nur die Aborte zu überwachen, sondern auch deren Türen zu entfernen. Das Ministerium befürchtete aber eine körperliche Schädigung der heranwachsenden Jugendlichen und lehnte die Idee der Trennwände ab. Außerdem würde die regelmäßige Leibesvisite nackter Jugendlichen das Schamgefühl eher abstumpfen lassen als erhöhen und somit erst recht die Masturbation fördern. Die anderen Mittel, die Demeaux empfohlen hatte, wurden laut Ministerium in Internaten ohnehin angewandt.172 Nicht weniger bedrohlich als die männliche Selbstbefriedigung erschien der bürgerlichen Gesellschaft auch die weibliche, die als Voraussetzung für den Weg in die Prostitution betrachtet wurde.173 Wie das Kind galt auch die Prostituierte als Wesen, das noch nicht voll ausgereift war und der eine angemessene, eine

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

bürgerliche Erziehung fehlte.174 Vor allem Mädchen, die angeblich Gefahr liefen, sich gleichsam in Südhaftigkeit zu verlieren und daher in die Prostitution abzugleiten, wurden in spezifische Erziehungsanstalten gesteckt, die von Nonnen geführt wurden und an Klöster erinnerten. Die Mädchen, die in diesen Erziehungsanstalten zu wahren Bürgerinnen „zugerichtet“ werden sollten, waren streng von Männern isoliert. Sie mussten grobe Wollkleider tragen, wurden im Nähen unterrichtet und das lange Haar wurde ihnen abgeschnitten, um sie für ihr „Verbrechen“ an der bürgerlichen Gesellschaft, für das Ausleben ihrer Triebe und die sexuelle Verführung, zu bestrafen. Langes, ungeschnittenes Haar galt aber auch allgemein als ein Zeichen von Zivilisationsfeindlichkeit.175 Auf zeitgenössischen Bildern werden Ehefrauen, die einen Ehebruch begangen haben, häufig mit langem, herabfallendem und zerzaustem Haar dargestellt.176 Auch Gustave Courbets Gemälde „Le Sommeil“ („Die Schläferinnen“) von 1866 zeigt zwei Frauen mit langem und offenem Haar, die sich eng aneinander schmiegen. Der Betrachter mochte dahinter, auch wenn Courbet nicht explizit darauf hinwies, eine verbotene lesbische Liebe vermuten, die damals freilich als skandalös und als Bedrohung der bürgerlichen Ordnung galt.177 Zwar sollten, wie bereits erwähnt, überschüssige Triebe abgebaut werden, allerdings unter kontrollierten Rahmenbedingungen wie den „maisons de tolérance“ oder der „prostitution tolérée“. Weibliche und männliche Selbstbefriedigung sowie Ehebruch galten dagegen als unkontrollierter Ausbruch von Trieben, lesbische Liebe noch dazu als widernatürlich. Die „Zivilisation“, das klar strukturierte, nach Vernunft und Verstand ausgerichtete bürgerliche Leben, schien damit gefährdet, auch weil die Rückkehr des Ancien Régime zu befürchten war. Daher musste auf das Schärfste gegen diese Widrigkeiten vorgegangen werden.

1.5 Die Erfindung der Pädagogik

Bis in das 18. Jahrhundert hinein war das Kind als unvollständiger Erwachsener betrachtet worden, als Wesen ohne spezifische Bedürfnisse. Die Aufklärung entdeckte jedoch die Kindheit als eigene Lebensphase, die maßgeblich für die weitere Entwicklung des Menschen von Bedeutung ist. Daher wurden im 19. Jahrhundert mehrere Gesellschaften zum Schutz von Kindern gegründet, unter anderem die „Société Saint-Vincent-de-Paul“ (1833) oder die „Société protectrice de l’enfance“ (1863). Zudem sollte Kinderarbeit mit Hilfe von Gesetzen verhindert werden: 1841 wurde die Arbeit von Kindern unter acht Jahren in Fabriken unter-

1.5 Die Erfindung der Pädagogik

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sagt, 1874 das erforderliche Alter, um arbeiten zu dürfen, auf 12 Jahre erhöht und 1851 die Lehre reglementiert. Die Wirksamkeit der Gesetze blieb allerdings beschränkt, zumal die Inspektoren meist über Vergehen hinwegsahen. Kinderarbeit blieb ein allgemein akzeptiertes Phänomen, gleichsam ein „Kavaliersdelikt“.178 Dennoch bedeutete die Entdeckung der Kindheit auch die Begründung der modernen Pädagogik.179 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts boomten die pädagogischen Werke geradezu: Die erste Zeitschrift, die sich in Frankreich mit Erziehungsfragen beschäftigte, war das 1768 gegründete „Journal d’éducation“ (Zeitung für Erziehung).180 Guyton de Morveau hatte seine „Mémoire sur l’éducation publique“ (Bericht über die öffentliche Bildung) breits 1764 veröffentlicht, ein Jahr später erschien „Le Temps perdu, ou les écoles publiques“ (Die verlorene Zeit oder die öffentlichen Schulen) von Maubert de Gouvest. Aber auch andere Aufklärer, etwa Charles Marie de la Condamine, Charles Pinot Duclos oder Claude Hélvetius, beschäftigten sich mit pädagogischen Themen. Keines ihrer Werke wurde jedoch so begeistert gelesen wie der 1762 veröffentlichte Erziehungsroman „Émile ou de l’éducation“ von Jean-Jacques Rousseau. Für ihn war die bürgerliche Gesellschaft nur durch eine Erziehung zu verwirklichen, die der Natur angepasst sei und somit das Kind aus gesellschaftlichen Zwängen befreie:181 „In der natürlichen Ordnung sind die Menschen einander gleich; Mensch zu sein, ist ihre gemeinsame Bestimmung, und wer für diese gut erzogen ist, kann die Stelle, die er einnimmt, nicht schlecht verwalten.“182 Da das Kind in natürlicher Umgebung aufwachsen sollte, bevorzugte Rousseau das Land gegenüber der Stadt als idealen Erziehungsort. Er konstruierte einen Gegensatz zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, Einfachheit und Affektiertheit sowie Lebenskraft und Verweichlichung, wobei hier implizit auch eine Abgrenzung zur höfischen Gesellschaft des Ancien Régime erfolgte, die durch das Pudern der Kopfhaare und das Tragen von Perücken oder enger Kleidung mit Künstlichkeit in Verbindung gebracht wurde. Und tatsächlich begannen sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Kinder des Bürgertums in ihrem Aussehen von ihren adeligen Altergenossen zu unterscheiden.183 Zu keinem geringen Teil war Rousseau von Georges-Louis Leclerc Graf von Buffon (1707–1788) beeinflusst, einem Naturforscher, der in den ersten zwei Bänden seiner „Histoire naturelle, générale et particulièr“184 auch die „Natur des Menschen“ und die Lebensabschnitte (Kindheit, Pubertät, Erwachsensein und Alter) behandelt. Im zweiten Band widmet sich Buffon unter anderem der Anatomie, der Physis und der Psyche des Kindes, beschreibt Erziehungsmethoden und erteilt hygienische Ratschläge. Laut Buffon verlange das schwache und hilf-

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

lose Kind ständige Aufsicht, die von Natur aus nur durch die mütterliche Güte und Empfindsamkeit garantiert werden könne. Buffon lehnte daher auch die vor allem in adeligen Kreisen übliche Praxis ab, das Stillen des Kindes einer Amme zu übertragen. Weiters war er davon überzeugt, dass im Kind zunächst nur ein „materielles Prinzip“ wirke. Das „spirituelle Prinzip“, eine spezifisch menschliche Eigenart, werde erst durch die Erziehung entwickelt und perfektioniert. Ein Kind gebe sich, wenn es allein ist, völlig den Eindrücken der Umwelt hin, verhalte sich spontan und ziellos, einem Tier ähnlich, während das gleiche Kind unter der Aufsicht der Eltern zielgerichtet und sinnvoll handle. Wie sehr Buffon und Rousseau auch noch das 19. Jahrhundert beeinflussten, zeigt etwa eine Lithographie von Sulpice Guillaume Gavarni aus dem Jahr 1840, die ein ungezogenes Kind darstellt, das mit einem Topf Pomade gespielt hat. Seine langen Haare stehen ihm unfrisiert vom Kopf, gleichsam als Zeichen seiner Wildheit, die nur durch Erziehung gebändigt werden kann. Die literarische Figur des Struwwelpeter, die der Arzt Heinrich Hoffmann 1844 geschaffen hat, kann als deutsches Pendant dazu gesehen werden. Ein Ausflug ins 20. Jahrhundert zeigt die Wirksamkeit des aufgeklärten Erziehungsideals weit über das 18. Jahrhundert hinaus: François Truffaut thematisiert etwa in seinem Spielfilm „L’Enfant sauvage“ („Der Wolfsjunge“, Frankreich 1970) dieses Verständnis von Erziehung: Während einer Zeitspanne von neun Monaten, die an eine Schwangerschaft erinnert, führt ein Wissenschaftler des frühen 19. Jahrhunderts, gespielt von Truffaut selbst, einen Wolfsjungen in die Zivilisation ein. Der Spielfilm erinnert an alte Überlieferungen von „wilden Kindern“, die angeblich von Wölfen aufgezogen worden waren. Der Wolf, ein Grenzgänger zwischen Wildnis und Siedlung bzw. Zivilisation, symbolisiert das Fremde und Bedrohliche und muss daher im Kind gezähmt werden. In Frankreich erregte in den 1730er Jahren das „wilde Mädchen“ von Songy (Marne) großes Aufsehen. Im „Mercure de France“ als Sensation publik gemacht, suchte sogar der Aufklärer Charles-Marie de la Condamine dieses Mädchen auf, um es eingehend zu studieren.185 Bekannt ist auch die Geschichte des „Wilden von Aveyron“, die von Jean Itard, dem Leiter der Pariser Taubstummenanstalt, aufgezeichnet wurde186 und Truffaut als Vorlage für seinen Film diente. In einer Szene dieses Filmes trägt Victor, der Wolfsjunge, elegante Kleidung und einen Zylinder. Diese äußerlichen Attribute bürgerlicher Existenz hindern ihn aber nicht daran, seinem Erzieher bei einem Spaziergang davonzulaufen und unkontrolliert, ohne Rücksicht auf das bürgerliche Regelsystem, seine Lebenslust zu zeigen. Der Wolfsjunge muss erst verbürgerlicht bzw. „zivilisiert“ werden,

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wobei dieser Prozess – ganz so wie Rousseau es fordert – auf dem Land stattfindet, „in parkähnlicher Natur und in schön proportionierten Häusern mit großen Fenstern, die geöffnet sind und den Blick ins Weite ermöglichen“.187 Zudem muss Victor erst seiner Freiheit beraubt werden, um zu einer höheren Form von Freiheit gelangen zu können, die ihm die Bildung, insbesondere aber die Sprache garantieren. Dieser Bildungsprozeß geht notwendigerweise unter Qualen vor sich […]. Am Ende aber winkt die Aussicht auf ein befreites Menschsein.188

Individuelle Freiheit und damit auch Natürlichkeit, wie sie Rousseau und die anderen Aufklärer definierten, ist nicht gleichzusetzen mit dem spontanen, ziellosen und unkontrollierten Verhalten eines Kindes. Vielmehr glaubten die Aufklärer, in der von Gott nach den Maßstäben der Vernunft geschaffenen Natur, im „Naturzustand“, die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft finden zu können, d.h. die Regeln, die eine Gesellschaft freier Individuen ermöglichen. Und da die Natur angeblich vernünftig gestaltet war, konnte sie auch nur durch die Erziehung zur Vernunft ergründet, ganzheitlich erfasst und nutzbar gemacht werden. „[…] wer nicht vernünftig denken will“, schreibt Diderot in der „Encyclopédie“, „verzichtet darauf, Mensch zu sein, und muß deshalb als entartetes Wesen behandelt werden.“189 Die Erziehung zur Vernunft sollte den Menschen für die Aufgaben als Bürger oder Bürgerin vorbereiten. „Ein Vater, der Kinder zeugt und ernährt“, meint Rousseau, „erfüllt nur ein Drittel seiner Pflicht. Er ist seinem Geschlecht Menschen, er ist der Gesellschaft gesellschaftliche Menschen schuldig; er ist dem Staate Bürger schuldig.“190 Das Kind musste erst lernen, seine natürlich begründeten Bürgerrechte und Bürgerpflichten im System der legitimen Herrschaft auszuüben. Das bürgerliche Regelsystem war zu verinnerlichen, und durch das Abwägen von Meinungen im offenen Diskurs sollte das Kind später als Bürger – die Bürgerin war hier nicht miteingeschlossen – zur Weiterentwicklung der gesamten Gesellschaft beitragen, um eben seine weitestgehende individuelle Freiheit entfalten zu können. Tatsächlich meinten die Aufklärer meist nur die männlichen Zeitgenossen, wenn sie von Vernunft redeten. Gemäß ihrer angeblich „natürlichen“ Bestimmung (S. 39–41) war für Frauen eine spezifische Erziehung vorgesehen. So sollte laut Rousseau die „ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer“ erfolgen:

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

Ihnen [den Männern, Anm. d. V.] gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, sie umsorgen, wenn sie erwachsen sind, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muss.191

Mirabeau glaubte wiederum die Frauen für das „Leben im Inneren“ geschaffen, für den Haushalt, weshalb Mädchen allein zum rein Praktischen und Nützlichen erzogen werden sollten. Charles Maurice de Talleyrand, ein Geistlicher, der sich 1789 in der Nationalversammlung dem Dritten Stand angeschlossen hatte, gestand dagegen beiden Geschlechtern das Recht auf Bildung in staatlichen Schulen zu. Allerdings sollten Mädchen bereits mit acht Jahren die Schule verlassen und zu Hause ihre weitere Ausbildung erhalten, um das Grundsätzliche, die Haushalts- und Familienführung, zu erlernen.192 Prinzipiell war also die Öffentlichkeit für den angeblich vernunftbegabten Mann und die private Sphäre für die Frau, der die Aufklärung vor allem Sinnlichkeit zugestand, reserviert. „Die Frau, die nicht zur Arbeit gezwungen ist, um zu leben, muss im Haus bleiben, denn dort strahlt sie“, kommentierte der Journalist Pierre Quiroul im Jahr 1880 die Gründung von Gymnasien für Mädchen. Sie braucht außerhalb keinen Einfluss; bei ihr [zu Hause, Anm. d. V.] ist der ihrige groß genug. Ihr Titel ist Mutter zu sein, ihre Krone sind die Haare, die sie auf dem Kopf ihrer Tochter flicht, und ihr Ruhm ist es, aus ihrem Sohn einen Mann zu machen! […] Die Mutter ist die Güte, die Sanftmut, die Schwäche, jene, die man niemals fürchtet und die man immer liebt! […] Das höhere Studium für meine Frau ist zu wissen, was ich nicht weiß und auszuführen, was ich nicht könnte. […] Ich verlange von ihr nur die Wissenschaft des Herzens und ich zweifle daran, dass es die Gymnasien sind, die ihr diese geben. – Wir sind verheiratet, ich, um sie zu lieben, sie, um es mir zurückzugeben. Aber was das Zuhören betrifft, wenn sie mir die Ilias aus dem offenen Buch vorliest, gebe ich zu, dass ich davon nichts halte. – Ich bevorzuge ein Süßgericht.193

Dementsprechend war auch die Ausbildung von Mädchen, die ab dem Alter von fünfzehn Jahren meist in einem Pensionat erfolgte, vor allem auf die Aufgaben im Haushalt und die „Kunst zu gefallen“ ausgerichtet. Madame de Miremont hatte in ihrem zwischen 1779 und 1789 herausgegebenen siebenbändigen „Traité de l’éducation des femmes“ („Abhandlung über die Erziehung der Frauen“)

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empfohlen, die Mädchen in Religion, Tanz und Musik, aber auch in lebenden Sprachen, der Literatur, Geographie, Geschichte und in der Rechtschreibung zu unterrichten.194 Freilich ging es bei Letzterem weniger um wissenschaftliche Ausbildung als vielmehr um die Kunst des Gefallens bzw. um die Fähigkeit, im Salon eine mehr oder weniger gebildete Konversation führen zu können. So gab es auch bis 1897 keine staatlichen Einrichtungen, welche die künstlerische Ausbildung für Mädchen ermöglicht hätten. Erst in diesem Jahr erhielten sie die Zulassung zur „École des Beaux-Arts“, der für die Ausbildung von Künstlern maßgeblichen Institution. (S. 162) Bis dahin war die künstlerische Ausbildung in erster Linie in privaten Ateliers oder freien Akademien erfolgt wie jenen von Madame Thoret oder Mademoiselle Valentino, die meist mäßig begabte Töchter aus gutem Hause und keineswegs junge Frauen, die sich zu Künstlerinnen berufen fühlten, als Schülerinnen aufnahmen.195 Honoré de Balzac thematisiert diese Ausbildung für Töchter aus gutem Hause in seiner Novelle „La Vendetta“: Der Maler Servin eröffnet ein Atelier, in denen talentierte, zu Künstlerinnen berufene Frauen unerwünscht sind, zumal diese auch das Aktzeichnen erlernen müssten und damit dem Ruf des Ateliers schaden würden. Unterricht erteilt er lediglich Töchtern aus gutem Hause, die sich weniger wegen ihres Talents als vielmehr aus romantischer Schwärmerei für die Malerei interessieren. Das Atelier wird daher „für die weibliche Malerei eine Notwendigkeit, eine Autorität, eine Spezialität, eine Berühmtheit, so wie Herbault für die Hüte, Leroy für die Modewaren und Chavet für die Delikatessen“.196 Neben den bürgerlichen Erziehungsanstalten, den Schulen, Internaten und Pensionaten, diente auch Spielzeug der bürgerlichen Sozialisation. Mädchen bekamen selbstverständlich Puppen als Geschenk, unter anderem auch „heiratsfähige“ Puppen mit einer kompletten Aussteuer. Mit Puppenherden, Kochgeschirr und Service aus Porzellan, später auch mit Bügeleisen und kleinen Nähmaschinen lernten sie, ihren Platz in der patriarchalischen Gesellschaft perfekt auszufüllen. Puppenhäuser enthielten alles, was die Lebenswelt der bürgerlichen Familie prägte, etwa die naturgetreue Nachbildung eines Salons inklusive des unentbehrlichen Klaviers oder das Esszimmer mit gedecktem Tisch, der dem „Service à la russe“ (S. 34) nachempfunden war. Im Gegensatz dazu spielten Burschen mit Spielzeug, das Tapferkeit und Mut stärken sollte. Dazu gehörten die obligatorischen Zinnsoldaten, Trommeln und Pferdchen, aber auch Miniaturnachbildungen von Ritterburgen oder Festungen. Dampfmaschinen und Eisenbahnen oder auch kleine Mühlen, die von Wasser angetrieben wurden, weckten das Interesse an Technik und Fortschritt.197 Beliebt waren auch Ausschneidebögen, dessen

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

einzelne Teile zu Bauern- oder Bürgerhäusern sowie Ritterburgen, aber auch zu Inneneinrichtungen bürgerlicher Wohnungen oder Häuser zusammengeklebt werden konnten. Ein Ausschneidebogen der Firma Pellerin & Cie, der zur Serie des so genannten „Grand Théâtre nouveau“ gehörte, bildet etwa die Teile eines Speisesaales ab. Indem nun das Kind diese Teile zusammensetzte, übernahm es die „manières de table“ (Tischmanieren) bzw. die „règles de mangerie“ (Speiseregeln): Die Dekoration des Tisches teilt die Gäste weder in zwei Teile noch verdeckt sie die Sicht, und die Ausstattung des Speisesaales ist im eher bescheidenen Stil der Neorenaissance gehalten, um die Gäste beim Mahl, das symbolisch für die bürgerliche Gesellschaft stand, nicht durch zu viel Prunk zu stören.198 Nachdem sich die Kindheit als eigene Lebensphase durchgesetzt hatte, vervielfachte sich nicht nur das Angebot an Spielzeug. Zunehmend entdeckte auch die Literatur das Kind und den Jugendlichen als Leser und begründete mit der Kinder- und Jugendliteratur ein völlig neues Genre, das wie das Spielzeug das bürgerliche Regel- und Wertesystem transportierte. Émile de Girardin gab bereits 1832 sein „Journal des jeunes personnes“ (Zeitung für junge Leute) heraus; 1843 folgte das „Nouveau Magasin des enfants“ (Neues Kindermagazin) von Pierre Jules Hetzel.199 Das „Magasin pittoresque“ von Edouard Thomas Charton wandte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an die ganze Familie. Dagegen passte sich das „Magasin d’éducation et de récréation“ (Magazin für Bildung und Erholung), das Hetzel 1864 gründete, an ein rein kindliches Publikum an. Dazu hatte Hetzel mehrere Mitarbeiter mit Prestige um sich vereint: Jules Verne, Jean Macé200, Hector Malot und den Architekten und Kunsthistoriker Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc (S. 112). Jede Nummer der Zeitschrift enthielt ein Kapitel eines Fortsetzungsromanes von Jules Verne, ein Gedicht, eine Erzählung über ein Kindererlebnis, humoristische Geschichten und einen allgemein verständlichen Artikel über ein wissenschaftliches Thema. Einige Jahre später gab der Verlag Hachette, benannt nach seinem Begründer Louis Hachette, die Zeitung „La poupée modèle“ (Die Modellpuppe) für Mädchen und das „Journal de la jeunesse“ (Jugendzeitung) für Jugendliche heraus.201 Neben diesen Zeitschriften kamen schließlich die ersten Kinder- und Jungendbücher auf den Markt, die in kürzester Zeit einen enormen Aufschwung erleben sollten. Bestimmte Buchreihen, etwa die „Bibliothèque rose“ von Hachette, waren eigens für Kinder und Jugendliche bestimmt und boten Literatur zu erschwinglichen Preisen an. Die ersten Kinderbücher, von denen wohl die Werke der Comtesse de Ségur die bekanntesten sind, datieren aus dem Zweiten Kaiserreich. In den Büchern der Comtesse siegt immer das Gute über das Böse,

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begangene Fehler können letztlich durch Reue und richtiges Verhalten korrigiert werden. Zwei ihrer berühmtesten Bücher thematisieren auch die körperliche Züchtigung: „Un bon petit diable“ (Ein armer kleiner Kerl, 1865) erzählt die Geschichte des schottischen Jungen Charles Mac’Lance, eines „kleinen Teufels“, dessen Kilt sich nur zu gut eignet, um ihn einfach mit der Peitsche hochzuziehen. Und im Buch „Les petites filles modèles“ (Vorbildhafte kleine Mädchen, 1858), das im Übrigen in der „Bibliothèque rose“ veröffentlicht wurde, wird der sechsjährigen Sophie von ihrer Stiefmutter, Madame Fichini, der Hintern versohlt, weil sie deren Kleid zerstört hat. Camille und Madeleine, die Spielgefährtinnen des Opfers, beobachten mit Schrecken die brutale Szene, während deren Mutter gegen die harte Bestrafung protestiert. Tatsächlich wandte sich die moderne Pädagogik zunehmend gegen die körperliche Züchtigung und ersetzte diese durch Beten und soziale Isolierung, in der über die begangenen Fehler nachgedacht werden sollte.202 Seit den 1830er Jahren empfahlen amtliche Rundschreiben, von der körperlichen Züchtigung von Kindern bzw. Schülern und Schülerinnen abzusehen. Schließlich wurde sie 1881, unter der ersten Regierung von Ministerpräsident Jules Ferry, in öffentlichen Schulen verboten, womit sich im Übrigen die Kluft zu den katholischen Privatschulen, in denen der Rohrstock auch weiterhin in Gebrauch war, noch vergrößerte.203 Wie das Schul- und Bildungswesen differenziert auch die Literatur nach dem Geschlecht. In den Romanen für Mädchen wurde eine stark hierarchisierte und nach den Geschlechtern gegliederte Gesellschaft dargestellt, in der soziale Mobilität kaum möglich war. Jeder hatte seinen Platz in der Gesellschaft und seine damit verbundene Rolle auszufüllen, womit nicht zuletzt mögliches Aufbegehren von Frauen verhindert werden sollte. Das einfache und natürliche Leben auf dem Land und in beschaulichen Kleinstädten sowie die Unabhängigkeit von der modernen Ökonomie wurden glorifiziert, während Großstädte und Fortschritt meist die Assoziation mit verdorbenen und unehrlichen Menschen weckten. Im Gegensatz dazu waren Werke wie jene von Jules Verne, welche die Technik, die Wissenschaft und den Fortschritt verherrlichten, für die Burschen bestimmt. Eines der populärsten Sujets dieser Literatur bildete der auf einer einsamen Insel gestrandete Schiffbrüchige, wie ihn bereits der englische Schriftsteller Daniel Defoe in seinem „Robinson Crusoe“ (1719) beschrieben hatte. Zwischen 1840 und 1875 erschienen rund 40 französische Variationen dieses Themas auf dem Büchermarkt.204 Mit diesen „Robinsonaden“ konnten einerseits Anliegen der Aufklärung wie Rationalismus, Toleranz gegenüber anderen und Gleichheit zwischen den Menschen vermittelt werden, andererseits wurden die Leser aber auch

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den männlichen Rollenbildern entsprechend sozialisiert: Selbstverständlich keine Frau, sondern ein Mann durchlebt und gestaltet einen modellhaften Zivilisierungsprozess, meistert dabei eine zunächst aussichtslos erscheinende Situation und nimmt das Schicksal in seine eigene Hand. Die geschlechterspezifischen Rollen waren nur ein Teil des kulturellen Kosmos der bürgerlichen Gesellschaft bzw. der „Zivilisation“, die den Kindern und in der Folge der gesamten Bevölkerung unter anderem mit Hilfe der Literatur in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben werden sollte. Die „Zivilisation“ wurde den Kindern und Jugendlichen, den zukünftigen Bürgern und Bürgerinnen, auch als Ergebnis eines historischen Prozesses dargestellt, der gleichsam in den „Nebeln“ der Vergangenheit seinen Ursprung hatte. Der Historiker Ernest Lavisse verfolgte mit seinem 1876 erstmals veröffentlichten Schulgeschichtsbuch „Histoire de France“ genau dieses Ziel: „Die große Pflicht der Geschichte ist es, dem menschlichen Weg zu folgen“.205 Damit meinte der „Instituteur national“, der „nationale Grundschullehrer“, wie Pierre Nora den Autor bezeichnet, 206 nichts anderes, als dass sich die Geschichte in Richtung bürgerlich-aufgeklärter Gesellschaft bewegen müsse. Das Schulbuch erschien im Verlag Armand Colin bis 1960 in mehreren Auflagen und wurde sogar noch einmal im Jahr 2014, ergänzt durch neue, im Stil von Lavisse verfasste Kapitel, aufgelegt207. Allerdings hatten sich die ersten Ausgaben, die sowohl für die „écoles primaires“ (Grundschulen) als auch für höhere Schulstufen vorgesehen waren, als inhaltlich und sprachlich zum Teil zu anspruchsvoll erwiesen.208 Daher wurde erstmals 1912 eine eigene Ausgabe mit dem Untertitel „Cours Élémentaire“ herausgegeben.209 In Anspielung auf die von Lavisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgegebene 27-bändige „Histoire de France“, welche die gesamte Geschichte Frankreichs in den Dienst der Republik stellte, wurde das Schulbuch auch als „Petit Lavisse“ bezeichnet.210 „Zweifelsohne hat keine andere Geschichte eine ähnliche Anstrengung unternommen“, schreibt Pierre Nora, „die monarchische Vergangenheit in die republikanische Gegenwart einzubinden; um der historischen Irrfahrt der Nation ihre Kohärenz und exemplarische Tragweite zu geben. Um sie in ihren Tiefen der Vergangenheit zu dynamisieren und in der Aktualität der Gegenwart festzunageln.“211 Den unterschiedlichen Ausgaben wurden verschiedene Sinnsprüche für die Schüler und Schülerinnen vorangestellt, etwa dass sich die „Geschichte […] nicht auswendig, sondern nur durch das Herz lernen“ lässt.212 Und ein anderer, in der Zwischenkriegszeit auf dem Buchrücken aufgedruckter Sinnspruch forderte die Schüler und Schülerinnen dazu auf, Frankreich bzw. die französische Nation zu lieben: „In diesem Buch lernst du die Geschichte Frank-

1.5 Die Erfindung der Pädagogik

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reichs kennen. Du musst Frankreich lieben, weil die Natur es schön und seine Geschichte es groß gemacht hat.“213 Das Layout des „Petit Lavisse“ ist nach den damals modernsten pädagogischen Erkenntnissen gestaltet:214 Einfach verständliche Erzählungen, die in „livres“, „Bücher“, gegliedert sind, werden jeweils am Beginn durch in Klammern gesetzte kursive Texte miteinander verbunden. Am Ende jedes „Buches“ findet sich ein „Questionnaire“, ein in kursiver Schrift gesetzter Fragenkatalog, mit denen Text- und Bildinhalte abgefragt werden. Wichtige Begriffe und Passagen, die laut Lavisse besonderer Aufmerksamkeit der Lernenden bedürften, sind ebenfalls kursiv gesetzt. Innerhalb der „Bücher“ finden sich durchnummerierte Kapitel. Zudem wird mit Abbildungen gearbeitet, die zum einen die Inhalte illustrieren und zum anderen Lebensweltnähe garantieren sollen. So wird am Beginn eines „Buches“ immer eine Abbildung präsentiert, die eine (angeblich) zeitgenössische Szene mit Bezug zur Lebenswelt der Kinder darstellt. Am Ende der „Bücher“ thematisieren Abbildungen bestimmte Bräuche oder Gegenstände aus der jeweiligen Epoche. Der „Petit Lavisse“ entspricht dem Trend der Zeit und ähnelt dem 1877 erschienenen Jugendbuch „Le Tour de la France par deux enfants“ (Die Frankreichreise von zwei Kindern) von G. Bruno, einem Pseudonym von Augustine Fouillée. In den folgenden Jahren sollte dieses Buch, das zahlreiche Abbildungen von französischen Regionen, Städten sowie Bauwerken, Denkmälern und berühmten Persönlichkeiten enthielt, ein wahrer Beststeller werden: Zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen erfolgte eine Neuauflage von drei Millionen, 1901 von sechs Millionen Exemplaren. Noch in den 1970er Jahren fand das Buch, das 1976 in einer Auflage von über acht Millionen Exemplaren gedruckt wurde, reißenden Absatz unter den Jugendlichen. „Le Tour de la France par deux enfants“ beschreibt die Abenteuer von André und Julien, zwei Waisenkindern, die ihre Geburtsstadt Pfalzburg (Phalsbourg), die infolge des Deutsch-Französischen Krieges zum Deutschen Reich gekommen war, verlassen und ganz Frankreich auf der Suche nach ihrem Onkel durchqueren. Dabei lernen die Kinder die bürgerlichen Kardinaltugenden – Arbeit, Ehre, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit – kennen und erfahren, wie Jacques und Mona Ozouf schreiben, „dass die Größe eines Landes nicht von der Ausdehnung seines Territoriums, sondern von der Stärke der Seele der Franzosen, […] von der Gesamtheit seiner Geschichte“ abhängig sei.215 Das Ziel des Buches war es vor allem, den Lesern und Leserinnen „das Wissen um das Vaterland“ zu vermitteln, damit sie dieses „noch mehr lieben […] und ihm noch besser dienen“ konnten.216 André und Julien verinnerlichen

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1. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell

die bürgerliche Gesellschaft, indem sie nicht nur die Idee davon gelehrt bekommen, sondern auch ihre Realisierung im alltäglichen Leben beobachten und erleben können. Durch diese Verbindung von praktischem mit theoretischem Lernen gelingt es beiden, das Wissen, das sie sich im Laufe ihrer Reise aneignen, nachhaltig zu bewahren. Schritt für Schritt, unter enormen Mühen, schreiten André und Julien auf ihr Glück zu, so wie die Republik den Bürgern und Bürgerinnen nicht einfach in den Schoß gelegt wird, sondern von ihnen geradezu erobert werden muss.217 Die Mühen, die André und Julien auf sich nehmen, erinnern an Daumiers Gemälde „La République“ (1848): Die von Daumier dargestellte Marianne verschenkt die „Milch der Freiheit“ nicht, sondern verlangt von ihren „Kindern“, den französischen Bürgern und Bürgerinnen, sich um diese zu bemühen. Symbolisch dargestellt wird dies durch Kinder, die angestrengt an Mariannes Brüsten saugen (Tafel 6, S. 70). Bücher wie „Le Tour de la France par deux enfants“ oder der „Petit Lavisse“ bereiteten die französische Bevölkerung auf die „Eroberung des Glücks“ vor und trugen somit zur bürgerliche Vergesellschaftung bei. Als solche offenbaren sie den unaufhörlichen Widerspruch zwischen individueller Freiheit und Fremdbestimmung, zumal die Erziehung zur „Mündigkeit“218 immer zugleich ihre eigene Aufhebung anstrebt bzw. die Fremddisziplinierung letztlich die Selbstdisziplinierung beabsichtigt. Dieser Widerspruch spiegelt sich etwa in der Bedeutung des Internats als moralische Erziehungsanstalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,219 zumal die strengen Regeln, die dem Prinzip der sozialen Abkapselung Rousseaus entsprachen, einer individuellen Entfaltung im Wege standen. Zwar verlor das Internat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung, der Widerspruch zwischen individueller Freiheit und Fremdbestimmung blieb aber dennoch bestehen. Die „instruction morale et civique“, die „Moral- und Staatsbürgerkunde“, die 1882 als eigenes Schulfach eingeführt wurde, entsprach daher weniger dem aufklärerischen Ideal der Selbstbestimmung, sondern erschien vielmehr wie „eine Art Gruppentherapie“ mit dem Ziel, brave „citoyens“ und „citoyennes“, brave Bürger und Bürgerinnen, zu erziehen sowie die Bevölkerung auf die französische Nation einzuschwören.220

2. Bürgerliche Vergesellschaftung Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir es übernommen haben, die Sache der Humanität zu vertreten. (Ernest Lavisse, Essais sur l’Allemagne impériale)1

Das Modell der bürgerlichen Gesellschaft war keineswegs restriktiv, sondern durchaus offen, allerdings nur für jene Teile der Bevölkerung, die als „mündig“ galten. Bereits Montesquieu hatte Gleichheit nicht als Gleichstellung aller Bevölkerungsschichten definiert, sondern als eine Gemeinschaft der gebildeten Männer.2 Und Voltaire hielt die unteren Bevölkerungsschichten sogar für „dumm und barbarisch“.3 Durch die Übernahme der bürgerlichen Wertvorstellungen sowie Verhaltens- und Handlungsmuster sollte aber theoretisch jeder die Möglichkeit haben, sich in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren und Gleichheit im bürgerlichen Sinn zu erlangen – selbstverständlich die „grande bourgeoisie“ (Großbürgertum) und die „bonne bourgeoisie“ oder „classe moyenne“ (Mittelklasse), aber auch die „petite bourgeoisie“ (Kleinbürgertum), das Proletariat und selbst die Aristokratie.4 Die Wurzeln dieser „sozialen Idee“ seien, wie die Zeitung „Le Petit Parisien“ im Jahr 1880 schrieb, in der Revolution und in der Republik zu suchen, „in der Nacht des 4. August“, als die Privilegien des Klerus und des Adels abgeschafft wurden, im Fest der Föderation; in den vierzehn Bürgerarmeen an den Grenzen; in der Einheit der Gesetzgebung, der Maße und Gewichte,5 der ausgegebenen und verwendeten Zahlungsmittel; in der Aufteilung der nationalen Güter; im gesamten Werk der Männer der ersten Revolution schließlich, deren unbeugsame Logik geradewegs, über die Leichen ihrer Opfer, zur vollständigen und entgültigen Emanzipation des Menschen durch die völlige und wahrhafte Gleichheit schritt.6

Diese Gleichheit hatte sich im erwähnten revolutionären Föderationsfest am 14. Juli 1790 auf geradezu exemplarische Weise manifestiert. Grenzenlose Brüderlichkeit wurde propagiert und in zahlreichen Revolutionsliedern mit Versen wie „Frères courons aux armes“ („Brüder zu den Waffen“) oder „Il n’est plus de

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

Bastille / Il n’est qu’une famille“ („Es gibt keine Bastille mehr / Es gibt nur noch eine Familie“) ausgedrückt.7 Das gesamte französische Volk sollte in den bürgerlichen kulturellen Kosmos und somit in die französische Nation einbezogen werden. Nicht von ungefähr bezeichnet Émile Zola die Bourgeoisie als „eine riesige Klasse, die vom gemeinen Volk bis zur Aristokratie reicht“.8 Und Gustave Flaubert, gleichsam ein „bürgerlicher Bürgerfeind“ par excellence, hoffte, sein 1862 veröffentlichter Roman „Sâlammbo“ möge „dem Bürger, d.h. jedermann, verdrießlich sein“.9 Als ein solcher „Jedermann“ galt freilich nur jener, der die bürgerlichen Werte und Normen verinnerlicht hatte und nicht durch sein Verhalten, etwa in Gesellschaft bei Tisch (S. 34–36), als unzivilisierter Außenstehender entlarvt werden konnte. Der Prozess der bürgerlichen Vergesellschaftung verlief aber nicht reibungslos, sondern stieß zum Teil auf heftigen Widerstand. Zum einen wähnten sich die bürgerlichen Eliten durch die Verbürgerlichung breiter Bevölkerungsschichten in ihren Machtpositionen zunehmend gefährdet, zum anderen waren traditionelle Lebenswelten bedroht. Mit der bürgerlichen Vergesellschaftung gingen daher zwei Entwicklungen einher: Erstens erfolgte eine soziale Binnendifferenzierung, welche die Realisierung bürgerlicher Kulturansprüche variierte, d.h. an die finanziellen Mittel und die Möglichkeiten der Praxis, des Einübens eines bürgerlichen Habitus, anpasste. Zweitens war es notwendig, die jeweiligen lokalen und regionalen Traditionen mit der neuen Gesellschaft zu versöhnen. Dazu musste ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt werden, das spezifische traditionelle Bindungen zwar berücksichtigte, allerdings auch darüber hinausging und die Identifikation mit einem neuen Ganzen ermöglichte, d.h. mit der bürgerlichen Gesellschaft. Die Nation erwies sich dabei als ein geeignetes Inklusionskonzept, weil der Begriff sowohl einen Aufforderungs- als auch einen Verpflichtungscharakter besitzt. Folglich ist die individuelle Entscheidung, einer Nation anzugehören, nicht nur als Option zu betrachten. Sie enthält zugleich eine Teilnahmeverpflichtung und somit eine aktive Komponente.10 Mit der Herausbildung der „Nation“ ist also gleichzeitig die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. „Wird sich Frankreich also verbürgerlichen?“, fragte Ernest Lavisse, der Herausgeber der mehrbändigen „Histoire de France“, kurz vor seinem Tod im Jahr 1922. „Wenn dem so wäre, gäbe es keine Bourgoisie im eigentlichen Sinn mehr: es gäbe die Nation, endlich vollkommen.“11 Diese vollkommene, weil bürgerliche Nation sollte nicht zuletzt durch die Konstruktion eines Geschichtsbildes ermöglicht werden, das die französische Nation als einen gleichsam geschlossenen, in sich konsistenten und historisch gewachsenen Raum darstellte. Dieser sollte

2.1 Die „zivilisierte“ Nation

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sowohl Vielfalt als auch Homogenität unter dem Überbegriff der „Humanität“ bzw. „Zivilisation“ vereinen.

2.1 Die „zivilisierte“ Nation

Vor der Aufklärung beschäftigte sich die Geschichtschreibung nicht mit Strukturen und Wirkungszusammmenhängen. Geschichte wurde als Plural gedacht, als Geschichten, und war letztlich ein Konglomerat einzelner Begebenheiten und Schicksale, die als seltsam, denkwürdig, vorbildhaft oder abschreckend galten.12 Seit dem 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, setzte sich aber die Auffassung durch, dass historische Darstellungen einen „Zusammenhang“ bilden müssten. Somit wurde die Beschreibung von der historischen Erzählung abgelöst, die zunehmend Prozesse hervorhob und ein lineares Zeitverständnis entwickelte. „Keine Reihe von Königen, Schlachten, Kriegen, Gesetzen oder elenden Charakteren“ habe die Geschichtsschreibung laut Johann Gottfried Herder aufzuzählen. Vielmehr sei „alles nur aufs Ganze der Menschheit, [sic!] und ihrer Zustände“ auszurichten, „nur die Hauptveränderungen und Revolutionen jedes Volkes“ zu erzählen, „um seinen jetzigen Zustand zu erklären“.13 Auf diese Weise wurden die Gegenwart und die Zukunft in der Vergangenheit verankert bzw. eine Kontinuitätslinie von den vermeintlichen Anfängen in der Vergangenheit bis in die Gegenwart gezogen.14 In Frankreich schien demnach eine Art „Zivilisationsgesetz“ den Zeitenlauf zu lenken. Ein historischer Prozess wurde unterstellt, der zunächst von der antiken, später auch von der keltisch-gallischen Vergangenheit über das Ancien Régime unweigerlich in die Gegenwart führte und eine glorreiche Zukunft, die in der Nation vollendete bürgerliche Gesellschaft, voraussehbar machte. Dieses „Zivilisationsgesetz“ musste freilich als Teil eines „kollektiven Gedächtnisses“15 in den Köpfen zukünftiger Generationen verankert werden. Beim kollektiven Gedächtnis lassen sich laut Jan und Aleida Assmann ein „kommunikatives“ und ein „kulturelles Gedächtnis“ unterscheiden. Das kommunikative Gedächtnis ist Ergebnis der Alltagskommunikation, d.h. der Kommunikation mit anderen in spezifischen sozialen Räumen, innerhalb sozialer Gruppen oder Milieus und im weiteren Sinn auch innerhalb einer Nation.16 „Diese anderen sind […] keine beliebige Menge“, schreibt Jan Assmann, „sondern Gruppen, die ein Bild oder einen Begriff von sich selbst, d.h. ihrer Einheit und Eigenheit haben und dies auf ein Bewusstsein gemeinsamer Vergangenheit

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

stützen“.17 Im Gegensatz dazu ist laut Assmann das kulturelle Gedächtnis, das im Folgenden im Zentrum der Betrachtung steht, durch seine Alltagsferne gekennzeichnet und beinhaltet vermeintliche „schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit“, die sich in Form von „Erinnerungsfiguren“ kulturell manifestieren. Solche Erinnerungsfiguren sind etwa Denkmale oder Texte, die sich mit spezifischen – meist mythisierten – historischen Ereignissen und Personen auseinandersetzen. Beide Formen des kollektiven Gedächtnisses existieren allerdings nicht unabhängig voneinander, sondern können sich gegenseitig beeinflussen.18 Bereits während der Französischen Revolution wurde die „zivilisierte Nation“ im kollektiven Gedächtnis verankert, etwa durch die Erfindung des „patrimoine national“, des „nationalen Kulturerbes“ (S. 112). Zwar war den Revolutionären eigentlich daran gelegen, die Symbole des Ancien Régime zu beseitigen. Letztlich stellte sie die Vergangenheit aber in den Dienst der neuen Gesellschaft, weil sie Kontinuität vermitteln und somit die nationale Identifikation erleichtern konnte. Die „Dialektik zwischen Protektion und ‚Vandalismus‘“, wie Philippe Poirrier dieses revolutionäre Paradoxon bezeichnet, führte zur Errichtung der nationalen Archive, der Nationalbibliothek und des „Muséum central des Arts“, dem späteren „Musée du Louvre“.19 Erst im 19. Jahrhundert wurde aber dem „patrimoine national“ schließlich jene Bedeutung beigemessen, die es bis heute für die französische Nation besitzt. Dabei kam der Geschichtswissenschaft die bedeutende Aufgabe zu, eine Geschichte zu schreiben bzw. zu konstruieren, die ein nationales Bewusstsein begründen konnte. Beim Aufbau des französischen Hochschulwesens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sicherte sie sich daher eine herausragende Stellung. Unterstützt wurde die Geschichtswissenschaft durch zahlreiche historische Gesellschaften, etwa durch die „Société de l’histoire de la Révolution française“ (1888) oder die „Société d’Histoire moderne“ (1901).20 Die Interpretation der Vergangenheit als ein umfassender Prozess, der letztlich in der französischen Nation und somit in der „Zivilisation“ gemündet war, hatte bereits mit Augustin Thierrys „Lettres sur l’histoire de France“ begonnen, die erstmals 1820 im „Courrier français“ erschienen waren.21 Beeinflusst von Thierry, war wiederum für Jules Michelet die Geschichtswissenschaft eine Möglichkeit, um gleichsam die „Seele“ der Gemeinschaft zu erforschen. Er betrachtete den Menschen als soziales Wesen, das – wie bereits Rousseau betont hatte – der „volonté générale“, dem „allgemeinen Willen“, unterworfen sei. „Der Mensch ist nicht mehr ein isoliertes Ganzes“, schreibt Michelet 1825,

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sondern ein Teil von diesem kollektiven Sein, das man Humanität nennt. […]. Daher […] können die Generationen verschwinden, die Rassen aussterben, der gemeinsame Geist hat Bestand; […] er macht die Identität des Menschengeschlechts aus, wie es das Gedächtnis und das Bewusstsein für das Individuum ausmachen.22

Ernest Lavisse schuf schließlich mit der Herausgabe der „Histoire de France“ (1901–1911) die Geschichte der „nation ‚accomplie‘“, der „vollendeten“ Nation, wie er das 27-bändige Monumentalwerk bezeichnete, das selbst die monarchistische Vergangenheit in die republikanische Gegenwart einband.23 Den Revolutionären von 1789 hatten allerdings zunächst die Antike, die Wurzeln der Demokratie, und die – darauf Bezug nehmende – Renaissance als nationales Erbe und als Ursprung der neu zu errichtenden Gesellschaft gedient, die sich vom Ancien régime grundlegend unterscheiden sollte. Die „référence latine“, wie Anne-Marie Thiesse die Verherrlichung der griechischen und römischen Antike durch die Revolutionäre bezeichnet,24 kam in der gesamten nationalen Kultur zum Ausdruck. So erhielt Jacques-Louis David 1794 vom Sicherheitsausschuss den Auftrag, eine Art nationale bzw. bürgerliche „Uniform“ zu schaffen, die den Bürgertugenden entsprechen sollte. Kleidung übernahm eine erzieherische und didaktische Funktion, weil sie die Bürger und Bürgerinnen angeblich nationaler und republikanischer werden ließ. Für seine Entwürfe plünderte David den ganzen „Ramschladen“ der Geschichte; er betrieb gewissermaßen einen „Kleidungs-Eklektizismus“ und verwendete für seine bürgerlichen „Uniformen“ kurze Tuniken und Umhänge, wie sie in der Antike üblich waren, sowie eng anliegende Hosen, die an die Renaissance erinnerten. Die Kleidung der Sansculotten – eine kurze Jacke, die so genannte Carmagnole, und die langen Wollhosen sowie der breite Hut mit der Kokarde oder die phrygische Mütze – lehnte David ab. „Wenn alle Menschen gleich aussehen sollten“, schreibt Lynn Hunt, „dann auf einem angemessenen hohen Niveau. Die Angleichung […] sollte nach oben erfolgen und nicht nach unten.“25 Die antike Referenz sowie die Bezugnahme auf die Renaissance finden sich auch in der Architektur, d.h. im klassizistischen Stil. Dieser sollte einerseits die Gleichheit der neuen Gesellschaft ausdrücken, andererseits – aufgrund der bautechnischen Fortschritte – die Ratio als eine wichtige Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft betonen. Die architektonischen Leistungen blieben zwar während der Revolution, vor allem wegen der finanziellen Belastung durch den Krieg, weitgehend beschränkt, allerdings wurden die Grundlagen für spätere klassizis-

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tische Bauten geschaffen. Als herausragendes Beispiel dafür kann die von Félix Duban gestaltete „École des Beaux-Arts“ (Schule der Schönen Künste, 1830) in Paris dienen, in deren Fassade das Kolosseum, die Cancelleria und der Triumphbogen in Rom angedeutet sind.26 Der Klassizismus dominierte die Architektur in Frankreich nicht nur das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, sondern übte noch bis in die Zwischenkriegszeit starken Einfluss aus. So erscheint das 1936 errichtete „Museum der Modernen Kunst“ (Musée de l’Art Moderne) in Paris mit seinen klassizistischen Säulenreihen geradezu als ein Gegenprojekt zur avantgardistischen Architektur, die Materialien wie Glas und Metall hervorhob. Tatsächlich verharrten die fortschrittlichen Debatten in der Architektur meist auf der theoretischen Ebene, während in der Praxis an den klassizistischen Traditionen festgehalten wurde.27 Dafür zeichnete nicht zuletzt der Zusammenhang der klassizistischen Architektur mit der bürgerlich-revolutionären Vergangenheit verantwortlich. Damit lassen sich auch die Überlegungen des Architekten Jean Nicolas Louis Durand gesellschaftlich besser einordnen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte er in seinen Vorlesungen an der École politechnique28 betont, dass die Mittel der Architektur vor allem in der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu suchen seien. Er entwarf unterschiedliche klassizistische Gebäudeteile für x-beliebige Bauwerke, die nach bestimmten Entwurfsmethoden zu einem Ganzen zusammengefügt werden konnten.29 Zum einen entsprach er damit dem Rationalitätsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, zum anderen aber auch der eingezäunten Freiheit, die im vorigen Kapitel besprochen wurde. Denn innerhalb eines vorgegebenen Rahmens war individuelle Freiheit im Sinne der Variation unterschiedlicher Gebäudeteile nicht ausgeschlossen. Trotz der vorgeschriebenen Regeln war es demnach möglich, die traditionelle Formensprache letztlich auch zu erweitern. Nicht zufällig scheint diese „architektonische Verfassung“ an die politische Verfassung zu erinnern. Die Bedeutung der „référence latin“ zeigt sich schließlich auch in der „enseignement secondaire“, dem Sekundärunterricht, in dem der klassischen Ausbildung bis in die Zwischenkriegszeit und noch darüber hinaus besondere Bedeutung beigemessen wurde. Seit 1902 konnten die Schüler beim Eintritt in den Sekundärunterricht bzw. in die sechste Schulstufe30 zwischen einer „section A“ und einer „section B“ wählen. In der „section A“, die auch „classique“ genannt wurde, war Latein vorgeschrieben und Griechisch als unverbindliches Fach vorgesehen. Die „section B“ ermöglichte dagegen eine Ausbildung ohne Latein. Beim Eintritt in die dritte Schulstufe hatten schließlich die Schüler, die aus der

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„section A“ kamen, die Wahl zwischen einer „section A“ (Lateinisch-Griechisch), einer „section B“ (Lateinisch-Sprachen) und einer „section C (Lateinisch-Wissenschaften). Schließlich stand auch noch eine „section D“ (Sprachen-Wissenschaften) zur Auswahl, die als „modern“ bezeichnet wurde und auch von den Schülern gewählt werden konnten, die sich in der sechsten Schulstufe für die „section B“ entschieden hatten. In der Realität wurde diese „section D“ gesellschaftlich aber als gering geachtet. „Faire ses humanités“, die Absolvierung der klassischen Fächer, blieb die Voraussetzung, um zur Elite zu gehören.31 Der demokratischen Idee, die seit der Aufklärung mit der klassischen Ausbildung verbunden war, wurde damit freilich kaum entsprochen. Der Soziologe Edmont Goblot brachte diesen Widerspruch in einer 1925 publizierten Studie über das französische Bürgertum auf den Punkt: Der Bourgeois braucht eine Ausbildung, die für das Volk unzugänglich bleibt […]. Und es reicht nicht, dass er diese Ausbildung erhalten hat; denn man könnte davon nichts bemerken. Es ist auch noch notwendig, dass ein Staats­ diplom, ein vom Minister signiertes Pergament, offiziell bestätigend, dass er Latein gelernt hat, ihm das Recht verleiht, es nicht zu beherrschen.32

Auch wenn man seinen Lateinunterricht erfolgreich absolviert hatte, war es laut Goblot möglich, Latein „nicht zu beherrschen“, zumal der Sinn dahinter, die humanistische Bildung, verloren gegangen sei und es nur noch dazu diene, Prestige zu erlangen und die soziale Stellung zu festigen. Die „référence latine“ ergab sich nicht nur aus der Interpretation der Antike als Geburtsort der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, sondern auch aus der Frage, in welcher historischen Epoche der Ursprung der nationalen Einheit zu verorten sei. Hier wurde insbesondere die römische Herrschaft bemüht, die erstmals einen geschlossenen politisch-kulturellen Raum mit dem Namen „Gallia“ geschaffen hatte. „Spätere Generationen konnten nicht auf eine genuin keltische Bewusstseinsgeschichte zurückgreifen“, schreibt Wolfgang Schmale, „sondern nur auf eine überwiegend römische, die im Zuge der nach der Eroberung ‚Galliens‘ einsetzenden Akkulturations- und Kulturtransferprozesse wirksam wurde.“33 Tatsächlich meinte etwa Ernest Lavisse, dass Frankreich im Gegensatz zu Deutschland keine „unité naturelle“, keine „natürliche Einheit“ sei, sondern seine Wurzeln im römischen Gallien habe, d.h. in einer durch die römische Herrschaft konstruierten Einheit.34 „Die ‚Nation‘ in Deutschland“, schreibt er 1888,

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ist ein Stamm […]. Ist Frankreich ein Stamm? Eine gewisse Anzahl von beherzten Leuten sind heute damit beschäftigt, eine Vercingétorix-Statue zu errichten, aber es gibt wohl weniger Beziehungen zwischen dem Gallier Vercingétorix und uns als zwischen dem Germanen Ariovist35 und den Deutschen. […] In Wahrheit sind wir weit weg von Vercingétorix.36

Dieser avergnatische Fürst, der 52 v. Chr. einen Großteil der gallischen Stämme zum Kampf gegen das Römische Reich vereint hatte, war nach anfänglichen Erfolgen in der Schlacht um Alesia vernichtend geschlagen und sechs Jahre lang gefangen gehalten worden. Schließlich ließ ihn Cäsar in einem Triumphzug in Rom vorführen und dort erdrosseln. Selbst Napoleon III., der in den 1860er Jahren in Alise-Sainte-Reine eine bronzene Vercingétorix-Statue errichten ließ, betrachtete ihn lediglich als ein Produkt der römischen Geschichte in Frankreich. Er interessierte sich vielmehr für die Person Cäsars, der den Weg zum römischen Kaiserreich vorbereitet hatte.37 In gelehrten Kreisen war allerdings bereits Ende des 18. Jahrhunderts – zum Beispiel 1795 von Constantin François de Chasse-Bœuf, dem Grafen von Volnay – darauf hingewiesen worden, dass sich die französische Nation nicht nur auf die Griechen und Römer begründe, sondern auch ein keltisch-gallisches Erbe besitze. In ganz Europa befand sich eine keltische Bewegung im Aufschwung, die in Frankreich 1805 zur Gründung einer gelehrten Gesellschaft, der „Académie celtique“, führte.38 Einer der Begründer dieser Gesellschaft, Michel-Ange-Bernard Mangourit, war der Überzeugung, dass alles, „was über den historischen Horizont hinausgeht, was uns über Europa […] als ewig erscheint, […] eine keltische Weihe“ trage.39 Charles Nisard, der sich rund fünfzig Jahre später mit den Ursprüngen der französischen Volkslieder beschäftigte, erlaubte sich daher einen kurzen Exkurs in die skandinavische Volkspoesie, den er keineswegs als Abweichung von seinem Thema betrachtete: „[…] bei der Behandlung der Barden, Volkspoeten bei den Skandinaviern und bei den Galliern, deren Funktion bei dem einen wie dem anderen Volk identisch war, bin ich gewissermaßen dazu gezwungen gewesen.“40 Letztlich sollte freilich den Galliern innerhalb der keltischen Geschichte der erste Platz gebühren. Bereits 1792 hatte daher Théopile Malo de La Tour d’Auvergne-Corret in seinen „Nouvelles Recherches sur la langue, origine et les antiquités des Bretons“41 behauptet, dass die Gallier das älteste Volk Europas seien.42 Dennoch sollte erst die Dritte Republik die keltisch-gallische Vergangenheit in das universelle Geschichtsbild der französischen Nation einfügen und Vercingétorix

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neben Chlodwig43 oder Hugo Capet44 in die Reihen der Gründungshelden aufnehmen.45 Die Entdeckung der keltischen Vergangenheit und der Versuch Frankreichs, sich in der europaweiten keltischen Bewegung einen bedeutenden Platz zu sichern, gingen einher mit der Konstruktion des „Bardo-druidisme“. So entwickelte etwa Jacques Cambry, der 1794/95 im Auftrag der Regierung das historische Erbe in der Bretagne inventarisierte, die Idee einer gallischen druidischen Religion, die angeblich auf der Weisheit der Natur beruhte. Möglicherweise spiegelte sich darin die spezifische Naturaufassung der Aufklärung, d.h. die Annahme, dass Gott die Natur vernünftig eingerichtet habe und sich das Individuum nur dieser unterwerfen dürfe. Wohl nicht zuletzt deshalb wurde der Druidismus seit dem beginnenden 19. Jahrhundert als Vorläufer eines „Proto­ christianismus“ betrachtet, eines puren Christentums oder einer natürlichen Volksreligion, die noch nicht durch die Macht der römischen Kirche verfälscht worden sei.46 Auch Théodore Hersart de La Villemarqué scheint von dieser Idee beeinflusst, wenn er in seinem Werk „Poèmes de bardes bretons“, das 1850 erstmals erschien, die Druiden als eine Art von Kirchenfürsten bezeichnet, die gleichzeitig die Funktion von Gelehrten, Philosophen und Astrologen sowie von Propheten, Magiern und Poeten ausübten.47 Um einen kohärenten, in die Gegenwart und Zukunft reichenden historischen Prozess zu konstruieren, um die Nation, wie Pierre Nora schreibt, in „ihren Tiefen zu dynamisieren“,48 reichte es allerdings nicht aus, die „référence latine“ mit der keltisch-gallischen Vergangenheit zu ergänzen. Vielmehr musste die gesamte Monarchie, das von den Revolutionären so gehasste Ancien Régime, in das nationale Geschichtsbild eingebunden werden. Daher griff die Geschichtswissenschaft auf Henri de Boulainvillier (1658–1722) zurück, der in seiner 1727 posthum veröffentlichen „Histoire de l’Ancien Gouvernement de la France“ die These zweier „Stämme“, des fränkischen und des gallischen Stammes, formulierte. Der Adel stammte demnach von den Franken ab, die „Nation“, womit das französische „Volk“ bzw. das französische Bürgertum gemeint war, angeblich von den Galliern. Vor allem die Aristokratie hatte sich zunächst auf diese These berufen, um sich „als eine andere Schöpfung als der Rest des Volkes“ zu fühlen.49 Im bürgerlichen 19. Jahrhundert interpretierten liberale Historiker wie Augustin Thierry50 oder François Guizot die Französische Revolution schließlich als ethnischen Konflikt.51 „Seit mehr als dreizehn Jahrhunderten umfasste Frankreich zwei [Völker], ein siegreiches und ein besiegtes Volk“, schreibt Guizot im Jahr 1820.

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Seit mehr als dreizehn Jahrhunderten kämpfte das besiegte Volk, um das Joch des siegreichen Volkes abzuschütteln. […] Der Kampf hat sich all die Zeitalter hindurch fortgesetzt, in allen Formen, mit allen Waffen. Und als sich 1789 die Deputierten von ganz Frankreich in einer einzigen Versammlung vereinigt haben, haben sich die beiden Völker beeilt, ihren alten Streit wieder aufzunehmen: Der Tag der Entscheidung war schließlich gekommen.52

Die Französische Revolution sollte schließlich, so die historische Konstruktion des 19. Jahrhunderts, mit der „fusion de races“, der „Vereinigung der Stämme“, enden, womit ein geeintes französisches Volk geschaffen worden sei.53 So widmete sich etwa das Historische Museum im Schloss von Versailles, das 1837, während der Julimonarchie unter Bürgerkönig Louis-Philippe von Orléon,54 eröffnet wurde, dem vermeintlichen „Ruhm“ der französischen Nation.55 Versailles wurde von „eine[r] Königsresidenz zum Tempel des Ruhmes eines Volkes“ umgestaltet.56 Geschichte sollte, wie Francis Haskell schreibt, „die Erinnerungen verdunkeln (oder sogar vollends auslöschen), die sich mit einem der berühmtesten Bauwerke Frankreichs verband – Erinnerungen an despotische, extravagante Monarchen, die in völliger Isolation von ihren Untertanen lebten“.57 Das Ancien régime wurde umgedeutet und in die Nation eingebunden, indem das Museum einen gemeinsamen Nenner zwischen Monarchie und Bürgertum bzw. zwischen den beiden „Stämmen“ schuf. Zahllose historische Gemälde wurden bei Künstlern in Auftrag gegeben; unter anderem war auch die „Galerie des Batailles“ im Museum untergebracht, die dem Publikum auf 33 Gemälden die militärischen Siege Frankreichs glorreich präsentierte.58 Heldenverehrung diente dabei der nationalen Identitätsstiftung: Neben den Schlachtengemälden wurden den Galeriebesuchern achtzig Büsten von „mutige[n] Männer[n]“ präsentiert, „die ihr Leben für die Verteidigung und den Ruhm ihres Landes verloren haben“.59 Eine ähnliche Funktion wie das Historische Museum im Schloss von Versailles konnten auch historische Feste erfüllen. Ein solches wurde etwa 1834 in Cambrai (Pas-de-Calais) veranstaltet. Als Höhepunkt der dreitägigen Veranstaltung fand ein „historischer Marsch“ statt, der auf sieben Festwagen die Geschichte der Gemeinde von seinen gallischen Ursprüngen bis zu ihrer Eingliederung in Frankreich im Jahr 167960 nachzeichnete. Jeder Wagen war mit einem Gemälde geschmückt, das ein für Cambrai angeblich bedeutendes historisches Ereignis darstellte. Dazu zählte etwa die Befestigung der Stadt unter Karl dem Großen um 800, die Rückkehr der Kreuzfahrer oder die Verteidigung Cambrais

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im Hundertjährigen Krieg. Die Wagen wurden von Schauspielern begleitet, die als bedeutende lokale Persönlichkeiten auftraten. Das Fest sollte der Bevölkerung von Cambrai nicht nur ihre vermeintlichen Wurzeln in der – freilich mehr oder weniger erfundenen – Vergangenheit bewusst machen, sondern ihnen zugleich eine Zukunft präsentieren, die durch Freiheit, Glück und Ruhm geprägt und letztlich nur in der französischen Einheit, in der Nation, möglich war.61 Zugleich mit der Umdeutung des Ancien Régime erfolgte der Kult der großen Männer, vor allem die Verklärung französischer Könige zu nationalen Helden. Zu diesen Helden gehörte insbesondere Heinrich IV., der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Literatur und Kunst zum volksnahen König hochstilisiert wurde. Das Gemälde „Henri IV chez le meunier Michaud“ (Heinrich IV. beim Müller Michaud, 1806) von Alexandre Menjaud zeigt etwa einen König, der sich im feuchtfröhlichen Kreis einer Müllersfamilie wohlfühlt und seinem Volk eng verbunden scheint. Ein anderes, zum Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenes Gemälde mit dem Titel „Entrée d’Henri IV dans Paris“ (Einzug Heinrichs IV. in Paris) von François Gérard thematisiert den Einzug des Königs in Paris, nachdem er 1593 zum Katholizismus übergetreten war. Die Pariser Bevölkerung umjubelt ihn und feiert in seiner Person das angeblich vereinigte Frankreich. Die Legende des „bon roi“, des „guten Königs“, wurde zu einem unentbehrlichen Propagandamittel der französischen Nation: Am 30. Juli 1830, einen Tag nach der Julirevolution, trug die Statue von Heinrich IV. auf dem Pont-Neuf eine Trikolore in der steinernen Hand. In den Schulbüchern für den Grundschulunterricht diente Heinrich IV. als Repräsentant universeller moralischer Werte wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Toleranz. Er galt als König, der den Frieden liebte und den Wohlstand seiner Untertanen so vermehrte, dass diese angeblich jeden Sonntag eine „poule au pot“, ein Huhn im Topf, verzehren konnten.62 Selbst noch 1959, zu Beginn der Fünften Republik, präsentierte ihn das Kinderbuch „Notre premier livre d’histoire“ als „Vater des Volkes“. „Betrachtet das offene und lächelnde Gesicht des Königs“, ist unter einer Illustration von Henri Dimore zu lesen, die den Inhalt des Buches noch eindringlicher zu vermitteln versucht. „Heinrich IV. spricht mit der Bäuerin und dem Kind. Er ist der Freund der Bauern: ‚Es gibt nichts Schöneres‘, sagte er, ‚als ein Weizenfeld während der Erntezeit.‘“63 Neben Schul- und Kinderbüchern verbreiteten auch Romane und Dramen das Bild eines Königs, der im Geist der Aufklärung zu handeln verstand. Alexandre Dumas der Ältere, ein Sympathisant des Bürgerkönigs Louis-Philippe, beschreibt Heinrich IV. in „La reine Margot“ (1845) gleichsam als bourgeoisen

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König. Damit gab er den Weg für andere Autoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, etwa für Pierre-Alexis Ponson du Terrail, der nicht nur die bekannten Romane über den Gentleman-Gauner Rocambole verfasst hat, sondern auch den Roman „La jeunesse du roi Henri“ (1864).64 Darin glorifiziert er den Südwesten Frankreichs, unter anderem die ländlichen Wirtshäuser und den Wein des Jurançon. Heinrich IV. scheint bei Ponson du Terrail in dieser französischen Landschaft verwurzelt und personifiziert die Einfacheit und die Lebensfreude als Teil eines vermeintlichen „französischen Charakters“. Dieser Charakter ist auch vom Freiheitswillen geprägt, den Heinrich IV. angeblich verkörperte – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Nachdem er im Jahr 1793 gemeinsam mit anderen französischen Königen, die in Saint-Denis begraben waren, von Revolutionären exhumiert und entweiht worden war, verbreitete sich die Legende, dass sein einbalsamierter Leichnam kaum verwest gewesen sei. Der angeblich über so lange Zeit erhaltene Körper des freiheitsliebenden Königs diente als Beweis, dass die bürgerliche Freiheit – ganz im Sinne des kohärenten Geschichtsbildes der bürgerlichen Gesellschaft – bereits in der monarchistischen Vergangenheit zu finden gewesen sei.65 Mit der Demokratisierung bzw. Republikanisierung der Monarchie wurden allerdings nicht nur bestimmte Könige zu Vorkämpfern der Freiheit hochstilisiert, sondern auch Helden bzw. Heldinnen geschaffen, die aus dem Volk selbst stammten. Hier ist etwa Jeanne d’Arc zu nennen, die zunächst keineswegs, wie vermutet werden könnte, von den Gegnern der Republik vereinnahmt wurde. Ganz im Gegenteil entdeckten sie in den 1820er Jahren antirestaurative und liberal orientiere Historiker wie Jules Michelet für die nationale Geschichtsschreibung. Als „Tochter“ des französischen Volkes hochstilisiert, von ihrem König verlassen und von der Kirche verbannt, ließ sie sich bestens mit den antimonarchistischen und antiklerikalen Tendenzen dieser Zeit in Einklang bringen.66 Später ehrte sie die Dritte Republik in Form eines heroischen Reiterstandbildes von Emmanuel Frémiet, das 1874 auf dem Place des Pyramides in Paris enthüllt wurde. In der Nähe des Standortes der Statue soll Jeanne d’Arc die englische Belagerung durchbrochen haben. Sie galt daher als Freiheitssymbol, zumal die Belagerung der Stadt durch die Preußen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 noch lebhaft in Erinnerung war. Im Gegensatz zu Frémiet, der – beeindruckt von der Niederlage Frankreichs gegen das Deutsche Reich – die „eiserne Jungfrau“ als Kriegsheldin darstellte, spielt das Gemälde „Jeanne d’Arc“ von Jules Bastien-Lepage (siehe Tafel 4) auf ihre angeblich einfache, im Übrigen aber niemals wirklich geklärte Herkunft67

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an: Lepage zeigt sie als armes Bauernmädchen in einem Obstgarten, das sich gerade von ihrem Spinnrocken erhoben hat, um ihrer Berufung, der Befreiung Frankreichs, zu lauschen. Als sich die Dritte Republik mit der Weltausstellung von 1889, dem hundertjährigen Jubiläum der Französichen Revolution, selbst feierte, gehörte daher das Gemälde zu den ausgewählten Werken, die ausgestellt wurden. Die „Exposition Centennale“ sollte die kulturelle Größe dokumentieren, die Frankreich in den letzten hundert Jahren unter bürgerlicher Herrschaft erreicht hatte.68 Gemäßigte Republikaner beabsichtigten sogar, Jeanne d’Arc an die Spitze der nationalen Symbole zu stellen und ihr einen Nationalfeiertag, den Tag der Befreiung Orléans, den 8. Mai, zu widmen. 1884 hatte sich der republikanische Deputierte Joseph Fabre als glühender Verfechter dieser Idee hervorgetan, die noch bis in die 1890er Jahre diskutiert werden sollte. Dahinter stand die Überlegung, die Spannung zwischen Dritter Republik und jenen Vertretern der katholischen Kirche, die der republikanischen Staatsform nicht unbedingt feindlich gegenüberstanden, zu verringern. Die Chancen dafür standen gut, denn Papst Leo XIII. glaubte, der antiklerikalen Bewegung in Frankreich begegnen zu können, indem die katholische Kirche die Republik als gegeben akzeptierte. Jeanne d’Arc, die freilich auch von der Kirche vereinnahmt wurde, bot sich vor diesem Hintergrund als Basis einer nationalen Einheit an, die über den Parteien stand.69 Letztlich scheiterte aber das Vorhaben daran, dass die radikalen Gegner der Republik Jeanne d’Arc ebenfalls entdeckten. Sie instrumentalisierten die „Pucelle“, die „Jungfrau“, wie Jeanne d’Arc auch genannt wurde, für einen Nationalismus, der die Erinnerung an die Französische Revolution ausblendete, die demokratischen Errungenschaften verabscheute und den Antisemitismus auf seine Fahnen schrieb.70 Im Gegensatz zu Jeanne d’Arc widerstand „Marianne“, die andere „Tochter“ des französischen Volkes und zugleich revolutionäre „Freiheitsgöttin“, zumindest im 19. Jahrhundert den Werbungen der extremen Rechten. Zu sehr erinnerte sie an die Französische Revolution von 1789 und die Republik. Viele ihrer bildlichen Darstellungen gleichen einer „revolutionären Speisung“, wie Richard Sennett schreibt,71 zumal sie meist mit prallen und oftmals entblößten Brüsten dargestellt wurde, als fürsorgliche Mutter, die ihre Kinder, das französische Volk, mit der „Milch der Freiheit“ nährt. So trägt etwa ein Stich aus dem Jahr 1792 den bezeichnenden Titel „La France républicaine offrant son sein à tous les Français“ (Das republikanische Frankreich, allen Franzosen den Busen bietend). Mariannes Brüste werden durch ein Band gestützt, das die Trikolore darstellt,

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und durch ein Lot hervorgehoben, das die Gerechtigkeit symbolisiert (siehe Tafel 5). Sie trägt zudem eine an die Jakobiner erinnerende phrygische, mit einem Hahn geschmückte Mütze. Wegen seiner engen Beziehung zum anbrechenden Tag gilt der Hahn als Sinnbild für die Überwindung der Finsternis bzw. des alten feudalen Systems und somit auch für das Licht, das mit der Aufklärung, der Revolution und der Republik gleichgesetzt werden kann. Zugleich steht der Hahn für die Wachsamkeit, die erforderlich ist, um eine Wiedererrichtung des Ancien Régimes zu verhindern.72 Eine andere bildliche Darstellung aus der Revolutionszeit zeigt eine Frauenskulptur, die „Fontäne der Erneuerung“, die anlässlich des „Festes der Einheit und Unteilbarkeit der Republik“ im August 1793 errichtet wurde. Sie stellt Marianne dar, die mit beiden Händen ihre nackten Brüste bedeckt, aus denen sich weißes, vermutlich mit Kalk versetztes Wasser ergießt, das Revolutionäre mit Pokalen aus einem Becken schöpfen. Zwischen der Republik, die durch Marianne symbolisiert wird, und dem Volk besteht allerdings kein einseitiges Verhältnis. Keineswegs verschenkt Marianne die Freiheit, sondern sie erwartet vielmehr von ihren Kindern, dass sich diese ihre Freiheit verdienen, ja sogar erkämpfen. „Die Brust gibt keine Milch, bevor sie nicht die Lippen eines durstigen Säuglings spürt“, verkündigte ein Flugblatt im Jahr 1792, „in derselben Weise können die Hüter der Nation nichts geben ohne den Kuß des Volkes; erst dann schenkt die unverderbliche Milch der Revolution das Leben.“73 Die gegenseitige Unterstützung, die zur Erlangung der Freiheit notwendig ist, die „Dialektik der Freiheit“, hat etwa Honoré Daumier mit seinem Gemälde „La République“ thematisiert: Marianne, ihr Haupt stolz erhoben und mit muskulösem Körper, hält mit der rechten Hand eine Trikolore und drückt mit der linken ein kräftiges Kind an ihren Busen. Ein zweites saugt ebenfalls daran, mit aller Heftigkeit, ja gierig und ungestüm, als wäre es gerade am Verhungern gewesen, während ein weiteres lesend zu Mariannes Füßen sitzt, seinen Kopf, erschöpft von der Anstrengung, auf die linke Hand gestützt (siehe Tafel 6). Marianne, der „Tochter“ aus dem Volk, sollte eine steile Karriere als zentrales Symbol der französischen Republik bevorstehen.74 Jeanne d’Arc konnte ihren katholischen Nimbus nie ganz ablegen und Herkules, der vor allem während der Jakobinerherrschaft das Volk symbolisierte, erinnerte zu sehr an Umsturz. Marianne ließ sich aber an die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen. Daher wirkt sie auf den Darstellungen der ersten Revolutionsjahre, der Zeit der konstitutionellen Monarchie, noch recht zurückhaltend und lässt kaum einen Gedanken an Raserei oder Gewalt aufkommen. Als Allegorie der

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Freiheit fand sie sich neben anderen, ihr ebenbürtigen Allegorien, etwa der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit oder der Natur. Die Republik erwählte sie aber zum offiziellen Symbol und zu einem doppelten Sinnbild: Einerseits stand sie für den abstrakten Begriff der Freiheit, andererseits für deren reale Ausformung in der Republik, d.h. für die eingezäunte Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft.75 Nun belebten die Revolutionäre ihr Bildnis, indem sie gleichsam die „Fleischwerdung“ des Symbols einleiteten, um – wie die Zeitschrift „Les Révolutions de Paris“ schreibt – „von Anfang an mit jeglicher Art von Götzenverehrung [zu] brechen“.76 Keine „déesse“ („Göttin“) aus Stein sollte angebetet werden, sondern das Volk erkennen, dass die Freiheit letztlich ein Teil seiner selbst sei. Auf dem „Fest der Vernunft“, das im November 1793 in Paris stattfand, ersetzte etwa eine als Marianne verkleidete Frau die Statue, die bislang zu solchen Gelegenheiten präsentiert wurde. Als lebende Allegorien stellten sich meist ehrenhafte „citoyennes“ zur Verfügung, unter anderem politisch aktive Frauen, Ehegattinnen oder Töchter von Revolutionären. Nicht selten übernahm auch das schönste Mädchen des Dorfes die Rolle der Freiheitsgöttin, wobei sie – entgegen der pädagogischen Intentionen der Revolutionäre – nun als Schönheitskönigin zu einem Idol erhoben wurde.77 Nach 1794, während der Herrschaft des Direktoriums, wurde Marianne der Bevölkerung wieder buchstäblich entrückt. In Paris thronte sie auf einer 20 Meter hohen Säule, weit entfernt von der Bevölkerung. Die „Dialektik der Freiheit“, die Daumier auf seinem Gemälde so bildhaft dargestellt hat, war offenbar in Vergessenheit geraten. Marianne verlor ihre Lebendigkeit und erhielt wieder ihre Abstraktheit zurück. Die offizielle Vignette des Direktoriums von 1789 lässt sich als Beispiel für diese Entwicklung anführen: Die darauf abgebildeten Allegorien der bürgerlichen Republik bedurften einer seitenlangen Erklärung und waren nur von jenen zu verstehen, die über eine gewisse Vorbildung verfügten.78 Nur einige Allegorien, die auf der Vignette zu finden sind, sollen hier genannt werden: Das Liktoren- oder Faszesbündel, das auch auf anderen Darstellungen von Marianne abgebildet ist, lässt sich wohl nicht nur als Symbol für die Einheit des Volkes, sondern auch für die staatliche Autorität interpretieren. Die Schlange, wahrscheinlich eine Hydra, der für einen abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen, ist wiederum Sinnbild für die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich im Verlauf der Revolution vervielfacht haben. Für Marianne scheinen sie allerdings kein Problem darzustellen, zumal sie das furchterregende Ungeheuer ohne Anstrengung mit ihrem linken Fuß niederdrückt. Schließlich sei auch auf den Lorbeerkranz hingewiesen, der als immergrüne Pflanze die Unsterblichkeit

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

symbolisiert und somit daran erinnert, dass die Revolution und die Republik ewig währen werden. Gleichzeitig ist er ein Symbol für Sieg und Triumph, den die Republik im Kampf um die politische Vorherrschaft davongetragen hat.79 Im Übrigen wirkt die abgebildete Freiheitsgöttin beinhae lethargisch, als ob sie sich vom vorangegangenen Kampf ausruhen müsse. Im Gegensatz zu den meisten früheren Darstellungen hält sie weder Speer noch Lanze und hat eine sitzende Position eingenommen. Diese Kraftlosigkeit war jedoch eine nur vorübergehende: Auf dem berühmten Gemälde „La Liberté guidant le peuple aux barricades“ („Die Freiheit, das Volk auf die Barrikaden führend“), das Eugène Delacroix anlässlich der Revolution von 1830 malte, stürmt Marianne dem Volk wieder leidenschaftlich voran, mit einem Gewehr in der linken und der Trikolore in der rechten Hand. Und auch auf der undatierten Lithographie eines unbekannten Künstlers, die die Belagerung von Straßburg im Jahre 1870 thematisiert, scheint sie trotz gebrochenen Schwertes, das sie in der rechten Hand hält, weiterhin zum mutigen Kampf entschlossen. Zugleich ähnelt sie einer Lichtgestalt, die sich von der düsteren Umgebung deutlich abhebt und der Republik den Weg in die Freiheit weist. Marianne ist auf dieser Lithographie ohne phrygische Mütze dargestellt. Diese Kopfbedeckung, die sie auf den meisten bildlichen Darstellungen aus der Zeit der Französischen Revolution trägt, konnte sich in der Dritten Republik nur allmählich als offizielles Staatsemblem durchsetzen. Zu sehr erinnerte sie an die Jakobinerherrschaft und schließlich auch an die Pariser Kommune von 1871 (S. 236), die ebenfalls die Freiheitsmütze als Symbol gewählt hatte. Die gemäßigten Republikaner der Dritten Republik zogen der phrygischen Mütze einen Lorbeerkranz vor, der bereits während der Revolution von 1848/49 das Haupt der „Freiheitsgöttin“ geschmückt hatte. Beliebt war auch ein Kranz aus beliebigen Pflanzen. Erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert findet sich die phrygische Mütze wieder auf den offiziellen Darstellungen von Marianne, allerdings weiß gefärbt, mit der Farbe des Lichtes, der Reinheit und der Vollkommenheit.80 Marianne schmückte nun auch Briefmarken oder Geldstücke. Unter anderem wurde sie, ähnlich wie heute auf der französischen 50-Cent-Münze, als Säerin dargestellt, die zum einen, ganz im Sinne des republikanischen bzw. jakobinischen Agrarismus (S. 107), die Verbundenheit mit der „nationalen Erde“ verkörpert, zum anderen die französische Erde für kommende Generationen mit dem Samen der Freiheit bestellt.81 Zunehmend entwickelte sich Marianne, die sich immer wieder an die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen wusste, aber zu einem Kind der

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aufkommenden Freizeit- und Konsumgesellschaft. Der erotische Subtext, der vielen Darstellungen von Marianne seit der Französischen Revolution eigen ist,82 trat damit verstärkt in den Vordergrund. Ohne Zweifel ist die Freiheitsgöttin eine Schöpfung männlicher Fantasien und weist Parallelen mit der klassizistischen Malerei des 19. Jahrhunderts auf. Die antiken Referenzen und religiösen Inhalte boten nicht selten einen Vorwand, um dem männlichen Voyeurismus entgegenzukommen.83 Dennoch weist die Anlehnung an die antiken Vorbilder bei Marianne einen politisch-emanzipatorischen und demokratischen Subtext auf, der jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich verloren ging. Eine Abbildung aus dem Ersten Weltkrieg, die an die Kampfmoral der französischen Truppen appelliert, zeigt Marianne, wie sie – ähnlich einem Pin-up-Girl – ihre rechte Hand auf eine rauchende Kanone stützt und ihre wohlgeformten Brüste und Hüften, die von einem Tuch kaum bedeckt sind, dem Betrachter präsentiert.84 Ihre ursprüngliche Bedeutung, jene der bürgerlichen und zur Einheit mahnenden Rebellin, hatte die Wandlungsfähige damit verloren. Die französische Nation und mit ihr die bürgerlich-liberale Freiheit, die durch Marianne verkörpert wird, sollte nicht nur als als Modell für die Zukunft Europas, sondern der ganzen Welt dienen – eine Zukunft, die in der Vergangenheit begründet lag. Die Weltausstellungen in Paris huldigten dieser Nation, insbesondere jene von 1889, als gleichzeitig mit der Ausstellung das hundertjährige Jubiläum der Französischen Revolution, der „Centenaire“, begangen und die Wurzeln der Dritten Republik in der Geschichte verortet wurden. Nicht zufällig fand die Ausstellung auf dem Marsfeld statt, das Jules Michelet 1847 pathetisch als „einziges Denkmal“ bezeichnet hatte, „dass die Revolution hinterlassen hat“, auf dem er den „großen Atem“ verspürte, „der über die unfruchtbare Ebene bläst“.85 Die Kontinuität seit der Französischen Revolution sollte etwa durch die „Exposition Centennale“ vermittelt werden, die eine Rückschau auf die Kunstproduktion der letzten hundert Jahre bot. Allerdings stammte fast die Hälfte der ausgestellten Gemälde aus den letzten zehn bis fünfzehn Jahren, womit die Ausstellung die Bedeutung der Dritten Republik besonders hervorhob.86 Das hatte seinen guten Grund, zumal die Boulanger-Krise (S. 248) im selben Jahr die Republik in ihrer Existenz gefährdet hatte. Die Weltausstellung musste daher auch eine politische Manifestation sein, die die Republik und mit ihr nicht nur den technischen, sondern auch den gesellschaftlichen Fortschritt feierte. Gustave Eiffel verlieh der politischen Funktion der Weltausstellung symbolisch Ausdruck: Auf einem Fest in seinem Appartement im Eiffelturm spielte er unter Anwesenheit von Thomas Alva Edison auf einem Phonographen, den

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dieser erfunden hatte, eine Schallplatte mit der „Marseillaise“,87 die 1879 von der Dritten Republik als Nationalhymne eingeführt worden war. Die Menschen sollten auf der Weltausstellung „ihre Errungenschaften bewundern und sich die Hände geben“, wie Édouard Lockroy, der Vorsitzende der Ausstellungskommission, im Vorwort zum vierbändigen Ausstellungkatalog hervorhob.88 Der Kunsthistoriker Michael F. Zimmermann bezeichnet daher die Weltausstellung als „eine äußerst erfolgreiche Wahlveranstaltung, die zugleich die Dritte Republik vor der Gefahr einer reaktionär-revanchistischen Wende bewahrt hat“.89 Tatsächlich brachten die Parlamentswahlen im Herbst 1889 den Liberalen und somit der Republik einen durchschlagenden Erfolg, den die Zeitung „Le Petit Parisien“ im Januar 1890 auch auf die Weltausstellung zurückführte: Sie hat die Bewunderung der Völker bewirkt und der Welt bewiesen, dass eine pazifistische und arbeitsame Nation von dynastischen Feindseligkeiten nichts zu fürchten hat. […] Wieder einmal hat Frankreich die Vorstellung der Menschlichkeit erfüllt. […] Im Inneren ist die Republik aus einem fürchterlichen Angriff triumphierend hervorgegangen; und die allgemeine Wahl hat klar ihren Willen bekundet, die nutzlosen politischen Kämpfe zu beenden und die Ära der demokratischen Reformen einzuleiten. In dem Augenblick, in dem man die Seite umblättern wird, im Moment, in dem 1889 im Ozean der Vergangenheit verschwindet, sagen wir ihm mit Anerkennung Adieu, und auch mit Stolz, denn dieses Jahr wird Frankreich durch die Arbeit und durch die Freiheit groß sein lassen […].90

Das Modell der bürgerlichen Gesellschaft, die sich mit dem Sieg der Republik neuerlich bestätigt sah, spiegelte sich im architektonischen Ensemble der Weltausstellung: Das Marsfeld präsentierte sich den Besuchern als weitläufiger Raum, der lediglich von Gebäuden in U-Form eingerahmt war und somit die eingezäunte Freiheit symbolisierte. Diese findet sich auch im Eiffelturm repräsentiert, der aus dem weiten Raum des Marsfeldes wie eine Kathedrale des Fortschrittes herausragt: Aus unzähligen gleichförmigen Elementen zusammengesetzt, bildet der Turm als Gesamtes die Summe aller Teile, ein Bauwerk, das keinerlei Hierarchie aufweist, sondern durch das gleichsam harmonische Zusammenwirken der Einzelteile zu einem Ganzen verschmilzt, so wie die französischen Bürger und Bürgerinnen in der französischen Republik vereint sein sollten. Tatsächlich tummelten sich auf dem Eiffelturm die unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten, womit der republikanische Traum einer Gesellschaft freier und gleicher Staatsbürger unter dem Schirm der „Zivilisation“ vorübergehend verwirklicht schien.91

2.2 Ideologische Infiltration

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Die Weltausstellung von 1889 bildete im Bemühen, diesen Traum in Realität zu verwandeln, nur einen Meilenstein unter vielen. Denn bereits seit der Französischen Revolution von 1789 war versucht worden, ganz Frankreich mit revolutionären bzw. bürgerlich-aufgeklärten Ideen zu infiltrieren.

2.2 Ideologische Infiltration

Die ideologische Infiltration der französischen Gesellschaft mit bürgerlich-aufgeklärten Idealen bediente sich zum Teil der traditionellen Vermittlungsformen wie des Kultus, des ritualisierten Wortes oder affektiv aufgeladener Symbole. Damit wurde versucht, der vom Katholizismus geprägten Bevölkerung eine vermeintliche Kontinuität zu vermitteln, um Verunsicherungen infolge des gesellschaftlichen Wandels zu vermeiden.92 Allerdings wurden die traditionellen Vermittlungsformen mit neuen Inhalten gefüllt. Gleichzeitig trugen aber auch neuen Bilderwelten, Riten und Diskurse zum Wandel der Mentalitäten bei. So tauchten etwa in den ersten Monaten der Französischen Revolution so genannten „Freiheitsbäume“ auf, die von Maibäumen abstammten. Diese waren von den Bauern des Périgord während eines Aufstandes gegen den örtlichen Landadel im Winter 1790 gesetzt worden, ähnelten meist einem Galgen und trugen bedrohliche Inschriften. Es dauerte nicht lange, bis die Freiheitsbäume gleichsam verstaatlicht wurden, indem etwa kommunale Regierungen ihre Errichtung organsierten. Im Mai 1792 fanden sich in ganz Frankreich insgesamt 60.000 solcher Freiheitsbäume.93 Mit der Einführung des bereits erwähnten Revolutionskalenders, der sich letztlich aber nicht durchsetzen konnte,94 sollten zudem die religiösen Traditionen in den verschiedenen Regionen bekämpft werden. Das Kunstgewerbe wurde in den Dienst der Revolution gestellt und sogar Revolutionskitsch angefertigt: Büsten von antiken Vorbildern wie Brutus sowie von ideologischen Wegbereitern oder Helden der Revolution, etwa von Voltaire oder Jean Paul Marat, fanden weite Verbreitung, ebenso wurden Tabakspfeifen und Geschirr mit revolutionären Sprüchen verkauft, und selbst Miniaturguillotinen, die als Andenken an Hinrichtungen oder auch als Kinderspielzeug dienten, waren auf dem Ramschmarkt der Revolution zu finden. Auch die Möbelfabrikation vermischte bürgerlichen Geschäftssinn mit revolutionärem Eifer, etwa wenn „patriotische Betten“ verkauft wurden, die mit revolutionären Sprüchen bemalt waren und deren Pfosten in geschnitzte Freiheitsmützen ausliefen.95

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

Seit 1791, ausgehend von den städtischen Zentren, verbreiteten sich zahlreiche Klubs und Volksgesellschaften, die „Sociétés populaires“. Diese hatten die Aufgabe, die neue Kultur der Freiheit und Gleichheit, etwa die Symbole der Revolution, zu propagieren. Neben den erwähnten Freiheitsbäumen oder dem Revolutionskalender gehörten dazu auch die rot-weiß-blaue Kokarde, die Freiheitsgöttin Marianne und der „bonnet rouge“, die phrygische Mütze, die von den Revolutionären irrtümlicherweise als Kopfbedeckung der freigelassenen Sklaven in der Antike interpretiert wurde96. Zudem traten die „Sociétés populaires“ gegen das Führen adelsähnlicher Titel auf und gingen auf Jagd nach Symbolen des Ancien Régimes, um sie zu beseitigen. Um 1793/94 existierte ein Netz von rund 6.000 solcher „Sociétés populaires“ in allen Städten mit über 4.000 Einwohnern; auch in kleineren Orten waren solche Gesellschaften zum Teil gegründet worden. Vor allem in den Departements nördlich von Paris sowie in der Provence, dem Languedoc und dem Rhône-Tal fanden sie starke Verbreitung, während sie andernorts meist auf die größeren Orte und die Städte beschränkt blieben. Ein Beispiel für diese „Sociétés populaires“ sind etwa die 1790 gegründeten „Amis de la Constitution“ in Tulle (Corrèze), die „Verfassungsfreunde“, denen zunächst Mitglieder aus der bürgerlichen Oberschicht, schließlich aber auch Handwerker und kleine Ladenbesitzer sowie Arbeiter und Bauern angehörten. Zwischen Juni 1791 und 1794 stieg der Anteil der Mittel- und Unterschichten in diesem Klub von 43 auf 58 Prozent an.97 Trotz dieser revolutionären Anstrengungen sollten das „wilde“ Land und die Provinzstädte aber erst im 19. Jahrhundert, insbesondere mit der Durchsetzung der Dritten Republik, allmählich im bürgerlichen Sinn „zivilisiert“ werden. 1884 schrieb ein Gemeindegesetz jeder Gemeinde vor, ein eigenes Rathaus zu errichten. Damit dokumentierte die Dritte Republik ihre Anwesenheit in jedem Ort des Landes und schuf gleichsam einen weltlichen Gegenpol zur Kirche, die bis dahin das einzige öffentliche Gebäude im Dorf gewesen war.98 Dazu kamen noch Statuen der französischen „Freiheitsgöttin“. „Das Bildnis der Marianne“, schreibt Maurice Agulhon, „war damals ein Symbol, einem anderen Symbol entgegengesetzt, dem Kreuz […].“99 In Dijon plante etwa der Gemeinderat 1883, auf dem Place de la République ein riesiges Monument zu errichten, das die Republik bzw. Marianne auf einem Globus stehend zeigen sollte, umgeben von sechs Freiheitshelden, von Wilhelm Tell, George Washington, Simón Bolívar, Giuseppe Garibaldi, Lajos Kossuth und Victor Hugo. Das Projekt wurde letztlich aber verworfen, weil die linksliberalen Radicaux die Gemeindewahlen verloren und die Stadtregierung wechselte. Dagegen erachtete der Bürgermeister von Chatte

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(Isère) im Jahr 1889 die Errichtung einer Statue der Republik als unbedingt notwendig, um der noch stark in klerikalen Traditionen verwurzelten Bevölkerung die Errungenschaftgen der Französischen Revolution näher zu bringen. In Aubagne (Bouches-du-Rhône) ließ der Gemeinderat vor dem Krankenhaus eine Statue der Marianne aufstellen, diese mit der Trikolore schmücken und auch noch beleuchten. Das Kreuz an der Tür der Kapelle, die sich an diesem nicht zufällig gewählten Ort befand, ließ der Gemeinderat dagegen verhüllen.100 In Toulouges (Pyrénées-Orientales) krönte eine Büste der Marianne, deren Gesicht sich von der Kirche abwandte, den Dorfbrunnen. Zwischen 1870 und 1940 wurden rund 440 Monumente errichtet, die Allegorien der Freiheit und der Republik darstellten.101 Eine ähnliche Funktion wie Marianne übernahm auch Jeanne d’Arc, die – wie bereits erwähnt – nicht nur von den radikalen Monarchisten, den so genannten Legitimisten, sondern auch von den Republikanern vereinnahmt wurde.102 In Nancy finanzierte etwa der Börsenmakler und Philanthrop Daniel Iffla Osiris im Jahr 1890 die Errichtung einer Statue, die jener von Emmanuel Frémiet gleicht, die in Paris auf dem Place des Pyramides errichtet worden war. „Noch immer ergriffen von der schweren Niederlage Frankreichs [im Deutsch-Französischen Krieg, Anm. d. V.]“, begründet Osiris sein Geschenk in einem Brief an den Bürgermeister von Nancy, freut es mich, dass ich diese Gelegenheit ergreifen kann, die unvermeidlichen Verzögerungen einer öffentlichen Subskription abzukürzen, und ich, Franzose, bin noch immer der Schuldner der Stadt Nancy, die mir erlaubt, auf einem ihrer öffentlichen Plätze das Bildnis des Vaterlandes zu errichten […]103

Osiris trat mehrmals als Mäzen auf, etwa bei der Errichtung von Krankenhäusern, Synagogen oder von Denkmälern. Bekannt ist er vor allem durch die Restaurierung von Napoléon Bonapartes Schloss in der Nähe von Paris, des Château de Malmaison, und durch sein Testament, in dem er das Institut Pasteur als Universalerben bestimmte.104 Mit seinem patriotischen Geschenk an Nancy vermied Osiris tatsächlich ein lang andauerndes Subskriptionsverfahren, eine öffentliche Spendenaktion, die im 19. Jahrhundert zur Finanzierung solcher Vorhaben üblich war.105 Die Statue von Jeanne d’Arc in Reims konnte zum Beispiel erst 1896, nach einem zehnjährigen Subskriptionsverfahren, errichtet werden. Statuen und Büsten von Jeanne d’Arc oder Marianne, die auf Dorfplätzen oder in Rathäusern an die Republik erinnerten, fanden weite Verbreitung. Nach

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1880 wurden zudem industriell produzierte Stiche oder Miniaturskulpturen zu einem großen Erfolg.106 Frédéric Auguste Bartholdi ließ vom so genannte „Komiteemodell“ der Freiheitsstatue, das aus zahlreichen Modellvorschlägen vom „Comité de l’Union Franco-Américaine“ ausgewählt worden war, zweihundert Stück produzieren, signierte diese und gab sie zum Verkauf frei. Damit sollte einerseits ein Teil der Kosten für die Konstruktion der kolossalen Freiheitsstatue abgedeckt, andererseits aber auch das bürgerlich-republikanische Freiheitsverständnis verbreitet werden.107 Neben Marianne waren auch Miniaturen des Reiterstandbildes der Jeanne d’Arc begehrt, das 1874 in Paris enthüllt worden war. Die bildenden Künste sollten im Dienst der „Zivilisation“ stehen, weshalb in vielen Departements versucht wurde, der Bevölkerung vor allem durch Museen die Errungenschaften der Revolution und das bürgerliche Gesellschaftsmodell näher zu bringen. Weite Verbreitung fanden daher Kopien berühmter Werke, die im republikanischen Sinn interpretiert werden konnten und von Regionalmuseen in Auftrag gegeben wurden. Der Unternehmer und Kunsthändler Adolphe Goupil kommerzialisierte etwa diese Branche (S. 153), indem er über Vertrag eigens Künstler beschäftigte, die für ihn solche Kopien herstellten.108 Besondere Bedeutung bei der bürgerlichen Vergesellschaftung besaß zudem die Schule,109 die dem Einflussbereich der Kirche sukzessiv entzogen wurde. Bereits im Laufe der Französischen Revolution hatten die Revolutionäre den „instituteur“, einen weltlichen und vom Staat bezahlten Lehrer, eingeführt. Allen Kindern unabhängig ihrer sozialen Herkunft sollten sich die Tore der Grundschulen öffnen.110 Es bleibt allerdings fraglich, ob es zunächst tatsächlich gelang, auf diese Weise bürgerliche Tugenden und Ideale zu verbreiten. So klagten etwa örtliche Verwaltungsbehörden, dass es zu wenige gut ausgebildete Lehrer gebe und sich viele davon nicht unbedingt mit den Zielen der Französischen Revolution identifizierten.111 Während der Julimonarchie wurde daher in jedem Departement ein staatliches Seminar zur Ausbildung von Volksschullehrern eingerichtet und die Schulaufsicht einem Schulinspektor übertragen, um den Ortsgeistlichen und den Bürgermeistern die Verantwortung über das Schulwesen zu entziehen. Die Schulgesetzgebung von 1833 unter Unterrichtsminister François Guizot schrieb vor, in jeder Gemeinde mit mehr als 500 Einwohnern eine staatliche Volksschule für Knaben zu errichten. Während etwa im Jahr 1829 lediglich 30.966 Gemeinden über ein Schulgebäude verfügten, waren es 1847 bereits 63.098 Gemeinden.112 1850 schuf die „loi Falloux“ in jedem Departement einen akademischen Rat, der eine Liste von Lehrern erstellte, die für den Unterricht in öffentlichen Schulen in Frage kamen, wobei hier auch auf die politisch-ideologische Orientierung geachtet wurde.

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Der vollständige Durchbruch des säkularisierten Schulwesens gelang aber erst in der Dritten Republik, als Anfang der 1880er Jahre mehrere Schulgesetze, die nach dem damaligen Unterrichtsminister Jules Ferry benannten „lois Ferry“, unter anderem die allgemeine Schulpflicht von sechs bis 13 Jahren und die von Laien geführte, kostenlose Volksschule festschrieben. Der Religionsunterricht zählte nicht mehr zum obligatorischen Unterricht. Religiöse Unterweisung war – ganz im Sinne der Trennung von Kirche und Staat – nur noch außerhalb des regulären Unterrichtes und der Schule zulässig. Statt des Religionsunterrichtes wurde nun die „instruction morale et civique“, die „Moral- und Staatsbürgerkunde“, als Fach eingeführt. Bis dahin war diese gleichsam als Querschnittsmaterie im Rahmen des Geschichts-, Geographie und Philosophieunterrichtes gelehrt worden.113 Neben der „Moral- und Staatsbürgerkunde“ umfasste der Lehrplan zudem Lesen, Schreiben und Rechnen sowie Geschichte und Geografie, wobei letztere vor allem das französische Herrschaftsgebiet behandelte und die Bedeutung Frankreichs in der gesamten Welt hervorheben sollte. Dazu kamen noch der Sachunterricht („leçons de choses“), der etwa Zeichnen umfasste, sowie der Musik- und der Turnunterricht. Die Einführung des Turnunterrichts („gymnastique“) als Schulfach stand in enger Verbindung mit der patriotischen Bildung, die seit der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 besonders an Bedeutung gewonnen hatte. Galt doch die körperliche Stärkung des Einzelnen, bei der die einzelnen Körperteile harmonisch zu einem Ganzen verbunden werden sollten, auch als Garant einer starken Nation (S. 44), wobei paradoxerweise das preußische Beispiel als Vorbild diente.114 Der Unterricht wurde in französischer Sprache erteilt, die als Sprache der Revolution und Nation mehr „Ausdruck eines republikanischen Credos denn […] nationalistische Gleichmacherei“ war.115 Dennoch galt der „patois“, der regionale Dialekt, als antirevolutionär und daher als Gefahr für die Republik, bis er jedoch im Zuge der Folklorisierung wieder aufgewertet werden sollte (S. 111, 114, 224). Bereits die Revolutionäre von 1789 waren bemüht gewesen, die französische Sprache als Sprache der Nation und Republik in der Bevölkerung zu verankern. Henri Gregoire, bekannt als Abbé Gregoire, startete eine Umfrage, aus der hervorging, dass sich zwar drei Millionen der „citoyens“ der nationalen, d.h. französischen Sprache bedienten, rund sechs Millionen aber diese nicht beherrschten. Die Jakobiner erließen daher ein Schulgesetz, das die „langue de la liberté“ (Sprache der Freiheit) als nationale Sprache vorschrieb.116 Trotz der Säkularisierung unterrichteten neben den staatlich geprüften Volksschullehrern und -lehrerinnen aber auch weiterhin Ordensleute in den öffentli-

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chen Schulen. Erst seit 1886 garantierte ein Gesetz, die „loi Goblet“, den Unterricht durch „laïcs“, durch laizistisches Lehrpersonal. Die Umsetzung des Gesetzes erfolgte jedoch nur langsam, zumal es an geeignetem Lehrpersonal mangelte. Noch 1901 zählte man rund 7.000 Ordensleute, die in den öffentlichen Schulen als Lehrer tätig waren. In relativen Zahlen hielt sich deren Anteil mit nur fünf Prozent allerdings in Grenzen. Zudem sank der Anteil von Ordensleuten in den zumeist katholischen Privatschulen. Der konfessionelle Unterricht schien sich allmählich an moderne Lehrpläne anzupassen. Während sich das Lehrpersonal in den Privatschulen 1878/79 zu rund 72 Prozent aus Ordensleuten zusammengesetzt hatte, betrug deren Anteil 1912/13 nur noch rund drei Prozent.117 Der „instituteur“, der staatliche Grund- bzw. Volksschullehrer, wurde zur Schlüsselfigur der Republik, zumal er deren Regeln lehrte und „eine Art Gegengeistlichkeit der Republik“ darstellte.118 „Diese Grundschullehrer“, schreibt Michel Winock, „verbreiten nicht nur Wissen, sondern auch einen Glauben: den laizistischen und republikanischen Glauben.“119 Der Geschichtsunterricht und die Staatsbürgerkunde dienten gleichsam als „catéchisme républicain“, als „republikanischer Katechismus“. Eine neue Dreifaltigkeit – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wurde gelehrt und bei schulischen Festveranstaltungen hochgejubelt. In Brest organsierte etwa die „Féderation brestoise de la Ligue de l’Enseignement“ mit Unterstützung des Magistrats am 18. Juli 1904 eine „fête laïque“, ein „laizistisches Fest“: Ein Kinderchor sang die „Hymne à l’École laïque“ (Hymne auf die laizistische Schule) und 4.600 Schüler und Schülerinnen marschierten durch die Straßen von Brest, begleitet vom Bürgermeister, von den Mitgliedern des Gemeinderates und selbstverständlich von ihren Lehrerinnen und Lehrern.120 Die „instituteurs“ und „institutrices“ waren insbesondere in den kleinen Dörfern ein integraler Bestandteil der republikanischen Festkultur. Sie leiteten beispielsweise den Schulchor, der bei Dorffesten eine wichtige Rolle spielte, und studierten mit den Schülern und Schülerinnen die Marseillaise ein.121 Für die dreijährige Ausbildung verfügten die jeweiligen Departements über eine École normale, eine Art pädagogische Hochschule. Zudem wurden sie 1879 gesetzlich dazu verpflichtet, in einem Zeitraum von vier Jahren solche Schulen auch für die Ausbildung von „institutrices“, von Grundschullehrerinnen, einzurichten. Meist stammten die Lehrer und Lehrerinnen aus bäuerlichem Milieu oder aus Familien kleiner Beamter.122 Die Bedeutung, die sie noch bis ins 20. Jahrhundert für die republikanische Erziehung hatten, zeigt sich zum Beispiel in einem 1930 ausgeschriebener „Concours du livre de lecture scolaire“, einem Wettbewerb, der die Lehrer und Lehrerinnen dazu einlud, unterschiedliche Kapitel eines „wahrhaft

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modernen“ Lesebuches zu gestalten. Dieses sollte die Kinder „ebenso die moralischen Qualitäten wie auch die ökonomischen und sozialen Tatsachen“ lehren, „auf denen die Familie, die Gesellschaft und das Vaterland begründet sind“.123 Eine ähnliche pädagogische Funktion wie Lesebücher und später auch das Fernsehen hatten Pamphlete, Broschüren, Fotografien, Zeichnungen und Karikaturen. Im Zeitalter der Massenkommunikation wurden diese von unterschiedlichen republikanischen Organisationen, die mehr oder weniger miteinander in Kontakt standen, für politische Propaganda verwendet. Zu diesem republikanischen Netzwerk gehörten unter anderem die „Ligue de l’Enseignement“ (Liga für Bildung), die „Ligue internationale et permanente de la paix“ (Internationale und ständige Liga für Frieden) sowie zahlreiche Freimaurerlogen, die eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Republik spielten, nicht zuletzt auch deswegen, weil ihnen ein großer Teil der Gründer der Dritten Republik als Mitglieder angehörten. Den Logen, die etwa „Amis de la Tolérance“, „Défense laïque“ oder „Homme libre“ hießen, kam vor allem während der großen Krisen im ausgehenden 19. Jahrhundert, als die Dritte Republik durch den Boulangismus und die Dreyfus-Affaire (S. 248–249) erschüttert wurde, große Bedeutung zu. In Paris zählte man Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 140 solcher Logen, in Marseille zehn, in Bordeaux 15 und in Lyon rund 20. Sie fanden sich aber auch abseits der großen Städte in Marktflecken und Dörfern, von Montségur in der Gironde bis Montreuil-sur-Mer (Pas-de-Calais).124 Die wohl bekannteste Freimaurerloge ist der „Grand Orient de France“, der unter anderem für die Gründung der „Ligue des droits de l’Homme“ (Liga der Menschenrechte) sowie für die Trennung von Kirche und Staat eintrat. Eine andere Organisation, die diesem republikanischen Netzwerk angehörte und der zahlreiche republikanische Politiker beitraten, war die „Société d’Instruction Républicaine“ (Gesellschaft für republikanische Unterweisung), die vom Philosophen Jules Barni in den 1870er Jahren gegründet worden war. Barni hatte 1872 eine Broschüre mit dem Titel „Manuel Républicain“ (Republikanisches Handbuch) verfasst, das auf einfache und nachvollziehbare Weise die Ziele der Dritten Republik beschrieb und der „Société d’Instruction Républicaine“ als Vorbild für andere Schriften diente. Diese gab zwischen 1872 und 1877 rund 70 Pamphlete und Broschüren sowie die Zeitung „Le patriote“ heraus. In diesen Publikationen widmete sie sich auch den Anliegen und Problemen der Landbevölkerung, wobei sie die jeweiligen Lösungen in der republikanischen Idee suchten.125 Ein anderes Mitglied der Gesellschaft, Pierre Joigneaux, hatte bereits

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während der Zweiten Republik mit der Wochenzeitung „La feuille du village“ (Dorfblatt) auf sich aufmerksam gemacht. Er war zudem Mitbegründer der „Gazette du village“, die sich zu einer der wichtigsten Stimmen des gemäßigten Republikanismus im ländlichen Raum entwickelte.126 Ein noch wirksameres Kommunikationsmittel als etwa Zeitungen und Pamphlete, auch wenn die Analphabetenrate infolge der allgemeinen Schulpflicht allmählich zurückging,127 waren Festveranstaltungen, die im regionalen Raum eine große Anzahl von Menschen erreichten. Sie vermittelten sowohl den Aktivisten als auch den Zuschauern nationale und somit historische Kontinuität sowie soziale Harmonie, gleichsam das Gefühl einer großen nationalen Familie. Wenn etwa die „Société des Incas“ in Valenciennes seit den 1830er Jahren mehrere Spektakel rund um die Inkas veranstalteten, dann steckte dahinter nicht nur die Faszination, die fremde Kulturen auf das Bürgertum des 19. Jahrhunderts ausübten. Vielmehr sollte das gesellschaftliche Zusammenleben der Incas, das sich angeblich durch gegenseitige Unterstützung ausgezeichnet hatte, als Modell für den nationalen Zusammenhalt und die bürgerliche Einheit dienen. Nach dem Vorbild der „Société des Incas“ in Valenciennes wurden in Nordfrankreich mehrere andere Gesellschaften gegründet, die historische Festzüge veranstalteten und die Erlöse für wohltätige Zwecke spendeten. Zwischen 1833 und 1840 wurden etwa „Sociétés de bienfaisance“, Wohltätigkeitsvereine, in Cambrai, Douai und Dünkirchen gegründet, 1851 folgte die „Société des fêtes historique de Cambrai“.128 Eine ähnliche Rolle wie historische Festveranstaltungen übernahmen die zahlreichen Militärfeiern in den Garnisonsstädten, die in der Dritten Republik am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, abgehalten wurden. Die „armée vraiment nationale“ (wahrhaft nationale Armee), wie Staatspräsident Jules Grévy die französische Armee 1880 bezeichnete,129 betonte dabei den republikanischen Neuanfang nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und das Wiedererstarken Frankreichs. Als einziges Musikstück wurde die Marseillaise dargeboten, die 1879 zur Nationalhymne erhoben worden war und einen direkten Bezug zur Französischen Revolution von 1789 herstellte.130 Dennoch nahmen diese Militärfeiern auch einige Anleihen bei der „Fête de l’Empereur“ (Kaiserfest), die auch als „Fête du 15 août“ (Fest des 15. August) bezeichnet und anlässlich des Geburtstages von Napoleon I. begangen wurde. Napoleon III. hatte diese Feier im Jahr 1852 per Dekret eingeführt, um ein französisches Gemeinschaftsgefühl zu fördern und die Erinnerung an Napoléon Bonaparte, dessen Mythos nicht wenig zu seinem eigenen Erfolg beigetragen hatte (S. 233), aufrecht zu erhalten. So wurde etwa weiterhin der „aigle“, ein Feldzeichen, das einen Adler darstellt,

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an die französischen Truppen übergeben.131 Kontinuitäten dieser Art sind unter anderem damit zu begründen, dass Napoleon III. keineswegs in der Tradition des Ancien Régime regierte, sondern vorgab, das „Volk“ bzw. die Nation zu verkörpern, und somit breite Unterstützung in der Bevölkerung fand. 1868 zählte etwa das „Fête du 15 août“ in Le Havre über 20.000 Besucher und Besucherinnen.132 In den offiziellen Berichten über solche Feste wurde zwar niemals der Begriff „national“ verwendet, nicht zuletzt deshalb, weil „Nation“ die Assoziation mit der Republik erweckte. Dennoch waren die Feiern am 15. August ständig mit einer nationalen, damit auch indirekt mit einer republikanischen Aura umgeben. Der Bürgermeister von Lunel (Hérault) drückte etwa im Jahr 1857 seine Zufriedenheit darüber aus, wie das „nationale Fest“ am 15. August gefeiert worden war. Und auf einem Plakat, mit dem in Cavaillon (Vaucluse) das „Fest des 15. August“ beworben wurde, dominierte die Aufschrift „Fête Nationale“. Zudem waren die republikanischen Farben weiterhin bei Festveranstaltungen präsent, insbesondere bei Teilnehmern, die sich insgeheim als Republikaner oder als liberale Monarchisten, als Orleanisten, verstanden.133 Das „Fest des 15. August“ entsprach also nicht unbedingt dem von Alain Corbin beschriebenen Cäsaren-Modell einer Festveranstaltung. Dieses definiert sich durch den Triumph des Despotismus über die Demokratie; lediglich der Kaiser als höchste Staatsgewalt wird gefeiert und eine Dichotomie von Volk bzw. Nation und einzelnem Herrscher kultiviert.134 Beim „Fest des 15. August“ vermischten sich dagegen das monarchische Prinzip und die Volkssouveränität. Selbst in autokratischen Herrschaftssystemen wie dem Second Empire waren die bürgerlichen Revolutionen nicht mehr auszulöschen. Daher ließ Napoleon III. seine Politik auch immer wieder durch nachträgliche Volksentscheide legitimieren.135 Er verstand seine Herrschaft gewissermaßen als „antiparlamentarische“ bzw. „plebiszitäre Demokratie“, die später auch von den Boulangisten (S. 248) gefordert wurde.136 Die Zeitung der Bonapartisten, der „Mémorial de Lille“, schrieb 1859: „Wir waren Zeugen, daß es in Frankreich zwei wirksame, solidarische und einander unterstützende Kräfte gibt, nämlich Kaiserreich und das Volk.“137 Zur Nation, die anlässlich vieler Festveranstaltungen beschworen wurde, zählten im Übrigen nicht nur das französische Mutterland, sondern auch die Kolonien. Diese wurden als Teil eines größeren Frankreichs, als Teil eines nationalen „Wir“, betrachtet und sollten daher „zivilisiert“ werden. Bereits vor der Französischen Revolution von 1789 war eine „Société des amis des Noirs“, eine „Gesellschaft der Freunde der Schwarzen“, gegründet worden, der unter anderem Maximilien Robespierre als Mitglied angehörte. Die Nationalversammlung schaffte

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schließlich 1794, nach langem Hin und Her, die Sklaverei ab und beschloss, alle Einwohner der Kolonien, unabhängig von ihrer Hautfarbe, als französische Bürger zu betrachten. Napoléon führte die Sklaverei allerdings wieder ein, um SaintDomingue bzw. Haiti nach Sklavenaufständen wirtschaftlich zu sanieren. 1815, nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft, verbot Frankreich den Sklavenhandel, und 1833 erhielten alle indigenen Einwohner der französischen Kolonien neuerlich die Bürgerrechte. Schließlich wurde 1848 die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien nochmals durch ein Gesetz bekräftigt.138 Marianne, so zumindest die Vorstellung im französischen „Mutterland“, sollte gleichsam das Füllhorn der Zivilisation über alle Kolonien ausschütten. Mehrere ihrer Darstellungen lassen allerdings eine zwangsweise Beglückung vermuten, etwa als 1930 die Eroberung Algeriens durch französische Truppen auf einer „Hundertjahrfeier zur Befreiung Algeriens“ (Centenaire de la Libération de l’Algérie) als ein Akt der Befreiung von der Unmündigkeit inszeniert wurde. Während Delacroix’ berühmtes Revolutionsgemälde „Die Freiheit führt das Volk an“ (1830) die stolze Bannerträgerin der Freiheit noch inmitten von Gleichgesinnten zeigt, ist sie nun auf einem Propagandabild, das in ganz Frankreich verbreitet wurde, auf ein Podest erhoben. Distanz haltend und beinahe herablassend schenkt sie Algerien die Gaben der „Zivilisation“: die Alphabetisierung und Bildung, den technischen Fortschritt und die Rechtsstaatlichkeit. Zwar bekräftigen „colon“ und „indigène“, „Siedler“ und „Eingeborener“, ihren Zusammenschluss mit einem kräftigen Händedruck. Der Verdacht eines recht einseitigen Bündnisses lässt sich aber nicht verdrängen.139 Die seit Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende „Rassenlehre“ wirkte den Zivilisationsbemühen entgegen oder war letztlich sogar deren Ergebnis. Auch Frankreich trug seinen Teil zu dieser bei: Joseph Arthur Comte de Gobineau verfasst in den 1850er Jahren einen tausendseitigen „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrasse“. Darin unterscheidet er drei große „Rassen“: die „weiße“ bzw. die „arische Rasse“, die zum biblischen Adam zurückreiche, sowie die „gelbe“ und „schwarze Rasse“, die beide gegenüber der „weißen Rasse“ minderwertig seien. Durch die Vermischung mit „unterlegenen Rassen“ sei die „weiße Rasse“ im Laufe der Menschheitsgeschichte zum Teil degeneriert.140 Tatsächlich war die Rassenlehre, die auf vermeintlich wissenschaftlicher Basis die Ungleichheit der Menschen erklärte, im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) gleichsam „State of the Art“. Im erwähnten Kinderbuch „Le Tour de la France par deux enfants“ (S. 55), das 1877 in der ersten Auflage erschien, besuchen etwa die Geschwister André und Julien ein Hochseedampfschiff, das die Kolonien bereist.

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Abb. 2 „Rassenlehre“ im Kinderbuch „Le Tour de la France par deux enfants“ (1877).

Eine Abbildung zeigt „vier Menschenrassen“, wobei die so genannte „weiße Rasse“ als „die vollkommenste aller menschlichen Rassen“ bezeichnet wird.141 Das Buch wurde in mehreren Millionen Exemplaren mehrmals aufgelegt und unterstützte die Verbreitung rassistischer Vorurteile. Dazu trugen auch Plakate bei, die bis in die 1930er Jahre mit dem Bild des „petit-nègre“ („kleiner Neger“) und dem Slogan „Banania y’a bon“ (Banania, das ist gut) für das kakaohaltige Getränk „Banania“ warben. Durch sein Aussehen und sein verstümmeltes Französisch gibt sich der „petit-nègre“ der Lächerlichkeit preis: Er sei ja bemüht, wird den lachenden Zuschauern und Zuschauerinnen vermittelt, könne aber wegen seiner Herkunft die Sprache der Zivilisation dann doch nur brüchig sprechen.142 Nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte die Show des Clownduos Foottit und Chocolat, das um die Jahrhundertwende in ganz Frankreich Erfolge feierte. Chocolat wirkte lächerlich, indem ihn sein autoritärer weißer Widersacher ständig in das Hinterteil trat.143 Diese konstruierte soziale und kulturelle Hierarchie konnte als Begründung für die diffamierende und herablassende Behandlung der „indigènes“, der „Eingeborenen“ in den Kolonien, dienen. Zugleich offenbarte sie die Widersprüchlichkeit zwischen vermeintlicher „Zivilisierung“ und lebensweltlicher Praxis.

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Abb. 3 George Foottit und Rafael Padilla (ein Nachname, den der aus Kuba stammende Komödiant erst in Frankreich annahm) bildeten das Clownduo „Foottit et Chocolat“ (um 1900).

Deutlich zeigt sich an solchen Beispielen, dass das Kolonialreich dem so genannten „Mutterland“ zur nationalen Selbstdarstellung diente, zur Glorifzierung der eigenen Größe.144 Während sich die Kolonialabteilungen der Weltausstellungen und die Kolonialausstellungen zunächst auf die Präsentation fremdländischer Kulturprodukte, etwa auf das Handwerk, beschränkten, stellten sie Ende des 19. Jahrhunderts auch Menschen aus. So wurden für die Pariser Weltausstellung von 1889 auf dem Marsfeld (Champ-de-Mars) so genannte „villages nègres“ und ein „village canaque“ errichtet. Mit diesen Nachbildungen afrikanischer und pazifischer Dorfgemeinschaften sollten „Eingeborene“ in ihrer angeblich natürlichen Umgebung präsentiert werden. Die Idee, Menschen wie Tiere auszustellen,

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war bereits 1877 von Albert Geoffroy Saint-Hilaire für den Pariser Jardin zoologique (Zoologicher Garten) entwickelt worden. Als die Besucher einer Ausstellung exotischer Wildtiere mehr an den nubischen Tierpflegern als an den Tieren selbst interessiert waren, organisierte er in den folgenden Jahren mehrere Ausstellungen, in denen die „indigènes“ im Mittelpunkt standen: 1882 kamen etwa 400.000 Besucher in den Jardin zoologique, um „Galibis“ (Kali’na) aus Guyana zu betrachten. Ein Jahr später konnten rund 900.000 Besucher „indigènes“ aus mehreren Kontinenten – u.a. Singhalesen, „Araukaner“ (Mapuche) aus Chile und Kalmüken aus Sibirien – bewundern. Auf weiteren Ausstellungen wurden 1887 Askanti aus Ghana und 1888 so genannte „Hottentotten“, Khoi-Khoin aus Südafrika, präsentiert. In der Folge etablierte sich die Zurschaustellung von „Wilden“, als die man sie letztlich betrachtete, als fester Bestandteil von Jahrmärkten und Kolonialausstellungen. Solche fanden 1878, 1894, 1900, 1906, 1907 und 1922 in Marseille, Lyon und Paris statt.145 Sogar noch auf den beiden großen französischen Kolonialausstellungen von 1931 und 1937 dienten „indigènes“ als Attraktion: Ein „pavillon de l’Afrique occidentale française“ bot ein „village nègre“, ein „Negerdorf“, als Attraktion. Afrikanische Statisten stellten das Gefolge von König Behanzin dar, der Ende des 19. Jahrhunderts im Kampf um die Unabhängigkeit von Dahomey, einem Königreich an der afrikanischen Westküste, eine Niederlage erlitten hatte. Allerdings untersagte der Kolonialminister Paul Reynaud diese „curiosité malsaine“, diese „ungesunde Attraktion“, ebenso wie die Zurschaustellung von Afrikanerinnen mit „Tellerlippen“. So blieb lediglich eine Gruppe von „Kanaken“ aus Neukaledonien, der eine Besichtigung von Paris und Arbeitsplätze auf der Kolonialausstellung versprochen worden waren, als Attraktion zu „bewundern“. Die zu verrichtende Arbeit bestand allerdings darin, als Kannibalen aufzutreten und sich in Kriegsbemalung halbnackt den Ausstellungsbesuchern zu präsentieren.146 Der Romancier Didier Daenickx hat die Problematik der Kolonialausstellung von 1931 in seinem Roman „Cannibale“ (1998) thematisiert, unter anderem mit einer – historisch belegbaren – Episode, die als repräsentativ für die überhebliche Haltung der Kolonialmacht Frankreich gegenüber den „indigènes“ gelten kann: Als für die Ausstellung eingeführte Krokodile, vermutlich aufgrund falscher Ernährung, verendeten, wurden aus der Tierschau des Frankfurter Zoos neue importiert. Als Gegenleistung stellte die Pariser Kolonialausstellung einige „indigènes“ aus Neukaledonien zur Verfügung. „Wilde“ Menschen wurden gegen wilde Tiere getauscht.147

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2.3 „Zivilisierung“ des Alltags

Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem kulturellen Regelsystem drang allmählich in die kleinsten Bereiche des Alltages ein. Dabei spielte der Ausbau des Verkehrsnetzes eine zentrale Rolle. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich das gesamte Leben vor allem im lokalen Umfeld abgespielt. In die Nachbardörfer gelangte man nur, um bestimmte Produkte zu kaufen oder zu verkaufen. Nunmehr wurde die Welt durch den Straßen- und Eisenbahnbau aber „kleiner“. So verfügte Frankreich 1840 über Gemeindewege in der Länge von 13.825 Kilometern, 1870 bereits von 288.830 Kilometern. Zwischen 1859 und 1870 wuchs zudem das Eisenbahnnetz von rund 4.000 auf 17.400 Kilometer. Der „plan Freycinet“, benannt nach dem damaligen Minister für öffentliche Arbeiten, Charles de Freycinet, sah schließlich vor, die Regionalbahnen um weitere 8.700 Kilometer auszubauen. Dazu beauftragte der Staat private Bahngesellschaften und trat auch selbst als Bauunternehmer auf, womit die Grundlage für die französische Staatsbahn gelegt wurde.148 Während 1790 eine Reise von Paris bis Marseille mit der Postkutsche über acht Tage dauerte,149 war dieselbe Strecke nach dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in den 1850er Jahren in höchsten zwei Tagen zu bewältigen. Um 1900 benötigte der Schnellzug, der angeblich „schnell wie der Blitz“150 war, von Paris nach Lyon rund acht Stunden. Die Reise mit der Kutsche hatte zuvor drei Tage in Anspruch genommen. Durch die Verkürzung der Reisedauer konnte die Beziehungen zu jenen, die ihre Heimat verließen, leichter aufrechterhalten werden. Sie versorgten die Verwandten und Freunde, die nicht in die „weite Welt“ gezogen waren, mit Informationen aus den Zentren der Moderne. Die dörfliche Welt öffnete sich für Informationen, die bislang kaum rezipiert worden waren. Dafür zeichnete neben der Eisenbahn auch die allgemeine Wehrpflicht verantwortlich, die das Armeegesetz von 1818 festgeschrieben hatte. Zwar konnten sich die Rekruten bis 1873 gegen die Bezahlung eines Ersatzmannes freikaufen, die arme Landbevölkerung besaß aber kaum eine Möglichkeit, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Daher sahen sich viele junge Männer durch den Militärdienst gezwungen, erstmals ihre Heimat zu verlassen. In den Garnisonsstädten kamen sie nicht nur in Kontakt mit republikanischen und nationalistischen Ideen, sondern lernten auch städtische Lebensformen kennen und schätzen, „da die Situation der Soldaten unbestreitbar besser […] als die alltägliche auf den Landgütern“ war.151 Die Soldaten erhielten alle Tage Milchkaffee zum Frühstück sowie Weißbrot, frisches Fleisch und eine bestimmte Menge an Wein und Tabak. Außerdem standen ihnen die Verlockungen der Städte offen: Cafés, Restaurants

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und die zahlreichen Etablissements zur Unterhaltung, etwa Tanzsäle und Theater oder später auch das Kino. Manche Rekruten kehrten daher, nachdem sie ihren Militärdienst abgeleistet hatten, nicht mehr in ihre Heimatorte zurück. Jene aber, die wieder den Weg nach Hause fanden, brachten die moderne Welt in die Dörfer, weckten in der ländlichen Bevölkerung die Sehnsucht nach den Annehmlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch Angst, die zur Abschottung und zum Widerstand gegen gesellschaftliche Veränderungen führen konnte.152 Infolge der Marktintegration, die durch den Eisenbahnbau gefördert wurde, gelangten bislang unbekannte Konsumgüter auf das Land, etwa bestimmte Lebensmittel oder Konfektionskleidung. Nach 1890 setzte sich der Gebrauch von Unterwäsche durch, Arbeitskleidung wurde zunehmend auf Märkten und über Versand gekauft. Selbstgemachte Kleidungsstücke, vor allem Frauenkleider, fanden sich zwar weiterhin in den Schränken, nicht zuletzt auch dank der Verbreitung der Nähmaschine, die seit der Jahrhundertwende in vielen Haushalten zur Hausausstattung gehörte. Allerdings waren die selbstgemachten Kleider oftmals modischen Vorgaben angepasst, zumal mit Modejournalen auch Schnittbögen verbreitet wurden.153 Seit den 1870er Jahren löste etwa das einheitliche Weiß die lebendigen Farben der ländlichen Hochzeitstrachten ab, die der Heimatforscher und Schriftsteller Henri Vincenot für das Burgund folgendermaßen beschreibt: Sie [die Braut, Anm. d. V.] trägt eine vielfach gefaltete und reichlich bestickte Haube, ihre Bluse und ihr Rock sind von auffälliger und fröhlicher Farbe, ihr Schal aus Kaschmir, großzügig mit Palmetten, Blättern und Laschen in warmen Farben verziert, Schleier, rot auf schwarzem Hintergrund, mit der Nadel am Nacken zu drei Falten angesteckt, weit herabfallend auf die Waden.154

Im Languedoc und in Bresse dominierte die Farbe Grün, die die Hoffnung symbolisiert, die Hochzeitstracht, und in den ärmeren Gegenden gab sich die Braut damit zufrieden, einen bunten Schal zu einem schwarzen Kleid zu tragen, das auch für andere Zwecke gebraucht werden konnte.155 Modejournale oder auch Massenblätter wie „Le Petit Journal“ und „Le Petit Parisien“, der in den 1920er Jahren sogar eigene Moderubriken führte, vermittelten der ländlichen Bevölkerung, insbesondere den Frauen, schließlich ein erstes Modebewusstsein. Auf einer Fotografie, die den Place du Terraux in ChâteauChinon (Nièvre) um 1900 zeigt, blickt eine Gruppe von Dorfbewohnern in die

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Abb. 4 Modebewusstsein auf dem Land – eine modisch gekleidete Dame mit Schirm sowie ein Mädchen in weißem Kleidchen in Château-Chinon (Nièvre), Fotoausschnitt (1890).

Kamera, darunter ein Mädchen, das ein zu dieser Zeit übliches weißes Kleidchen trägt. Links stolziert eine modisch gekleidete Dame mit obligatorischem Schirm, ein notwendiges Modeaccessoir in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ungepflasterte Dorfstraße hinab. Das „wilde“ Land zeigte bereits Spuren der „Zivilisation“. Freilich wandelten sich die Kleidungsgewohnheiten der ländlichen Bevölkerung nur allmählich, nicht zuletzt auch, weil für sie bestimmte Kleidungsstücke unerschwinglich blieben. Oftmals fanden sich daher nur modische Halstücher, Schals oder Gürtel in den Schränken, wodurch sich traditionelle und modische Kleidung vermischten. Als der an Volkskunde interessierte Rechtsanwalt Victor de Cheverny im Jahr 1880 ein kleines Dorf in der Gemeinde Cuzy (Saône-et-Loire) besuchte, entdeckte er nur wenige modische Kleidungsstücke. Die Sonntagskleider der Frauen bestanden aus zwei Wollkleidern, zwei gestreiften Wollunterröcken, einer schwarzen Seidenschürze, einem Wollhalstuch und einer Haube aus besticktem Musselin, einem feinem Wollgewebe, ferner aus einem Paar Baumwollstrümpfe, einem Leinenhemd, einem gesponnenen Taschentuch, einem Paar Halbschuhe und einem Stoffmantel, der in den meisten Fällen ein Hochzeitsgeschenk war.156 Spätestens um 1900 fanden aber Modetrends Eingang in die ländliche Gesellschaft, wobei die Lage einzelner Gemeinden auf

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zentralen Verkehrsrouten oder in der Nähe von Provinzstädten die Öffnung der dörflichen Gemeinschaft beschleunigte. Mit dem Modebewusstsein begann sich das weibliche Idealbild der bürgerlichen Gesellschaft in der Peripherie durchzusetzen. „Werbeanzeigen […], Modezeichnungen und Drucke“, schreibt Anne Higonnet, zeigten Frauen durchgehend als unbewegte, ausdruckslose, erlesen gekleidete Mannequins in Räumen und Dekors, die Weiblichkeit symbolisieren. […] Die beabsichtigte Identifizierung sollte sich nicht auf eine individuelle Person, sondern auf eine durch Raum und Kleidung definierte Inszenierung von Weiblichkeit richten.157

Die Realität blieb freilich vom Ideal weit entfernt, zumal Frauen in den Unterschichten zum Familieneinkommen beitragen mussten, um die familiäre ­Existenz zu sichern. Es war ihnen daher unmöglich, allein für den privaten Raum – für den Haushalt, die Kindererziehung und die Regenerierung des Ehegatten – zuständig zu sein, geschweige denn für die typischen bürgerlichen Repräsentationszwecke.158 Ein regelmäßig stattfindender Salon, gleichzeitig Kommunikations- und Repräsentationsraum, war bei den Unterschichten zunächst unbekannt. Erst durch die Berichterstattung der Presse um 1900 drang der Salon als bürgerliche Attraktion, der man ohnehin nicht beiwohnen konnte, in das Bewusstsein der breiten Bevölkerungsschichten. Zeitungen wurden zunächst nur in wohlhabenden Kreisen gelesen. 1832, während der Julimonarchie, betrug die Anzahl der abonnierten Zeitungen in der Provinz (inklusive der Kolonien) und in Paris rund 53.000 Stück.159 Mitte der 1830er Jahre kam es allerdings zum Umbruch im Pressewesen: Zum einen senkte Émile de Girardin 1836 den Preis seiner neuen Zeitung „La Presse“ von 80 auf 40 Francs und deckte die Kosten, die nicht durch Abonnements beglichen werden konnten, durch Annoncen ab. Diese Praxis der Finanzierung sollte sich durchsetzen und die jährliche Auflage der Tagespresse zwischen 1836 und 1847 von 80.000 auf 180.000 Exemplare in die Höhe treiben. Girardins „La Presse“ zählte allein im Jahr 1854 35.000 Exemplare. Zum anderen gewannen Zeitungen bei einem breiteren Lesekreis Attraktivtät, weil das Literaturfeuilleton („romanfeuilleton“) eingeführt wurde, das für Themen wie Theaterkritik und Mode sowie für Fortsetzungsromane vorgesehen war. Durch den Abdruck von Alexandre Dumas’ „Capitaine Paul“ gewann etwa die Tageszeitung „Le Siècle“ im Jahr 1836 über 5.000 Abonnenten. Noch erfolgreicher waren die Fortsetzungsromane von

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Eugène Sue, etwa „Mystère de Paris“ (Die Geheimnisse von Paris), der 1842/43 im „Journal de Debats“ veröffentlicht wurde, oder sein Roman „Juif errant“ (Der ewige Jude), welcher der Tageszeitung „Le Constitutionel“ 1844/45 zu rund 15.000 neuen Abonnenten verhalf. Das Feuilleton ermöglichte gewissermaßen eine „seconde révolution du livre“,160 eine „zweite Bücherrevolution“, und schuf die Basis für die Demokratisierung der Literatur, zumal nun auch die unteren Schichten leichteren Zugang zur Literatur fanden und sich damit der Leserkreis erweiterte.161 Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Alphabetisierung, die vor allem ein Ergebnis der Säkularisierung der Grundschule und der Einführung der Schulpflicht war. Bereits in den von der katholischen Kirche geleiteten Schulen hatten Kinder in Ansätze lesen und schreiben gelernt. Ein Gesetz von 1883, die „loi Guizot“ (Gesetz Guizot), schrieb schließlich in jeder Gemeinde mit mehr als 500 Einwohnern eine staatliche Volksschule vor. Ausschlaggebend waren aber letztlich die staatlichen Schulgesetze um 1880, mit denen die allgemeine Schulpflicht von sechs bis 13 Jahre eingeführt, der Einfluss der Kirche beschnitten und der Lehrplan auf weitgehend neue Füße gestellt wurde. Nicht mehr Katechismus, sondern unter anderem Lesen und Schreiben standen im Zentrum des Unterrichtes, nicht zuletzt deshalb, weil die Dritte Republik die französische Sprache, die „langue nationale“ (S. 71), als einheitsstiftend und somit als Garant für ihren Bestand betrachtete. 1914 war der Analphabetismus, ausgenommen bei der älteren Generation, fast vollständig verschwunden. Nur noch vier Prozent der 20-Jährigen konnten weder lesen noch schreiben.162 Außerdem verbesserte sich die Lebenssituation seit den 1860er Jahren, die sich in der Reduktion der Arbeitszeit und der Erhöhung der Freizeit ausdrückte: Von 1850 bis 1930 sank die Arbeitszeit von rund 3.000 auf 2.200 Stunden pro Jahr. Zudem stieg der durchschnittliche Verdienst eines französischen Arbeiters zwischen 1840 und 1880 von 380 auf 644 Francs. Und auch die Kaufkraft erhöhte sich: Wird der Index 1840 mit 100 angesetzt, stieg er bis 1910 auf 232.163 Mit vermehrter Freizeit war auch mehr Zeit für das Lesen gegeben, die erhöhte Kaufkraft und billigere Produktion machten zugleich Bücher für die unteren Schichten erschwinglich. 1828 waren lediglich 6.000 Titel gedruckt worden, bis 1860 war die Zahl der veröffentlichten Titel bereits auf 13.500 angestiegen, 1880 auf 20.800 und kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf 33.000.164 Das Buch wurde zum Massenprodukt, war nicht mehr nur Kunstwerk, sondern auch Ware und als solches aus dem Alltag der Menschen, der durch die Konsumgesellschaft geprägt war, kaum noch wegzudenken. Nicht zufällig führte die Zeitung „Le Petit

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Parisien“ in den 1920er Jahren bereits eine eigene Rubrik mit dem Titel „À Travers Les Livres“ (Durch die Bücher). Die „Zivilisation“ fand aber nicht nur mit Hilfe von Zeitungen und Büchern ihren Weg in die Provinz. Auch bislang unbekannte Formen der Geselligkeit setzten sich durch und gaben den traditionellen sozialen Netzen und Kommunikationsstrukturen einen neuen, modernen Rahmen. So lehrte etwa das Vereinswesen im ländlichen Bereich demokratisches bzw. republikanisches Denken und Handeln, indem Statuten erarbeitet sowie der Vereinsvorstand und Vereinsausschuss gewählt wurden. „Eine Regierung […] nötigt die von ihr begünstigten Gefühle und Ideen auf“, hatte bereits Alexis de Tocqueville im zweiten Band seines Werkes „De la démocratie en Amérique“ (1835/40) erkannt. „Deshalb ist es nötig, daß sie nicht alleine handle. Die Zusammenschlüsse sind es, die in den demokratischen Völkern die mächtigen Einzelnen ersetzen müssen […].“165 Als Initiatoren von Vereinen fungierten meist Händler, Kaufleute und Handwerksmeister, die aber auch Bauern für das Vereinswesen begeisterten und diese als Mitglieder gewinnen konnten. Im Departement Sâone-et-Loire, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, befand sich um 1900 in allen Gemeinden ab 500 Einwohnern mindestens ein Verein.166 Wie in den größeren Städten dienten diese Vereine unterschiedlichsten Zwecken, etwa der Organisation oftmals miteinander konkurrierender politischer Gruppierungen, der karitativen Tätigkeit des Dorfbürgertums oder gegenseitiger Unterstützung. Die Weinbauern der Côted’Or wandelten etwa ihre „sociétés de secours mutuel“, seit dem 18. Jahrhundert gegründete Unterstützungsvereine bzw. Weinbruderschaften, im letzten Viertel des 19. Jahrhundert in Vereine um und gaben ihnen somit eine neue, bürgerliche Organisationsform.167 Vielfach übernahmen Vereine auch gesellige Funktionen oder dienten der Freizeitgestaltung, etwa Ende des 19. Jahrhunderts, als Sportvereine in Mode kamen und sich lokale Musikkapellen sowie folkloristische Gruppen ebenfalls in Vereinen organisierten.168 Damit war garantiert, dass regionale Traditionen weiterhin bewahrt blieben oder zumindest bedeutsam erschienen, auch wenn sie zunehmend einem Prozess der Folklorisierung unterworfen wurden (S. 113, 117–119). Eine ähnliche Funktion wie Vereine konnten auch regionale Theatergruppen übernehmen, die den bürgerlichen Wertekanon über das Schauspiel in die Region verpflanzten und ihn, da die Schauspieler meist aus der Region stammten, leichter akzeptierbar machten. 1894 hatte etwa der Schriftsteller Maurice Pot­ techer in Bussang (Vosges) ein noch heute bestehendes „Théâtre du peuple“, ein „Volkstheater“, „zum Vergnügen und zum Unterricht der Bergbewohner und

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ihrer Landsleute“ gegründet. Dieses Theater, das bereits um 1900 den Ruf besaß, eines der besten der Provinz zu sein, glänzte zwischen 1895 und 1935 mit 90 Produktionen. Darunter befanden sich 23 Stücke von Pottecher selbst, aber auch von William Shakespeare und Jean-Baptiste Poquelin, besser bekannt unter dem Namen Molière.169 Neben Theater und Vereinen verbreitete sich auch das Kaffeehaus im ländlichen Bereich. War dieses zunächst noch ein Ort der Begegnung von Bürgern gewesen, sozusagen eine bürgerliche Enklave innerhalb ständisch-feudaler Grenzen, kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Triumphzug des Cafés und zur Demokratisierung des Kaffeetrinkens. Jeder Getränkeausschank, von der Dorfkneipe bis zum Luxuscafé, wurde nun als „Café“ bezeichnet. In Frankreich lag das relative Wachstum der Cafés weit über jenem der Bevölkerung: Ihre Zahl stieg von 350.000 im Jahr 1865 auf 510.000 im Jahr 1937.170 Die Durchsetzung des Cafés im ländlichen Raum hing einerseits vom Bedürfnis der bürgerlichen Touristen ab, in der „Wildnis“ Frankreichs ein urbanes Ambiente aufzufinden. Andererseits war sie aber auch Ergebnis neuer Arbeitsverhältnisse, unter anderem der Lohnarbeit. Denn Bauern gingen im 19. Jahrhundert oftmals einer Nebentätigkeit in einer Fabrik nach, Knechte und Mägde erhielten nun neben Naturalien auch Geld als Lohn ausbezahlt. Durch die finanziellen Mittel, die damit zur Verfügung standen, veränderten sich auch die Begegnungsorte. Das Café ergänzte oder ersetzte die traditionelle „veillée“ (Nachtwache), eine ländliche Abendunterhaltung, bei der Frauen oder alte Dorfbewohner beisammensaßen und den Klatsch der letzten Wochen austauschten. Nebenbei wurde bei der „veillée“ meist gearbeitet, etwa im Textilverlag.171 Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verlor das Verlagswesen aber an Bedeutung und neue Kommunikationsformen setzten sich durch. So bildete nun auch das Café einen Ort des sozialen Austausches, der Raum für Klatsch, aber auch für politische Diskussionen bot. Zudem konnten sich etwa Bauern bei einem Glas Landwein über die nächste Ernte unterhalten oder über Anbaumethoden diskutierten.172 Fabrikarbeit und genau vorgeschriebene Schulzeiten veränderte schließlich auch die Zeitwahrnehmung der ländlichen Bevölkerung. Diese hatte sich bislang an den kommunal-kirchlichen Jahresablauf von Feiertagen, an den natürlichen Begrenzungen wie Tag und Nacht sowie an den Jahreszeiten orientiert. Nun setzten sich aber zunehmend, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit sowie die genaue Zeitmessung durch.173 Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts tauchten Uhren nicht nur in den Fabriken sowie an den Kirchtürmen, Rathäusern und Schulen auf, son-

2.3 „Zivilisierung“ des Alltags

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dern auch als Standuhren in den Stuben der ländlichen Bevölkerung. Nach 1880 verbreiteten sich zudem Taschenuhren, wobei ihr Besitz ein männliches Privileg darstellte und noch lange Zeit ein Zeichen des sozialen Aufstieges blieb. Zu Beginn des 20. Jahrhundert wurden Taschenuhren aber auch für den kleinen Geldbeutel erschwinglich und dienten als beliebtes Geschenk zur Kommunion oder zum Abschluss der Grundschule. In einem Ort im Morvan zählte man 1886 bereits zwanzig Taschenuhren und siebzig Standuhren in 120 Haushalten. Armbanduhren kamen dagegen erst nach 1930 in Mode.174 Die „Zivilisierung“ des Alltages schuf allerdings keine homogene Gesellschaft. Aufgrund sozialer Unterschiede und fehlender kultureller Praxis kam es vielmehr zu einer starken Binnendifferenzierung: Silberbesteck kam etwa bei den unteren Schichten nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch. Ähnlich verhielt es sich bei schöner Kleidung, die eingemottet und nur anlässlich von Hochzeiten, am Sonntag oder anderen Feiertagen getragen wurden. Es entstand eine Schonkultur, in der sich die sozialen Hierarchien spiegelten.175 Zwar gab es Ratgeber für alle Lebensbereiche, etwa Benimmbücher, die das Verhalten der guten Gesellschaft lehren sollten, oder sogar Ratgeber, wie der Sims über dem Kamin geschmückt werden sollte.176 Erschwingliche Sachbücher lehrten Wissenswertes zu einzelnen Künstlern und Kunstschulen, Volksausgaben der Werke bekannter Literaten gewährten Einblick in die bürgerliche Literatur. Mangels Praxiswissen wurden bürgerliche Verhaltensregeln, von der Kunstbetrachtung über die Tischsitten bis hin zum bürgerlichen Tanzverhalten, aber eher rudimentär angewandt. Honoré de Balzac beschreibt etwa in seinem Roman „Les Petits Bourgeois“ (1855) ein verschwenderisches Abendessen, das Mademoiselle Thuillier, eine „alte Jungfer“ und erfolgreiche Geschäftsfrau, organisiert, um die Karriere ihres Bruders zu fördern. Sie tischt dabei kostbare Weine auf und weiß auch, in welchen Gläsern Champagner, Bordeaux und Malage serviert werden müssen. Allerdings verwechselt sie die Reihenfolge der Weine und entpuppt sich damit als jemand, der nicht wirklich zur bürgerlichen Elite gehört.177 Zudem erinnernt der Nachtisch, den Mademoiselle Thuillier servieren lässt, an den als unbürgerlich geltenden „Service à la Française“ (S. 33), bei dem zu einem „Akt“ bzw. als Gang mehrere Speisen gemeinsam aufgetragen wurden: „Während der allgemeinen Fröhlichkeit […] wurden zahlreiche Deserts serviert: vier Teller mit Unmengen von Mendiants178, Pyramiden aus Orangen, Konfitüren, kandierte Früchte aus der Tiefe ihrer Vorratsschränke, die ohne den besonderen Anlass nicht auf den Tisch gekommen wären.“179 Auch Marcel Proust geißelt in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913–1927) das neureiche Pariser Bürgertum mit seiner Beschreibung der Verdu-

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rins, die sich mit ihren Hauskonzerten und exaltierten Gesprächen über Tristan und exquisites Mobilar in das gesellschaftliche Licht zu rücken versuchen.180 Während neureiche Bürger und Bürgerinnen wie Madmoiselle Thuillier oder die Verdurins sich nicht nur durch ihr Verhalten, sondern auch durch übermäßigen Prunk als nicht zur wahren bürgerlichen Elite gehörend entlarven, waren die „nouvelles couches“, der Mittelstand, und schließlich auch die Unterschichten auf billige Kopien von Geschirr oder Nachdrucke bekannter Gemälde angewiesen. Die galvanische Vergoldung ermöglichte es zum Beispiel, mit Tafelgeschirr zu prunken, das dem des Großbürgertums täuschend ähnelte.181 Kopien von Meisterwerken aus der Kunst waren zunächst noch relativ kostspielig und blieben den reicheren Mittelschichten vorbehalten.182 Seit den 1820er Jahren wandelte sich aber die Reproduktion von Kunstwerken zu einer regelrechten Industrie (S. 153). Die Lithographie ermöglichte es, Gemälde relativ schnell und günstig zu kopieren und auf den Markt zu bringen, aus Wachs und Bronze wurden in Fabriken meist verkleinerte Kopien von Skulpturen hergestellt.183 Selbst bei den bürgerlichen Verhaltensweisen zeigte sich schließlich die bürgerliche Binnendifferenzierung, etwa beim Tanz, wie anhand von Renoirs Gemälden „Danse à la campagne“ (1882/83) und „Danse à la ville“ (1883) verdeutlicht werden kann (siehe Tafel 7 und 8): In der Stadt trägt der Tänzer einen Frack und seine Partnerin ein elegantes weißes Abendkleid, die Drehung des tanzenden Paares erscheint elegant und der Raum, in dem es sich bewegt, gleicht dem idealen bürgerlichen Bewegungsraum, dem „Volumen der Freiheit“. Das dörfliche Tanzparkett, das durch eine Balustrade begrenzt ist, wirkt dagegen eineingend, ein Tisch behindert die Bewegungsfreiheit des Tanzpaares, das in seinen Drehungen eher unbeholfen erscheint und einfach gekleidet ist. Er trägt einen schlecht sitzenden Anzug, sie ein buntes, vielleicht an lokale Traditionen erinnerndes Kleid, einen roten Hut und einen Fächer, der beim Tanz eher behindert. Ein Herrenhut auf dem Boden, den vermutlich der Tänzer ob seiner Leidenschaft gerade verloren hat, grenzt ebenfalls den Bewegungsraum der Tanzenden ein. Die Regeln scheinen keineswegs verinnerlicht, sondern nur oberflächlich einstudiert. Die bürgerliche Vergesellschaftung gelang oft nur in Ansätzen oder stieß vor allem in den ländlichen Regionen, in denen Traditionen stark in der Bevölkerung verwurzelt waren, sogar auf Widerstand.

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2.4 Widerstand an der Peripherie

Der französische Historiker und Politiker Charles Alexis de Tocqueville zeigte sich im zweiten Band seines Werkes „De la démocratie en Amérique“ (Über die Demokratie in Amerika, 1835/40) überzeugt davon, dass die bürgerlich-demokratische Gesellschaft „immer durch einige Grundideen zusammengehalten“ werde. Dies sei aber nur dann möglich, wenn jeder Bürger seine Anschauungen aus derselben Quelle schöpft und eine gewisse Anzahl fertiger Überzeugungen anzunehmen bereits ist. […] Es ist zwar richtig, daß jeder Mensch, der eine Anschauung aus der Hand eines anderen empfängt, seinen Geist unterjocht; es handelt sich hier jedoch um eine heilsame Hingabe, die es erlaubt, von der Freiheit einen guten Gebrauch zu machen.184

Die bürgerliche „Unterjochung“ der französischen Peripherie, die demnach für die eingezäunte Freiheit unabdingbar war, stieß aber auf vielfältige Widerstände. Diese reichten von der Bewahrung von Bräuchen über gewalttätige Proteste bis hin zu organisierten politischen Bewegungen. Die Ursachen dafür sind unter anderem in einem verstärkten Wandel der regionalen und lokalen Lebensverhältnisse zu suchen, der von der Bevölkerung als Bruch mit dem Gewohnten empfunden wurde und das Gefühl von Unsicherheit hervorrief. Ob die bürgerliche Vergesellschaftung gelang oder auf Widerstand stieß, hing auch von zwei Systemen von Grundwerten ab, die sich in Frankreich seit dem Mittelalter in zwei Familiensystemen spiegelten:185 im Typus der „Gemeinschaftsfamilie“ und jenem der so genannten „Stammfamilie“. Die Gemeinschaftsfamilie zeichnete sich durch eine egalitäre Aufteilung der Erbgüter (Realtgüterverteilung) aus, wobei in Frankreich die Gleichheit zwischen allen Kindern, auch zwischen männlichen und weiblichen Nachkommen, hergestellt wurde. Die Stammfamilie bestimmte dagegen nur einen einzigen Nachkommen zum alleinigen Erben, während die anderen Kinder von der Erbfolge ausgeschlossen blieben. Das Zentrum des egalitären Systems bildete das Pariser Becken und setzte sich fort bis zur Region Poitou-Charantes sowie zum nördlichen Teil der Region Aquitaine; darüber hinaus fand es sich auch an der Mittelmeerküste. Dagegen umkreiste das nichtegalitäre System beinahe das egalitäre Frankreich und erstreckte sich auf die okzitanischen Gebiete, die Region Rhône-Alpes, die Bretagne, den Pays-La-Loire und die Vendée. Weiters gehörten der westliche Teil der Basse-Normandie, die am Meer gelegenen Teile der Haute-Normandie und der Picardie sowie die Region

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Nord-Pas-Calais zur nichtegalitären Zone, ebenso Flandern, das Elsass und das Gebirge der Franche-Comté. Die beiden Familientypen beeinflussten letztlich das jeweilige Menschenbild, weshalb die bürgerlich-egalitäre Gesellschaft in den nicht-egalitären Gebieten oftmals auf Widerstand stieß. Freilich lässt sich eine solche anthropologische Zweiteilung Frankreichs hinterfragen und als zu einfach kritisieren. Und ohne Zweifel ist sie für die Analyse der sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft nur in Verbindung mit anderen Faktoren geeignet, unter anderem mit klimatischen oder auch wirtschaftlichen Verhältnissen, die ebenfalls für die regionale und lokale Identitätsbildung bedeutsam waren. Während etwa im 19. Jahrhundert der Osten das industrialisierte Frankreich repräsentierte, dominierten im Westen landwirtschaftliche und kleingewerbliche Betriebe, die durch die Modernisierung in ihrer Existenz teilweise gefährdet waren. Zudem erwies sich die Landwirtschaft als Sektor mit zwei Geschwindigkeiten, wobei sich erste Ansätze von Modernisierung vor allem im nördlichen und östlichen Frankreich bemerkbar machten.186 Folglich waren bestimmte Regionen aufgrund des wirtschaftlichen Fortschrittes gegenüber Neuerungen eher aufgeschlossen als andere, in denen weiterhin das Ideal der ständischen Gesellschaftsordnung wirksam war, in der jeder seine angeblich von Gott gegebene soziale Stellung einnehmen sollte.187 Der Widerstand, der sich infolge der ideologischen Infiltration sowie des Wandels der Arbeits- und Lebenswelten in den ländlichen Gesellschaften formierte, reicht bis in die Zeit der Französischen Revolution zurück. So lässt sich etwa die Konterrevolution in der Vendée von 1793 unter anderem mit den tief verwurzelten religiösen Gefühlen in diesem Gebiet erklären, die durch den revolutionären Antikatholizismus verletzt wurden. Die Bauern der Vendée – im Übrigen ein Gebiet, in dem das nichtegalitäre Familiensystem üblich war – wandten sich aber auch gegen die Einführung von Steuern und gegen die Rekrutierung von Soldaten, zumal damit unentbehrliche Arbeitskräfte verloren gingen.188 Paris oder besser: der zentralistische Staat, der gleichsam als Synomym für die bürgerliche Gesellschaft und den Republikanismus galt, wurde daher nicht nur in der Vendée zu einem erklärten Feindbild. Bestätigt wurde dieses Feindbild in den 1830er Jahren, als der Staat traditionelle Gewohnheitsrechte wie die Allmende abschaffte. Die Sozialbindung des Eigentums widersprach dem bürgerlichen Besitzdenken und dem römischen Recht, als Tradition war sie aber fest in der ländlichen Moralvorstellung verankert. Das Ausmaß und die Problematik dieses staatlichen Eingriffes lassen sich erahnen, wenn berücksichtigt wird, dass zum Beispiel in der Côte-d’Or rund 60 Prozent des Gemeindegebietes zur Allmende zählten.189

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Ähnliche Probleme wie die Abschaffung der Allmende bereitete auch die Abnahme der Kirchenglocken, die bereits während der Französischen Revolution von 1789 die Gemüter der ländlichen Bevölkerung erhitzt hatte. Immerhin regelte die Kirchenglocke den dörflichen Alltag und war Teil des dörflichen Werte- und Regelsystems. Sie teilte die Arbeitszeit ein, läutete zum Kirchgang und begleitete einen in das Grab. „Die ländlichen Glockengeläute des 19. Jahrhunderts“, schreibt Alain Corbin, zeugten von einer anderen Beziehung zur Welt und zum Heiligen, von einer anderen Art des Menschen, sich in Zeit und Raum einzufügen, und auch von einer anderen Art, dies zu zeigen. Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.190

Neben der Abschaffung der Allmende und der Abnahme der Kirchenglocken bedeutete auch die gesetzliche Einführung der Schulpflicht und des säkularisierten Schulwesens Anfang der 1880er Jahre einen empfindlichen Eingriff in die Arbeits- und Lebensgewohnheiten der ländlichen Bevölkerung. Die Bauern betrachteten etwa ihre Kinder als billige Hilfskräfte in der Landwirtschaft und maßen der schulischen Ausbildung daher nur geringen Stellenwert bei. In den Regionen, die noch stark vom Katholizismus geprägt waren und meist zum nichtegalitären Frankreich zählten,191 wurden die staatlichen Grundschullehrer und Grundschullehrerinnen als Sendboten des Teufels betrachtet, der das Paradies mit der Sünde, den bürgerlichen Werten und Normen, zu zerstören drohte. Eine 20-jährige Grundschullehrerin stieß etwa in Gray (Haute-Saône) auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung, als sie Anfang der 1880er Jahre drei „religieuses“, drei Klosterschwestern, ersetzen sollte. Eine von ihnen hatte bereits 34 Jahre in der Gemeinde gelebt. Der „seigneur du village“, ein Vertreter der Notabeln (S. 104), dem die Bevölkerung offenbar noch untertänig verbunden war, stellte ein Château für die „bonnes sœurs“, die „guten Schwestern“, zur Verfügung, um weiterhin den konfessionellen Unterricht zu garantieren. „Es war im Winter“, schreibt Marguerite, die neue Grundschullehrerin, in der feministischen Tageszeitung „La Fronde“192 (Der Aufstand), „ich komme in die Mitte einer Bevölkerung, die sich in Aufruhr befindet. War es nicht eine Schande, eine

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Infamie, diese armen Schwestern mitten im Winter wegzuschicken und sie durch wen zu ersetzen? Durch eine konfessionslose staatliche Lehrerin, eine Tochter des Teufels, der man am Tag ihrer Ankunft die Hörner zeigte. […] Acht Monate hindurch habe ich verzweifelt gekämpft, habe ich Blut geweint. Ich war nicht nur den Verleumdungen der Klatschweiber des Dorfes ausgesetzt, sondern auch den Angriffen der lokalen und reaktionären Presse; und ich war 20 Jahre alt! Und dazu noch alle meine Illusionen!“193 Konflikte zwischen staatlichem Schulwesen und Katholizismus finden sich bis in die Zwischenkriegszeit. In Cavagnac (Lot) verbarrikadierte die von der Kirche aufgehetzte Bevölkerung Anfang der 1930er Jahre das Schulgebäude und verweigerte dem Lehrer die Schlüssel. Damit sollte der gemeinsame Unterricht von Mädchen und Jungen, der in kleinen Schulen mit nur einer Lehrperson zumeist üblich war, verhindert werden.194 Neben wirtschaftlichen Veränderungen, die den Gebrauch bestimmter, an Arbeitsprozesse gekoppelter Begriffe unnötig machte, trug die säkularisierte Grundschule zum Niedergang der regionalen und lokalen Dialekte, des „patois“, bei. Galt doch die Beherrschung der französischen Sprache als Voraussetzung für den Eintritt in die Nation und war daher als Unterrichtsprache vorgeschrieben. So wurde etwa in der Côte-d’Or noch um 1830 der dortige Dialekt gesprochen, bis in die 1860er Jahren soll dieser aber bereits weitgehend durch Französisch verdrängt worden sein.195 Tatsächlich gingen jedoch die lokalen und regionalen Dialekte trotz einer auf Vereinheitlichung ausgerichteten Sprachpolitik in vielen Regionen nur allmählich bzw. nur in bestimmten Lebensbereichen zurück. Dies hing unter anderem damit zusammen, dass die ländliche Bevölkerung in amtlichen Angelegenheiten die französische Sprache, in der Alltagskommunikation aber auch weiterhin dialektale Formen verwendete. Zudem setzte sich entlang der Durchzugsstraßen das nationale Idiom schneller durch als in den abgelegenen Regionen. Wie sich etwa in den beiden burgundischen Departements Sâone-et-Loire und Côte-d’Or zeigt, konnte die Bevölkerung der Agglomerationen schneller und besser lesen als in Gebieten mit Streusiedlungen, die durch schlechte Verkehrsverbindungen zunehmend in das Abseits gerückt wurden.196 Die modernen Kommunikationsmittel, im 20. Jahrhundert auch das Radio, machten die Landbevölkerung schließlich mit der französischen Sprache zunehmend vertraut und trugen zur allmählichen Verdrängung des „patois“ bei.197 Das hartnäckige Festhalten an den regionalen und lokalen Dialekten ist auch damit zu erklären, dass diese nicht auf eine rein verbale Sprache reduziert werden können. Der „patois“ beinhaltete auch nonverbale Elemente, bestimmte Verhaltens- und Handlungsformen. „Patois war nicht nur Sprache“, schreibt James R.

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Lehning, „sondern auch ein ursprünglicher, passiver und irrationaler kultureller Ort, wo die Mentalität bei den Einheimischen abgelesen werden konnte.“198 Folglich bedeutete der Verlust der traditionellen Sprache letztlich auch den Verlust herkömmlicher Lebenswelten, den radikalen Wandel der Identität, weshalb dialektale Sprachformen nur mit Widerstand aufgegeben wurden. Der Wandel der sozialen Räume spiegelt sich folglich nicht sofort im Wandel des Habitus, wie Pierre Bourdieu über Generationen überlieferte Verhaltens- und Handlungsdispositionen bezeichnet.199 Vielmehr erfolgte bei einschneidenden Veränderungen zunächst ein starkes Festhalten an Traditionen, die dem bisherigen Leben seinen Sinn verliehen und den Eindruck von Sicherheit oder Geborgenheit vermittelt hatten. Nicht von ungefähr formulierten 1907 die südfranzösischen Weinbauern in ihrem Kampf gegen die staatliche Agrarpolitik, die den Zuckerrübenanbau forcieren wollte, ihre Parolen in gewohnter okzitanischer Sprache.200 Traditionelle Formen der Kommunikation waren langlebig, wie die Resistenz überlieferter Redewendungen zeigt. Wenn etwa in Thorey-sous-Charny (Auxois) in den 1990er Jahren eine Verarbredung auf dem Kirchplatz vereinbart wurde, sprach man noch davon, „sich auf dem Friedhof zu treffen“, obwohl sich dieser bereits seit 1920 außerhalb des Dorfes befindet.201 Die Feststellung Alain Corbins für das beginnende 19. Jahrhundert, dass „das Ende der Bestattung in dem aufgelassenen Friedhof […] für die betroffenen Gemeinden Ereignisse […] von erheblicher Tragweite“ darstellten,202 ist ohne Zweifel auch für spätere Zeiten zutreffend. Ähnlich verhielt es sich auch beim Aberglauben, der einen Gegenpol zum bürgerlichen Rationalismus darstellte und an dem die ländliche Bevölkerung zäh festhielt. Damit sollten die als Bruch empfundenen Veränderungen zumindest vorübergehend kompensiert und das Gefühl von Stabilität bewahrt werden. Beliebt war etwa der „Almanach Mathieu Lansbert“, der auch als „Almanach Mathieu Laensberg“ oder als „Almanach Liége“ (Lütticher Almanach) bezeichnet wurde. Dabei handelte es sich um ein astrologisches Handbuch, das unter anderem den angeblichen Einfluss der Sterne auf das Klima und die Landwirtschaft beschrieb. Zwar hatten Wissenschaftler wie Jean-Baptiste de Monet Lamarck (S. 44) mit seinem „Annuaire météorologique“ (Meteorologisches Jahrbuch) bereits um 1800 diese Art von Aberglauben bekämpft. Solche Werke waren aber meist viel zu gelehrt und sprachlich zu kompliziert, um Popularität zu erlangen. Freilich versuchten findige Verleger, die Titel der neuen Bücher den alten Almanachen anzugleichen und somit den Absatz zu erhöhen. So kamen etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein „Petit Liégois“ und ein Almanach

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mit dem Titel „L’Astrologue parisien ou le Nouveau Mathieu Laensberg“ (Pariser Astrologe oder neuer Mathieu Laensberg) im Umlauf, die aber nur geringe Verbreitung fanden. Erfolgreicher waren Handbücher, die sich etwa der Naturheilkunde auf rationaler Weise bedienten, etwa das „Handbuch zur praktische und vernünftige Anwendung medizinischer Pflanzen“ (Traité pratique et raisonné de l’emploi des plantes médicinales, 1850) von François Joseph Cazin203, das noch bis zum Zweiten Weltkrieg weite Verbreitung fand. Dem Aberglauben war aber dennoch nur schwer beizukommen. In manchen Regionen bewahrten die „sages-femmes“, die Hebammen, noch bis in die 1920er Jahre die Nabelschnüre von Neugeborenen auf, womit die Bindung zwischen Mutter und Kind erhalten werden sollte. Und auch der Brauch, die Zunge von Neugeborenen zu beschneiden, um ihnen später das Sprechen zu erleichtern, wurde weiterhin praktiziert.204 Selbst die Kirche, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen die Volksfrömmigkeit ankämpfte, stieß auf heftigen Widerstand. Die Bewohner von Burgnac (Haute-Vienne) empörten sich etwa 1874 über den Ortspfarrer, weil er sich geweigert hatte, für eine gute Ernte zu beten und an der alljährlichen Ernteprozession am 21. Juni teilzunehmen. Schließlich versprach dieser aber, sich durch Gebete wenigstens indirekt an diesem Volksbrauch zu beteiligen. Als ein Großteil der Ernte durch Hagel vernichtete wurde, war der Schuldige schnell gefunden: der Pfarrer. Daraufhin belagerten tobende Bauern das Pfarrhaus, das von der Gendarmerie, paradoxerweise von der weltlichen Macht, beschützt werden musste.205 Die Kirche tat folglich gut daran, die Volksfrömmigkeit in ihre Liturgie zu integrieren und etwa den lokalen Heiligen, der in vielen Dörfern noch vor Gott angerufen wurde, zu ehren. Der Schriftsteller Fréderic Mistral beschreibt etwa eine Zeremonie, die alljährlich am 2. Juni in einer kleinen Gemeinde des Departements Bouches-du-Rhône zu Ehren des heiligen Marcelin abgehalten wurde und die Bedeutung von lokalen Heiligen in der Dorfgemeinschaft belegt: Um sieben Uhr (Sommerzeit), die Prozession, nur aus Männern zusammengesetzt, verlässt die Pfarrgemeinde, den Reliquienschrein tragend, und wendet sich, begleitet vom Klang der Musik und von Lärm, der Kapelle (romanisch, aus dem 12. Jahrhundert, in der Nähe eines gallo-römischen Friedhofes) zu. Jeder Mann trägt eine Flasche Wein, die grundsätzlich den diesjährigen Wein enthält. Die Teilnehmer treten in die Kapelle, wo der Priester einen roten Überzug umlegt und eine Lobrede für den Heiligen hält, gefolgt von einer Segnung der Flaschen: Jeder hält die entkorkte Flasche hoch und, sobald der Wein gesegnet ist, trinkt er

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davon einen Schluck. Geistlichkeit und Gemeinderat trinken aus einem Becher den vom Dorf gespendeten Wein […]. Der Rest der Flasche wird als Wein für die Kranken gewissenhaft aufbewahrt und bleibt den Familienmitgliedern im Falle von Krankheit vorbehalten.206

Der drohenden Verlust solcher Traditionen ließ Regionalbewegungen entstehen, die sich vor allem den Erhalt des Brauchtums und des „patois“, damit in Verbindung auch die Aufwertung der einzelnen Regionen zum Ziel setzten.207 Einer der bedeutendsten Regionalbewegungen war der „Félibrige“, der 1854 in der Provence von sieben jungen und religiös inspirierten Literaten, den „félibres“, gegründet wurde: Théodore Aubanel, Jean Brunet, Jules Giera, Anselme Ma­thieu, Frédric Mistral, Jospeh Roumanille und Alphonse Tavan. Mistral, der als zentrale Figur des Félibrige gilt, soll den Begriff „félibre“ in einem alten „cantilène“, einem alten Chanson, gefunden haben, in dem es heißt, dass die Jungfrau Maria ihren Sohn eines Tages im Tempel „emé li set felibre de la lei“, inmitten der sieben „félibres“ des Gesetzes, inmitten von sieben Rechtsgelehrten, fand. Der Begriff selbst basiert auf dem lateinischen „fellebris“, der Nahrung der Musen.208 Dem Félibrige durften auch Schriftstellerinnen beitreten, die – wie etwa Marie Gasquet – zur „reine du Félibrige“ gekürt werden konnten. Das Ziel dieser literarischen Bewegung war es, einerseits die okzitanischen Dialekte zu bewahren, andererseits eine „authentische“ Literatur des Südens wiederzuerschaffen. Damit war letztlich ein konservatives ideologisches Programm formuliert, zumal Kultur niemals statisch sein kann, sondern sich vielmehr in einem ständigen Wandlungsprozess befindet. Um besser wirken zu können, teilte der Félibrige im Jahr 1876 den „territoire d’oc“ in vier Distrikte: Provence, Languedoc, Aquitaine und Catalogne. Diese wurden von 15 „majoraux“ (Kommandanten) geleitet, die aus ihrem Kreis einen „capoulié“ (Großmeister) auswählten, der an der Spitze der jeweiligen „maintenance“, wie die Vereinssektionen genannt wurden, stand.209 Die Regionalbewegung des Félibrige war modellbildend und wurde von Gelehrten, Intellektuellen und Pfarrern nachgeahmt, um regionale Traditionen bzw. jene kulturellen Konstrukte, die dafür gehalten wurden, zu pflegen.210 1890 gründete etwa der junge Journalist Louis de Nussac einen Félibrige im Limousin, wobei der Landpfarrer Joseph Roux als eigentlicher geistiger Vater dieser Regionalbewegung gilt. Roux war der Typus des niederen Geistlichen, der mitten im Volk wirkte, den regionalen Dialekt sprach und sich auch um die Pflege des heimatlichen Idioms kümmerte.211 Indem der niedere Klerus die Regionalsprachen, die „patois“, als

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Grundlage seines seelsorgerischen Wirkens betrachtete, stellte er eine treibende Kraft des Regionalismus dar.212 Während es dem Félibrige zunächst noch um die Interessen einer einzelnen Region ging, wurde der Begriff „Regionalismus“ bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wichtiger Bestandteil eines politischen und sozialen Programmes, das für die Regionen weitgehende Unabhängigkeit vorsah.213 Damit verbunden war auch die Forderung, die Departements aufzuheben. Diese waren während der Französischen Revolution geschaffen worden, um die alten Provinzen als Symbole des Ancien Régime vergessen zu machen. Als Frédéric Amouretti und Charles Maurras, der bald eine Leitfigur der extremen Rechten werden sollte, im Jahr 1892 ein „manifeste fédéraliste“ veröffentlichten, unterzeichneten auch einige Félibres. Damit deklarierten sie sich als Anhänger der regionalen Autonomie und einer Föderation der französischen Provinzen.214 Ein solches Programm kam, insbesondere wenn es um den Erhalt der Traditionen und damit der hierarchischen Gesellschaftsordnung ging, den Notabeln entgegen. Zu diesen zählten die Angehörigen der traditionellen Oberschicht, die nicht immer großen Reichtum besitzen mussten. Vielmehr definierte sich ihre Bedeutung durch ihre soziale Stellung in der Gesellschaft sowie durch einen bestimmten Lebensstil. Sie konnten dem Adel, dem Klerus oder auch dem stätdtischen Bürgertum angehören. Insbesondere in den Regionen, die noch relativ isoliert von den modernen bürgerlich-egalitären Zentren waren, übten sie starken Einfluss auf die ländliche Bevölkerung aus.215 Noch Mitte der 1870er Jahre beherrschten sie etwa die Bretagne und den Nord-Pas-de-Calais, zum Teil auch den Süden des Massif central und die Franche-Comté.216 Manchmal konnten die Notabeln ihre Macht aber auch in Gegenden behaupten, in denen äußere Einflüsse besonders stark wirkten, etwa im Morvan, einem Teil der Côted’Or, wo durch die Migration seit Langem in die herkömmlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse eingegriffen wurde und die Notabeln vorgaben, die agrarische Gemeinschaft gegen die Republik zu verteidigen.217 Zum Teil übernahmen auch bürgerliche Unternehmer im ländlichen Bereich die paternalistischen Praktiken der Notabeln und orientierten sich an den sozialkatholischen Ideen von Frédéric Le Play und René La Tour du Pin. Diese hatten das Konzept einer ländlichen Gesellschaft entworfen, die durch die traditonellen Eliten gelenkt werden sollte, indem sich diese nicht völlig dem industriellen Universum verschlossen, sondern die negativen sozialen Auswirkungen der Industrialisierung durch Paternalismus bekämpften.218 Zu diesen bürgerlichen Unternehmern, die mit dem „syndicalisme des ducs“, der „Gewerkschaft der Herzöge“, sympathi-

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sierten, gehörte etwa der Direktor der Eisenhütte in Rosière (Cher), der zugleich Bürgermeister des Dorfes und Abgeordneter im „Conseil général“ war, der Versammlung der gewählten Volksvertreter in einem Departement. Mit seiner Politik der sozialen Absicherung, die auf paternalistischen Überlegungen beruhte, gelang es ihm, bis zu Beginn der 1890er Jahre die Löhne auf niedrigem Niveau zu halten und das Gefühl eines gewissen gesellschaftlichen Status quo zu wahren.219 Das Beispiel von Le Play und La Tour du Pin zeigt, dass sich die Gegner der modernen bürgerlichen Gesellschaft zunehmend gezwungen sahen, die Wandlungsprozesse nicht nur zu akzeptieren, sondern sich auch der Mittel der „Zivilisation“ zu bedienen. Sie gründeten etwa Zeitungen und organisierten sich in Vereinen, um sich Gehör zu verschaffen und Widerstand leisten zu können. Ihre Argumente sowie ihr Verhalten und Handeln wurden Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit.220 Als 1884 ein Gesetz („loi Waldeck-Rousseau“) das Verbot von Gewerkschaften aufhob und damit auch Vereinsgründungen im Bereich der Landwirtschaft ermöglichte, gründeten etwa adelige Notablen die „Société d’agriculture de France“ (Französische Landwirtschaftsgesellschaft). Diese Gesellschaft verteidigte zwar traditionelle Werte, etwa die Treue zum Katholizismus, und stand dem Staat misstrauisch bis ablehnend gegenüber, allerdings formulierten die Mitglieder ihre Kritik über eine moderne Organisatiosform und somit auf moderne bzw. bürgerliche Weise.221 Diese Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft bei gleichzeitiger Kritik an ihr lässt sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten. So entstand etwa in der Region Franche-Comté, die seit der Französischen Revolution kein eigenständiges Verwaltungsgebiet mehr darstellte, sondern in Departements aufgeteilt worden war, eine starke regionale Gegenbewegung. Die adeligen Salons in der Franche-Comté waren nicht nur kulturelle Orte, an denen literarische Soireen, Bälle und Konzerte veranstaltet wurden, sondern auch Orte politischer Diskussionen. Der Salon der Comtesse de Guitant entwickelte sich beispielsweise zu einem Zentrum legitimistischer (S. 238) und regionalistischer Bestrebungen, und es verwundert nicht, dass mehrere Gäste, die den Salon regelmäßig besuchten, eine Zeitschrift gründeten, mit der sie der Region ihre vermeintliche Identität wieder zurückzugeben beabsichtigten.222 Louis de Vaulchier, der Initiator der Zeitschrift und ein vehementer Gegner der Julimonarchie, beabsichtigte, die „alte Grafschaft Bourgogne wiederzuerrichten: nicht um zu den politischen Ideen des Mittelalters zurückzukehren, sondern um unsere alten Freiheiten zurückzufordern, unser kommunalen Grenzen, unsere familiäre Verwaltung, un-

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sere urwüchsige und edle Sprache.“223 Andere Zeitschriften sollten nachfolgen, etwa die zwischen 1838 und 1841 herausgegebene „Revue de la Franche-Comté“, die sich schließlich in die „Revue franc-comtoise“ und in das „Album franccomtois“ spaltete. Die „Revue franc-comtoise“ beschäftigte sich vor allem mit regionalgeschichtlichen Themen, während sich das „Album franc-comtois“ der regionalen Poesie widmete. Als Vorbild der „Revue de la Franche Comté“ hatte im Übrigen die zwischen 1836 und 1839 in Dijon herausgegebene Zeitschrift „Les Deux Bourgognes. Études provinciales“ (Die zwei Burgunds. Regionale Studien) gedient, die sich unter anderem der regionalen Literatur widmete, wobei die kulturelle Vorherrschaft von Paris einen ständigen Angriffspunkt bildete.224 Eine solche kaum reflektierte Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft war auch möglich, indem Traditionen in ihren Bedeutungen neu aufgeladen wurden. In der Dritten Republik wandelte sich etwa die religiöse Praxis der Prozession in eine politische Manifestation, in eine Demonstration im modernen Sinn des Wortes. Damit erhielt sie eine durchaus demokratische Funktion, indem sie die Möglichkeit bot, eine – wenn auch möglicherweise dem bürgerlichene Normenund Wertesystem gegenüberstehende – Meinung zu äußern und wirkungsvoll auf sich aufmerksam zu machen. Das Innere der Kirche, das nur eine begrenzte Anzahl von Menschen fassen konnte, eignete sich im Zeitalter der Massenkommunikation nur noch bedingt als politisches Podium. Nicht nur das liberale Bürgertum und die Arbeiterschaft, sondern auch die Kirche eroberte somit den öffentlichen Raum und bediente sich des offenen Diskurses, des Spieles der miteinander konkurrierenden Meinungen in Rahmen bestimmter Regeln.225 Angesichts des Widerstandes, auch wenn dieser zumindest auf politischer Ebene in den offenen Diskurs integriert wurde, musste die bürgerlich-republikanische Gesellschaft das Vertrauen der ländlichen Bevölkerung gewinnen. Vor allem für die Dritte Republik sollte sich dies als überlebensnotwendig erweisen, zumal die Bauern durch das (auf Männer beschränkte) allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht zu einem bedeutenden politischen Faktor geworden waren. Aufgrund der verhältnismäßig späten Industrialisierung stellten die landwirtschaftlich Beschäftigten immerhin den größten Bevölkerungsanteil. Außerdem war der Bestand der Dritten Republik in den 1870er Jahren noch keineswegs gesichert und selbst nach einer Phase der Stabilisierung sollte sie durch die BoulangerKrise (S. 248) und die Dreyfus-Affäre (S. 249) neuerlich gefährdet werden. „Die Zustimmung und die Treue zur Republik [...] wird ein ‚Fundament aus Granit‘ für die Regierung“, schreibt Michel Winock.226 Dieses Fundament war aber nur zu errichten, wenn die Peripherie nicht erobert, sondern in die Republik

2.4 Widerstand an der Peripherie

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integriert werden konnte. Das erwies sich allerdings als schwierig, nicht zuletzt weil die konservative Ausrichtung eines großen Teiles der ländlichen Bevölkerung aus städtischer Sicht bzw. aus dem Blickwinkel anderer sozialer Gruppen inakzeptabel erschien und somit auch Feindseligkeiten hervorrief. Insbesondere in Arbeiterkreisen kursierte das Bild des „Wucherers“, des geldgierigen Bauern. Im Departement Pas-de-Calais belagerten etwa 1911 Bergarbeiterfrauen mehrere Bauernhöfe und zwangen damit die Bauern, Eier und Butter unter dem extrem hohen Marktpreis zu verkaufen. Solche Feindseligkeiten trugen freilich nicht dazu bei, die ländliche Bevölkerung für die Republik zu begeistern, sondern eher ihr Misstrauen zu schüren. Der Historiker Michel Winock meint daher, dass durch die Verachtung, die die städtische gegenüber der ländlichen Welt hegte und die sich etwa auch in den Romanen von Honoré de Balzac oder Émile Zola spiegelt, zur Konstruktion eines gemeinsamen, ganz Frankreich übergreifenden Verhaltens der Bauern geführt habe.227 Diese Einschätzung scheint allerdings zu pauschal, zumal regionale und lokale Spezifika weiterhin das Verhalten der ländlichen Bevölkerung prägten. Außerdem ließen der katholische und jakobinische Agrarismus228 ein einheitliches Verhalten nur bedingt zu. Der katholische Agrarismus hatte seinen Wurzeln in der traditionellen ländlichen Gesellschaft, die durch die Notabeln (S. 104), die Aristokratie und die bürgerlichen Grundbesitzer, dominiert wurde. Ein Großteil der Notabeln stand der industriellen Gesellschaft feindlich gegenüber und vertrat eine Ideologie, die auf dem gleichsam organischen Konzept einer hierarchisch organisierten ländlichen Welt basierte, in der jeder seine Funktion zu erfüllen hatte. Für den jakobinischen Agrarismus symbolisierte dagegen der mit der Erde verbundene Bauer die Verbundenheit zu Frankreich, somit zur Nation und Republik.229 Der katholische und der jakobinische Agrarismus mündeten allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer gemeinsamen Verteidigung und Mystifikation der ländlichen Gesellschaft. Das ländliche Leben wurde der „surindustrialisation“ gegenübergestellt. Mehrere gemäßigte Republikaner fühlten sich dieser Bewegung verbunden, unter anderem Jules Méline, Agrarminister von 1896 bis 1898. In seinem Buch „Le Retour à la terre et la surproduction industrielle“ (Die Rückkehr zur Erde und die industrielle Überproduktion, 1905) beschreibt er die Geschichte der Industrialisierung und sieht diese in einer Phase der „surproduction“, der „Überproduktion“, angelangt. Dieses Phänomen erkläre sich aus der Maschinisierung, die letztendlich zu menschenleeren Fabriken führe. Méline stellt daher eine Art Axiom auf: Die Quantität der menschlichen Arbeit hat die Tendenz, sich zu vermindern anstatt sich zu vermehren. Es gibt

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

nur einen Bereich, der die Arbeitskräfte ohne Beschäftigung absorbieren kann: „die Erde, die Trost für alles Elend hat und diejenigen, die sie lieben und ihr vertrauen, niemals verhungern lässt.“230 In der ländlichen Gesellschaft herrsche noch Tugend, und die Malaise der Stadt und der industrialisierten Zentren stünden der Widerstandsfähigkeit des Landes gegenüber. Eine „démocratie propriétaire“, eine „Demokratie der Eigentümer“, beruhend auf der Familie, wird gefordert. „Schon bevor es die Devise des Vichy-Regimes war“, schreibt Michel Winock, „wird also ‚Travail, Famille, Patrie‘ [Arbeit, Familie, Vaterland, Anm. d. V] überschwenglich von einer republikanischen Strömung gefeiert“.231 Die Dualisierung zwischen „rechts“ und „links“, zwischen katholisch und republikanisch löste sich partiell auf. Méline formuliert mit seiner „democratie propriétaire“ letztlich ein Programm, das von der extremen Rechte seit den 1880er Jahren (S. 243) aufgegriffen wurde und von ihr noch heute propagiert wird.232

2.5 Integration der Peripherie

Die historische Forschung ist lange Zeit davon ausgegangen, dass die Provinz durch Okkupation verbürgerlicht und republikanisiert wurde und der Begriff der Dezentralisierung vornehmlich den Feinden der Republik, vor allem den Monarchisten, vorbehalten gewesen sei.233 Tatsächlich war aber auch die bürgerlich-republikanische Gesellschaft an der Peripherie und an deren Spezifika interessiert, übernahm diese sogar in ihr kulturelles Repertoire, um sich Eintritt in die ländlichen Gesellschaften zu verschaffen. Die bürgerlich-republikanische Gesellschaft sollte nicht als Bedrohung empfunden werden, sondern sich in den lokalen und regionalen Lebenswelten entfalten, ohne dabei das Gefühl von Unsicherheit hervorzurufen. Eine Verbürgerlichung „von oben“, eine kulturelle Zwangsbeglückung. musste vermieden werden. Der „Kolonisierungsthese“, die eine weitgehende monokausale Einflussnahme der Moderne auf die ländliche(n) Gesellschafte(n) annimmt, ist daher eine relative Autonomie der Peripherie bei der Verarbeitung der von außen eindringenden Denk- und Verhaltensmuster entgegenzuhalten. Ohne Zweifel haben in Frankreich der wirtschaftliche Fortschritt, die Durchsetzung bürgerlich-urbaner Lebensformen und der französischen Sprache sowie der Prozess der Nationalisierung die ländlichen Gesellschaften in eine französische verwandelt. Dabei überlebten aber bestimmte lokale und regionale Bindungen nicht als Überreste einer längst vergangenen Welt, sondern als eine Basis, auf der die Bevölkerung erst eine bürgerliche und somit nationale

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Identität entwickeln konnte. Indem nämlich die Region als konstituierender Teil der gesamten Nation betont wurde, erhielten die an überschaubare Räume gebundenen Identitäten plötzlich auch nationale Bedeutung.234 Reiseschriftsteller, Wissenschaftler, vor allem Geografen und Historiker, sowie Journalisten trugen mit ihren Arbeiten dazu bei, die unterschiedlichen Regionen in eine französische Landschaft einzufügen, die durch ihre Vielfalt – die anmutigen Berge, sanften Ebenen, stillen Seen, ruhig dahinfließenden Flüssen und das unendlich erscheinende Meer – wie ein pittoreskes Gemälde wirkt. Einer der ersten, die diese Landschaft glorifizierten, war Jules Michelet mit seinem 1833 erschienen „Tableau de la France“.235 Zwei Jahre später publizierte Abel Hugo „La France pittoresque“, das landschaftliche Sehenswürdigkeiten, Denkmäler und berühmte Personen nach Regionen auflistet.236 Besondere Bedeutung besitzt auch Vidal de La Blaches „Tableau de la géographie de la France“, der 1903 als erster Teil der von Ernest Lavisse herausgegebenen „Histoire de France“ erschien. Frankreich wird darin eine „einzigartige Physiognomie in Europa“ zugestanden, die sich aus einem andernorts nicht vorhandenen „Reichtum von Tonleitern“ ergebe.237 Eine dieser „Tonleitern“ war zum Beispiel die Côte-d’Or, die der „GuideJoannes“238, der französischen Baedeker, als „Garten“ und „Vorratskammer“ Frankreichs beschreibt. Damit wird zugleich die Vielfältigkeit und somit auch Einzigartigkeit der französischen Nation bzw. der Dritten Republik betont: Dieses Land zwischen Jura und Morvan ist nicht nur eine anmutige und pittoreske Region, sondern auch ein reicher und fruchtbarer Boden: hier die Wiesen, dort die Weinstöcke, das Weideland, das ein hervorragendes Vieh ernährt, berühmte Weinstöcke, aus denen der beste Wein der Welt erzeugt wird, überall oder fast überall Wälder, alles ist um diese Côte d’Or mit ihren so hinreißenden Landschaften, ihren so vielfältigen Ressourcen versammelt, alles ist um sie gruppiert, um daraus einen Garten und einen Keller Frankreichs zu machen.239

Die vielfältigen Landschaften wurden in der Vergangenheit verankert und bildeten somit einen Teil der nationalen bzw. republikanischen Erzählung. Napoléon Peyrat, ein protestantischer Pfarrer, beschreibt etwa in seiner fünfbändigen „Histoire des Albigeois“ (1870–1880) die Burg von Montségur nicht nur als Ort des Widerstandes der Katharer oder Albigenser, wie die der Ketzerei bezichtigten Katharer auch genannt wurden, gegen die katholische Kirche. Sie dient ihm zugleich als Erinnerungsort der Republik. Obgleich sich Peyrat als „occitant“ bezeichnete und sich dem okzitanischen Erbe verpflichtet fühlte, schloss er sich kei-

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

ner der separatistischen Bewegungen im Pays d’Oc an, etwa dem Félibrige, einer literarischen Regionalbewegung, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet hatte und die okzitanische Sprachtradition erhalten wollte (S. 103). Er schrieb vielmehr in französischer Sprache, die für ihn die Sprache der Freiheit war. Als glühender Republikaner versuchte Peyrat, die Wurzeln der Dritten Republik bei den Opfern des Mittelalters zu suchen und eine republikanische Genealogie zu konstruieren. Diese reicht von den Katharern über die Kamisarden – die hugenottischen Bauern in den Cevennen, die sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts gegen die Zwangskatholisierung zur Wehr setzten – bis hin zu den Revolutionären von 1789 und den Republikanern der Dritten Republik.240 Bei der Erforschung oder „Erfindung“ der regionalen Vergangenheit entstand ein ausgedehntes Netz von lokalen gelehrten Gesellschaften, etwa die „Sociète de l’histoire de Normandie“ (1869), die „Société des archives historiques du Poitou“ (1871) oder die „Société de la Saintonge et de l’Aunis“ (1874). Diese Gesellschaften bildeten gleichsam einen „caisse de résonance“ der Nation, wie Pierre Nora schreibt, einen „Resonanzkasten“, in dem die Grundsätze der Nation sozusagen widerhallten und somit verbreitet wurden.241 Selbst die widerständige Bretagne, die vor dem 18. Jahrhundert noch nicht einmal als geschlossene Region wahrgenommen worden war, ließ sich nun in die Nation und somit in die Republik einbinden. Bereits 1792 hatte Théophile-Malo de La Tour d’Auvergne-Corret, ein französischer Offizier, der sich für die Erforschung der bretonischen Sprache interessierte, die Bretonen als „die“ authentischen Kelten bezeichnet.242 Damit nahm er gleichsam das „Keltenfieber“ (S. 64) vorweg, das im folgenden Jahrhundert aufblühen sollte und Frankreich sowohl in Vergangenheit als auch Gegenwart als erste der europäischen Nationen hochstilisierte.243 Während der Französischen Revolution hatte „der“ Bretone aber zunächst als Sinnbild des Antirevolutionärs und provinziellen Tölpels gegolten.244 Für den radikalen Demokraten Abbé Grégoire, der während der Französischen Revolution für eine Zurückdrängung der Regionalsprachen eintrat, sprach die Konterrevolution daher auch „bas-breton“, die vermeintlich minderwertige bretonische Sprache.245 Noch 1829 thematisierte etwa Honoré de Balzac, um nur ein Beispiel aus der Literatur zu nennen, in seinem Roman „Les Chouans“ („Die Königstreuen“) den Widerstand bretonischer Bauern und Adeliger im Jahr 1799 und zeichnete dabei das Bild einer kulturell rückständigen Region. Seit den 1830er Jahren wandelte sich aber schließlich das Bild der Bretagne, das nun in immer freundlicheren Farben leuchtete. Dem wilden Einheimischen mit langem Haar und

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weiter Kniehose, dem Antirevolutionär par excellence, stand nun der tugendhafte, mit den keltischen und somit französischen Ursprüngen eng verbundene Bretone gegenüber. Dazu kam freilich auch der Einfluss der Romantik, die mit Hilfe bukolischer Dichtung die bretonischen Bauern in ein idyllisches Licht zu setzen vermochte. Damit stieg auch das Interesse an der bretonischen Volkskultur, unter anderem an bretonischen Volksliedern. Die zweibändige Sammlung „Barzaz-Breiz – Chants populaires de la Bretagne“ (Bretonische Volkslieder), die Théodore Hersart de La Villemarqué 1839 herausgab und die 32 „chants historiques“, fünf „chants religieux“ und 16 „chants d’amour“ enthält, fand reißenden Absatz. Die Lieder sind darin zweisprachig abgedruckt: die bretonische Version auf der linken Seite, die französische Übersetzung auf der rechten. In der dritten Auflage von 1867 wurden die bretonischen Texte allerdings in kleiner Schrift an den unteren Rand der Seiten verbannt, was zu heftigen Kontroversen führte.246 Diese zeigen jedoch, wie sehr sich die ehemals so verachtete Bretagne im nationalen Selbstverständnis verankert hatte. Der Katholizismus, der nicht nur die Bretagne, sondern auch andere Regionen prägte, schien der nationalen Einheit offenbar nicht mehr im Weg zu stehen. Vielmehr wurde die Religion – ganz im Sinne des „Katholaizismus“ (S. 19) – als Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert und zum Beispiel in die republikanischen Feierlichkeiten miteinbezogen. Republikanische Festveranstaltungen, bei denen Marianne in Blumen gebettet wurde, ließen durchaus an Fronleichnamsfeste denken. In Marseille thronte etwa am 14. Juli 1882 eine „citoyenne“, eine „Bürgerin“, auf einer Bühne unter einem riesigen Schirm in den Farben der Trikolore, umgeben von einem prächtigen Blumenschmuck. Ohne Zweifel wurde damit der Volksbrauch der „Belle de Mai“ imitiert, einer Prozession, bei der am ersten Mai ein mit Blumen geschmücktes Mädchen für die „Confrérie“, die dortige Ordensbruderschaft, oder die katholische „Société de la Jeunesse“ (Jugendverein) Spenden gesammelt hatte.247 Die Vermischung von religiöser Tradition und bürgerlicher Republik findet sich auch in Triaucourt-en-Argonne (Meuse), wo ein Fenster der Kirche Saint-Nicola, das 1919 gestaltet wurde, Jeanne d’Arc mit weißer Standarte sowie blauer Schärpe und rotem Kleid zeigt. Zwar gilt die Farbe Blau im Zusammenhang mit der Heiligen Maria als Zeichen des Himmels, und die Farbe Rot symbolisiert den Opfertod Jesu. In Verbindung mit Jeanne d’Arc, die auch von den Republikanern vereinnahmt wurde (S. 68), konnte aber mit dieser Farbkombination auch die französische Trikolore, die als eines der wichtigsten Symbole der bürgerlichen Republik gilt, konnotiert werden.248

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Die Akzeptanz der Religion in ihrer „katholaizistischen“ Form sowie die Integration der regionalen in die nationale Geschichte steht, wie die Instrumentalisierung der Burg von Montségur exemplarisch zeigt (S. 109), in enger Verbindung mit dem „patrimoine national“, dem „nationalen Kulturerbe“. Dieses umfasst bis heute unter anderem historische Bau- und Kunstwerke.249 Zwei Personen standen im Zentrum der Bemühungen, dieses Kulturerbe zu entdecken und zu retten: Prosper Mérimée, Schriftsteller und zugleich „Inspecteur général des Monuments historiques“ (Generalinspektor für historische Denkmäler), sowie Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, Architekt und enger Weggefährte Marimées. Beide reisten rastlos durch Frankreich, um historische Orte aufzuspüren, ihre Renovierung in die Wege zu leiten und ihnen damit die Bedeutung nationaler Erinnerungsorte zu geben. In den 1840er Jahren zeichneten sie etwa für die Restaurierung der Kathedrale von Vézelay (Yonne) verantwortlich, womit die Bourgogne im Ensemble des „Frankreichs der Landschaften“ aufgewertet und die Nation wieder um eine regionale Besonderheit bereichert wurde. Ein anderes Beispiel ist das „Château de Pierrefonds“, das Viollet-Le-Duc von 1858 bis zu seinem Tod im Jahr 1879 schrittweise renovieren ließ. Die endgültige Fertigstellung des Schlosses erfolgte aber erst 1884.250 Während etwa Cluny noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem privaten Bauunternehmer als Steinbruch gedient hatte, setzte sich nun ein neues Verständnis für historische Bauwerke durch. Als Teil der nationalen Geschichte wurden diese allerdings „wie die Ausstellungsstücke in einem Museum aus ihrem eigentlichen Funktionszusammenhang“ gerissen.251 Ähnliches geschah auch mit den regionalen und lokalen Traditionen, die zunehmend ihre ursprünglichen Funktionen verloren und sich inhaltlich wandelten, um der nationalen Integration zu dienen. So wurden etwa religiöse Feste, die eine gute Ernte bewirken sollten, kurzerhand nationalisiert. Noch heute findet in vielen Weinorten im November, mit dem Ende der Weinernte, ein Fest zu Ehren des jeweiligen Weinheiligen statt.252 Dieser Weinheilige wurde in Chablis (Yonne) und in Saint-Amand-Montrond (Cher), nachdem sich die Dritte Republik um 1880 durchgesetzt hatte (S. 238–241), durch eine Büste der Marianne ersetzt. Und auch in Auxy-Duresses (Côte-d’Or) tauschten die Weinbauern den lokalen Heiligen, Saint-Barthélemy, 1883 infolge eines Konfliktes mit dem Pfarrer durch Marianne aus.253 Ähnlich verhielt es sich bei einer Prozession in Châteaurenard (Bouche-duRhône), bei der Gemüsebauern die Statue des lokalen Heiligen, geschmückt mit Laubzweigen, Gemüse, Früchten und Blumen, auf einer „charette“, einem zweirädrigen Pferdekarren, alljährlich durch das Dorf begleitet hatten. 1907 ersetzten die Bauern den Heiligen durch die Büste der Marianne, die sie – als wäre dies

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des Frevels nicht genug – mit Tomaten, roten Paprikaschoten und Gladiolen rot schmückten.254 An diesem Beispiel lässt sich der bereits erwähnte „agrarisme jacobin“ (S. 107) verdeutlichen, ein „jakobinischer“ oder „republikanischer Agrarismus“, der die angeblich im französischen Boden verwurzelten Bauern gleichsam als Verkörperung der Nation und des freien Wahlrechtes betrachtete. Die wichtige Rolle, die kulturelle Traditionen im Nationsbildungprozess spielten, steigerte seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Interesse an der Volkskultur.255 Die Geburtsstunde der Volkskunde schlug, die verschiedene Objekte, von Werkzeugen über Kleidungsstücke bis hin zu bäuerlichen Kunstwerken, sammelte und regionale Bräuche bis in das kleinste Detail beschrieb. Der an lokaler Geschichte interessierte Arzt Lucien Guillemaut dokumentierte etwa 1898 die traditionellen Feste der Gegend um Louhan (Saône-et-Loire), unter anderem das wilde Treiben anlässlich des „Dimanche des Brandons“, des „Sonntages der Fackeln“. Dabei tanzte die Dorfjugend singend um ein Feuer und hielt brennende Holzstücke, die „brandons“, in die Luft. „Wenn das Feuer kleiner wird“, schreibt Guillemaut, „springt man über diese verkohlten Holzstücke. Die jungen Mädchen geben sich [dagegen] alle Mühe, über die Feuerstelle zu springen. Jene, denen dies unbeschadet gelungen ist, werden sich im nächsten Jahr verheiraten.“256 Der Brauch symbolierte wohl auch Fruchtbarkeit, zumal er früher einmal mit der Erntezeit verbunden gewesen war. Nicht zufällig hatten die Bauern das Feuer gewöhnlich an Orten mit Raupennestern entzündet, die eine Gefahr für die Ernte darstellten. Als um 1900 zunehmend chemische Mittel zur Schädlingsbekämpfung verwendet wurden, ging diese ursprüngliche Funktion des Brauches verloren. Nun federte dieser den Wandel der Arbeits- und Lebensverhältnisse gleichsam ab, indem sein Fortbestand das Gefühl eines Status quo und somit von Sicherheit vermittelte. Die Volkskunde bestärkte den Erhalt von Bräuchen wie des „Dimanche des Brandons“, indem sie diese in das nationale Kulturrepertoire intergrierte. Guillemaut vermutete den Ursprung des „Dimanche des Brandons“ sogar in einem alten gallischen bzw. keltischen Brauch. Damit entsprach er dem Paradigmenwandel, der die Ursprünge Frankreichs nicht mehr nur im Römischen Reich, sondern auch in der keltisch-gallischen Vergangenheit verankerte (S. 64). Die Volkskunde interessierte sich für Märchen und Sagen als wertvolles Erbe vergangener Zeiten und versuchte, Volkstänze und Volkslieder wiederzubeleben. 1904, anlässlich einer Schuleinweihung, tanzten etwa die Dorfbewohner von Vic sur Cère (Cantal) die „Grando“, den tradionellen Reigen der auvergnatischen Bergbewohner,257 womit die regionalen Traditionen mit der Republik, symbo-

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lisiert durch die Grundschule, versöhnt wurden. Plötzlich faszinierten auch die regionalen Dialekte, die „patois“, die ihren Ruf als Sprache des Rückschrittes und der Konterrevolution (S. 79) verloren. Überhaupt blieben dialektale Ausdrücke sowie alte Märchen und Legenden durch die Erzählungen der Dienstboten und Kindermädchen, mit denen diese die Kinder bürgerlicher Familien nicht selten zu begeistern wussten, weiterhin erhalten.258 Anlässlich öffentlicher Veranstaltungen wurden regionale Dichter geehrt, etwa 1904 in Toulouse, wo dem okzitanischen Schriftsteller Lucien Mengaud und dem Komponisten Louis Deffès Denkmäler gesetzt wurden. Deffès hatte 1845 das Gedicht „La Tolosenca“ (Die Tolouserin) von Mengaud vertont und damit die Hymne des Languedoc, eine pathetische Beschwörung der Heimat, geschaffen: „O moun paїs, ô Toulouso, ô Toulouso, / Qu’aime tas flous, tonn cel, tonn soulel d’or“ („O, mein Land, o Toulouse, o Toulouse, / wie ich deine Blumen liebe, deinen Himmel, deine goldene Sonne“).259 Und in der Volkshymne des Béarnais ließ man wiederum die Berge hochleben und betonte die Wunder der französischen Landschaft: „Aquelos monntagnos / Qui tan aoutos sonn“ („Die Berge, die so hoch sind“). „Im Übrigen“, schreibt die sozialistische Zeitung „L‘Humanité“ im Jahr 1904, „haben wir die Epoche, in der die alten Chansons zu den großen Sommertagen erwachen.“260 Dabei wurden die alten Provinzen, welche die Revolutionären von 1789 mit dem Ancien régime assoziiert und daher durch Departements ersetzt hatten, wieder als Einheit betrachtet und bildeten wichtige regionale wie auch nationale Erinnerungsorte, auch wenn sie verwaltungstechnisch bedeutungslos blieben. Mit der Aufwertung der alten Provinzen waren plötzlich die „lettres provinciales“, die regionalen Dichter, im französischen Literaturbetrieb gefragt. Einige von ihnen wurden etwa 1923 von den „Déracinés“, die Mitglieder der „Société des Gens des Lettres“261 (Literarische Gesellschaft) waren, zu einem festlichen Abend nach Paris eingeladen. Bei den „Déracinés“, den „Entwurzelten“, handelte es sich laut der Tageszeitung „Le Petit Parisien“ um jene, „die, vor langer Zeit oder erst kürzlich ihr Dorf oder ihre kleine Stadt verlassen haben, um Paris zu erobern. Sie sind heute berühmt oder unbekannt, Mitglieder der Akademie oder Bedürftige, reich oder unglücklich. Aber, von der Provinz aus gesehen, erscheinen sie beneidenswert“.262 Zwar ist im letzten Satz eine gewisse Überheblichkeit der Pariser Kulturelite erkennbar. Dennoch zeigt die Einladung der „lettres provinciales“, dass die Regionen als wichtige Bestandteile der französischen Nation anerkannt wurden. Mitglieder der Opéra Comique und der Comédie Française zeichneten für die künstlerische Gestaltung des festlichen Abends im „Ministère d’Instruction publique“, im Unterrichtsministerium, verantwortlich. Dabei standen nicht

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nur berühmte „Déracinés“ im Zentrum, sondern auch die kulturellen Traditionen der Provinz. Unter anderem wurden kulinarische Spezialitäten aus verschiedenen Regionen serviert, ein Volkstanz aus dem Limousin aufgeführt und alte Volkslieder gesungen. André Brunot von der Comédie Française trug die Erzählung „L’Arlésienne“ (1866) des südfranzösischen Literaten Alphonse Daudet vor, eine tragische Liebesgeschichte zwischen einem Bauernsohn und einem Mädchen aus Arle, das einem anderen versprochen ist. Daudet adaptierte die Erzählung 1872 für ein Schauspiel, zu dem Georges Bizet die Begleitmusik komponierte. In beiden Werken wird die ländliche Bevölkerung nicht mehr als tölpelhaft, sondern als edel gezeichnet. „Es war ein bewunderungswürdiger Bauer im Alter von 20 Jahren“, heißt es in der Erzählung „L’Arlésienne“ über die männliche Hauptperson, „sittsam wie ein Mädchen, stark und ein aufgeschlossenes Gesicht. Da er sehr schön war, gefiel er den Frauen, aber er hatte von diesen nur eine im Kopf – ein liebliches Mädchen aus Arle.“263 Der Begriff „Déracinés“ weckt Assoziationen mit dem Roman „Les Déracinés“ von Maurice Barrès, der 1897 als Teil der Romantrilogie „Le Roman de ­l’énergie nationale“ erschienen war. Barrès gilt als einer der Ideologen der extremen Rechten in Frankreich und als Vertreter des so genannten „integralen Nationalismus“, der sich durch eine antidemokratische Orientierung und Antisemitismus definierte (S. 245–248). Er bezeichnet jene als „Déracinés“, die ihrer ursprünglichen Heimat den Rücken zugewandt hatten. Dadurch hätten sie ihre Traditionen und auch das Gefühl für den „wahren“ Patriotismus, der im heimatlichen Boden verwurzelt sei, verloren. Im Gegensatz zur Verwendung des Begriffes im oben zitierten Artikel des „Petit Parisien“ war der Begriff für Barrès eindeutig negativ besetzt und gleichbedeutend mit Juden, Protestanten und Freimaurern. Später zählte Charles Maurras diese gemeinsam mit den „métèque“, den „missliebigen Fremden“, zu den so genannten „quatre États confédérés“ (S. 245), den „vier verbündeten Ständen“, die in den Verschwörungstheorien der extremen Rechten bis heute als Zielscheibe dienen.264 Die bürgerlich-republikanische Gesellschaft versuchte jedoch, den Begriff „Déracinés“ für sich zu instrumentalisieren und der extremen Rechten die Kraft zu nehmen. Deutlich zeigt sich diese Strategie auch beim „Félibrige“ (S. 103), der auf die Rolle eines poetischen Zirkels beschränkt werden sollte.265 Als sich Staatspräsident Raymond Poincaré, eine Symbolfigur des republikanischen Nationalismus, etwa zu Beginn seines Amtsantrittes im Jahr 1913 mit Frédéric Mistral zum Frühstück traf,266 steckte dahinter durchaus die Absicht, den Félibrige zu zähmen und das föderalistische Bewusstsein in die bürgerlich-republikanische Gesellschaft zu

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integrieren. So schloss etwa der auf die Kultur beschränkte Okzitanismus eine Karriere in der nationalen Politik keineswegs aus. So mancher Spitzenpolitiker der Dritten Republik stammte nicht nur aus Okzitanien, sondern war auch Mitglied des Félibrige gewesen.267 Allerdings ließen sich die antirepublikanischen Tendenzen im „Félibrige“ nur bedingt eindämmen. So arrangierte sich etwa Mistral, der sich offiziell als unpolitisch verstand, mit dem konservativen katholischen Milieu und gehörte 1898 zu den Gründungsmitgliedern der antisemitischen „Ligue de la patrie française“ (S. 244). Charles Maurras und Frédéric Amouretti, die sich später vom „Félibrige“ abspalteten, hatten in einer 1892 formulierten Deklaration republikanische Ansichten im „Félibrige“ kritisiert und bereits die Grundlagen der monarchistischen und rechtsextremen „Action Française“ (S. 244) gelegt, in der sie eine zentrale Rolle spielen sollten.268 Zugleich sammelten sich im „Félibrige“ aber auch republikanisch orientierte Schriftsteller, die „félibres rouges“ oder „félibres latins“. Dazu gehörte etwa Louis-Xavier de Ricard, der sich der frühsozialistischen Lehre Pierre-Joseph ­Proudhons, den linksliberalen „Radicaux“ und dem Antiklerkalismus verpflichtet fühlte. Beeinflusst von de Ricard verfolgten Louis-Alphonse Roque-Ferrier, August Fourès und Jean Charles-Brun die „idée latin“, die „lateinische Idee“, indem sie sich – in Abgrenzung zum Deutschen Kaiserreich – für eine Annäherung insbesondere Frankreichs und Italiens sowie für die Förderung der jeweiligen regionalen Dialekte einsetzen. In der Tradition des „Félibrige rouge“ stand im Übrigen auch ein nach 1945 gegründeter literarischer Zirkel um die Schriftsteller Robert Lafont, René Nelli und Yves Rouquette. Dieser begründete sich auf einer republikanischen Definition des okzitanischen Erbes, wie sie Napoléon Peyrat bereits in den 1870er Jahren geliefert hatte (S. 47). Lafont, laut Yves Rouquette „starrköpfig wie ein roter Esel“,269 gab eine Monatszeitschrift mit dem Titel „L’Ase negre“ („Schwarze Seele“) heraus und schrieb in Okzitanisch, verwendete allerdings eine völlig andere Orthographie als die „Félibres“. Sein Ziel war es, die Prosa des Südens zu revolutionieren und sich damit von den „Berufenen“, etwa von Fréderic Mistral, Jean Giono oder Charles Maurras, zu distanzieren.270 In der Tradition von Robert Lafont steht – hier sei ein Ausflug in die jüngere Geschichte gestattet – auch der Chansonnier und Autor Claude Marti, der sich seit den 1970er Jahren dem okzitanischen Kulturerbe verschrieben hat. In seinem Chanson „Montsegur“, das an Peyrats Interpretation des Widerstandes der Katharer gegen die katholische Zentralisierung erinnert, überschreitet er gleichsam nationale Grenzen und hofft auf kulturelle Vielfalt in einer globalisierten Welt:

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Mena vostra lucha avuèi: / Minoritats contra l’Empèri / Indians de totas las colors / descolonizarem la tèrra: / Montsegur, te dreiças pertot!271 (Wir sind es, die den Kampf führen / Minderheiten gegen die Herrschaft / Indianer aller Farben / wir dekolonisieren die Erde / Montségur, du erhebst dich überall!)

Eine solche Einbettung lokaler und regionaler Traditionen in globale Zusammenhänge war freilich im 19. Jahrhundert noch kaum denkbar. Vielmehr blieben diese, wird einmal vom „Félibrige latin“ abgesehen, im nationalen Rahmen und sollten als Teil des „patrimoine national“ vor dem Vergessen bewahrt werden. Im Auftrag des Unterrichsministeriums war daher bereits 1845 eine „Commission des chants religieux et historiques de la France“, eine „Kommission für religiöse und historische Lieder Frankreichs“, eingerichtet worden. Diese plante eine umfangreiche Sammlung von „Documents inédits de l’Histoire de France“ (Unveröffentlichte Dokumente aus der Geschichte Frankreichs), die allerdings unvollendet blieb.272 Ein neuer Anlauf dazu wurde 1852 unternommen, als ein staatlicher Erlass die Gründung eines „Comité de la langue, de l’histoire et des arts de la France“ (Komitee für französische Sprache, Geschichte und Literatur) veranlasste. Unter anderem sollten französische Volkslieder gesammelt und publiziert werden, die „ein zuverlässiges und lebendiges Bild des Genies unserer Nation präsentieren“, wie Jean Jacques Ampère betonte, ein Spezialist mittelalterlicher Literatur und Mitglied der Academie française, der das Komitee in seiner Arbeit unterwies.273 Ampére bestand darauf, alle in Frankreich gesprochenen Sprachen und Dialekte zu berücksichtigen, und meinte, dass auch das kulturelle Erbe der annektierten Gebiete, auch jenes der Neuen Welt, insbesondere von Québec, in den „patrimoine national“ eingeflossen sei und daher erfasst werden müsse. Der „Recueil général des poésies populaires“, eine „Allgemeine Sammlung der Volksdichtung Frankreichs“, die 1876 beendet wurde, blieb allerdings ebenfalls Stückwerk.274 Dennoch hatte dieses staatliche Unternehmen vermutlich keinen geringen Anteil daran, dass sich seit den 1860er Jahren die Publikationen über Volksdichtung und Volkslieder vervielfachten.275 Charles Nisard veröffentliche etwa 1867 seine zweibändige Studie über „Chansons populaires chez les anciens et chez les Français“, in der er versuchte, die Ursprünge der Volkslieder – ganz im Sinne einer Verankerung der französischen Nation in den mythischen Tiefen der Vergangenheit – bis in die gallische und römische Zeit zurückzuverfolgen. „Als Probus276 den Wein in Gallien pflanzte“, schreibt er etwa über die traditionellen Trinklieder, „pflanzte er auch Lieder. […] Im 16. Jahrhundert erstellte man davon kleine Sammlungen; im 17. Jahrhundert

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wurden diese größer und zahlreicher, ebenso wie im 18. Jahrhundert. Sie vervielfachen sich im 19. Jahrhundert dermaßen, dass […] sie in ganz Frankreich Verbreitung finden.“ Seine historischen Standortbestimmungen ergänzte Nisard durch die wissenschaftliche Analyse einzelner Chansons, etwa von Trinkliedern, in denen er eine „Vermischung der griechischen Mythologie und der Geschichten der Heiligen Schrift“ zu entdecken glaubte, zumal in den Chansons ständig Bacchus und Noah erwähnt werden, die beide als Schutzpatrone des Weines gelten.277 Von den vielen Wissenschaftlern, die sich der Bewahrung und Erforschung der Volkskultur widmeten, sind auch Eugène Rolland und Henri Gaidoz zu nennen, die zwischen 1877 und 1901 die Zeitschrift „Mélusine“ herausgaben. Diese beschäftigte sich mit Mythologie, Volksdichtung und Volksbräuchen. Größere Bedeutung erlangte auch der Maler Paul Sébillot, der 1886 die „Société des traditions populaires“ (Verein für Volkstradition) und eine gleichnamige Zeitschrift gründete. Gemeinsam mit Armand Landrin publizierte Sébillot 1896 Richtlinien für regionale ethnographische Sammlungen („Instructions sommaire relatives aux collections provinciales d’objet ethnographiques“). Zudem veröffentlichte er 1898 ein Buch über die „Littérature orale de l’Auvergne“, eine Sammlung von mündlich überlieferten Erzählungen aus der Auvergne. Besondere Bedeutung für die wissenschaftliche Erforschung der Volkskultur besaß schließlich Arnold Van Gennep, der von 1905 bis 1949 regelmäßig im „Mercure de France“ publizierte und sich mit seinem mehrbändigen, aber unvollendeten „Manuel de folklore français contemporain“ gleichsam selbst ein Denkmal setzte. In diesem „Handbuch der französischen Volkskunde“ versuchte Van Gennep, neben seinen eigenen Forschungsergebnissen auch die zahlreichen Befunde zu verarbeiten, die verschiedene Autoren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesammelt hatten.278 Schließlich sollten auch Museen dazu dienen, volkskulturelle Zeugnisse vor dem Vergessen zu bewahren und sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zahlreiche Regionalmuseen wurden gegründet, etwa das „Museon Arlaten“, das zwar auf die Initiative von Fréderic Mistral zurückging, von der Republik aber vereinnahmt werden konnte. Nach der Weltausstellung von 1876 wurde im Palais de Trocadéro zudem ein „Musée d’Ethnographie“ eingerichtet. Dieses Museum widmete sich zunächst der „Natur des Menschen“, die seit Buffon (S. 47) die Naturwissenschaften beschäftigte, und konzentrierte sich auf die Unterschiede zwischen den Völkern und „Rassen“. Damit entsprach das Museum einem Trend, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Wissenschaft in den

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Dienst der so genannten „Rassenlehre“ stellte (S. 54). 1884 ergänzte eine europäische Sektion die bisherige Ausstellung, wobei im „französischen Saal“ eine bretonische Stube mit kostümierten Puppen sowie Trachten aus anderen französischen Provinzen, den Pyrenäen, der Bresse und der Normandie, gezeigt wurden. Dabei bediente sich die Ausstellung des modernen Dioramas, das der Schwede Arthur Hazelius in seinem „Nordiska Museet“ erstmals verwendet hatte. Er stellte aus Wachsfiguren „tableaux vivants“ her, die sich dem Publikum nur zu einer Seite hin öffneten und somit an Theaterbühnen erinnerten. Volkskultur wurde als Spektakel inszeniert und durch den beinahe zwanghaften Versuch, mehr oder weniger verloren gegangene Traditionen zu rekonstruieren, zum Teil verfälscht bzw. erfunden. So konnte etwa für die Ausstellung im Trocadéro keine originale Tracht der Montagne Noire, eines Gebirges an der Grenze zwischen den Departements Tarn und Aude, gefunden werden. Ein alter Schneider rekonstruierte sie daher nach einer alten historischen Beschreibung und seinen fernen Erinnerungen. Damit war auch der Schritt zu industriell gefertigten Kopien volkskultureller Objekte und zur Schaffung neuer kunstgewerblicher Erzeugnisse, die dem jeweiligen Geschmack der Zeit entsprachen, nicht mehr weit. Ein neuer Begriff wurde geschafften: „l’art populaire“, die „Volkskunst“, die sich als ein lukrativer Markt erweisen sollte.279 Von einer ähnlichen Entwicklung war auch die regionale Küche betroffen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, so wie auch die Volksdichtung oder das Brauchtum, als nationale Bereicherung entdeckt wurde. Bereits während der Französischen Revolution hatten regionale Rezepte und Lebensmittel durch den Zustrom der Delegierten zur Nationalversammlung ihren Weg nach Paris gefunden und dort die Speisekarte der Restaurants erobert. In den ersten Jahren nach den Ereignissen von 1789 genossen etwa die „Fréres Provençaux“, die ihrer Küche ein provenzalisches Flair zu geben wussten, einen besonders guten Ruf.280 „[…] einen neuen Staat zu begründen“, schreiben die Historiker Martin Bruegel und Bruno Laurioux, „bedeutet auch seine Küche zu begründen“.281 Diese Küche sollte sich wie die Nation durch ihre Vielfalt in der Einheit auszeichnen. „Es ist notwendig, die Küche mehr und mehr zu regionalisieren“, meint Louis Forest 1923 in der Zeitschrift „L’Industrie Hôteliére“ und ortet den Ursprung der französischen Küche im Volk, in dem es keine Unterschiede geben darf. Die kulinarische Kunst ist wie die anderen Künste eine Blume des heimatlichen Bodens, sie hat seinen Duft, seine besondere Farbe, seine besonderen Merkmale. [...] Die Kraft des französischen Kulinarismus, resultierend aus den uralten Er-

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fahrungen, der Sorgfalt, den frischen und von der Natur genauso wie von den Menschen ausgewählten Produkten, hat seinen Ursprung im Volk. [...] Die Küche ist bei uns kein Erbe der Reichen; sie ist das Erbe der einfachsten Leute.282

Nicht zufällig war auch das Kochbuch „La Cuisinière de la campagne et de la ville“ (Land- und Stadtküche) von Louis-Eustache Audot, das 1818 erstmals aufgelegt worden war, bis 1900 in über fünfzig Neuauflagen erschienen.283 1921 gaben schließlich der Journalist Maurice Edmund Sailland, besser bekannt unter dem Pseudonym Curnonsky, sowie der Journalist und Schriftsteller Marcel Rouff den erste Band von „La France gastronomique“ heraus, dem noch 28 Bände folgen sollten. Jeder dieser Bände war einer bestimmten französischen Region gewidmet.284 Die Rezepte, die über solche Kochbücher oder auch über Zeitungen wie „Le Petit Journal“ und „Le Petit Parisien“ verbreitet wurden, hatten allerdings nur wenig mit den traditionellen Ernährungsgewohnheiten in den Regionen gemeinsam. „Die traditionelle ländliche Küche, um vieles weniger alt als man im Allgemeinen glaubt“, schreibt Annie Moulin, „beginnt, eine Erfindung zu sein.“285 Tatsächlich hätte sich die einseitige und kärgliche Ernährung der ländlichen Bevölkerung kaum dazu geeignet, einen Beitrag zur Glorifizierung der Nation zu leisten. Brot, eines der wichtigsten Nahrungsmittel, war meist von schlechter Qualität und kaum gesalzen; das schwer verträgliche Schweinefett oder Raps- und Nussöl ersetzten die Butter. Auch wenn in einer Region bestimmte Nahrungsmittel erzeugt wurden, bedeutete das nicht, dass ein Großteil der Bevölkerung diese auch tatsächlich konsumierte. So waren etwa Hühner im Mâconnais für den Verkauf bestimmt und kamen lediglich an Festtagen auf den bäuerlichen Tisch. Auch Champignons wurden gezüchtet, aber nur in seltenen Fällen bereicherten sie den bäuerlichen Speiseplan. Ähnlich verhielt es sich im Morbihan, einem Departement in der Bretagne, das Butter in erster Linie exportierte.286 Durch die Integration der regionalen Küche in das „nationale Erbe“ wurden zum einen bestimmte regionale Produkte in das „kulinarische Programm“ der bürgerlichen Gesellschaft integriert. Zum anderen übernahmen die Regionen, die zunehmend „zivilisiert“ bzw. verbürgerlicht wurden, wiederum Lebensmittel, die bislang unbekannt gewesen waren oder nicht auf dem regionalen Speiseplan gestanden hatten. Zwar wandelte sich das Ess- und Trinkverhalten je nach Region mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, und auch der Speiseplan der reicheren und ärmeren Bevölkerungsgruppen, etwa zwischen wohlhabenden Bauern und Landarbeitern, wichen voneinander mehr oder weniger stark ab. Den-

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noch vermischten sich selbst in den ärmsten Regionen allmählich die Produkte der Region mit Nahrungsmitteln, die beim Kaufmann erworben wurden. Im Norden und Osten Frankreichs ersetzten bald der Kaffee, oftmals auch KaffeeSurrogate, und Butterbrote die Morgensuppe. Immer öfter kam frisches Brot auf den Tisch. Dabei wurde Schwarzbrot zunehmend von Weißbrot verdrängt, das Bäcker anboten und zum Erlöschen der hauseigenen Backöfen führte. Der Konsum von Fleisch stieg an, und Wein verbreitete sich auch in Gegenden, in denen Weinanbau nicht üblich war. Ferner kamen Desserts auf Basis von Zucker und Eiern, vor allem für Kinder, auf den sonntäglichen Speiseplan. Auffällig ist auch, dass sich der Gegensatz zwischen der Prasserei an Festtagen, ein Kennzeichen der vormordernen Gesellschaft,287 und dem alltäglichen kargen Mahl abschwächte.288 Es entstand eine neue, eine „nationale Küche“, die zwar regionale Varianten aufwies, aber meist nicht oder nur zum Teil in den Regionen ihre Wurzeln hatten. Die bürgerliche Gesellschaft integrierte nicht alle Produkte, die in einer Region lange Tradition besaßen, in ihr kulinarisches Programm. Nur bestimmte Produkte wurden zu Bestandteilen eines gemeinsamen Wissens und gemeinsamer Praktiken, also einer gemeinsamen bürgerlichen Kultur.289 Notwendig war dafür vor allem die Nationalisierung „eines emblematischen Produktes, das die unterschiedlichen Facetten des nationalen Gefühls in sich zu konzentrieren scheint“.290 Ein solches Produkt war etwa Käse, wobei wiederum bestimmte Sorten als Symbole für die vielfältige kulturelle Landschaft der französischen Nation dienten.291 Eine ähnliche Funktion erfüllte auch der Wein, dessen nationale Bedeutung von Pierre Dupont in seinem Gedicht „Ma vigne“ hervorgehoben wird: „Guter Franzose, wenn ich mein Glas sehe / Voll von seinem feuerfarbenen Wein / Träume ich, Gott dankend / Dass sie davon keinen in England haben“.292 Und das Trinklied „Le Bourguignon“ (Der Burgunder) setzt die Fröhlichkeit und die Liebe zum Wein letztlich mit Frankreich gleich: Niemals sieht man mich trübselig; / Und wenn ich mitunter über die Stränge schlage, / ist es, weil ich den guten Wein / unseres schönen Landes Frankreich liebe. / Bei meinen Fässern arbeitend / sage ich, den neuen Wein kostend: / Fröhlicher Säufer, / Hier mein Lied: / Der Wein, der Wein macht glücklich und stärkt uns.293

Zum allgemein akzeptierten nationalen Kulturgut sollte der Wein aber erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufsteigen, nicht zuletzt auch deswegen, weil zu dieser Zeit die Reblausplage überwunden werden konnte. Die „phylloxéra“ hatte sich seit Mitte der 1860 Jahre vom Süden aus ausgebreitet und bis in die 1890er

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Jahre die meisten Weinanbaugebiete befallen. Der Ertrag von 60 bis 70 Millionen Hektoliter Wein um 1870 sank bis 1889 auf 23 Millionen. Um die Nachfrage zu stillen, musste Wein sogar importiert werden, unter anderem aus Algerien.294 Daher war der Stellenwert des Weines als nationaler Identitätsbaustein zunächst gering. Charles Nisard hatte etwa 1867 in seiner Volksliedersammlung noch recht abschätzig von den Trinkliedern gesprochen, die dem Wein gewidmet waren: Der größte Teil unserer bacchantischen Lieder beruht auf der gemeinsamen Basis, dass das Leben kurz ist, dass man um des Trinkens willen trinkt, dass der Wein der Liebe vorzuziehen ist, dass man jedoch dem jungen Mädchen nicht entsagen, aber seine Frau, wenn sie wettert, seine Kinder, wenn sie brüllen, seine Gläubiger, wenn sie verlangen, was ihnen zusteht, zum Teufel schicken soll; dass das wahre Mittel, um seine abendliche Trunkenheit hinter sich zu lassen, ihre Erneuerung am nächsten Morgen ist. Das ist rein heidnische Philosophie, grobster Epikurismus.295

Im Gegensatz dazu konstruierte Frantz-Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Mythos des „guten Trinkers“, der dem degenerierten Säufer und Taugenichts gegenübersteht: Der Wein ist nicht nur eine Kostbarkeit Frankreichs, sondern zeugt von seiner Herrlichkeit. Er war verwüstet [infolge der Reblausplage, Anm. d. V.], so dass es [Frankreich, Anm. d. V.] vernachlässigt gewesen ist. Die Liebe zum guten Wein war bei uns verloren: das Trinklied, offenherzig, liebevoll und oft gepfeffert, war übrigens tot; man besang den Wein nicht mehr, weil man ihn nicht mehr liebte. […] Sauflieder haben heute die Lieder der Trinker von damals ersetzt. Wir wissen nicht mehr zu trinken: Es sind Aperitifs und der Alkohol [harte Getränke, Anm. d. V.], die über den Wein triumphiert haben, der gleichsam zu einem Getränk des Pöbels geworden ist. Wo ist die Zeit, in der man ohne weiteres einen kleinen Krug guten frischen Weines leertrank oder ein Fläschchen eines wohlschmeckenden Burgunders entkorkte oder eines schmackhaften Bordeaux?296

Im Übrigen verwendet Frantz-Reichel für „gepfeffert“ im französischen Original den Begriff „gauloise“, der wohl eine Kontinuität des Trinkliedes in die gallische Vergangenheit unterstellt und dieses zugleich in die Nation einbindet, deren Wurzeln im 19. Jahrhundert zunehmend in der keltischen bzw. gallischen Kultur verortet wurden (S. 64).

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Frantz-Reichel unterscheidet den Wein streng vom Alkohol, der den Verlust von zwei wichtigen Komponenten bürgerlicher Kultur bedeutet: des rationalen Denkens und der Kontrolle über das eigene Handeln. Wein, so meinten die „guten“ bürgerlichen Trinker, belebe im Gegensatz zu Schnaps oder zum berühmten Absinth, der in der Belle Époque mit der nächtlichen und somit unbürgerlichen Welt (S. 42) in Verbindung gebracht wurde, die Geselligkeit und fördere somit den offenen Diskurs. Er ist gleichsam der „Bruder“ des Kaffees, zumal die Kaffeehäuser im 18. Jahrhundert als Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit dienten, als ein soziales Zentrum, in dem über Politik, Literatur und Kunst gesprochen und diskutiert wurden.297 Ähnlich wie der Kaffee repräsentieren die französischen Weine, insbesondere aus der Bourgogne, dem Bordelais und der Champagne, die bürgerliche Gesellschaft und somit die französische Zivilisation, die ganz Europa als Vorbild dienen sollte. „Unser Vaterland“, schreibt der „Miroir dijonais et de Bourgogne“ im Jahr 1929, „stünde jetzt also an der Spitze der landwirtschaftlichen Gebiete Europas; es ist […] der Keller Europas […].“298 Damit wurde der Wein zunehmend Teil der Festkultur. Die Zeitung „La Petite Gironde“ organisierte etwa 1909 eine „Fête des Vendanges“ (Weinlesefest) in Bordeaux, die im September drei Tage lang das wahre „Rome vinicole“ ehren sollte. Als Vorbild diente die „Fête des Vendanges“ des Schweizer Weinortes Vevey, wofür der Komponist François Grast 1851 verschiedene Texte von lokalen Dichtern vertont und zu einem kohärenten Werk zusammenfügt hatte. Für die „Fête des Vendanges“ in Bordeaux wurde nun sogar eine Oper komponiert, die den passenden Titel „Bacchus triomphant“ (Bacchus triumphierend) trug. Camille Erlanger zeichnete für die Musik, der Maler, Schriftsteller und Librettist Henri Cain für das Libretto verantwortlich. Mehr als 600 Sänger, ein Orchester mit 200 Musikern und ein Ballett mit 150 Tänzern, darunter auch Künstler der Opéra und der Opéra-Comique, wurden für diese Großveranstaltung aufgeboten. Diese ging auf dem Place de Quinconces vor einer damals noch erhaltenen Ruinenkulisse zu „Ehren des Weines“ über die Bühne. Für die Besucher sollen über 20.000 Plätze zur Verfügung gestanden haben.299 In der Bourgogne, die heute in erster Linie mit Wein in Verbindung gebracht wird, konzentrierten sich die lokalen Tourismusorganisationen, die in der „Féderation des syndicats d’initiative de Bourgogne“ (Verband der burgundischen Fremdenverkehrsvereine) zusammengeschlossen waren, erst nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend auf die Weinproduktion. Bislang hatte der westliche Teil der Region, vor allem der Morvan mit seinen Wäldern und felsigen Schluchten, das Bild der Bourgogne geprägt.300 Einerseits spiegelte sich darin die wirtschaft-

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liche Bedeutung der Holzverarbeitung im Morvan, andererseits aber auch die bürgerliche Zivilisationsflucht, die zu einer Gleichsetzung der Berge und der Natur mit einem säkularisierten Paradies führte. Nachdem die Côte-d’Or die wirtschaftliche Krise infolge der Reblausplage überwunden hatte, wurde sie aber zur Weinregion par excellence hochstilisiert. Die Bourgogne war daher zunehmend ein Synonym für die Côte-d’Or. Von den berühmten „Trois Glorieuses“, drei Weinfeste im November, hat daher nur der „Vente des vins des Hospices de Beaune“301 (Weinverkauf der Hospize von Beaune) seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Dieser hatte erstmals 1859 stattgefunden, entwickelte sich jedoch erst in der Zwischenkriegszeit zu einem veritablen Tourismusspektakel. Dagegen wurde die „Paulée von Meursault“, eine folkloristische Variante der traditionellen „paulée“, eines Festessens nach der vollendeten Ernte für alle Arbeiter, erst 1922 erstmals gefeiert.302 1934 gründeten schließlich mehrere „négociants“ (Weinhändler) und „négociants-éleveur“ (Händler, die Weinernten ankauften, den Wein in eigenen Kellern „aufzogen“ und schließlich verkauften) die „Chevaliers du Tastevin“ (Ritter der Weinverköstigung), die nach dem Silberbecher zum Verkosten des Weines, dem „taste-vin“, benannt sind. Diese Weinbruderschaft huldigt seitdem dem Wein der Côte-d’Or, indem sie jedes Jahr ein Festmahl organisiert, den „Chapître de la Confrérie des Chevaliers du Tastevin“ (Versammlung der Bruderschaft der Ritter der Weinverköstigung).303 Der aufkommende Tourismus erleichterte nicht nur die Aufwertung des Weines zum französischen Kulturgut, sondern überhaupt die Integration der Provinz in die Republik. Reiseführer, Postkarten und Werbeplakate förderten die Sehnsucht, sich von den hektischen und lauten Großstädten sowie industrialisierten Zentren auf das ruhige Land zurückzuziehen. „Man hat mir groß Paris gerühmt“, heißt es in dem bereits erwähnten Trinklied „Le Bourguignon“ (Der Burgunder), das die Verbundenheit mit der heimatlichen Erde mit einem glücklichen Leben gleichsetzt. „Ich mag meinen Weinberg und meine Erde lieber. / Da lebe ich wenigstens ohne Sorgen, / weit entfernt vom Lärm der großen Geschäfte.“304 Paris galt folglich als Ort der Unruhe, Verwirrung und Unüberschaubarkeit, wovon das Chanson „Le vigneron“ zu erzählen weiß: „Ich mag euer Paris nicht. / Eines Tages schickte ich in diesen Ameisenhaufen / den ältesten meiner Söhne / mit hundert Fäßern besten Weines aus Beaune. / Ihr Pariser habt mir, in Paris, / meinen Wein verdorben, meinen Sohn verloren […].“305 Zumindest zeitweilig fühlte sich der bürgerliche, vom Individualismus der Aufklärung geprägte Mensch im „Ameisenhaufen“ der Großstadt eingeengt. Er begann sich – wie Alain Corbin in seiner „Geschichte des Geruchs“ anschaulich

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beschreibt – vor den Gerüchen der anderen zu ekeln. Die Möglichkeit, endlich wieder frei zu atmen, fand er in der „erfundenen“, der künstlichen Natur der Peripherie, insbesondere in den Bergen und Tälern sowie an den Küsten des Meeres, in der „grand air“.306 Die „Ursprünglichkeit“ wurde entdeckt, nicht zuletzt auch durch Verlagshäuser wie Hachette, das direkt auf den Bahnhöfen seinen Reiseführer „Guides Joanne“ und seit 1919, in Kooperation mit dem Verlag der britischen „Blue Guides“, die bekannten „Guides Bleues“ verkaufte. 1853 verfügte Hachette über 43, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits über tausend Bahnhofskioske.307 Mit der Entdeckung der „Ursprünglichkeit“ richtete sich der verklärte Blick der Zivilisationsflüchtlinge auch auf die ländliche Bevölkerung, die zum Idealtypus des Naturmenschen hochstilisiert wurde.308 „Die Menschen, die ich auf den Straßen von Dijon treffe, sind klein, kräftig, lebendig, farbenreich“, schreibt Henri Beyle, besser bekannt unter dem Namen Stendhal, im Jahr 1838 in seinen „Mémoires d’un touriste“, „man sieht, dass der gute Wein alle diese Veranlagungen hervorruft. Also reicht ein vernünftiger Kopf nicht aus, um einen ausgezeichneten Menschen zu schaffen, es braucht [auch] ein bestimmtes feuriges Temperament.“309 Und noch 1920 wurde „der“ Burgunder als „ein Individuum mit farbigem und braunem Teint, dunklem Haar“ bezeichnet, als ein „offener fideler Kerl, fröhlich, laut sprechend, das Lachen liebend, geistreich, urwüchsig“.310 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert versuchten Tourismusorganisationen, diesem „feurigen Temperament“ nachzuspüren und die Regionen dem reisenden Publikum schmackhaft zu machen. Als das Automobil einen ersten Aufschwung erlebte, gab etwa der „Touring Club de France“ (TCF) zwischen 1901 und 1906 mehrere Reisehandbücher heraus, die sich mit den unterschiedlichen französischen Regionen beschäftigten.311 Der Journalist Frantz-Reichel lobte den TCF dafür, „eine Rückkehr zu den besseren Traditionen der alten und berühmten französischen Küche“ ermöglicht zu haben, „und hier, indem er die alten Keller wieder entdeckt, will er wieder die französischen Weine ehren, die edlen, die unvergleichlichen französischen Weine!“ Auch zahlreiche andere Clubs begaben sich auf kulinarische Entdeckungsreise in die Regionen, unter anderem die 1910 gegründeten „Gais gentilshommes gastronomes“ (Die fröhlichen edlen Feinschmecker). 1912 folgte der „Club des Cents“ (Club der Hundert), der nach seinen hundert Mitgliedern benannt war und sich zum Ziel gesetzt hatte, „gegen die Verdummung der Tafel durch die Fremden zu kämpfen“.312 Weitere gastronomische Vereinigungen, die sich mit der französischen Regionalküche beschäftigten und zu ihrer Erfindung beitrugen, waren die „Académie des psychologues

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2. Bürgerliche Vergesellschaftung

du goût“ (Akademie der Geschmackspsychologen, 1922), die „Association des gastronomes régionalistes“ (Vereinigung der regionalen Feinschmecker, 1923), der „Cercle des Purs Cent“ (Kreis der reinen Hundert, 1923) und die 1928 von Curnonsky initiierte „Académie des gastronomes“ (Akademie der Feinschmecker). 1929 gründeten zudem mehrere Frauen den „Club des gourmettes“ (Club der weiblichen Gourmands, 1929), wobei der Begriff „gourmettes“, der ein aus einzelnen Gliedern bestehendes Armband bezeichnet, als Protest gegen das Fehlen der weiblichen Form von „gourmet“ gewählt wurde. Seit 1919 bemühten sich die „Union des fédérations des syndicats d’initiative“ (UFSI) und die „Union nationale des associations touristiques“ (UNAT) nicht nur um die Entdeckung (oder Erfindung) regionaler kulinarischer Spezialitäten, sondern allgemein um den Aufschwung des Fremdenverkehres. Während die UNAT den 1901 gegründeten „Touring Club de France“ (TCF), den „Club alpin français“ und den „Automobile club de France“ umfasste, diente die UFSI als Dachorganisation der regionalen Tourismusverbände und bündelte die lokalen Initiativen. Jede Region wurde angehalten, ihre spezifischen Traditionen zu fördern, etwa Trachten zu bewahren, Volksfeste zu organisieren oder Regionalliteratur zu prämieren.313 Das „wilde“ Land hatte sich in eine pittoreske Landschaft verwandelt und diente nun dazu, die französische Nation in ihrer Größe und Vielfalt hochleben zu lassen.

Tafel 1: Individuelle Freiheit innerhalb des eingrenzenden Kollektivs: „ Le Bal du Moulin de la Galette“ (Gemälde von Auguste Renoir, 1876, Musée d’Orsay, Paris).

Tafel 2: Die ‚Kunst‘ des Tranchierens: „Frédéric découpant un canard au restaurant La Tour d’Argent“ (unbekannter Maler, um 1900, Restaurant La Tour d’Argent).

Tafel 3: Der Verstoß gegen die bürgerlichen Tischregeln galt als Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft: „Les Prodigues“ (Die Verschwender, Papiertapete, 1854, Manufacture Jules Desfossé, nach einer Zeichnung von Thomas Couture, Musée des Arts décoratifs, Paris).

Tafel 4: Die republikanische Jeanne d’Arc (1879, Jules Bastien-Lepage, Metropolitan Museum of Art, New York).

Tafel 5: „La France républicaine offrant son sein à tous les Français“ (Das republikanische Frankreich, allen Franzosen die Brust bietend, Stich, 1792, nachträglich koloriert, Musée Carnavalet, Histoire de Paris).

Tafel 6: Die Freiheit muss verdient werden – „La République“ (Gemälde von Honoré Daumier, 1848. Musée d’Orsay, Paris).

Tafel 7: Bürgerliche Binnendifferenzierung – Danse à la campagne (Tanz auf dem Land, Auguste Renoir, 1882/83, Musée d’Orsay).

Tafel 8: Bürgerliche Eleganz – Danse à la ville (Tanz in der Stadt, Auguste Renoir, 1883, Musée d’Orsay).

Tafel 9: Vom Aktmodell zur Malerin: Suzanne Valadon (Selbstportrait, 1898, Museum of Fine Arts, Houston).

Tafel 10: Thérésa (Eugénie Emma Valladon) bei einem Auftritt: „Au Café-concert: La Chanson du chien“ (Café-Concert: Das Hundelied, Edgar Degas, ca. 1875–1877).

Tafel 11: Ein ‚Verkaufsschlager‘: „La grande odalisque“ (Jean-Auguste Dominique Ingres, 1814, Musée du Louvre). Die Reproduktionen des Gemäldes waren finanziell lukrativer als das Original.

Tafel 12: Realismus, Karikatur, Gotteslästerung? Gustave Courbets Gemälde „Un enterrement à Ornans“ (Ein Begräbnis zu Ornans, Gustave Courbet, 1849/50, Musée d’Orsay) trägt die Romantik zu Grabe und untergräbt die akademischen Regeln.

Tafel 13: Die Ankündigung des Abstrakten: „Dantebarke“ (Eugène Delacroix, 1822, Musée du Louvre).

Tafel 14: Stilisierung des Körpers, um nicht den Gesamteindruck zu zerstören: klassizistisch-romantische Mélange bei Dominique Ingres, „La source“ (Die Quelle, 1856).

Tafel 15: Entfremdung des Menschen von der Natur: „Le déjeuner sur l’herbe“ (Das Frühstück im Grünen, 1863) von Édouard Manet.

Tafel 16: „Wahrheit“ und Realismus im Widerspruch? – „Olympia“ (Édouard Manet, 1863, Musée d’Orsay).

Tafel 17: Die klassizistische Wahrheit der „Academie des Beaux-Arts“: „La Naissance de Vénus“ (Die Geburt der Venus, Alexandre Cabanel, 1863).

Tafel 18 Die Suche nach „Ursprünglichkeit“: „Faa Iheihe“ (Paul Gauguin, 1898). Die seit der Renaissance übliche Zentralperspektive wird verworfen, die Einrahmung geht verloren und damit wird der Mensch gleichsam ‚entgrenzt‘. Die Farbe ist flächig aufgetragen und der Mensch zu einer natürlichen Idealgestalt geformt.

Tafel 19: Kommunikation, Beschleunigung und Simultaneität: „Champs de Mars: La Tour Rouge“ (Marsfeld: Der Rote Turm, Robert Delauny, 1911, Art Institut of Chicago).

3. Die Vielfalt in der Einheit Die Moderne ist keine Umwertung aller Werte, sondern eine Austauschbarkeit aller Werte, also ihre Kombinatorik und ihre Ambiguität. (Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod)1

Wenn man die Dinge aus der Distanz betrachtet, gibt es in der Poesie keine guten oder schlechten Themen, sondern nur gute und schlechte Dichter. Alles ist Thema; alles ist Kunst; alles hat das Recht, in der Poesie erwähnt zu werden. (Victor Hugo, Les Orientales)2

Der im vorangegangenen Kapitel beschriebene Widerstand der ländlichen Gesellschaft gegen die Verbürgerlichung ist nicht als „Gegenkultur“3, sondern als Teil eines spezifischen offenen Diskurses zu betrachten, dem bestimmte Regeln zugrunde liegen und der für die bürgerliche Gesellschaft als zentral gilt (S. 22–26). „Niemand“, meint Michel Foucault, „kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewissen Erfordernissen genügt, wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist.“4 Im Sinne des französischen Begriffs „ordre“, der sowohl „Ordnung“ als auch „Befehl“ bedeutet, ordne der Diskurs laut Foucault das Denken und schreibe zugleich die individuellen Entscheidungen vor. Das Subjekt sei daher in seinen Entscheidungen nicht frei, so wie es die Aufklärung postuliert hat, sondern „nur das Integral von Einflüssen, die den Diskurs weitertragen“.5 Die Radikalität der Foucault‘schen Diskurstheorie muss nicht unbedingt geteilt werden, um die gesellschaftliche Bedeutung der darin formulierten Grundidee zu erkennen: Individuelles Verhalten und Handeln stehen immer im Kontext mit gesellschaftlichen Vorgaben und sind zumindest partiell von diesen determiniert. So waren auch die konservativen gesellschaftlichen Kreise, selbst die leidenschaftlichsten Gegner der Französischen Revolution und der Re-

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3. Die Vielfalt in der Einheit

publik, den Instrumentarien und Regeln der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam ausgeliefert. Infolge des sich entwickelnden Vereins- und Zeitungswesens übernahmen sie bürgerliche Formen der Geselligkeit, der Konversation und der Kommunikation. Um gehört zu werden, mussten sie sich den rhetorischen und literarischen Regeln unterwerfen. Sie bedienten sich der unterschiedlichen Textsorten, etwa der Lyrik, des Dramas und des Romanes, die freilich zum Teil auf dem Erbe des Ancien Régime, d.h. auf den Klassikern der französischen Literatur, aufbauten. Zugleich wurden diese aber auch durch neue, durch die Durchsetzung der Massenmedien entstandene literarische Formen und Techniken, die sich unter andrem in den verschiedenen Textsorten der Zeitungen spiegelten, geprägt. Nicht zufällig wurde der „Félibrige“, eine literarische Regionalbewegung in der Provence, nicht nur heftig diskutiert und kritisiert, sondern auch als Bestandteil der nationalen Vielfalt betrachtet (S. 103). Als solcher war er Teil des offenen Diskurses. Dieser offene Diskurs soll im Folgenden am Beispiel der Kunst und Literatur illustriert werden, zumal in ihnen die ideologischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam sichtbar, lesbar und – in Form des Theaters – auch hörbar sind. Künstler und Schriftsteller waren weder Erfüllungsgehilfen einer vermeintlich dekadenten Gesellschaft noch Antibürger, sondern Bürger im Sinne des bürgerlichen Gesellschaftsmodells. Sie erfüllten letztlich jene Funktionen, die für sie reserviert waren: mit ihrer Kunst zunächst einmal zu gefallen und zu unterhalten, ferner mit ihr auch den Fortschritt der „Zivilisation“ auszudrücken. Sie besaßen aber auch die zentrale Aufgabe, durch ihre Werke innovativ zu wirken und diese „Zivilisation“ durch Gesellschaftskritik fortzuentwickeln. Der Hass vieler Künstler auf die bürgerliche Gesellschaft, die „Bourgeoisophobie“, wie ihn Peter Gay bezeichnet,6 war somit der bürgerlichen Gesellschaft immanent. Weil sie sich ständig in Frage stellt, ist die bürgerliche Gesellschaft letztlich in Bewegung. Gleichzeitig wird diese Bewegung als Bedrohung des Gewohnten und somit als Krisenerfahrung erlebt. Unter diesen Voraussetzungen kann Literatur und Kunst wiederum helfen, sich besser zu orientieren.7 Nur auf den ersten Blick sind Verwirrung und Orientierung in der bürgerlichen Gesellschaft ein Paradoxon. Genauer betrachtet entpuppen sie sich letztlich als zwei Seiten einer Medaille.

3.1 Der Mythos des verkannten Genies

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3.1 Der Mythos des verkannten Genies

Giacomo Puccini gewährt im ersten Bild seiner Oper „La Bohème“ (1896), die auf dem Roman „La vie de Bohème“ (1849) von Henri Murger basiert, Einblick in eine eiskalte Dachkammer im Quartier Latin, die von zwei brotlosen Künstlern bewohnt wird: dem Dichter Rodolfo und dem Maler Marcello. Rodolfo, von seiner hoffnungslosen Lage getrieben, verbrennt das Manuskript eines von ihm verfassten Dramas, um die Kälte wenigstens vorübergehend zu bekämpfen. Die Kunst und die profane Welt, der Existenzkampf, der von ihr abverlangt wird, sind offenbar unvereinbar. Nicht zufällig betritt in diesem Augenblick der Philosoph Colline verzweifelt die Dachkammer, weil er seine Bücher, die eigentlich seinen Lebensinhalt darstellen, nicht gegen Geld versetzen konnte. Die Nahrung des Geistes scheint der bürgerlichen Welt keinen Sou wert zu sein. Lediglich dem Musiker Schaunard ist es gelungen, genügend Geld für Brennholz und Speisen sowie für Wein und Zigaretten aufzutreiben. Er hat dafür aber einen hohen Preis bezahlt: Drei Tage lang musste er einen reichen Engländer, der seine Kunst keineswegs angemessen zu würdigen wusste, mit Musik unterhalten und dabei seine Ideale letztlich verraten. Puccini vermittelt in seiner Oper einen Gegensatz zwischen bürgerlicher Gesellschaft und „wahrer“ Kunst, er zeichnet das Bild des verkannten und hungernden Künstlers, der erst nach seinem Tod – und auch das ist ungewiss – zu Ruhm und Ansehen gelangt. Ein Gemälde von Jules Blin mit dem Titel „Art, Misère, Désespoir, Folie!“ (Kunst, Elend, Verzweiflung, Wahnsinn) bezieht sich ebenfalls auf diese angeblich triste Lage verkannter Künstler:8 Ein Maler mit verzweifeltem Blick scheint sich das Leben nehmen zu wollen. In sein Atelier dringt kaum Licht ein, die dunklen Farben, die Blin verwendet, verweisen auf die Hoffnungslosigkeit, die den Künstler ganz offensichtlich in den Tod treibt. Im Hintergrund sind Abgüsse antiker Statuen und Büsten in das Dunkel getaucht und lassen eine Anspielung auf gesellschaftlichen Stillstand vermuten. Die Antike galt der bürgerlichen Gesellschaft als Geburtsort der bürgerlich-demokratischen Prinzipien (S. 61–64), nun hat sich gleichsam der Schatten über sie gelegt. Auffallend ist auch die Abbildung eines Hutes, eines typischen Symbols der Bürgerlichkeit.9 Während die Attribute der Kunst – Pinsel, Farbe, Farbpalette, Malvorlagen und Bilder – im Raum wild verstreut sind, ist dieser wohlbehalten auf einem Hocker abgelegt. Ganz offensichtlich unterstellt Blin einen Widerspruch zwischen Kunst und Gesellschaft, deren strenge Regeln und Normen den Künstler in seiner Freiheit und somit in seiner Kreativität einschränken.

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3. Die Vielfalt in der Einheit

Dabei handelt es sich allerdings um einen Mythos, der sich bis heute hartnäckig gehalten hat. Klaus Herding stellt daher dem „Topos des leidenden Künstlers [...] sein Gegenbild in der Gestalt des Künstlers als Triumphator“ über die Gesellschaft gegenüber. Der Künstler (und gemäß dem bürgerlichen Rollenmodell des 19. Jahrhunderts nur selten eine Künstlerin) verbreitet die „Wahrheit“ oder zeigt zumindest mit seiner Kritik gesellschaftliche Missstände auf. Damit trägt er zur Fortentwicklung der Gesellschaft bei, weshalb man ihn achtet und verehrt.10 Auch der vermeintliche liederliche Lebensstil avantgardistischer Künstler – natürlich verschwenden die Freunde in Puccinis Oper ihr Geld für Wein und Zigaretten und verbringen ihre Zeit in anrüchigen Etablissements – ist mehr ein Klischee als historische Realtiät.11 Tatsächlich mochten sich manche Künstler und Literaten, zumindest vorübergehend, einem mehr oder weniger ausschweifenden Lebensstil hingegeben haben. Bei genauerer Betrachtung stimmt dieses Bild aber nur zum Teil mit der Realität überein. Nur wenige Künstler und Schriftsteller erlangten zufällig Berühmtheit, sondern arbeiteten vielmehr gezielt an ihren Karrieren. „Letzten Endes“, meint der surrealistische Objektkünstler Marcel Duchamp, mag der Künstler noch so sehr von allen Hausdächern herabschreien, er sei ein Genie – er wird das Verdikt des Zuschauers abwarten müssen, damit seine Erklärung einen sozialen Wert bekommt und die Nachwelt ihn schließlich in den Handbüchern der Kunstgeschichte erwähnt. […] die Rolle des Zuschauers ist die, das Gewicht des Werkes auf der ästhetischen Waage zu bestimmen.12

Das Publikum kann deshalb nicht ausgeblendet werden; es ist anwesend und lenkt – wenn vielfach wohl auch unbewusst – das Werk, weil dieses letztlich doch in der einen oder anderen Art gefallen soll. Selbst der Schriftsteller Charles Baudelaire verhielt sich keineswegs so exzentrisch, wie es die Legende bereits zu seinen Lebzeiten vermittelte, sondern achtete durchaus auf seine Karriere.13 Er war Mitglied der angesehenen „Société de gens de lettres“14 (Gesellschaft der Literaten) und instruierte seinen Verleger noch vor dem Erscheinen des Gedichtbandes „Les Fleurs du Mal“ (Die Blumen des Bösen) am 21. Juni 1857, mehrere Exemplare an eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten zu schicken. Darunter befanden sich die Schriftsteller und Kunstkritiker Théophile Gautier, Charles-Augustin Sainte-Beuve15 und Leconte de Lisle16, der ehemalige Ministerpräsident François Guizot und sein Sohn Guillaume Guizot sowie der „Ministre d’État“ und der „Ministre de l’Instruction Publique“. Auch

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in den USA und in Großbritannien erhielten verschiedene bedeutende Persönlichkeiten Exemplare des Buches.17 Zeitungen standen ebenfalls auf der Liste, wobei er die Auswahl aber penibel getroffen hattte. So erhielt etwa die „Revue de Paris“ – offenbar in weiser Voraussicht – kein Exemplar. In dieser sollte nämlich der Schrifsteller Léon Laurent-Pichat den „Fleurs du Mal“ zwei Spalten widmen, in denen er Baudelaire als „Dante dégénére“, als „entarteten Dante“, und als „Byron d’hospital“, als „Krankenhaus-Byron“, bezeichnet.18 Nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe von „Les Fleurs du Mal“ hatte sich der Dichter vor Gericht wegen Gotteslästerung und Verletzung der öffentlichen Moral zu verantworten. Die Anklage auf Gotteslästerung wurde zwar fallen gelassen, sechs Gedichte („Les Bijoux“, „Le Léthé“, „A Celle qui est trop gaie“, „Lesbos“, „Femmes damnées“, „Les Métamorphoses du Vampire“) durften allerdings nicht mehr weiterverbreitet werden. Ein belgischer Verleger bot Baudelaire draufhin an, die erste Ausgabe neu zu publizieren. Baudelaire befürchtete aber, damit eine zweite Ausgabe in Frankreich und somit auch seine Karriere zu gefährden. So bemühte er sich akribisch, die Lücken, die das Verbot der sechs Gedichte in seinem Werk gerissen hatten, durch eine neue Komposition, die auch neue Gedichte umfasste, „viel schönere als die verbotenen“,19 zu schließen. „Nur noch die ganz und gar Böswilligen“, schreibt er in einem Brief vom 10. November 1858 an den Schriftsteller und Literaturkritiker Alphonse de Calonne, „werden die vorsätzliche Unpersönlichkeit meiner Gedichte nicht begreifen“.20 Mit Hilfe der privaten Salons konnten sich Künstler, wenn sie erst einmal Eintritt in diese gefunden hatte, ihre Existenz durchaus sichern und die Karriere fördern. „Man produziert sich […] einige Male im Laufe des Winters“, schreibt der Komponist Friedrich von Flotow in seinen Lebenserinnerungen, gibt beim Beginne der Fastenzeit ein Konzert und sendet jeder Familie, in deren Salon man sich hören ließ, ein Dutzend Billette zu hohem Preise, […] und fast niemals werden dieselben ganz oder auch nur teilweise zurückgewiesen. […] Ein Publikum, bestehend aus den Habitués der verschiedenen Salons, findet sich hier zusammen und begrüßt die ihm von den Soireen her bekannten Virtuosen und ihre Produktionen, welche sie teilweise schon kennen, auf das Lebhafteste. Auf diese angenehme und wenig zeitraubende Weise kann ein strebsamer Künstler sich in Paris leicht erhalten.21

Manchmal machten sich auch Künstlerinnen wie Suzanne Valadon, die aus dem ländlich-bäuerlichen Milieu stammte, einen Namen. Valadon verdiente sich An-

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fang der 1880er Jahre zunächst als Aktmodell, unter anderem für Pierre-August Renoir und Henri de Toulouse-Lautrec, ihr Geld, kam auf diese Weise mit der Kunstszene des Montmartre in Kontakt und begann schließlich selbst zu malen (siehe Tafel 9). Sie war Autodidaktin, lernte von den Malern, denen sie Modell saß, und von Edgar Degas, der ihr Talent erkannte. Größere Bekanntheit und Ansehen erlangte sie vor allem mit weiblichen, aber auch mit vieldiskutierten männlichen Akten, die ihr letztlich die Existenz sichern konnten.22 Deutlich zeigt sich an diesen Beispielen, wie sehr Kunst geschätzt wurde und ein Bestandteil des bürgerlichen Selbstverständnisses war. Sie förderte die kollektive Selbstvergewisserung: Man gehörte dazu, war Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Das Interesse an Kunst bedeutete, Kunstsinn zu zeigen oder vorzutäuschen, um damit Eintritt in gesellschaftliche Kreise zu erhalten, die einem möglicherweise nützlich sein konnten. Zugleich bestätigte sie aber auch die eigene Kritik an der Gesellschaft und half, diese mit anderen zu teilen. Der bürgerliche Kunstliebhaber und freilich auch seine Gattin, die sich – wenn auch oft nur, wie es die bürgerlichen Rollebilder vorsahen, für den „Small Talk“ im Salon – für Kunst interessierte, konnten sich in der Gesellschaft verorten und dort einen angemessenen Platz finden. Die große gesellschaftliche Bedeutug der Kunst führte dazu, dass viele junge Leute aus der Provinz bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Paris zuwanderten, um sich als Schriftsteller oder Künstler zu versuchen. Unter anderem hing dies auch mit dem steigenden Bildungsgrad zusammen, der allerdings nicht mit den Arbeitsplätzen korrelierte, die in der Verwaltung, der Armee oder der Medizin zur Verfügung standen. Daher blieben vielen nur die literarischen oder künstlerischen Berufszweige als Ausweg, die nicht weniger Bedeutung hatten als etwa der Beruf des Bankiers.23 Paris erschien ihnen dabei als „Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten“, als „Brennpunkt des geistigen Lebens Frankreichs“.24 Und tatsächlich war dies nicht nur eine Schimäre, zumal sich bei völliger Aussichtslosigkeit auf Erfolg wohl kaum so viele Menschen als Maler, Musiker oder Schriftsteller versucht hätten. Die Volkszählung von 1876 weist etwa rund 4.000 Personen allein als „gens de lettres“, als Literaten, aus.25 Erfolgreichere Autoren und Autorinnen, wobei diese in der Minderheit waren, verdienten im Jahr 1899 immerhin bis zu 10.000 Francs jährlich, so viel wie ein Abgeordneter in der Nationalversammlung, während unbedeutendere mit 500 bis 1.000 Francs pro Jahr ihr Auskommen finden mussten.26 Das Einkommen der weniger erfolgreichen Autoren und Autorinnen lässt sich – frreilich unter dem Vorbehalt der nur beschränkten Aussagekraft von Statistiken und der problematischen Vergleichbar-

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keit unterschiedlicher sozialer Schichten – mit jenem der Arbeiterschaft gleichsetzen, deren Löhne aber nach Ort und Region stark variierten: 1896 erhielt etwa ein Arbeiter in Lyon einen Tageslohn in der Höhe von 5,08 Francs (unter Berücksichtigung der Sonntage jährlich rund 1.590 Francs), in Saint-Etienne 4,32 Francs (jährlich rund 1.350 Francs) und in Privas 3,43 Francs (jährlich rund 1.370 Francs).27 Die Statistik berücksichtigt auch Facharbeiter, die aufgrund ihrer Qualifikation relativ gut situiert waren und somit zur Verzerrung der durchschnittlichen Löhne beitragen. Werden die Kosten für Wohnen berücksichtigt, die 1887/89 in Frankreich rund 40 Francs betrugen,28 konnte man mit diesen Einkommen seine, wenn auch kärgliche Existenz fristen. Die Armut erhielt somit im 19. Jahrhundert eine neue Qualität: Man starb nicht mehr „an Hunger“ im buchstäblichen Sinn des Wortes, allerdings vergrößerte sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Eugène Schneider, der Begründer der französischen Unternehmerdynastie, konnte sich zum Beispiel sein Vermögen zwischen 1837 und 1875, dem Jahr seines Todes, jährlich um elf Prozent vermehren. Das Pro-Kopf-Einkommen in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts stieg dagegen lediglich um das Doppelte an.29 Viele Künstler und Künstlerinnen, die zwar nicht übermäßig verdienten, ihre Existenz aber mit ihrem – zugegebenermaßen oft unregelmäßigen – Einkommen mehr schlecht als recht sichern konnten, verbanden damit wohl auch das Gefühl, von den wirtschaftlichen Errungenschaften ausgeschlossen zu bleiben. Zu diesen Kunstschaffenden zählten auch viele Kaberettisten, Chansonniers und Literaten, die um 1900 in den Kabaretts, in den „Café-concerts“, im Umkreis des Montmartre ihre Existenz bestritten und monatlich zwischen 150 und 250 Francs verdienten.30 Manche von ihnen fanden damit durchaus ihr Auskommen. Sie „lebten ihre Werke“, wie Pierre Labracherie schreibt,31 andere verschafften sich durch eine niedrige Beschäftigung in der Verwaltung ein Zubrot: Edmond Haraucourt, ein Künstler aus dem Kreis des Kabaretts „Chat noir“, war Redakteur im Innenministerium, ein anderer „Chatnoirisant“, Albert Samain, in der Präfektur beschäftigt, Georges d’Esparbès Angestellter einer „Compagnie des omnibus“ (Omnibusgesellschaft32), eines Unternehmens für Personentransporte, und Maurice Vaucaire Sekretär des Direktors einer Bahngesellschaft, der „Compagnie des chemins de fer du Sud“.33 Der Verdienst dieser Künstler blieb freilich im Vergleich mit manchen Stars des Kabaretts, darunter auch einige Frauen, bescheiden: Die Chanteuse Thérésa (Eugénie Emma Valladon, siehe Tafel 10), die 1856 im Théâtre Saint-Martin mit 100 Francs im Monat ihre Karriere begonnen hatte, verfügte seit ihrem künstlerischen Durchbruch in den 1860er Jahren über

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ein Einkommen von bis zu 100.000 Francs jährlich. Der Chansonnier Dranem (Arman Ménard) verdiente zunächst lediglich sieben Francs täglich, erhielt aber schließlich 1894 rund 1.400 Francs je Auftritt. Und der Chasonnier Félix Mayol konnte innerhalb von zehn Jahren seine Auftrittsgage von zwei auf 1.500 Francs steigern. Erfolgreich war auch der Chansonnier Paulus, der nach 1886 rund 1.500 Francs für jeden Auftritt erhielt. Der Komödiant und Schriftsteller Félix Galipaux verdiente seit 1910 zwischen 500 und 1.000 Francs pro Auftritt, und die Sängerin und Schauspielerin Yvette Guilbert 1895 die Rekordsumme von 15.000 Francs monatlich.34 Die vielen abenteuerlichen Geschichten, die Künstler und Künstlerinnen oft selbst erzählten und verbreiteten, sind daher nicht immer ernst zu nehmen oder gar als Werbestrategie zu interpretieren. So beglich etwa der Schriftsteller und Kunstkritiker Francis Carco die Wirtshausschulden seines Schriftstellerkollegen Max Jacob angeblich auf recht ungewöhnliche Weise: Über eine Schiefertafel, auf der diese vermerkt waren, soll er Soße gegossen und sie schließlich dem Hund des Wirtes vorgesetzt haben, der die Schulden mit einem Zungenschlag tilgte.35 Ob der Wirt damit zufrieden war, ist freilich nicht überliefert. Von anderen Künstlern kursierte das Bild des empfindsamen, von Krankheit gezeichneten Genies. Jacques Offenbach fiel etwa, als er bei einem privaten Konzert ein gefühlvolles Adagio spielte, in Ohnmacht. Die Damen, die andächtig gelauscht hatten, fächelten ihm mit ihren Batisttüchern verzweifelt Luft zu, während ein anderer Gast die ganze Szenerie einfach als gut inszeniertes Schauspiel empfand.36 Die Anekdoten von armen oder empfindsamen Künstlern und Künstlerinnen dienten zur Mystifizierung des Künstlerlebens, weckten das Interesse der Öffentlichkeit und steigerten deren Marktwert. Ende der 1880er Jahre wollte etwa ein Mitglied des „Cercle Artistique et Littéraire“, eines Kreises aus Künstlern und Literaten mit Sitz in der Rue Volney in Paris und deshalb auch als „Cercle Volney“ bezeichnet, ein Gemälde von Étienne Moreau-Nélaton erwerben und begab sich dafür zum Wohnsitz des Künstlers. Dort erwartete er angeblich, ganz dem Mythos des verkannten Genies entsprechend, einen in ärmlichen Verhältnissen lebenden Maler anzutreffen, den er mit seinem Kauf unterstützen würde. Als der Kunstliebhaber aber von einem Dienstboten empfangen und in einen reich ausgestatteten Salon geleitet wurde, flüchtete er ob der enttäuschten Vorstellung von einem Künstlerleben.37 Von Armut fand sich bei Moreau-Nélaton keine Spur, dem Besucher öffnete sich eine Welt voller Kunstschätze. Seine Kunstsammlung wurde um 1900 auf einen Wert von über eineinhalb Millionen Francs geschätzt.38

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Tatsächlich profitierten Maler seit den 1880er Jahren von einem florierenden Kunstmarkt: Claude Monet verkaufte etwa 1880 mehrere Gemälde um 21.000 Francs an den Kunsthänder Paul Durand-Ruel. Da bildende Künstler durch den Kunsthandel größere Bekanntheit erlangten, erzielten seine Werke immer höhere Preise. Dadurch wurde es ihm möglich, sein berühmtes Landgut Giverny zu kaufen. Finanzeller Erfolg war in den 1880er Jahren auch den Malern Ernest Maissonier, Giovanni Boldini, Léon Bonnat oder Jean-Louis Forain vergönnt.39 Insgesamt waren freilich die Lebensverhältnisse eines Großteils der Künstler durch ein Auf und Ab geprägt, d.h. durch Phasen, in denen mehr und dann wieder weniger verdient wurde. Auguste Rodin stammte etwa aus einfachen Verhältnissen; sein Vater hatte als Wärter in Pariser Haftanstalten und später als Polizeiinspektor gearbeitet. Rodin selbst kämpfte als Künstler immer wieder mit Auftragsschwierigkeiten.40 Dennoch konnte er – auch wenn er es sich angewöhnt hatte, „seine pekuniäre Lage sicherheitshalber ein wenig schlechter darzustellen, als sie in Wirklichkeit war“41 – seine Existenz recht gut bestreiten. Auch Vincent van Gogh und Paul Gauguin waren keineswegs, wie oft kolportiert wird, Opfer finanzieller Miseren. Zwar blieb Van Gogh zu Lebzeiten die künstlerische Anerkennung versagt, sein Bruder protegierte und unterstützte ihn aber zeit seines Lebens. Gauguin fand dagegen, auch wenn er auf seiner Suche nach „Ursprünglichkeit“ nach Tahiti flüchtete, in Frankreich durchaus Anerkennung, nicht zuletzt deshalb, weil er niemals den Kontakt zu seinem Heimatland abbrechen ließ. Unter anderem stand er mit dem Kunstliebhaber und Amateurmaler George-Daniel de Monfreid in Verbindung, der mehrere seiner Gemälde kaufte. Außerdem organisierte der Kunsthändler Ambroise Vollard 1899 und 1901 zwei Gauguin-Ausstellungen. Der Verkauf mehrerer seiner Werke ermöglichte es dem Maler, seine vorübergehende Anstellung im Katasteramt von Papeete, der Hauptstadt von Französisch-Polynesien auf Tahiti, aufzugeben und schließlich auf den Marquise-Inseln in seine „Maison du jouir“ (Haus des Genusses), eine Pfahlbauhütte, zu übersiedeln.42 Angesichts der durchlässigen sozialen Grenzen ist es nur schwer möglich, das Künstlermilieu wie Klaus Schüle43 in eine „wirkliche Bohème“, die „sich aus der Armut herauszuwinden trachtet[e]“, sowie in „bourgeoise Bohèmiens“, „wohlhabende Kleinbürgerbohèmiens“ und „sozialkritische Künstler“ zu unterscheiden. Das Bild des armen, an der Grenze des Verhungerns lebenden Künstlergenies entsprang ganz offenbar einer verklärten bürgerlichen Vorstellung und wurde dem reichen, sich an den angeblich traditionellen Geschmack der bürgerlichen Gesellschaft anbiedernden Künstler bewusst gegenübergestellt.44 Auch Pierre

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Bourdieus Unterscheidung in die „romantischen Dandys der ‚Bohème dorée‘“ und die „zweite Bohème“, die „zur Ausübung eines Broterwerbs gezwungen ist, der zuweilen ohne jeden unmittelbaren Bezug zur Literatur steht“,45 scheint vom Mythos des hungernden Genies beeinflusst. Überhaupt erweist sich der Begriff der „Bohème“, der einen gegen die bürgerlichen Konventionen gerichteten Lebensstil beinhaltet, als analytisches Instrumentarium ungeeignet, wenn das gesellschaftlichen Konzept der eingezäunten Freiheit berücksichtigt wird. Die so genannte „Gegenkultur“ war, wie bereits mehrfach erwähnt, letztlich selbst ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Treffender scheint dagegen der Begriff der künstlerischen und literarischen Avantgarde zu sein.46 Dieser bezeichnet jene Künstler und Schriftsteller, die Traditionen in Frage stellten, sich durch innovatives Wirken auszeichneten, aber Anerkennung fanden und damit zum Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft beitragen konnten. In diesem Zusammenhang ist aber keineswegs der sich erstmals von den akademischen Regeln abwendende Impressionismus, wie Renato Poggioli meint,47 als erste avantgardistische Bewegung in Frankreich einzustufen. Bereits Maler wie Eugène Delacroix oder Édouard Manet hatten – wie noch genauer darzulegen sein wird (S. 184, 188) – avantgardistische Bedeutung, obwohl die künstlerischen Vorgaben der „École des Beaux-Arts“ (S. 162) sie in ihrer Arbeit noch partiell einschränkten. Mit der Verwendung des Begriffes der „Avantgarde“ wird verhindert, dass Künstler und Literaten nach sozialer Lage unterschieden werden, so als würde die „richtige“ und „wahre“ Kunst und Literatur lediglich aus einer Situation der Armut geboren. In der Realität stammten die Vertreter der Avantgarde aus unterschiedlichen sozialen Milieus, unter anderem auch aus gutbürgerlichen Kreisen. Darunter befanden sich nicht nur „auf die schiefe Bahn geratene oder deklassierte Bourgeois“48, sondern auch Künstler und Literaten, die sich um ihre Existenz kaum Sorgen machen mussten. Gustave Flaubert, der die „Bourgeoisophobie“ gleichsam verköperte,49 war Sohn eines erfolgreichen Arztes in Rouen und Edouard Manets Vater ein hoher Beamter im Justizminsterium. Der Vater von Paul Cézanne hatte als Bankier ein Vermögen gemacht, von dem der Künstler bis an sein Lebensende zehren konnte. Camille Pissarro war als Sohn einer wohlhabenen Kaufmannsfamilie auf der Antilleninsel St. Thomas geboren worden. Gustave Caillebottes schließlich war Millionär und gehörte der Elite der französischen Gesellschaft an.50 Der entstehende Kunstmarkt verschaffte aber auch Künstlern, die aus weniger begüterten Kreisen stammten, die Aussicht auf Erfolg. In Frankreich begann der Kunsthandel in den 1820er Jahren zu florieren, wobei der Pariser Kunsthändler

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Alphonse Giroux eine Voreiterrolle einnahm. 1821 legte Giroux einen Vorrat von Kunstwerken an, der zunächst vor allem für den Verleih bestimmt war. Kunst konnte als eine Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft sozusagen auf Zeit „gemietet“ werden. Einige Jahre später verkaufte Giroux bereits Gemälde, darunter auch Werke von zeitgenössischen Malern, Papierwaren und „objets de curiosité“, gleichsam „Liebhaberstücke“.51 Händler, die bislang Kunstzubehör wie Bilderrahmen und Einfassungen erzeugt und verkauft hatten, ergänzten nur ihre Warenpalette durch den Verkauf von Gemälden. So eröffnete etwa der Händler Henri Gaugain 1829 das „Musée Colbert“, in dem er eine ständige Ausstellung zeigte, bei der Gemälde zum Verkauf angeboten wurden.52 Andere, nicht nur an Gewinn orientierte kunstaffine Händler versuchten, zeitgenössische Maler bekannt zu machen und damit die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auf diese Weise trugen sie zur Entwicklung eines Kunstmarktes bei, von dem Maler letztlich profitieren konnten. Ähnlich verfuhr wohl Julien François Tanguy, der im Jahr 1875 einen Laden für Künstlerbedarf eröffnete und weniger von der Aussicht auf Gewinn als von der Begeisterung für die Kunst und der Sammelleidenschaft getrieben wurde. Für Farben nahm er von den Malern nicht nur Geld, sondern auch deren Gemälde in Zahlung. Neben seinem Verkaufsladen führte er daher auch eine Galerie, in der er unter anderem Gemälde von Cézanne ausstellte und zu billigen Preisen verkaufte. Ein großes Gemälde kostete rund hundert, ein kleines 40 Francs. Händler wie Tanguy, die von idealistischen Vorstellungen getrieben waren, achteten meist nicht darauf, ob die angekauften Gemälde auch tatsächlich dem breiten Geschmack entsprachen. Zum Teil gerieten sie in eine prekäre wirtschaftliche Lage, weil sie über kein ausreichendes Kapital verfügten, um Gemälde längerfristig zu lagern. Daher waren sie oftmals dazu gezwungen, diese zu schlechteren Konditionen weiterzuverkaufen.53 Eine weitere Form des Kunsthandels entstand mit den „marchands-éditeurs“, die auf die Binnendifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft reagierten. Da nun auch weniger Begüterte ihr Zuhause mit Kopien von Gemälden und anderen Kunstwerken schmückten, spezialisierten sie sich zunächst vor allem auf die Herausgabe von Gravuren bekannter Werke, die sie zu erschwinglichen Preisen veräußern konnten. Adolphe Goupil beschäftigte etwa gemeinsam mit anderen Händlern über Vertrag mehrere Künstler, die Kopien, meist Grafiken oder Kupferstiche, von den so genannten „Chefs-d’œuvres“ der alten Künste, aber auch von den bekanntesten Werken der Gegenwartsmaler anfertigten. Wurde ein Werk im Pariser Salon ausgestellt, bestand in der Folge auch Nachfrage nach Kopien. Goupil hatte mit seinem Unternehmen großen Erfolg, weshalb er Nie-

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derlassungen in London (1841) und New York (1845) gründete. Schließlich ließ er 1860 in der Rue Chapel in Paris ein neues großes Gebäude errichten, das ein geräumiges Atelier, eine Galerie und eine Druckerei beherbergte.54 Schließlich entdeckte Goupil auch die Fotografie, um berühmte Kunstwerke einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.55 Kunst wurde gewissermaßen demokratisiert und nun breiter rezipiert. Die Großmutter des Ich-Erzählers in Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ befürchtet, dass die Gewöhnlichkeit, die bloße Nützlichkeit bei der mechanischen Art der Reproduktion [von Bauwerken und Landschaften, Anm. d. V.] durch Photographien zu sehr die Oberhand bekämen. […] und wenn es ihr auch nicht gelang, die auf Erwerb abgestellte Banalität völlig auszuschalten, so wollte sie sie doch wenigstens vermindern und sie weitgehend durch etwas ersetzen, was auch noch Kunst war; sie versuchte gleichsam mehrere Schichten von Kunst übereinanderzulageren: anstatt Photographien der Kathedrale von Chartres, der „Grandes Eaux“ von Saint-Cloud oder des Vesuvs zu erwerben, […] schenkte [sie] mir dann lieber, was den Kunstgehalt um einen Grad erhöhte, Photographien der von Corot gemalten Kathedrale von Chartres, der „Grandes Eaux“ von Saint-Cloud von Hubert Robert und von Turners „Vesuv“.56

Die Reproduktion ihrer Werke verschaffte Künstlern ein zusätzliches Einkommen. Dominique Ingres‘ Gemälde „La Grande Odalisque“57 war etwa um 1.200 Francs verkauft worden, die Reproduktionsrechte brachten ihm dagegen 24.000 Francs ein (siehe Tafel 11). Die Reproduktion von Kunstwerken wandelte sich schließlich zur Industrie: Kopien von Skulpturen wurden aus Wachs und Bronze, meist in verkleinerter Form, hergestellt. Achille Colas erfand 1839 sogar eine Maschine, die es ermöglichte, Skulpturen detailgenau zu verkleinern. Miniaturen von Emmanuel Frémiers populärer, 1874 auf dem Place de Pyramide aufgestellten Reiterstatue von Jeanne d’Arc, die – wie bereits erwähnt (S. 68) – lange Zeit neben Marianne als Verkörperung der Republik galt, fanden etwa zahlreiche Abnehmer. In Paris widmeten sich 1878 rund 600 Fabriken mit 7.500 Arbeitern, darunter vor allem spezialisierte Gießer, der „Skulptur-Industrie“.58 Der florierende Kunsthandel zeigt die Bedeutung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie galt als fortschrittlich, als gesellschaftlicher Motor, und war daher auch eine gute Vermögensanlage. Beides schloss sich nicht aus, zumal selbst avantgardistische Werke gesellschaftliche Akzeptanz und damit auch Ab-

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nehmer fanden. Die „Bohème“ mochte jammern, sie verhungerte aber nicht. Nicht der künstlerische „Mainstream“ prägte die bürgerliche Gesellschaft, wie dies durch den Mythos der „Gegenkultur“ kolportiert wird. Vielmehr lebte die Kunst von der Vielfalt, die letztlich der Avantgarde immer wieder zur Akzeptanz verhalf. Selbst das künstlerische Normen- und Regelkorsett des akademischen Systems, das in Frankreich vor allem die École des Beaux-Arts vorgab, gewährte im Sinne der eingezäunten Freiheit des bürgerlichen Gesellschaftsmodells einen gewissen Handlungsspielraum. Seit den 1880er Jahren lösten sich diese vorgegebenen Grenzen schließlich ohnehin immer mehr auf bzw. wurde das Durchbrechen der Grenzen selbst zur Regel.

3.2 Die eingezäunte Freiheit der Kunst

In der bürgerlich-liberalen Gesellschaft sollte der Staat keinen direkten Einfluss auf die Kunst und Literatur ausüben, sondern im Sinne der Aufklärung gleichsam die künstlerische „Mündigkeit“ ermöglichen und den institutionellen Rahmen für künstlerische Kreativität schaffen. Der Politiker Maurice Couyba, der dem linksliberalen „Parti radical“ angehörte, forderte 1907 „weder die kollektive Kunst in einem souveränen Staat noch die freie Kunst in einem freien Staat, sondern die freie Kunst in einem protektionistischen Staat […], eine anhaltende Konzeption, um zwischen dem Prinzip der Autorität und dem Prinzip der Freiheit zu oszillieren“.59 Weder eine bestimmte Schule noch ein bestimmter Stil sollte bevorzugt, sondern allen künstlerischen Tendenzen die gleiche Wertigkeit eingeräumt werden. „Seit dem Ursprung Frankreichs“, meinte der Historiker und Schriftsteller Gustave Larroumet im Jahr 1895, „sind die sozialen Kräfte Frankreichs immer damit beschäftigt, den nationalen Geschmack zu unterrichten“.60 Larroumet, der 1881 bis 1891 das Amt des Direktors der „École des Beaux-Arts“ ausgeübt hatte, nahm damit Bezug auf das bereits besprochene einheitliche Geschichtsbild, das gleichsam eine gesetzmäßige Entwicklung von der Vergangenheit bis hin zur „zivilisierten“ Nation bzw. bürgerlichen Gesellschaft unterstellte (S. 59–61). Da sich aber der „soziale Geschmack“ gewandelt hatte, verstand Larroumet darunter nun nicht mehr die ideologische Infiltration und Manipulation der Bevölkerung, wie sie etwa während der Französischen Revolution erfolgt war (S. 75), sondern die Fähigkeit, in den offenen Diskurs einzutreten und die Freiheit der Kunst zu garantieren. „Die zeitgenössische Demokratie“, schreibt Larroumet weiter,

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kann diese Rolle [die Erziehung zur „zivilisierten“ Nation und zum offenen Diskurs, Anm. d. V.] nicht aufgeben. Deshalb macht sie die Kunst zu einer öffentlichen Dienstleistung. Der Staat übt diesen Dienst aus durch seine Gebäude, seine Ankäufe von Kunstwerken, die Förderungen für die höhere Kunst […], die Ungezwungenheit, die er durch seine freien Ausstellungen schafft, vor allem aber durch seinen Unterricht und durch seine Museen, die eine Art des Unterrichts sind.61

Somit betrachtete der liberale Staat die Kunst nicht nur als Geschmackssache, sondern als eine rationale Angelegenheit, die dem Spiel der freien künstlerischen Kräfte ausgesetzt und deren Betrachtung erlernbar sei. Auf diese Weise wurde versucht, Kunst einer breiten Öffentlichkeit zugängig zu machen und gleichzeitig dem Vorwurf zu begegnen, eine Elite entscheide, was der Öffentlichkeit zu gefallen habe. Dennoch bleibt bei dieser Art von Kunstpolitik – die Kulturökonomie hat dafür den Begriff der „Merit goods“ geprägt62 – ein paternalistischer Beigeschmack, zumal vorausgesetzt wird, dass Kunstverständnis zunächst einmal erlernt werden muss. Dafür hätten der Staat und die staatliche Kulturpolitik die notwendigen Rahmenbedingungen, adäquate Bildung sowie ein System von Museen und Ausstellungen, zu bieten. Ob der liberale Staat diese Aufgabe tatsächlich erfüllte, ist allerdings anzuzweifeln, nicht zuletzt, weil die Kunst – trotz der Verbreitung von Kopien berühmter Werke – letztlich doch eine relativ elitäre Angelegenheit blieb. Die historische Entwicklung hin zum bürgerlich-liberalen Kunst- und Kulturkonzept war jedenfalls eine andere als die von Larroumet gepriesene. Im Ancien Régime hatte Kunst noch die Funktion der Repräsentation besessen und war herrschaftspolitisch instrumentalisiert worden. Dazu dienten der Monarchie die von ihr geschaffenen Akademien, die keine Autonomie besaßen und der revolutionär gesinnte Gabriel de Riqueti Graf von Mirabeau, der kurz „Mirabeau“ gerufen wurde, daher als „Brutstätten knechtischer Gesinnung und Lüge“ bezeichnete.63 Sie setzten eine königlich sanktionierte Sicht der Welt durch, indem sie für akademische Normierung und die Vermittlung von Lerninhalten sorgten, die von königlichen Experten als gültig erklärt worden waren. Die „Académie des Inscriptions et Belles Lettres“ (Akademie für Inschriften und Schöne Literatur) hatte etwa die Aufgabe, über die französische Sprache und Literatur zu wachen und eine sprachliche Vereinheitlichung zu gewährleisten. Die „Académie royal française“ (Königliche französische Akademie) war für die Wissenschaft verantwortlich und die „Académie royale de Peinture et de Sculpture“ (König-

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liche Akademie der Malerei und Bildhauerei) reglementierte und kontrollierte die „Beaux-Arts“ (Schönen Künste).64 Seit der Französischen Revolution wandelte sich aber die Beziehung zwischen Staat und Kunst, auch wenn sich bis zum Ende des Zweiten Kaiserreiches immer wieder ein Konzept durchsetzte, das sich durch die Einflussnahme des Souveräns auszeichnete. Grundlage des republikanischen Konzeptes bildetete das 1795 gegründete „Institut national des sciences et des arts“ (Nationales Institut der Wissenschaften und Künste), das spätere „Institut de France“, das heute als Dachorganisation der staatlichen Akademien dient. Dieses knüpfte keineswegs an die Akademien der Monarchie an, sondern versuchte, vom Staat unabhängige wissenschaftliche und künstlerische Ausbildungsstätten zu schaffen, die den „Sciences physiques et mathématique“ (Wissenschaften der Physik und Mathematik), den „Sciences morales et politiques“ (Wissenschaften der Moral und Politik) sowie der Literatur und den „Beaux-Arts“, den „Schönen Künsten“, gewidmet waren. 1803 ließ Napoleon Bonaparte diese drei Klassen durch vier ersetzen. Lediglich die „Classe des sciences physiques et mathématiques“ blieb erhalten; dazu kamen nun die „Classe de la langue et de la littérature française“ (französische Sprache und Literatur), die „Classe d’histoire et de littérature ancienne“ (Geschichte und alte Literatur) und schließlich die „Classe des Beaux-Arts“ (Schöne Künste) mit ihrer „École des Beaux-Arts“ (Schule der Schönen Künste). Letztere zeichnete bis in das 20. Jahrhundert hinein mit ihrer relativ konservativen Orientierung maßgeblich für die Ausbildung von Malern und Bildhauern verantwortlich, auch wenn sie in der Praxis seit den 1880er Jahren ihre Monopolstellung allmählich verlor.65 Während der Restauration wurden die Klassen in Akademien umgewandelt. In der „Académie des Beaux-Arts“ durften nun auch Mitglieder gewählt werden, die keine Künstler waren.66 Damit war die Grundlage für einen Diskurs zwischen Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und Beamten geschaffen worden, der allerdings durch die bereits erwähnte „réference latine“ (S. 61) und die sich daraus ergebende strenge klassizistische Ausrichtung der „Académie des Beaux-Arts“ doch recht eingeschränkt blieb. Letztlich sollte sich der Akademismus als behäbiger Koloss erweisen, als eher fortschrittsfeindlicher Gralshüter einer vermeintlichen künstlerischen Wahrheit, der sich aber Innovationen gegenüber dennoch nicht völlig verschließen konnte (S. 183, 194). In der künstlerischen Praxis hatte sich bereits während der Französischen Revolution zum Teil das Gegenteil von dem gezeigt, was mit dem „Institut national des sciences et des arts“ eigentlich angestrebt worden war. Kunst stand zu die-

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ser Zeit im Dienst der Republik und der bürgerlichen Vergesellschaftung, hatte affektive Funktion und war somit keineswegs dem offenen Diskurs verpflichtet. Erst recht wurde Kunst unter der napoleonischen Herrschaft zu machtpolitischen Zwecken instrumentalisiert, freilich nicht im demokratischen bzw. republikanischen Sinn. Auf der einen Seite präsentierte sich Napoleon zwar als Schirmherr von Marianne, sprach „au nom du peuple français“, im Namen des französischen Volkes, und verbreitete die Trikolore sowie die französische Sprache als Symbole der Revolution in ganz Europa. Auf der anderen Seite errichtete er ein autokratisches System, das oftmals mit dem Begriff des „Cäsarismus“ bezeichnet oder gar mit dem Ancien Régime verglichen wird. „Die neue Gesellschaft“, schreibt Jean Tulard, „spiegelte sich im Geistesleben und in den Künsten wider, und der vorherrschende Empire-Stil reflektierte die Rückkehr zu Ordnung und Autorität. […] Die Kunst stand im Dienste des Kaisers. Napoleon knüpfte an die Tradition Ludwig XIV. an; der Adler ersetzte dabei die Sonne.“67 Der Vergleich mit dem „Sonnenkönig“ ist allerdings insofern problematisch, als sich Napoleon nicht als ein von Gott legitimierter Monarch sah, sondern als Verkörperung des Volkes. Nicht zufällig setzte er sich, nachdem ihm durch eine Volksabstimmung und vom „Sénat conservateur“68 die Kaiserkrone gleichsam angetragen wurde, diese selbst auf sein Haupt, ohne im Übrigen die Segnung des anwesenden Papstes zu erhalten. Die Volkssouveränität, die sich die Französischen Revolutionäre von 1789 auf ihre Fahnen geschrieben hatten, wurde von Napoleon also insofern akzeptiert, als er sich gleichsam als Personifizierung des Volkes verstand.69 (S. 233, 238) Das Innenministerium wachte streng über die künstlerische Produktion. Durch die Wiederbelebung des Hofes waren die Künstler eng an die Person des Souveräns gebunden. Sie übernahmen repäsentative Funktion, indem sie die Person Napoleons und das Kaiserreich verherrlichten, etwa in monumentalen Projekten wie dem Bau des „Palais du roi de Rome“ (Palast des römischen Königs), der für Napoleon II., des Kaisers Sohn, vorgesehen war, aber unvollendet blieb. Auch der Louvre wurde unter der Herrschaft Napoleons mit den Tuilerien zusammengeführt.70 In der Malerei dominierte weiterhin der Neoklassizismus, der ursprünglich an die demokratischen Traditionen der Antike anknüpfen hätte sollen, nun aber der Verherrlichung eines autoritären Regimes diente. Dabei erlangte ein Maler große Bedeutung, der sich nicht nur durch sein künstlerisches Talent, sondern auch durch seine Anbiederung an das jeweilige Herrschaftssystem auszeichnete: Jacques Louis David. Während der Französischen Revolution hatte er sich als eifriger Jakobiner hervorgetan und seine Kunst in dem Dienst der Jakobinerherrschaft gestellt.71 Nun erkannte er in der Machtübernahme Na-

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poleons eine neue Chance, seine Künstlerkarriere fortzusetzen. Trotz seiner jakobinischen Vergangenheit hatte er keinerlei Skrupel, das Kaisertum als erster Maler des Kaisers, als Senator, Offizier der Ehrenlegion und Mitglied des „Institut national des sciences et des arts“ zu verherrlichen.72 Die diktatorischen Züge der napoleonischen Herrschaft zeigen sich im Übrigen auch in der Reform des „Institut national“, die unter anderem auch dazu diente, die Opposition auszuschalten. So löste Napoleon etwa die „Classe des sciences morales et politiques“ auf, weil sie ihm als Sammelbecken von Ideologen als gefährlich erschien. Und auch deren Zeitschrift, die „Décade philosophique“, wurde 1807 verboten.73 Die Restauration knüpfte an das monarchistische Kunstkonzept des Ersten Kaiserreiches an und versuchte, durch ein enges institutionelles Netzwerk die Kontrolle über die Kunst zu gewährleisten. Im Innenministerium wurde die Stelle eines „Intendant général“, eines Generalintendanten, geschaffen, der für die Errichtung öffentlicher Denkmale und für die Kontrolle der Künste im Namen des Königs zuständig war. Diese Aufgabe übernahm der ständige Sekretär der „Académie des Beaux-Arts“, Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincy. Zudem ließ der König die französischen Museen zu „Musées royaux“ (Königliche Museen) umwandeln und stellte sie auf diese Weise in den Dienst der Krone. Dem „Conseil du musées royaux“ gehörten Mitglieder der „Académie des Beaux-Arts“ an, darunter wiederum Quatremère de Quincy.74 Trotz staatlicher Kontrolle setzte sich aber bereits während der Restauration eine zunächst vor allem literarische Bewegung durch, die der klassizistischen Orientierung des „Institut“ entgegentrat, in vielen bürgerlichen Salons anerkannt wurde und den künstlerischen Diskurs bereicherte: die Romantik. Als zentrales Ziel postulierte sie die Befreiung des Individuums von allen Fesseln. Dabei wurde die Macht des Gefühls der rationalen Weltsicht der Aufklärung entgegengestellt. Allerdings beruhte auch der romantische Individualismus auf der Aufklärung, weshalb die Romantik letztlich nicht als Gegenbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft, sondern als Teil von dieser bzw. als Teil des offenen Diskurses betrachtet werden muss. Noch während der Restauration übertrug Eugéne Delacroix die literarische Romantik auf die Malerei, auch wenn er sich wehrte, als Romantiker bezeichnet zu werden.75 Obwohl literarisch umfassend gebildet, stellt er keine Geschichten mehr in den Mittelpunkt seiner Gemälde, sondern regte vielmehr die Fantasie des Betrachters an und fungierte damit auch als Vorreiter der abstrakten Malerei. „Er hat zu viel Shakespeare und Dante gelesen und zu viel im Faust geblättert“, sollte Paul Cézanne später an Delacroix kritisieren, allerdings nicht, ohne gleichzeitig dessen zentrale Bedeutung für

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die Malerei seiner Zeit hervorzuheben: „Aber trotzdem hat er die beste Palette Frankreichs. Wir Maler sind alle in ihm.“76 Anfänglich konservativ und religiös orientiert, näherte sich die französische Romantik in den 1820er Jahren dem oppositionellen Liberalismus an. „Der Romantismus“, schreibt Victor Hugo im Vorwort zu seinem – zumindest auf dem ersten Blick – als Liebesdrama konzipierten Theaterstück „Hernani“ (1830), ist […] letztlich nur der Liberalismus im Bereich der Literatur. […] Die Freiheit in der Kunst, die Freiheit in der Gesellschaft, das ist dasselbe Ziel, zu dem im gleichen Schritt alle konsequenten und logischen Geister hinstreben müssen: […] die literarische Freiheit ist die Tochter der politischen Freiheit.77

Indem Hugo in „Hernani“ den unregelmäßigen „vers coupé“ anstelle des von der „Académdie de la langue et de la littérature“ geforderten Alexandriners verwendet, schafft er sich mehr sprachliche Freiheit, womit er dem romantischen Individualismus entgegenkommt. Zugleich lässt sich der Einsatz des „vers coupé“ auch als politisch-revolutionärer Akt auffassen, zumal gerade im Vorwort zu „Hernani“ die Durchsetzung der „politischen Freiheit“ als zentrales Ziel der Romantik formuliert wird. Hugos „Hernani“ erschien nicht zufällig im Jahr 1830, als infolge der „Trois Glorieuses“, der drei Tage dauernden Julirevolution vom 27. bis 29. Juli, die bürgerlich-konstitutionelle Julimonarchie eingeführt wurde. War der offene Diskurs unter der Restauration durch eine repressive Politik stark eingeschränkt gewesen, boten nun die Julimonarchie78 und seit 1848 die Zweite Republik einen größeren künstlerischen Freiraum. Der „romatisme libéral“ war, wie Corinne Pelta schreibt, „sowohl politisch, sozial, philosophisch als auch ökonomisch“. Die „menschliche, soziale und politische Realität“ vereinten sich „in einer Vision von Gesellschaft und Individuum […], in der die Kunst nicht nur beschreibende, interpretierende Elemente zum Verständnis des Reellen liefert, sondern auch aktive […]. Das Ich kommt untrennbar aus dem Wir.“79 Literatur, Theater, Malerei – sie sollten in der gesellschaftlichen Realität wie die Politik und die Wirtschaft agieren. Für die liberale Romantik existierte keine Trennung von Ästhetik und Sozialem, von Ästhetik und Politik: „Eine soziale Vision der Welt entwickelt sich dort, wo es nicht möglich ist, zwischen dem Bereich der Phantasie, der Empfindsamkeit, des Gefühls und dem Bereich der Vernunft zu unterscheiden, zwischen privat und öffentlich, zwischen individuell und kollektiv.“80 Sie folgte keinen vorgegebenen Stereotypen und Regeln, betrachtete „jedes System, jede Routine als

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Abb. 5 Der offene Diskurs in Rage: Die Uraufführung von Victor Hugos „Hernani“ am 21. Februar 1830 in der „Comédie-Française“, die bei den Romantikern selbst zu Meinungsverschiedenheiten führte („Les Romantiques échevelés à la première représentation d’Hernani le 21 février 1830”, Grandville, 1830).

Tod der Poesie“. Daher lasse sich Poesie – wie in der Zeitschrift „Globe“ 1825 zu lesen ist – auch nicht in Schulen lehren, die letztlich nur „perroquetes“, „Papageien“, hervorbrächten. Vielmehr sei es notwendig, „dass jeder seine eigene Schule gründet“.81 Der „Globe“ hatte sich von 1824 bis 1828 vor allem literari-

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schen Themen gewidmet, verschrieb sich aber zunehmend auch der Philosophie und Politik und entwickelte sich vom „journal littéraire“ zum „journal philosophique, politique et littéraire“.82 Die liberale Romantik definierte sich gleichsam als ständig in Bewegung, erfand sich durch den individuell agierenden Künstler immer wieder neu, passte sich den sozialen und politischen Gegebenheiten an und beeinflusst diese zugleich. Sie ergänzte die Idee der Revolution durch die „révolution permanente“.83 „Eine Revolution“, schreibt der Philosoph Théodore Jouffroy 1827, „ist folglich ein Schritt, den der menschliche Geist bei der Suche nach der Wahrheit macht. Die Revolution zu verurteilen bedeutet, die menschliche Natur zu verurteilen […].“84 Es verwundert nicht, dass der politische Schriftsteller Pierre-Jean de Béranger, der sich keineswegs als Romantiker verstand, in den Augen vieler seiner Zeitgenossen nicht nur als „romantisch“, sondern als „der größte Romantiker aller Romatiker“ bezeichnet wurde.85 Vor allem die Revolution von 1848 hatte bei vielen Künstlern eine Aufbruchsstimmung erzeugt, die in der Forderung nach mehr Mitbestimmung bei der künstlerischen Ausbildung und der Organisation des Pariser Salons mündete. Führend waren dabei die Maler Thomas Couture und Narcisse-Virgile Díaz de la Peña sowie der Bildhauer Antoine-Louis Barye. Eine aus Künstlern zusammengesetzte Generalversammlung sollte alle Funktionäre wählen, die in der Republik über Kunst entschieden. Der Staat und die „Académie des Beaux-Arts“, die ja in künstlerischen Angelegenheiten offiziell die alleinige Autorität besaß, ließen diese Forderung nach mehr Demokratie zwar unerfüllt, immerhin versuchten sie aber den revolutionären Eifer durch eine Neuorganisation des Salons zu beruhigen.86 Bislang hatte die Entscheidung, welche Werke im Salon ausgestellt wurden, in den Händen der „École des Beaux-Arts“ gelegen. Diese legte auch die Normen und Richtlinien fest, nach denen ein Kunstwerk gestaltet werden sollte. Demnach durfte ein öffentlich ausgestelltes Bild keine Erinnerung an seinen Entstehungsprozess aufweisen, in der Skizze bloß Angedeutetes musste im fertigen Gemälde genau ausformuliert sein. Außerdem war vorgeschrieben, einen Bezug zu einem klassischen Vorbild herzustellen.87 „Indirekt griff die Jury somit in die Kunstproduktion ein“, schreibt Stefan Germer. „Sie prämierte Übereinstimmung mit den Normen, nicht künstlerische Originalität, setzte auf Korrektheit statt auf Ausdruck und verbannte jede Erinnerung an den eigentlichen malerischen Produktionsprozeß aus dem Salon.“88 Von Seiten der Künstler, deren Werke als nicht würdig für den Salon empfunden wurden, erregte dieses Auswahlverfahren immer wieder Kritik. Denn immerhin galt der Salon bis in die

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1880er Jahre als maßgebliche Institution für den künstlerischen Erfolg. Beim Pariser Salon von 1848 wurden nun alle 5.180 Bewerbungen zugelassen und die Anordnung der Kunstwerke in den Ausstellungsräumen einer Kommission übertragen, für deren Zusammensetzung zahlreiche Künstler verantwortlich waren. „Die Jury ist endlich verstummt“, schreibt Théophile Gautier 1848 in „La Presse“, sie wurde von diesem scharfen und reinigenden Wind weggetragen, der 15 Tage so heftig geblasen hat […]; aber sind die Henker des Geistes nicht genauso schuldig wie die Henker des Körpers, und ist der Mord an einer Idee nicht das größte Verbrechen? Zensoren, Mitglieder der Jury, alle, die das Denken verstümmeln, müssen als Inquisitoren und Folterknechte bezeichnet werden […]; lassen Sie das Volk selbst urteilen!89

Ein Jahr später erfolgte zwar die Auswahl der Kunstwerke erneut durch eine Jury. Allerdings waren deren Mitglieder ausschließlich von Künstlern demokratisch gewählt worden.90 Die republikanische Kunstpolitik und Liberalisierung des Salons stand unter dem maßgeblichen Einfluss von Charles Blanc, dem neuen „Directeur des Beaux-Arts“.91 Er versuchte, die Aufgaben des Staates im Bereich der Kunst auf die „art public“, die öffentliche Kunst, zu beschränken. Dabei erzielte er aber aufgrund der wenigen staatlichen Aktivitäten letztlich nur mäßigen Erfolg.92 Immerhin war aber ein gewisser künstlerischer Freiraum geschaffen worden, in dem etwa die „Académie des Beaux-Arts“ – freilich weiterhin primär am Klassizismus orientiert – bei der Organisation des Pariser Salons zu Zugeständnissen bereit gewesen war. Davon profitierte neben der Romantik nun auch zunehmend der Realismus, den bereits Théodore Géricault mit seinem „Floß der Medusa“ (1818/19) angekündigt hatte (S. 183). Spätestens seit Gustave Courbets Gemälde „Die Steinklopfer“ (1849) wurde er als relevante Stilrichtung in der Malerei diskutiert, nicht zuletzt auch, weil er als adäquate künstlerische Umsetzung des sozialen Wandels infolge der Industrialisierung und der Demokratisierung erschien.93 „Die wahren Künstler“, schrieb Courbet in einem offenen Brief im „Courrier du dimanche“ vom 29. Dezember 1861, „sind jene, die ihre Epoche genau an dem Punkt packen, zu dem die vorausgegangenen Zeiten sie geführt haben. Rückwärtsgehen heißt nichts tun, heißt sich vergeblich abmühen, heißt die Lehren der Vergangenheit weder begriffen noch genutzt haben.“94 Gustave Courbets bekanntes Gemälde „Un enterrement à Ornans“ (Ein Begräbnis zu Ornans, 1849/50), das im Salon von 1851 ausgestellt war, ist diesen

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Grundsätzen verpflichtet: Es stellt ein Begräbnis in der Heimatstadt des Künstlers dar; unter anderem zeigt es Courbets Vater und seinen Großvater, seine Mutter und drei seiner Schwestern, ebenso den Bürgermeister von Ornans und zwei in Amtstracht gekleidete Veteranen der Französischen Revolution von 1789, die offenbar einem anderen, verstorbenen Veteranen die letzte Ehre erweisen. Die „vorausgegangenen Zeiten“, von denen Courbet spricht, werden anhand der ehemaligen Revolutionäre deutlich, weshalb ein Kritiker den Maler unter anderem als „Anführer von Sozialistenbanden“ bezeichnete.95 Courbet selbst nährte solche Vorwürfe, indem er provokant formulierte: „Ich bin nicht nur ein Sozialist, sondern ein Demokrat und ein Republikaner – kurzum: ein Anhänger der gesamten Revolution und darüber hinaus ein Realist […].“96 Das Gemälde schafft keinen Trost, beschönigt nichts und lässt die Hoffnung auf ein Jenseits gar nicht erst aufkommen. Vielmehr zeigt es die Trostlosigkeit der Existenz, die Vergänglichkeit und das damit verbundene Leid (siehe Tafel 12). Der Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon meinte dazu: „[…] von allen Lebensabschnitten ist derjenige der schwerste, jener, der sich am wenigsten für Ironie eignet, der das Leben beendet, der Tod“.97 Der Vorwurf des Hässlichen, den die Kritik Courbet machte, resultierte – wie Hans Ulrich Reck schreibt – aus der „Haltung eines Künstlers, der es zu einer noblen Aufgabe der Kunst machen wollte, das Häßliche bildwürdig erscheinen zu lassen. […] Wenn [aber] schon das Alltagsleben vulgär, gemein und häßlich sei, dann eben gerade nicht die Kunst.“98 Théophile Gautier meinte daher, dass sich „die einfachen Realisten mit einem Faksimilie der Natur, so wie sie sich ihnen gerade zeigt, zufriedengeben“. Courbet erwecke dagegen „den Anschein, als […] habe [er] sich gesagt: ‚Nichts ist schöner als das Häßliche, nur das Häßliche ist liebenswert‘“.99 Proudhon sieht in Courbets „Begräbnis von Ornans“ wiederum das Verhältnis der modernen Gesellschaft zum Tod dargestellt, die „scheußliche Wunde der modernen Unsterblichkeit“: Hier, so sagt er uns, sehe ich nur noch eine einzige Sache, die ehrenswert ist: die Tränen der Mütter, Schwestern, Gattinnen; die Unschuld der Kinder. Alles Übrige ist Komödie und, wie ihr [die Kirche und die Kritiker, Anm. d. V.] sagt, Sakrileg. Aber dieses Sakrileg würdet ihr gar nicht erkennen, ihr verfaulten, modernden Seelen, brächte die Malerei es euch nicht mit Gewalt zu Bewußtsein, gerade durch das Entsetzliche der Darstellung.100

In diesem Sinne geht Courbet mit seiner Darstellung über die gegenständlich korrekte Wiedergabe eines Sujets hinaus, um gleichsam eine philosophische Er-

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kenntnis von Wirklichkeit zu vermitteln.101 „Das Begräbnis von Ornan“, meinte Courbet 1861 anlässlich eines Künstlerkongresses in Antwerpen, ist in Wahrheit das Begräbnis der Romantik gewesen und hat von dieser Richtung der Malerei nur das übriggelassen, was eine Errungenschaft des menschlichen Geistes war, also eine Existenzberechtigung besaß, d.h. die Bilder von Delacroix und [Théodore, Anm. d. V.] Rousseau. […] Heute, nach den letzten Erkenntnissen der Philosophie, muß man sogar in der Kunst mit Vernunft urteilen und darf niemals das Gefühl über den Verstand siegen lassen. […] Indem ich das Ideal sowie alles ablehne, was daraus folgt, gelange ich zur vollen Selbstbefreiung des Individuums bis hin zur Verwirklichung der Demokratie. Der Realismus ist seinem Wesen nach die demokratische Kunst.102

Die Auseinandersetzungen um Courbets Werke zeigen deutlich, wie sehr der Realismus Teil des künstlerischen Diskurses geworden war.103 Courbet repräsentierte daher weniger eine künstlerische Gegenbewegung als vielmehr eine andere Sicht auf die Funktion der Malerei. Dies zeigte sich 1855, als er vor den Toren der Weltausstellung einen Pavillon errichten ließ, dort seine Gemälde präsentierte, die von der Kunstausstellung ausgeschlossen worden waren, und somit eine breite bürgerliche Öffentlichkeit erreichte. Ähnlich verhielt es sich auch mit den Karikaturen von Honoré Daumier, die in den Zeitschriften „La Caricature“ und „Le Charivari“ veröffentlicht wurden.104 Seine Gemälde, etwa „La Blanchisseuse“ (Die Wäscherin, um 1863), befinden sich bereits „an der Grenze zwischen sozialem Realismus und dem Abenteuer der Malerei“,105 d.h. an der Grenze zur künstlerischen Vielfalt, die vom Realismus über den Impressionismus bis hin zur abstraken Malerei führt. Mit dem Zweiten Kaiserreich erfuhr der künstlerische Freiraum, der seit der Julirevolution von 1830, insbesondere aber mit der Revolution von 1848 eröffnet worden war, eine neuerliche Einschränkung. Zwar wurde ein liberaler Wirtschaftskurs gefahren (S. 235), die politischen Stellen und die Mitglieder der Kaiserfamilie versuchten aber, Kunst und Literatur zu kontrollieren. Schriftsteller wie Gustave Flaubert und Charles Baudelaire sollten mit Prozessen, freilich nur partiell erfolgreich, eingeschüchtert werden. Zugleich wurde aber auch, wie Pierre Bourdieu schreibt, „vermittels materieller wie symbolischer Vorteile und Gewinne“ Einfluss ausgeübt: Pensionen (wie jene, die Leconte de Lisle heimlich von der kaiserlichen Regierung erhält); Zugriff auf Möglichkeiten, in den Theatern gespielt zu werden, in

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Konzertsälen aufführen, im Salon ausstellen zu können (dessen Kontrolle Napoleon III. der Académie des Beaux-Arts zu entreißen versuchte); Ämter und Posten auf Honorarbasis (wie der Posten eines Senators für Sainte-Beuve); Ehrenauszeichnungen, Académie française, Institut de France usw.106

Als Napoleon III. im Jahr 1863 eine Reform der „Académie des Beaux-Arts“ einleitete und damit deren Macht einschränkte, stand dahinter wohl weniger der Gedanke, die Kunst aus dem akademischen Regel- und Normenkorsett zu befreien. Vielmehr hatte diese Reform zwei Gründe: Erstens war Napoleon III. seit den beginnenden 1860er Jahren infolge außenpolitischer Misserfolge und seines damit verbundenen Prestigeverlustes gezwungen, auf einen liberalen Kurs einzuschwenken (S. 235) und seinem Regime wenigstens partiell demokratische Züge zu verleihen.107 Zweitens versuchte er, die Allmacht der relativ unabhängigen Akademie zu beseitigen und die Kunstproduktion unter staatlichen Einfluss zu bringen, um sie zu instrumentalisieren. Immerhin bewirkte aber die Reform, dass nun eine von der Akademie unabhängige Jury für die Verleihung des „Prix de Rome“ – eines hoch begehrten Preises, der jungen Künstlern einen Aufenthalt in Rom ermöglichte – verantwortlich zeichnete. Zudem wurden die theoretischen Fächer aufgewertet, wovon der künstlerische Diskurs profitieren konnte. Prosper Mérimée und Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, die beide Napoleon III. bei der Reform beraten hatten, sahen daher die Chance, die Allmacht der Akademie im Sinne der Freiheit der Kunst eizuschränken und sie gar aufzulösen.108 Dazu kam es freilich nicht, zumal die Reform heftige Konflikte auslöste und die Akademie alle Kräfte dagegen mobilisierte. Allen voran stemmte sich der bedeutende Maler Dominique Ingres, der seine zentrale Rolle in der Ausbildung der Künstler gefährdet sah, gegen die Reform.109 Dennoch lässt sich das Jahr 1863 als „Schlüsseljahr in der Kunst des 19. Jahrhunderts“110 werten, zumal Napoleon III. die Zulassung jener Kunstwerke, die vom Pariser Salon abgewiesen wurden, in einem „Salon des refusés“ anordnete. Dahinter stand freilich weniger die Aufgeschlossenheit des Kaisers gegenüber künstlerischen Innovationen als vielmehr der Machtkampf zwischen Akademie und Staat. Der „Salon des réfusés“, der wie der traditionelle Pariser Salon im Palais de l’Industrie stattfand, stellte allerdings Werke aus, die in vielen Fällen als avantgardistisch bezeichnet werden können. Sie verschärften den künstlerischen Diskurs und machten ihn zugleich vielfältiger. Das gößte Aufsehen erregten Whistlers Gemälde „The White Girl (Mädchen in Weiß, 1862) und Manets Gemälde „Le déjeuner sur l’herbe“ (Das Frühstück im Grünen, 1863), die von

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Théophile Gautier als Rückkehr der Kunst zu ihren Wurzeln bezeichnet wurden, gleichsam als Abkehr von der bürgerlichen „Zivilisation“.111 In der Dritten Republik setzte sich schließlich das von Charles Blanc bereits angestrebte liberale Kulturkonzept durch, das den staatlichen Einfluss auf ein Minimum reduzierte und die Freiheit der Kunst als offenen Diskurs verstand. Um die Unterstützung der „Académie des Beaux-Arts“ zur erlangen, gab ihr die Dritte Republik zwar einen Großteil ihrer Macht, die ihr während des Zweiten Kaiserreiches entzogen worden war, wieder zurück.112 1875 richtete der Staat jedoch mit dem „Conseil supérieur des beaux-arts“ (Oberster Rat der Schönen Künste) eine Art von „Künstlerparlament“ ein, in dem die französische Künstlerelite beratende Aufgaben für die „Académie des Beaux-Arts“ übernahm. Damit wurde gleichsam eine Brücke zwischen der konservativen Akademie, darin nicht vertretenen Künstlern und der parlamentarischen Regierung geschaffen.113 Tatsächlich schien mit der Tätigkeit des „Conseil supérieur des beaux-arts“ auch die „École des Beaux-Arts“ aufgeschlossener zu werden, zumal dort Antonin Proust114 und der Kunstkritiker Jules-Antoine Castagnary, der vehement für den Realismus eintrat, im Jahr 1882 eine Courbet-Retrospektive organisierten. Ein Jahr später folgte eine von Proust initiierte Manet-Retrospektive.115 Zugleich wurde der Salon durchlässiger, indem 1880 die ausgestellten Kunstwerke neu klassifiziert wurden: Eine erste Sektion umfasste die „artistes hors concours“, die „Künstler außerhalb der Konkurrenz“. Dabei handelte es sich um Künstler, die aufgrund ihres Ansehens und ihres großen Erfolges bei der Zulassung außer Diskussion standen. Eine zweite Sektion war für Künstler vorgesehen, die von der „examen du jury“, von der Prüfung der Jury, befreit waren. Damit waren Künstler gemeint, denen die Jury bereits einmal den Zugang zum Salon gewährt hatte, die allerdings noch nicht den Bekanntheitsgrad besaßen wie die „artistes hors concours“. Künstler aus dem Ausland stellten in einer dritten Sektion aus. Für die „artistes non exempts“, die „nicht befreiten Künstler“, die in einem der vorangegangenen Salons noch nicht vertreten waren und sich daher einem Auswahlverfahren der Jury stellen mussten, war schließlich eine vierte Sektion vorgesehen. „Die neue Klassifizierung erlaubt, den Wert der nach Malerkategorien gruppierten Gemälde sofort zu beurteilen“, schreibt die Zeitung „Le Petit Parisien“ am 2. Mai 1880. So bemerkt man in der Gruppe der Hors concours eine Quantität an Mittelmäßigkeit, Trödelware, Dummheiten ohne irgendwelchen Wert. Die Klassifizierung außerhalb der Konkurrenz in einer kompakten Gruppe wird das unmittelbare

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Resultat haben, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die absolute Notwendigkeit zu lenken, die Jury wieder für alle ohne Unterscheidung einzurichten. Die Sektion der Befreiten ist die lebendigste des Salons. Sie ist zusammengesetzt aus Gemälden von jungen Malern, und man trifft dort, ebenso wie in der Sektion der Nicht-Befreiten, auf einige wirklich schöne Malereien, die mehr Wert haben als jene, die majestätisch in der Sektion außerhalb Konkurrenz ausgestellt sind.116

Die Dritte Republik zeichnete sich durch eine intensive theoretische Reflexion über das Ausmaß der staatlichen Einflussnahme auf den Kunstbereich aus.117 Dabei wurden sowohl staatlicher Dirigismus als auch die völlige Autonomie der Kunst abgelehnt und die Unterstützung von Künstlern und Kunststilen aller Richtungen gefordert. Zum einen steckte dahinter die liberale Idee des Spieles der freien Konkurrenz, zum anderen aber auch die Überzeugung, dass sich Kunst und somit auch die Gesellschaft nicht durch Normierung, sondern nur durch den offenen Diskurs fortentwickeln könne. Unreflektiert beibt dabei allerdings, dass die freie Konkurrenz letztlich auch – etwa durch die Anpassung an den breiten Geschmack – Zwänge erzeugen und einem offenen Diskurs durchaus diametral gegenüberstehen kann. Die liberale Auffassung von Kunst spiegelte sich im Gesetz über die Pressefreiheit von 1881,118 ebenso in der 1907 abgeschafften Theaterzensur. Der sozialistische Politiker Joseph Paul-Boncour schreibt 1912: „Die Rolle der öffentlichen Macht ist es nicht, eine Kunstformel aufzuzwingen, sondern lediglich administrative Mittel zu suchen, um so viel wie möglich zu fördern, was [an Kunststilen, Anm. d. V.] existiert.“119 Daher vermietete der Staat die Räumlichkeiten für den Pariser Salon für lediglich einen Franc und übergab seit Anfang der 1880er Jahre dessen Organisation in die Verantwortung von Künstlern, die wenigstens einmal für den Salon zugelassen worden waren. Zur Bewältigung dieser Aufgabe schlossen sie sich im Jahr 1882 zur „Société des artistes français“ zusammen.120 Premierminister Jules Ferry versicherte dieser die Unterstützung der Regierung, ohne ihre Unabhängigkeit antasten zu wollen.121 Seitdem die „Société des artistes français“ die Verantwortung über den traditionellen Salon übernommen hatte, erfolgte die Auswahl der Kunstwerke durch die Mitglieder der „École des Beaux-Arts“ und 90 Künstler, die zumindest einmal im Salon ausgestellt hatten. Die Jury wanderte durch die Ausstellungsräume, begutachtete die eingereichten Werke und entschied – wie das am Buchcover abgebildete Gemälde „Une scéance du jury de peinture“ (Die Jury des Salons,

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vor 1885) von Henry Gervex zeigt – durch einen „vote ‚cannes levées‘“, eine Wahl mit gehobenen Spazierstöcken oder Regenschirmen. Ähnlich verlief im Übrigen auch der Kauf von Kunstwerken, den die „École des Beaux-Arts“ für den Staat vornahm, um das „Patrimoine national“ (S. 112) zu bereichern. Der Direktor der „École des Beaux-Arts“ spazierte an den Kunstwerken vorbei, gefolgt von einer „Sous-commission des travaux d’art“ (Unterausschuss für Kunstwerke), die sich aus Verwaltungsbeamten und Konservatoren der zwei staatlichen Museen, des Louvre und des „Musée de Louxembourg“, des damaligen Museums für zeitgenössische Kunst, sowie aus Mitgliedern der „École des Beaux-Arts“, einem Kunstkritiker und einem privaten Kunstliebhaber bzw. Kunstsammler zusammensetzte.122 Die Unterscheidung in der Jury zwischen Kritiker und Kunstliebhaber, dem „Connaisseur“, ist insofern von Bedeutung, da sie auf die in der bürgerlichen Gesellschaft geschaffene Unterscheidung von Leistungs- und Dienstleistungsrollen, auf die Rolle des Künstlers sowie auf die Rolle des Kritikers und Vermittlers, hinweist. „Der Kritiker nimmt […] in gewisser Hinsicht eine intermediäre Rolle ein“, schreibt Rudolf Stichweh, „weil er einerseits Partner (oder Gegner) des Leistungsrollenträgers ist, […] andererseits […] eine Dienstleistungsfunktion für das Publikum“ erbringt. Als Dienstleister erläutert der Kritiker dem Publikum die Kunstwerke und ermöglicht ihm „im günstigsten Fall“ die Bildung eines eigenen Urteils. Als „Partner“, aber auch als „Gegner“ kann der Kritiker den Künstler bei der Betrachtung der Welt unterstützen, seinen Blick schärfen und auch im Zuge der Kommerzialisierung der Kunst „das abstrakt gewordene Publikum“ vertreten.123 An die Stelle des traditionellen Connaisseurs, der Patronage und Kennerschaft vereint hat, tritt nun der Connaisseur neueren Typs, der als Teil des Publikums selbst auf die Urteile des Kritikers angewiesen ist. Die Jury, welche die Kunstwerke für das „Patrimoine“ auswählte, sollte offenbar auch den Standpunkt des Laien und somit, ganz im republikanischen Sinne, des gesamten Volkes berücksichtigen. Der Staat betrachtete sich zunehmend als Kulturkonsument und somit als Kunde der Künstler, wodurch allerdings auch die Schaffung eines eigenen Ministeriums für Kultur erschwert wurde. So hatte sich das bereits 1870 gegründete „Ministère des Arts, Sciences et Lettres“ als kurzlebig erwiesen, ebenso das 1881 von Premierminister Léon Gambetta geschaffene „Ministère des Arts“, das Antonin Proust avertraut wurde.124 Gambetta blieb jedoch nur bis zum 30. Januar 1882 in Amt; es ist bezeichnend, dass das Ministerium zwei Tage danach wieder abgeschafft wurde.125 Allerdings gab es, wie Gérard Monnier schreibt, staatliche „Encouragements“, „Aufmunterungen“ oder „Ermutigungen“, d.h. ein System

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von Preisen und Stipendien, die an Künstler verliehen wurden.126 „Der Staat“, schreibt Jacques des Gachons 1909 in der Tageszeitung „Le Figaro“, der, großzügig und seit drei Jahren, alle 24 Monate an einen Poeten ein Stipendium und alle 24 Monate an einen Prosaschriftsteller ein Stipendium vergibt, gewährt Malern und Bildhauern alle Jahre zehn Stipendien in der Höhe von 4.000 Francs, 15 Förderungen in der Höhe von 1.000 Francs, 30 Förderungen in der Höhe von 500 Francs und außerdem einen Nationalpreis in der Höhe von 10.000 Francs. Die Republik liebt die Malerei.127

Die Stipendien in der Höhe von 4.000 Francs wurden im Übrigen nach dem Ratschlag des „Conseil supérieur des beaux-arts“ (S. 167) vergeben. Die Preisvergabe kam folglich aufgrund einer kommissionellen Entscheidung auf demokratischem Wege zustande. Seit 1874 ermöglichte zudem der „Prix du salon“, ein jährlich vergebenes Stipendium in der Höhe von 5.000 Francs, einem Maler, Bildhauer, Graveur oder Architekten unter 32 Jahren einen Aufenthalt im Ausland. Beim Aufenthaltsort herrschte völlige Wahlfreiheit, die Künstler gingen keinerlei Verpflichtungen ein, die vorherrschenden akademischen Regeln zu befolgen, und konnten die Arbeit auch noch nach dem Auslandsaufenthalt fertig stellen.128 Diesen Stipendien, die den Künstlern relativ große Freiheiten gewährten, stand der eher konservativ orientierte „Prix de Rome“ gegenüber, der es jungen Künstlern ermöglichte, sich mit den Hauptwerken der Vergangenheit, insbesondere der Antike vertraut zu machen. Die „Académie des Beaux-Arts“ verlieh den Preis zunächst an französische Kandidaten unter 30 Jahren, während des Zweiten Kaiserreiches wurde das Alter auf 25 Jahre herabgesetzt. Damit sollte die Konkurrenz unter den Künstlern gefördert werden, wovon sich das wirtschaftliberal orientierte Kaiserreich (S. 235) wohl auch eine Steigerung der künstlerischen Qualität erwartete. Die Preisvergabe erfolgte in einem langwierigen Auswahlverfahren, das drei mehrstündige „Concours“ umfasste. Vor allem wurde darauf geachtet, dass die Werke der jungen Künstler von der antiken Geschichte oder Mythologie inspiriert waren.129 Die genannten Preise kamen freilich nur wenigen bildenden Künstlern und Architekten zugute, weshalb sie – ganz der liberalen Vorstellung entsprechend – eine harte Konkurrenz versursachten. Daher besaßen letztlich private Kunstförderer große Bedeutung, die allerdings nicht immer an anvantgardistischen Werken interessiert waren. Wenn Theodor Zeldin schreibt, dass für „die meisten Menschen [...] Literatur weder gleichbedeutend mit Revolution noch mit Ori-

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ginalität, sondern mit Geschmack“ gewesen sei,130 dann lässt sich dies auch auf die Malerei übertragen. In Bordeaux zeichnete sich etwa die bürgerliche Elite dadurch aus, dass sie noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Portrait bevorzugte. So erhielt etwa der Portraitmaler Paul Quinsac, der stark vom Klassizismus geprägt war, zahlreiche lukrative Aufträge. Dagegen erlebten die Impressionisten in Bordeaux mehrere Niederlagen: Camille Pissaro war bereits 1866 auf Ablehnung gestoßen, Auguste Renoir stellte nur ein einziges Mal, im Jahr 1898, in der „Société des Amis des Arts“ aus, und Claude Monet kam lediglich zwei Mal, in den Jahren 1867 und 1868, nach Bordeaux.131 Nicht ohne Ironie meinte der Kubist Robert Bissière 1919, dass „Bordeaux wahrscheinlich die einzige große Stadt Frankreichs ist, wo der Prix de Rome einiges Prestige behalten hat“.132 Das Beispiel des konservativen Bordeaux zeigt aber letztlich, welche Bedeutung der offene Diskurs in der bürgerlichen Gesellschaft besaß. Immerhin wurde Neues nicht nur abgelehnt, sondern durchaus diskutiert, in Bordeaux etwa in der „Société des Amis des Arts“, die in den 1880er Jahren über 800 Mitglieder zählte.133 Das Mäzenatentum muss daher für das 19. Jahrhundert neu definiert werden, zumal zunehmend auch Werke Absatz fanden, die nicht unbedingt den breiten Geschmack trafen, aber trotzdem im Trend lagen, weil sie die Kunstkritik positiv beurteilte oder von aufgeschlossenen Kunstsammlern als zukunftsweisend bewertet wurden. Als Käufer und Sammler avantgardistischer Kunstwerke traten vor allem wohlhabende Bürger auf, etwa Bankiers, Unternehmer oder Ärzte. Sie erweiterten ihre Kollektionen, besuchten unterschiedlichste Ausstellungen und waren Mitglieder von Kunstgesellschaften, die sich die Kunstförderung zum Ziel gesetzt hatten. Manche Künstler gaben in der Presse sogar öffentliche Annoncen auf, um sich und ihre Werke gleichsam feilzubieten.134 Peter Gay hat sich in seinem Buch „Bürger und Boheme“ ausführlich der bürgerlichen Sammelleidenschaft gewidmet. Unter anderem erwähnt er den wohlhabenden Arzt Paul Gachet, der avantgardistische Kunst- und Literatursoireen besuchte, selbst Radierungen verfertigte und Bilder moderner Maler sammelte. Albert Bruyas, ein Bankierssohn aus Montpellier, widmete sich zunächst dem Studium der Kunst und entwickelte sich schließlich zu einem leidenschaftlichen Kunstsammler. Der Bankier Isaac de Camondo sammelte Renaissance-Gemälde und Möbel aus dem 18. Jahrhundert, die als sichere Anlage galten. Schließlich verlegte er sich auf japanische Holzschnitte, die wie andere japanische Kunstwerke seit den 1870er Jahren als „exotisch“ galten,135 sowie auf Werke von Édouard Manet, Paul Cézanne, Alfred Sisley und Vincent van Gogh. Mäzene gehörten aber nicht nur dem wohlhabenden

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Bürgertum an, sondern stammten auch aus der bürgerlichen Mittelschicht. Victor Choquet, Hauptsekretär des Pariser Zollamtes, opferte etwa den Großteil seines bescheidenen Einkommens seiner Sammelleidenschaft und erwarb unter anderem Gemälde von Cézanne, Pissaro und Renoir. Im Übrigen kauften Künstler auch Werke ihrer Kollegen, wodurch sich ein System wechselseitiger Förderung entwickelte. Der Bariton Jean-Baptiste Faure, ein Star der Pariser Oper, besaß etwa mehrere Gemälde von Manet, Pissaro, Sisley, Degas und Monet. Und Caillebotte, der aus reichem Haus stammte, war nicht nur Maler, sondern auch leidenschaftlicher Kunstsammler. Unter anderem besaß er eine besondere Vorliebe für Gemälde von Cézanne.136 Kunst diente nicht einfach nur als Geldanlage, sondern sie war Teil des kulturellen Kosmos des Bürgertums und somit auch Teil der bürgerlichen Identität.137 Zwar war die steigende Nachfrage nach Kunstwerken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein auf die steigende Zahl kunstbegeisterter Konsumenten zurückzuführen,138 sondern auch darauf, dass die Spekulation mit Kunstwerken zunehmend an Bedeutung gewann. Manche Käufer legten Sammlungen an, die keine große Bedeutung hatten, sich aber weiterverkaufen ließen und Gewinn abwarfen.139 Zugleich versprachen diese Sammlungen soziales Prestige, wobei es dabei nicht immer darum ging, lediglich den Schein von Kunstaffinität zu wecken. Vielmehr war damit auch die Möglichkeit verbunden, zu einem Diskurs über die verschiedenen Kunstrichtungen, zu einem offenen Diskurs, beizutragen und somit die Aufgabe eines „mündigen“ Bürgers zu erfüllen. Manche Sammler waren auch von der Mission getrieben, die bürgerliche Kunstbegeisterung an andere soziale Schichten weiterzugeben und ihr somit den elitären Beigeschmack zu nehmen. So finden sich in Testamenten nicht selten Schenkungen an Museen, um gesammelte Kunstwerke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Alfred Bruyas, der Mäzen von Courbet, vermachte etwa seine Kunstsammlung der Stadt Montpellier.140 Und Caillebotte hinterließ nach seinem Tod im Jahr 1894 seine umfangreiche Impressionistensammlung, die Gemälde von Cézanne, Degas, Manet, Monet, Pissarro, Renoir und Sisley umfasste, dem französischen Staat. Die Werke sollten laut seinem letzten Willen „weder in einem Speicher noch in einem Provinzmuseum, sondern im Luxembourg und später im Louvre“ ausgestellt werden.141 Caillebottes Vermächtnis war aber nicht so einfach zu vollziehen: Zum einen stieß es auf bürokratische Hürden, zumal das Musée de Luxembourg angeblich kaum noch Platz zur Verfügung hatte und von einem Künstler nicht mehr als drei oder vier Werke ausgestellt werden sollten. Zum anderen formierte sich heftiger Widerstand in konservativen Kreisen. Der

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Abb. 6 Demut vor dem Künstler. Karikatur von Quillenbois, die auf das Gemälde „La Rencontre“ (Gustave Courbet, 1854) anspielt. (LʼIllustration, Paris, 21. Juli 1855).

Maler Jean-Léon Gérôme bezeichnete die Impressionisten als „Anarchisten“ und „Verrückte“ und befürchtete gar das „Ende der Nation“, falls dem Wunsch Caillebottes entsprochen würde.142 Erst nach heftigen Auseinandersetzungen in Kritiker- und Künstlerkreisen, der „affaire Caillebotte“, konnten die Exponate schließlich im Musée de Luxembourg untergebracht werden.143 Letztlich erfüllte Caillebotte noch nach seinem Tod die Bürgerpflicht als Künstler, indem er mit seinem letzten Willen den offenen Diskurs weiter vorangetrieben hatte. Da das Sammeln von Kunstwerken zur bügerlichen Identität gehörte, bestand gleichsam eine aktive Symbiose zwischen bürgerlichem Mäzen und Künstler: Einerseits war der Künstler finanziell vom bürgerlichen Sammler abhängig, andererseits schrieb das bürgerliche Gesellschaftsmodell die Liebe zur Kunst und Kultur geradezu vor (S. 26–28), weshalb der Mäzen wiederum den Künstler benötigte. Courbets Gemälde „La Rencontre“ oder „Bonjour Monsieur Courbet“ (1854) zeigt dieses symbiotische Verhältnis zwischen dem Künstler und seinem Mäzen oder gar die Abhängigkeit des Bürgers vom Künstler: Courbet hat sich auf dem Gemälde selbst abgebildet, wie er seinen Gönner Bruyas begegnet, der von Hund und Diener begleitet wird. Er wirkt kraftvoll und selbstbewusst, während Bruyas steif und ehrfurchtsvoll erscheint. Ohne Zweifel steht Courbet seinem Gönner ebenbürtig gegenüber, wenn nicht sogar als Überlegener. Eine Karikatur von Quillenbois, der mit bürgerlichem Namen Charles-Marie de Sarcus hieß und sich vor allem durch seine Karikaturen einen Namen gemacht

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hat, spielt auf das Begegnungsbild an und zeigt daher Bruyas, seinen Diener und seinen Hund vor Courbet demütig niederknien.144 Die gesellschaftliche Bedeutung von Künstlern, die Quillenbois so treffend darstellt, spiegelte sich auch im Kunsttourismus:145 Künstlerkolonien oder Orte, in denen bekannte Künstler eine Zeitlang gewirkt hatten, wurden – nach dem Vorbild von Barbizon und PontAven – zu Pilgerstätten kunstbeflissener Bürger (S. 198). Durch ihre gesellschaftliche Bedeutung waren Künstler (und selten auch Künstlerinnen) in der Lage, gesellschaftliche Trends zu schaffen und damit den Kunstmarkt zu beeinflussen. Freilich war nun anstelle der unmittelbaren Abhängigkeit vom Auftraggeber eine strukturelle Unterordnung getreten, indem die Verkaufszahlen, die Besucherzahlen von Ausstellungen und die Kunstkritik zu keinem geringen Teil zum Erfolg oder Misserfolg eines Künstlers beitrugen: Kunstausstellung, Kunstkritik und Kunsthandel waren die Bestandteile des neuen, öffentlichen Systems der Kunstvermittlung, das an die Stelle des überkommenen Verhältnisses von Auftraggeber und Künstler trat. Alle drei – Ausstellung, Kritik und Handel – wirkten auf die Produktion der Kunstwerke zurück. Denn die Ausstellung schuf neue Präsentationsbedingungen für die Kunstwerke, die Kritik formulierte spezifische Publikumserwartungen, der Handel schließlich unterwarf die Werke ökonomischem Kalkül.146

Zugleich blieb aber in diesem System der strukturellen Unterordnung offenbar immer noch genügend Raum, um avantgardistische Werke zu schaffen, die keineswegs positive Zustimmung fanden, allerdings dennoch zum Erfolg einer Ausstellung maßgeblich beitrugen und somit den künstlerischen Diskurs in Gang setzten. Man behauptet mit Gewissheit“, schreibt 1909 der Kunstkritiker Jacques de Gachons, „dass im Jahr, in dem Rodin seinen Balzac ausstellte, Leute […], die aus ganz Europa gekommen waren, blind die Galerie des Machines durchquert hätten, vor dem Objekt stehen geblieben seien, ihrem Gemüt entsprechend geschwärmt oder sich aufgeregt hätten, dann wieder zurückgegangen seien, ohne sich für etwas anderes zu interessieren. Sie hatten ‚Balzac von Rodin‘ gesehen: Sie waren zufrieden.147

Angeblich konnte der Salon der „Société nationale des beaux-arts“ im Jahr 1898 durch Rodins Skulptur rund 50.000 zusätzliche Besucher verzeichnen. Die An-

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ziehungskraft, die das Werk auf das Publikum ausübte, resultierte nicht zuletzt aus der Berichterstattung in der Presse. Die Palette der Kritik reichte von entsetzter Ablehnung bis zu euphorischer Zustimmung. Von einer „monströsen Fehlgeburt“ (Paul Leprieur in „Art et Décoration“), einer „wahnwitzigen Karikatur“ (Paul Leroi in „l’Art“), einer „deutschen Larve“ und einem „biergefüllten Ding“ (Anatole Marquet de Vasselot in „Revue du monde catholique“) war unter anderem die Rede. Die Befürworter des „Balzac“ sahen dagegen in der Skulptur einen Wegweiser in die Zukunf der Bildhauerei. „Welch eine Skulptur!“ schwärmte etwa Antoine Bourdelle. „Rodin hat allen gezeigt, welchen Weg man beschreiten muß“.148 Georges Rodenbach erläuterte in „Le Figaro“ diesen Weg: „Monsieur Rodin wollte eine entscheidende Vereinfachung erreichen. Er brach mit der unheilvollen Tradition, die von der Statue verlangt, sie müsse ein Porträt sein, ein exaktes Abbild.“149 Rodin hatte den Schriftsteller in seiner „Mönchskutte“ dargestellt, wie die Robe bezeichnet wurde, die Balzac während der nächtlichen Arbeit getragen hatte. Damit lenkte er die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den mächtigen Kopf des Schriftstellers, der wie die gesamte Statue ganz nach seinem Grundsatz gestaltet war, dass „die moderne Skulptur […] die Formen übertreiben muss“.150 Sein Balzac erscheint daher beinahe als abstraktes Symbol der literarischen Macht des Schriftstellers, womit er der Kunst das Tor zum 20. Jahrhundert öffnete. Es verwundert daher nicht, dass die Statue erst 1939 auf dem Boulevard Raspail aufgestellt wurde. Ohne Zweifel war es vor allem die Abstraktheit, die bei vielen Kritikern heftige Ablehnung hervorrief und letztlich auch bei Teilen der „Société de gens de lettres“, die die Skulptur 1891 in Auftrag gegeben hatte, auf Unverständnis stieß. Bereits Jahre zuvor war innerhalb der „Socièté“ wegen der Balzac-Skulptur ein Streit unter den Mitgliedern entbrannt. Zum einen wurde befürchtet, Rodin könne die Statue unvollendet lassen, zumal er nur mühsam mit der Arbeit daran vorankam. Selbst Zola, der als Präsident für die Vergabe an Rodin verantwortlich gewesen war, begann sich zu sorgen. Zum anderen stritten die Mitglieder der „Socièté“ über die Gestaltung des Denkmales, zumal die zahlreichen Entwürfe keineswegs den traditionellen Vorstellungen entsprachen. Nachdem die endgültige Version 1898 im Salon ausgestellt worden war, setzten sich schließlich die Gegner Rodins durch. Die „Socièté de gens de lettres“ stornierte ihren Auftrag und vergab ihn an Alexandre Falguière.151 Der Skandal um die Skulptur hatte diese aber letztlich zu einem Publikumsmagnet werden lassen und zudem das Ansehen Rodins erhöht. Seine Befürworter, darunter Octrave Mirabeau, Georges Lecomte und Gustave Geffroy, verfass-

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ten ein Protestschreiben, das zahlreiche bekannte Künstler und Literaten, unter anderem Toulouse-Lautrec, Paul Valéry und Henri Becque, unterzeichneten. Mit einer Spendenaktion wurden zudem 30.000 Francs aufgebracht, um das Werk zu erwerben. Da es sich bei den Anhängern Rodins jedoch beinahe ausnahmslos um Anhänger von Dreyfus handelte, beschloss Rodin, seinen Balzac nicht zu verkaufen. Ihm, der heimlich mit den Anti-Dreyfusianern (S. 249) sympathisierte , war die Spendenaktion geradezu peinlich geworden. Aus opportunistischen Überlegungen heraus schwieg er im Skandal um Dreyfus beharrlich und weigerte sich auch, ein Manifest zur Unterstützung Émile Zolas zu unterzeichnen, der wegen seines in der „L’Aurore“ publizierten Pamphlets „J’accuse!“ der Verunglimpfung der französischen Armee bezichtigt wurde.152 Während Rodin die Aufregung um seinen „Balzac“ nicht unbedingt vorsätzlich provoziert hatte, spielten manche Künstler ganz bewusst mit Skandalen und der damit verbundenen Macht, die aus der Symbiose von Bürgern und Künstlern resultierte. So war der Maler Henri Gervex zum einen „artiste-entrepreneur“ (Künstlerunternehmer), d.h. ein Künstler, der sich zugleich als Unternehmer und seine Werke durchaus als Waren verstand. Zum anderen versuchte er aber auch, mit seinen Gemälden handfeste Skandale hervorzurufen und sich damit als „archaisch“ und modern zu präsentieren. Er nutzte daher den Salon, um hin und wieder zu gefallen, aber auch um bewusst zu provozieren. Sein Gemälde „Rolla“, das er 1878 mit zwei anderen Gemälden für den Salon einreichte, wurde etwa als sittenwidrig abgewiesen. Gervex hatte sich vom Gedicht „Rolla“ von Alfred de Musset inspirieren lassen. Darin verfällt ein Bürger namens Rolla der Kurtisanin Marion und gibt für eine Nacht mit ihr ein Vermögen aus. Die Jury des Salons empfand das Gemälde als anstößig, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Prostitution in bürgerlichen Kreisen durchaus üblich war (S. 41–43) und sich die rechtschaffenen Bürger nur ungern mit der Realität konfrontiert sahen. Dennoch stellte Gervex das Gemälde drei Monate lang in der Auslage eines Pariser Möbelhauses aus und provozierte damit einen Skandal, obwohl es hinsichtlich technischer Neuerungen als eher konservativ gewertet werden muss und mit Manets „Olympia“ oder „Le déjeuner sur l’herbe“ kaum zu vergleichen ist. Hier sei auch auf Rimbauds Kritik an Musset verwiesen, der ihm „vierzehnfach verhaßt“ gewesen sei: Oh! Die Geschichten und abgeschmackten Sprüche! o die Nächte! o Rolla, o Namoura, o la Coupe! Das ist alles französisch, d.h., hassenswert in höchstem Maße […]; jeder Seminarist trägt fünfhundert solcher Reime in die Verschwie-

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genheit eines Notizbüchleins ein […]; mit achtzehn, mit siebzehn sogar spielt jeder Gymnasiast einen Rolla, schreibt einen Rolla, wenn er nur darf!153

Das Gemälde von Gervex wäre von Rimbaud, hätte er sich 1878 nicht bereits nach Alexandria und weiter nach Zypern begeben, vielleicht ähnlicher Kritik unterzogen worden. Gervex’ Geschäftssinn, der ihn auch zahlreiche private Auftragsarbeiten annehmen ließ, und sein Gespür dafür, Skandale für seine Reputation zu nutzen, inspirierte Émile Zola in seinem Roman „L’œuvre“ zur Figur des Fagerolle.154 Dieser besitzt zwar Talent, ist aber in erster Linie an Erfolg und Ruhm interessiert. Bereits zu Beginn seiner Karriere träumt er im Geheimen davon, den „Prix de Rome“ (S. 166, 170) zu erhalten, der in den meisten Fällen eine Karriere garantierte.155 Fagerolle bedient sich lediglich „der Orginalität anderer, gewisser revolutionärer Aspekte, indem er sie abmildert, damit sie für die Öffentlichkeit der Epoche akzeptabel sind“.156 Um zu gefallen, passt er seinen Lebensstil an den Zeitgeist an. So spiegelt etwa das Interieur seines „petit hôtel“, seines „kleinen Privathauses“, eine moderne Mischung aus alten Einrichtungsgegenständen und Exotismus, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts modern war. Das Interieur war von einem großartigen und bizarren Luxus: alte Wandteppiche, alte Waffen, eine Ansammlung alter Möbel, Kuriositäten aus China und Japan […]. Aber […] vor allem das Atelier war ein Wunder, ziemlich eng, [scheinbar] ohne ein Gemälde, völlig verhängt mit orientalischen Vorhängen, ausgefüllt von einem zum anderen Ende mit einem enormen Kamin […], einem ausladenden Divan unter einem Zelt, […] Lanzen den Baldachin […] haltend, darunter eine Anhäufung von Teppichen, Pelzen und Kissen, beinahe das ganze Parkett bedeckend.157

Schließlich findet sich doch noch ein kleines Gemälde „auf einer Staffelei aus schwarzem Holz, gehüllt in einen roten Plüsch“,158 das die geringe Bedeutung der Kunst in Fagerolles Leben bzw. lediglich sein Streben nach Erfolg zeigt. Neben dem offiziellen Salon eröffneten auch die privaten Salons den Künstlern und Literaten die Chance, sowohl den Geschmack ihrer Gastgeber zu beeinflussen als auch die Generosität des staatlichen Mäzenatentums in eine bestimmte Richtung zu lenken, zumal in den Salons auch Vertreter des politischen Establishments verkehrten.159 Frauen gehörten kaum zu den eingeladenen Kunstschaffenden, sondern waren oftmals die Gastgeberinnen (S. 24, 27). Auch wenn

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Léon Daudet die Salons als „Schule der abgedroschenen Redensart und schwachsinniger Sitte“ kritisierte160 oder Heinrich Heine dort „die Schar junger Dilettanten“ ertragen musste, „die zu den fürchterlichsten Hoffnungen berechtigten“161, waren sie doch oftmals Orte der Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur. Nicht zufällig waren Daudet und Heine trotz ihrer Kritik immer wieder in verschiedenen Salons zu Gast. Der Zugang zu diesen Salons blieb zwar weiterhin einem engeren bürgerlichen Kreis vorbehalten, über die Berichterstattung in den Medien wurden sie aber auch für die Allgemeinheit geöffnet. „Le Figaro“ berichtet etwa um 1900 in der Rubrik „Le Monde & la Ville“ regelmäßig über bekannte Pariser Salons der Dritten Republik und bestätigte immer wieder den großen „Erfolg für alle diese bewundernswerten Künstler“,162 die sich dort nicht nur trafen, sondern vor allem auch auftraten. Einen Beitrag zum künstlerischen Diskurs und zur privaten Kunstförderung ermöglichten auch die zahlreichen Kunstgesellschaften. Die erste davon, die „Société des amis des arts“ (Gesellschaft der Kunstfreunde), war bereits 1790 in Paris gegründet worden. Durch die Kombination von Kunstausstellungen und einem ausgeklügelten Subskriptions- und Lotteriesystem sollte einerseits der Kunst gehuldigt und andererseits Künstlern finanziell geholfen werden. Bei ihrer ersten Ausstellung am 13. Juli 1790 bot sie den Subskribenten 1.200 Billets zu 50 Livres an, wobei die Gesellschaft einen Teil der erwarteten Einnahmen in der Höhe von 40.000 Livres zum Kauf von Bildern und Skultpuren verwenden wollte. Die verbleibenden 20.000 Livres waren zur Deckung der Ausstellungskosten und für die Herausgabe von Stichen vorgesehen. Der Besitzer eines Billets sollte vier Stiche erhalten und die Chance haben, in einer Lotterie ein Kunstwerk zu gewinnen, das durch die Société angekauft worden war. Allerdings rief die erste Ausstellung nur beschränktes Interesse hervor. Die Subskription erbrachte lediglich 30.000 Livres. Dennoch folgten 1791 und 1792 noch zwei weitere Ausstellungen, denen aber ebenfalls nur geringer Erfolg vergönnt war. In der Folge wurde es daher still um die Gesellschaft, bis sie 1819 neuerlich in Erscheinung trat und noch bis in das Zweite Kaiserreich weiterwirkte, ohne jedoch nennenswerte Erfolge zu erzielen. Mit den staatlichen Ausstellungen, die immer populärer wurden, konnte sie nicht konkurrieren, nicht zuletzt aufgrund des relativ geringen Budgets, das lediglich den Ankauf von Gemälden erlaubte, welche die Kunstkritik als mittelmäßig bewertete und daher relativ günstig zu ersteigern waren.163 Trotz der relativ bescheidenen Erfolge diente die Pariser „Société des amis des arts“ für viele andere Kunstgesellschaften in der Provinz als Vorbild. Nachdem etwa der Maler und Prix-de-Rome-Preisträger Carle Vernet Avignon besucht

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hatte, wurde dort 1826 eine „Société des amis des arts“ gegründet, der gleich eine zweite, die „Société des amis des arts de la bonne ville d’Avignon“ (Gesellschaft der Kunstfreunde der schönen Stadt Avignon) folgte. Das liberale Klima nach der Julirevolution von 1830, das die Gründung von Vereinen erheblich erleichterte, ermöglichte ähnliche Gesellschaften in Straßburg (1831), in Marseille (1832), in Metz (1834) sowie in Lyon und Nantes (1836). Die „Société des amis des arts“ in Marseille dehnte im Jahr 1850 ihren Wirkungskreis aus und nannte sich „Société des amis des arts des Bouche-du-Rhône“, jene in Metz „Union des arts“ (Kunstvereinigung). In dieser waren rund 900 Mitglieder organisiert, drei Kommissionen widmeten sich der Malerei, Musik und Literatur. Jährlich sollten zwei Ausstellungen und fünf Konzerte veranstaltet werden, außerdem war eine Monatszeitschrift geplant. Die Kapazitäten der „Union des arts“ waren jedoch bald erschöpft, weshalb sie sich 1853 auflöste.164 Eine zweite Gründungswelle von Kunstgesellschaften folgte in den 1850er Jahren. Der 1851 gegründeten „Société des amis des arts“ in Bordeaux (S. 171) trat etwa die gesamte städtische Elite bei. Dazu gehörte auch der Weingutsbesitzer und Weinhändler Adrien Sourget, der zugleich das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Bordeaux innehatte und alle berühmten Künstler, die sich auf der Durchreise durch Bordeaux befanden, in seinem luxuriösen Stadtpalais empfing. Ein anderes honoriges Mitglied der Kunstgesellschaft in Bordeaux war der Bankier Daniel Guestier, der unter anderem als Verwaltungsratsmitglied der Banque de France, der Eisenbahn von Orléans und der „Société bordelaise de crédit“ fungierte. Von 1910 bis 1919 war er zudem als Vorsitzender der Handelskammer tätig. Als konservativ orientierter Kunstsammler, der den Ruf besaß, den Modetrends nicht allzu viel Beachtung zu schenken, ließ er sich ein Portrait von Léon Bonnat anfertigen, der im Übrigen auch Victor Hugo gemalt hatte und der „ästhetischen Correctness“165 der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie kaum ein anderer entsprach. In den 1880er Jahren zählte die Gesellschaft in Bordeaux rund 800 Mitglieder, darunter – entsprechend der wirtschaftlichen Struktur – vor allem Weinhändler und Gutsbesitzer.166 Die Bedeutung der Kunstgesellschaften war unterschiedlich: Zwar konnten sie wirtschaftlich erfolgreich sein, in künstlerischer Hinsicht fehlten ihnen aber oftmals die Begeisterung für innovative Kunst. Meist standen Genre- und Landschaftsbilder im Mittelpunkt des Interesses der Mitglieder – nicht zufällig interessierte sich Guestier für Rokoko- und Landschaftsmaler. Die „Société des amis des arts“ in Lyon zeigte sich dagegen als fortschrittlich, zumal sie in ihren Ausstellungen auch Werke von Künstlern wie Delacroix oder Courbet zeigten.

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3. Die Vielfalt in der Einheit

Das Engangement und die Ausrichtung der Kunstgesellschaften hingen letztlich von einzelnen Personen ab, etwa von dem bereits genannten Kunstsammler Alfred Bruyas (S. 171), dem Gönner Courbets, der sich um die Kunstgesellschaft in Montpellier bemühte und Neuem gegenüber durchaus offen war. Die Kunstgesellschaft in Marseille stand wiederum unter dem Einfluss von Émile Loubon, dem Direktor der dortigen „École des Beaux-Arts“. 1861 organisierte er eine Retrospektive provencalischer Kunst, die mehr als 1.200 Gemälde, 300 Skizzen, Stiche, Skulpturen und dekorative Kunstgegenstände umfasste. Solche Ausstellungen trugen dazu bei, dass lokale und regionale Künstler wie Paul-Camille Guigou oder Adolphe Monticelli bekannt wurden und zudem die Provinz in die Nation integriert werden konnte (S. 108–126). In Aix-en-Provence, wo erst 1894 eine „Société des amis des arts“ gegründet wurde, gehörte der Maler Joseph Villevieille als Ehrenpräsident zu den treibenden Kräften der dortigen Gesellschaft. Zu den Mitgliedern zählte im Übrigen auch Paul Cézanne, der bei der ersten Ausstellung der Gesellschaft zwei Landschaftsbilder zeigte.167

3.3 Evolution

Das akademische System blieb bis in die 1880er Jahre offiziell die Autorität in allen künstlerischen Belangen. Dennoch waren aber immer auch andere, von den Akademien nicht unbedingt abgelehnte, aber doch nur partiell akzeptierte Kunststile und Literaturformen von Bedeutung, die von der Romantik über den Realismus bis hin zum Impressionismus reichten. Das Prinzip des offenen Diskurses im kulturellen Bereich lässt sich etwa anhand Baudelaires veranschaulichen: Anfang der 1860er Jahre bewarb er sich für die Académie Française, die sich die Pflege der französischen Sprache zur Aufgabe gemacht hatte. Wiewohl der Schriftsteller mit seiner Bewerbung zweifelsohne provozieren wollte, fasste die Akademie diese keineswegs als Provokation auf.168 Baudelaires literarische Bedeutung war offenbar unbestritten, auch wenn von der ersten Ausgabe von „Les Fleurs du Mal“ (Die Blumen des Bösen, 1857) lediglich 1.300 Exemplare verkauft169 und mehrere Gedichte darin – nach einem Prozess wegen „Verstoßes gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“ – zensiert worden waren. Selbst der konserative Dichter und Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve, der seit 1845 Mitglied der Académie Française war, zollte Baudelaire Respekt:

3.3 Evolution

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Es besteht kein Zweifel, dass M. Baudelaire gewinnt, wenn man ihm begegnet, dass da, wo man einen sonderbaren, exzentrischen Menschen eintreten zu sehen erwartet, man sich einem höflichen, Respekt erweisenden, beispielhaften Kandidaten, einem netten Kerl mit geschliffener Sprache und vollkommenen klassischen Umgangsformen gegenüberstehen findet.170

Im Vergleich zu Gustave Flaubert, dem 1857 wegen seines Romans „Madame Bovary“ der Prozess gemacht wurde, verfügte Baudelaire über kein so „machtvolle[s] Beziehungsnetz […], das Schriftsteller, Journalisten, hohe Beamte, für das Kaiserreich gewonnene Großbürger (sein Bruder Achille zumal), Mitglieder des Hofes vereinte, und dies über alle Unterschiede von Geschmack und Lebensstil hinweg“.171 Im Gegensatz zu Baudelaire wurde Flaubert daher auch freigesprochen und schien geradezu amüsiert über den Prozess gewesen zu sein: „Es war prächtig und ich habe eine großartige Figur gemacht.“172 Flauberts Beziehungsnetz, aber auch sein Bürgerhass sowie seine Reaktion auf den Prozess belegen aber letztlich, dass Skandale immanenter Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft waren und von dieser offenbar erwartet wurden. Dies zeigt sich auch im Skandal um Émile Zolas Roman „Nana“ (1880), der – wie Erich Marx schreibt – „in allem neu [war], denn hier wurde die Dirne zum ersten Mal ohne sentimentale Verklärung und ohne falsches Mitleid dargestellt und der Gesellschaft die schamlose Offenheit vor Augen geführt, mit der sie die Prostitution trotz aller scheinheiligen Bemäntelung als notwendiges Ventil benutzt und duldet“.173 Obwohl oder gerade weil Zola den Zorn vieler Kritiker auf sich lud, wurden am ersten Tag des Erscheinens bereits 50.000 Exemplare verkauft. Nana sollte Zolas größter Bucherfolg werden.174 Letztlich waren Skandale eher die Regel als die Ausnahmen: Manet stellte etwa 1876 seine von der Jury des Salons abgelehnten Werke – „Le Linge“ (Die Wäsche) und „L’Artiste – Portrait de Macellin-Desboutin“ (Der Künstler – Portrait von Macellin-Desboutin) – in seinem Atelier zwischen zehn und 17 Uhr aus. Die Presse unterstützte ihn dabei mit großen Ankündigungen; eine Banderole unterhalb der Atelierfenster trug die Aufschrift: „Im Wettbewerb mit der Jury“.175 „M. Manet abzulehnen“, schrieb der Kunstkritiker Jules-Antoine Castagnary, „ist keine gute Sache […]. Er besitzt in der Gegenwartskunst eine viel größere Bedeutung als zum Beispiel M. Bouguereau176, den ich unter den Mitgliedern der Jury wahrgenommen habe“.177 Als schließlich in der Kunst der Weg in die Abstraktion eingeschlagen wurde, als Pointillismus, Fauvismus, Kubismus, Symbolismus, Jugendstil und schließlich, nach dem Ersten Weltkrieg, der Dadaismus und der Surrealismus ihre Blü-

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tezeit erlebten, war die Dominanz des akademischen Systems längst einer künstlerischen Vielfalt gewichen. Der Kunstkritiker Louis-Léon Martin brachte diese Vielfalt 1923 auf den Punkt: Anlässlich eines Salons – des Salon d’Automne oder des Salon des Beaux-Arts, ich weiß es nicht mehr genau – sagte der Direktor einer Zeitschrift, bei der ich früher für die Kunstkritik zuständig war, ungefähr zu mir: „Gehen Sie! Und entdecken Sie ein halbes Dutzend neue Talente“; worauf ich geantwortet habe, dass ich, wenn ich, gleich den Zauberern, eine solche Fähigkeit besitzen würde, meinen ehrenwerten Beruf der Kunstkritik für den ebenfalls ehrenhaften, aber lukrativeren Gemäldehandel aufgeben würde. […] Erwarten Sie von mir keine sensationellen Entdeckungen. […] Es wird sicherlich geschehen und ich füge glücklicherweise hinzu, dass ich von Unbekannten sprechen werde; aber ich bin, verflucht nochmal, völlig unfähig vorherzusagen, dass sie eines Tages Genie haben werden.178

Die Zweigleisigkeit zwischen Akademie und nichtakademischer Kulturszene, die bis in die 1880er Jahre herrschte, sowie deren Auflösung hing wesentlich von der Entstehung eines Kunstmarktes ab, der die Produktion von Kunstwerken zunehmend von offiziellen ästhetischen Regeln und Normen löste und dem wechselnden öffentlichen Geschmack unterwarf. „Das 19. Jahrhundert“, schreiben Antoine de Baecque und Françoise Mélonio, „ist charakterisiert durch den Übergang von einem vom Staat geregelten akademischen System zu einem des Marktes, das durch die Händler und Kunstkritiker reguliert wird.“179 Bereits 1857 glaubte etwa der Landschaftsmaler Jules Dupré, dass die „Malkunst […] vom Handel mit der Malerei völlig zugrunde gerichtet“ sei.180 Tatsächlich förderte der Markt zum einen spezifische Publikumserwartungen, denen sich die Künstler, wenn sie Erfolg haben wollten, mehr oder weniger anzupassen gezwungen sahen. Zum anderen trug aber der entstehende, insbesondere durch die Druckmedien geförderte Kunstdiskurs dazu bei, dass die unterschiedlichen Kunststile zueinander in Konkurrenz traten und sich letztlich auch eine Transformation der Geschmäcker vollzog.181 Dazu bedurfte es allerdings einer zwischengeschalteten Instanz, d.h. der Kunstkritik, zumal „nicht alle Regionen des Diskurses […] in gleicher Weise offen und zugänglich“ sind, sondern „stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar scheinen“.182 Die Kritik behandelte „im Laufe des 19. Jahrhunderts das Werk immer weniger als Gegen-

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stand des Geschmacks, den es zu beurteilen gilt, sondern mehr und mehr als eine Sprache […], die es zu interpretieren und in der es die Ausdrucksmechanismen eines Autors zu erkennen gilt“.183 Die Evolution im künstlerischen Bereich erfolgte keineswegs nur im außerakademischen Bereich. Zwar zeichnete sich die „Académie des Beaux-Arts“ nicht gerade durch ihre Flexibilität aus, ihre Kunstauffassung war aber keineswegs statisch. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich daher auch eine Verflechtung der Akademie mit Kunst außerhalb des akademischen Systems, die selbst wiederum die künstlerischen Vorgaben gerade im Bereich der Bildenden Künste bis in die 1880er Jahre nicht immer völlig verwarf. Kamen doch viele innovative bzw. avantgardistische Maler zunächst aus dem traditionellen Ausbildungssystem und hatten daher in der „Académie des Beaux-Arts“ eine Ausbildung absolviert. Édouard Manet war etwa von 1850 bis 1856 im Atelier von Thomas Couture an der „Académie des Beaux-Arts“ ausgebildet worden und hatte daher im Louvre die alten Meister kopiert. Außerdem mussten Künstler, um Erfolg zu haben, bis in die 1880er Jahre zumindest einmal im traditionellen Salon, der gleichsam unter der Oberherrschaft der Akademie stand, ausgestellt haben. Auguste Rodin, der sich für Michelangelo begeisterte und sich dreimal vergeblich um die Aufnahme in die „École des Beaux-Arts“ bemüht hatte, versuchte mehrmals, im Salon aufgenommen zu werden. Sein „Homme au nez cassé“ („Mann mit gebrochener Nase“, 1863) wurde allerdings 1864 abgewiesen, ebenso die 1877 beim Pariser Salon eingereichte Plastik „L’Âge d’airain“ („Das Eherne Zeitalter“, 1876).184 Um in den Salon aufgenommen zu werden, musste ein Künstler das vorgegebene Regelsystem zumindest in Ansätzen berücksichtigen. Dennoch kann dieses System als eingezäunte Freiheit im Kleinen verstanden werden, die einen gewissen Freiraum gewährte, um künstlerische Entwicklung zu ermöglichen. Dabei wurde die klassizistische Orientierung nicht grundsätzlich in Frage gestellt, eine Fortentwicklung durch diverse Kunstgriffe aber durchaus akzeptiert. So beeinflussten letztlich Innovationen, die innerhalb dieses Rahmens stattfanden, auch neue Kunstrichtungen, die außerhalb des akademischen Systems standen. Im Gegenzug war dieses aber auch manchmal durchlässig und ließ bescheidene Einflüsse von außen zu. Als Beispiel für die innere Entwicklung des akademischen Systems kann Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ (1819) dienen. Géricault wandte sich mit diesem Gemälde gegen die von David beherrschte klassizistische Schule, indem er anstelle des antiken Motivs ein Ereignis der jüngsten Vergangenheit als Thema wählte: einen Schiffbruch, den eine 1816 in See gestochene französische Flotte

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erlitten hatte, die Senegal in Besitz nehmen sollte. Ein Teil der Besatzung trieb auf einem Floß vierzehn Tage lang auf dem Meer umher, nur wenige davon überlebten.185 Der Arbeit am Gemälde gingen zwar genaue Studien mit Leichen voran, womit Géricault bereits den Realismus andeutete, dennoch sind die Körper letztlich so gemalt, wie es die klassizistische Tradition verlangte: Sie sind detailliert ausformuliert und gleichsam idealisierte Darstellungen von Sterbenden und Leichen. Trotz des Leidens der Schiffbrüchigen zeigen die Körper eine gewisse Anmut und Ästhetik, nicht zuletzt auch, weil sie erstaunlich muskulös dargestellt sind und somit an antike Vorbilder erinnern. Das Gemälde wurde im Salon von 1819 über dem Haupteingang des Ausstellungsraumes im Louvre ausgestellt – ein Platz, der zwar für große Historiengemälde passend schien, bei Géricaults „Floß der Medusa“ allerdings eine Wirkung erzielte, die wohl nicht einmal der Maler geplant hatte: Die einzelnen, detailliert gemalten Körper schienen sich bei einer gewissen Distanz zu einem einzigen, nicht mehr genau festzumachenden Körper zu vermischen. Damit erreichte Géricault etwas, das später von anderen Malern explizit beabsichtigt wurde: Die Einbeziehung des Betrachters in das Kunstwerk, weil durch die Auflösung von Details die Fantasie angeregt wurde. Der Kontakt zum Ereignis, das auf dem Gemälde dargestellt wird, ging damit verloren und der Betrachter wurde zu einer subjektiven Interpretation des Gemäldes verleitet. Géricault hatte nicht nur den Realismus angedeutet, den später unter anderem Courbet perfektionieren sollte, sondern gleichzeitig – freilich etwas überspitzt formuliert – auch die abstrakte Malerei unbewusst vorbereitet.186 Auch Eugène Delacroix’ Gemälde mit dem Titel „Dantebarke“ (1822), dem Géricaults „Floß der Medusa“ als Vorbild gedient hatte, orientiert sich noch an den akademischen Vorgaben (siehe Tafel 13): Das Gemälde bezieht sich auf den achten Gesang der Beschreibung der Hölle in der „Göttlichen Komödie“ (beginnendes 14. Jahrhundert) von Dante Alighieri, der sich in seinem Werk an antiken Vorbildern orientiert hatte. Somit entspricht es der von der „École des Beaux-Arts“ aufgestellten Regel, ein klassisches Thema aufzugreifen. Zugleich ist die Bezugnahme auf die „Göttliche Komödie“ aber ein geschickter Kunstgriff, um innerhalb des akamdemischen Rahmens neue Wege zu gehen und letztlich romantische Ideen in die Tradition einzubinden. Denn Dantes „Göttliche Komödie“ übte starken Einfluss auf die romantische Bewegung in Frankreich aus, zumal diese vor allem von der Bildmächtigkeit der Sprache beeindruckt war.187 Der achte Gesang der Beschreibung der Hölle lässt den Einfluss der Dantschen Verse auf die Romantik erahnen: Um in die Höllenstadt Dis zu gelangen, setzen Dante und Vergil gemeinsam mit dem Fährmann Phlegias über den Unterwelt-

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fluss Styx, in den die Hoffärtigen verbannt sind und in dem sich diese zerfleischen. Ein eitler Zeitgenosse und Feind Dantes, Philipp Argenti, krallt sich am Boot fest, um über sein Schicksal zu klagen: Dann hat ums Boot die Hände er gewunden; / Der Meister [Vergil, Anm. d. V.] stieß ihn weg […] / Und rief: „Hinweg da zu den anderen Hunden!“ / […] Er küßte mich und rief: „[…] / Voll Hoffart war er einst in dieser Welt / Und wollte weder gütig sein noch dienen; / Sein Schatten hier ist drum von Wut entstellt. / Wie viele, die einst große Herren schienen, / Siehst du den Säuen gleich im Kote stehen, Und nichts als Schmipf und Schande bleibt von ihnen! / […]“ / Ganz kurz darauf sah ich ihn [Philipp Argenti, Anm. d. V.] so zerfetzt, / Da er von Schlammesseelen so zerrissen, / Daß Gott ich spende Lob und Dank noch jetzt.188

Indem nun Delacroix diese Verse in seinem Gemälde bildhaft umsetzt, beschreitet er – obwohl er versucht, innerhalb des akademischen Rahmens zu bleiben – sowohl technisch als auch inhaltlich einen neuen Weg in der Malerei: Zwar befolgte er zunächst mit der Darstellung von Dante und Vergil die akademischen Regeln, indem er die Figuren klar ausgearbeitet hat, gleichzeitig verwirft er diese aber, indem sich die Details zu den Bildrändern hin in skizzenhafte Andeutungen auflösen. Delacroix erzählt somit keine Geschichte mehr, sondern fordert den Betrachter dazu auf, die Leerstellen, die er durch seine Maltechnik bewusst geschaffen hat, mit seiner Fantasie auszufüllen. Damit nahm er – wie bereits Géricault vor ihm – die abstrakte Malerei gleichsam vorweg. Kein geringer Teil der Kunstkriktik stand der „Dantebarke“ ablehnend und verständnislos gegenüber, sprach etwa von einer „Schlammwüste“189 oder von einem Gemälde, das wie „mit einem betrunkenen Besen hingeschmiert“ worden sei190. Théophile Gautier meinte später über die Kritik, dass ein „Meteor, der mit Flammen, Rauch und Donnergeprassel in einen Sumpf stürzt, […] unter dem Chor der Frösche keine größere Aufregung verursachen“ könne.191 Delacroix’ „Schlammwüste“, seine Auflösung der detailgetreuen Darstellung in Farben, die dem einzelnen Betrachter des Gemäldes gleichsam die Deutungshoheit zuwies, entsprach den Forderungen der Romantik, der Ratio des Klassizismus das Gefühl und die Fantasie entgegenzusetzen. Die Romantiker waren davon überzeugt, zu einem literarischen und künstlerischen Neuanfang beizutragen, und lehnten daher auch jegliches Erbe, das ihnen zugeschrieben werden konnte, vehement ab (S. 159). Damit unterschieden sie sich vom Klassizismus,

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der sich als Nachfolger der antiken Tradition sah. Dennoch besaß die Romantik freilich ein Erbe, etwa nordische Mythen sowie die Werke von Dante Alighieri und Rousseau, der mit seinem Naturverständnis die Romantiker beeinflusst, wenn nicht gar die Romantik partiell vorweggenommen hatte.192 Außerdem vermischte sie sich mit der klassizistischen Kultur und dem Rationalismus der Aufklärung. Zwar meinte Baudelaire, dass die „Romantik […] weder […] durch die Wahl des Sujets noch durch die exakte Wahrheit“ bestimmt sei, „sondern durch die Art des Fühlens“.193 Dem ungeachtet wurde die romantische Literatur aber theoretisiert und somit einem rationalen System der Kulturbetrachtung und Kulturproduktion unterworfen, einer romantischen „Philosophie“. Damit erfolgte letztlich die Demystifizierung der romantischen Illusion einer rein aus der Emotion geborenen künstlerischen und literarischen Tätigkeit.194 Diese Rationalisierung wurde durch die literarische Reflexion über die Romantik eingeleitet, etwa wenn Stendhal die Romantik in „Racine et Shakespeare“ (1823) als eine „Kunst“ bezeichnet, „den Völkern literarische Werke vorzulegen, die, bei Berücksichtigung ihrer Gewohnheiten und ihrer Anschauungen, geeignet sind, ihnen die größtmögliche Freude zu bereiten. Der Klassizismus bietet dagegen die Literatur, die ihren Urgroßvätern die größtmögliche Freude bereitete.“195 Hier werden bereits Ansätze eines theoretischen Programmes formuliert, das Modernität und Gegewartsbezug zum Inhalt hat, um die Romantik als „Gegenkultur“ zum Klassizismus zu definieren, die letztlich in einem Generationenkonflikt wurzle: Nicht den Urgroßvätern sollte die Romantik gefallen, sondern den Menschen, die im Hier und Jetzt verhaftet waren. Der Klassizismus, der für die Aufklärung und die Französische Revolution einst als Ausdruck einer besseren Welt und somit des Fortschrittes gegolten hatte, war gleichsam in die Jahre gekommen und hatte Patina angelegt. Zwar blieben der Romantik die Pforten der „Académie des Beaux-Arts“ offiziell verschlossen, in den privaten Salons der bürgerlichen Gesellschaft hatte sie aber längst Einzug gehalten.196 Mit ihrer Modernität, die sie beanspruchte, war die Romantik notwendigerweise Bestandteil des künstlerischen und literarischen, aber auch zunehmend des politischen Diskurses dieser Zeit. Die Vertreter des Klassizismus konnten sich ihr daher kaum verschließen.197 So glitten etwa die Werke von Ingres, der als Mitglied der „Académie des Beaux-Arts“ in der Ausbildung der Künstler eine entscheidende Rolle spielte, vom strengen antiken Ideal zu einer „Verfeinerung“ über, zu „einem Manierismus, der dessen Verleugnung war“.198 Er verwarf das von David vorgegebene Ideal einer Harmonie, die auf einem grundlegenden Studium der Natur basieren sollte. Seiner Meinung nach sollte ein Maler zwar nach

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einem lebenden Modell und der Natur zeichnen und malen, allerdings in einem weiteren Schritt simplifizieren bzw. stilisieren. „Die schönen Formen“, meinte Ingres, „sind jene, die Geschlossenheit und Fülle aufweisen und bei denen die Details nicht den Gesamteindruck gefährden“.199 Damit hatte er, wie etwa sein Gemälde „La Source“ (Die Quelle, 1856) zeigt, der Romantik bereits Eingang in die klassizistische Malerei gewährt (siehe Tafel 14). Dass die Romantik ein Bestandteil des künstlerischen Diskurses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, zeigt sich auch in der Bedeutung der Neogotik, die als romantische Architektur gilt und ähnlich wie die Literatur einer theoretischen Reflexion unterworfen wurde. Vorausssetzung dafür war die wissenschaftliche Präszisierung des Klassizismus, seine bautechnische Grundlegung, die gleichzeitig seine Relativierung bedeutete. Somit war das System der Rationalität nicht mehr allein an den Klassizismus gebunden, andere Baustile konnten darauf aufbauen. Die Annahme, die Gotik unterliege keinen Regeln und sei aus der Vorherrschaft der Gefühle entsprungen, ging damit verloren. Sie galt nun nicht mehr als eine wirre Ansammlung von Türmchen, Zinnen, geschnitzten Chorpulten, düsteren Gewölben und bunten Glasfenstern, die geheimnisvolle Lichtspiele erzeugten, sondern als ein Baustil, der durchaus auf rationalen Überlegungen beruhte.200 Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, der sich in seiner Funktion als „Inspecteur général des Monuments historiques“ (S. 112) auch mit der Geschichte der französischen Architektur auseinandersetzte, betrachtete es als die erste Tugend der Baukunst, Bedürfnisse und Notwendigkeiten nicht zu vertuschen, sondern sie im Gegenteil sehen zu lassen, daraus den glücklichsten Gewinn zu ziehen und sie mit einer schönen Form zu bedecken […] Wir folgern nämlich, offenbar müsse allein die französische Architektur des 13. Jahrhunderts studiert werden, die auf unseren Charakter zugeschnitten, mit unseren Materialien unter unserem Himmel gebaut, schön, oft von bewundernswerter Form und wenig aufwendig ist, und zwar unter drei Gesichtspunkten: Konstruktion, Kunst und Ökonomie.201

Die Einsicht wissenschaftlicher Fundierung der gotischen Baukunst hatte sich zunächst bei der Restauration gotischer Baudenkmäler durchgesetzt, zumal sich die Restauratoren gezwungen sahen, sich mit der mittelalterlichen Baupraxis zu beschäftigen. Neben die Vorherrschaft der Gefühle trat die wissenschaftliche Beschäftigung mit der gotischen Architektur, die nun dem Klassizismus gegenüber als gleichwertig betrachtet wurde. Als es etwa in den 1850er Jahren bei der Pari-

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ser Bourgeoisie in Mode kam, in der Umgebung von Paris bürgerliche Villen zu errichten, befanden sich darunter auch Gebäude in neogotischer Bauweise.202 Diese spiegelten zudem den wissenschaftlichen Fortschritt im Bauwesen, da die Unregelmäßigkeiten, von denen die mittelalterlichen Bauten der Gotik geprägt sind, korrigiert wurden. Obwohl das akademische System die Romantik zunehmend rezipierte, besaßen die von ihm vorgegebenen, relativ starren Regeln auch weiterhin ihre Bedeutung. Édouard Manet, der die bürgerliche Gesellschaft keineswegs ablehnte und sich „nichts sehnlicher wünschte als das Band der Légion d’honneur am Revers, eine Auszeichnung, die schon sein Vater mit Stolz getragen hatte“,203 hielt sich etwa bei der Komposition der Figuren seines vielkritisierten Gemäldes „Le déjeuner sur l’herbe“ (1863) (siehe Tafel 15) an einen Kupferstich aus dem beginnenden 16. Jahrhundert: das „Urteil des Paris“ (um 1515/16) von Marcantonio Raimondi nach einer Zeichnung von Raffael.204 Allerdings ist nicht bekannt, ob sich die Zeitgenossen Manets dieser kunstgeschichtlichen Anspielung auch bewusst waren. Die Reaktionen auf das Werk lassen das Gegenteil vermuten: Das Gemälde wurde vom Salon zurückgewiesen, konnte aber im „Salon des refusés“ (S. 166) letztlich doch ausgestellt werden. Aber auch dort stieß es auf Ablehnung, wurde verlacht und heftig kritisiert. Ein Hauptpunkt der Kritik war die Darstellung des Lichts, die als misslungen erschien, sowie die fehlende harmonische Verbindung der dargestellten Figuren und der Landschaft, die an eine zu klein geratene Kulisse auf einer Theaterbühne erinnert. Da Manet, der eine akademische Ausbildung genossen hatte, selbstverständlich die Kunst der harmonischen Darstellung von Menschen und der Natur beherrschte, hatte er die fehlende Einheit bewusst angestrebt. Sie diente ihm dazu, die Entfremdung des Menschen von der Natur auszudrücken, die sich aus der Industrialisierung und Technisierung der Gesellschaft ergibt. Das Picknick ist nur insofern Thema des Bildes, als es symbolisch für ein modernes Verhältnis zur Natur steht, für eine kurzfristige Beziehung, die mit der Rückreise in die Stadt endet.205 Ein weiteres Element, mit dem das Gemälde „Le déjeneur sur l’herbe“ provozierte, ist die Darstellung des nackten weiblichen Aktes, eines jungen Mädchens, das seinen frechen Blick auf den Betrachter richtet. Allerdings bot die Nacktheit an sich keinen Anlass zur Kritik, zumal das Publikum längst an Aktdarstellungen gewöhnt war und diese auch durchaus erwartete. Bereits 1811 hatte etwa Ingres, „der“ akademische Maler, in seinem Gemälde „Jupiter et Thétis“ einen nackten Frauenkörper gemalt. Und seit Anfang der 1860er Jahre waren Aktdarstellungen sowohl vom Publikum als auch von der „Académie des Beaux-Arts“

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endgültig akzeptiert.206 Die Provokation von Manets Gemälde lag vielmehr darin, dass Manets die Nacktheit nicht mehr idealisierend darstellte, sondern sein Modell, Victorine Meurent207, deutlich erkennbar gemalt hatte. In der Debatte um das Gemälde ging es daher letztlich um den Begriff der „Wahrheit“, die freilich – gerade seit den 1850er Jahren, in denen der Realismus den künstlerischen Diskurs bereichert hatte – eine Frage der Definition darstellte bzw. bis heute darstellt.208 Ähnlich verhielt es sich zwei Jahre später, als Manet mit seinem Gemälde „Olympia“ (1863) im Salon von 1865 einen Skandal hervorrief (siehe Tafel 16). „Es muss betont werden“, schreibt der Kunsthistoriker Henri Zerner, „dass die Debatte ideologisch ist und sich in Ausdrücken artikuliert, die mehr ethisch als ästhetisch sind.“209 Die Kritik, darunter auch der keineswegs fortschrittsfeindliche Théophile Gautier, bezeichnete das Gemälde als schmutzig und verunstaltet, während die nackte Venus auf den Gemälden „La toilette de Vénus“ (Toilette der Venus, 1856) von Paul Baudry oder „Naissance de Vénus“ (Geburt der Venus, 1863) von Alexandre Cabanel (siehe Tafel 17) den meisten Kritikern als „wahr“ erschien. Ohne Zweifel weist Manets „Olympia“ mehr individualistische Züge als die nackte Venus bei Baudry oder Cabanel auf. Sein Modell Victorine Meurent – wie auch auf seinem Gemälde „Le déjeuner sur l’herbe“ – ist in der abgebildeten Frauenfigur deutlich zu erkennen. Die Vertreter des Klasszismus waren aber der Meinung, dass „Wahrheit“ und „Realität“ nicht notwendigerweise übereinstimmen müssten.210 Die Diskussion um die Frage der „Wahrheit“ war durch bestimmte Sehgewohnheiten geprägt, die ganz im Sinne der „École des Beaux-Arts“ einen Großteil des Publikums glatte und stilisierte Darstellungen bevorzugen ließen. Während daher im Pariser Salon gemeinhin Gemälde ausgestellt wurden, bei denen die Pinselstriche unsichtbar waren und fließende Formen dominierten, erschien „Olympia“ den Zeitgenossen wie ein Skizze, auf der die Farbtöne klar voneinander zu unterscheiden sind und dadurch starke Kontraste hervorrufen.211 Gemälde wie „Olympia“ oder „Le déjeuner sur l’herbe“ brachen mit den traditionellen Sehgewohnheiten,212 die der Kunstkritiker Jean Ravenel, der unter dem Pseudonym Alfred Sensier publizierte und sich als Anhänger Manets deklarierte, bei seiner Besprechung von „Olympia“ provokant in Frage stellte: Er lobte die Darstellung des Lichtes und die Harmonie der Komposition und bezeichnete das Gemälde als „bewaffnete[n] Aufstand im Lager der Bürger“, als ein „Glas Eiswasser, das jeder Besucher ins Gesicht bekommt, wenn er die schöne Kurtisane aufstrahlen sieht“.213 Bezeichnenderweise spricht Ravanel von einem Aufstand „im“ bürgerlichen Lager, womit er letztlich auf die Notwendigkeit von Skanda-

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len für den Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft hinweist. Gerade am Beispiel Manets, den Peter Gay als „soziale[n] Typus des kultivierten Revolutionärs“ bezeichnet,214 lässt sich dies verdeutlichen. Obwohl er mit den herkömmlichen Sehgewohnheiten brach und damit anvantgardistische Funktion in der Malerei erfüllte, löste er sich aber nicht völlig von den akademischen Vorgaben: „Le déjeuner sur l’herbe“ orientierte sich, wie bereits erwähnt, an einem Kupferstich von Raimondi, und „Olympia“ hatte bei der Komposition die berühmte „Venus von Urbino“ von Tizian als Vorbild, die Manet 1853 bei einem Aufenthalt in Florenz kopiert hatte.215 Diese Zweigleisigkeit, die weiterhin das Festhalten an den Traditionen, zugleich aber auch Innovationen ermöglichte, findet sich nicht nur im Bereich der bildenden Künste, sondern auch im Theater. Neben den großen und elitären Theatern, der Opéra, der Opéra-Comique oder der Comédie Française, die in erster Linie über ein klassisches Repertoire verfügten, konnten sich etwa Autoren sowie Schauspieler und Schauspielerinnen in kleineren, aber zahlreich besuchten Spielstätten einen Namen machen oder dort auch Experimente wagen, die auf den etablierten großen Bühnen nur schwer möglich waren. Sarah Bernhardt hatte etwa 1883, nach langen Jahren im renommierten Theaterbetrieb, das „Théâtre de la Porte Saint-Martin“ gepachtet und dort mit politischen und historischen Intrigen- und Sittendramen von Victorien Sardou, mit „Théodora“, „La Tosca“ und „Cléopatre“, triumphiert. Im März 1893 kaufte sie schließlich das „Théâtre de la Renaissance“, um nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Produzentin und Regisseurin experimentieren zu können. 1896 produzierte Bernhardt etwa das 1834 von Alfred de Musset verfasste Drama „Lorenzaccio“, das als unspielbar gegolten hatte, und übernahm darin auch die Titelrolle. Innerhalb von sechs Jahre machte sie mit dem „Renaissance“ im Übrigen sechs Millionen Francs Verlust.216 Selbst vor dem damals neuen Medium Film schreckte Sarah Bernhardt nicht zurück: Die Filmgesellschaft „Film d’Art“, die bemüht war, den Film als achtbare Kulturform zu etablieren, überredete sie 1912, eine ihrer berühmtesten Rollen, „Die Kameliendame“, in einem Film zu spielen. Im selben Jahr trat sie auch in Louis Mercantons Film „Queen Elizabeth“ auf, der – nicht zuletzt infolge einer Tournee durch die USA – große Erfolge verzeichnete.217 Allerdings blieb die Innovation in diesem Filmen auf die Thematisierung der so genannten „Hohen Kultur“ beschränkt. Die Inszenierung im Tableau-Stil, d.h. mit einer fixen Kameraeinstellung, erinnert eher an traditionelle Bühendarstellungen. Im „Port-Saint-Martin“, das Sarah Bernhardt seit 1883 als Direktorin leitete, trat auch Benoît Constant Coquelin auf, der mit der Comédie Française gebro-

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chen hatte. Zudem verzeichnete Edmond Rostand in diesem Theater mit seinem Versdrama „Cyrano de Bergerac“ im Jahr 1897 einen großen Erfolg. Zu erwähnen ist auch das „Vaudeville“, in dem Gabrielle Reju, genannt Rejane, auftrat, ebenso das „Thêatre-Libre“ (Freies Theater), das 1887 von André Antoine gegründet worden war und sich dem naturalistischen Drama widmete. 1891 wurden im „Thêatre-Libre“ unter anderem „Die Wildente“ von Henrik Ibsen und 1893 „Fräulein Julie“ von August Strindberg aufgeführt. Aurelien Lugné-Poe machte im „Thêatre-Libre“ seine ersten Theatererfahrungen, um schließlich 1893 die Theatergruppe „Le Thêatre de l’Œuvre“ (Kunst-Theater) zu gründen, die sich gegen den Naturalismus wandte und sich dem Symbolismus verschrieb.218 Innovative Theatergruppen wie „Le Thêatre de l’Œuvre“ waren fester Bestandteil der französischen Theaterlandschaft und wurden als solche durchaus akzeptiert, nicht zuletzt aufgrund des kritischen Potentials, mit dem sie zum offenen Diskurs beitrugen. Einige dieser Theatergruppen hatten sich auch dem Anarchismus verschrieben. So kämpfte etwa die Anarchistin Louise Michel219, eine der wenigen politischen Autorinnen in Frankreich des 19. Jahrhunderts, mit ihrem anarchistischen Theaterstück „Le coq rouge“ (Der rote Hahn) gegen Antisemitismus und dumpfen Nationalismus sowie für eine bessere und gerechtere Gesellschaft.220 Die avantgardistische Szene erwies sich allerdings als recht fragil. Einerseits führten die unterschiedlichen künstlerischen Auffassungen der gemäßigten und radikalen Protagonisten zu Konflikten und zum Auseinanderbrechen dieser ohnehin heterogenen Kunstszene. Andererseits dienten die kleinen Bühnen, die vielfach an öffentlicher Anerkennung gewannen, oft als künstlerisches Sprungbrett zu größeren Erfolgen. Somit standen ihnen viele Leitfiguren nur vorübergehend zur Verfügung.221 Die bürgerliche Gesellschaft war letztlich auf diese kulturellen Gegenbewegungen angewiesen und vereinnahmte sie, um damit gleichzeitig ihren Fortbestand und ihre Weiterentwicklung zu ermöglichen. Ein ähnlicher vermeintlicher Gegensatz zwischen anerkannter bürgerlicher Kultur und Avantgarde spiegelt sich auch in der Unterscheidung der Pariser Kulturszene nach der „Rive droite“ und der „Rive gauche“, nach dem rechten und dem linken Ufer der Seine.222 Dieser „Krieg der zwei Ufer“ (Guerre des deux rives), der im 19. Jahrhunderts getobt habe, war allerdings nur ein scheinbarer. Freilich suchten die wohlhabenden Bürger sowie arrivierten Schriftsteller und Künstler in erster Linie die Cafés der „Rive droite“ auf, während sich in den Cafés der volkstümlichen „Rive gauche“, im Quartier Latin, die Avantgarde und (Möchtegern-)Revolutionäre aufhielten. Und tatsächlich waren wohl manche wohlsituierte und „anständige“ Bürger von den lärmenden Gesellschaften und den endlo-

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sen Debatten über politische oder künstlerische Fragen abgeschreckt, die im Café de Buci, im Café de la Rennaisance, im Café Soufflet, im Café de l’Union oder im „L’Estaminet de Bobino“, um nur einige dieser Lokale zu nennen, geführt wurden. Dennoch fanden sich etwa im Quartier Latin mehrere Cafés, darunter das „Voltaire“, das „Tabourey“ oder das Café d’Orsay, die auch von den gefeierten Künstlern der „Rive droite“ aufgesucht wurden. Die „Rive gauche“, die angebliche „Gegenwelt“, die Welt der vermeintlich verarmten, aber nichtsdestotrotz genialen Bohème, behielt ihre Funktion auch, als sie sich in den 1850er Jahren, nicht zuletzt aufgrund der baulichen Umgestaltung von Paris durch George-Eugène Haussmann, in das Viertel um den Montmartre verlagerte. „Da nun einmal das Gesetz will, dass alles vergeht, / Was wird aus dem alten Lapin werden?“, fragt Philibert Laberthe in einem wehmütigen Chanson, das den Abriss des legendären Kabaretts „Lapin blanc“ (Weißes Kaninchen) beklagt, das sich in der Rue aux Fèves befand und durch den Roman „Les Mystères de Paris“ (Die Geheimnisse von Paris) von Eugène Sue berühmt geworden war. „Wenn er [der „Lapin blanc“, Anm. d. V.] in einigen Tagen dahinscheidet, / Wie wird es enden? / O Schmerz, jeder schluchzt: / Ein Lumpensammler des Tapis-franc / muss in seinem Tragkorb begraben / den Lapin blanc, den Lapin blanc“.223 Der „Tapis-franc“ bezeichnet im „Argot de voleur“, in der Gaunersprache, ein Kabarett mit zweifelhaftem Ruf, in dem sich die Außenseiter treffen. Zugleich spielt Laberthe aber auch auf den Roman von Sue an, in dem der Tapis-franc als unheimlicher Treffpunkt von Kriminellen und rechtschaffenen Armen, die er scharf voneinander trennt, beschrieben wird. Diese andere, fremde Welt, die der bürgerlichen mit ihren vermeintlichen Sicherheiten gegenübersteht, begeisterte eine große Anzahl bürgerlicher Leser und Leserinnen und bescherte den „Mystères de Paris“, die 1842/43 im „Journal des Débats“ als Fortsetzungsroman erschienen, großen Erfolg. Trotz der Klagen über den Verlust des „Lapin blanc“, dieser beinahe „exotischen“ Welt, fand dieser auf dem Montmartre sein Äquivalent: die so genannten „Café-concerts“, die „Caf ’conc‘“,224 und die „Boîtes à chanson“, d.h. Kabaretts, in denen seit den 1860er Jahren eine Mischung aus Gesellschaftskritik und Unterhaltung sowie Musik und Schauspiel geboten wurde. Trotz oder gerade wegen ihres gesellschaftskritischen Potentials zogen sie zahlreiche bürgerliche Zuschauer gleichsam magnetisch an. Der bekannteste „Caf ’conc“-Star war der „Gentilhomme-cabaretier“ Aristide Bruant, der „Edelmann unter den Kabarettisten“, den der Schriftsteller Anatol France als „Maître de la rue“ (Herr der Straße) titulierte und der seit 1883 im bekannte „Chat-Noir“ auftrat. Als er 1885 sein eigenes

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Kabarett gründete, waren es keine Geringeren als Théophile Alexandre Steinlen und Henri Toulous-Lautrec, die das Lokal dekorierten. Allabendlich trat Bruant schwarz gekleidet, mit rotem Schal, der wohl nicht zufällig an den Sozialismus erinnerte, und breitkrempigem schwarzem Hut vor das bürgerliche Publikum und begeisterte mit seinen „Publikumsbeschimpfungen“ und seinen zunächst humoristischen, später naturalistischen Chansons. Auf zahlreichen Tourneen, die ihn durch ganz Frankreich führten, ließ er sich sogar von Doubles vertreten. Im Übrigen kandidierte Bruant 1898 als „républicain, socialiste, patriote“ sowie – deutlich spiegelt sich hier die Dreyfus-Affaire (S. 249) – als „antisémite“ im Pariser Armenviertel Belleville für die französische Nationalversammlung, wobei dahinter wohl weniger ernste Absicht als vielmehr Inszenierung stand. Trotz intensiver Propagandatätigkeit konnte er nicht mehr als rund 500 Stimmen für sich gewinnen. Auch wenn Bruant letztlich ein echtes Engagement für die Armen, die im Zentrum seiner naturalistischen Chansons stehen, vermissen ließ, machte er letztlich doch auf die „soziale Frage“ aufmerksam.225 Auch andere Chansoniers und Kabarettisten beschäftigten sich mit diesem Thema und geißelten dabei die Herrschaft des Kapitals. In der Wochenzeitschrift „Le Chat noir“ war etwa 1882 das Gedicht „Ballade de Joyeuse Bohème“ (Ballade der fröhlichen Bohème) von Eugène Tourquet erschienen. „[…] wir gähnen / bei den Bankiers, Könige der Wucherer“, heißt es dort, Wir machen lächerlich / den dummen und hochmütigen Turcaret226 / Jeder von uns schnauzt ihn an, / Maler, Poet oder Komödiant […] / Bourgeois, flüchte, wenn wir es rund gehen lassen / […] / Und wir stoßen beim Trinken an, tödliche Beleidigung, / die Spießbürger „Scheiße“ nennend!227 Tourquet, der später unter dem Pseudonym Raphaël Schoomard publizierte, gehörte dem Kreis um Rodolphe Salis an, der die Zeitschrift „Le Chat noir“ herausgab und 1881 auf dem Montmartre sein gleichnamiges Kabarett eröffnet hatte.228 Dass für sein Kabarett gerade eine schwarze Katze als Markenzeichen diente, scheint kein Zufall zu sein. Immerhin galt die Katze in Europa seit dem Mittelalter als Hexentier, die schwarze Katze sogar als Sinnbild des Teufels und somit als Unglücksbringer.229 Als Mäuse- und Rattenfängerin war sie allerdings domestiziert worden, ohne aber ihre Eigenständigkeit eingebüßt zu haben. Die Anspielung auf die Rolle der Künstler ist offensichtlich: Er ist Teil der bürgerlichen Gesellschaft, indem er durch seine partielle Unabhängigkeit die notwendige Funktion der Kritik erfüllt und daher zur Fortentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft beiträgt. Die „schwarze Katze“ bringt dem Spießbürger somit nur vordergründig Unglück, bei genauerer Betrachtung ist dieses Unglück eigentlich sein Glück. Es verhindert den Stillstand.

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Die vielzitierte „Gegenwelt“ der „Bohème“, die angeblich der „offiziellen“ Kultur gegenüberstand, erweist sich als eine konstruierte. Tatsächlich gab es zwischen „Mainstream“ und Avantgarde, etwa zwischen dem akademischen System und den außerakademischen künstlerischen Bewegungen, zahlreiche Überschneidungen. „Es gibt keine einheitliche Schule mehr, ja kaum feste Gruppen“, schreibt der belgische Dichter Paul Verhaeren 1891, und die wenigen, die es gibt, spalten sich beständig. Diese ganzen Tendenzen erinnern mich an geometrische Muster, die sich bewegen wie im Kaleidoskop: Sie stoßen sich ab, nur um sich im nächsten Moment zu vereinigen; aber kaum verschmolzen, fliegen sie schon wieder in alle Richtungen auseinander – das alles in ein und demselben Kreis, im geschlossenen Kreis der neuen Kunst.230

Das Kaleidoskop der Kunst scheint allerdings weniger geschlossen gewesen zu sein, als Verhaeren annimmt. Denn gerade durch die Verschmelzung und das neuerliche Auseinandertrifften verschiedener Kunststile wurde die „Einzäunung“ der künstlerischen Freiheit ausgeweitet und zum Teil auch durchbrochen, wenn nicht gar abgerissen. Der offene Diskurs stellte die vorgegebenen Regeln und Normen immer wieder in Frage, brach mit Tabus und überschritt die gesetzten Grenzen zunächst noch relativ behutsam, schließlich aber radikal. Deutlich spiegelt sich diese allmähliche Grenzüberschreitung im Bedeutungsverlust des Pariser Salons, der zu Ende des 19. Jahrhunderts mit zahlreichen anderen Salons konkurrieren musste. Bereits 1884 wurde der „Salon des indépendants“, der „Salon der Unabhängigen“, von rund 200 Künstlern gegründet, die vom traditionellen Salon in diesem Jahr nicht zugelassen worden waren. Sie organisierten sich in einer „Société des artistes indépendants“ (Gesellschaft der Unabhängigen), welche die Farben von Paris – Rot und Blau – als Erkennungszeichen übernahm. Sowohl die Stadt Paris als auch die Regierung stellten für die Ausstellung zunächst ein provisorisch errichtetes Gebäude auf der Cour du Carrousel zur Verfügung, das ursprünglich als Nebengebäude für das Finanzministerium gedient hatte. Zur Eröffnung der ersten Ausstellung am 15. Mai 1884, die auch Werke von Neoimpressionisten wie Charles Angrand, Paul Signac und Georges Seurat zeigte, fanden sich zahlreiche bekannte Perönlichkeiten ein, darunter auch der Präsident der Republik, Jules Grévy. Von 1887 bis 1893 überließ der Pariser Gemeinderat den „Indépendants“ den „Pavillon de la Ville“ als Austellungsort, der sich auf der Champs-Elysée in der Nähe des „Palais de l’Industrie“ befand, in dem der traditionelle Salon regelmäßig stattfand. Diese räum-

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liche Nähe lässt sich geradezu als Sinnbild für die „Vielfalt in der künstlerischen Einheit“ deuten. Diese Vielfalt zeigte sich auch darin, dass sich die Indépendants nach zwei Jahren selbst spalteten. 1886 stellten die beiden Künstlergruppen in einem Gebäude, das der Pariser Gemeinderat erneut zur Verfügung gestellt hatte, gemeinsam aus. Die Besucher gelangten durch einen gemeinsamen Eingang in das Gebäude, dort fanden sie aber zwei weitere Eingänge zu den zwei Ausstellungen vor, bei denen marktschreierisch jeweils die „wahren Indépendants“ angekündigt wurden.231 Einige Jahre nach der Gründung des „Salons des indépendants“ folgte die so genannte „Scission“, die Spaltung des traditionellen Salons, die weitere Vielfalt in der Kunstszene ermöglichte. Die Ursache dafür ist in einem Konflikt zu suchen, der sich anlässlich des Salons von 1889 ergeben hatte. Dort sollten nämlich jene Künstler, die bei der im gleichen Jahr stattgefundenen Weltausstellung in der „Exposition Décennale“ (Zehnjahresausstellung) und der „Exposition Centennale“ (Hundertjahresausstellung) geehrt worden waren, nicht in der Kategorie der „Artistes hors concours“, also außerhalb des Wettbewerbs, zugelassen werden. In der Folge spaltete sich die „Société nationale des beaux-arts“ von der „Société des artistes français“ (S. 168) ab. Beide Gesellschaften veranstalteten nun ihren eigenen Salon. Die Kunstszene wurde damit freilich erneut belebt, da – wie die Zeitung „Le Petit Parisien“ im März 1890 schreibt – die Zahl der Einreichungen [im Salon der „Société des Artistes français“] beinahe jener der vorangegangenen Jahre glich. Viele fantasiereiche Künstler, entmutigt durch ihren ständigen Misserfolg, haben in diesem Jahr tatsächlich den Mut gefasst, indem sie sich sagten, dass, da es zwei Salons gab, die Anzahl der Bewerber in jedem kleiner sein würde und folglich die Zulassung leichter sein würde.232

Im Jahr 1903 wurde schließlich der „Salon d’automne“ eröffnet, der von der „Société du salon d’automne“ organisiert wurde, um einen Ausstellungsort für junge Künstler zu schaffen und für diese zugleich eine Möglichkeit, ihre Werke auch zu vermarkten.233 Mit dieser wirtschaftlichen Intention wird im Übrigen das Bild des hungernden und verkannten Genies neuerlich als Mythos entlarvt. Der neue Salon entwickelte sich zu einem Ort, der die innovativsten Künstler her­vorbrachte, weshalb ihn der Kunsthändler René Gimpel als „jenen [Salon, Anm. d. V.] von morgen“234 bezeichnete. Nicht zufällig stellten die „Fauves“ erstmals 1905 im „Salon d’Automne“ aus und bahnten damit der abstrakten Kunst den Weg. Ihre Werke waren in einem Raum untergebracht, in dem – nicht ganz

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passend – eine klassizistische Skulptur stand, die den Renaissance-Bildhauer Donatello darstellen sollte. Der Kunstkritiker Louis Vauxcelles spöttelte daher, dass sich Donatello „au milieu des fauves“, „inmitten wilder Tiere“, befinde, zumal sich die Gemälde der Fauves durch leuchtende, ungebrochene Farben und die Spontaneität des Ausdruckes auszeichneten.235 In der satirischen Zeitschrift „Le Gil Blas“ kritisierte etwa Vauxcelle an Henri Matisse, der neben André Derain und Maurice de Vlamnick zu den zentralen Persönlichkeiten der „Fauves“ zählte, dass „er die höchste Synthese erreichen wollte […]. Aber einer Synthese müssen langwierige und aufwändige Analysen vorangehen; man darf nicht Vereinfachung und Unzulänglichkeit, Schematismus und leeren Raum vermengen“.236 Die Fauves erlebten eine nur kurze Blüte, zumal sie sich bald von der „wilden“ Malerei abwandten und den analytischen Weg Cézannes einschlugen. Ausschlaggebend dafür war eine Cézanne-Ausstellung, die 1907 im „Salon d’Automne“ zu Ehren des kurz zuvor verstorbenen Künstlers stattgefunden und bei den Fauves wahre Begeisterungsstürme ausgelöst hatte. Georges Braque vollzog etwa in seinem Stilleben „Die Musikinstrumente“ (1908) den Übergang von der Spontaneität des Ausdruckes, der den Fauves eigen war, zur analytischen Annäherung an die Gegenstände. Dabei richtete er sich nach Cézannes Lehrsatz, die Natur bilde sich nach dem Muster von Kugeln, Kegeln und Zylindern ab. Wieder war es Vauxcelles, der der neuen Bewegung einen Namen geben sollte: „Kubismus“.237 Der Schriftsteller Guillaume Apollinaire betrachtete den Kubismus als eine „Malkunst […] mit Elementen, die nicht der Realität der Vision, sondern der Realität der Konzeption entliehen sind“.238 Diese „Realität der Konzeption“ ist nicht nur im Bereich der Kunst festzustellen, sondern muss im Kontext der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und Interessen betrachtet werden. So setzte sich die Biologie mit den Zellen und Zellfunktionen der Lebenwesen auseinander, die Physik konzentrierte sich auf die Mikrostruktur der Stoffe, und die Ökonomie versuchte, Produktionsverhältnisse und Marktvorgänge bis ins kleinste Detail zu erklären: „Um die Welt, die Natur, Mikrokosmos wie Makrokosmos, die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Entwicklung zu verstehen, bedarf es einer analytischen Durchdringung der Phänomene, einer Erforschung ihrer inneren Strukturen und Zusammenhänge.“239 Der „wissenschaftliche“ oder „analytische Kubismus“, der den Gegenstand in seine einzelnen Formen aufgliederte und Farben eliminierte, wich allerdings in der Folge der „Realität des Bewusstseins“, dem „synthetischen Kubismus“, der die Farben als eigenständiges Element wiederentdeckte. Die Intellektualität, der die Kunst bereits seit der Romantik einen gewissen Skeptizismus entgegengebrachte,

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wurde zwar nicht prinzipiell abgelehnt, allerdings durch Sensibilität ergänzt.240 Apollinaire meinte daher, dass der Kubismus „eine Schule begründet“ habe, und die dieser Schule angehörenden Maler möchten ihre Kunstauffassung verändern, indem sie zu den Grundlagen von Zeichnung und Inspiration zurückkehren, so wie die Fauves – und viele Kubisten waren vorher Fauves – zu den Grundlagen von Farbe und Komposition zurückgekehrt sind. […] Ich werde sogar noch weitergehen und behaupten, ohne die Talente aller Art im Salon d’Automne zu unterschätzen, daß der Kubismus heute die sich auf dem höchsten Niveau befindliche Kunstäußerung in der französischen Kunst ist.241

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkurrierten nicht nur zahlreiche Kunststile miteinander, sie beeinflussten sich auch gegenseitig und hatten nicht selten ihre Wurzeln sowohl im Klassizismus als auch in der Romantik und im Realismus. Auf die Vorreiterrolle von Delacroix und Géricault für die abstrakte Malerei, indem sie die detailgetreue Darstellung auf unterschiedliche Art und Weise auflösten, wurde bereits hingewiesen (S. 183–185). Die Werke von Manet, der als Wegbereiter des Impressionismus gilt, wiesen zudem Parallelen zum Realismus von Courbet auf: Beide lehnten jegliches Ideal und somit auch die Forderung des Klassizismus nach einer harmonischen Konzeption ab, weshalb sie den auf ihren Gemälde dargestellten Personen im Gegensatz zum Klassizismus individuelle Züge verliehen. Außerdem thematisierten sie beide das Populäre, indem sie Themen aus der Volkskultur und dem alltäglichen Leben zum Gegenstand ihrer Kunst machten. Courbet verarbeitete etwa mit den „Steinklopfern“ Szenen aus dem Arbeitsleben oder anhand des „Begräbnis zu Ornans“ (Tafel 12, S. 163–165) die kulturelle Praxis des katholischen Leichenbegängnisses. Damit fand das Elend der Existenz und der Vergänglichkeit, das in der industrialisierten und säkularisierten Gesellschaft verstärkt wahrgenommen wurde, Eingang in die Malerei. Manet entwirft wiederum mit seinem „Déjeuner sur l’herbe“ ein Szenario, das hinter dem sonntäglichen Picknick die Prostitution thematisiert und damit die bürgerlichen Moralvorstellungen als Fassade entlarvt, nicht zuletzt dadurch, weil er die Nacktheit entidealisiert, indem er sein Aktmodell deutlich erkennbar darstellt. Wohl nicht zuletzt aufgrund der Parallelen, die zwischen Courbet und Manet existieren, bezeichnete Antonin Proust den Impressionsimus als eine Spielart des Realismus. So fanden sich unter den Werken auf der Pariser Weltausstellung von 1889 – ein Hinweis, dass der Impressionismus keineswegs als „Gegenkultur“ bezeichnet werden kann – Gemälde von Impressionisten, die

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Antonin Proust, der Leiter der „Exposition Centennale“ auf der Weltausstellung, „vor allem als experimentierende Neuerer schätzte, deren Errungenschaften von einem breiten Strom naturalistischer Maler genutzt werden könnten“.242 Gemeinsamkeiten finden sich aber auch zwischen Manet und der so genannten „Art primitif“, der „primitiven Kunst“, bzw. der „Art primaire“, der „Urkunst“, wie sie heute unverfänglicher bezeichnet wird. So zeichnete sich etwa Manets „Olympia“ durch eine Flachheit aus, die auch für die „primitive Kunst“ typisch ist und als Ausdruck eines unmittelbaren, alle Lebensbereiche umfassenden Zusammenhangs, als Ausdruck der „Ursprünglichkeit“, die mit der „Zivilisation“ verloren gegangen sei, verstanden werden kann. Freilich war gerade die Suche nach Ursprünglichkeit selbst ein Teil dieser „Zivilisation“, nicht zuletzt auch, weil das „Primitive“ aus der zivilisatorischen Perspektive definiert wurde.243 Wie bereits im Kapitel über die bürgerliche Vergesellschaftung beschrieben, entdeckte die bürgerliche Gesellschaft nicht nur die französische Provinz als Ort der „Ursprünglichkeit“ und somit als scheinbaren Gegensatz zu den industrialisierten Zentren, insbesondere zu Paris, sondern auch das Kolonialreich und alle künstlerischen Ausdrucksformen, die sie in irgendeiner Weise als gleichsam „exotisch“ empfand (S. 86, 177, 198). Es entstanden Künsterkolonien, etwa in Barbizon im Wald von Fontainebleau (Théodore Rousseau) oder in Pont-Aven in der Bretagne (Paul Gauguin, Émile Bernard). Nach deren Vorbild gründeten Eugène Boudin und Claude Monet eine Künstlerkolonie in Honfleur (Calvados), Félix Ziem ließ sich in Martigues (Bouche du Rhône) nieder. Paul Signac entdeckte Saint-Tropez (Var), und nach Collioure (Pyrénées-Orientales) kamen die Zivilisationsflüchtlinge unter anderem wegen Henri Matisse und André Derain. In Céret (Pyrénees-Orientales) ließen sich Georges Braque und Pablo Picasso inspirieren. Alle diese Kolonien, in denen Künstler die akademischen Regeln zu durchbrechen versuchten, entwickelten sich schließlich zu Pilgerstätten des Kulturtourismus, die von der großen Bedeutung zeugen, die Kunst für die bürgerliche Gesellschaft besaß.244 Paul Gauguin, der sich zunächst in Pont-Aven niederließ, schwärmte etwa von der Bretagne als archaische Landschaft und dem dortigen Primitivismus, der Kunst und Leben miteinander verschmelze. Er arbeitete mit plakativen Farbkontrasten, verzichtete auf die Modellierung der Farbflächen und typologisierte die dargestellten Personen und Gegenstände mit vereinfachenden Umrisslinien, um damit natürliche Idealgestalten zu schaffen. 1891 verließ Gauguin schließlich Frankreich und reiste „in eine Welt vor dem Sündenfall“, nach Tahiti, um dort „in ursprüngliche Lebenszusammenhänge ein[zu]tauchen, mit noch na-

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turverbundenen Menschen zusammen[zu]leben und aus dieser Existenz heraus zu einer verbindlichen und nicht verkünstelten Kunst [zu] gelangen“.245 Seine Gemälde sprengen den traditionellen, zentralperspektivischen Rahmen, der die Sehgewohnheiten und damit auch die Malerei seit der Renaissance geprägt hatte (siehe Tafel 18).246 Diese Entgrenzung lässt sich mit den sprachlichen Innovationen in der Literatur vergleichen, etwa mit der Einführung des unregelmäßigen „vers coupé“ anstelle des allgemein üblichen Alexandriners in Victor Hugos Drama „Hernani“ (S. 160) oder auch mit Arthur Rimbauds Dichtung, die den Ausbruch in das Unbewusste wagt und die Subjektivität als zentralen Bestandteil der Dichtung betrachtet. „Die gesamte bisherige Dichtung läuft auf die griechische Dichtung hinaus, das Leben ist Harmonie“, schreibt Rimbaud in einem seiner „SeherBriefe“. „Das erste Studium des Menschen, der Dichter sein will, sei [aber] die gänzliche Erkenntnis seines Selbst; er suche seine Seele, er erforsche sie, er versuche sie, lerne sie kennen. […] Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfassende und planvolle Verwirrung der Sinne.“247 Wie die Romantiker oder Rimbaud glaubten die „Vertreter und Verfechter der abstrakten Kunst […], dass die Kunst tiefere Schichten der Wirklichkeit, das den Menschen Wesentliche anspricht, wenn sie von der äußeren Wirklichkeit, von allem Konkreten und kulturell Besonderen abstrahiert“.248 Bereits Cézanne hatte bewusst auf perspektivische Tiefen bzw. Dreidimensionalität verzichtet und auf diese Weise mit der Zentralperspektive gebrochen. Seine Gemälde weisen lediglich Fläche und Farbe auf; mittels Mehrfachkonturierung hält Cézanne die Gegenstände offen gegenüber dem Farbenraum, der sie umgibt. Die Gegenstände scheinen sich mit diesem zu verbinden, wie dies insbesondere bei seinen zahllosen Darstellungen des „Mont Sainte-Victoire“ oder in den 23 Gemälden zum Thema der „Badenden“ deutlich wird. Der Eindruck von Homogenität entsteht, einer harmonischen Einheit sowohl zwischen den abgebildeten Gegenständen und Menschen als auch zwischen Gemälde, Maler und Betrachter: Cézanne nannte als Ziel seiner Arbeit […] nicht die Wiedergabe des Bildes, das die Menschen sich von den Dingen und ihrer Ordnung geschaffen haben. Stattdessen: die Realisation der Dinge und ihres Zusammenhanges. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: Der Maler muß sehen und empfinden und zugleich sein Wahrnehmungsvermögen so objektivieren, daß er die Dinge erreicht und nicht schlicht die Projektionen seines Wahrnehmungsapparates abbildet.249

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Dennoch bilden abstrakte Kunst und Realismus nicht unbedingt ein Gegensatzpaar, vielmehr verwischen die Grenzen zwischen ihnen.250 Für Cézanne waren zwar die farbigen Flächen „natürlicher“ als die gezeichneten Linien, die vorgeben, die Realität abzubilden. Dennoch empfand er auch die „reine Zeichnung“ als abstrakt: „Die Zeichnung und die Farbe sind überhaupt nicht zu unterscheiden, alles in der Natur ist farbig.“251 Courbet glaubte zwar, die Schönheit nicht in einem Ideal zu finden, das von der Natur abstrahiert werden muss. Vielmehr offenbare sich das Schöne ganz offen in der Natur, weshalb der Maler diese nur darzustellen brauche. Er war daher davon überzeugt, „aus Dingen, die keinen Sinn ergeben, keine Themen [zu] erwarten“ und daher „an die sichtbare Welt gefesselt“ zu sein.252 Aber auch die abstrakte Kunst sah sich an die Welt gebunden, die allerdings erst durch den Menschen selbst, durch seine subjektiven Erfahrungen und Imaginationen, zugänglich werde. Der Kunstkritiker Jules-Antoine Castagnary war daher der Meinung, Courbet habe seine theoretischen Grundlagen nicht fertig gedacht: „Das Schöne“, hat Courbet gesagt, „ist in der Natur“. – Das Schöne ist im Menschen, entgegne ich, wie alle abstrakten Vorstellungen. […]. In der Natur gibt es weder schön noch hässlich, sondern lediglich Formen und farbige Erscheinungen. Das Konzept der Schönheit oder der Hässlichkeit entspringt unserem Geist […]. Das Schöne hat überhaupt keine objektive Realität, es existiert also nur im Zustand der Abstraktion.253

Robert Delaunay, der eine Kunst des „mouvement de la couleur“254, der „Farbbewegung“, geschaffen und dabei dem Licht besondere Bedeutung beigemessen hat, meinte nichts anderes, als er erklärte: „Ich arbeite vielfach nach der Natur; wie man es volkstümlich ausdrückt: vor dem Gegenstand […].“255 Manche Künstler, die im gängigen Verständnis als Abstrakte bezeichnet werden können, wurden etwa von zeitgenössischen Kritikern als Realisten eingestuft. Während Marcel Duchamp von Francis Picabia als „Abstractionniste“ sprach, der diesen Begriff gar erfunden habe, verweigerte ihm Apollinaire diesen Status: „[…] denn das Vergnügen, das diese Werke dem Betrachter versprechen, ist direkt […]. Jedes Gemälde von Picabia ist in seiner eigenen Existenz durch den Titel, den er ihm gegeben hat, eingeschränkt.“256 Robert Delaunay stellte sich erst gar nicht die Frage, ob seine Gemälde realistisch oder abstrakt seien. Für ihn existierte zum einen die äußere Realität, d.h. jene des Lichtes und der Farben, zum anderen eine konstruierte, neue Realität, jene seiner Gemälde. „Anders ausgedrückt“, schreibt Georges Roque,

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handelt es sich nicht darum, der Darstellung der äußerlichen Realität den Ausdruck einer anderen Realität entgegenzusetzen, sei sie transzendental oder innerlich. Nein. Die Realität, um die es sich handelt, ist jene des Werkes selbst, was insofern einen großen Unterschied macht, da es sich nicht mehr um Ausdruck, sondern um Konstruktion handelt.257

Delaunay distanzierte sich folglich von den „cérébralités“258, den vergeistigten „Zerebralisten“, wie er die sich in theoretischen Diskussionen verstrickenden und sich voneinander abgrenzenden Kunstrichtungen der klassischen Moderne bezeichnete. In Opposition zu den „Ismen“ seiner Zeit entwarf er seinen eigenen „Ismus“, „den Simultanismus, der an seine Technik der Farbmischung, den Gebrauch der Simultankontraste gebunden ist“.259 Bei seinen „Fensterbildern“, bei denen er ab 1912 die Technik der Simultankontraste entwickelte, sucht das Auge des Betrachters bei einem Farbenpaar wie Orange und Grün automatisch das Gegenpaar, in diesem Fall Rot und Blau. Damit werden in den Augen des Betrachters die Farben in Vibration versetzt und somit ein dynamischer Effekt erzielt.260 Apollinaire übertrug diese „peinture pure“, diese „reine Malerei“, wie Delaunay seine Technik bezeichnete, in Verse, indem er sich mit seinem Gedicht „Die Fenster“ (1913) auf die gleichnamige Bilder-Serie von Delaunay bezog: „Von Rot zu Grün stirbt alles Gelb / Paris Vancouver Hyères Maintenon New York und die Antillen / Das Fenster öffnet sich wie eine Orange / Die schöne Frucht des Lichts“.261 Die Gleichzeitigkeit, die einen zentralen Stellenwert bei Delaunays Gemälden einnimmt, wird mit der Nennung verschiedener Orte ausgedrückt, die jedoch nicht hintereinander aufgezählt werden, sondern gleichsam nebeneinander stehen, indem auf jegliches Komma verzichtet wird. Die Bedeutung des Lichtes für Delaunay wird sprachlich durch die Bezeichnung als „schöne Frucht“ angedeutet, die Dynamik der Farben drückt sich im Vers „Von Rot zu Grün stirbt alles Gelb“ aus. Delaunay reagierte mit seiner Technik des Simultankontrastes auf die Entwicklung der Kommunikation und die Beschleunigung der Welt, auf die Erfindung der Telegrafie, der Eisenbahn und des Filmes sowie auf das damit verbundene Phänomen der Simultaneität. Rimbauds Forderung, „frei [zu] sein für das Neue“ und „die Alten [zu] verfluchen“,262 entsprach Delaunay, indem er technischen Fortschritt und Höchstleistung sowie den damit verbundenen Wandel der Wahrnehmung in seinen Gemälden verarbeitete. Seine Eiffelturm-Darstellungen eröffnen dem Betrachter – vergleichbar mit der Technik der Montage im Film – immer wieder neue Perspektiven auf das Bauwerk, das selbst als Symbol

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des Fortschrittes verstanden wurde. (siehe Tafel 19) Die Farben lösen sich von ihrer räumlichen Funktion und werden in starken Kontrast zueinander gesetzt, wodurch beim Betrachter der Eindruck von Fragmentierung und Dynamik entsteht. Bei seinem Gemälde „Hommage à Blériot“ (1914), mit dem er den Piloten Louis Blériot ehrte, der 1909 zum ersten Mal den Ärmelkanal überflogen hatte, bediente sich Delaunay der selben Mittel: Während im rechten oberen Eck ein Doppeldecker-Flugzeug und der Eiffelturm noch relativ gegenständlich dargestellt sind, lässt ein Propeller die farbigen Kreisformen, die einen Großteil des Gemäldes füllen, gleichsam rotieren. Delaunay versucht damit, die Bewegung der industrialisierten Welt und zugleich die Anforderung an den Einzelnen darzustellen, immer mehr gleichzeitig wahr- und aufzunehmen.263 Für Delaunay hatte Farbe „keine traditionelle, erklärende oder literarische Vermittlung nötig“.264 Wie viele andere Künstler seiner Zeit, etwa der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, war er von der Idee des Philosophen Henri Bergson beeinflusst. Bergson, einer der Hauptvertreter der so genannten „Lebensphilosophie“, wandte sich gegen die traditionelle, auf Rationalität beruhende Wissenschaftsauffassung und schuf eine intuitive Erkenntnistheorie.265 Diese umfasste auch die Annahme der Gleichzeitigkeit von Bewegung, auch wenn sie hintereinander zu erfolgen scheint: „Nach Bergson hört die Bewegung im Raum auf, wenn sie zur qualitativen Dauer, zum ununterbrochenen Fließen wird. In der Vorstellung der Dauer erhalten die räumliche und die zeitliche Dimension eine neue Qualität der Gleichzeitigkeit, die intuitiv wahrgenommen werden kann.“266 Delaunay versuchte daher in seinen Bildern mehrere Perspektiven darzustellen, die – wie er meinte – vom Betrachter über Intuition zu einem Ganzen zusammengefügt werden könnten. Um jedoch die Wirkung seiner „peinture pure“, seiner „reinen Malerei“, zu erzielen, musste er sich trotz der metaphysischen Ideen, die seinen Gemälden zugrunde liegen, letztlich aber doch auf ein rationales bzw. wissenschaftliches System stützen: auf die Erkenntnisse der Farbenlehre. Kunst war somit Teil eines vielschichtigen Referenzsystems, das die Wissenschaft miteinschloss, obwohl diese auf der oftmals kritisierten Rationalität beruhte. Bereits der Neurologe Gauillaume-Benjamin Duchenne de Boulogne war der Überzeugung, mit den allgemeinen Gesetzen, die er über den Zusammenhang von seelischen Regungen und Muskelkontraktionen aufstellte, der Kunst ein Hilfsmittel zur richtigen Darstellung von Emotionen anzubieten. In seinen wissenschaftlichen Versuchen applizierte er Elektroden auf dem Gesicht lebender Menschen und fotografierte die verzerrten Gesichtsmuskeln, die durch die Elektrifizierung verursacht wurden.

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Abb. 7 Wissenschaft und Kunst – Foto aus Gauillaume-Benjamin Duchenne de Boulognes „Mécanisme de la physionomie humaine“ (1862). Duchenne de Boulogne verglich verschiedene Gesichtsausdrücke, die er durch elektrische Ströme hervorrief, mit der Darstellung von Emotionen bei antiken Kunstwerken.

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Im Namen der Wissenschaft suchte er sogar Fehler in verschiedenen Kunstwerken und verglich die Originale mit den von ihm korrigierten, gleichsam verbesserten Bildnissen. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück, in seinem 1862 erschienenen Hauptwerk „Mécanisme de la physionomie humaine“ (Mechanismus der menschlichen Physiognomie) antike Skulpturen zu berichtigen.267 Dennoch war Duchenne de Boulogne keineswegs ein Anhänger des Realismus; vielmehr bekannte er sich zum „idealen Naturalismus“ der Antike, der sich nur der Schönheit der Natur gewidmet habe. Seine Fotos verstand er im Übrigen nicht nur als wissenschaftliche Instrumentarien, sondern auch als Kunstwerke. Er achtete auf Lichtkontraste und betrachtete die Fotos nicht als Vorbilder für Künstler, sondern maß ihnen als Abbild von Leidenschaften eine eigene ästhetische Qualität bei.268 Baudelaire sah in der Fotografie zwar nicht wie Duchenne de Boulogne eine Kunst, allerdings gestand er ihr die Rolle einer „Dienerin der Wissenschaften und der Künste“ zu, einer „sehr ergebene[n] Dienerin“.269 Und tatsächlich orientierte sich etwa Ernest Meissonier bei mehreren seiner Historiengemälde an den Momentfotografien der Pferdegangarten, die Eadweard Muybridge und ÉtienneJules Marey angefertigt hatten. Die „Académie des Beaux-Arts“ kam dem Interesse an der Physis entgegen und schuf Ende des 19. Jahrhunderts eine „Chaire d’anatomie artistique“, eine Professur für „künstlerische Anatomie“, die von Mathias Duval und später von Paul Richer besetzt wurde.270 Beide beschäftigten sich mit physiologischer Forschung, insbesondere mit dem Studium bewegter Körper, um wissenschaftliche Erkenntnisse für die Kunst nutzbar zu machen. Wiederum werden hier das bereits erwähnte künstlerische Potential und die künstlerische Dynamik deutlich, die dem akademischen System trotz ihres vermeintlichen Interesses am Status quo dennoch implizit waren. Auch beim Neo-Impressionismus und Pointillismus, um ein weiteres Beispiel zu nennen, finden sich Entsprechungen mit der wissenschaftlichen Forschung. Die physiologische Optik, die sich mit den Prinzipien der Komplementärfarben beschäftigte, diente diesen Kunstrichtungen zur Darstellung der Objekte in ihrer „gegenseitigen Abhängigkeit und ohne farbliche Eigenständigkeit“.271 Die Künstler und Künstlerinnen verwendeteten lediglich die drei Grundfarben Blau, Rot und Gelb sowie deren Komplementärfarben Orange, Grün und Violett. Dabei vermischten sie diese Farben nicht, sondern hellten sie mit Weiß auf und variierten sie somit. Auf diese Weise entstand ein Netz aus Farbpunkten, die nicht beiläufig auf die Leinwand aufgetragen wurden, „sondern […] – ‚demokratisch‘ – mit allen benachbarten in gleichwertigem Kontakt, in genau ausgeklügelten

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farbigen Kontrastbeziehungen“ stehen.272 Auf den Zusammenhang mit der eingezäunten Freiheit sei hier nur am Rande verwiesen: Die einzelnen Farbpunkte vermischen sich zu einem Ganzen, so wie das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft aufgehen soll, ohne seine Individualität zu verlieren. Schließlich ist auch auf die Surrealisten hinzuweisen, die den Übergang der Kunst vom „langen“ 19. Jahrhundert in das 20. Jahrhundert vollzogen, ohne aber – auch wenn sie dies postulierten – mit der bürgerlichen Gesellschaft vollständig zu brechen. Infolge ihres Interesses am Unbewussten beschäftigten sie sich mit der Psychoanalyse und schufen damit eine Verbindung zwischen künstlerischem und medizinischem Diskurs. „Mit dem absoluten Rationalismus, dem heute noch alle Welt frönt“, schreibt André Breton Ende der 1920er Jahre, kann man nur Erfahrungstatsachen im engsten Sinn in den Griff bekommen. […] Auch bei der Erfahrung geht es nur noch um den sofortigen Nutzen und die auf der Hand liegende Brauchbarkeit. Der gesunde Menschenverstand ist ihre alleinige Richtschnur. […] Im Vertrauen auf Freuds Entdeckungen gewinnt aber heute eine Auffassung an Boden, die den Forscher nicht mehr davon abhält, seine Untersuchungen weiter voranzutreiben, und ihm auch nicht mehr vorschreibt, ausschließlich platteste Realitäten ins Auge zu fassen. Es ist jedoch festzuhalten, daß es für die Durchführung des neuen Vorhabens überhaupt noch keine bewährten oder von vornherein Erfolg versprechende Methoden gibt und daß dieses Unterfangen bis auf weiteres noch sowohl dem Tätigkeitsfeld der Dichter wie auch dem der Geisteswissenschaftler zugeordnet werden kann.273

Und so entdeckte der Surrealismus, auch wenn dieser für sich in Anspruch nahm, sich von jeglichen Vorbildern zu trennen, notwendigerweise die avantgardistische Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die Romantik und der Symbolismus, der „das Hier und Jetzt zu transzendieren, zum Wesen vorzudringen oder gar ein Noch-Nicht zu antizipieren“274 versuchte, beeinflussten die Surrealisten.275 Sie beschäftigten sich mit dem Dichter Isidore Ducasse276, besser bekannt unter dem Namen Comte de Lautréamont, der in seinen „Chants de Maldoror“ (Gesänge des Maldoror, 1868/69) geradezu ein Horrorszenario der Welt präsentiert. Unter anderem beschreibt er ein ekelhaftes Bestiarium von Kraken, Kröten, Schnecken und Läusen, das von den an der Psychoanalyse interessierten Surrealisten als Einblick in die unbewältigte Psyche interpretiert wurde: „Mehrere andere Welten erschließt sie [die Einbildungskraft, Anm. d. V.] Ihrem Bewußtsein

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gleichzeitig und in so überwältigender Weise, daß Sie bald fast nicht mehr in der Lage sind, sich in der hiesigen Welt noch zurechtzufinden.“277 Neben Lautréamont interessierten sich die Surrealisten auch für Baudelaire, Rimbaud und Stephane Mallarmé, außerdem für Guillaume Apollinaire, der sich unter anderem mit den Symbolisten, insbesondere mit Paul Verlaine auseinandergesetzt hatte. Grundlegend für den Surrealismus war Apollinaires Auffassung von Poesie, die er als „Eroberung des Unbekannten, Streben nach neuen Erfahrungsbereichen“ und „Bedeutungsgewinn durch das Spiel mit Formen, Symbolen und Zeichen“ definierte.278. Einige Surrealisten propagierten daher die „écriture automatique“, später auch den „dessin automatique“, einen Prozess des Schreibens sowie Zeichnens oder Malens ohne jede Kontrolle durch die Vernunft oder durch konventionelle ästhetische Normen.279 In der Auseinandersetzung mit der literarischen Avantgarde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelangten die Surrealisten letztlich zu einer poetologischen Analyse, somit zu einer wissenschaftichen Beschäftigung mit Literatur280 sowie zur theoretischen Reflexion über Malerei. Ähnlich wie bei der Romantik ließ sich eine rationale Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur nicht vermeiden. Dies zeigte sich auch in der Verwendung eines damals neuen Mediums, des Filmes, der in den 1920er Jahren von der „fièvre de la théorie“, dem „Theoriefieber“, erfasst wurde.281 Der Dichter, Romancier und Kunstkritiker Ricciotto Canudo sah etwa im Kino die Möglichkeit, die „traditionelle Differenzierung zwischen der Kunst des Raumes und der Kunst der Zeit: auf der einen Seite Architektur, Malerei und Bildhauerei, auf der anderen Musik, Dichtung und Tanz“, zu überwinden.282 Surrealistsiche Filme wie „Le retour à la raison“ (Die Rückkehr zur Vernunft, 1923) von Man Ray sowie „Un Chien andalou“ (Ein andalusischer Hund, 1929) und „L’Age d’Or“ (Das Goldene Zeitalter, 1930)283 von Luis Buñuel und Salvador Dalí erhielten gerade deswegen eine avantgardistische Bedeutung, weil über sie theoretisch reflektiert wurde und damit der Film von einer Jahrmarktattraktion zum Kunstwerk erhoben werden konnte.284 Sie beeinflussten etwa Jean Cocteaus Film „Le sang d’un poète“ (Das Blut eines Dichters, 1930), in dem das traditionelle, messbare und auf Chronologie beruhende Zeitverständnis verworfen wird. Die einzelnen Filmsequenzen werden als subjektive Erfahrungen inszeniert, die sich in der Identität des Individuums eingeschrieben haben: Alles Erlebte wirkt sich auf die Persönlichkeit und das Schaffen des Künstlers aus; in seinem Werk wirkt gleichsam das gesamte „Blut des Dichters“.285 Surrealistische Ideen, die selbst wiederum im 19. Jahrhundert wurzeln, finden sich schließlich auch in der Gegenwartskunst und sogar in heutigen Mainstreamfilmen wieder.

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Die im 19. Jahrhundert enstandenen Kunststile, die sich wie der Surrealismus mitunter als revolutionär verstanden, sowie die unterschiedlichen literarischen Richtungen sind in den bürgerlich-kulturellen Kosmos einzuordnen. Die Versuche etwa in der Malerei, sich vom akademischen System zu emanzipieren, aber zugleich auch die, wenn auch nur zögerliche Bereitschaft der „Académie des Beaux-Arts“, sich für Neues partiell zu öffnen, stehen beispielhaft dafür, wie sich das bürgerliche Normen- und Regelsystem an die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse anzupassen wusste. Freilich war das akademische System relativ behäbig und verzögerte mit seinen konservativen Anischten die künstlerische Weiterentwicklung. Gerade diese Behäbigkeit provozierte aber auch Kritik und forderte Kunstschaffende erst heraus, neue Wege zu gehen. Um 1900 präsentierten sich Kunst und Literatur schließlich in einem völligen anderen Licht als noch hundert Jahre zuvor, und doch waren sie ohne den Klassizismus, die Romantik, den Realismus, den Naturalismus, den Idealismus, den Impressionismus oder den Expressionismus, um nur einige der wichtigsten künstlerischen und literarischen Strömungen zu nennen, nicht denkbar. Die „Moderne Kunst“ bzw. die „klassische Moderne“ beginnt nicht erst um 1900, sondern mit der Aufklärung und der Französischen Revolution von 1789.286 Die „Kulturkämpfe“, die nichts anderes waren als Ausdruck des offenen Diskurses, ließen die sich emanzipierenden Kunstschaffenden oftmals als unverstanden und verkannt erscheinen. Tatsächlich waren sie aber ihrer Zeit voraus, trugen ihren Teil zur Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bei und reagierten – wie Martin Damus schreibt – „schneller als die anderen, die […] auf derselben Schiene der Entwicklung“ folgten.287 Sie mochten manchmal in Künstlerkolonien flüchten und der Zivilisation vorgeblich den Rücken kehren (S. 198), sich gleichsam auf Fluchtwege begeben, um der Enge der eingezäunten Freiheit zu entgehen. Letztlich erwiesen sich aber diese Fluchtversuche – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird – als vergeblich.

4. Widersprüche und Reaktionen So summen auf Wiesen, / Wo ganz im Vergessen / Duften und sprießen / Weihrauch und Kressen, / Mit wildem Gebrumm / Schmutzige Fliegen herum. (Arthur Rimbaud, Chanson de la plus haute tour)1

Die Vorstellung der Bohéme als Gegenwelt, der Mythos der „Gegenkultur“, resultiert aus den zahlreichen Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft. Tatsächlich ließ sich das Motto der Französischen Revolution und der Republik, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, letztlich nur partiell realisieren. Der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft war nur jenen gestattet, die sich der bürgerlichen Kultur anpassten und ihre Spielregeln übernahmen. Nicht jeder beherrschte deren Regeln freilich so virtuos wie jene bürgerlichen Eliten, die etwa in Nobelrestaurants wie dem „La Tour d’Or“ (Tafel 2) speisten und über „Gott und die Welt“, über Literatur und Kunst sowie über Gesellschaft und Politik, diskutierten. Diesen bürgerlichen Eliten bereitete es keinerlei Schwierigkeiten, die kulinarische Kunst (S. 33–35), wie sie etwa Chatillon-Plessis in „La vie à table à la fin du XIXe siècle“ (Die Tischkultur am Ende des 19. Jahrhunderts) beschreibt, gleichsam zu leben. Anderen fehlte es jedoch an finanziellen und zeitlichen Ressourcen, um die Theorie gekonnt in die Praxis umzusetzen. Letztlich schien es so, als ob die moderne Gesellschaft, die durch soziale Differenzierung und unterschiedliche politische Bewegungen geprägt war, die Verwirklichung des bürgerlichen Gesellschaftsmodells behinderte. Zum einen wurde sein Regelwerk, die bürgerlichen Normen und Werte, nur zögerlich an die gesellschaftliche Entwicklung angepasst. Damit verkam es nicht selten zum reinen Selbstzweck und ließ individuelle Bedürfnisse unberücksichtigt. Zum anderen differenzierten die Industrialisierung, die Technisierung und die modernen Naturwissenschaften die Gesellschaft zusehends. Der bürgerliche „Flaneur“ verlor sich gewissermaßen im Detail seiner Existenz und Umwelt, anstatt das bürgerliche Universum, das „Volumen der Freiheit“ (S. 19), in seiner Gesamtheit zu erfassen. Genau diese Fragmentierung, die ständige Verflüchtigung eines vermeintlich „Ganzen“, macht aber das bürgerliche Gesellschaftsmodell letztlich aus. Darin liegen sein grundlegender Widerspruch und zugleich sein Erfolgsre-

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4. Widersprüche und Reaktionen

zept: Das Modell beansprucht einerseits Allgemeingültigkeit und scheint daher statisch. Andererseits führt aber der darin postulierte offene Diskurs, wie das vorangegangene Kapitel anhand der Kunst beispielhaft gezeigt hat, zu gesellschaftlicher Bewegung. Das von der bürgerlichen Welt im 19. Jahrhundert als bedrohlich Empfundene, die Infragestellung des bürgerlichen Gesellschaftsmodells, war letztlich ihre Lebensader.

4.1 Der Verlust des „Ganzen“

Im Jahr 1923 publizierte der Schriftsteller und Journalist Paul Reboux in der Zeitung „Paris-Soir“ einen Nachruf auf die „gute alte Zeit“. Während das damalige Leben im Paris der 1860er Jahre noch in Harmonie verlaufen sei, etwa die Beziehungen zwischen den Geschlechtern entsprechend der vermeintlich natürlichen Regeln (S. 39) funktioniert hätten, sei die moderne Zeit durch ihre Fragmentierung, sprachlich bei Reboux zum Teil durch Satz- und Wortfetzen ausgedrückt, geprägt: Die Frauen sind [im Paris der 1860er Jahre, Anm. d. V.] das Objekt der stillen Ehrerbietung oder selbst von Komplimenten, die man ihnen im Vorbeigehen macht, flink, so wie am Maskenball. Jeder Geck, den Kopf mit einem hohen Hut bedeckt, reicht den Arm einer Dame mit Kaschmirschal. Die viel zu kleinen Sonnenschirme schützen schlecht vor der aufgehenden Sonne, die den Kopf verdreht. Allmählich vergoldet sich der Abend. Er spiegelt sich in den zahlreichen Laternen, welche die Vortreppe von Tortoni [damals ein berühmtes, von Schriftstellern, Künstlern und Politikern besuchtes Pariser Café-Restaurant am Boulevard des Italiens, Anm. d. V.] verzieren. […] Die Terrassen des Cafés verströmen einen Duft von Absinth, der die Luft aromatisiert. Man geht, man schaut, man lächelt, ohne den Grund dafür zu kennen, man genießt in vollen Zügen das harmonische Ende des Tages in einer der Umgebungen der Welt, die für das Glück bestens geeignet sind. Heute? … Dzing! … Kannst du nicht ausweichen, he! Blödkopf? … Kling! Kling! Kling! Kling! … Have a guide, Sir? … ONOT … Craoû! Craoû! Craoû! Hup! … vollständiges Resultat von … Kling! Kling! … central limited bank … Kling! … Dzing! … Sensationell! … Film! … verstecke dein … Kling! … Monumentalfilm! … Brrrrrrou! Verzahnung … Coâ! Coâ! … Aua! Rumtreiber! Tag …! Ich weiß, dass es notwendig ist, mit seiner Zeit zu gehen. Aber all dies lässt mich, nicht ohne manche Nostalgie, an den Zauber des Lebens denken – den wir vielleicht nicht mehr kennenlernen werden […].2

4.1 Der Verlust des „Ganzen“

211

Reboux entsprach in seiner Grundaussage, mit seiner Klage über den Verlust einer vermeintlichen Harmonie, der allgemein verbreiteten Vorstellung einer schweren Krise der „Zivilisation“. Diese war bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend artikuliert worden. Der „Zauber des Lebens“, den er beschwört, war aber freilich ein Mythos, der die bürgerliche Gesellschaft das gesamte 19. Jahrhundert hindurch prägte. Gerade die 1860er Jahre, denen Reboux so nachtrauert, waren durch gesellschaftliche Fragmentierung gekennzeichnet und von einer Harmonie weit entfernt. Das Zweite Kaiserreich blendete bloß mit seiner Konsumwelt und seinen Prachtbauten, die nichts weiter waren als schöne Fassaden (S. 235). Die Fragmentierung der Gesellschaft spiegelt sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in der räumlichen Entwicklung der Städte, insbesondere jener von Paris. Bereits Rousseau, der sich Paris als „eine eben so schöne wie große Stadt vorgestellt“ hatte, „in der man nichts als prachtvolle Straßen, Paläste von Marmor und Gold“ erblickt, beklagte etwa im vierten Buch seiner „Bekenntnisse“ (1782) die katastrophalen Lebensverhältnisse in Saint-Marceau: Als ich die Vorstadt St. Marceau durchschritt, gewahrte ich nur kleine, unreine und stinkende Gassen, häßliche schmutzige Häuser, Unsauberkeit, Armuth, Bettler, Fuhrleute, alte Klatschweiber, Ausruferinnen von Tisane [Kräutertee, der allgemein als minderwertig empfunden wurde, Anm. d. V.] und alten Hüten. Alles dies machte von Anfang einen solchen Eindruck auf mich, daß ihn alles, was ich in Paris späterhin von wirklicher Pracht gesehen habe, nicht hat zerstören können und mir von da an stets ein geheimer Widerwille gegen den Aufenthalt in dieser Hauptstadt geblieben ist.3

Auch Louis-Sébastien Mercier beschreibt Ende des 18. Jahrhunderts in seinem „Tableau de Paris“ (1781–1788), einer Beschreibung des alltäglichen Lebens in der Hauptstadt, „Faubourg Saint-Marceau“ als „Ort, wo die Armut […] vorherrscht, die schlechte Luft“ sowie die „fièvre pourpreuse“, ein „rotes Fieber“, das „über allem lag“, einen tiefroten Hautausschlag hervorrief und „die Armen zu Hunderten hinwegrafft[e]“.4 Mercier forschte „in allen Bürgerklassen“ und vernachlässigte auch nicht jene „von stolzer Opulenz weit entfernten Objekte, um durch diese Gegensätze die moralische Physiognomie dieser gigantischen Hauptstadt besser zu erfassen“.5 Allerdings wirkt seine Beschreibung der „moralischen Physiognomie“ noch wie ein Zeugnis sozialer Koexistenz. Dies ist auch damit zu erklären, dass die soziale Differenzierung meist nicht in städtischen Vierteln

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4. Widersprüche und Reaktionen

erfolgte, sondern in den meisten Pariser Häusern oft unterschiedliche Milieus lebten: in den oberen Stockwerken die Armen und in den Wohnungen darunter die Wohlhabenden.6 Mercier schreibt etwa, dass in Saint-Marceau „die letzte Salbung [das Sakrament der Krankensalbung bzw. ‚letzten Ölung‘, Anm. d. V.] vom Dachgeschoß in den siebten Stock herabsteigt“.7 Der Tod machte also auch vor den besser gestellten Bevölkerungsschichten nicht Halt. Eine Ausnahme von dieser sozialen Koexistenz bildeten die „hôtels particuliers“, die vom Adel, hohen Beamten und später auch von Teilen des Großbürgertums bzw. der Bourgeoisie bewohnten Stadtpalais, die wie Fremdkörper im Stadtbild von Paris erschienen.8 Dieses Stadtbild war weniger geprägt von großstädtischem Flair als vielmehr von verwinkelten, engen und schmutzigen Gassen. Die Haushalte verfügten weder über Wasseranschlüsse noch über Toiletten, die Fäkalien wurden in Tonnen gesammelt oder wanderten in Jauchengruben, die sich unter den Häusern befanden und deren Inhalt in den Rinnstein geleert wurde. In den öffentlichen Durchgängen und in den Treppenhäusern stank es nach Urin.9 Noch in den 1830er Jahren zeigte sich selbst die reiselustige Britin France Trollope angesichts der hygienischen Verhältnisse entsetzt. Sie bewunderte zwar Paris und schrieb von einer Stadt, „in der die Geschäfte und die Cafés verzauberten Palais glichen; […] in der die Frauen zu empfindsam und anmutig erscheinen, um ganz und gar irdische Wesen zu sein, und die Männer zu besorgt und zu galant, um zu erlauben, dass sie nur einem unreinen Lufthauch ausgesetzt sind“. Gleichzeitig könne sie aber „in dieser selben Stadt […] keinen Schritt setzen, ohne dass ihr Blick und ihr Geruchssinn auf unvorstellbare Art und Weise beleidigt und abgestoßen“ werde.10 Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert hatte sich aber bereits der Übergang von einer „vertikalen“ zu einer „horizontalen Schichtung“ des städtischen Raumes zu vollziehen begonnen.11 Die soziale Schichtung nach Wohnetagen verlagerte sich nun auf reiche und arme Wohnviertel. „Es gibt vielleicht keine Stadt auf der ganzen Welt“, meint der Schriftsteller Étienne de Jouy bereits 1813, „in der die unterschiedlichen Klassen der Bevölkerung so stark voneinander isoliert leben wie in Paris […].“ Aufgrund der unterschiedlichen „Sitten und der Gewohnheiten“ schien ihm „jede Umgebung in gewissem Sinn eine selbständige Nation, wodurch sich der allgemeine Charakter der Pariser und die besondere Physiognomie dieser großen Stadt formte“.12 Durch private Initiativen entstanden bereits während der Restauration neue Viertel, die Banken und Finanzelite beherbergten und als bürgerliche Viertel galten: François-I er, Europe, SaintGeorges und Poissonière im Norden und Nordwesten von Paris. Während der Julimonarchie verstärkte sich schließlich die „horizontale Schichtung“: Durch

4.1 Der Verlust des „Ganzen“

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den Abriss von Gebäuden wurden große Flächen geschaffen und prächtige Boulevards errichtet, vor allem in den nordwestlichen Randzonen, die den wohlhabenden Parisern vermehrt als Wohnräume dienten. So teilte sich die Stadt in einen großbürgerlichen Nordwesten und einen kleinbürgerlichen und von Unterschichten bewohnten Osten.13 Für die reiselustige Britin France Trollope spiegelte sich in den 1830er Jahren der Reichtum der französischen Bourgeoisie in der „großen Anzahl schöner Häuser, die sich, weiß und glänzend wie junge Pilze, in den nordwestlichen Teilen von Paris schnell“ erhoben und wie „eine ganz neue Welt“ wirkten.14 Zugleich registrierte sie auch die „horizontale Schichtung“ der Stadt, zumal sie als weiblicher Flaneur abseits der Boulevards in eine „schrecklichste Finsternis“ tauchte: „[…] es gibt in England keine Provinzstadt, die nicht unvergleichlich besser beleuchtet wäre […].“15 Zur gleichen Zeit, als France Trollope Paris besuchte, machte sich die sogenannte „soziale Frage“ bemerkbar: 1833 erlebte Frankreich eine Streikwelle, die von Arbeitervereinen in einzelnen Städten – Paris, Lyon, St. Etienne, Le Havre, Caen, Chantilly und Lille – koordiniert wurde. Allein Paris verzeichnete 13 Streiks. Wenn Michelle Perrot die Jahre zwischen 1870 und 1900 als „jeunesse de la grève“16, die „Jugend des Streiks“, bezeichnet, dann handelte es sich bei den Streiks der 1830er Jahre wohl um seine „frühkindliche“, durchaus von Ungehorsam gekennzeichnete Phase. Die Städte, in denen gestreikt wurde, waren noch primär Zentren des traditionellen Handwerkes und nicht der modernen Industrie. Selbst Lille, schon damals eine industrielle Insel im agrarisch geprägten Frankreich, zählte zu dieser Zeit noch mehr Handwerker als Industriearbeiter. Die streikenden Handwerker verstanden sich allerdings zunehmend als Arbeiter, die keinen sozialen Aufstieg mehr im traditionellen Sinn, vom Gesellen zum Meister, zu erwarten hatten, sondern sich innerhalb der Grenzen der Lohnarbeiterschaft bewegten. Dieses Verständnis zeigt sich auch in der Gründung von Arbeiterzeitungen wie „L’Artisan“ („Der Handwerker“), der in Paris seit 1830 herausgegeben wurde und sich als „journal de la classe ouvrière“, als „Zeitung der Arbeiterklasse“, verstand.17 Industriezentren befanden sich in den 1830er Jahren lediglich in der Normandie und im Elsass (Textilindustrie) sowie im Massif Central (Kohleabbau). Die dort beschäftigten Arbeiter waren schlechter organisiert und weniger qualifiziert als die streikenden Handwerker, sozial sehr heterogen (auch Fremdarbeiter, Frauen und Kinder wurden beschäftigt) und stammten meist aus dem ländlichen Milieu, weshalb sie die Arbeit in der Fabrik oder in den Minen oftmals nur als Übergangsphase betrachteten. Eine Identität als Lohnarbeiter konnte sich daher nur sehr zögerlich entwickeln.18

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4. Widersprüche und Reaktionen

Bis in die 1830er Jahre waren Streiks in größerem Ausmaß noch unbekannt gewesen, weshalb sie viele bürgerliche Zeitgenossen dazu verleiteten, die „classes laborieuses“ (Arbeiterklassen) als „classes dangereuses“ (gefährliche Klassen) zu diskreditieren. „In diesem sozialen Sumpf“, schreibt der Historiker Dominique Kalifa, „den die Arbeitswelt schafft, risikiert der Arbeiter, den Schrecken eines entsetzlichen Elends unterworfen, in jedem Moment in die Kriminalität zu versinken.“19 Die Gesellschaft wurde zunehmend als eine fragmentierte wahrgenommen, die nicht nur soziales Elend schuf, sondern auch sozialen Sprengstoff barg. Als Heinrich Heine 1840 das bereits erwähnte Pariser Arbeiterviertel Faubourg Saint-Marceau besuchte, hörte er Lieder […] singen, die in der Hölle gedichtet zu seyn schienen, und deren Re­frains von der wildesten Aufregung zeugten. Nein, von den dämonischen Tönen, die in jenen Liedern walten, kann man sich in unsrer zahmen Sphäre gar keinen Begriff machen; man muß dergleichen mit eigenen Ohren angehört haben, z.B. in jenen ungeheuren Werkstätten, wo Metalle verarbeitet werden und die halbnackten trotzigen Gestalten während des Singens mit dem großen eisernen Hammer den Takt schlagen auf den dröhnenden Amboß. Solches Accompagnement ist vom größten Effekt, sowie auch die Beleuchtung, wenn die zornigen Funken aus der Esse hervorsprühen. Nichts als Leidenschaft und Flamme!20

Um diesen sozialen Sprengstoff zu entschärfen, sollte auf gesetzlichem Wege die soziale Situation verbessert werden. So wurde etwa nach der Februarrevolution von 1848 die allgemeine Arbeitszeit in den Pariser Fabriken auf zehn und in der Provinz auf elf Stunden beschränkt.21 Auf Initiative des Sozialisten Louis Blanc22, der Mitglied der republikanischen Regierung war, erhielt zudem jeder Staatsbürger die gesetzliche Garantie auf Arbeit, weshalb so genannte „Nationalwerkstätten“ gegründet wurden. Nach den Wahlen im April 1848, die den gemäßigten Republikanern zum Sieg verholfen hatten, erfolgte allerdings deren Schließung. Daher kam es im Juni zu einem mehrtägigen Aufstand, den die Regierung blutig niederschlagen ließ.23 „Zittert! Zittert! Der Klassenkampf / Hat in unseren Tagen seinen Anfang genommen“, singt Charles Gille in seinem Chanson „Les Tombeaux de juin“ (Die Junigräber, 1848). „Das ist ein erbitterter und tödlicher Kampf / In dem die Armen und die Reichen von ihrem Dolch Gebrauch machen werden!“24 Gille, der aus armen Verhältnissen stammte, stand im Gegensatz zu den meisten anderen Chansoniers seiner Zeit vorbehaltlos hinter den Toten

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des Juniaufstandes von 1849. Pierre Dupont, ein anderer Chansonier, der sich eine friedliche Lösung der sozialen Frage erhofft und die gesellschaftliche Harmonie beschworen hatte, verunglimpfte dagegen die Aufständischen als bestochenes Lumpenproletariat und feierte die Befreiung der Stadt Paris von der „bête fauve“, vom „wilden Tier“.25 Die „Haussmannisierung“ (S. 20, 192) in den 1850/60er Jahren, die architektonische Neugestaltung von Paris, sollte die räumliche und soziale Differenzierung der Stadt noch verschärfen. Freilich lernten die bürgerlichen Eliten die Vorzüge der Haussmann’schen Stadtplanung genießen, etwa das Gefühl individueller Freiheit, die im bürgerlichen Raum, dem „Volumen der Freiheit“ (S. 19), verwirklichbar erschien. Außerdem verbesserten sich in den neuen wohlhabenden Vierteln im Zentrum der Stadt die hygienischen Verhältnisse durch den Kanalbau. Die natürlichen Ausscheidungen des „bürgerlichen Körpers“ wurden in den Pariser Untergrund verbannt und unsichtbar gemacht. Der Schriftsteller, Journalist und Fotograf Maxime du Camp zeigte sich von der architektonischen, aber auch der damit einhergehenden atmosphärischen Umgestaltung, die Paris oder besser: das wohlhabende Pariser Zentrum wie einen großen Mechanismus erscheinen ließ, tief beeindruckt. In seinen 1882/83 erschienen „Souvenirs littéraires“ beschreibt er Paris als einen präzisen künstlichen Organismus, der wie eine Maschine funktioniere: Paris erschien mir plötzlich wie ein riesiger Körper, von dem jede Funktion durch besondere, kontrollierte und einzigartig präzise Organe in Bewegung gehalten wurde. Ich fantasierte davon, dass die Bewegung und der Lärm sich intensivieren; […] ich hatte mich entschlossen, eines nach dem anderen alle Räder zu studieren, die die Wirklichkeit von Paris in Bewegung setzen.26

Während nun in der Innenstadt vor allem die wohlhabenden Bürger wohnten, wurde das Kleinbürgertum an den Stadtrand gedrängt. Zudem war Paris seit der Haussmann’schen Umgestaltung von Elendsquartieren umgeben, in denen Tagelöhner, Lumpensammler und andere Menschen hausten, die ihre Existenz unter katastrophalen sozialen Verhältnissen fristen mussten. Bauunternehmer profitierten von der Armut, indem sie Grundstücke am Stadtrand pachteten, darauf Baracken aus Holz und Gips errichten ließen und diese vermieteten. Die katastrophale hygienische Situation, die lange Zeit ganz Paris betroffen hatte, verlagerte sich nun an die Peripherie. In dieser eigenen Welt, die vom bürgerlichen Zentrum weit entfernt schien sowie die abenteuerlichsten Fantasien der

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4. Widersprüche und Reaktionen

Abb. 8 Infolge der Stadtumgestaltung in den 1850/60er Jahre verbannten öffentliche Urinale den Gestank der Notdurft in den Pariser Untergrund: Chaussée du Maine, Paris (Charles Marville, ca. 1865).

wohlhabenden Bürger und Bürgerinnen anregte, brachen immer wieder Epidemien aus. So wurde Paris etwa 1884 von einer Choleraepidemie heimgesucht, an der rund tausend Menschen starben. In die Häuser der wohlhabenderen Bevölkerung, die über frisches Trinkwasser aus Wasserleitungen verfügten, drang die Krankheit allerdings nicht ein. Dagegen entpuppten sich die Elendsquartiere am Stadtrand als Infektionsherde. Die letzte Choleraepidemie suchte Paris im Jahr 1892 heim und zählte rund 1.800 Opfer. Zur selben Zeit lebten noch 14 Prozent der Pariser Bevölkerung in Wohnungen, die mit mehr als zwei Personen pro Zimmer belegt waren. Als Zimmer galt im Übrigen jeder Raum, der größer als ein Korridor war, also auch Vorzimmer und Küche.27 Aufgrund der Enge in den Wohnungen spielte sich das Leben eines großen Teiles der Bevölkerung auf den Straßen und in den schmutzigen Gassen ab. Privatheit im Sinne des bürgerlichen Gesellschaftsmodells und Hygiene blieben den Wohlhabenden vorbehalten. Der damals gefeierte „Caf ’conc“-Star28 Aristide Bruant hat in seinem naturalistischen Chanson „À Saint-Ouen“ die Armut in Pariser Elendsquartieren thematisiert. Er nimmt darin die Perspektive eines Lumpensammlers ein, der

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Abb. 9 Ein Lumpensammler mit Eselskarren in Paris. Die Armut wurde vermarktet und erregte die Fantasie des Bürgertums. Undatierte Fotopostkarte der Reihe „Les petites métiers de Paris“ (Das Kleingewerbe von Paris, um 1900).

Abb. 10 Kippensammler in Paris. Undatierte Fotopostkarte der Reihe „Les petites métiers de Paris“ (Das Kleingewerbe von Paris, um 1900).

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4. Widersprüche und Reaktionen

das Licht der Welt bereits im Elend erblickt: „Dort, wo große Haufen / Von Flaschenböden und Scherben hochwachsen, / […] Hat in einem Winkel meine Mutter mich gemacht“. Die wohlhabenden Bürger, die „feinen Pinkel, / Die nach Moschus riechen“, meiden diesen Stadtteil ebenso, wie die „Bengel, die Anzüge / Brauchen, wenn es warm ist, / Denn das ist Luxus“. Sauberkeit und Wohlgerüche, zwei zentrale Bestandteile bürgerlicher Kultur (S. 31, 124, 219), sind dem Lumpensammler unbekannt: „Man muß im Abfall wühlen, um Läuse / Zu erwischen oder um Tausenfüßler [Filzläuse, Anm. d. V.] / Zu ergattern; / Ach, wir schwimmen nicht in Wohlgerüchen“. Das Leben des Lumpensammlers ist von der Geburt bis zum Tod durch Resignation, Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit gezeichnet: „Also ich weiß nicht, wie / Man da anständig leben kann, / Daraus wird nichts; / Aber man wird belohnt dafür, / Denn da man erschöpft ist, / Wenn man krepiert […] / Ist der Friedhof gar nicht weit, / Dort in Saint-­ Ouen.“29 Eine Besserung der Situation, ein sozialer Aufstieg oder gar eine Revolte sind, wie auch in den anderen Chansons von Bruant, undenkbar. In Kombination mit der sozialen Umwelt scheinen vor allem die ererbten Anlagen das individuelle Verhalten und Handeln maßgeblich zu beeinflussen. Darin spiegelt sich zweifelsohne die Durchsetzung des Lamarckismus als wissenschaftliche Lehre (S. 44), eine französischen Spielart der Eugenik, die sich auch im Naturalismus von Émile Zola entdecken lässt, etwa in den Romanen „Nana“ (1880) und „La bête humaine“ (Die Bestie Mensch, 1890), in denen dem „tempérament“, dem menschlichen „Naturell“, große Bedeutung für das Verhalten und Handeln beigemessen wird30. „Die Natur ist mit einem so ungestümen Elan in unsere Welt getreten“, schreibt Zola in „Le roman expérimental“ (Experimenteller Roman, 1881), „dass sie sie gefüllt hat, manchmal die Menschlichkeit ertränkend, die Persönlichkeit überschwemmend und vertilgend, mitten in einem Zusammenbruch von Felsen und großen Bäumen.“31 Die Natur tritt gleichsam schicksalshaft in das Leben der Menschen und scheint unbezwingbar. Damit verbunden wurde Ende des 19. Jahrhunderts auch die soziale Begründung von Kriminalität durch die Vorstellung der kriminellen „Natur“ zunehmend abgelöst.32 Im Sinne des Lamarckismus ist der Erbanlage nur bei entsprechender Steuerung bzw. Gegensteuerung des Individuums in Kombination mit der Gestaltung der Umwelt beizukommen. Für Bruant war die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Elendsquartieren allerdings kein Anliegen, vielmehr vermarktete er seine Sympathie und das Mitleid, die ohne Zweifel im erwähnten Chanson „À Saint-Ouen“ zu finden sind. Damit lässt sich auch der große Erfolg des Chanso-

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niers erklären, zumal sein Publikum, die „ehrbaren“ Pariser Bürger und Bürgerinnen, in eine Welt eintauchen konnte, die ihm fremd war und seine Fantasie beflügelte, in der es die Möglichkeit des „s’encanailler“, des Kontakts mit der „Kanaille“ hatte, ohne sich aber das Szenario eines gesellschaftlichen Umsturzes vorstellen zu müssen.33 Die katastrophale soziale Situation der Unterschichten führte dazu, dass die bürgerliche Gesellschaft sich auch zunehmend über „soziale Gerüche“ definierte.34 Übelriechende menschliche Ausdünstungen und der Gestank in den Elendsquartieren störten gleichsam die sinnliche Wahrnehmung des Einzelnen empfindlich und wurden daher als Einschränkung der individuellen Freiheit empfunden. Die Folge war der Ausschluss der Unterschichten aus der bürgerlichen Gesellschaft, unter anderem auch der Arbeiter und Arbeiterinnen, zumal diese aufgrund ihrer anstrengenden körperlichen Tätigkeit schwitzten und damit nicht nur die Nase, sondern auch die Ideale des „sauberen“ Bürgers, der im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend gegenüber Gerüchen sensibilisiert wurde, beleidigten. Wissenschaftler wie Julien-Joseph Virey, Hippol Cloquet oder Michel Levy35 unterstellten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „gesetzmäßige Kompensation, die bei der Entwicklung der Organe für den notwendigen Ausgleich sorgt“. Daher verbiete „die Muskelkraft der Arme die gleichzeitige Ausbildung eines feinen Riechorgans“. Dagegen blieben hochempfindliche „Nasen […] denen vorbehalten, die nicht zur Handarbeit gezwungen sind“36. Noch im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert hatten Ärzte und Wissenschaftler den Kampf gegen Miasmen, krankmachenden Stoffen, in der Luft geführt. Nun verschob sich die Aufmerksamkeit von der Natur zum Sozialen. „Je stärker die wachsende Differenzierung der Gesellschaft, die neue Kompliziertheit kultureller Abstufungen ins Bewußtsein dringt“, schreibt Alain Corbin, „umso wünschenswerter erscheint die Verfeinerung der analytischen Riechfähigkeit.“37 Zugleich sollte aber die gesamte Gesellschaft, die als Inklusionskonzept konzipiert war (S. 26, 58), verbürgerlicht werden, unter anderem durch die Unterwerfung der sozialen Unterschichten unter die Regeln der Hygiene. 1859/60 errichtete etwa der Unternehmer Jean-Baptiste André Godin in Guise (Aisne) das so genannte „Familistère“, ein Arbeiterwohnhaus, in dem jede Wohnung über ein Belüftungssystem und jede Etage über einen Brunnen verfügte. Für die Wäschereinigung war ein eigenes Gebäude mit Wringmaschinen und Trockenraum eingerichtet worden, die medizinische Versorgung der Bewohner basierte auf dem liberalen Prinzip der Unterstützungskassen.38 Die Vermittlung bürgerlicher Regeln und Normen durch paternalistisch orientierte Unternehmer stieß aller-

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4. Widersprüche und Reaktionen

dings auf Grenzen, worauf etwa die zahlreichen disziplinarischen Vorschriften und Arbeitsordnungen in Fabriken hinweisen. Diese dokumentieren weniger eine „größere Macht der Unternehmer“ als vielmehr „eine gewisse Machtlosigkeit bei dem Versuch, Arbeitern die bürgerlichen Regeln […] einzuschärfen“.39 Die Hindernisse, die der Verbürgerlichung gegenüberstanden und oftmals ein Ergebnis ökonomischer Zwänge waren, zeigen sich auch bei den geschlechtlichen Rollenbildern, denen lediglich im wohlhabenden Bürgertum entsprochen werden konnte. Arbeiterinnen mussten dagegen zum familiären Einkommen beitragen und erfüllten keineswegs die gesellschaftlichen Erwartungen, welche die Aufteilung in eine öffentliche und private Sphäre (S. 21) mit sich brachte. Dieser Widerspruch lässt sich am Beispiel der „maisons sociales“ (Sozialzentren) zeigen, die – ähnlich dem britischen und amerikanischen Settlement-Modell – auf privatem Engagement beruhten und die Selbsthilfe an die Stelle der Almosenvergabe setzten.40 Das erste dieser Sozialzentren wurde 1903 in Paris in Montrouge eingerichtet, kurz darauf auch in Montmartre. Sowohl Männer als auch Frauen waren in ihnen willkommen, insbesondere nutzten sie aber Frauen.41 So erhielten etwa bei der Eröffnung der „maison sociale“ in Montrouge vor allem Frauen Brot und Milch.42 Zum einen wurden somit – ganz im Sinne der christlichen Armenfürsorge – Almosen in Form von Lebensmitteln verteilt sowie moralische Unterstützung und Aufmunterungen geboten. Zum anderen leisteten die „maisons sociales“ aber auch – ganz im liberalen Sinn – Hilfe durch Arbeit und versuchten damit, Bedürftige zu unterstützen, ihre Existenz mehr oder weniger selbstständig zu bewältigen oder zum Einkommen der Familie beizutragen. Die „maisons sociales“ nahmen im Raum Paris einen schnellen Aufschwung. Bereits 1909 zählte man insgesamt sechs solcher Einrichtungen in Montrouge, Montmartre, in der Avenue d’Italie, bei der Bastille, in Ménilmontant und in Levallois. Gleichzeit entwickelten sie eine komplexe Versorgungs- und Unterstützungsstruktur: In eigens eigerichteten Kinderhorten („garderies d’enfants“) wurden Kinder von arbeitenden Müttern betreut. 1909 waren laut einem Bericht in der Tageszeitung „Le Figaro“ in jeder dieser Einrichtungen rund 200 Kinder untergebracht. Zudem widmeten sich Damen und junge Mädchen aus gehobenen bürgerlichen Kreisen ärmeren Familien, kümmerten sich um die Hygiene in deren Haushalten und waren Ansprechpartnerinnen, wenn ein Arbeitsplatz für die Kinder gefunden werden sollte. Einmal in der Woche veranstalteten die „maisons sociales“ einen Arbeitskreis für Frauen („travail en commune“), bei dem gemeinsam genäht wurde. Zugleich boten diese Arbeitskreise den teilnehmenden Frauen die Möglichkeit, Kochrezepte auszutauschen, soziale Kontakte

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zu pflegen und über ihre Sorgen zu sprechen. Oftmals wurden auch Kurse über Hygiene, Küchenarbeit oder Hauswirtschaft abgehalten. Die „maison sociale de la Bastille“ bot der ärmeren Bevölkerung auch medizinische Versorgung an, und im Sommer organisierten mehrere „maisons sociales“ Ferienkolonien für arme Kinder auf dem Land.43 Solche Bemühungen, die auf Almosen und Selbsthilfe basierten und nur punktuell Hilfe boten, waren aber letztlich nicht ausreichend, um die „soziale Frage“ tatsächlich zu lösen. 1906 beschäftigte der industrielle Sektor in Frankreich zwar lediglich 31,6 Prozent der gesamten arbeitenden Bevölkerung, und die Zahl der Arbeiter und Arbeiterinnen war zwischen 1866 und 1906 um nur 17 Prozent gestiegen. Auch um 1900 galt das Handwerk, mit Ausnahme weniger industrieller Inseln, noch als dominanter wirtschaftlicher Faktor. Unternehmen mit weniger als zehn Arbeitern und Arbeiterinnen beschäftigten rund 50 Prozent der gesamten Arbeiterschaft. Die Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen, die ihre Anweisungen von einem weit entfernten Auftraggeber erhielten, wiesen noch 1906 einen Anteil von rund 26 Prozent auf. Allerdings war mit der Industrialisierung und der Lohnarbeit ein allmählicher Wandel der Arbeitswelt verbunden: Die Arbeitszeit wurde zunehmend genau festgelegt und Verstöße gegen diese sanktioniert. Fabrikordnungen bedingten eine Form von zeitlicher und sozialer Disziplinierung, die bislang unbekannt war. Der Status als Lohnarbeiter ließ einen Aufstieg zum Meister, wie er im Handwerk lange Zeit möglich war, nicht mehr zu. Qualifizierte Arbeiter, die „aristocratie ouvrière“ (Arbeiteraristokratie), fanden aber in neuen Wirtschaftssparten, insbesondere im technischen Bereich, sichere Arbeitsplätze, während die unqualifizierten Arbeiter jederzeit aus der „industriellen Reservearmee“ ersetzt werden konnte. Zum „Arbeiterplebs“ (plèbe d’ouvriers) gehörten jene, die vom Land in die industriellen Zentren flüchteten, in alten, von der industriellen Konkurrenz bedrohten Wirtschaftsbranchen beschäftigt waren oder infolge von Rationalisierung ihren Arbeitsplatz verloren hatten.44 Zudem differenzierte sich die Arbeiterschaft nicht nur in qualifiziert und unqualifiziert, sondern auch in männlich und weiblich. Die Anzahl der Arbeiterinnen stieg im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Branchen – in der Metallindustrie, der chemischen Industrie, der Ernährungsindustrie und in der Textilindustrie – stark an. Ihre Bezahlung blieb aber um durchschnittlich die Hälfe geringer als jene der Arbeiter.45 Obwohl Arbeiterinnen rund 30 Prozent der industriell Beschäftigten stellten, machten sie lediglich 3,6 Prozent der Streikenden aus. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Da sie für ihre Arbeit weniger Lohn erhielten, verfügten sie kaum

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4. Widersprüche und Reaktionen

über finanzielle Reserven. Aufgrund ihrer niedrigeren Qualifikation konnten sie auch leichter durch andere Arbeitskräfte ersetzt werden. Außerdem betrachteten Frauen die industrielle Arbeit – trotz gegenteiliger Realität – nicht selten als Übergangszeit bis zur Familiengründung. Schließlich verhinderten Abhängigkeiten eigenständige Entscheidungen: Aufgrund ihres geringen Verdienstes waren Frauen auch weiterhin auf die Unterstützung von Autoritäten wie dem Vater, Bruder, Lebensgefährten oder Hausherrn angewiesen.46 Die passive Haltung vieler Arbeiterinnen veranlasste die Sozialistin und Feministin Aline Valette47, in der Zeitung „La Fronde“ zur Solidarität der Geschlechter aufzurufen: „Als Marx gesagt hat: ‚Arbeiter aller Länder vereinigt euch‘, wandte er sich sowohl an die Arbeiterinnen als auch an die Arbeiter.“48 Tatsächlich gab es Fälle der Solidarisierung, etwa 1889, als 150 Arbeiterinnen der Spinnerei und Weberei Leclercq-Dupire in Wattrelos (Nord) wegen Lohnkürzungen streikten und sich ihnen 380 Weber, „sich mit ihren Schwestern der Arbeit solidarisierend“, anschlossen.49 Dagegen predigte die katholische „Confrérie de Notre-Dame de l’Usine“, die in den 1880er Jahren im Raum Lille gegründet worden war und auf die Industriearbeiter und -arbeiterinnen religiös einzuwirken versuchte,50 Geduld und das Einfügen in das Schicksal. Genau damit hätten die Arbeiter und Arbeiterinnen aber, wie Valette schreibt, „in ihrem Blutschweiß […] das Einkommen ihrer millionenschweren Arbeitgeber geschaffen“.51 Im Dezember 1887, kurz nach ihrer Gründung, zählte die „Confrérie de Notre-Dame de l’Usine“ bereits 3000 Mitglieder, die aus 38 Fabriken stammten.52 Solidarität innerhalb der Arbeiter- und Arbeiterinnenschaft im Sinne von Valette bzw. Marx wurde mit solchen Vereinigungen freilich erschwert.

4.2 Kompensation und Flucht

Die Industrialisierung, die zum Wandel der traditionellen Arbeits- und Lebensverhältnisse führte, sowie die soziale und politische Differenzierung verunsicherten das Bürgertum und riefen das Gefühl einer Modernitäts- und Kulturkrise hervor. Damit verband sich die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit, Stabilität und einem gesellschaftlichen „Ganzen“. Als Maxime du Camp 1869 in seinem sechsbändigen Werk „Paris, ses organes, ses fonctions et sa vie dans la seconde moité du XIXe siècle“ die „Anatomie“ der Stadt „zu beschreiben“ versuchte, stieß er auf die heftige Kritik seines Freundes Gustave Flaubert. „Mein ganzes Bestreben“, schreibt du Camp, „ist es zu lernen, wie der Pariser lebt und vermöge welcher

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physikalischen Gesetze die Verwaltungsorgane funktionieren, die er täglich benutzt […].“53 Flaubert meinte aber, dass es du Camp nicht gelinge, den kolossalen Mechanismus als Ganzes zu erfassen. Er seziere das Ganze lediglich und sei daher nicht imstande, gleichsam die Wahrheit der Stadt zu entdecken.54 Diese von Flaubert postulierte „Wahrheit“, die sich als Sinnbild für ein gesellschaftliches Ganzes interpretiert lässt, war aber weder in vorindustrieller Zeit noch in der Moderne existent. Es handelt sich lediglich um eine Schimäre, ein Konstrukt, das letztlich zur Kompensation gesellschaftlicher Differenzierung dienen sollte. Im Zusammenhang mit der Suche nach dem „Ganzen“ und infolge der ritualisierten Erinnerung kam es zur Erfindung der „guten alten Zeit“, die selbst das feudale Frankreich als Ort der Harmonie verklärte. „Eines der Unglücke und auch der Gefahren der Gegenwart“, schreibt der Journalist André Nède im Jahr 1909, „ist die Unkenntnis über […] das Verhältnis der sozialen Klassen zueinander […]. Man hat behauptet, dass sie die Französische Revolution abgeschafft hat; auf dem Papier, ja, faktisch nein.“ Die Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts sei stärker gegliedert, in mehr unterschiedliche Gruppen aufgeteilt, oft feindselig, weniger freundschaftlich und vor allem ohne Wissen der einen über die anderen, anders als in der alten französischen Gesellschaft: jene, was immer man auch erzählt, war freundlich, des Hochmutes beraubt und voll von familiärer Biederkeit […].55

Die Verklärung der „guten alten Zeit“, wenn auch nicht unbedingt mit der Beschwörung des Ancien Régime, findet sich bereits seit den 1850er Jahren infolge der städtischen Umgestaltung von Paris während des Zweiten Kaiserreiches (S. 20, 192): Eugène Sue, Honoré de Balzac und Victor Hugo schätzten das Konfuse und Geheimnisvolle des alten Paris und den angeblichen inneren Zusammenhalt der verschiedenen Stadtteile, Charles Baudelaire beklagte sich über die atemberaubende Geschwindigkeit, in der die Arbeiten der Stadterneuerung vorangingen.56 Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges blickte daher auch der Kunstkritiker und Schriftsteller Raymond Escholier mit Wehmut in die Vergangenheit. Dabei identifizierte er mit der Republik und dem alten Paris „zwei große Opfer“ des Zweiten Kaiserreiches. „Heute wissen wir“, schreibt er, dass die Republik nur verwundet wurde, das alte Paris […] hat sich aber, von Baron Haussmann mitten ins Herz getroffen, niemals wieder erhoben. […] Von der

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alten malerischen Stadt […] sind außer ein paar durch Reklameplakate entweihte hôtels57, ein paar elende Häuserblocks und Gassen von zweifelhaftem Ruf kaum etwas übriggeblieben.58

Das alte Paris wurde als „tragende Stütze, auf der das Ganze ruht“, hochstilisiert, als „ein Ruhepunkt im Bewußtsein der Allgemeinheit“ verankert.59 Der Rückzug in die Vergangenheit, der sich in der Verklärung des alten Paris als zusammenhängender Organismus zeigte, sollte der bürgerlichen Gesellschaft Stabilität garantieren und letztlich ewige Existenz sichern. Auf durchaus produktive und fantasievolle Art wurde die sozial und räumlich fragmentierte Gesellschaft, wenn auch in einem rückwärtsgewandten und auf einen Status quo ausgerichteten Sinn, kompensiert.60 Damit in Verbindung rückte auch die zyklische Zeit61 in das Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen, die seit der Aufklärung dem linearen Zeitverständnis, dem Primat der Strukturen und Wirkungszusammenhänge, gewichen war (S. 59). Nun erfolgte aber die Ritualisierung der Erinnerung:62 Historische Jubiläen wurden gefeiert und berühmten Persönlichkeiten, die der Republik als verdienstvoll galten, in regelmäßigen Abständen gehuldigt. Unter diesen Festveranstaltungen stach besonders die Hundertjahrfeier der Französischen Revolution (S. 73) hervor. Paradoxerweise verdeutlichte gerade der sogenannte „Centenaire“, wie dies Louis Aragon in seinem 1939 erschienene Roman „Le voyageurs de l’impériale“ (Die Reisenden der Oberklasse) treffend beschreibt,63 den hemmungslosen Materialismus einer pervertierten Konsumgesellschaft. Bei Aragon scheinen die Ausstellungsbesucher – im völligen Widerspruch zum bürgerlichen Gesellschaftsmodell – sogar ihrer Individualität beraubt und weitgehend willenlos. Die ersehnte Bewegungslosigkeit konnte auch durch Sprachpurismus beschworen werden, wobei sich dabei eine paradoxe Situation ergab: Einerseits entdeckte das bürgerliche Frankreich den „patois“ als regionale Tradition und somit als Teil der „Vielfalt in der Einheit“, d.h. als wertvollen Bestandteil der französischen Nation (S. 114). Allerdings wurde er aber historisiert und als eine Art nationales „Juwel“ betrachtet. So wie die Bürger und Bürgerinnen das materielle Erbe der Volkskultur, das mit der Lebenswelt kaum noch in Verbindung stand, staunend in Museen bewunderten, sollten sie sich auch mit Hilfe von oftmals zweisprachigen Sammelbänden (S. 111) für die Volksdichtung interessieren. Andererseits wurde der Sprache in der bürgerlichen Gesellschaft aber eine einigende Funktion zugestanden: Französisch galt als Sprache der Revolution, der Nation sowie der Republik.64 Und da die französische Nation ihre Einheit unter ande-

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rem auf der Basis einer einheitlichen Sprache aufgebaut hatte, galt letztlich jeder sprachliche Wandel als eine Bedrohung.65 Nicht zufällig erlebte gerade um 1900, nachdem zwei politische Krisen, der Boulangismus und die Dreyfus-Affäre, die französische Nation erschüttert hatten (S. 248–249), das Schlagwort der „crise du français“ (Krise des Französischen) in der Sprachwissenschaft einen Höhepunkt. In den 1860er Jahren hatte Émile Littré den Begriff der „Krise“ noch wertfrei verwendet. Er versstand Sprache noch als Organismus und bezeichnete – in Anlehnung an den Darwinschen Determinismus – den Sprachwandel als natürlichen, von Wachstums- und Verfallsgesetzen bestimmten Vorgang.66 Zunehmend wurde der Terminus aber negativ besetzt, und die sprachkritischen Publikationen nahmen enorm zu. Zudem widmeten sich einige Vereine dem Schutz der französischen Sprache, darunter etwa die – mit einem recht sperrigen Namen versehene – „Société pour la défense du génie du français et la protection de la langue française contre les mots étrangers, les néologismes inutiles et toutes les déformations que la menacent“ (Gesellschaft zur Verteidigung des französischen Geistes und zum Schutz der französischen Sprache vor Fremdwörtern, unnötigen Neologismen und allen sie bedrohenden Deformationen).67 Dabei entstand der Eindruck, als sei die französische Sprache insgesamt vom Verfall bedroht, während jedoch eigentlich die „honneur de nos pères“, die „Ehre unserer Väter“, wie Émile Deschanel 1898 schreibt,68 und damit das geschriebene klassische Französisch gemeint war. Das Krisenempfinden resultierte also aus der Diskrepanz von sprachlichen Normen, die wie die Wurzeln der französischen Nation in der Vergangenheit gesucht wurden (S. 59), und sprachlichem Alltag.69 Die große Mehrheit der französischen Bevölkerung, aufgewachsen mit den unterschiedlichen „patois“, hatte erst im 19. Jahrhundert die französische Sprache verstehen, sprechen und schreiben gelernt. Die sprachlichen Feinheiten gingen damit verloren und die Durchsetzung vorgeschriebener Normen wurde immer schwieriger. Dass Sprache, ähnlich wie die gesamte Gesellschaft, notgedrungen einem Wandel ausgesetzt ist, fand bei den meisten Sprachvereinen und sprachkritischen Publikationen kaum Beachtung. Eine Ausnahme bildete Rémy de Gourmont, der in seinem Buch „Esthétique de la langue“ (Schönheit der Sprache, 1899) nicht die klassische Sprachnorm verteidigt, sondern die Voraussetzungen untersucht, „in denen die französische Sprache sich entwickeln muss, um ihre Schönheit zu bewahren, d.h. ihre ursprüngliche Reinheit“.70 Gourmont widmet sich in seiner Kritik nicht wie die meisten Sprachpuristen71 der angeblichen Gefahr von Anglizismen, sondern den Wortschöpfungen der neuen Fachsprachen. Den sprachlichen Status quo lehnt

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er dabei aber vehement ab, zumal ein solcher das Stadium vor dem Absterben einer Sprache kennzeichne: „[…] die Sprachen wandeln sich so schnell, dass der Greis seine Enkelkinder nicht mehr versteht. […] Dies ist unvermeidlich und es ist gut, weil es dem Gesetz des Wandels und des Lebens entspricht“.72 Gemäß dem republikanischen Ideal sei es aber allein das Volk, das diesen Wandel ermöglichen kann, wobei Gourmont entgegen dem Bildungsideal der bürgerlichen Gesellschaft durchaus schul- und bildungskritische Töne anschlägt: „Die Schüler lernen in den Schulgefängnissen, was sie früher einzig das Leben lehrte und besser lehrte, sie verlieren unter der Angst der Grammatik diesen Geist der Freiheit, der einen so angenehmen Anteil an der Fantasie in der mündlichen Entwicklung ausmachte.“73 Folglich kristallisierte sich neben der Beschwörung einer imaginierten Vergangenheit auch eine Gesellschaftskritik heraus, die sich auf die Analyse der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft konzentrierte. Zunehmend wurden der Materialismus und die Konsumgesellschaft in Frage gestellt, ebenso die Unterdrückung des Individualismus sowie die gesellschaftliche Bewegungslosigkeit. Émile Zola kritisierte etwa in „La Curée“ („Die Beute“), einem 1871 erschienenen Roman aus dem Zyklus „Les Rougon-Macquart“74, die Fantasielosigkeit einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft. Der Grundstückspekulant und Emporkömmling Aristide Rougon, der sich Saccard nennt, steht in diesem Roman stellvertretend für ein Bürgertum, das sich während des Zweiten Kaiserreiches zunehmend Reichtum und Einfluss verschaffen konnte. Fassade und Interieur seines „hôtel particuliere“ erscheinen wie „une réduction du nouveau Louvre“,75 eine „Verkleinerung des neuen Louvre“, zumal sie alle möglichen Stilrichtungen enthalten. Saccard ist nicht fähig, selbst kreativ zu sein und über den Eklektizismus hinaus eigene Ideen zu entwickeln. Seine ganze Existenz beruht auf materiellen Gütern, die er als „acteur applaudi“76, als „umjubelter Schauspieler“, zu jedem nur möglichen Anlass präsentiert.77 Seine zweite und verruchte Ehefrau Renée betrügt ihn zudem mit seinem Sohn Maxime aus erster Ehe, einem verweichlichten Genussmenschen, und feiert in ihrer luxuriösen Wohnung geradezu Orgien. Mit der Beschreibung des Milieus, in der sich Saccard bewegt, erweckt Zola den Eindruck einer Gesellschaft, in der Fantasielosigkeit, Äußerlichkeit und Verlogenheit zur Normalität geworden sind sowie Opportunismus dem Ideal der bürgerlichen Gleichheit gegenübersteht. In einem anderen bereits erwähnten Roman des „Rougon-Macquart“-Zyklus, in „Nana“ (1879/80), greift Zola das Bild dieser dekadenten Gesellschaft wieder auf: Die Straßendirne Nana verschafft sich mit ihrer sexuellen Anziehungs-

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kraft Eintritt in die höchsten gesellschaftliche Kreise, die sie aber nicht als ihresgleichen akzeptieren. Sie kehrt wieder in ihr altes, von Gewalt geprägtes Milieu zurück, das Dirnen- und Zuhältermilieu des Montmartre, das Zola akribisch genau beschreibt.78 Als Nana neuerlich gesellschaftlich aufsteigt, verbreitet sie Zerstörung, Ruin und Tod. Schließlich erkrankt sie an Pocken und stirbt in einem Hotelzimmer, während draußen eine fanatisierte Menge „Nach Berlin, nach Berlin!“ brüllt. Die Menschen „betäubten sich, ihre Schreie zerschellten in fiebrigem Wahnsinn, und so stürzten sie auf das Unbekannte zu, das dort fern hinter der schwarzen Wand des Horizonts lag“.79 Das Ende einer Epoche wird angedeutet, das mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) gekommen ist: das Ende des Zweiten Kaiserreiches, in dem das Bürgertum eine besondere Blüte erlebte.80 Für Zola bedeutet diese Blüte aber nur Künstlichkeit und Oberflächlichkeit, die sich im Gewinnstreben und Materialismus seiner Protagonisten äußert. Seine Einschätzung des Zweiten Kaiserreiches ist freilich auch ein Verweis auf die um 1880 „vorherrschende[n] Bewusstseinslagen, auf sozialen Wandel, auf sich verändernde Handlungshorizonte“,81 zumal Literatur auch im Kontext der Entstehungszeit betrachtet werden muss. Die Flucht aus dieser Gesellschaft kann nicht gelingen: Die von vielen ersehnte „Freiheit“ als Gegenpol zu den bedrückenden Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft, gleichsam als Raum, in dem das einengende Korsett des kulturellen Normen- und Wertesystems abgelegt werden kann, entpuppt sich als Schimäre, mehr noch: als lebensgefährliches Terrain, wie es etwa Gustave Flaubert in seinem Roman „Madame Bovary“ (1856) beschreibt. Emma Bovary, die Hauptfigur des Romans, versucht aus der Monotonie des bürgerlichen Alltages zu entfliehen, stürzt sich immer rascher in flüchtige Befriedigungen und glaubt schließlich, nur noch im Tod einen Ausweg zu finden. Der gesellschaftliche Stillstand, der für die Fluchtversuche und letztlich für den Tod Emmas verantwortlich zeichnet, spiegelt sich in den verwendeten Stilmitteln, etwa in den stereotypen Wiederholungen, die den Leser immer wieder auf denselben Ausgangspunkt, die Langeweile des Alltages, zurückführen. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen löst sich Bewegung, die Abwechslung in der Monotonie zu versprechen scheint, in Erstarrung auf. Als etwa Emma einen Ball im Schloss von La Vaubeyssard besucht, wird sie von einem Fremden, den alle nur „Vicomte“ nennen und den daher eine geheimnisvolle Aura zu umgeben scheint, zum Walzer aufgefordert. Obwohl sie beteuert, diesen Tanz nicht zu beherrschen, willigt sie schließlich ein:

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Sie begannen langsam, tanzten dann aber immer schneller. Sie drehten sich, und alles drehte sich um sie im Kreise. […], der Vicomte riß sie in immer rascherem Wirbel mit sich fort und verschwand mit ihr am Ende der Galerie, wo sie nach Atem ringend fast umsank und augenblickslang ihren Kopf an seine Brust lehnte.

Das anfängliche Gefühl von Freiheit, das Emma für kurze Zeit verspürt, weicht der Erschöpfung: „Dann führte er sie, in endloser Drehung, aber nun langsamer walzend, an ihren Platz zurück. Sie lehnte sich, den Kopf hintenübergeneigt, an die Wand und hielt die Hand vor die Augen.“ Ein anderes Tanzpaar, das den Walzer perfekt beherrscht, scheint bereits zu Beginn des Tanzes leblos; die Bewegungen der Tanzpartner wirken einstudiert und monoton, jegliche Lebenslust scheint verflogen: Sie tanzten vorbei und kamen zurück, sie mit regungslosem Oberkörper und gesenktem Kinn, er immer in der gleichen Haltung, die Taille eingebogen, den Ellbogen schön gerundet, den Mund gespitzt. Die da konnte Walzer tanzen! Sie tanzten noch lange weiter und langweilten schließlich alle anderen.82

Offenbar schränken die Perfektion und das damit verbundene Fehlen jeglicher Leidenschaft jeden individuellen Freiraum ein. Der Tanz des leidenschaftslosen Paares spiegelt das schrumpfende „Volumen der Freiheit“ (S. 19), d.h. den engen Raum der festgefahrenen Regeln und Normen, in dem sich Emma bewegt und der ihr wie ein Korsett die Luft zum Atmen nimmt. Emma Bovary versucht aber gleichsam, die Schnüre dieses einengenden Regelkorsettes zu lösen oder gar zu zerreißen; sie ringt beständig nach Luft. Die Beschreibung ihres wilden und leidenschaftlichen Tanzes erinnert an Charles Baudelaire Gedicht „Le voyage“, in dem er die vergebliche Suche nach einer neuen, einer besseren Welt als eine Reise mit einem Hochseeschiff vergleicht, das über das grenzenlose, wild aufschäumende Meer segelt, letztlich aber auf ein Riff aufläuft: Unsere Seele ist ein Dreimaster, der sein Ikarien sucht; eine Stimme erschallt auf Deck: „Die Augen auf!“ Im Mastkorb eine Stimme, vor Verzückung närrisch, ruft: „Liebe … Ruhm … Glück!“ Teufel, da ist ein Riff! / Jedes Eiland, das der Mann im Ausguck meldet, ist ein Eldorado, das das Schicksal uns verhieß; die Phantasie, die ihre Feste rüstet, findet nichts als eine Klippe, wenn der Morgen tagt.83

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Und auch für Arthur Rimbaud gleicht die Flucht vor der bürgerlichen Gesellschaft einer Reise auf einem „Trunkenen Schiff“ („Le bateau ivre“), wie er eines seiner berühmtesten Gedichte genannt hat. Sein lyrisches Ich fällt in Fieberträume und spürt „das Leitseil der Treidler nicht mehr“. Es scheint, als habe es sich von jenen gesellschaftlichen Zwängen befreit, die dem Widerspruch zwischen individueller Freiheit und bürgerlichem Regelwerk zugrunde liegen. Letztlich kann der Flüchtende aber doch nicht „des Brückenbootes schrecklichen Augen entfliehen“.84 Die Allmacht der bürgerlichen Realität findet bezeichnenderweise im „Brückenboot“ seine symbolische Entsprechung: Es sind die gefangenen Kommunarden, die mit diesen Booten, den „pontons“, in die Strafkolonien der Dritten Republik gebracht wurden. Die Pariser Kommune (S. 236) hatte nicht mehr als drei Monate Bestand. In der so genannten „Blutigen Woche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 fielen die Barrikaden der Kommunarden, 17.000 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, wurde getötet. Insgesamt forderte der Bürgerkrieg rund 30.000 Menschenleben, wovon auf Seiten der Regierungstruppen etwa 1.000 zu beklagen waren. Rund 350 Todesurteile wurden verhängt und 3.000 Kommunarden in französische Strafkolonien deportiert.85 Die Freiheit währt eben nur kurz und bleibt ständig vom Scheitern bedroht, wie es Arthur Rimbaud im „Chanson de la plus haute tour“, im „Lied vom höchsten Turm“, so treffend auszudrücken weiß: „So summen auf Wiesen, / Wo ganz im Vergessen / Duften und sprießen / Weihrauch und Kressen, / Mit wildem Gebrumm / Schmutzige Fliegen herum.“ Die Freiheit, definiert als eine Existenz außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, gleicht letztlich dem kurzen Leben einer Mücke: „Oh! Die Mücke, berauscht im Pißwinkel der Herberge […], und ein Strahl löst sie auf!“86 So bleibt dem Flüchtenden in der vermeintlichen Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft, im „Pissoir“, lediglich ein kurzer berauschender Augenblick. „Ich habe mich entschlossen, Ihnen eine Unterrichtsstunde in moderner Literatur zu geben“, schreibt Rimbaud in einem seiner „Seher-Briefe“ am 15. Mai 1871 an den Dichter Paul Demeny, „ich beginne unverzüglich mit einem aktuellen Psalm: / Pariser Kriegsgesang / Der Frühling ist ganz offenbar […] / Die Junkerbande, die so gern / Sich aufbläst und verrenkt im Reigen, / Soll noch die Äste brechen hör’n, / Wenn sie die roten Kräfte beugen!“87 Nun aber, nachdem die Kommune gescheitert war, schien Rimbaud auch seine Hoffnung, „frei [zu] sein für das Neue“ und „die Alten [zu] verfluchen“,88 vergeblich, zumal er noch im Juni 1871 Demeny dazu aufforderte, alle an ihn gesandten Briefe zu verbrennen. Auch wenn er sich letztlich von seinen Enttäuschungen – zumindest vorübergehend – erholen konnte und sich weiterhin leidenschaftlich

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der Dichtung widmete, war seine Zukunft letztlich im Scheitern der Kommune vorweggenommen: Mitte der 1870er Jahre, mit 20 Jahren, beendete er sein dichterisches Schaffen und seinen Kampf für das „Neue“. Er ging nun den entgegengesetzten Weg und versuchte mit der gleichen Leidenschaft, die er zuvor für die Dichtung aufgebracht hatte, sich in die bürgerliche Gesellschaft und das kapitalistische System, das auch die Ausbeutung der Kolonien miteinschloss, zu integrieren. Er arbeitete in Zypern als Aufseher in einem Steinbruch, fand danach eine Anstellung als Vertreter in einer Handelsfirma in Äthiopien und verlegte sich schließlich, immer verbissen auf Gewinn bedacht, auf den Waffenhandel. Bis zuletzt scheint Rimbaud ein Getriebener geblieben zu sein, der weder in der Dichtung noch im wirtschaftlichen Gewinnstreben seine Erfüllung fand.89 Es waren nicht zuletzt auch die ständigen Flucht- und schließlich Integrationsversuche, die den Mythos um den (ehemaligen) Dichter weiterleben ließen. Der Einfluss Rimbauds auf nachfolgende literarische Generationen war daher groß. Gedichte wie „Das Trunkene Schiff“, die auf Assoziationen beruhen und jeglichen Rationalismus verneinen, wurden etwa vom Symbolismus und Surrealismus rezipiert. Letzterer wandte sich gegen alle Erscheinungsformen der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die bürgerliche Kultur, Moral und Wissenschaft. André Breton lieferte 1924 in seinen „Manifesten des Surrealismus“ die Grundlagen dieser Kunstrichtung: Der Surrealismus sei ein reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. [...] Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens.90

Einige Surrealisten propagierten daher die „écriture automatique“, später ein „dessin automatique“, einen Prozess des Zeichnens und Malens ohne jegliche Kontrolle durch die Vernunft oder durch konventionelle ästhetische Normen. Vielmehr sollte das Unbewusste das literarische und künstlerische Schaffen leiten. Es verwundert nicht, dass zwei der führenden Surrealisten – Louis Aragon und André Breton – Psychologie studiert hatten und von Sigmund Freud beeinflusst waren.91 Und wieder zeigt sich: Wie die Romantik oder andere literarische bzw. künstlerische Bewegungen, etwa der Symbolismus oder der Impressionismus, ist

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auch der Surrealismus keineswegs als Gegenbewegungen zur bürgerlichen Gesellschaft, sondern als deren notwendiger Bestandteil zu verstehen, als Teil des offenen Diskurses. Die Abwendung von der bürgerlichen Gesellschaft ist daher nur eine scheinbare, zumal die vermeintlichen Gegenbewegungen ohne die aufklärerischen Ideale, insbesondere ohne den als unabdingbar geltenden Individualismus, letztlich gar nicht möglich gewesen wären. So hat etwa – wie schon angesprochen (S. 159, 186) – die „französische Romantik […] niemals das Erbe der vielverlästerten Aufklärung und der Revolution preisgegeben. Sie hat daher […] die Revolte sowohl im sozialen und politischen wie im metaphysischen Sinne […] lebendig erhalten und ihre Fackel weitergereicht“.92 Ähnliches gilt für den Surrealismus, der sich zum Ziel gesetzt hatte, auf Basis einer kulturellen Erneuerung auch eine neue Gesellschaft aufzubauen. Die Surrealisten verstanden sich weniger als Künstler, sondern vielmehr als Revolutionäre. „Wir sind die Revolte des Geistes“, heißt es im 1925 veröffentlichten Manifest „La Révolution d’abord et toujours“ („Zuerst und immer die Revolution“), „wir betrachten die blutige Revolution als unvermeidbare Rache des […] gedemütigten Geistes. Wir sind keine Utopisten: diese Revolution verstehen wir nur in ihrer gesellschaftlichen Form.“93 Bald fanden sich die Revolutionäre aber gesellschaftlich akzeptiert, wurden von der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam aufgesogen und erweiterten dadurch den Kunstkanon. Gleichwohl trugen sie damit wohl auch, gemeinsam mit der Psychoanalyse und den literarischen und künstlerischen Vorläufern ihrer Bewegung, zur Veränderung der Gesellschaft bei. Die Unmöglichkeit, der bürgerlichen Gesellschaft zu entfliehen, blieb als Topos in der Literatur und Kunst, unter anderem auch im französischen Spielfilm, bis heute erhalten.94 Jean Cocteaus Film „Le sang d’un poète“ (1930) endet etwa damit, dass ein Dichter gleichsam sein „Blut“ für die Kunst hingibt, indem er sich auf der Bühne erschießt. Das bürgerliche Publikum bleibt aber dieser Tat gegenüber gleichgültig; es stellt sich in einer Theaterloge selbst zur Schau, spielt also selbst Theater (S. 36), applaudiert und vereinnahmt damit den Dichter, dessen Flucht somit nicht einmal durch seinen Selbstmord gelingt. Auch François Truffaut hat sich rund dreißig Jahre später in seinem Spielfilm „Les quatre cents coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“, 1959)95 der Problematik gewidmet, gleichsam die „Ketten“ der bürgerlichen Normen und Werte nicht abwerfen zu können. Am Ende des Filmes läuft die Hauptfigur des Filmes, der gescheiterte Zögling Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), in Richtung Meer. Erst nachdem er dieses schließlich erreicht hat, verlangsamt sich das Tempo des Filmes. Die Kamera schweift über den Horizont und fängt die Weite des Meeres ein, die eine

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4. Widersprüche und Reaktionen

verhängnisvolle Freiheit symbolisiert. Denn wenn Antoine weiterläuft, wenn er letztlich weiterschwimmt, wird er irgendwann seine Kräfte verlieren und ertrinken. Somit hat er die Wahl zwischen der gesellschaftlichen Eingliederung oder dem Tod. Antoine dreht sich zur Kamera und das Bild friert ein, sein Blick wirkt verzweifelt.96 Diese berühmte Schlusssequenz zeigt, wie sehr die Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum einengen und selbst die Flucht zur Erstarrung bringen können. Truffaut sollte die Figur des Antoine Doinel noch in fünf weiteren Filmen als Hauptfigur dienen, wobei die Flucht nun aber in ihr Gegenteil verkehrt wird. Verzweifelt versucht Antoine, sich nun endlich anzupassen, sich in die bürgerlichen Institutionen par excellence, das Militär, den Beruf und die Ehe, zu integrieren. Immer wieder scheitert er aber mit seinen Bemühungen. Rimbaud – und hier soll ein wenig am Mythos des Dichters gekratzt werden – schien dabei zumindest in finanzieller Hinsicht erfolgreicher gewesen zu sein, auch wenn er 1891, untergebracht in einer Marseiller Klinik für wohlhabende Bürger, doch recht jung sterben sollte.

4.3 Rückkehr in die eingezäunte Freiheit: Politik und offener Diskurs

Der Bürger und die Bürgerin waren gleichsam dazu „verdammt“, der bürgerlichen Gesellschaft nicht entfliehen zu können. Letztlich mussten sie sich ihr nicht nur ergeben, sondern sich in ihr auch engagieren und – freilich vor allem der Bürger und weniger die Bürgerin – politisch partizipieren. Der offene Diskurs war allgegenwärtig, unter anderem in der Literatur, der Kunst und der Politik. Vor dem Hintergrund der sozialen Fragmentierung und der damit verbundenen sozialen Missstände, der „sozialen Frage“, prägte ihn immer auch die Suche nach einem gesellschaftlichen „Ganzen“. Dieses hatte freilich ohnehin nie existiert, sollte aber – auf welchem Weg auch immer – wiederhergestellt bzw. neu geschaffen werden. Unterschiedliche Lösungen wurden angestrebt, die von der Vergangenheit, der „guten alten Zeit“, inspiriert oder von den Vorstellungen einer besseren Zukunft geprägt waren. Sie spiegeln sich in der politischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts bzw. in der Herausbildung der politischen Lager wider. Dabei offenbarte sich erneut ein Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft: Die Suchen nach dem „Ganzen“ führte erst recht zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung, die allerdings notwendig war, um gesellschaftlichen Stillstand zu verhindern. Die bürgerliche Gesellschaft schuf sich gleichsam aus der Fragmentierung, die über den offenen Diskurs wiederum ihren Bestand sicherte.

4.3 Rückkehr in die eingezäunte Freiheit: Politik und offener Diskurs

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Die politischen Parteien in Frankreich sollten aber – verglichen mit anderen europäischen Ländern – relativ spät, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entstehen. Bis dahin organisierten sich die unterschiedlichen politischen Gruppierungen vor allem in Wahlkomitees, Debattierklubs oder auch – auf linksliberaler Seite – in Freimaurerlogen (S. 81). In ihren ideologischen Ausrichtungen waren Konservative, Rechtsliberale („Modérés“ bzw. „Opportunistes“) und Linksliberale („Radicaux“) sowie Sozialisten, schließlich auch rechtsextreme Gruppierungen nicht immer klar voneinander abzugrenzen. Das parlamentarische System funktionierte daher durch Zusammenschlüsse von Abgeordneten und politischen Gruppierungen unterschiedlicher Coleur. Die damit verbundenen instabilen Mehrheitsverhältnisse führten dazu, dass bis 1914 nicht weniger als 52 Regierungen vereidigt wurden, von denen keine mehr als drei Jahre im Amt war.97 Dennoch konnte sich die Republik zunehmend als Regierungssystem durchsetzen. Um diesen Erfolg zu erklären, muss die politische Entwicklung seit dem Zweiten Kaiserreich in den Blick genommen werden. Am 2. Dezember 1851 beendete der Staatspräsident Louis Napoleon, der Neffe Napoleons I., mit einem Staatsstreich die Zweite Republik und legte damit den Grundstein für das „Second Empire“, das „Zweite Kaiserreich“. Das Datum war nicht zufällig gewählt: Am 2. Dezember 1804 hatte sich Napoleon Bonaparte in Anwesenheit des Papstes selbst zum Kaiser gekrönt. Und genau ein Jahr später besiegte er in der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz die österreichische und russische Armee. Louis Napoleon, der einst mit dem Frühsozialismus kokettiert hatte,98 profitierte vom napoleonischen Mythos und glaubte wohl auch selbst an die Idee der „plebiszitären Demokratie“ (S. 158), welche die Autokratie mit der Idee der Volkssouveränität vereinen sollte. Der Kaiser oder König standen nicht über dem „Volk“, sondern personifizierten dieses vielmehr.99 Damit wird auch die Verehrung verständlich, die Napoleon Bonaparte bzw. Napoleon I. noch lange nach seinem Tod entgegengebracht wurde. „On disait: Il va paraître“ (Man sagte: Er wird wiederkommen), heißt es in Pierre-Jean de Bérangers Chanson „Les Souvenirs du peuple“ (Die Erinnerungen des Volkes, 1820).100 Napoleon sollte wie ein säkularisierter Heiliger „erscheinen“, um die Restauration zu bekämpfen, womit er nicht als Gegner, sondern als Verteidiger der Revolution galt. Dies erklärt auch, warum Napoleon zu Beginn seiner „Herrschaft der Hundert Tage“ (1. März bis 22. Juni 1815) bei großen Teilen der Bevölkerung wahre Begeisterungsstürme hervorgerufen hatte. „Nieder mit den Adeligen! Nieder mit den Priestern! Tod den Royalisten“, sollen etwa die Bewohner und Bewohnerinnen von Lyon gefordert haben. Keineswegs widersprüchlich erscheint es in diesem

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4. Widersprüche und Reaktionen

Zusammenhang, dass er zugleich als Kaiser hochgepriesen wurde.101 In einem anderen Chanson, in „Sainte-Hélène“, lässt ihn Béranger aus seiner Grabstätte heraus als mythische Kraft die Könige bezwingen. Zuvor muss er sich aber einer schmerzhaften Läuterung ob seiner Verirrungen als Kaiser unterziehen: „Höre, Dämon: […] / Stör seine Nächte, schnür seine Fesseln zu; / halte den Kelch seiner Leiden ihm unter die Augen. / So läutert dieser Mann seinen Nachruhm. / Und wird für die Zukunft wieder zur Fackel, / Vollendet seinen Sieg über das widrige Schicksal / Und bezwingt die Könige aus der Grabstätte heraus.“102 1840 malte Horace Vernet ein Gemälde („Napoléon sortant du tombeau“), das die Wiederauferstehung Napoleons aus seiner Grabstätte zeigt. In der linken Hand hält er einen Lorbeerzweig als Symbol für die Unsterblichkeit, den Sieg und den Triumph. Im selben Jahr wurde die Asche des Kaisers von St. Helena nach Paris gebracht und in den Invalidendom überführt. Erneut war er wiedergekehrt, „erschienen“, wenn auch nur als Mythos, der seinem Neffen Louis Napoleon später bei seinem Staatsstreich helfen sollte. Nun bestand die Republik nur noch auf dem Papier; durch ein Referendum ließ sich Louis Napoleon, der sich wie sein Onkel als Verkörperung des „Volkes“ betrachtete, seinen Putsch noch nachträglich legitimieren. Eine überwältigende Mehrheit von beinahe 7,5 Millionen Menschen stimmten für ihn, Gegenstimmen wurden lediglich rund 650.000 gezählt. Bereits im Januar 1852 räumte ihm eine neue Verfassung weitgehende legislative und exekutive Rechte ein. Das Parlament setzte sich aus zwei Kammern zusammen: zum einen aus dem „Corps législatif“, der „gesetzgebenden Körperschaft“. Diese wurde absichtlich nicht als „Nationalversammlung“ bezeichnet (S. 83), weil der Kaiser sich – gemäß der Idee der „plebiszitären Demokratie – als Verkörperung des Volkes und somit der Nation verstand. Die zweite Parlamentskammer war der mächtige Senat, in dem vor allem von Louis Napoleon ernannte Personen saßen und der Gesetzesinitiativen des „Corps législatif“ verhindern konnte. Dieser Senat, der nichts anderes als ein politisches Instrumentarium Louis Napoleons war, gewährte ihm im November 1852 die erbliche Kaiserwürde. Von nun an führte er den kaiserlichen Titel Napoleon III. und ließ diesen vierzehn Tage später neuerlich durch einen Volksentscheid, insbesondere durch die Unterstützung der ländlichen Bevölkerung, absegnen.103 Tatsächlich scheint Louis Napoleon ein begabter Populist gewesen zu sein, der gerade bei der ländlichen Bevölkerung punkten konnte und daher auch als „Bauernkaiser“ bezeichnet wurde.104 Während aber sein Onkel Napoleon I. seine Macht verstärken hatte können, musste Napoleon III. diese zunehmend abgeben. Er begann als Autokrat, der

4.3 Rückkehr in die eingezäunte Freiheit: Politik und offener Diskurs

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sich vor allem auf die Armee, die konservative bürgerliche Elite und die katholische Kirche stützte, und war schließlich gezwungen, sein Regime zu liberalisieren. Bis 1860 verfügte er noch über weitgehende Entscheidungsmacht, wobei das weiterhin existierende, aber gleichsam zahnlose parlamentarische System als eine Art demokratisches „Feigenblatt“ der Diktatur diente. Kurz nach dem Putsch folgten die ersten Repressionen, politischer Widerstand wurde niedergeknüppelt, es gab Tote, unter ihnen auch Frauen und Kinder. Zudem wurde die Zensur eingeführt, die aber manche Künstler und Literaten nicht davon abhielt, das Zweite Kaiserreich zu kritisieren. Victor Hugo verfasste einen Appell zum bewaffneten Aufstand, entfernte eigenhändig plakatierte Regierungserlässe und musste schließlich nach Brüssel ins Exil fliehen. Dort erhob er weiterhin das Wort gegen das autoritäre Regime und bezeichnete Napoleon III. in einem Pamphlet als „Napoléon le Petit“ (Napoleon der Kleine). Andere wiederum, wie etwa die Schriftstellerin George Sand, eine glühende Republikanerin und die einzige Frau inmitten berühmter Männer, versuchte den Kaiser zumindest mit Bittbriefen dahingehend zu beeinflussen, gegenüber seinen Gegnern Milde walten zu lassen. Die Mühen waren letztlich vergeblich.105 Zugleich blendete aber das Zweite Kaiserreich mit Wirtschaftsaufschwung und bürgerlichem Wohlstand, ließ das Bürgertum in eine glänzende Traumwelt eintauchen, in der die Konsumgesellschaft neben Napoleon III. auf dem Thron saß. Große Bauprojekte wie die Stadterneuerung durch Haussmann und zahlreiche Spektakel, etwa die erste Pariser Weltausstellungen von 1855, ließen soziale Probleme wie die steigenden Mietpreise oder die Elendsviertel am Rande von Paris (S. 215–218) in den Hintergrund rücken. Zwar vertrat Napoleon III. einen sozialpolitischen Anspruch, wollte diesen aber nicht auf gesetzlichem Weg, sondern – ganz im Sinne des Wirtschaftsliberalismus – über ökonomisches Wachstum realisieren. Tatsächlich konnte er diesen sozialpolitischen Anspruch in den ländlichen Gebieten zunächst erfüllen, der Erfolg blieb ihm aber in den industriellen Zentren und größeren Städten verwehrt. Infolge einer konjunkturellen Krise und außenpolitischer Misserfolge in den 1860er Jahren, vor allem aufgrund der misslungenen Intervention in Mexiko zwischen 1862 und 1866106 sowie der Luxemburgkrise von 1867107, begann schließlich der Goldlack des Zweiten Kaiserreiches abzublättern. Von der innenpolitischen Opposition unter Druck gesetzt, lockerte Napoleon III. die Zensur und wertete das Parlament auf. Das autoritäre Regime wandelte sich in ein „Empire libéral“, das aber mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der Niederlage von Sedan am 2. September 1870, die zur Gefangennahme des Kaisers führte, jäh endete. Am 4. September 1870 wurde die Repu-

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blik zum dritten Mal ausgerufen. Nun führte eine provisorische Regierung den Krieg gegen Deutschland – allerdings auf verlorenem Posten – weiter. Kurz nach der Ausrufung der Republik belagerten bereits deutsche Truppen Paris.108 Léon Gambetta, der Innenminister der provisorischen Regierung und mit seinem 1869 verfassten linksliberalen „Programm von Belleville“109 maßgeblicher Ideengeber des späteren „Parti radical“, flüchtete mit einem Heißluftballon und organisierte die Fortsetzung des Krieges von Bordeaux aus. Zu Beginn des Jahres 1871 musste Frankreich aber kapitulieren, immense Reparationszahlungen und die Abtretung von Elsass-Lothringen an Deutschland waren die Folge. Mit ihrer Ausrufung im September 1870 war die Dritte Republik aber noch lange nicht gesichert. Ihre konstitutionellen Gesetze erhielt sie erst 1875, und erst vier Jahre später errangen die Republikaner die volle parlamentarische Mehrheit. Bis dahin blieb die Wiedereinführung der Monarchie nicht unwahrscheinlich. Die Wahlen zur Nationalversammlung, die im Februar 1871 stattfanden, hatten aufgrund des Übergewichtes der konservativen Landbevölkerung zu einer monarchistischen Mehrheit geführt. Daher wurde die Republik in der Nationalversammlung zunächst als Übergangssystem definiert, das nur so lange Bestand haben sollte, bis das französische Volk nach Abzug der deutschen Truppen über eine Verfassung abgestimmt hatte. In Verbund mit der katastrophalen sozialen Lage führte die Politik der neuen Regierung in Paris zu steigendem Unmut: Nicht nur, dass sich die neu gewählte Nationalversammlung nicht in Paris, sondern – welch‘ unerhörter symbolischer Akt – in Versailles niederließ. Auch die Mietpreise wurden freigegeben, und zudem setze die Regierung die Auszahlung des Soldes an die Mitglieder der Pariser Nationalgarde aus. Als Regierungstruppen schließlich begannen, die Nationalgarde auch noch zu entwaffnen, kam es am 18. März 1871 zu einem gewaltsamen Zusammenstoß auf dem Montmartre und zum öffentlichen Aufstand. In der Folge wurde die „Commune de Paris“ (Pariser Kommune) proklamiert, die eine Mischung aus sozialistischer und fortschrittlicher republikanischer Politik verfolgte. Sie betrieb, auch wenn von ihren Gegnern immer wieder das sozialistische Schreckgespenst an die Wand gemalt wurde, keine radikale Politik der Enteignung, sondern förderte die Gründung handwerklicher Kooperativen, die sie mit öffentlichen Aufträgen versorgte. Unter anderem wurde die Trennung von Kirche und Staat vollzogen, sozusagen das „geistliche Unterdrückungswerkzeug“ und die „Pfaffenmacht“ gebrochen, wie Karl Marx diesen politischen Akt bezeichnete.110 Zudem regelte die Kommune den Arbeiterschutz und erließ rückwirkend fällige Mieten. Sie führte die allgemeine Schulpflicht ein, der laizistische Schulunterricht wurde kosten-

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los erteilt.111 Frauen, die auf den Barrikaden kämpften, gründeten am 11. April 1871 die „Union des femmes pour la défense de Paris et les soins aux blessés“ (Frauenunion für die Verteidigung von Paris und die Pflege der Verwundeten). Mitglieder waren unter anderem Näherinnen, Schneiderinnen, Wäscherinnen und Leinenhändlerinnen. Führend war dabei Élisabeth Dmitrieff, die durch eine „marriage blanc“, eine Scheinhochzeit, aus Russland ausreisen hatte können.112 Mit ihr kämpften die Buchbinderin Nathalie Lemel sowie die – bereits im vorangegangenen Kapitel (S. 191) erwähnte – Lehrerin, spätere Schriftstellerin und Anarchistin Louise Michel.113 Von einer proletarischen Revolution, einem Klassenkampf der zum Bewusstsein gelangten Arbeiterklasse, wie Karl Marx sie interpretierte,114 war die Pariser Kommune allerdings weit entfernt. Zwar hatten sich auch Arbeiter und Arbeiterinnen an den Aufständen beteiligt, die sich aber kaum als selbstbewusste Arbeiterklasse verstanden. Vielmehr waren sie im Kleingewerbe tätig und agierten zumeist im Sinne eines linken Republikanismus. Im Grund nahmen die Kommunarden Reformen in Angriff, die schließlich in der Dritten Republik auf Drängen der Linksliberalen, der „Radicaux“, verwirklicht werden sollten.115 Marx hatte sich bei seiner Interpretation der Pariser Kommune von der spezifischen Form der Selbstverwaltung leiten lassen, in der er den Rätegedanken zu erkennen meinte: „Die Kommune bildet sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar.“116 Letztlich sollte die Pariser Kommune nur kurz Bestand haben und mündete in der „Semaine sanglante“, der „Blutigen Woche“ vom 21. bis 28. Mai, in der die Regierung unter dem „chef du pouvoir exécutif“ bzw. „Chef der Exekutive“ Adolphe Thier117 unerbittlich gegen die Kommunarden vorging. Die Versuche, in anderen französischen Städten, etwa in Lyon und Marseille, eine Regierung nach dem Pariser Vorbild einzurichten,118 waren bereits vorher gescheitert. Die blutige Niederschlagung der Pariser Kommune hinterließ vor allem in republikanischen Kreisen einen fahlen Beigeschmack, zumal die Dritte Republik nun gleichsam aus einem Blutbad geboren worden war. Allerdings hatte diese als Stabilitätsfaktor nun auch bei den Monarchisten zum Teil an Ansehen gewonnen, die weiterhin in der Nationalversammlung die Mehrheit besaßen. 1875 ermöglichten sie die Verabschiedung einer republikanischen Verfassung, die ein Zweikammersystem vorsah:119 die „Chambre des députés“ (Abgeordnetenkammer), die direkt vom Wahlvolk gewählt wurde, sowie den Senat. Letzterer wurde nun – im Gegensatz zum Zweiten Kaiserreich – mit Abgeordneten beschickt,

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die sowohl ein Wahlkollegium der Abgeordnetenkammer als auch Wahlkollegien der Departements bestimmten. Möglich war dies durch die Spaltung der Monarchisten in Legitimisten und Orleanisten, die zwar weiterhin Anspruch auf den Thron erhoben, sich allerdings politisch doch sehr von den Legitimisten unterschieden. So hegten etwa die Legitimisten den recht illusorischen Wunsch, die Errungenschaften der Französischen Revolution, insbesondere das Postulat der Volkssouveränität, wieder rückgängig zu machen. Ihrer Ansicht nach war es „legitim“, dass der Thron den Bourbonen, die seit Heinrich IV. sieben französische Könige gestellt hatten, zustand. Im Gegensatz dazu wollten die Orleanisten, die ihren Ursprung im Bürgerkönigtum von 1830 hatten, weniger das Ancien Régime wiederbeleben als vielmehr eine konstitutionelle, auf wirtschaftsliberalen Grundsätzen beruhende Monarchie errichten.120 Sie näherten sich daher zunehmend dem gemäßigten republikanischen Flügel an, womit die Einsetzung der Monarchie in immer weitere Ferne rückte. Die Verfassung von 1875 spiegelte daher auch zum Teil manche Anliegen der Orleanisten wider, insbesondere in der großen Machtfülle des Staatspräsidenten, der an das Bürgerkönigtum der Julimonarchie erinnerte.121 Die dritte Gruppierung, die für einen Monarchen eintrat, waren schließlich die Bonapartisten, die sich mit der bereits erwähnten „plebiszitären Demokratie“ (S. 233) wieder auf ein anderes monarchisches Konzept beriefen, das bereits Napoleon I. und Napoleon III. zu verwirklichen versucht hatten. Autokratische Tendenzen und Volkssouveränität sollten keinen Gegensatz darstellen; der Kaiser oder König standen nicht über dem ‚Volk‘, sondern personifizierte dieses vielmehr. Zwar sollte der Mythos Napoleons I. seit Anfang der 1880er Jahre wieder eine maßgeblich politische Rolle spielen. Nach dem politischen Debakel, welches das Zweite Kaiserreich verursacht hatte, waren aber die Bonapartisten in der Nationalversammlung zunächst nur noch mit wenigen Abgeordneten vertreten.122 Ende der 1870er Jahre sollte sich die Dritte Republik schließlich vollständig durchsetzen: Nach Streitigkeiten rund um die Beziehungen zum Kirchenstaat und ein Pressegesetz entließ der konservative Staatspräsident Marschall Patrice de Mac-Mahon, der laut Verfassung mit weitgehenden Machtbefugnissen ausgestattete war, Ministerpräsident Jules Simon. Dieser gehörte dem gemäßigten republikanischen Flügel an und war nach den Wahlen von 1876, die den Republikanern erstmals die Mehrheit in der Nationalversammlung verschafft hatten, in das Amt gewählt worden. Da die Mehrheit der Republikaner den Schritt MacMahons als Staatsstreich interpretierten und sich vehement gegen die Absetzung Simons wandten, ließ der Staatspräsident kurzerhand für den 14. Oktober 1877

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Neuwahlen ausschreiben. Die Republikaner, die im Wahlbündnis „Gauche républicaine“ antraten, brandmarkten nun die Monarchisten – wohl nicht zu Unrecht – als Konterrevolutionäre, deren Ziel die Abschaffung der Republik sei. Sie selbst garantierten dagegen den äußeren Frieden und präsentierten sich als Behüter der Verfassung sowie der öffentlichen Ordnung. Diese Strategie führte zum Erfolg: Die Wahlen endeten mit einer deutlichen republikanischen Mehrheit. Zugleich erlebten aber auch die Bonapartisten, die schon bei den Wahlen von 1876 die Legitimisten und Orleanisten überflügelt hatten, einen neuerlichen, wenn auch noch bescheidenen Aufschwung.123 Der napoleonische Mythos war wieder zum Leben erwacht. Zwar spalteten sich die Republikaner in eine rechtsliberale („Modérés“ bzw. „Opportunistes“) und eine – zunächst deutlich schwächere – linksliberale Gruppierung („Radicaux“), die Konkurrenz durch andere politische Richtungen blieb aber zunächst bescheiden. So hatten die Legitimisten mit der Durchsetzung der Dritten Republik an Bedeutung verloren, die am Wirtschaftsliberalismus orientierten Orleanisten näherten sich dem konservativen Flügel der Republikaner an. Der Bonapartismus begann sich erst wieder allmählich zu regen, und die sozialistisch orientierten Gruppierungen waren durch die Niederschlagung der Pariser Kommune immens geschwächt worden.124 Zudem entwickelte sich ein gemäßigter bzw. liberaler Katholizismus, der sich mit der Republik durchaus anfreunden konnte und die Antinomie zwischen Religion und Revolution bzw. Aufklärung aufzuheben trachtete.125 Die Wurzeln dieses „Katholaizismus“ (S. 19) sind bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu suchen. So hatten sich der Theologe und Dominikaner Henri Dominique Lacordaire sowie der Priester Hugues Félicité Robert de Lamennais in den 1830er Jahren mit der Aufklärung und dem Frühsozialismus auseinandergesetzt. Lacordaire erkannte etwa, „dass zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener es die Freiheit ist, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“.126 Mit der Idee der eingezäunten Freiheit, die durch den „Gesellschaftsvertrag“ bzw. durch die Verfassung garantiert sein sollte (S. 15), ließ sich diese Ansicht durchaus vereinen. Bis zur Jahrhundertwende dominierten die gemäßigten Republikaner, die „Modérés“, die politische Landschaft, stellten die zahlreichen Regierungskabinette und profitierten von der Kompromissbereitschaft der „Radicaux“, der „Orleanisten“ und des liberalen Katholizismus.127 Diese spezifische politische Situation war – in Verbund mit den vielfachen ideologischen Überschneidungen verschiedener politischer Richtungen – wohl einer der zentralen Gründe dafür,

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dass sich in Frankreich erst spät Parteien gründeten. Die politische Entwicklung seit dem Staatsstreich Louis Napoleons im Dezember 1851 ließ die Dritte Republik und mit ihr die „Modérés“ als Garant für Stabilität erscheinen. Das Zweite Kaiserreich hatte mit seinem autokratischen System abgeschreckt, die Pariser Kommune – auch wenn sie letztlich vor allem republikanische Ziele verfolgte – mit ihren radikalen und partiell sozialistischen Forderungen.128 Die Legitimisten hatten sich wiederum in den 1870er Jahren durch ihren Mangel an Kompromissbereitschaft und durch ihr – letztlich illusorisches – Festhalten an der Wiedererrichtung eines von der katholischen Kirche unterstützten Ancien Régime desavouiert. Kurzum: Die Dritte Republik und mit ihr die gemäßigten Republikaner setzten sich „als kleinster gemeinsamer Nenner“129 durch und repräsentierten gewissermaßen das ersehnte, aber letztlich doch nicht erreichbare „Ganze“. Aufgrund der – allerdings nur fragilen – Stabilität ließen sich grundlegende republikanische Anliegen durchsetzen: In den 1880er Jahren wurde die Presseund Versammlungsfreiheit (1881) gesetzlich abgesichert sowie unter strengen Auflagen, aber immerhin die Bildung von Gewerkschaften legalisiert (1884). Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der kostenlosen laizistischen Schule für beide Geschlechter (1881–1882) reduzierte den Einfluss der katholischen Kirche auf das öffentliche Bildungswesen. Allerdings konnte das Gymnasium auch weiterhin nur gegen Bezahlung besucht werden, ebenso öffnete sich das Bildungswesen für Frauen nur zögerlich. Immerhin ließ ein Gesetz von 1880, das der republikanische Abgeordnete Camille Sée initiiert hatte, die Gründung von Mädchengymnasien zu.130 Die eheliche Scheidung war nun möglich, die Kruzifixe wurden aus den öffentlichen Gebäuden entfernt und die Gemeinden 1884 gesetzlich dazu verpflichtet, Rathäuser zu errichten. Ferner wurde das Trauma der Pariser Kommune von 1871 wenn nicht bewältigt, so doch mit einer Generalamnestie für inhaftierte Kommunarden einer „Therapie“ unterzogen.131 Mit dem bereits erwähnten „plan Freycinet“ (S. 88), benannt nach dem Minister für öffentliche Arbeit, konnte das Verkehrsnetz erweitert und damit eine Grundlage für einen – wenn auch nur kurzfristigen – wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen werden.132 Schließlich engagierte sich die Dritte Republik seit den 1880er Jahren neuerlich in der Kolonialpolitik, um die internationale Bedeutung Frankreichs zu erhöhen und die erlittene „Schmach“ im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wiedergutzumachen. Zugleich war damit eine Möglichkeit gegeben, innenpolitische Probleme – ganz in Sinne einer auch heute bekannten politischen Praxis – mit außenpolitischem Engagement zumindest zum Teil zu kompensieren.

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Um die Dritte Republik fest im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, steckte sie viel Energie in die Identitätspolitik, mit der – wie bereits ausführlich behandelt (S. 75–87) – auch die ländliche Peripherie erreicht werden konnte: So wurden der 14. Juli, der symbolträchtige Tag der Erstürmung der Bastille, als Nationalfeiertag, die Marseillaise als Nationalhymne und die Trikolore als Nationalflagge eingeführt.133 Auch Marianne, die „Freiheitsgöttin“, durfte wieder die Republik verkörpern (S. 69–73). In ihrer Symbolik bezog sich die Republik auf die Französische Revolution und setzte damit für jene, die sich gegen die Republik stellten, ein klares Zeichen. Die Republik war nicht mehr rückgängig zu machen, und selbst die rechtsextremen Bewegungen, die sich seit Ende der 1880er Jahre formierten und sich gegen die Republik wandten, wären – wie noch besprochen wird – ohne die Aufklärung und die Französische Revolution nicht denkbar gewesen. Durchaus symbolische Bedeutung hat in diesem Zusammenhang, dass 1881 der Betrieb von Cafés und Bars als Orte des bürgerlichen Diskurses (S. 25) liberalisiert worden war:134 Die eingezäunte Freiheit und der offene Diskurs galten nun als zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Trotz des Erfolges der Dritten Republik schwankte sie in der Wahrnehmung der französischen Bevölkerung immer wieder zwischen Stabilität und Krise. Sie galt eben als kleinster gemeinsamer Nenner in der brüchigen politischen Landschaft und beruhte somit auf einem instabilen Fundament. Die mit der modernen wirtschaftlichen Entwicklung verbundene „soziale Frage“, die immer wieder drohende Gefahr von Wirtschaftskrisen und manche Skandale streuten gleichsam Sand ins republikanische Getriebe. Der „plan Freycinet“ (S. 88), der seit 1879 umgesetzt wurde, hatte etwa ein Klima der wirtschaftlichen Euphorie geschaffen. Wertpapiere wurden ausgegeben und Spekulationen getätigt, die allerdings durch die reale Wirtschaftslage kaum gerechtfertigt waren. 1882 kam es daher zu einem Börsenkrach, der zu einer Deflation führte. Da die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen nun geringer als das Angebot war, erlebte Frankreich eine bis Mitte der 1890er Jahre anhaltende Rezension. Zugleich war die Landwirtschaft, die sich wegen neuer Transportmittel mit der Konkurrenz aus dem Ausland konfrontiert sah, in eine Krise geraten. Die Reblaus-Plage verursachte zudem im Weinbau großen Schaden, die Pébrine-Krankheit führte in der südfranzösischen Seidenraupenzucht zu wirtschaftlichen Einbrüchen. 1889 war die gesamte landwirtschaftliche Produktion im Vergleich zu 1869 um 28 Prozent gesunken.135 Neben den wirtschaftlichen Problemen schadeten politische Skandale und Affären nicht nur dem Ansehen der politischen Elite, sondern der Dritten Republik

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im Allgemeinen, zumal sie als ein System erschien, das Habgier, Bestechungen und Begünstigungen zuließ. So erregte etwa 1887 die „Orden-Affäre“ großes Aufsehen, bei der Daniel Wilson, Abgeordneter der Deputiertenkammer und Schwiegersohn des Präsidenten Jules Grévy, seine Beziehungen nutze, um aus dem Verkauf von staatlichen Auszeichnungen wirtschaftlichen Profit zu schlagen. Letztlich sah sich Grévy gezwungen, als Präsident der Republik zurückzutreten.136 Vor allem ist aber der „Panama-Skandal“ von 1892/93 zu erwähnen, der drei Regierungen hintereinander zur Demission zwang. Die „Compagnie universelle du canal interocéanique de Panama“, die von Ferdinand de Lesseps zur Finanzierung des Panamakanals gegründet worden war, hatte 1889 den Konkurs angemeldet. Um neue Anleihen ausgeben zu können und damit die finanzielle Lage der Gesellschaft zu verbessern, wurden nun Abgeordnete und Regierungsmitglieder bestochen. Der Konkurs der Gesellschaft, der viele Kleinanleger in den Ruin stürzte, war dennoch unausweichlich und untergrub das Vertrauen in das politische System.137 Zum ersten Mal tauchte der Begriff der „Dekadenz“ im Zusammenhang mit der Gesellschaft der Dritten Republik bei Anatole Baju auf, der dem Sozialismus nahestand. Mit seinem Werk „L’École décadente“ (1887) und in seiner 1886 erstmals herausgegebenen Zeitschrift „Le Décadent littéraire et artistique“ versuchte er, eine literarische „Schule der Dekadenz“ zu begründen. Dabei sah er sich in einer gemeinsamen Linie mit Baudelaire, den er „als den eigentlichen Vorreiter“ dieser Schule bezeichnet, mit Verlaine und Mallarmé und schließlich mit Rimbaud, den „intellektuelle[n] Bruder von Verlaine, fast göttlich in der Sprache, so jung in der Kunst, tot, sagen die einen, König eines wilden Volkes, sagen die anderen“.138 Zunehmend löste sich aber der Begriff der „Dekadenz“ von seiner literarischen Bedeutung und fand Eingang in die Wissenschaft und Politik. So hatte Ernest Renan zwar 1882 mit seinem Buch „Qu’est-ce qu’une nation?“ (Was ist eine Nation?) das Manifest des liberalen Nationalismus geschaffen und die französische Nation als „Willensnation“ definiert. In anderen seiner Werke malte er aber ein defaitistisches Bild von Frankreich.139 Er sah die Gesellschaft „nicht durch den Menschen“ begründet, sondern durch die Natur selbst […]. Die Gesellschaft ist eine Hierarchie […]; alle Lebewesen (selbst die Tiere) haben Rechte; aber alle Lebewesen sind nicht gleich, alle sind Mitglieder eines großen Körpers, Teile eines immensen Organismus, die eine göttliche Arbeit verrichten müssen. Die Negierung dieser göttlichen Arbeit ist der Fehler, den die französische Demokratie leicht begehen kann.140

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Seine biologistischen Vorstellungen der Gesellschaft als Organismus und die damit verbundene Warnung vor einem gesellschaftlichen Verfall beeinflusste die extreme Rechte, die sich zunehmend des Begriffs der Dekadenz bediente, um die Dritte Republik vehement zu attackieren.141 Sie suchte die Wurzeln des vermeintlichen Übels in der Aufklärung und der Französischen Revolution von 1789. Dabei konnte sie auf eine „Denkschule“ zurückgreifen, die sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte.142 Louis de Bonald, der 1791 als Konterrevolutionär nach Heidelberg emigriert war, betrachtete die Gesellschaft etwa nicht, wie es die Aufklärung postuliert hatte, als eine Summe von miteinander kooperierenden Individuen, sondern als eine übergeordnete Einheit, der sich jedes Individuum unterwerfen müsse. Und diese übergeordnete Einheit sei wiederum durch eine übergeordnete Macht, durch Gott und die Religion, begründet.143 Die Religion selbst, so Antoine de Rivarol, ein anderer Vordenker der extremen Rechten, müsse selbst nicht begründet werden, zumal es nicht darum [gehe], ob eine Religion wahr oder falsch ist, sondern ob sie notwendig ist. […] Wenn aber eine Religion nicht bewiesen wird, und doch wird gezeigt, dass sie notwendig ist, dann hat diese Religion eine politische Wahrheit. Ich gehe weiter und sage, […] dass jede Religion eine wahre Religion ist, so wie jedes Gedicht ein wahres Gedicht ist. Eine bewiesene Religion würde sich nicht von der Physik oder Geometrie unterscheiden; oder besser gesagt, sie wäre keine Religion.144

Notwendig sei die Religion für den sozialen Zusammenhalt, weil sie erst ermögliche, dass sich die vielen Individuen einer übergeordneten Einheit unterordnen. Nun habe aber die Französische Revolution von 1789 die Politik von der Religion getrennt und somit die Verbindung zwischen den Individuen und der übergeordneten, durch Gott legitimierten Einheit zerstört. Das Individuum sei gleichsam „freigesetzt“, von der religiös begründeten Gemeinschaft losgelöst worden. Damit mutiert der Individualismus zur Wurzel allen Übels, geradezu zu einem Teufelswerk, das die Familie als vermeintliche Grundlage der gesamten Gesellschaft, eine imaginierte dörfliche Harmonie und Solidargemeinschaft sowie eine gesellschaftliche Hierarchie, die auf einer angeblich natürlichen Ungleichheit beruhe, bedrohe.145 Die extreme Rechte lehnte daher jegliche ökonomische und gesellschaftliche Mobilität, die Bonald gar als „Apokalypse“ bezeichnet,146 ab und propagierte die Rückkehr zur Familie, eine Renaissance der katholischen Religion sowie die Wiedererrichtung der Monarchie.

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Freilich stellte die Sehnsucht nach der alten Gesellschaftsordnung eine Art von Fluchtversuch aus der bürgerlichen Gesellschaft dar, der aber nicht gelingen konnte. Die Französische Revolution war nicht ungeschehen zu machen, und die Rückkehr in das Ancien Régime blieb daher eine Illusion. Deshalb wusste sich die extreme Rechte den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen durchaus anzupassen und beteiligte sich am offenen Diskurs. Dabei bediente sie sich – zum Teil geradezu virtuos – der modernen Kommunikationsmittel und Organisationsformen, welche die eigentlich so gehasste bürgerliche Gesellschaft zur Verfügung gestellt hatte: Zeitungen wurden gegründet, bürgerliche Organisationsformen für die eigenen Zwecke genutzt sowie Aufmärsche und Demonstrationen in das politische Handlungsrepertoire integriert. Bereits 1882 gründete etwa Paul Déroulède die „Ligue des patriotes“ (Liga der Patrioten). In ihren Anfängen noch republikanisch orientiert, beschränkte sie sich zunächst auf eine patriotische Erziehung, indem sie den Turnunterricht (S. 44, 79) und – den Deutsch-Französischen Krieg in Erinnerung – Schießübungen förderte. Zunehmend übernahm die „Ligue des patriotes“ aber rechtsextreme Positionen und bildete später das organisatorische Rückgrat des Boulangismus (S. 248). Als Déroulède im Februar 1899 als Abgeordneter zur Nationalversammlung dabei scheiterte, das französische Militär zu einem Staatsstreich aufzuwiegeln, wurde er aus Frankreich verbannt, womit schließlich auch die „Ligue des patriotes“ ihren Niedergang erlebte.147 Abgelöst wurde sie durch die 1898 von Henri Vaugeois und Maurice Pujon gegründete „Action française“, die monarchistisch und antisemitisch orientiert war. Seit 1908 verfügte diese über einen eigenen Kampfverband: die „Camelots du roi“ (Pagen des Königs), die bei Demonstrationen und anderen Veranstaltungen gewaltbereit auftraten und sich insbesondere mit sozialistischen Gruppierungen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Aufschwung erlebten, Kämpfe lieferten. Im selben Jahr wie die „Action française“ und im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre (S. 249) wurde auch die „Ligue de la patrie française“ (Liga des französischen Vaterlandes) gegründet, die als Gegenpol zur „Ligue des droits de l’homme“ (Liga für Menschenrechte) gedacht war. Ihre Bedeutung blieb aber – nicht zuletzt aufgrund ihrer eher unklaren ideologischen Ausrichtung – beschränkt, weshalb sie 1904 offiziell aufgelöst wurde.148 Zu deren Mitgliedern zählten im Übrigen auch bekannte Künstler und Schriftsteller, etwa der den Orleanisten nahestehende und sich als Anti-Dreyfusard bekennende Schriftsteller Jules Verne,149 der bekanntlich in seinem Werk mit antisemitischen Klischeebildern spielt.

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Unterstützung fanden diese Ligen durch rechtsextreme Zeitungen, deren Gründung durch das liberale Pressegesetz ermöglicht wurde. Dazu zählte etwas das 1892 von Édouard Drumont gegründete Blatt „La Libre parole“ (Freie Rede) oder die 1899 erstmals herausgegebene Zeitschrift „L’Action française“, die als Sprachrohr der gleichnamigen politischen „Ligue“ diente. Deutlich zeigt sich im Zeitungswesen, dass die extreme Rechte keineswegs eine Bewegung am Rande der bürgerlichen Gesellschaft, eine „Gegenkultur“, war, sondern sich ideologisch mit unterschiedliche politischen Richtungen überschnitt und somit als Teil des breiten politischen Spektrums der Dritten Republik betrachtet werden muss. Die vom Bonapartisten Paul de Cassagnac gegründete „L’Autorité“ (Autorität) entwickelte sich etwa mit ihrem Leitspruch „Pour Dieu, pour la France!“ (Für Gott, für Frankreich) zunehmend zu einem Blatt, das sowohl den radikalen Formen des Katholizismus als auch der extremen Rechten als Sprachrohr diente.150 Die 1883 vom Orden der Assumptionisten151 gegründete katholische „La Croix“ (Das Kreuz), die in Regional- und Lokalausgaben erschien, arbeitete ebenfalls der extremen Rechten mit ihrem Antisemitismus in die Hände.152 Die rechtsextreme Zeitung „La Libre parole“ zählte wiederum um die Jahrhundertwende dreißigtausend Priester als Abonnementen. Zugleich entwickelte die extreme Rechte eine Art ideologischen Modus Vivendi. Dieser beinhaltete eine Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt, die zunächst zwar die monarchistische Restauration voraussetzte, allerdings im sogenannten „integralen Nationalismus“ münden sollte. Vor allem Charles Maurras und Maurice Barrès lieferten die ideologischen Grundlagen dafür. Maurras, selbst einmal Republikaner und keineswegs religiös, betrachtete die Republik – nicht zuletzt aufgrund des kritisierten Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft – für ungeeignet, ein geordnetes Zusammenleben zu gewährleisten. Für ihn war sozialer Zusammenhalt nur innerhalb fester institutioneller Rahmenbedingungen möglich, welche die Familie, die katholische Kirche und ein einheitlicher Staat, idealerweise eine dezentralisierte Erbmonarchie, bieten würden. Diesem Staat konnte aber nicht jeder angehören. Maurras prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „quatre États confédérés“, der „vier vereinigte Staaten“, mit dem er Juden, Protestanten, Freimaurer und Ausländer gleichsam in einem Atemzug ausschloss. Damit war der „integrale Nationalismus“ begründet, den Maurice Barrès mit der Idee eines vermeintlich vererbten und kollektiven Unbewussten ergänzte.153 Erfahrungen und Traditionen, so Barrés, würden kollektiv über das Nervensystem vererbt. „La Terre et les morts“, die Erde und die Ahnen, bestimmten demnach, wer französisch sei und wer nicht: „Damit

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sich das Bewusstsein eines Landes wie Frankreich entfalten kann, muss man die Individuen in der Erde und den Ahnen, in der Erde unserer Ahnen, verwurzeln […].“154 Der „integrale Nationalismus“, der sich durch angeblich gemeinsame ethnisch-kulturelle und biologische Merkmale begründet, grenzt sich von der in der Aufklärung verankerten Willensnation ab. Diese definiert sich durch das individuelle Bekenntnis, einer Gemeinschaft anzugehören und deren Werte zu teilen. In der Dritten Republik kristallisierten sich somit zwei Nationalismus-Begriffe heraus: zum einen ein republikanischer, der seine Wurzeln in der Französischen Revolution hatte. „Vive la nation!“, wie die französischen Soldaten nach der Kanonade von Valmy im Jahr 1792155 riefen, bedeutete nach diesem Verständnis, zugleich die Republik hochleben zu lassen.156 Zum anderen entwickelte die extreme Rechte einen Nationalismus, der sich über die Verwurzelung im französischen Boden und bei Barrès schließlich durch die Synthese von Biologie und Kultur definierte. Um bestimmte Bevölkerungsteile auszuschließen, wurde insbesondere der Antisemitismus zu einem konstituierenden Merkmal des „integralen Nationalismus“. Wiederum lieferte Ernest Renan Argumentationshilfe, indem er von einer in der Nation verankerten gesellschaftlichen Ungleichheit sprach und die von ihm definierte „Willensnation“ mit biologistischen Überlegungen synthetisierte: „[…] die Nationalitäten sind natürliche Gruppen, die durch die Rasse, die Geschichte und den Willen der Bevölkerung bestimmt sind“. Die „Gleichheit der menschlichen Individuen und die Gleichheit der Rassen“ seien laut Renan „als grundlegende Fehlannahmen ab[zu]lehnen“: „Die höheren Teile der Menschheit müssen die niedrigeren Teile beherrschen; die menschliche Gesellschaft ist ein mehrstöckiges Gebäude, in dem Sanftheit, Güte […], nicht Gleichheit, herrschen muss.“157 Mit der Biologisierung der Gesellschaft schrieb sich das Physische gleichsam in die Politik ein:158 Die Nation präsentierte sich wie ein Körper, der gesund gehalten werden müsse, allerdings von einer „invasion juive“159, einer „jüdischen Invasion“, bedroht werde. Dabei lebten in den 1880/90er Jahren nur rund 75.000 Juden in Frankreich; in relativen Zahlen waren das lediglich 0,2 Prozent der gesamten Bevölkerung. Diese hatten sich allerdings – wie etwa Daniel Iffla Osiris (S. 77) – im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zunehmend in die bürgerliche Gesellschaft integriert und engagierten sich zum Teil im Bankwesen und im Bereich der Hochfinanzen. Zudem dienten sie dem Staat, der ihnen diese Integration ermöglicht hatte, auch als Offiziere. Die extreme Rechte setzte daher Juden zum einen mit dem Kapitalismus und zum anderen mit der Dritten

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Republik gleich, deren Ursprung wiederum in der gehassten Französischen Revolution verortet wurde.160 Daher traf Édouard Drumont mit seinem seit 1886 vielfach aufgelegten zweibändigen Bestseller „La France Juive“ (Jüdisches Frankreich) einerseits den Zeitgeist, andererseits heizte er damit auch den bereits wütenden Antisemitismus in Frankreich weiter an. „Der einzige, der von der Revolution profitierte, war der Jude“, schreibt er in der Einführung zu seiner als wissenschaftliche Abhandlung getarnten Hetzschrift. „Alles kommt vom Juden, alles kehrt zum Juden zurück.“161 Drumont spielt mit allen möglichen antisemitischen Ressentiments, konstruiert eine Verschwörung von Juden, Freimauern und Jakobinern gegen die katholische Kirche und setzt das Judentum mit dem Kapitalismus gleich: Obwohl er davon profitiere, verachte der Jude „die Handarbeit, die Arbeit in den Werkstätten und auf den Feldern“ und bewundere „nur den Makler“. „Die christliche Zivilisation hatte die Arbeit garantiert, veredelt und poetisiert“, schreibt er und greift in der Folge die bekannten Klischeebilder der Geldgier und Verschlagenheit auf, „während die jüdische Zivilisation sie durch den kapitalistischen Juden ausbeutete und durch den revolutionären Juden diffamierte; der Kapitalist macht den Arbeiter zum Leibeigenen; der Revolutionär nennt ihn in seinen Büchern und Zeitschriften einen Sklaven.“162 In einer anderen antisemitischen Schrift, „La Dernière Bataille“ („Die letzte Schlacht“, 1890), bezeichnet Drumont die Weltausstellung von 1889, mit der die Dritte Republik die Französische Revolution und sich selbst feierte, als „echtes jüdisches Fest“. „Der Jude“, schreibt Drumont, der seine Gedanken selbst kaum zu strukturieren weiß, „hat diese Ausstellung nach dem Bild seiner eigenen Gedanken gemacht; sie ist ein gigantisches Durcheinander, ein Zelt, das prächtiger als ein Palast ist; […] die niedere Magie mit ihrem falschen Schimmern […].“ Der Verlust des „Ganzen“ wird beklagt, wenn er die Weltausstellung mit dem „dem Turm“ vergleicht, „der an […] das Babel von Mesopotamien erinnert“.163 Für ihn scheint die Errichtung des Eiffelturmes ein neuer Turmbau zu Babel, die Weltausstellung ein Abbild des Kapitalismus, der Konsumgesellschaft und ein Symbol für die Anmaßung, Gott nicht nur näherzukommen, sondern er selbst zu sein. Der „integrale Nationalismus“ speiste sich aber nicht nur aus dem Antisemitismus, sondern auch aus dem Antiparlamentarismus. Nicht die Volkssouveränität per se wurde dabei in Frage gestellt, sondern die repräsentative Demokratie, welche die Volksmeinung lediglich verzerre oder nicht zur Geltung kommen lasse. Daher bediente sich die extreme Rechte des Bonapartismus und vertrat die Idee einer „plebiszitären Demokratie“ (S. 233, 238). Die Ausrichtung der Politik

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des Zweiten Kaiserreiches am „kleinen Mann“ besaß aber keineswegs demokratisches Potential, das die Dritte Republik mittel- bis langfristig gestärkt habe, wie etwa der Historiker Franklin R. Ankersmit vermutet.164 Vielmehr bedeutete das Konzept der „plebiszitären Demokratie“ eine Bedrohung des politischen Systems der Dritten Republik. Es zeigt aber auch, dass die extreme Rechte ein „Kind ihrer Zeit“ war, eine politische Bewegung, die ohne Aufklärung und Französische Revolution, auch wenn sie sich gegen diese auflehnte, nicht denkbar gewesen wäre. Der Schriftsteller Paul Déroulède, neben Maurras und Barrès eine der führenden Persönlichkeiten der extremen Rechten in Frankreich, meinte etwa, dass es „eine Sache“ sei, „die Republik dem Joch der Parlamentarier entreißen zu wollen, eine andere […], sie stürzen zu wollen. Das eine ist sogar das absolute Gegenteil des anderen.“165 Im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie proklamierte er daher eine „République Plébiscitaire“, eine „Plebiszitäre Republik“, in der das französische „Volk“ direkt regieren könne.166 Letztlich war die extreme Rechte also nicht am gesellschaftlichen Rand, sondern im politischen Mainstream angesiedelt, wie die Boulanger-Krise und die Dreyfus-Affäre zeigen sollten. Tatsächlich berief sich die politische Bewegung, die Ende der 1880er Jahre um General Georges Boulanger entstanden war, auf das bonapartistische Konzept der „plebiszitären Demokratie“. Mit einem diffusen politischen Programm, das gegen das parlamentarische System gerichtet war und mit einem militärischen Revanchismus die „Schmach“ des Deutsch-Französischen Krieges wiedergutmachen wollte, konnte der ehemals republikanisch gesinnte Offizier und 1887 zurückgetretene Kriegsminister vor allem in den Unterschichten und bei bisherigen Nichtwählern punkten. Unterstützt von Paul Déroulède und seiner „Ligue des patriotes“ bediente er sich moderner Kommunikationsmittel, die heute als „populistisch“ bezeichnet würden. Werbematerial wie Bildchen und BoulangerFiguren wurde verteilt, in Chansons die Heldentaten des Gernerals besungen. „Mein General, unser treues Frankreich / Rechnet mit Euch“, heißt es etwa in dem Chanson „C’est le général Boulanger“ (1887). „Wer weiß? Morgen werden wir in aller Ruhe sagen: / Mein General, ... Sieg oder Tod; / Franzosen werden zur Hoffnung wiedergeboren. / Dieser General, das ist Boulanger.“167 Auf Versammlungen und Umzügen trat Boulanger als Redner auf und mobilisierte damit gleichsam die „Straße“. 1888, anlässich der Wahlen zur französischen Nationalversammlung, konnte Boulanger in mehreren Departements Wahlerfolge erringen. Als er schließlich bei einer Nachwahl168 im Januar 1889, als er in Paris mit dem Wahlslogan „dissolution, révision, constituante“ (Auflösung, Revision, Konstituierung) für eine neue, plebiszitäre Verfassung eintrat, den Kandidaten

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der „Radicaux“, der Linksliberalen, besiegte, drängten ihn seine Anhänger zu einem Staatsstreich. Da er diesen aber verweigerte, ging die Anziehungskraft des Generals in der Bevölkerung zunehmend verloren. Als ihm schließlich eine Anklage wegen Verschwörung gegen die Republik drohte, floh er nach Brüssel, wo er sich 1891 am Grabe seiner Geliebten das Leben nahm.169 Die schwerste innenpolitische Krise bildete aber die Dreyfus-Affäre. Ausgelöst wurde diese durch die Verurteilung des jüdischen Artilleriehauptmannes Alfred Dreyfus wegen Spionage im Dezember 1894. Noch ahnte keiner, welche Folgen die Verurteilung haben würde, zumal es sich um eine banale Spionagegeschichte zu handeln schien. Bald stellte sich jedoch heraus, dass Dreyfus unschuldig war und ein anderer, Major Marie Charles Walsin-Esterhàzy, für das Deutsche Kaiserreich spioniert hatte. Die Aufdeckung des wahren Täters hatte aber zugleich ein Tabu verletzt, zumal sie das Ansehen der Armee belastete. Jegliche Kritik an dieser wurde als Verrat gegeißelt; der integrale Nationalismus flammte wie zur Zeit des Boulangismus erneut auf. Auch die katholische Kirche griff ein und schürte – nicht zuletzt mit ihrer Zeitung „La Croix“ – antisemitische Propaganda. Nachdem ein Militärgericht Esterházy freigesprochen hatte, griff schließlich der Schriftsteller Émile Zola ein. Mit seinem berühmt gewordenen Artikel „J’accuse!“ (Ich klage an!), der 1898 in der Tageszeitung „L’Aurore“ erschien, stellte er sich gegen den Kriegsminister und die Armeeführung. Eine Untersuchung der Unregelmäßigkeiten, die von Zola beklagt wurden, fand jedoch oder gerade deswegen nicht statt. Vielmehr wurde Zola wegen Diffamierung zu einer Haftstrafe verurteilt, der er sich durch eine Flucht nach London entzog.170 Vor der Veröffentlichung seines Artikels hatte die Bevölkerung nur bruchstückhafte Informationen über die Ereignisse besessen. Nun war aber der Fall Dreyfus zu einer republikanischen Angelegenheit geworden, der die revolutionären Tugenden „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wachrief. In der französischen Bevölkerung tat sich ein tiefer Graben auf: Die Republik spaltete sich in Dreyfusards, wie die Anhänger und Verteidiger des Artilleriehauptmannes bezeichnet wurden, sowie in Anti-Dreyfusards, die von der „Action française“ und der „Ligue de la patrie française“ tatkräftig unterstützt wurden. Die Dreyfusards fanden wiederum in der „Ligue des droits de l’homme“ (Liga für Menschenrechte), die 1898 gegründet wurde und sich für die Wiederaufnahme des Dreyfus-Prozesses einsetzte, institutionelle Unterstützung. Obwohl ein anderer der Tat überführt worden war, hielten die Gegner von Dreyfus an seiner Verurteilung fest. Sie begründete ihre Position mit der nationalen Sicherheit und der Notwendigkeit, die Autorität der Armee aufrechtzuerhalten. Dahinter

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Abb. 11 Hetzpropaganda: „Die Wahrheit auf dem Vormarsch. Drama mit einer großen Show. Lang lebe Dreyfus. Lang lebe Zola. Nieder mit der Armee“ (Anti-Dreyfus-Karikatur, 1898). Der Linksrepublikaner und spätere Sozialist Jean Jaurès tanzt zur Melodie der Carmagnole, einem Revolutionslied, und tritt auf die Trikolore. Émile Zola, der die Dreyfus-Affaire aufgedeckt hat, spielt dazu die Trommel. Die Gegner von Dreyfus bezichtigen beide, die Armee und somit auch die Republik zu entwürdigen.

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steckte aber nicht zuletzt der in Frankreich grassierende Antisemitismus, der in den Köpfen der Anti-Dreyfusards den Freispruch eines Juden als inakzeptabel erscheinen ließ. Erst 1906, nach mehreren langwierigen Gerichtsverfahren, sollte Dreyfus schließlich vollständig rehabilitiert werden.171 Infolge der Dreyfus-Affäre und der Boulanger-Krise wurden die Konturen der politischen Lager deutlicher, indem sie sich ideologisch zunehmend voneinander abgrenzten. So war etwa die französische „Linke“ – die von den „Radicaux“ bis hin zum Sozialismus reichte – vor der Boulanger-Krise noch durchaus nationalistisch und militaristisch eingestellt gewesen. Nun stand sie aber nationalistischen Einstellungen aufgrund des „integralen Nationalismus“, der durch antiparlamentarische, antisemitische und autoritäre Tendenzen gekennzeichnet war, vorsichtig gegenüber. Der Pazifismus von Jean Jaurès, der sich für die Wiederaufnahme des Dreyfus-Prozesses eingesetzt hatte, war wohl zum Teil mit diesen Vorbehalten zu erklären. Jaurès, der zunächst der republikanischen Linken angehöre, bekannte sich schließlich zum Sozialismus und war ein Anhänger der deutsch-französischen Verständigung. Seine Haltung sollte ihn schließlich zum ersten Opfer des Ersten Weltkrieges machen: 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wurde er von einem nationalistischen Fanatiker in Paris erschossen.172 Neben der kritischen Sicht des „linken“ Lagers auf Nationalismus und Militarismus führten die beiden Krisen auch zu einem Kulturkampf zwischen Dritter Republik und Kirche, die gerade in der Dreyfus-Affäre eine problematische Rolle gespielt hatte. Unter den Ministerpräsidenten Pierre Waldeck-Rousseau (1899–1902), Émile Combes (1902–1905) und Maurice Rouvier (1905–1906) leitete die Dritte Republik daher einen Prozess der Laisierung ein:173 1902 wurden – unter heftigen Protesten vieler Bischöfe – alle vom Staat genehmigten kirchlichen Schulen geschlossen, ein Jahr später folgte die Auflösung der Ordensgemeinschaften, und 1904 brach Frankreich die Beziehungen mit dem Vatikan ab. 1905 beschlossen schließlich beide Parlamentskammern ein Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat („Loi relative à la séparation des Eglises et de l’Etat“). Als „Loi Combe“, benannt nach dem Ministerpräsidenten Émile Combe, sollte dieses Gesetz in die französische Geschichte eingehen. Die Kirche bzw. kirchliche Organisationen erhielten den Status von Vereinen, die freie Ausübung der Religion wurde zur Privatsache erklärt. Damit besaß die katholische Kirche auch keine staatlich privilegierte Stellung mehr, sondern war mit anderen Glaubensrichtungen gleichgestellt.174 Nachdem sich die Dritte Republik infolge der beiden Krisen konsolidiert hatte und sich die politischen Lager klarer voneinander abzugrenzen begannen,

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entstanden nun auch politische Parteien. Auf konservativer Seite wurde 1901 die „Alliance Républicain Democratique“ und 1903 die „Féderation Républicaine“ gegründet. Die „Alliance“ war eine bürgerliche Sammelpartei, der sich Notabeln (S. 104), bürgerliche Grundbesitzer und wohlhabende Unternehmer, darunter auch gemäßigte Republikaner, zugehörig fühlten. Sie verfügte allerdings über „keinen wirklich national agierenden Parteiapparat“, sondern fungierte eher als Wahlhilfeorganisation.175 In ihrer politischen Programmatik fühlte sie sich sozialkonservativen Ideen verpflichtet, etwa der sozialkatholischen Lehre von Fréderic Le Play (S. 104). Dieser hatte das konservative Ideal von Familie im Sinne eines paternalistischen Modells auf die Führung von Wirtschaftsunternehmen übertragen. Gleichzeitig setzte Le Play der berühmten Formel der Französischen Revolution, „Liberté, Égalité, Fraternité“, die Schlagworte Religion, Eigentum, Familie und Arbeit entgegen, womit er im Übrigen auch eine Grundlage für die konterrevolutionären Denkschule schuf, auf die sich die extreme Rechte berufen sollte.176 Eine ähnliche Ausrichtung wie die „Alliance“ besaß die „Féderation Républicain“, die ebenfalls konservative Anhänger der Republik vereinte. Sie wandte sich gegen antirepublikanische Tendenzen, verurteilte aber zugleich radikaldemokratische Ideen und die antiklerikale Politik der Dritten Republik. Letztlich stand sie in der Tradition von Papst Leo XIII., der die antikirchliche Bewegung in Frankreich durch die Akzeptanz der Republik als Staatsform zu schwächen versuchte177. Sowohl die „Féderation Républicaine“ als auch die „Alliance“ blieben Honoratiorenparteien. Seit den 1930er Jahren nahmen viele ihrer Mitglieder zunehmend eine ambivalente Haltung gegenüber der parlamentarischen Demokratie ein.178 Dies verwundert freilich nicht, zumal etwa die Denkschule, die Le Play begründet hat, durchaus mit der extremen Rechten korrelierte. Den beiden konservativen Parteien stand unter anderem der „Parti républicain radical et radicalsocialiste“, kurz „Parti radical“, gegenüber, die wie die „Alliance“ 1901 gegründet worden war. Die „Radikale Partei“ sammelte die liberalen Strömungen der Dritten Republik und war bis zum Ersten Weltkrieg die führende politische Kraft, auch wenn sie „ein ziemlich loser Verband von Komitees, gelehrten Gesellschaften, Freimaurerlogen, Zeitungen, lokalen Verbänden, Abgeordneten“ blieb.179 Der Begriff „radical“ bezieht sich im Übrigen auf die radikale Ablehnung der aristokratischen Feudalherrschaft infolge der Französische Revolution von 1789 und auf den Kampf um die Durchsetzung der bürgerlichrepublikanischen Gesellschaftsordnung. Mit „radicalisme“ – die Mitglieder des „Parti radical“ hatten sich vor seiner Gründung als „Radicaux“ bezeichnet – ist

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demnach die Verteidigung der Errungenschaften der Französischen Revolution und somit der Republik gemeint.180 Ferner existierten mehrere politische Gruppierungen, die sich der sozialistischen Ideologie verpflichtet fühlten. Sie waren aber zum Teil uneins darüber, wie diese in der politischen Realität umgesetzt werden könne. Von außen wurden die Sozialisten zunächst auf „sozial“ reduziert und konnten sich in der Parteienlandschaft kaum emanzipieren, nicht zuletzt wohl auch, weil sie gemeinsam mit den Radicaux für den Bestand der Republik kämpften. „Kein Gesetzgeber, der nicht sozialistisch agiert“, behauptete etwa 1880 die Zeitung „Le Petit Parisien“. Konfuzius in China, Manon in Indien, Zarathustra in Persien, Moses mit den zehn Geboten, Solon in Athen sowie Lykurg in Sparta, Platon in seiner Republik und in seinen Gesetzen, Jesus in seinen Predigten, Mohamed im Koran, – alle Verfasser von Gesetzbüchern, alle Volksgründer, alle Reformatoren scheinen in ihrem Handeln durch die soziale Idee geleitet […].181

Aus den zahlreichen sozialistischen Strömungen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, gingen schließlich 1902 die „Sozialistische Partei Frankreichs“ (Parti Socialiste de France) und die „Französische Sozialistische Partei“ (Parti Socialiste Français) hervor. Infolge des „VI. Internationalen Sozialistenkongresses“, der 1904 in Amsterdam stattfand, kam es 1905 zur Vereinigung dieser beiden Parteien in der „Section Française de l’Internationale Ouvrière“ (SFIO). Zwar war die neue Partei dem Marxismus verpflichtet und propagierte den Klassenkampf und die Revolution. Gleichzeitig passte sie sich aber der Dritten Republik an und setzte sich für soziale Reformen ein. Damit konnte sie sich – vor allem in der Zwischenkriegszeit – als eine der bedeutendsten politischen Kräfte der Dritten Republik profilieren.182 Davon zu unterscheiden ist die „Sozialistisch-republikanische Partei“ (Parti républicain socialiste, PRS), die 1911 von den „socialistes indépendants“ gegründet wurde. Diese „unabhängigen Sozialisten“ verstanden sich als reformorientierte Sozialisten, traten für eine Versöhnung von Kapital und Arbeit ein und standen zwischen SFIO und dem linksliberalen „Parti radical“. Aus dem instabilen „Ganzen“ der Dritten Republik, verkörpert durch die gemäßigten Republikaner, der „Mitte“ (die es bekanntlich gar nicht gibt, sondern die sich – je nach Definition – weiter „links“ oder „rechts“ befinden kann), war gezwungenermaßen die politische Fragmentierung hervorgegangen. Manche politischen Strömungen wollten die Gesellschaft mit interventionistischen

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Mitteln, etwa durch staatliche Sozialpolitik, reformieren. Andere forderten wirtschaftsliberale Politik und sahen im freien Markt die Lösung aller Probleme. Marxisten schrieben sich die Abschaffung des Staates als Herrschaftsinstrument auf die Fahnen, ebenso die Kollektivierung der Produktionsmittel und die Überwindung der Klassengesellschaft durch eine Revolution. Bestimmte konservative Strömungen akzeptierten durchaus die laizistische Republik, andere wollten oder konnten sich nicht mit dieser arrangieren, waren aber dennoch in diese hineingeworfen und bedienten sich der modernen Kommunikationsformen, indem sie Zeitungen gründeten, Aufmärsche organisierten und in Wahlkämpfen mit ihren politischen Konkurrenten um die Gunst der Wähler und Wählerinnen buhlten. Die extreme Rechte, mit der manche konservative Strömung durchaus Überschneidungen aufwies, stellte sich vollends gegen gesellschaftliche Veränderungen und gerierte sich gleichsam als „Fels in der Brandung“ der Moderne, indem sie den Individualismus verdammte sowie lediglich Gott und die Religion als oberste gesellschaftliche Instanzen, als einzige Wahrheiten, gelten ließ. Der Bogen spannt sich zum Beginn des vierten Kapitels, denn am Beispiel der politischen Entwicklung zeigt sich wiederum deutlich: Die bürgerliche Gesellschaft bedarf der Konkurrenz der verschiedenen Meinungen. Ihre Wandlungsfähigkeit und ihr Bestand sind daran geknüpft, die Möglichkeiten ausloten zu können, das ersehnte „Ganze“, ein „säkularisiertes Paradies“, zu erreichen. Dieses „Ganze“ bleibt freilich ein Ideal, dem sich die bürgerliche Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen nur anzunähern gelingt. Politik, Kunst, Literatur und Musik sowie Wirtschaft und Technik sind – aus kulturhistorischer Perspektive – miteinander kommunizierende, dadurch allerdings sich auch reibende gesellschaftliche Teilsysteme. Dadurch erzeugen sie gesellschaftliche Fragmentierung, die aber notwendig ist, um die bürgerliche Gesellschaft weiterzuentwickeln und somit am Leben zu erhalten.

Von der Kunst, ein passendes „Röcklein“ zu schneidern – ein Nachwort Georg Büchner, beeinflusst von den Ideen der Französischen Revolution und wegen Verdachts der „indirecten Teilnahme an staatsverrätherischen Handlungen“1 nach Straßburg geflüchtet, lässt in seinem kurz vor der Flucht verfassten Revolutionsdrama „Dantons Tod“ (1835) den Revolutionär Camille Desmoulins den Staat mit einem „durchsichtigen Gewand“ vergleichen. Dieses müsse „sich dicht an den Leib des Volkes“ schmiegen. „Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt vermag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein, wie sie ist; wir sind nicht berechtigt, ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden.“2 Damit bringt Büchner den spezifischen Freiheitsbegriff des bürgerlichen Gesellschaftsmodells, die eingezäunte Freiheit, und die damit verbundenen Widersprüche auf den Punkt: Die Freiheit des Einzelnen geht nur so weit, als die Freiheit des anderen nicht eingeschränkt ist. Der Mensch und das freie Handeln in gesellschaftlicher Verantwortung schließen sich nicht aus, das Individuum wird im Diesseits als selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Wesen „vergesellschaftet“. Ein „Gesellschaftsvertrag“, eine vom „Volk“ und nicht von Gott gegebene Verfassung, sollte diese eingezäunte Freiheit gewährleisten (S. 14). In Büchners Drama schlägt dieses bürgerlich-liberale Freiheitsideal aber durch die jakobinische Willkürherrschaft in die Unterdrückung des Individuums um. Das „Röcklein“ behindert den Bürger und die Bürgerin (der in der bürgerlichen Gesellschaft noch dazu eine lediglich komplementäre, den Bürger vor allem unterstützende Funktion zugestanden wurde) in ihrer Bewegungsfreiheit. Letztlich schnürt es die Luft zum Atmen ab und führt zum Ersticken. Die Guillotine, die am weitläufigen Place de la révolution, inmitten des „Volumens der Freiheit“ (S. 19), aufgestellt war und eine „humane“, weil schnelle und schmerzlose Hinrichtung garantieren sollte, offenbarte das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Herrschaft, zwischen „Mündigkeit“ und Unterordnung auf drastische Weise. Um nun das „Röcklein“ dem sich verändernden Körper, um das bürgerliche Normen- und Regelkorsett dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen, bedurfte es des offenen Diskurses, des Austausches unterschiedlicher Meinungen und der Konsenssuche, aber auch der Grenzüberschreitung. Dieser offene Diskurs musste

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freilich zunächst erlernt und trainiert werden. So spiegeln etwa die privaten Salons, die Cafés und Restaurants und die damit verbundene bürgerliche Tischkultur oder auch das Vereinswesen, die etwa im Bereich der Politik sowie der Kunst und Kultur gegründeten „sociétés“, das bürgerliche Gesellschaftsmodell im Kleinen wider. An diesen Orten der Bürgerlichkeit wurde über Politik und Kunst debattiert, etwa über den „Pariser Salon“, der von einer Jury ausgewählte Kunstwerke zeigte und bis in die 1870er Jahre maßgeblich die Karriere eines Künstlers bestimmte. Vor allem boten aber die Werke abgelehnter Künstler, die nicht selten mit Skandalen verbunden waren, und schließlich die seit den 1880er Jahren gegründeten alternativen Kunstsalons ausreichend Stoff für Diskussionen (S. 26, 166, 194–196). Aber nicht nur im Bereich der bildenden Künste entstanden Bewegungen, die sich – zumindest in ihrem Selbstverständnis nach – gegen herrschende Normen und Regeln stellten, gleichzeitig aber im Sinne Michel Foucaults einem gesellschaftlichen „ordre“ (S. 143), einer „Ordnung“ und einem „Befehl“, nicht völlig entkommen konnten. Kleinere Theater experimentierten mit gesellschaftskritischen Stücken und die so genannten „Caf‘conc‘“, etwa das bekannte Kabarett „Le Chat noir“, boten im Quartier Latin und schließlich auf dem Montmartre eine Mischung aus Gesellschaftskritik und musikalischer Unterhaltung (S. 191). Kunst, Musik und Literatur agierten innerhalb der eingezäunten Freiheit, überschritten manchmal deren Grenzen und dehnten diese damit auch aus. Dadurch ermöglichten sie manchmal einen Blick auf die Welt, wie er bislang kaum möglich war. Nur auf den ersten Blick schlossen sich dabei unterschiedliche Kunststile wie etwa Klassizismus, Romantik, Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Pointillismus, Expressionismus, Kubismus und schließlich auch der Surrealismus, der sich nach dem Ersten Weltkrieg entfalten sollte und der bürgerlichen Gesellschaft nur noch Verachtung entgegenbrachte (und dennoch ein Teil von ihr war), gegenseitig aus. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie alle miteinander korrespondierten und sich gegenseitig beeinflussten. Auch wenn manche Künstler und (die von der Geschichte oftmals vergessenen) Künstlerinnen davon überzeugt waren, mit den bürgerlichen Traditionen zu brechen, war eine „tabula rasa“ aufgrund ihrer Sozialisation, ihres bürgerlichen „Habitus“, wie Pierre Bourdieu sozialisierte Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster bezeichnet (S. 13), kaum möglich. In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es keine „Gegenkulturen“, sie bedarf vielmehr des offenen Diskurses, um Stillstand zu vermeiden. Die unterschiedlichen Kunststile sind nur scheinbar in Opposition, tatsächlich bilden sie gemeinsam gleichsam kommunizierende Gefäße, tauschen sich ständig aus und garan-

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tieren damit gesellschaftlichen Fortschritt. Sie stehen aber auch in Verbindung mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, etwa mit der Politik, der Technik3 und der Wirtschaft. Soziologisch gesprochen bilden sie eine „Diskursebene“ neben anderen, auf denen „Diskursstränge“, etwa die soziale Frage, die Einstellung der Gesellschaft zur Sexualität oder die Entfremdung von der Natur, verhandelt werden.4 Die verschiedenen Diskursebenen stehen über diese Diskursstränge miteinander in Verbindung und bilden ein sich wandelndes Referenzsystem. Der Austausch zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen erfolgt aber nicht immer störungsfrei. So waren etwa die Ideologie und die Bewegungen der extremen Rechten in Frankreich keineswegs ein peripheres gesellschaftliches Phänomen. Gemäß der obigen Definition des offenen Diskurses bildeten sie keine „Gegenkultur“, sondern waren ein Teil des kommunizierenden Gefäßes, wie die bürgerliche Gesellschaft – zumindest idealtypisch – verstanden werden muss. Das Gift des Rassismus und des Antisemitismus, der chauvinistische oder „integrale Nationalismus“ (S. 245) sowie die damit verbundenen Vorstellungen von Ungleichheit, die sich in der Konstruktion einer sozialen Hierarchie spiegelten, fanden sich in allen Gesellschaftsschichten und politischen Bewegungen wieder. Selbst bei den heterogenen Republikanern und – zumindest bis zur Dreyfus-Affäre (S. 249) – auch bei vielen Sozialisten stießen sie nicht auf Ablehnung. Die beiden großen Krisen, die Boulanger-Krise (S. 248) sowie die Dreyfus-Affäre, legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, wie widersprüchlich die bürgerliche Gesellschaft war: Die extreme Rechte nutzte das Prinzip des offenen Diskurses bzw. war Teil von diesem, um gleichzeitig die damit verbundene Offenheit, den damit verbundenen freien Austausch von Meinungen, mit dem Schlagwort der „Dekadenz“ (S. 242) zu diskreditieren und somit die bürgerlich-liberale Gesellschaft und die Republik zu zerstören. Der Widersprüche gab es in der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich des „langen“ 19. Jahrhunderts viele: In der Tradition der Französischen Revolution schrieb sie sich etwa „Gleichheit“ auf ihre Fahnen, interpretierte diese aber vor allem im Sinne von „Brüderlichkeit“. So wurden Frauen – wie bereits eingangs erwähnt – gemäß den ihr angeblich von der Natur zugeschriebenen Funktionen nicht als gleich, sondern lediglich als gleichwertig betrachtet. Nicht die Öffentlichkeit war für sie bestimmt, sondern die private Sphäre, in der sie zur Regeneration des Mannes, der sich in der „harten“ Öffentlichkeit zu beweisen hatte, beitragen sollte. Der Bürger und die Bürgerin sollten gewissermaßen ein natürliches, sich gegenseitig ergänzendes „Ganzes“ bilden, in dem ihnen unterschiedliche Funktionen zugewiesen wurden. Die Rolle der Bürgerin wurde aber letztlich

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in ihrer Funktion für die Männlichkeit definiert, gleichsam an einer „hegemonialen Männlichkeit“5 gemessen. Somit bedeutete Gleichwertigkeit nichts anderes als Ungleichheit und führte letztendlich zur Disziplinierung der Frau, zur Unterdrückung „jener teuren Hälfte der Republik“, wie Rousseau die Bürgerin bezeichnet, „die das Glück der anderen Hälfte“ ausmache (S. 39). Widersprüche offenbaren sich ferner in den Versuchen, die ländliche Peripherie zu verbürgerlichen. Diese wurden zwar keineswegs „erobert“ oder „okkupiert“, zumal die bürgerliche Kultur viele ihrer Traditionen übernahm und zum Teil mit neuen Bedeutungen besetzte. Die bürgerliche Küche wurde etwa mit regionalen Produkten bereichert (S. 119–121), der „Félibrige“, eine literarische Regionalbewegung, die sich der okzitanischen Literatur verschrieben hatte, nahm in der französischen Literaturwelt eine zentrale Stelle ein (S. 103). Überhaupt galten die regionalen Dialekte, die „patois“, zunehmend als wertvolle Teile der französischen Nation, als „Vielfalt in der Einheit“ (S. 114). Dennoch wurde das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und Herrschaft immer wieder strapaziert, das „Röcklein“ eben zu eng geschneidert. So war es in den staatlichen Grundschulen (S. 78–81) um die „Mündigkeit“ nicht immer gut bestellt. Vielmehr galt es, die Schüler und Schülerinnen zur Unterordnung in die Nation, die als unabdingbarer Rahmen für die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft galt, zu erziehen, gewissermaßen „zuzurichten“. Geschichteschulbücher wie der weit verbreitete „Petit Lavisse“ (S. 54) zeugen von den pädagogischen Manipulations- und Indoktrinationsversuchen, die das Pendel zwischen individueller Freiheit und Herrschaft in Richtung der Letzteren ausschlagen ließen. Über den Turnunterricht schrieben sich die Nation und das „Vaterland“ (patrie) gleichsam in die Körper der Schüler ein. Disziplin und Gehorsam sowie gesunde und kräftige Körper, die letztlich, so als wäre die Nation ein Organismus, als Bestandteil einer „gesunden“ und wehrhaften Nation galten, schienen damit garantiert zu sein. (S. 44, 79) Auch wenn sich das Verständnis von Gewalt seit der Französischen Revolution gewandelt hatte (S. 15–17), manifestierte sich diese auch weiterhin in der bürgerlichen Praxis. Was war es anderes als Gewalt, wenn Jugendliche mit spezifischen Korsetts von der Onanie, die angeblich das Erbgut und somit die Nation gefährdete, abgehalten werden sollten? Der Widerspruch zwischen individueller Freiheit und Herrschaft, welcher der eingezäunten Freiheit inhärent ist, bedeutete hier – körperlich spürbar – die reale Bedrohung der persönlichen Integrität. Nicht selten stand zudem, sowohl in der Schule als auch in der Familie, die Disziplinierung von Kindern mit körperlicher Züchtigung in Verbindung (S. 53).

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Die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft führten zu Fluchtversuchen. Paul Gauguin wandte sich etwa von der modernen und hektischen bürgerlichen Welt ab, indem er sich zunächst in der Bretagne und schließlich im Pazifik auf die Suche nach „Ursprünglichkeit“ begab (S. 151). Arthur Rimbaud reiste wiederum in eine literarische Welt, in der er fern vom Rationalismus sein wahres Selbst zu entdecken hoffte (S. 199, 229). Und dennoch mussten beide mit dem „Trunkenen Schiff“, wie der Titel eines der berühmtesten Gedichte von Rimbaud lautet, in den Hafen der bürgerlichen Gesellschaft zurücksegeln. Gauguin hatte niemals die Taue im französischen Hafen gekappt, sondern verkaufte seine Gemälde auch weiterhin im „Mutterland“ und konnte davon leidlich leben. Rimbaud kehrte dagegen der Dichtkunst bereits in frühen Jahren den Rücken und verdiente sein Geld als Händler in den französischen Kolonien. Letztlich war also die Flucht vergebens und eine Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft unabdingbar. Nur innerhalb dieser scheint eine dauerhafte Existenz möglich gewesen zu sein. Und tatsächlich bedurfte eine bessere Welt der gesellschaftlichen Partizipation des Bürgers und der Bürgerin, die auch Gesellschaftskritik inkludierte. Diese fiel freilich unterschiedlich aus, war zum Teil heftig und sogar auf eine – wenn auch manchmal lediglich mit einem verbalen Radikalismus ausgedrückte – Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet. Es gab aber auch eine behutsame Kritik, die sich im Rahmen des bürgerlichen Normen- und Regelwerkes bewegte und dennoch, so wie auch die radikale Kritik, eines der kommunizierenden Gefäße, einen Teil des offenen Diskurses, bildete. Louis Pergaud wirft etwa mit seinem bekannten Roman „La guerre des boutons“ (1912) einen – im Sinne des „poetischen Realismus“ – versteckten kritischen Blick auf die bereits etablierte bürgerliche Gesellschaft und fordert letztlich, wenn auch nur implizit, eine Korrektur ein.6 Der Roman handelt von zwei rivalisierenden Jugendbanden, die den gefangenen Feinden als Zeichen der Erniedrigung die Hosen- und Hemdknöpfe sowie die Hosenträger abschneiden. Eine der Banden beschließt, ein Reservoir an Reserveknöpfen, Nähzeug und Ähnlichem zu beschaffen, um im Falle einer Gefangennahme die Folgen wieder ungeschehen zu machen. Daher sollen alle Bandenmitglieder einen finanziellen Beitrag leisten. „Wir leben in einer Republik, wird sind alle gleich, alle Genossen, alle Brüder: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ meint Lebrac,7 einer der zentralen Protagonisten im Roman. Er schlägt vor, eine Steuer einzuheben, womit er aber den Protest jener hervorruft, die kaum Geld besitzen. Daher soll schließlich nur Geld, das gemeinsam verdient wird, für die Anschaffung der Ausrüstung verwendet werden. Das Eigentum bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft unangetas-

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tet, eine Umverteilung etwa in Form von Steuerbefreiung wird nicht diskutiert. Soziale Probleme wie Armut werden zudem in verklärter Weise thematisiert.8 Dennoch hinterlässt das Buch einen fahlen Nachgeschmack, zumal Prügelstrafen und die Abschiebung Lebracs, der seinen Freiheitsdrang in einer durch strenge Normen und Werte einengenden Gesellschaft nicht zu unterdrücken vermag, dem bürgerlichen Freiheitsbegriff deutlich widersprechen. Eine radikalere Kritik findet sich in Marco Ferreris Spielfilm „La Grande Bouffe“ („Das große Fressen“, Frankreich 1973). Dieser soll hier deswegen Erwähnung finden, weil er das bürgerliche Regel- und Normenkorsett des 19. Jahrhunderts, das zum Teil auch noch in der Entstehungszeit des Filmes sowie in der Gegenwart seine Gültigkeit besitzt, in seinen Widersprüchen tabulos oder auch – wie manche kritisieren mögen – plakativ offenlegt. Der Sehnsucht nach individueller Freiheit steht der „kollektive Selbstmord einer Gesellschaft des Überflusses“9 gegenüber, weshalb sich vier Freunde dazu entscheiden, der bürgerlichen Gesellschaft durch den Tod zu entkommen: Ein Richter (Philippe Noiret), ein Pilot (Marcello Mastroianni), ein Koch (Ugo Tognazzi) und ein etablierter Künstler (Michel Piccoli) beschließen, sich an einem Wochenende in einer alten, dem Verfall preisgegebenen bürgerlichen Villa im wahrsten Sinne des Wortes „zu Tode zu fressen“. Alle bürgerlichen „Sündenfälle“ werden dabei begangen: Die bürgerliche Tischkultur, die als Symbol der bürgerlichen Gesellschaft gilt, löst sich zunehmend im Chaos auf. Während sich die Freunde zunächst noch an bestimmte Tischregeln (S. 33–36) halten, unter anderem an die Rangordnung der Speisen, widerspricht ihr Essverhalten aber jeglicher Norm. Zu Beginn des Filmes essen bzw. fressen sie etwa um die Wette und betrachten nebenbei erotische Fotos aus der Zeit der Belle Époque. Als schließlich noch Prostituierte ins Haus geholt werden, scheint die Auflösung des bürgerlichen Regelsystems vollendet. Widerspricht doch der unkontrollierte Orgasmus der bürgerlichen Ordnungsliebe und dem Rationalismus, der als grundlegend für die bürgerliche Gesellschaft gilt (S. 41–44). Das Chaos, das im Verlauf des Filmes entsteht, wird schließlich sogar von den Prostituierten als widerwärtig empfunden. Damit verkehren sich die bürgerlichen Werte in ihr Gegenteil, zumal die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert die Prostitution in die Unsichtbarkeit verbannt und sie lediglich durch ihre „Domestizierung“ oder „Zähmung“, durch ihre Verbürgerlichung, akzeptiert hatte. Eine weitere Umkehrung des bürgerlichen Normen- und Wertesystems wird durch die Explosion einer verstopften Toilette erzielt, wodurch die Ausscheidungen der dekadenten bürgerlichen Essorgien, die „merde“ (Scheiße), die Luft des bürgerlichen Raumes verpestet. Dabei handelt es

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sich freilich um einen unerhörten Akt, zumal es bis in das 20. Jahrhundert hinein in bürgerlichen Haushalten üblich war, die Ausdünstungen des Körpers und vor allem die Ausscheidungen der Verdauung so weit wie möglich aus dem Wohnbereich zu verbannen. Toiletten befanden sich daher an einem versteckten, von den Wohnräumen weit entfernten Ort.10 Die Ursache dafür ist in der zunehmenden sozialen Differenzierung der Gesellschaft zu suchen, die dazu führte, dass Körpergerüche in bürgerlichen Kreisen als Merkmal der Armen galten: Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, wie sehr die herrschenden Klassen sich damals [im 19. Jahrhundert, Anm. d. V.] von dem Schreckgespenst der Ausscheidung verfolgt fühlen. Die Scheiße – ein unbestreitbares Produkt der Physiologie, das der Bourgeois dennoch zu leugnen versucht – plagt das Imaginäre, weil sie unversöhnlich mit ihrer Rückkehr droht. […] Der Bourgeois projiziert auf den Armen, was er zu verdrängen sucht.11

Die Umkehrung der Werte erreicht ihren Höhepunkt, als die Grundschullehrerin Andréa (Andréa Férreol) die Flüchtenden bis zu ihrem Tod begleitet: Eine Grundschullehrerin, ursprünglich eine Schlüsselfigur der bürgerlichen Gesellschaft (S. 80), wird nun zum Symbol der Sehnsucht bzw. Flucht aus dem einengenden bürgerlichen Regelkorsett. Die Lage scheint verzwickt: Nicht selten erdrücken auch uns, die wir noch immer in der bürgerlichen Gesellschaft leben, deren Widersprüche. Ähnlich wie etwa Gauguin, Rimbaud, Lebrac oder die vier Freunde im Film „Das große Fressen“ wünschen auch wir, die Flucht ergreifen zu können – freilich nicht unbedingt in den Tod, aber doch zumindest temporär auf die einsame Insel, die sich letztlich als Tourismusfalle erweist, oder in die Einsamkeit der Natur, die sich aber doch wieder nur – oder glücklicherweise? – als Kulturlandschaft entpuppt. Das „Röcklein“ spannt nicht selten oder lässt einen ob des zu engen Schnittes gar in Atemnot geraten. Und dennoch ist die bürgerliche Gesellschaft, in der wir leben, eine andere als jene, die in der vorliegenden Kulturgeschichte am Beispiel Frankreichs vorgestellt wurde. Das mag paradox klingen, ist aber damit zu erklären, dass die bürgerliche Gesellschaft letztlich als „Work in progress“ zu verstehen ist. Sie ist ständig in Bewegung, weil sich eben die eingezäunte Freiheit immer an die sich wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen hat. Somit scheint sie bei genauerer Betrachtung nicht die schlechteste aller Welten, zumal sie sich als stabil, trotzdem bewegt bzw. flexibel und wohl gerade deswegen als doch recht beständig erweist. Die Beschäftigung

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Von der Kunst, ein passendes „Röcklein“ zu schneidern – ein Nachwort

mit der Kulturgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert mahnt uns jedoch zur Vorsicht: Jede Eindämmung gesellschaftlicher Kritik, somit jede Beschneidung der kulturellen und literarischen Freiheit, das strikte Verhindern von Grenzüberschreitungen, kurzum: das Verhindern des offenen Diskurses, führt zum Stillstand, lässt das Pendel zwischen individueller Freiheit und Unterdrückung in Richtung Letzterer ausschlagen und gefährdet die Demokratie. Eine „illiberale Demokratie“, wie sie heute so oft als Gegenmodell zur bürgerlich-liberalen Demokratie beschworen wird, bleibt auch trotz der Wortspielerei das, was damit letztlich gemeint ist: eine Diktatur.

Zeittafel – politische Entwicklung seit 1789

Erste Republik (1792–1804) Jakobiner-Herrschaft (1792–1794) Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien (4. Februar 1794) La Terreur (Schreckensherrschaft, September 1793 bis Juli 1794) Direktorium (1794–1799) Verfassung betont v.a. die Bürgerpflichten und nicht die individuellen Rechte Unklares Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative Armee gewinnt an Bedeutung Konsulat (1799–1804) Staatsstreich Napoleons / Auflösung des Direktoriums (9. November 1799) Konkordat mit der katholischen Kirche (1801) Code Civil (Bürgerliches Gesetzbuch, 21. März 1804): Festschreibung der Gleichheit aller Männer und des Schutzes des Eigentums Erstes Kaiserreich (1804–1814/15) Proklamation Napoleons zum Kaiser (18. Mai 1804) Starke Betonung des Plebiszits (Bevölkerung stimmt z.B. der Ernennung zum Kaiser zu) Herrschaft der Hundert Tage (20. März bis 22. Juni 1815) Restauration der Monarchie (1814/15–1830)

Französische Revolution

Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (26. August 1789) Marsch auf Versailles (5./6. Oktober 1789) Enteignung der Kirchengüter (2. November 1789)

Legt die Grundlagen für die bürgerlich-liberale Gesellschaft, den Verfassungsstaat und die Demokratie.

Konstitutionelle Monarchie (1789–1792)

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Zeittafel – politische Entwicklung seit 1789

Gemäßigte Phase Wiederbelebung des Gottesgnadentums Anerkennung verschiedener Errungenschaften der Revolution in der Verfassung („Charte constitutionelle“, 4. Juni 1814) Freikauf vom Wehrdienst, Benachteiligung der Armen (Militärgesetz, 12. März 1818) Pressefreiheit (1819) Reaktionäre Wende Einschränkung der Pressefreiheit (1822) Entschädigungen an den Adel für die in der Revolution erlittenen Verluste (27. April 1825) Kirche belebt traditionelle religiöse Praktiken Aufkommen des Frühsozialismus Julimonarchie / Bürgerkönigtum (1830–1848) Julirevolution in Paris (27.–29. Juli 1830) Konstitutionelle Monarchie: „Bürgerkönig“ Louis Philippe (Wahl am 9. August 1830) Trikolore als Staatssymbol „Soziale Frage“ wird allgemeines politisches Thema Arbeiteraufstände (erste Hälfte der 1830er Jahre) Gründung einer „Gesellschaft für Menschen- und Bürgerrechte“ Restriktive Gesetze gegen Presse und Vereine (Mitte der 1830er Jahre) Zweite Republik (1848–1851) Liberaler Beginn Allgemeines Männerwahlrecht (4. März 1848) Nationalwerkstätten (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) Konservative Wende Auflösung der Werkstätten und Barrikadenkämpfe (23.–27. Juni 1848) Louis Napoleon siegt bei den Präsidentschaftswahlen (10. Dezember 1848) Einschränkung des Wahlrechts (Mai 1850) Staatsstreich Louis Napoleons (2. Dezember 1851) Zweites Kaiserreich (1852–1870)

Zeittafel – politische Entwicklung seit 1789

Herrschaft auf Basis einer „plebiszitären Demokratie“ Der „Führer“ verkörpert das Volk Legitimierung von autoritärer Politik durch nachträgliche Volksentscheide Kaisertum Napoleons III. (7. November 1852) Parlament lediglich als demokratisches „Feigenblatt“ Liberale Wirtschaftspolitik „Empire libéral“ (1860er Jahre) Wirtschaftliche Krise und außenpolitische Misserfolge Schrittweise Liberalisierung der Politik Aufhebung der Pressezensur und des Koalitionsverbotes Stärkung des Parlaments Beginn des Deutsch-Französischen Krieges (19. Juli 1870) Dritte Republik (1870–1940) Ausrufung der Republik (4. September 1870) Ende des Deutsch-Französischen Krieges (10. Mai 1871) Pariser Kommune (18. März bis 28. Mai 1871) Niederschlagung durch die Republik, auch ihre Gegner erkennen die Republik (als Provisorium) an Republik als Provisorium (1871–1877) Legitimisten (Anhänger des Ancien Régime), Orleanisten (Anhänger des Bürgerkönigtums) und Bonapartisten (Anhänger Napoleons I.) erhoffen sich ein anderes System, verfolgen aber unterschiedliche Ziele Durchsetzung der Dritten Republik Wahlsiege der Republikaner (1877, 1879) Regierung der gemäßigten Republikaner („Modérés“) Boulanger-Krise (1889) Rechtsextreme „Ligen“ gewinnen an Bedeutung Gründung der „Liga für Menschenrechte“ (1898) Dreyfus-Affäre (1894–1899) Antisemitismus in der „Mitte“ der Gesellschaft Akzentuierung der politischen Lager Regierungsübernahme durch den „Parti radical“ (1902) Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat (1905)

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Anmerkungen Einleitung 1

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Têtes Raides: Qu’est-ce qu’on s’fait chier! Compact Disc, Textheft (2003). „Civili civila / civilalisation / si la vie si Lisa / Lisa avait raison / c’est pas dans les chansons / ni dans l’eau de mon vin / qu’on fera de demain / des civilisations“. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 3; Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. Siegel, Mona: „History Is the Opposite of Forgetting“: The Limits of Memory and the Lessons of History in Interwar France, in: The Journal of Modern History, 74/4 (2002), S. 770f. Zur theoretischen Fundierung der Kulturgeschichte siehe u.a.: Geertz, Clifford: Thick Description. Toward an Interpretative Theory of Culture, in: Ders.: The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 3–30; Oexle, Otto Gerhard, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Wehler, Hans-Ulrich/Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 14–40; Conrad, Christoph/Kessel, Martina: Blickwechsel: Moderne, Kultur, Geschichte, in: Dies. (Hg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 9–40; Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4., verbesserte und erg. Auflage, Frankfurt a.M. 2004; Tschopp, Silvia Serena: Die Neue Kulturgeschichte – eine (Zwischen-)Bilanz, in: Historisch’e Zeitschrift, 289 (2009), S. 593–594. Muchembled, Robert: Société, culture et mentalités dans la France moderne XVIe– XVIIIe siècle, 2. Aufl., Paris 1994, S. 9. „[…] multiples codes collectifs, verbaux ou non. […] les gestes, les mimiques, ou encore les façons d’être ensemble […], les objets aussi, lors-qu’ils prennent vie à travers des usage […], une façon commune […] de regarder le monde […].“. Ebenda, S. 9. „[…] des interrelations entre les divers étages de la construction […].“ Charle, Christophe: La dérégulation culturelle. Essai d’histoire des cultures en Europe au XIXe siècle, Paris 2015, S. 7. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 17. Salelles, C. A. de: Le groupe de la danse de M. Carpeaux jugé au point de vue de la morale ou éssai sur la façade du nouvel opéra, Paris 1869; Wagner, Anne Middleton: Jean-Baptiste Carpeaux. Sculptor of the Second Empire, New Haven/London 1986, S. 210–212; Charle, La déregulation, S. 6.

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Rousseau, Jean-Jacques: Economie ou Œconomie – Ökonomie, in: Berger, Günther (Hg.): Jean Le Rond d’Alembert, Denis Diderot u.a. Enzyklopädie. Eine Auswahl, Frankfurt a.M. 1989, S. 110f.

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Winock, Michel: La Belle Époque. La France de 1900 à 1914, Paris 2002, S. 108f.; Kocka, Jürgen: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, München 1988, S. 26–33. Bourdieu, Pierre: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, S. 125–158; Ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 277–286. Reichhardt, Sven: Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Mergel, Thomas/Welskopp, Thomas (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 75. Besonderes Gewicht sei hier auf den Begriff „Grundlage“ gelegt. Zwar setzte die Revolution an die Stelle eines ständischen Systems eine Gesellschaft juristisch formal gleichberechtigter Bürger. Die Errichtung einer tatsächlich funktionierenden demokratischen Ordnung – sei es als konstitutionelle Monarchie oder als demokratische Republik – misslang aber zunächst. Wagner, Michael: Die Französische Revolution, in: Wende, Peter (Hg.): Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000, S. 136. Weber, Max: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 480; Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie. Studienausgabe, 5., revidierte Aufl., Tübingen 1972, S. 541–868. Rousseau, Economie ou Œconomie, S. 108. Locke, John: Two treatises of government. A new edition, London 1824, S. 143. „The natural liberty of man ist to be free from any superior power on earth, and not to be under the will or legislative authority of man, but to have only the law of nature for this rule. The liberty of man, in society, is to be under no other legislative power, but that established, by consent, in the commonwealth; not under the dominion of any will, or restraint of any law, but what that legislative shall enact, according to the trust put in it.“ Siehe dazu auch: Mandrou, Robert: Staatsräson und Vernunft 1649–1775, 3. Aufl., Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981, S. 105–107; Alter, Peter: Playing with the Nation: Napoleon and the Culture of Nationalism, in: Blanning, Tim/Schulze, Hagen (Hg.): Unity and Diversity in European Culture c. 1800, New York 2006, S. 62. Benedict Anderson definiert die (bürgerliche) Nation u.a. als „souverän“: „Nationen [träumen] davon, frei zu sein und dies unmittelbar […]. Maßstab und Symbol dieser Freiheit ist der souveräne Staat.“ Mit anderen Worten bzw. den Termini der vorliegenden Arbeit: Der souveräne Staat gewährt dem Einzelnen eine eingezäunte Freiheit. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2., um ein Nachwort von Thomas Mergel erweiterte Aufl. der Neuausgabe von 1996, Frankfurt a.M. 2005, S. 16f. Diderot, Denis: Droit naturel – Naturrecht, in: Berger (Hg.), Enzyklopädie, S. 98. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Pachold, Chris E./Gier, Albert (Hg.): Die Französische Revolution. Ein Lesebuch mit zeitgenössischen Berichten und Dokumenten, Stuttgart 1989, S. 96. Niethammer, Lutz: Bürgerliche Gesellschaft als Projekt, in: Ders. u.a.: Bürgerliche Ge-

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Anmerkungen

sellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1990, S. 25. Grimm, Dieter: Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert 1, S. 365. Siehe dazu u.a.: Reinhard, Wolfgang: Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: Fenske, Hans u.a. (Hg.): Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1996, S. 327, 335; Mandrou, Staatsräson und Vernunft 1649–1775, S. 104–107. Siehe dazu u.a.: Agulhon, Maurice: La République, Bd. 2. Nouveaux drames et nouveaux espoirs (1932 à nos jours), Paris 1990, S. 229, 301f.; Grüner, Stefan/Wirsching, Andreas (Hg.): Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen/Basel 2003, S. 60–63. Vovelle, Michel: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt a.M. 1987, S. 99. Jean Maillard, Bastille-Held und – ein Paradoxon, wenn man seine lenkende Rolle beim „Zug der Frauen“ berücksichtigt – später Mitwirkender bei den Septembermassakern, bei denen rund 1.200 Menschen, vor allem Priester, als Revolutionsgegner regelrecht hingemetzelt wurden. Siehe dazu: Tulard, Jean: Frankreich im Zeitalter der Revolutionen 1789–1851, Stuttgart 1989, S. 65, 104. Carlyle, Thomas: Die Französische Revolution. Neue illustrierte Ausgabe, Bd. 1, Leipzig o.J. [um 1900], S. 299. Wunsch, Andreas: Hunger nach Brot und der Geschmack von Freiheit, in: Geschichte lernen, 13. Jg. (2000), Heft 78, S. 48–53; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 65. Hunt, Lynn: Symbole der Macht. Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a.M. 1989, S. 79. Zit. bei: Vovelle, Französische Revolution, S. 107. „Il faut raccourcir les géants / Et rendre les petits plus grands / Tous à la même heuteur / Voilà le vrai bonheur […].” Corbin, Alain: Du Limousin aux cultures sensibles, in: Rioux, Jean-Pierre/Sirinelli, Jean-François (Hg.): Pour une Histoire culturelle, Paris 1997, S. 104. Gay, Peter: Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 1996, S. 219–221. Hugo, Victor: Le dernier jour d’un condamné. Précéde de Bug-Jargal, Paris 1992, S. 401, 403. „D’ailleurs, nous ne voulons pas seulement l’abolition de la peine de mort, nous voulons un remaniement complet de la pénalité sous tous ses formes […]. La guillotine hésite.“ Tocqueville, Alexis de: Der alte Staat und die Revolution, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 133. Reichardt, Rolf E.: Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 72. Furet, François/Richet, Denis: Die Französische Revolution, München 1981, S. 310. Vovelle, Französische Revolution, S. 136f. Hunt, Symbole, S. 43f. Siehe dazu auch: Ozouf, Mona: La Fête révolutionnaire 1789– 1799, Paris 1976, S. 330f. Schulin, Ernst: Die Französische Revolution, 2. Aufl., München 1988, S. 230f.; Hunt, Lynn: Französische Revolution und privates Leben, in: Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1992, S. 41.

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Bianchi, Serge: La Révolution culturelle de l’an II. Elite et peuple (1789–1799), Paris 1982, S. 198–203; Furet/Richet, Die Französische Revolution, S. 310; Schulin, Die Französische Revolution, S. 226f. Vovelle, Französische Revolution, S. 108. Léon Gambetta (1838–1882), Rechtsanwalt, Abgeordneter zur Nationalversammlung, übernahm 1870/71 das Amt des Innenministers der Dritten Republik und 1881/82 das Amt des Ministerpräsidenten. Zunächst noch stark sozial, national und zentralistisch ausgerichtet, nahm er später gemäßigtere politische Positionen ein. Jules Ferry (1832–1893), Jurist und gemäßigter „Opportunist“, Abgeordneter zur Nationalversammlung und 1880/81 Ministerpräsident. Er zeichnet für die „lois Ferry“ von 1880 verantwortlich, mehreren Schulgesetzen, die u.a. die allgemeine Schulpflicht und die von Laien geführte, kostenlose Grundschule festschrieb (S. 79). Zunehmend engagierte er sich in der französischen Kolonialpolitik. Agulhon, Maurice: Religion civile et mouvement ouvrier en France au XIXe siècle, in: Unfried, Berthold/Schindler, Christine (Hg.): Riten, Mythen und Symbole – Die Arbeiterbewegung zwischen „Zivilreligion“ und Volkskultur, Leipzig 1999, S. 31. Nix, Andreas: Zivilreligion und Aufklärung. Der zivilreligiöse Strang der Aufklärung und die Frage nach einer europäischen Zivilreligion, Münster 2012. Balibar, Étienne: Dissonanzen in der Laizität, in: Mittelweg 36, 13. Jg. (April/Mai 2004), S. 12f., Fußnote 4. Groethuysen, Berhard: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 1. Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung, Frankfurt a.M. 1978, S. 11. Benevolo, Leonardo: Die Stadt in der europäischen Geschichte, München 1999, S. 208. Boullée, Etienne-Louis: Architektur. Abhandlung über die Kunst, Zürich/München 1987, S. 107. Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995, S. 363f. Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life, Berkeley 1984, S. 117f. [Kursivsetzung im Original]. „In short, space ist a practice space. “ Ebenda, S. 115–130; Rodger, Richard: Theory, Practice and European Urban History, in: Ders. (Hg.): European Urban History: Prospect and Retrospect, Leicester 1993, S. 16; Lefebvre, Henri: La production de l’espace, 3. Aufl., Paris 1986, S. 54f. Thompson, Victora E.: Telling „Spatial Stories“: Urban Space and Bourgeois Identity in Early Nineteenth-Century Paris, in: The Journal of Modern History, 75 (2003), S. 526. „Middle-class individuals began during the late eighteenth century to use the urban landscape as a means to articulate their difference from the aristocracy.“ Im Übrigen verwendet Thompson den Begriff „middle-class“, der im Englischen für die Bezeichnung des Bürgertums üblich ist. Sennett, Fleisch und Stein, S. 365–368. Michelet, Jules: Histoire de la Révolution française. Édition établie et annotée par Gérard Walter, Paris 1952 [Erstausgabe: 1847], S. 1 (Préface de 1847). „L’Empire a sa colonne, et il a pris encore presque à lui seul l’Arc de Triomphe; la royauté a son Louvre, ses Invalides; la féodale église de 1200 trône encore à Notre-Dame […]. Et la Révolution a pour monument … le vide …“

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Anmerkungen

Loyer, François: Paris au XIXe siècle. L’immeuble et la rue, Paris 1987, S. 75–77. Zur „Haussmannisierung“ siehe u.a.: Ragon, Michel: Histoire de l’architecture et de l’urbanisme moderne, Bd. 1. Idéologie et pionniers 1800–1910, Paris 1986, S. 117–141, 284–288; Olsen, Donald J.: Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 65–76 ; Jones, Colin: Frankreich. Eine illustrierte Geschichte, Frankfurt a.M. 1995, S. 214 ; Benevolo, Leonardo: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt/ New York 1983, S. 835–852. Harvey, David: Paris. Capital of Modernity, New York 2003. Thompson, Telling „Spatial Stories“, S. 528f. Eisenman, Stephen F.: Manet and the Impressionists, in: Ders. (Hg.): Ninetheenth Century Art. A critical History. New Edition, London 2002, S. 283. „[…] the flaneur was a perpetual idler, browser, or window-shopper who saw the city of Paris as a spectacle created for his entertainment […].“ Eisenman betrachtet die „Flaneurie” und die modernen Malerei als zwei aufeinander bezogene Beispiele für die individuelle Reaktion auf die Symptome der städtisch geprägten bürgerlichen Welt. Benevolo, Geschichte der Stadt, S. 847. Benevolo, Die Stadt, S. 203f., 206. Pardailhé-Galabrun, Annick: La Naissance de l’intime. 3000 foyers parisiens. XVIIe– XVIIIe siècle, Paris 1988, S. 57. Loyer, Paris, S. 139; Marcus, Sharon: Apartment Stories. City and Home in NineteenthCentury Paris and London, Berkeley 1999, S. 24. Zur Problematik der Dichotomie von öffentlicher und privater Sphäre allgemein siehe auch: Döcker, Ulrike: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 278. Schrader, Fred E.: Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft 1550–1850, Frankfurt a.M. 1986, S. 65, 68. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, in: Ders.: Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 68. Ebenda, S. 69. Die bürgerliche Gesellschaft lässt sich somit als modernes Sozialsystem betrachtet. Zur sozialen Offenheit moderner Sozialsysteme siehe: Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 43. Suchanek-Fröhlich, Stefan: Kulturgeschichte Frankreichs, Stuttgart 1966, S. 414. Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, in: Pias, Claus u.a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Suttgart 1999, S. 99, 104. Chartier, Roger: Lectures et lecteurs dans la France d’Ancien Régime, Paris 1987; Ders.: Die Welt als Repräsentation, in: Middell, Matthias/Sammler, Steffen (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 328. Suchanek-Fröhlich, Kulturgeschichte Frankreichs, S. 414. Tocqueville, Der alte Staat, S. 123, 130. Zit. bei: Lope, Hans-Joachim: Französische Literaturgeschichte, 2., ergänzte Aufl., Heidelberg 1984, S. 204f. „Figaro, c’était la révolution en marche.“ Zu Beaumarchais siehe auch: Schulin, Die Französische Revolution, S. 228f. Suchanek-Fröhlich, Kulturgeschichte Frankreichs, S. 450.

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Tocqueville, Der alte Staat, S. 153. Wende, Peter: Einleitung, in: Ders. (Hg.), Große Revolutionen der Geschichte, S. 7–17. Baecque, Antoine de: La culture des Lumières, in: Ders./Mélonio, Françoise: Histoire culturelle de la France, Bd. 3. Lumières et liberté, Paris 1998, S. 51; Anderson, Bonnie S./Zinsser, Judith P.: Eine eigene Geschichte. Frauen in Europa, Bd. 2. Aufbruch. Vom Absolutismus bis zur Gegenwart, Zürich 1993, S. 125–136. Berger, Günther: Einleitung, in: Ders. (Hg.), Enzyklopädie, S. 18–24. Denis Diderot, zit. bei: Jones, Frankreich, S. 173. Kalifa, Dominique: La culture de masse en France, Bd. 1. 1860–1930, Paris 2001, S. 26. Lope, Französische Literaturgeschichte, S. 141 (Kursivsetzung im Original). Sennett, Fleisch und Stein, S. 423f.; Mennell, Stephen: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M. 1988, S. 184. Mennell, Kultivierung, S. 187–190; Aron, Jean-Paul: Le mangeur du 19e siècle, Paris 1989, S. 18f.; Spang, Rebecca L.: Aux origines du restaurant parisien, in: Girveau, Bruno (Hg.): À table au XIXe siècle. Paris 2001, S. 172–181; Dies.: The Invention of the Restaurant. Paris and Modern Gastronomic Culture, Cambridge, Mass./London 2000. Mercier, Louis Sebastien: Le Nouveau Paris, par le citoyen Mercier, Paris 1798, Kapitel CLIX (Kursiv im Original). „Ils se sont fait restaurateurs, et ont annoncé qu’ils allaient professer et pratiquer pour tout payant la science de la gueule, comme dit Montaigne.“ Mennell, Kultivierung, S. 190. Zeldin, Theodor: Histoire des passions françaises, Bd. 3. Goût et corruption, Paris 2003, S. 559. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19. Edouard Charton (1875), zit. bei: Poirrier, Philippe: L’État et la culture en France aux XXe siècle, Paris 2000, S. 19. „[…] développer […] le sentiment de l’amour du beau, […] soit pour le progrès de sa civilisation, soit pour sa gloire.“ Franco Moretti meint Ähnliches, wenn er bei der Analyse von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, einem Schlüsselwerk bürgerlicher Kultur, anstelle von Müßiggang den Begriff „Komfort“ verwendet: „Annehmlichkeit, Bequemlichkeit, Komfort: Darum geht es also! Wo das Nützlichkeitsdenken die Insel in eine Werkstatt verwandelt, kehrt mit dem Komfort der Genuß in Robinsons Dasein zurück […].“ (Moretti, Franco: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne, Berlin 2014, S. 71.) Monnier, Gérald: L’art et ses institutions en France. De la Révolution à nos jours, Paris 1995, S. 124f., 270; Germer, Stefan: Alte Medien – neue Aufgaben. Die gesellschaftliche Position des Künstlers im 19. Jahrhundert, in: Wagner, Monika (Hg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek b. Hamburg 1992, S. 98. Le Petit Parisien, 2. Mai 1880. Charle, Christophe: Histoire sociale de la France au XIXe siècle, Paris 1991, S. 248f. Gay, Peter: Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts, München 1999, S. 194. Thoré, T[héophile]: Le Salon de 1846. Précédé d’une lettre à George Sand, Paris 1846, S. 92f. „On ne saurait commencer une collection sans un Decamps, et tout homme qui

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Anmerkungen

a un Decamps est perdu; il se met à aimer la peinture; il lui faut des tableaux: le voilà collectioneur.“ Guerrand, Roger-Henri: Private Räume, in: Perrot (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4, S. 340f. Gay, Bürger und Boheme, S. 61f. Boehn, Max von: Vom Kaiserreich zur Republik. Eine Kulturgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert, München 1921, S. 373. Siehe dazu v.a.: Martin-Fugier, Anne: Les salons de la IIIe république. Art, littérature, politique, Paris 2003; Dies.: Riten der Bürgerlichkeit, in: Perrot (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4, S. 212–220. Le Figaro, 7. April 1909. „Grand succés pour tous ces admirables artistes.“ Zit. bei: Faucigny-Lucinge, Jean-Louis de: Un gentilhomme cosmopolite, Paris 1990, S. 94. „Connaissez-vous une autre ville au monde où l’on se précipiterait tous les jeudis chez un femme qui n’est ni jeune, ni belle, ni riche? Simplement parce qu’elle a de l’esprit. “ Mérimée, Prosper: Correspondance générale, 2e série, Bd. V. 1862–1863, Toulouse 1957, S. 110. „On trouve dans un salon un certain nombre d’opinions et d’idées toutes faites, qu’on prend et qu’on répand ailleurs. C’est un arsenal où l’on va puiser des munitions pour faire du bruit. […] Il faut attirer les gens d’esprit et les retenir. Il faut fair agréer leur esprit à ceux qui n’ont que des titres ou de l’argent.“ Pierre Larousse: Grand Dictionnaire universel, zit. bei: Martin-Fugier, Les salons, S. 328. „Les salons sont morts. Quelques personnes les regrettent, déplorant ce qu’ils appellent la perte de l’esprit de conversation. S’il faut entendre par là l’art de débiter des riens en style élégant, l’art de perdre ennuyeusement son temps, nous serons les derniers à nous plaindre que l’esprit français se soit enfin tourné vers les affaires et les pensées sérieuses.“ Martin-Fugier, Les salons, S. 95. „Les élites républicaines font désormais partie intégrante du tissu mondain parisien.“ Daudet, Léon: Souvenirs et polémiques, Paris 1992, S. 20. Martin-Fugier, Les salons, S. 68–70. Braun, Rudolf/Gugerli, David: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914, München 1993, S. 184f. „Le Bal du Moulin de la Galette“ gilt als beispielhaft für den Impressionismus, der in maltechnischer Hinsicht der klassizistischen Tradition, die der traditionelle Pariser Salon verkörperte, widersprach. Während die meisten Gemälde, die im Salon ausgestellt wurden, glatt und ebenmäßig sowie die dargestellten Personen idealisiert waren, zeichneten sich die impressionistischen Gemälde durch breite Pinselstriche aus, die den Eindruck von Individualismus vermitteln (Eisenman, Manet and the Impressionists, S. 290). Letztlich stand aber der Impressionismus ebenso wenig wie der Naturalismus oder andere Kunststile in tatsächlicher Opposition zum akademischen System, sondern bildete lediglich einen Bestandteil des künstlerischen Diskurses, der auch zur gegenseitigen Beeinflussung der unterschiedlichen Stile führte (S. 180–207). Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 70f. Schrader, Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, S. 113–116. Braun/Gugerli, Macht des Tanzes, S. 212f., 270. Elias, Prozeß der Zivilisation, S. 133.

Kapitel 1

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104 Mennell, Kultivierung, S. 58f.; Flandrin, Jean-Louis: L’ordre de succession des mets aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Kolmer, Lothar/Rohr, Christian: Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen, Paderborn u.a. 2000, S. 167–186; Hellmuth, Thomas/Hiebl, Ewald: Trinkkultur und Identität. Bemerkungen zu einer neuen Kulturgeschichte des Trinkens, in: Ebenda, S. 217f.; Aron, Jean-Paul: Biologie et Alimentation au XVIIIe siècle et au debut du XIXe siècle, in: Annales d’histoire économique et sociale, 16/2 (1961), S. 971–977; Camporesi, Piero: Der feine Geschmack. Luxus und Moden im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 55–64. Zu Rousseau siehe etwa die Ausführungen in seinem Erziehungsroman „Émile“: Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation, Paris 1999, S. 244–251. 105 Schulin, Die Französische Revolution, S. 228. 106 Hunt, Symbole, S. 96–109; Vigarello, Georges: Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 165–171; Weber-Kellermann, Ingeborg: Die Kindheit. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M./Leipzig 1997, S. 100. 107 Jaucourt, François Arnail de: Sensibilité – Empfindsamkeit, in: Berger (Hg.), Enzyklopädie, S. 275. 108 Mennell, Kultivierung, S. 58f.; Zeldin, Histoire 3, S. 551; Dubois, Urbain/Bernard, Émile: La Cuisine Classique. Études pratiques, raisonnées et démonstratives de l’école française appliqué au service à la russe, Bd. 1, 5. Aufl., Paris 1872; Dubois, Urbain: Cuisine artistique. Études de l’école moderne, 2. Aufl., Paris 1882. 109 Vitu, Auguste: Le Figaro Illustre, in: Le Figaro, 15. April 1890. „Un public de lecteurs, de plus en plus nombreux, a pris goût à cette littérature de luxe artistique, à cette art délicat et décoratif à la fois […]. Or nous vivons à une époque où les gourmets en toute chose ne veulent plus attendre, et sont habitués à se faire servir non plus selon l’ordre naturel de saison, mais selon les exigences immédiates de leur goût raffiné. Nos pères se contentaient de manger les petits pois au printemps, les cerises en été, les chasselas en automne. Les progrès de la culture, le developpement des communications rapides ont changé les saisons et rapproché les latitudes. On sert sur nos tables d’hivers les petits pois, les asperges, les raisins et les fraises. Les serres chaudes y pourvoient, comme aussi les midi de l’Europe et les Indes Orientales […].“ 110 Zu den französischen Kochbüchern und ihrer Vorbildwirkung siehe: Hyman, Mary/ Hyman, Philip: Livres et cuisine au XIXe siècle, in: Girveau (Hg.), À table au XIXe siècle, S. 80–89; Bruegel, Martin/Laurioux, Bruno: Introduction. Histoire et identités alimentaires en Europe, in: Dies. (Hg.): Histoire et identités alimentaires en Europe, Paris 2002, S. 14. 111 Scholliers, Peter: L’invention d’une cuisine belge. Restaurants et sentiments nationaux dans un jeune État, 1830–1930, in: Bruegel/Laurioux (Hg.), Histoire et identités alimentaires, S. 156: „Paris était la norme, et c’était un immense hommage pour les meilleurs restaurants de Bruxelles que de se voir comparés à ceux de Paris.“ 112 Zum „Service à la français“ und „Service à la russe“ siehe u.a.: Dubois/Bernard, La Cuisine Classique, S. XV–XVII; Zeldin, Histoire 3, S. 551; Rambourg, Patrick: Histoire de la cuisine et de la gastronomie françaises. Du Moyen Âge au XXe siècle, Paris 2010, S. 227–229. 113 Garrier, Gilbert: Histoire sociale et culturelle du vin, Paris 1998, S. 265; Flandrin, Jean-

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Anmerkungen

Louis: Chronique de platine. Pour une gastronomie historique, Paris 1992. Flaubert, Gustave: Éducation sentimentale. Histoire d’un jeune homme. Nouvelle édition, Paris 1889 [Erstausgabe: 1869], S. 168. „Les bouteilles des vin chauffaient sur le poêle […].“ Zur Bedeutung der Ernährung für die Konstitutierung sozialer Gruppen, damit verbunden für soziale Abgrenzung und die Bildung kollektiver Identitäten siehe: Bruegel/ Laurioux, Histoire et identités alimentaires, S. 9–19. Chatillon-Plessis: La Vie à table à la Fin du XIXe siècle. Théorie pratique et historique de gastronomie moderne, Paris 1894, S. 123f.; Ders.: Figaro Gourmand, in: Le Figaro. Supplément litteraire, 21. Dezember 1889; Girveau, Bruno: La comédie alimentaire, in: Ders. (Hg.), À table au XIXe siècle, S. 25. Dubois/Bernard, La Cuisine Classique, S. IX. „Le ligne doit être très blanc, il est le fond du décor.“ Chatillon-Plessis, La Vie à Table, S. 8. „Pour bien manger il faut être au moins deux, au plus douze. Seul, à table, le dineur souffre de ne pouvoir parler des satisfactions ressenties. En trop nombreuse compagnie, il risque d’être distrait des méditations que les mets doivent inspirer.“ Corcellet-Prévost, Emmanuelle: L’épicerie fine au XIXe siècle: Chevet, Corcellet et les autres …, in: Girveau (Hg.), À table au XIXe siècle, S. 79; Zeldin, Histoire 3, S. 561. Garriere, Histoire sociale et culturelle, S. 266. Chatillon-Plessis, La Vie à table, S. 103 (Kursivsetzung im Original). „Quand M. le Président de la République fit son entrée dans la salle du banquet, un silence ‚tumulteux‘ s’établit, tandis que tout un coup une musique dissimulée derrière des tentures commençait la Marseillaise.“ Girveau, La comédie alimentaire, S, 23. „Les cuisiniers (et les architectes pour le décor) seraient donc les metteurs en scène, les aides-cuisiniers des machinistes et les serveurs de machinistes-acteurs.“ Zola, Émile: Nana. Roman, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 119. Proust, Marcel: Unterwegs zu Swann, in: Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1 und 2, Frankfurt a.M. 2018, S. 43. Martin-Fugier, Riten der Bürgerlichkeit, S. 216f. Im Film „Le sang d’un poète“ (1930) von Jean Cocteau wird etwa am Ende eine theaterähnliche Situation inszeniert, die Bürger zur Selbstrepräsentation nutzen (S. 231). De Lesseps, Ferdinand: Question du canal de Suez, Paris 1860, S. 2f., 29f. L’Illustration, 6. November 1858. Siehe dazu auch: Girveau, La comédie alimentaire, S. 34f. Chatillon-Plessis, La Vie à table, S. 85. „[…] un événement unique dans les faits gastronomiques. […] les merveilles de la fête étaient surtout dans les foyers et galeries, où le plus étonnant spectacle culinaire était donné.“ Wolf, Norbert: Kunst-Epochen, Bd. 10. 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 136. Ebenda, S. 168–170. Zola, Nana, S. 113. Kaufmann, Anette: Die Fantome des Hutmachers, in. Koebner, Thomas (Hg.): Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, Bd. 4, 4., durchgesehene und erweiterte Ausgabe, Stuttgart 2002, S. 35.

Kapitel 1

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275

Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rat für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron; der erwachsneren weiblichen Jugend gewidmet (1789), in: Lange, Sigrid (Hg.): Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatte um 1800, Leipzig 1992, S. 26. 134 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755, S. XLV–XLVI. „Pourrais-je oublier cette précieuse moitié de la République qui fait le bonheur de l’autre, & dont la douceur & la sagesse y maintiens tiennent la paix & les bonnes moeurs?“ 135 Crampe-Casnabet, Michèle: Aus der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Farge, Arlette/Zemon Davis, Natalie (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. 3, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 336. 136 Kant, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Neueste Aufl., Graz 1797, S. 62. 137 Montesquieu, Charles de: Vom Geist der Gesetze. In neuer Übertragung, eingeleitet und herausgegeben von Ernst Forsthoff, Bd. 1/16, Tübingen 1951, S. 352f. 138 Campe, Väterlicher Rat, S. 27. 139 Crampe-Casnabet, Aus der Philosophie, S. 349f.; Martin-Fugier, Anne: La bourgeoise. Femme au temps de Paul Bourget, Paris 1983, S. 10f., 16; Joutard, Philippe: L’ouverture des connaissances et les mutations culturelles 1871–1918, in: Duby, Georges (Hg.): Histoire de la France de 1852 à nos jours, Paris 1987, S. 182, 196; Anderson/Zinsser, Eine eigene Geschichte, S. 175; Daumard, Adeline: Les Bourgeois et la Bourgeoisie en France depuis 1815, Paris 1991, S. 208–215. 140 Legouvé, Ernest: Les pères et les enfants au XIXe siècle, Bd. 1. L’Enfance, Paris o.J. (1867), S. 64. „Les mœurs sont telles qu’une femme à qui son marit dit: ‚je vous ordonne‘ ne perd rien de sa dignité par cet ordre […].“ 141 Martin-Fugier, La bourgeoise, S. 11. „Elle n’echappe pas à l’impératif moral qui veut que chacun produise quelque chose d’utile pour la société.“ 142 Juranville, Clarisse: Le Savoire-Faire et le Savoir-Vivre, 25. Aufl., Paris 1879, § 99. „On peut juger d’une jeune fille en visitant sa chambre. On voit tout de suite ses aptitudes de femme de ménage.“ 143 Zola, Émile: Pot-Bouille, Paris o.J. [1883], S. 56. „la bouche fendue, les dents féroces, […], un furieux appétit de gendres […].“ 144 Martin-Fugier, La bourgeoise, S. 22. 145 Schmale, Wolfgang: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien/Köln/ Weimar 2003, S. 154. Siehe dazu auch: Crampe-Casnabet, Aus der Philosophie, S. 333– 366. 146 Zu dieser Funktion der Ehegattin, die Isabel V. Hull am deutschen Beispiel beschreibt, die allerdings – wie in den Arbeiten Corbins indirekt deutlich wird – durchaus auch auf Frankreich übertragbar ist, siehe: Hull, Isabel V.: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815, Ithaca 1996; Corbin, Alain: Les filles de noce. Misère sexuelle et prostitution. 19e et 20e siècle, Paris 1978. 147 Aron, Jean-Paul/Kempf, Roger: Der sittliche Verfall. Bourgeoisie und Sexualität in Frankreich, Frankfurt a.M. 1983, S. 121f. 148 Berlière, Jean-Marc: La police de mœurs, Paris 2016, S. 20–24; Parent-Duchâtelet, Alexandre Jean-Baptise: De la prostitution dans la ville de Paris, considérée sous le rapport

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Anmerkungen

de l’hygiène publique, de la morale et de l’administration, Bd. 1. Troisième edition, Paris 1857 [Erstausgabe: 1836], S. 364f. 149 Corbin, L’arithmétique des jours au XIXe siècle, in: Ders.: Le Temps, le désir et l’horreur. Essais sur le XIXe siècle, Paris 1991, S. 16. „[…] elle ne dispose, pour s’exhiber, que du court intervalle qui respecte l’horaire de travail des ses éventuels clients.“ 150 Siehe dazu etwa die Beispiele bei: Berlière, La police des mœurs, S. 7–15. 151 Aron/Kempf, Der sittliche Verfall, S. 123. 152 Corbin, Alain: Kulissen, in: Perrot (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4, S. 574. 153 Aron/Kempf, Der sittliche Verfall, S. 119. 154 Tissot, Samuel Auguste André David: L’Onanisme. Ou Dissertation physique sur les maladies produites par la masturbation. Nouvelle édition, Paris 1836. Siehe dazu: Aron/ Kempf, Der sittliche Verfall, S. 118; Corbin, Alain: La rencontre des corps, in: Ders. (Hg.): Histoire du corps, Bd. 2. De la Révolution à la Grande Guerre, Paris 2005, S. 163. 155 Gay, Peter: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986, S. 305. 156 Corbin, Kulissen, S. 462f. 157 Demeaux, J.-B.-D.: Bericht über einige hygienische Maßnahmen, die in staatlichen Erziehungsanstalten eingeführt werden sollten (1849), zit. bei: Aron/Kempf, Der sittliche Verfall, S. 154. 158 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1991, S. 70. 159 Burrow, John Wyon: Die Krise der Vernunft. Europäisches Denken 1848–1914, München 2003, S. 76, 120, 157f. 160 Lamarck, Jean-Baptiste: Philosophie zoologique. Tome première, Paris 1809, S. 217. „[…] les circonstances d’habitation exercent une grande influence sur les actions des animaux, et […] modifient l’organisation et la forme […].“ 161 Braun/Gugerli, Macht des Tanzes, S. 174f. 162 „Le Drapeau“ erschien von 1881 bis 1901 und war eng mit der „Ligue des patriotes“ verbunden, die sich dem chauvinistischen Nationalismus verschrieben hatte und General Boulanger (S. 248) unterstützte. 163 Le Drapeau, zit. bei: Chambat, Pierre: „Les muscles de Marianne. Gymnastique et bataillons scolaires dans la France des années 1880, in: Ehrenberg, Alain (Hg.): Aimezvous les stades? Les origines des politiques sportives en France 1870–1930, Paris 1980, S. 163. „La gymnastique ne doit pas seulement développer les forces physiques, mais aussi les principes de tenue et de discipline sans lesquels tout citoyen ne peut rendre de véritable servic à la patrie.“ Siehe dazu auch: Vigarello, Georges/Holt, Richard: Le corps travaillé. Gymnastes et sportifs au XIXe siècle, in: Corbin (Hg.), Histoire du corps 2, S. 365–371; Arnaud, Pierre/Gounot, André: Mobilisierung der Körper und republikanische Selbstinszenierung in Frankreich (1879–1889). Ansätze zu einer vergleichenden deutsch-französischen Sportgeschichte, in: François, Etienne u.a. (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 300–320; Faure, Jean-Michel: Nationalstaaten und Sport, in: Ebenda, S. 321–341. 164 Vigarello/Holt, Le corps travaillé, S. 328–330. 165 Le Drapeau, 9. März 1882, zit. bei: Chambat, Les muscles de Marianne, S. 146.

Kapitel 1

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166 Vigarello/Holt, Le corps travaillé, S. 367f., 370f.; Spivak, Marcel: L’École patriotique d’après 1871, in: Fisch, Stefan/Ganzy, Florence/Metzger, Chantal (Hg.): Lehren und Lernen in Frankreich und Deutschland – Apprendre et enseigner en Allmagne et en France, Stuttgart 2007, S. 33–40. 167 Vigarello/Holt, Le corps travaillé, S. 376. „[…] un signe de modernité, un gage d’essor“. 168 Lallemend, François: Des pertes séminales involontaires, Bd. 1, Paris 1836, S. 6. 169 Demeaux, J.-B.-D.: Mémoire sur l’Onanisme et sur le moyens d’en prévenir ou d’en réprimer les abus dans les etablisséments consacré à l’instruction publique, Paris 1856. 170 Aron/Kempf, Der sittliche Verfall, S. 163. 171 Siehe dazu z.B.: Lallemend, Des pertes séminales involontaires 1. 172 Aron/Kempf, Der sittliche Verfall, S. 179f. 173 Corbin, Kulissen, S. 463. 174 Corbin, Alain: La mauvaise éducation de la prostituée au XIXe siècle, in: Ders.: Le Temps, le désir et l’horreur. Essais sur le XIXe siècle, Paris 1991, S. 110. 175 Beispiele für bildliche Darstellungen des Ehebruches siehe bei: Corbin, Kulissen, S. 567f. 176 Corbin, L’arithmétique, S. 113. Zur Symbolbedeutung des Haarabschneidens siehe: Herder-Lexikon Symbole, 4. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1996, S. 66f. 177 Higonnet, Anne: Bilder – Schein und Erscheinung, Muße und Subsistenz, in: Fraisse, Geniève/Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. 4. 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York, S. 295. 178 Mélonio, Françoise: Vers une culture démocratique, in: Baecque/Dies., Histoire Culturelle de la France 3, S. 325f. 179 Joutard, L’ouverture, S. 186. 180 Sonnet, Martine: Mädchenerziehung, in: Farge/Zemon Davis (Hg.), Geschichte der Frauen 3, S. 126. 181 Baecque, Antoine de: Les usages communs de la culture, in: Ders./Mélonio, Histoire culturelle de la France 3, S. 83. 182 Rousseau, Émile ou de l’éducation, S. 87f. „Dans l’ordre naturel les hommes étant tous egaux leur vocation commune et l’état d’homme, et quiconque est bien élevé pour celui-là ne peut mal remplir ceux qui s’y rapportent.“ 183 Oberkirch, Heriette-Louise de Waldner de Freunstein, Baronne d’: Mémoires. Edition présentée et annotée par Suzanne Burkard, Paris 1970 (1. Ausgabe 1789), S. 295. Siehe dazu auch: Weber-Kellermann, Die Kindheit, S. 100. 184 Buffon, Georges-Louis Leclerc comte de: Histoire naturelle, générale et particulière, 15 Bände, Paris 1749–1767. 185 Richter, Dieter: Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a.M. 1987, S. 139–142, 146. 186 Itard, Jean: De l’Education d’un homme sauvage, ou Des premieres développements physiques et moraux du jeune sauvage de l’Aveyron, Paris 1801; Ders.: Rapport fait à Son Excellence le Ministre de l’Intérieur sur l’Etat actuel du Sauvage de l’Aveyron, Paris 1807. 187 Leder, Dietrich: Der Wolfsjunge, in: Koebner, Thomas (Hg.): Filmklassiker, Bd. 3, Stuttgart 2002, S. 193. Siehe dazu auch: Winkler, Willi: Die Filme von François Truf-

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Anmerkungen

faut, München 1984, S. 111–122; Collet, Jean: Le cinéma de François Truffaut, Paris 1977 (Collection Cinéma permanent). Winkler, Die Filme von François Truffaut, S. 118. Diderot, Droit naturel, S. 99. Rousseau, Émile ou l’éducation, S. 98. „Un père, quand il engendre et nourrit des enfants ne fait en cela que le tiers de sa tâche. Il doit des hommes à son espéce, il doit à la societé des hommes sociables, il doit des citoyens à l’Etat.“ Rousseau, Emile ou l’éducation, S. 529f. „Ainsi toute l’éducation des femmes doit être rélative aux hommes. Leur plaire, leur être utiles, se faire aimer et honorer d’eux, les élever jeunes, les soigner grands, les conseiller, les consoler, leur rendre la vie agréable et douce, voilà les devoirs des femmes dans tous les temps, et ce qu’on doit leur apprendre dès leur enfance.“ Mayeur, Françoise: Mädchenerziehung: das laizistische Modell, in: Fraisse/Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen 4, S. 256. Quiroul, Pierre: Les lycées de demoiselles, in: Le Figaro, 24. Januar 1880. „La femme qui n’est pas obligée au travail pour vivre doit demeurer à la maison, car c’est de là qu’elle rayonne. Elle n’a besoin d’aucune influence au dehors; chez elle la sienne est assez grande. Son titre est d’être mère, sa couronne, les cheveux qu’elle natte sur la tête de sa fille et sa gloire, de faire de son fils un homme! […] La mère, c’est la bonté, la douceur, la faiblesse; celle qu’on ne craint jamais et qu’on aime toujours! […] La grande étude pour ma femme est de savoir ce que j’ignore et de faire ce que je ne pourrais pas. […] Je ne lui demande que la science du cœur et je doute que ce soient les lycées qui la lui donnent. – Nous nous sommes mariés, mois pour l’aimer, elle pour me le rendre. Mais quant à l’entendre me lire l’Illiade à livre ouvert, j’avoue que je n’y tiens pas. – Je préfère un plat sucré.“ Sonnet, Mädchenerziehung, S. 127. Martin-Fugier, Anne: La vie d’artiste au XIXe siècle, Paris 2007, S. 64–68. Balzac, Honoré de: La Vendetta, in: Ders.: Scènes de la vie privée. Tome 1, Paris 1830, S. 24f. „Servin devint donc une nécessité, une autorité, une spécialité, une célébrité pour la peinture féminine une spécialité, comme Herbault pour les chapeaux, Leroy pour les modes et Chevet pour le comestibles.“ Martin-Fugier, Riten der Bürgerlichkeit, S. 229; Weber-Kellermann, Die Kindheit, S. 84, 192–230. Girveau, La comédie alimentaire, S. 22–24. Kalifa, La culture de masse, S. 9. Jean Macé (1815–1894) stammte aus dem Arbeitermilieu, war Pädagoge, Lehrer, Journalist und Politiker. 1866 gründete er die „Ligue de enseignement“ (Verein für Bildung), die in der französischen Provinz 25.000 Zweigstellen besaß und somit die Volksbildung föderte. Joutard, L’ouverture, S. 186. Mélonio, Vers une culture démocratique, S. 297; Hennig, Jean-Luc: Der Hintern. Geschichte eines markanten Körperteils, 2. Aufl., München 2002, S. 96. Perrot, Michelle: Rollen und Charaktere, in: Dies. (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4, S. 165. Joutard, L’ouverture, S. 187f.

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Ernest Lavisse, zit. bei: Nora, Pierre: Ernest Lavisse: son rôle dans la formation du sentiment national, in: Revue Historique, 228/1 (1962), S. 81. „Le grand office de l’histoire est de suivre la route humaine […].“ Nora, Pierre: Lavisse, instituteur national. Le „Petit Lavisse“, évangile de la Republique, in: Ders. (Hg.): Les lieux de mémoire, Bd. 1, Paris 1997, S. 239–275. Siehe dazu auch: Rioux, Jean-Pierre: Laïcisations, massifications, sécessions (1885–1918), in: Ders./ Sirinelli, Jean-François: Histoire culturelle de la France, Bd. 4. Le temps de masse. Le vingtième siècle, Paris 1998, S. 24. Lavisse, Ernest/Casali, Dimitri: Histoire de France. De La Gaule à nos jours. Dessins de Marc-Olivier Nadel, Paris 2014 [basierend auf der Ausgabe von 1940]. Vries, Barbara de: „La Grand Nation“. Aufstieg und Fall eines Mythos? Konstrukte französischer Nationalidentität in französischen Schulbuchtexten und historiographisch-politischen Diskursen vom späten 19. Jahrhundert bis zum frühen 21. Jahrhundert, Bochum 2016, S. 135f. Lavisse, Ernest: Histoire de France. Cours Élémentaire, Paris 1913. Nora, Pierre: L’„Histoire de France“ de Lavisse. Pietas erga patriam, in: Ders. (Hg.), Les Lieux de Mémoire 1, S. 859. Eine deutschsprachige Übersetzung des Beitrages findet sich in: Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1998, S. 43–95. Ebenda, S. 890f. „Aucune histoire n’a, sans doute, fait un pareil effort pour souder le passé monarchieque au présent républicain; pour donner á l’aventure nationale sa cohérence et sa portée exemplaire. Pour la dynamiser dans ses profondeurs et la figer dans son actualité.“ Lavisse/Casali, Histoire de France (Buchrücken, Vorderseite). „L’Histoire ne s’apprend pas par cœur, elle s’apprend par le cœur“. Lavisse, Ernest: L’Histoire de France. Cours moyen, 21. Aufl., Paris 1923 (Buchrücken, Vorderseite). „Dans ce livre tu apprendras l’Histoire de France. Tu dois aimer la France parce que la nature l’a faite belle et son histoire l’a faite grande.“ Vries, La Grand Nation, S. 135. Ozouf, Jacques/Ozouf, Mona: „Le Tour de la France par deux enfants“. Le petit livre rouge de la République, in: Nora (Hg.), Les lieux de mémoire 1, S. 287. „[…] que la grandeur d’un pays ne tient pas à l’étendue de son territoire mais la force à d’âmes des Français, […] à la totalité d’une histoire […].“ Bruno, G.: Le Tour de la France par deux enfants. Devoir et Patrie, Livre de lecture courante, Paris 1877, S. III. „[…] la connaissance de la patrie. […] s’ils le [leur pays, Anm. d. V.] connaissaient mieux […], ils l’aimeraient encore davantage et pourraient encore mieux le servir.“ Rioux, Laïcisations, S. 26f. Auf die Problematik des Begriffes „éducation“ (Erziehung), der dem der „instruction“ (Bildung) gegenübersteht, sei hier nicht explizit eingegangen. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass „Erziehung“ der Selbstbestimmung bzw. „Mündigkeit“, die im Zentrum der pädagogischen Intentionen der Aufklärung stand, gleichsam im Wege steht. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit, 15. Aufl., München 2003, S. 398–402. Bauvois Cauchepin, Jeannie: Apprendre à étre citoyen dans les républiques allemandes et françaises du premier XXe siècle, in: Fisch/Ganzy/Metzger (Hg.): Lehren und Lernen, S. 104–118.

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Lavisse, Ernest: Essais sur l’Allemagne impériale, Paris 1888, S. 278. „Il n’y a pas de doute que nous avons chargé de représenter la cause de l’humanité.“ Schrader, Fred E.: Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft 1550–1850, Frankfurt a.M. 1986, S. 69. François Marie Voltaire, zit. bei: Tulard, Jean: Frankreich im Zeitalter der Revolutionen 1789–1851, Stuttgart 1989, S. 23. Lejeune, Dominique: La France de la Belle Époque. 1896–1914, Paris 2000, S. 110–118. Am 7. April 1795 wurde das metrische System gesetzlich eingeführt, wobei sich dieses in der Praxis nur allmählich durchsetzte. Baecque, Antoine de: La politisation de la culture, in: Ders./Mélonio, Françoise: Histoire culturelle de la France, Bd. 3. Lumières et Liberté, Paris 1998, S. 162. Le Petit Parisien, 25. Juli 1880. „L’idée social est dans la nuit du 4 août, dans la fête de la Fédération; dans les quartorze armées de citoyen courant aux frontières; dans l’unité de législation, des poids, de mesure, de monnaie décretée et appliquée; dans le morcellement de biens nationaux; dans l’œuvre complête enfin des hommes de la première Révolution, dont la logique inflexible marchait tout droit, à travers les cadavres de leurs victimes, à l’émancipation complète et définitive de l’homme par l’entière et véritable égalité.“ Vovelle, Michel: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt a.M. 1985, S. 111. Émile Zola an Henri Fouquier, 26. April 1882, zit. bei: Gay, Peter: Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts, München 1999, S. 14. Gustave Flaubert, zit. bei: Gay, Peter: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986, S. 50. Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 43. Ernest Lavisse, zit. bei: Nora, Pierre: L’„Histoire de France“ de Lavisse. Pietas erga patriam, in: Ders. (Hg.): Les Lieux de Mémoire, Bd. 1, Paris 1997, S. 890. „La France va-t-elle donc s’embourgeoiser? S’il en était ainsi, il n’y aurait plus à proprement parler de bourgeoisie: il y aurait la nation, complète enfin.“ Eine deutsche Übersetzung des Beitrages findet sich in: Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1998, S. 43–95. Koselleck, Reinhard: Geschichte I, V–VII, in: Brunner, Otto (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttart 1975, S. 593–595, 647–717. Herder, Johann Gottfried: Ideal einer Schule, in: J. G. v. Herders sämmtliche Werke. Zur Philosophie und Geschichte. Zwölfter Theil, Karlsruhe 1820, S. 313f. Pandel, Hans-Jürgen: Historiker als Didaktiker – Geschichtsdidaktisches Denken in der deutschen Geschichtswissenschaft vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: Bergmann, Klaus/Schneider, Gerhard (Hg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980, Düsseldorf 1982, S. 104–131. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1985. Dies setzt voraus, dass eine Nation als dauerhafte Sozialgemeinschaft verstanden wird,

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zu deren Bildung sich Menschen aufgrund gemeinsamer Interessen entschlossen haben und die sich – etwa durch eine vermeintlich gemeinsame Kultur und Geschichte, die einen hohen Grad an Konstruktion bzw. Erfindung aufweisen – von anderen Sozialgemeinschaften unterscheidet. Freilich sind Nationen im Wesentlichen „von oben“ konstruiert, erwecken aber „unten“ Hoffnungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte und beeinflussen daher auch das kommunikative Gedächtnis. Zur Definition von Nation siehe u.a.: Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 20–22. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 10. Ebenda. Siehe dazu auch: Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 21–61; Dies.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003. Poirrier, Philippe: L’État et la culture en France au XXe siècle, Paris 2000, S. 16f. „La dialectique entre protection et ‚vandalisme‘ […].“ Nora, L’„Histoire de France“, S. 851f. Gauchet, Marcel: Les „Lettres sur l’histoire de France“ d’Augustin Thierry, in: Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoire 1, S. 787. Michelet, Jules: Discours sur l’unité de la science, in: Ders.: Œuvres complètes, Bd. 1. 1798–1827, Paris 1971, S. 250. „L’homme n’est plus un tout isolé, mais une partie de cet être collectif qu’on appelle humanité. […] Ainsi […] les générations peuvent disparaître, les races périr, la pensée commune subsiste; […] elle fait l’identité du genre humain, comme le mémoire et la conscience font celle de l’individu.“ Zu Michelet siehe u.a.: Zeldin, Theodore: Histoire des passions françaises, Bd. 5. Anxiété et hypocrisie, Paris 2003, S. 56f.; Gauchet, Les „Lettres sur l’histoire“, S. 835–843. Nora, L’„Histoire de France“, S. 859, 890f. Thiesse, Anne-Marie: La création des identités nationales. Europe XVIIIe–XXe siècle, Paris 1999, S. 50. Hunt, Lynn: Symbole der Macht. Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a.M. 1989, S. 98. Wolf, Norbert: Kunst-Epochen, Bd. 10. 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 60. Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, 6. Auflage, München 1994. Die École politechnique war 1794/95, also während der Französischen Revolution, gegründet worden und kann als Ausdruck der revolutionären Bestrebungen auch in der Architektur interpretiert werden. Durand, J[ean] N[icolas] L[ouis]: Précis des leçons d’architecture donées à l’École polytechnique, Bd. 1, Paris 1802. In Frankreich werden die Schulstufen von oben nach unten gezählt, d.h. der Eintritt in den Sekundärunterricht beginnt nach der fünfjährigen Grundschule mit der „sixième“, der sechsten Schulstufe, und endet mit der „troisième“, der dritten Schulstufe. Winock, Michel: La Belle Époque. La France de 1900 à 1914, Paris 2002, S. 307f. Goblot, Edmond: La Barrière et le Niveau. Étude sociologique sur la bourgeoisie française moderne, neue Auflage, Paris 1967. „Le bourgeois a besoin d’une instruction qui demeure inaccessible au peuple […]. Et cette instruction, il ne suffit pas qu’il l’ait reçue;

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car on pourrait ne pas s’en apercevoir. Il faut encore qu’un diplôme d’État, un parchemin signé du ministre, constantant officiellement qu’il a appris le latin, lui confère le droit de ne pas le savoir.“ Schmale, Wolfgang: Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2000, S. 23. Lavisse nimmt hier die Grundthese von Benedict Anderson vorweg, wonach Nationen keine natürlichen Entitäten, sondern Konstruktionen seien: Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2., um ein Nachwort von Thomas Mergel erweiterte Aufl. der Neuausgabe von 1996, Frankfurt a.M. 2005. Aleida Assmann betrachtet daher Ernest Renan als Vorreiter der modernen Nationstheorie, zumal er „nicht die unveräußerlichen Merkmale des gleichen Blutes, der gleichen Sprache, der gleichen Riten, der gleichen Sitten“ als Grundlage der Nation nenne, sondern „das moderne, aus dem Geist der Französischen Revolution geborene Konzept einer demokratischen Willensnation, deren Zusammenhalt nicht auf einen primordialen gemeinsamen Ursprung zurückgeht, sondern durch ein tägliches Plebiszit erneuert werden muss“. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 38 [Kursivsetzung im Original]. Ariovist, ein germanischer Heerführer, der das linksrheinische Gebiet besetzte und weitere Gebiete von Rom forderte. Laut Cäsars Ausführungen in den „Comentarii de bello Gallico“ wurde er 58 v. Chr., nach ergebnislosen Verhandlungen, vernichtend geschlagen. Ariovist konnte über den Rhein entkommen und starb angeblich 54 v. Chr. Lavisse, Essais sur l’Allemagne, S. 278. „La nation en Allemagne est une race […]. Est-ce que la France est une race? Un certain nombre de braves gens sont occupés aujourd’hui à procurer une statue à Vercingétorix, mais il y a bien moins de rapports entre le Gaulois Vercingétorix et nous qu’entre le Germain Arioviste et les Allemands. […] En vérité, nous sommes loin, trés loin de Vercingétorix.“ Nicolet, Claude: La fabrique d’une nation. La France entre Rome et les Germains, Paris 2003, S. 276; Gay, Peter: Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 1996, S. 293f. Zur „Académie“ siehe: Mémoires de l’Académie celtique ou Recherche sur les Antiquités Celtiques, Gauloises et Françaises, 6 Bände, Paris 1807–1812. Michel-Ange-Bernard Mangourit, zit. bei: Ozouf, Mona: L’École de la France. Essais sur la Révolution, l’utopie et l’enseignement, Paris 1984, S. 345. „Tout ce qui dépasse l’horizon historique, tout ce qui nous paraît éternel […], porte une inauguration cel­ tique.“ Nisard, Charles: Des chansons populaires chez les anciens et chez les Français. Essai historique suivi d’une étude sur la chanson des rues contemporaine, Bd. 1, Paris 1867, S. II. „[…] j’y ai été contraint, en quelque sorte, en parlant des bardes, poëtes communs aux Scandinaves et aux Gaulois, et dont la fonction, chez l’un et l’autre, était identique.“ La Tour d’Auvergne-Corret, Théopile Malo de: Nouvelles Recherches sur la langue, origine et les antiquités des Bretons pour servir à l’histoire de ce peuple, Bayonne 1792. Thiesse, La création des identités, S. 53. Chlodwig I. bzw. Clovis I. (466–511), Frankenkönig aus dem Geschlecht der Merowinger, der durch seine Siege gegen die Römer, Alemannen und Westgoten das Frankenreich begründete und Paris zu dessen Hauptstadt machte. Hugo Capet (um 940–996), Graf von Paris, Ahnherr der Kapetinger, von 987–996

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König des westfränkischen Reiches, der sich allerdings kaum gegen die großen Lehensherren durchsetzen konnte. Dennoch repräsentiert er für Lavisse „das Ganze, jenseits der Teilung und Unterteilung unseres Bodens. In ihm ruht die Einheit Frankreichs.“ Ernest Lavisse, zit. bei: Nora, L’„Histoire de France“, S. 890. „Il représentait, au-dessus des divisions et des subdivisions de notre sol, l’ensemble. En lui résidait l’unité de la France.“ Jullian, Camille: De la Gaule à la France. Nos origines historiques, Paris 1922. Thiesse, La création des identités, S. 48, 54. La Villemarqué, Théodore Hersart de: Poèmes des bardes bretons du VIe siècle, traduits pour la première fois, avec le texte en regard, revu sur les plus anciens manuscrits, Paris 1850. Nora, L’„Histoire de France“, S. 891. „Pour la dynamiser dans ses profondeurs […].“ Nicolet, La fabrique d’une nation, S. 267. „[…] comme d’une autre création, que le reste du peuple […].“ Zur These der Existenz zweier Stämme siehe auch: Pomian, Krysztof: Francs et Gaulois, in: Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoires, Bd. 2, Paris 1997, S. 2245–2300; Schmale, Geschichte Frankreichs, S. 26. Thierry, Jacques Nicolas Augustin: Lettres sur l’histoire de France. Dix ans d’études historiques, 10. Ausgabe, Paris 1851, S. 301–309. Thiesse, La création des identités, S. 51. Guizot, François Pierre Guillaume: Du Gouvernement de la France depuis la Restauration et du ministère actuel, Paris 1820, S. 2f. „Depuis plus de treize siècles, la France en contenait deux, un peuple vainqueur et un peuple vaincu. Depuis plus de treize siècles, le peuple vaincu luttait pour secouer le joug du peuple vainqueur. […] La lutte a continué dans tous les âges, sous toutes les formes, avec toutes les armes. Et lorsqu’en 1789, les députés de la France entière ont été réunis dans une seule assemblée, les deux peuples se sont hâtés de reprendre leur vieille querelle: le jour de la vider était enfin venu.“ Nicolet, La fabrique d’une nation, S. 268. Die Julimonarchie folgte auf die Julirevolution von 1830, welche die Restauration beendete und das Bürgertum erneut die Macht ergreifen ließ. Gestützt vom liberalen Großbürgertum bestieg Louis Philippe von Orléans den Thron. Seine liberale Herrschaft wird als Bürgerkönigtum bezeichnet, eine Mischform aus einer konstitutionellen und einer parlamentarischen Monarchie. Laborde, Alexandre de: Versailles ancien et moderne, Paris 1841, S. 11. Ebenda, S. 359. „Restaurez, embellir Versailles, changer sa destination, faire de la demeure d’un roi le temple de la gloire d’un peuple, n’était-ce déja pas une immense entreprise?“ Haskell, Francis: Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995, S. 300. Zum historischen Museum in Versailles siehe auch: Soulié, Eudore: Notice du Musée Impérial de Versailles, 2. Auflage, 3 Bände, Paris 1859–1861. Gaehtgens, Thomas W.: Versailles – de la Résidence Royale au Musée Historique: La Galerie des Batailles dans le Musée Historique de Louis-Philippe, Antwerpen 1984. Zur Beschreibung der Gemälde siehe: Laborde, Versailles, S. 360–371. Laborde, Versailles, S. 371. Orginalzitat: „[…] la mémoire des hommes courageux qui ont perdu la vie pour la défense et la gloire de leur pays.“

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Anmerkungen

Mit dem Frieden von Nijmegen 1679 beendete Frankreich den Krieg gegen Holland, der 1672 begonnen hatte. Neben der Franche-Comté fielen auch die Städte Valenciennes, Maubeuge und Cambrai an Frankreich unter Louis XIV. Gerson, Stéphane: Town, Nation, or Humanity? Festive Delineations of Place and Past in Northern France, ca. 1825–1865, in: The Journal of Modern History, 72/3 (2000), S. 628f. Bliet, Christian: Henri IV, Paris 2000, S. 241. Bernard, Paul/Redon, Frantz: Notre premier livre d’histoire. Cours élémentaire, Paris 1959, S. 66. „Voyez le visage ouvert et souriant du roi. Henri IV parle à la paysanne et à l’enfant. Il est l’ami des paysans: ‚Il n’y a rien de plus beau, disait-il, qu’un champ de blé au temps de la moisson.‘“ Ponson du Terrail, Pierre-Alexis de: La jeunesse du roi Henri. Roman historique, Paris 1864. Bliet, Henri IV, S. 305–307. Lamy, Michel: Jeanne d’Arc. Histoire vraie et genèse d’un mythe, Paris 1987, S. 453– 460; Krumeich, Gerd: Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie, Kultur, Politik, Sigmaring 1989, S. 133. Zur mysteriösen Herkunft siehe: Lamy, Jeanne d’Arc, S. 43–78. Zimmermann, Michael F.: Naturalismus unter dem Eiffelturm: Die Kunst auf der Weltausstellung von 1889, in: Gersmann, Gudrun/Kohle, Hubertus (Hg.): Frankreich 1871–1914. Die Dritte Republik und die Französische Revolution, Stuttgart 2002, S. 156f. Krumeich, Jeanne d’Arc; Ders.: Das Vichy-Regime und die Nationalheldin, in: Hirschfeld, Gerhard/Marsh, Patrick (Hg.): Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940–1944, Frankfurt a.M. 1991, S. 134. Zur Position Leos XIII. siehe: Kertzer, David I.: Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, München 2004, S. 226f., 237f. Lamy, Jeanne d’Arc, S. 457–460; Winock, Michel: Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 1982, S. 145f.; Krumeich, Vichy-Regime, S. 133. Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995, S. 357. Herder-Lexikon Symbole, 4. Auflage, Freiburg/Basel/Wien 1996, S. 67f. Sirel, Edmond: Les Lévres de la Nation, revolutionäres Flugblatt, Paris 1792, zit. bei: Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995, S. 363. Siehe dazu die drei Bände von Maurice Agulhon, der die Entwicklung Mariannes bis in die Gegenwart verfolgt: Agulhon, Maurice: Marianne au combat. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1789 à 1880, Paris 1979; Ders.: Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1880 à 1914, Paris 1989; Ders.: Les Métamorphoses de Marianne. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1914 à nos jour, Paris 2001. Agulhon, Marianne au combat, S. 24f., 27f. Les Révolutions de Paris, 23.–30. brumaire, l’an II, zit. bei: Hunt, Symbole, S. 84. Hunt, Symbole, S. 84f.; Agulhon, Marianne au combat, S. 40. Hunt, Symbole, S. 145.

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Aubert, Marcel/Roux, Marcel: Un Siècle d’Histoire de France, par l’estampe 1770–1871. Collection de Vinck. Inventaire analytique, Bd. 4. Napoleon et son temps, Paris 1969, S. 3f.; Biedermann, Hans: Knaurs Lexikon der Symbole, Augsburg 2000, S. 175–177, 270f.; Herder-Lexikon Symbole, S. 80, 103. Zur Symbolik von Weiß siehe: Herder-Lexikon Symbole, 4. Auflage, Freiburg/Basel/ Wien 1996, S. 182f. Chaudonneret, Marie-Claude: Das Bild der französischen Republik 1792–1889, in: Plessen, Marie-Louis von (Hg.): Marianne und Germania 1789–1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – Eine Revue, Berlin 1997, S. 28f..; Agulhon, Maurice: Von der Republik zum Vaterland. Die Geschichte der Marianne, in: Ebenda, S. 19; Ders., Marianne au pouvoir, S. 26–29; Ders., Les Métamorphoses de Marianne, S. 51, 61f. Zur Erotik, die in der – in erster Linie der männlichen Fantasie entstammenden – Revolutionssymbolik mitschwingt, siehe: Trouillas, Paul: Le complexe de Marianne, Paris 1988. Corbin, Alain: La rencontre des corps, in: Ders. (Hg.): Histoire du corps, Bd. 2. De la Révolution à la Grande Guerre, Paris 2005, S. 168–182. Als Beispiel siehe das Gemälde „Madeleine dans la grotte“ (1876) von Jules Joseph Lefebvre. Agulhon, Maurice/Bonte, Pierre: Marianne. Les visages de la République, Paris 1992, S. 69, 82, 92–94; Agulhon, Les Métamorphose de Marianne, S. 69. Michelet, Jules: Histoire de la Révolution française. Édition établie et annotée par Gérard Walter, Paris 1952 [Erstausgabe: 1847], S. 1 (Préface de 1847). „[…] je respire le grand souffle qui court sur la plaine aride. Le Champ de Mars, voilà le seul monument qu’a laissé la Révolution […].“ Zimmermann, Naturalismus unter dem Eiffelturm, S. 152. Frémy, Dominique: Quid de la Tour Eiffel, Paris 1989, S. 61. Lockroy: Édouard: Préface, in: Monod, Édouard: L’Éxposition universelle de 1889, Bd. 1, Paris 1890, S. XXXI. „Les hommes admirent leurs conquêtes et se donnent la main.“ Zimmermann, Naturalismus unter dem Eiffelturm, S. 161. Zum „Centenaire“ der Französischen Revolution siehe auch: Ory, Pascal: Le centenaire de la Révolution française, in: Nora (Hg.), Les lieux de mémoire 1, S. 465–492. Le Petit Parisien, 1. Januar 1890 „Elle a excité l’admiration des peuples et prouvé au monde qu’une nation pacifique et laborieuse n’a rien à redouter de malveillances dynastiques. […] Une fois encore, la France a rempli l’imagination de l’humanité. […] A l’interieure, la République est sortie triomphiante d’un redoutable assaut; et le suffrage universel a marqué nettement sa volonté de voir cesser des luttes politiques stériles et inaugurer l’ère des réforms democratiques. A l’instant où va tourner la page, au moment où 1889 disparaît dans l’océan du passé, nous lui disons adieu avec reconnaissance, et aussi avec orgueil, car cette année aura laissée la France grandie par le travail et par la liberté […].” Zimmerman, Naturalismus unter dem Eiffelturm, S. 149, 160–162, Kohle, Hubertus: Der Eiffelturm als Revolutionsdenkmal, in: Gersmann/Ders. (Hg.), Frankreich 1871– 1914, S. 120, 129–131. Dammer, Karl-Heinz: Alle Menschen werden Brüder, wo die Macht des Bildes weilt. Manifeste und latente Botschaften in der erzieherischen Bildwelt der Französischen

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Anmerkungen

Revolution, in: Heinrich, Martin (Hg.): Die Last der Bilder? Bild und Wort in Vermittlungsprozessen, Münster 2005, S. 44f. Hunt, Symbole, S. 78f. Schulin, Ernst: Die Französische Revolution, 2. Auflage, München 1989, S. 226f. Ebenda, S. 228. Tatsächlich trugen freigelassene Sklaven in Rom einen Pileus, eine Kappe aus Filz, während im antiken Griechenland die phrygische Mütze als Zeichen für „Barbaren“ galt. Reichardt, Rolf E.: Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1999, S. 60–63, 69f, 83–85.; Vovelle, Französische Revolution, S. 126; Ders.: La découverte de la politique: géopolitique de la Révolution française, Paris 1993. Tacke, Charlotte: Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg (1848–1914), in: Hinrichs, Ernst (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 1997, S. 339. Agulhon, Marianne au pouvoir, S. 253. „L’effigie de la Marianne était alors un symbol, opposé à un autre symbol, la Croix […].“ Ebenda, S. 149, 252f. Agulhon/Bonte, Marianne, S. 65 (Bildbeschriftung). Winock, Nationalisme, Antisémitisme et fascisme, S. 145f. Le Petit Parisien, 1. Januar 1890. „Encore ému des désastres de la France […], c’est avec joie que je saisis cette occassion d’abréger les lenteurs inévitables d’une souscription publique, et moi, Français, je suis encore le débiteur de la ville de Nancy, qui me permet de dresser sur uns des ses places publiques l’image de la patrie […].“ Gab [Pseudonym]: Monsieur Osiris, Préface de Jules Claretié, Paris 1911; Jarasse, Dominique: Osiris ou le folie du mécénat, in: Archives Juives, 29/2 (1996), S. 48–64. Tacke, Charlotte: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 135–145. Monnier, Gérard: L’art et ses institutions en France. De la Révolution à nos jours, Paris 1995, S. 158f. Rendezvous der Kontinente II: Die Weltausstellung von 1889, in: Plessen (Hg.), Marianne und Germania 1789–1889, S. 468. Monnier, L’art et ses institutions, S. 155f., 158. Chanet, Jean-François: L’école républicaine et les petites patries, Paris 1996. Gontard, Maurice: L’Enseignement primaire en France de la Révolution à la loi Guizot (1789–1833), Lyon 1955, S. 79–188. Chianéa, Gérard: L’Enseignement primaire à Grenoble sous la Révolution, in: Cahiers d’histoire, 17 (1972), S. 121–160. Haupt, Heinz-Gerhard: Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt a.M. 1989, S. 65. Prost, Antoine: Histoire de l’einseignement en France 1800–1967, Paris 1968, S. 155– 201; Poirrier, L’État et la culture, S. 19; Leduc, Jean: L’enracinement de la République 1879–1918, Paris 1991, S. 152; Mouguiotte, Alain: Les débuts de l’instruction civique en France, Lyon 1991, S. 56. Spivak, Marcel: L’École patriotique d’après 1871, in: Fisch, Stefan/Ganzy, Florence/ Metzger, Chantal (Hg.): Lehren und Lernen in Frankreich und Deutschland – Apprendre et enseigner en Allmagne et en France, Stuttgart 2007, S. 33–40.

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Haupt, Heinz-Gerhard: Der Nationalismus in der neueren deutschen und französischen Geschichtswissenschaft, in: François, Etienne/Siegrist, Hannes/Vogel, Jakob (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 44. Dann, Otto: The Invention of National Languages, in: Blanning, Tim/Schulze, Hagen (Hg.): Unity and Diversity in European Culture c. 1800, New York 2006, S. 126. Leduc, L’enracinement, S. 152. Winock, La Belle Époque, S. 19. „[…] une manière de contre-clergé de la République“. Siehe dazu auch: Almavi, Christian: Les Héros de l’Histoire de France. Recherche iconographique sur le panthéon scolaire de la Troisième République, Paris 1979. Zum Mythos des „instituteur“ siehe u.a. auch: Ozouf, Mona: L’École, l’Église et la République 1871–1914, Paris 1982, S. 125–131. Winock, La Belle Époque, S. 305. „Ces instituteurs dispensent, non seulement un savoir, mais aussi une foi: la foi laïque et républicaine.“ L’Humanité, 19. Juli 1904. Kittel, Manfred: Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, S. 388. Zu den „instituteurs“ und „institutrices“ siehe v.a.: Ozouf, Jacques/Ozouf, Mona: La république des instituteurs, Paris 1992. Le concours du livre de lecture scolaire est terminé, in: Le Petit Parisien, 13. Mai 1930. „[…] les qualités morales, aussi bien que les réalités économiques et sociales sur lesquelles sont fondée la famille, la société et la patrie. Ce serait le véritable livre moderne de lecture […].“ Winock, La Belle Époque, S. 18f.; Lejeune, La France de la Belle Époque, S. 14f. Hazareesingh, Sudhir: The Société d’Instruction Républicaine and the Propagation of Civic Republicanism in Provincial and Rural France, 1870–1877, in: The Journal of Modern History, 71/2 (1999), S. 274f., 277, 281, 291; Nicolet, Claude: L’idée républicaine en France 1789–1924, Paris 1982, S. 155. Albert, Pierre: Histoire de la presse politique nationale au début de la Troisième Republique (1871–1879), Bd. 2. La vie des journaux, Paris 1980, S. 1075f. Kalifa, Dominique: La culture de masse en France, Bd. 1. 1860–1930, Paris 2001, S. 24– 26. Gerson, Town, Nation, or Humanity, S. 635, 644f., 655f. Le Figaro, 15. Juli 1880, zit. bei: Vogel, Jakob: Nationen im Gleichschritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen 1997, S. 96f. Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 95. Ebenda, S. 95; Hazareesingh, Sudhir: „A Common Sentiment of National Glory“: Civic Festivities and French Collective Sentiment unter the Second Empire, in: The Journal of Modern History, 76/2 (2004), S. 294f., 307. Hazareesingh, A Common Sentiment, S. 282, 307. Ebenda, S. 287, 293f.; Girardet, Raoul: Les Trois Couleurs. Ni blanc, ni rouge, in: Nora (Hg.), Les lieux de mémoire 1, S. 61. Corbin unterscheidet drei Modelle von Festveranstaltungen: 1) ein königliches Modell mit der Sakralisierung des Monarchen und dem Zelebrieren der organischen Einheit von Souverän und Volk; 2) ein revolutionäres Modell mit seinem Kult der Volkssouve-

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Anmerkungen

ränität; 3) das Cäsaren-Modell des Bonapartismus. Siehe dazu: Corbin, Alain: Préface, in: Ders./Tartakowsy, Danielle/Gérôme, Noëlle (Hg.): Les usages politiques des fêtes aux XIXe–XXe siècles, Paris 1994, S. 9. Zur Bedeutung des Zweiten Kaiserreiches für die Dritte Republik siehe: Caron, JeanClaude: De l’Empire à la République, Paris 1985, S. 18–23; Mélonio, Françoise: Naissance et affirmation d’une culture nationale: La France de 1815 à 1880, Paris 2001, S. 234. Hermet, Guy: Les populismes dans le monde. Une histoire sociologique XIXe–XXe siècle, Paris 2001, S. 190f. Zit. bei: Caron, François: Geschichte Frankreichs, Bd. 5. Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851–1918, Stuttgart 1991, S. 28. Fuchs, Günther/Henseke, Hans: Das französische Kolonialreich, Berlin [Ost] 1987, S. 49f.; Grüner, Stefan/Wirsching, Andreas: Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen/Basel 2003, S. 104 f, 214; Merle, Marcel: L’anticolonialisme, in: Ferro, Marc (Hg.): Le livre noir du colonialisme. XVIe–XXIe siècle: de l’extermination à la repentance, Paris 2003, S. 838, 841; Jones, Colin: Frankreich. Eine illustrierte Geschichte, Frankfurt a. M. 1995, S. 204. Krauß, Henning: Die Französische Revolution als Thema der Literatur während des Zweiten Weltkriegs und des Algerienkriegs, in: Ders. (Hg.): Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989, S. 265f. Zum Legitimierungsdiskurs siehe auch: Mar Castro Varela, María do/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorien. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 15. Gobineau, Joseph Arthur Comte de: Essai sur l’inegalite des races humaines, 4 Bände, Paris 1853–55. Bruno, G.: Le Tour de la France par deux enfants. Devoir et patrie. Livre de lecture courante, Paris, S. 187. Zanella, Ines Caroline: Kolonialismus in Bildern. Bilder als herrschaftssicherndes Ins­ trument mit Beispielen aus den Welt- und Kolonialausstellungen, Frankfurt a.M. 2004, S. 57f.; Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a.M. 1985, S. 81; Geppert, Alexander C. T.: London vs. Paris: Imperial Exhibitions, Transitory Spaces, and Metropolitan Networks, 1880–1930, Dissertation, Florenz 2004, S. 278, 281, 289; Lebovics, Herman: Donner à voir l’empire coloniale: l’Exposition coloniale internationale de Paris en 1931, in: Cahiers de Gradhiva, 7 (1989/90), S. 18–28. Manceron, Gilles: Marianne et les colonies. Une introduction à l’histoire coloniale de la France, Paris 2003, S. 128; Noiriel, Gérard: Chocolat. La véritable histoire d’un homme sans nom, Montrouge 2016. Zanella, Kolonialismus in Bildern, S. 30–32. Hodeir, Catherine/Pierre, Michel: L’exposition coloniale 1931, Bruxelles 1991, S. 18; Ageron, Charles-Robert: L’Exposition coloniale de 1931. Mythe républicain ou mythe impérial, in: Nora (Hg.), Lieux de Mémoire 1, S. 493–515; Coquery-Vidrovitch, Catherine: Le postulat de la supériorité blanche et de l’infériorité noire, in: Ferro (Hg.), Le livre noir du colonialisme, S. 902f.; Manceron, Marianne et les colonies, S. 119. Manceron, Marianne et les colonies, S. 125f.; Dauphiné, Joël: Canaques et la NouvelleCalédonie à Paris en 1931. De la case au zoo, Paris 1998. Siehe dazu die genau recherchierten, v.a. auf den Studien der Zeitung „L’Illustration“

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beruhenden Ausführungen bei: Daeninckx, Didier: Cannibale. Présentation, notes, questions et après-texte établis par Josiane Grifnas, Paris 2001, S. 25–27, 132. 148 Grenouilleau, Olivier: Nos petites patries. Identités regionals et État central, en France, des origins à nos jour, Paris 2019, S. 121f.; Picard, Alfred: Les chemins de fer français. Etude historique sur la constitution et le régime du réseau, Bd. 3, Paris 1884; Leduc, L’enracinement, S. 33f. 149 Audisio, Gabriel: Des paysans. XVe–XIXe siècle, 2. Auflage, Paris 1998, S. 43, 309–311. 150 Lavisse, Ernest: Histoire de France. Cours élémentaire, Paris 1913, S. 172. „[…] rapide comme un éclair.“ 151 Moulin, Annie: Les paysans dans la société française. De la révolution à nos jours, Paris 1988, S. 151. „L’armée est une école des genres de vie citadins, d’autant que la situation des soldats est incontestablement meilleure que le quotidien de bien des ruraux.“ 152 Ebenda, S. 151; Haupt, Heinz-Gerhard: Von der Französischen Revolution bis zum Ende der Julimonarchie (1789–1848), in: Hinrichs, Ernst (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 1994, S. 291. 153 Weber, Eugen: Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France (1870– 1914), London 1977, S. 331–333; Moulin, Les paysans, S. 153. 154 Vincenot, Henri: La vie quotidienne des paysans bourguignons au temps de Lamartine, Paris 1976, S. 274. „Elle porte un bonnet tuyauté plus riche, plus abondamment brodé, son corsage et sa jupe sont de couleur voyante et gaie, sond châle de cachemire, à large palmettes, feuilles et languettes de teintes chaudes, chaudron, rouge sur fond noir, épinglé à trois plis sur la nuque, et tombant largement sur les mollets.“ 155 Moulin, Les paysans, S. 153f. 156 Cheverny, Victor: Les ouvriers des deux mondes (1882), in: Borgé, Jacques/Viasnoff, Nicolas (Hg.): Archives de Bourgogne, Paris 1980, S. 32. 157 Higonnet, Anne: Frauenbilder, in: Fraisse, Geneviève/Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. 4. 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 335–337. 158 Scott, Joan W.: Die Arbeiterin, in: Fraisse/Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen 4, S. 451–479. 159 Feyel, Gilles: La diffusion nationale des quotidiens parisiens en 1832, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, 34/1 (janvier-mars 1987), S. 37f. 160 Barbier, Fréderic/Bertho-Lavenir, Catherine: Histoire des médias. De Diderot à Internet, Paris 1996. 161 Kalifa, La culture de masse 1, S. 7f., 15. 162 Ebenda, S. 22f. 163 Ebenda, S. 23–25. 164 Ebenda, S. 15; Lyons, Martin: Le triomphe du livre. Une histoire sociologique de la lecture dans la France du XIXe siècle, Paris 1987, S. 169. 165 Tocqueville, Charles Alexis: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985, S. 252. Die hier zitierte Ausgabe enthält eine umfassende Textauswahl aus beiden Bänden des Werkes. 166 Goujon, Pierre: Associations et vie associative dans les campagnes au XIXe siècle: le cas du vignoble de Sâone-et-Loire, in: Cahiers d’histoire, 2 (1981), S. 107–150. 167 Hellmuth, Thomas/Tolar-Hellmuth, Karin: Die Weinbauern von Morey-Saint-Denis. Lebenswelten in der Côte-d’Or, in: Haas, Hanns/Hiebl, Ewald (Hg.): Politik vor Ort.

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Anmerkungen

Sinngebung in dörflichen und kleinstädtischen Lebenswelten, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 228; Bazin, Jean-François: Histoire du vin de Bourgogne, Paris 2002, S. 75f. 168 Agulhon, Maurice/Bodiguel, Maryvonne: Les Associations au village, Le Paradou 1981; Moulin, Les Paysans, S. 155. 169 Lecomte, Georges: „Théâtre du peuple“, in: l’Humanité, 13. August 1904. „[…] pour la joie et l’éducation des montagnards et ses compatriotes“. 170 François, Etienne: Das Kaffeehaus, in: Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte, München 1994, S. 115. 171 Moulin, Les paysans, S. 154; Audisio, Des paysans, S. 285f. 172 Demossier, Marion: Hommes et Vin. Une anthropologie du vignoble bourguignon, Dijon 1999, S. 335. 173 Allgemein zur Zeiteinteilung siehe u.a.: Thompson, Edward P.: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien 1983, S. 67–130. 174 Thuillier, Guy: Pour une histoire du quotidien au XIXe siècle en Nivernais, Mouton/ Paris/Le Haye 1977, S. 205–299; Ders.: Pour une histoire du temps en Nivernais au XIXe siècle, in: Ethnologie française. 2 (1976), S. 149–162. 175 Döcker, Ulrike: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 280–284. Döcker bezieht sich auf den deutschsprachigen Raum, ihre Schlussfolgerungen lassen sich aber, wie die folgenden Beispiele zeigen, auch auf Frankreich anwenden. 176 Gay, Bürger und Boheme, S. 207. 177 Balzac, Honoré de: Les petits Bourgeois. Scènes de la vie parisienne, Bruxelles & Leipzig 1855, S. 202f. 178 Traditionelles französisches Konfekt, bestehend aus einer Schokoladenscheibe, die mit Nüssen und Trockenfrüchten belegt ist. Die Nüsse und Früchte symbolisieren vier Mönchsorden: Rosinen stehen für die Augustiner, Haselnüsse für die Karmeliter, getrocknete Feigen für die Franziskaner und Mandeln für die Dominikaner. 179 Balzac, Les petits Bourgeois, S. 203. „Au milieu de l’hilarité [...] il arrivait de nombreux plats de dessert: des quatre mendiants en monceaux, des pyramides d’oranges, des confitures, des fruits confits venus des profondeurs de ses armoires, et qui, sans la circonstance, n’auraient pas figuré sur la nappe.“ 180 Proust, Marcel: Unterwegs zu Swann, in: Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1 und 2, Frankfurt a.M. 2018, S. 274–278. 181 Kracauer, Siegfried: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1976, S. 69. 182 Gay, Bürger und Boheme, S. 84. 183 Monnier, L’art et ses institutions, S. 156–158. 184 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 219–220. 185 Todd, Emmanuel: Das Schicksal der Immigranten. Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien, Hildesheim 1998, S. 34–41; 265–270. 186 Woronoff, Denis: Naissance de l’industrie, in: Puissance et faiblesse de la France industrielle XIXe–XXe siècle, Paris 1997, S. 15–28; Leduc, L’enracinement, S. 15f. 187 Zur ständischen Gesellschaftsordnung siehe u.a.: Engelbrecht, Jörg: Ständische Gesell-

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schaft – Bürgerliche Gesellschaft: Mythos und Modell, in: Mörke, Olaf/North, Michael (Hg.): Die Entstehung des modernen Europas 1600–1900, Köln 1998, S. 41f.; Demel, Walter: Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ständische Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel (1789/1700–1789/1800), Stuttgart/ Berlin/Köln 2000, S. 43. 188 Vovelle, Französische Revolution, S. 34f.; Martin, Jean-Clément: La Vendée, régionmémoire. Bleus et blancs, in: Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire 1, S. 519–534. 189 Charle, Christophe: Histoire sociale de la France au XIXe siècle, Paris 1991, S. 31f.; Laurent, Robert: Die Rahmenbedingungen der landwirtschaftlichen Produktion: Eigentums- und Betriebsformen, in: Braudel, Fernand/Labrousse, Ernest (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1988, S. 235. 190 Corbin, Alain: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1995. Siehe dazu auch die Ausführungen bei: Ders.: Du Limousin aux cultures sensibles, in: Rioux, Jean-Pierre/ Sirinelli, Jean-François (Hg.): Pour une Histoire culturelle, Paris 1997, S. 109–112. 191 Todd, Schicksal der Immigranten, S. 277. 192 Die Tageszeitung „La Fronde“ wurde 1897 von Maguerite Durand gegründet und bis 1903 regelmäßig, dann bis 1905 nur noch sporadisch herausgegeben. 193 Marguerite: Lettre d’une institutrice, in: La Fronde, 16. Dezember 1897. „C’était en hiver; J’arrive au milieu d’une population en révolution. N’était-ce pas, une infamie de renvoyer ces pauvres sœurs en plein hiver, et pour les remplacer par qui? par une laïque, une fille du diable à qui l’on faisait les cornes dans la rue le jour de son arrivée. […] Pendant huit mois j’ai lutté désespérément, j’ai versé de larmes de sang, j’étais en butte non seulement aux calomnies des commères du village mais encore aux attaques de la presse locale et réactionnaire; et j’avais vingt ans! … et encore toutes mes illusions!“ 194 Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik, S. 392 (Anm. 446). 195 Les Bras, Hervé/Todd, Emmanuel: L’invention de la France. Atlas anthropologique et politique, Paris 1981, S. 278f. 196 Haupt, Sozialgeschichte, S. 62–67. 197 Larkin, Maurice: France since the Popular Front. Government and People 1936–1986, 3. Aufl., Oxford/New York 1991, S. 23. 198 Lehning, James R.: Peasant and French. Cultural contact in rural France during the nineteenth century, Cambridge 1995, S. 13. „Patois was not only speech but also a primitive, passive, and irrational cultural place where nature could be read in the inhabitants.“ 199 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 10. Auflage, Frankfurt a.M. 1998, S. 37, 192f. 200 Haupt, Sozialgeschichte, S. 64. 201 Baudot-Le Touz, Florence: Le Patois de Thorey-sous-Charny, Dijon 1991. „[…] se donner rendez-vous sur le cimetière”. 202 Corbin, Die Sprache der Glocken, S. 86. 203 Cazin, François Joseph: Traité pratique et raisonné de l’emploi des plantes médicinales indigènes, Boulogne-sur-mer 1850.

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Anmerkungen

204 Zeldin, Theodor: Histoire des passions françaises, Bd. 3. Goût et corruption, Paris 2003, S. 81, 85f. 205 Corbin, Alain: Archaisme et modernité en Limousin au XIXe siècle (1845–1880), Bd. 1. La rigidité des structures économiques, sociales et mentales, Paris 1975, S. 660. 206 Fréderic Mistral, zit. bei: Van Gennep, Arnold: Manuel du folklore français contemporain, Paris 1953, Tome I, vol. VI. Les cérémonies périodiques, cycliques et saisonnières, 4e partie, Paris 1953, S. 2601 [Kursivsetzung im Original]. „À sept heures (heure d’été), la procession composée uniquement d’hommes quitte la paroisse, portant la châsse-reliquaire, et se dirige vers la chapelle (romane du XIIe siècle, près d’un cimetière galloromain) au son de la musique et des pétards. Chaque homme porte une bouteille de vin qui est en principe le vin de l’année. Les participants entrent dans la chapelle où le célébrant revêt une chape rouge et prononce un panégyrique du saint, suivi d’une bénédiction des bouteilles: chacun tend la bouteille débouchée à bout de bras et, sitôt le vin béni, en boit une gorgée. Clergé et conseil municipal boivent dans des gobelets le vin fourni par la ville […]. Le restant de la bouteille est soigneusement conservé sous le nom de vin des malades et réservé aux membre de la famille en cas de maladie.“ 207 Zur französischen Regionalbewegung allgemein siehe: Flory, Thiébaut: Le mouvement régionaliste français. Source et développements, Paris 1966. Zur literarischen Regionalbewegung siehe: Thiesse, Anne-Marie: Ecrire la France. Le mouvement littéraire régionaliste de langue française entre la Belle Epoque et la Libération, Paris 1991. 208 Pasquini, Pierre: Le Félibrige et les traditions, in: Ethnologie fançaise, XVII/3 (1988), S. 257–266. 209 Chanet, Jean-François: Les félibres cantaliens. Aux sources du régionalisme auvergnat (1879–1914), Clermont-Ferrand 2000, S. 18. 210 Laferté, Gilles: La production d’identités territoriales à usage commercial dans l’entredeux-guerres en Bourgogne, in: Cahiers d’économie et sociologie rurales, 62 (2000), S. 69f. 211 Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik, S. 321f. 212 Gerdes, Dirk: Regionalismus als soziale Bewegung. Westeuropa, Frankreich, Korsika: Vom Vergleich zur Kontextanalyse, Frankfurt a.M./New York 1985, S. 111. 213 Chanet, Les félibres cantaliens, S. 18f. 214 Ripert, Émile: Le Félibrige, Paris 1924, S. 142. 215 Winock, La Belle Époque, S. 94, 96. 216 Charle, Histoire sociale, S. 233. 217 Vigreux, Marcel: Paysans et Notables du Morvan au XIXe siècle jusqu’en 1914, ChâteauChinon 1987, S. 450f. 218 Winock, La Belle Époque, S. 103. 219 Pigenet, Michel: L’usine et le village: Rosière (1869–1914), in: Le Mouvement social, 119 (1982), S. 37–43. 220 Schrader, Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, S. 65f. 221 Winock, La Belle Époque, S. 97. 222 Brelot, Claude-Isabelle: Le sentiment provincial en Franche-Comté dans le première moitié du XIXe siècle: persistances et sociologie, in: Provinces et États dans la France de l’Est. Actes du Colloque de l’Association interuniversitaire de l’Est, Besançon, 3-4 octobre 1977, Paris 1979, S. 112.

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Louis de Vaulchier, zit. bei: Ebenda, S. 112f. „Nous prétendons recréer moralement notre antique comté de Bourgogne: non pour reculer aux idées politiques du Moyen-Âge, mais pour lui render nos vieilles libertés, nos franchises communales, notre administration en famille, notre rude et noble franc-parler.“ 224 Petit, Vincent: Le curé et l’ivrogne. Une histoire sociale et religieuse du haut Doubs au XIXe siècle, Paris 2003. 225 Lagré, Michel: Religion et modernité. France, XIXe–XXe siècle, Rennes 2002, S. 161f. 226 Winock, La Belle Époque, S. 22. „L’adhésion et la fidélité à la République […] devient une ‚assise de granit‘ pour le régime […].“ Siehe dazu auch: Agulhon, Maurice: La république au village. Les populations du Var de la Révolution à la IIe République, 2. Auflage, Paris 1979. 227 Winock, La Belle Époque, S. 99f. 228 Ebenda, S. 101f. 229 Ebenda. 230 Méline, Jules: Le Retour à la Terre et la Surproduction Industrielle, 3. Aufl., Paris 1905, S. 97. „[…] la terre qui a les consolations pour toutes les misères et qui ne laisse jamais mourir de faim ceux qui l’aiment et qui se confient à elle.“ 231 Winock, La Belle Époque, S. 106. „Avant d’être la devise du régime de Vichy, ‚Travail, Famille, Patrie‘ ont donc été célébrés avec lyrisme par tout un courant républicain.“ 232 Pasteur, Paul: Von Boulanger zu Le Pen. Populismus und Nationalpopulismus in Frankreich, in: Hauch, Gabriella/Hellmuth, Thomas/Pasteur, Paul (Hg.): Populismus. Ideologie und Praxis in Frankreich und Österreich, Wien/München/Bozen 2002, S. 55f. 233 Eine eher zentrumsfixierte Sicht findet sich u.a. bei: Weber, Peasants into Frenchmen; Joutard, Philippe: L’ouverture des connaissances et les mutations culturelles 1871–1918, in: Duby, Georges (Hg.): Histoire de la France de 1852 à nos jours, Paris 1987, S. 179– 230; Leduc, L’enracinement, S. 136f. 234 Agulhon, La république au village, S. 150–158; Hazareesingh, The Société d’Instruction Républicaine, S. 273; Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 357; Martel, Philippe: Regionale Identitäten und nationale Kultur in Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Lottes, Günther (Hg.): Region, Nation, Europa. Historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, Heidelberg/Regensburg 1992, S. 112. 235 Mélonio, Françoise: Vers une culture démocratique, in: Baecque/Dies., Histoire culturelle de France 3, S. 308. 236 Hugo, Abel: France pittoresque, ou Description pittoresque, topographique et statis­ tique des départements et colonies de la France, 3. Bände, Paris 1835. 237 La Blache, Vidal de: Tableau de la géographie de la France, Paris 1903, S. 49. „physionomie unique en Europe“ und „richesse de gammes“. Zu Vidal de La Blache siehe: Guiomar, Jean-Yves: Le „Tableau de la géographie de la France“ de Vidal de La Blache, in: Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoire 1, S. 1073–1098. 238 Zu den „Guides-Joanne“ siehe: Nordman, Daniel: Les Guides-Joanne. Ancêtres des Guides Bleus, in: Nora (Hg), Les Lieux de Mémoire 1, S. 1035–1072. 239 Joanne, Paul: Bourgogne et Morvan, Paris o.J. (1892), S. 56. „Ce pays d’entre Jura et Morvan est non seulement une région gracieuse et pittoresque, mais aussi une terre riche et fertile: ici les prés, là les vignes, grasses prairies qui nourrissent d’excellent bé-

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Anmerkungen

tail, vignes célèbres qui produisent les premier vins du monde, partout ou presque des forêts, tout est réuni, tout est groupé pour faire de cette Côte-d’Or aux paysages si ravissant, aux ressources si variées, un ‚jardin‘ et un ‚cellier‘ de la France.“ Le Roy Ladurie, Emmanuel: Histoire de France des régions. La périphérie française, des origines à nos jours, Paris 2001, S. 296; Cabanel, Patrick: Les Protestants et la Répu­ blique de 1870 à nos jours, Bruxelles 2000 (Les Dieux dans la cité). Nora, L’„Histoire de France“, S. 852. La Tour d’Auvergne, Thèophile-Malo de: Nouvelles Recherches sur la langue, l’origine et les antiquités des Bretons, pour servir à l’histoire de ce peuple, Bayonne 1792. Thiesse, La création des identités, S. 52f.. Mélonio, Vers une culture democratique, S. 337f. Le Roy Ladurie, Histoire de France de régions, S. 89. Abbé Grégoire hatte eine „Enquête“, eine wissenschaftliche Untersuchung bzw. Umfrage, über die regionalen Dialekte angeregt. Damit wurde versucht, die linguistische Vielfalt des revolutionären Frankreichs zu erfassen, um sie letztlich abzuschaffen und durch Französisch zu ersetzen. Siehe dazu: Certeau, Michel de/Julia, Dominique/Revel, Jacques: Une politique de la langue. La Révolution française et les patois. L’enquête de Grégoire, Paris 1986. Guiomar, Jean-Yves: Le „Barzaz-Breiz“ de Théodor Hersart de la Villemarqué, in: Nora, Pierre (Hg.): Les Lieux de mémoire, Bd. 3. Les France, Paris 1997, S. 3479–3482; Le Boulanger, Jean-Michel: Être breton?, Quimper 2014, S. 159f. Agulhon, Marianne au pouvoir, S. 150. Girardet, Le Trois Couleurs, S. 49. Chastel, André: La notion de patrimoine, in: Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire 1, S. 1433–1469. Mélonio, Françoise: La culture comme heritage, in: Baecque//Dies,: Histoire culturelle de la France 3, S. 270–274; Fermigier, André: Mérimée et l’Inspection de monuments historiques, in: Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire 1, S. 1599–1614; Foucart, Bruno: Viollet-le-Duc et la restauration, in: Ebenda, S. 1615–1643. Benevolo, Leonardo: Die Stadt in der europäischen Geschichte, München 1999, S. 208. Als Beispiel siehe etwa das Fest des Saint-Vincent in der Côte-d’Or: Hellmuth/TolarHellmuth, Die Weinbauern von Morey-Saint-Denis, S. 228f. Bazin, Jean-François: Histoire du vin de Bourgogne, Paris 2002, S. 76; Agulhon, Marianne au pouvoir, S. 152, 379 (Anm. 19). Agulhon, Les Métamorphoses de Marianne, S. 77. Thiesse, La création des identités, S. 168. Guillemaut, Lucien: Bresse louhannaise. Le mois de l’année. Images, mœurs, fêtes, traditions populaires, Louhans 1907. „Quand le feu a cessé de donner de grandes flammes, on saute pardessus les tisons. Les jeunes filles s’évertuent à traverser le foyer. Celles qui ont pu le franchir sans accident se marieront dans l’année.“ L’Humanité, 19. Juli 1904. Joutard, L’ouverture, S. 185. L’Humanité, 19. Juli 1904. Ebenda. „D’ailleurs, c’est l’époque où les vielles chansons se réveillent aux grand jours de l’été.“ Die „Sociète des gens de lettres“ (SDGL) wurde 1838 von Honoré de Balzac, George

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Sand, Alexandre Dumas und Victor Hugo gegründet. Bis heute dient sie als öffentlich anerkannte Interessensvertretung von Autoren und Autorinnen. Nys, Rymond de: Les „Déracines“ vont recervoir à Paris les „lettres provinciales“, in: Le Petit Parisien, 9. Juni 1923. „[…] qui ont, jadis ou naguère, quitté leur village ou leur petite ville pour venir conquérir Paris. Ils sont aujourd’hui célèbres ou obscures, académiciens ou besogneux, riches ou malheureux. Mais, vus de la province, ils paraissent enviable.“ Daudet, Alphonse: L’Arlésienne, in: Ders.: Lettres de mon moulin. Edition définitive, Paris o.J. [1934, Erste Auflage: 1869], S. 65. „C’était un admirable paysan de vingt ans, sage comme une fille, solide et le visage ouvert. Comme il était trés beau, les femmes le regardaient; mais lui n’en avait qu’une en tête – une petite Arlésienne […].“ Winock, Michel: L’Action française, in: Ders. (Hg.): Histoire de l’extrême droite en France, Paris 1994, S. 129; Birnbaum, Pierre: Accepter la pluralité: haines et préjugés, in: Sirinelli, Jean-François (Hg.): Histoire des droites en France, Bd. III, Paris 1993, S. 444; Roquigny, Nicolas: Der französische Front National. Nationalpopulismus und Elemente des Irrationalen, in: Hauch, Gabriella/Hellmuth, Thomas/Pasteur, Paul (Hg.): Populismus. Ideologie und Praxis in Frankreich und Österreich, Innsbruck/Wien/ München/Bozen 2002, S. 106f. Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik, S. 323. Agulhon, Maurice: Conscience nationale et conscience régionale en France de 1815 à nos jours, in: Boogman, Johan Christiaan/Van der Plaat, Gees (Hg.): Federalism. History and Current Significance of a Form of Government, The Hague 1980, S. 247. Gerdes, Regionalismus, S. 113. Meyran, Régis: Le mythe de l’identité nationale, Paris 2009, S. 95f. Rouquette, Yves, zit. bei: Le Roy Ladurie, Histoire de France des regions, S. 341. „Têtu comme un âne rouge“. Ebenda, S. 340–342 ; Gerdes, Regionalismus, S, 112f. Marti, Claude: Montsegur, in: Un pais que vol viure, Textbeilage zur Langspielplatte (1969). Thiesse, La création des identités, S. 167; Le Boulanger, Être breton?, S. 159. Ampère, Jean-Jacques (Red.): Poésie populaire de la France. Instructions du Comité de la langue, de l’histoire et des arts de la France, in: Bulletin de Comité de la langue, de l’histoire et des arts de la France, Bd. 1. 1852–1853, Paris 1854, S. 279. „[…] qui présentera une image fidèle et vivante du génie de notre nation.” Thiesse, La création des identités, S. 170f. Claude Seignolle hat diese Sammlungen durchforstet und nach 1945 mehrere Bände mit Märchen, Erzählungen und Legenden aus den verschiedenen Regionen Frankreichs herausgegeben. Diese finden sich gesammelt in: Seignolle, Claude (Hg.): Comtes, récites et légendes des pays de France, 4 Bände, Paris 1997. Marcus Aurelius Probus, römischer Kaiser (276–282 n.Chr.), der infolge seiner Bemühungen, die wirtschaftliche Lage des römischen Reiches zu verbessern, in verschiedenen westlichen Provinzen auch den Weinbau einführte. Nisard, Des chansons populaires 2, S. 49f., 81. „Quand Probus plantait la vigne dans les Gaules, il plantait aussi des chansons. […] Au XVIe siècle, on en fait de petits recueils; au XVIIe, on les fait plus gros et plus nombreux, ainsi qu’au XVIIIe. Elle se multiplient

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Anmerkungen

tellement au XIXe, que […] elle couvriraient la surface de la France. […] un mélange […] de la mythologie grecque et des histoires de L’Écriture sainte […].“ Leduc, L’enracinement, S. 136f.; Thiesse, La création des identités, S. 203; Fabre, Daniel: Le „Manuel de folklore français“ d’Arnold van Gennep, in: Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoires 3, S. 3583–3614. Thiesse, La création des identités, S. 200–202, 206. Mannell, Stephen: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M. 1988, S. 187f. Bruegel, Martin/Laurioux, Bruno: Histoire et identités d’alimentaires en Europe, in: Dies. (Hg.): Histoire et identités alimentaires en Europe, Paris 2002, S. 14. „[…] un nouvel État national c’est aussi fonder sa cuisine […].“ Forest, L[ouis]: Au pays de la bonne table et du bon vin, in: L’Industrie Hôteliére, 8. Dezember 1923. „Il faut de plus en plus régionaliser la cuisine. L’art culinaire, comme les autres arts, est une fleur du terroir, elle a son parfum, sa couleur spéciale, son aspect particulier. […] La force de la culinarité française, faite d’expériences ancestrales, de soins, de produits frais et sélectionnés par la nature autant que par l’homme, a sa source dans le peuple.“ Zeldin, Histoire 3, S. 555 (Anm. 2). Laferté, La production d’identités, S. 72. Moulin, Les paysans, S. 152. „La cuisine paysanne traditionelle, beaucoup moins ancienne qu’on ne le croit généralement, commence à être ‚inventée‘.“ Zeldin, Histoire 3, S. 540–542, 539f. In der vormodernen Gesellschaft existierte Verschwendung gleichsam in Symbiose mit dem Mangel: „[…] die Welt des Hungers [ist] – unter bestimmten Umständen – eine Welt des Überflusses und der Angeberei: Auch die bäuerliche Gesellschaft kennt Augenblicke der Nahrungsverschwendung bei großen Festlichkeiten und den wichtigsten Ereignissen des Lebens.“ Montanari, Massimo: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1999, S. 116. Moulin, Les paysans, S. 152f.; Leduc, L’enracinement, S. 136. Bérard, Laurence/Marchenay, Philippe: Le sens de la durée. Ancrage historique des „produits de terroir“ et protection géographique, in: Bruegel/Laurioux (Hg.), Histoire et identités alimentaires, S. 26. Bruegel/Laurioux, Histoire et identités alimentaires, S. 14. „[…] produit emblématique qui paraît concentrer en lui les différentes facettes du sentiment national […].“ Bérard/Marchenay, Le sens, S. 33, 35; Boisard, Pierre: Le Camembert, mythe national, Paris 1992. Pierre Dupont, zit. bei: Garrier, Gilbert: Histoire sociale et culturelle du vin, Paris 1998, S. 361. „Bon Français, quand je vois mon verre / Plein de son vin coleur de feu / Je songe, en remerciant Dieu / Qu’ils n’en ont pas en Angleterre.“ Le Bourguignon, in: Nisard, Des chansons populaires 2, S. 78f. „Jamais on ne me voit chagrin; / Et si parfois je fais bombance, / C’est que j’adore le bon vin / De notre beau pays de France. / En travaillant à mes tonneaux, / Je dis, goûtant les vins nouveaux: / Joyeux biberon, / Voilà ma chanson: / Le vin, le vin nous fait du bien et nous soutient.“ Garrier, Histoire sociale et culturelle, S. 216–221; Demossier; Hommes et vin, S. 123–

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130; Lachiver, Marcel: Vins, vignes et vignerons. Histoire du vinoble français, Paris 1988, S. 449–458. Nisard, Des chansons populaires 2, S. 51. „La plus grande partie de nos chansons bachiques roulent sur ce fonds commun que la vie est courte, qu’il faut boire pour boire, que le vin est préférable à l’amour, qu’il faut cependant ne pas négliger le tendron, mais envoyer au diable sa femme quand elle tempête, ses enfants quand ils braillent, ses créanciers quand ils réclament leur dû; que le vrai moyen de faire passer l’ivresse de la veille est de la renouveler le lendemain. C’est de la philosophie païenne pure, de l’épicuréisme le plus grossier.“ Frantz-Reichel [François-Étienne Obus Reichel]: Vins de France, in: Le Figaro, 30. Dezember 1909. „Le vin est non seulement une richesse, mais une gloire de la France. Il était désolant qu’elle fût négligée. L’amour du bon vin s’était perdu chez nous: la chanson à boire, franche, affectueuse et souvent gauloise, était morte d’ailleurs; on ne chantait plus le vin, parce qu’on ne l’aimait plus. […] aux chansons de buveurs d’autrefois ont succéde aujourd’hui des lourd chants d’ivrognes. Nous ne savons plus boire: ce sont les apéritifs et l’alcool qui ont triomphé du vin devenu comme une boisson canaille. Où est le temps où l’on allait vider, sans façons, un bon pichet de vin bien frais, ou décoiffer un flacon d’un bourgogne savoureux ou d’un bordeaux parfumé?“ Schivelbusch, Wolfgang: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2005, S. 72f. Les productions gastronomiques de la France, in: Miroir dijonais et de Bourgogne, Juli 1929, zit. bei: Laferté. La production d’identités, S. 74. „Notre patrie […] serait alors à la tête des contrées agricoles de l’Europe; elle est, pour ainsi dire, le cellier de l’Europe […].“ G.S.: La „Fête de Vendage“ à Bordeaux, in: Le Figaro, 15. Juli 1909, 55. Jg., Nr. 186. Laferté, La production d’identités, S. 67. Die Hospize von Beaune waren durch Stiftungen immer wieder in den Besitz von Weinbergen gekommen und finanzieren sich bis heute durch Weinanbau und Weinverkauf. Der „Vente de vins“ ist eine weltberühmte Auktion, auf der die eigenen Weine verkauft werden. Die erzielten Preise beeinflussen die allgemeinen Preise für die unterschiedlichen Weine des jeweiligen Jahrganges. Etymologisch leitet sich „paulée“ vermutlich von „poêle à frire“ ab, von der „Bratpfanne“. Der Begriff „paulée“ bezeichnet demnach den Inhalt einer Bratpfanne, in der eine Art „paella bourguignonne“ zubereitet wurde. Zur traditionellen „paulée“ siehe etwa die Beschreibung bei: Vincenot, Henri: La vie quotidienne des paysans bourgui­ gnons au temps de Lamartine, Paris 1976, S. 322–324. Laferté, La production d’identités, S. 62, 66–95; Demossier, Hommes et vin, S. 54–58; Hellmuth/Tolar-Hellmuth, Die Weinbauern von Morey-Saint-Denis, S. 227f. Le Bourguignon, in: Nisard, Des chansons populaires, S. 79. „L’on a beau me vanter Paris; / J’aime mieux ma vigne et mes terres. / Au moins là je vis sans soucis, / Loin du bruit des grandes affaires.“ Le vigneron, in: Nisard, Des chansons populaires, S. 80. „Je n’aime pas votre Paris. / Un jour, dans cette fourmilière, / J’envoyai l’aîne de mes fils / Avec cent fûts de Beaune première; / Vos Parisiens m’ont, dans Paris, / Gâté mon vin, perdu mon fils […].“

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Anmerkungen

306 Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt 1988, S. 86f., 109f., 117; Lejeune, La France de la Belle Epoque, S. 156f. 307 Grenouilleau, Nos petites patries, S. 127. 308 Siehe dazu allgemein für die europäische Gesellschaft: Schama, Simon: Landscape and Memory, London 1995, S. 3–19; Groh, Dieter/Groh, Ruth: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt 1991. 309 Stendhal: Mémoires d’un touriste. Premier volume, Paris 1838, S. 116. „Les hommes que je contrepasse sur les routes de Dijon sont petits, secs, vifs, colorés; on voit que le bon vin gouverne tous ces tempéraments. Or, pour faire un homme supérieur, ce n’est pas assez d’une tête logique, il faut un certain tempérament fougueux.“ 310 Miroir dijonnais et de Bourgogne, Oktober 1921, zit. bei: Laferté, La production d’identités, S. 73. „[…] un individu haut en coleurs, noir de cheveux, franc luron, gai, parlant fort, aimant rire, spirituel, truculent […].“ 311 Laferté, La production d’identités, S. 69. 312 Forest, L[ouis]: Au pays de la bonne table et du bon vin, in: L’Industrie Hôteliére, 8. Dezember 1923. „Le Club des Cent a fait effort pour lutter contre cet abêtissement de la table par les étrangers […].“ 313 Laferté, La production d’identités, S. 70f. Kapitel 3 1 2

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Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S. 137. Hugo, Victor: Les Orientales, Bruxelles 1832, S. 7. „A voir les choses d’un peut haut, il n’y a en poésie ni bons ni mauvais sujets, mais de bons et mauvais poètes. D’ailleurs, tout est sujet; tout réleve de l’art; tout a droit de cité en poèsie.” Das Konzept der „Gegenkultur“ ist seit Ende der 1960er Jahre durch Theodore Roszaks Buch „The Making of a Counter Culture“ auch in der Wissenschaft als Thema populär geworden. Zunehmend wird es allerdings in Frage gestellt. Siehe dazu: Roszak, Theodore: The Making of a Counter Culture. Reflections on the technocratic society and its youthful opposition, Reprint, London 1973. Zur Kritik an der „Gegenkultur“ siehe u.a.: Heath, Joseph/Potter, Andrew: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur, Berlin 2005, S. 21, 90f. Heath und Potter beziehen sich zwar primär auf das 20. Jahrhundert, viele ihrer Schlussfolgerungen lassen sich aber auf das 19. Jahrhundert übertragen. Allerdings gehen sie davon aus, dass „es ‚die Kultur‘ oder ‚das System‘ gar nicht gibt“, sondern lediglich „eine Welt, in der […] Milliarden von Menschen […] miteinander zu kooperieren versuchen […].“ (S. 21) Wie die vorliegende Studie zeigt, wird diese Kooperation aber durchaus durch ein System, nämlich durch das System des „offenen Diskurses“ (S. 22–26), der einen zentralen Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft bildet, geregelt. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, in: Engelmann, Jan (Hg.): Michel Foucault. Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 68f. Siehe dazu auch: Ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1980. Schaal, Gary S./Heidenreich, Felix: Einführung in die politischen Theorien der Mo-

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derne, Opladen/Framington Hills 2006, S. 228. In Ansätzen findet sich dieser Gedanke auch bei: Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 70. Gay, Peter: Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts, München 1999, S. 39–67. Nipperdey, Thomas: Wie das Bürgertum die Moderne fand, Stuttgart 1998, S. 69, 72. Ähnlich wie Nipperdey erkennt auch Hans H. Hofstätter die Kunst bzw. den Symbolismus als konstituierenden Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, wenn er auch von der Kunst lediglich „als Korrektiv, als utopische Wunschwelt“ spricht, „in die der Bürger – die Forderungen des Tages vernachlässigend – gefahrlos ausschweifen konnte“. Hof­ stätter, Hans H.: Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende, Köln 1965, S. 288. Martin-Fugier, Anne: La Vie d’artiste au XIXe siècle, Paris 2007, S. 431. Darin findet sich auch eine Abbildung des Gemädes. Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit und Kultur, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 123–127. Herding, Klaus: Erlöser und Scharlatan, Zerstörer und Märtyrer. Zur Rolle Courbets, in: Ders. (Hg.): Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malererei, Frankfurt a.M. 1978, S. 14. Siehe dazu auch: Damus, Martin: Kunst im 20. Jahrhundert. Von der transzendierenden zur affirmativen Moderne, Reinbek b. Hamburg 2000, S. 11–23. Seigel, Jerrold: Paris Bohème. Culture et politique aux marge de la vie bougeosie 1830– 1930, Paris 1991, S. 21f. Zit. bei: Tomkins, Calvin: Marcel Duchamp. Eine Biographie, München/Wien 1999, S. 572. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001, S. 107. Baudelaire an Gustave Rouland, 4. Juni 1857, in: Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. Correspondance générale. Recueilliée, classée et annotée par M. Jacques Crépet, Tome II. 1857–1859, Paris 1947, S. 56. Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804–1869), Dichter und Literaturkritiker, wurde 1845 Mitglied der Académie Française und nach der Machtübernahme Napoleons III. Professor für lateinische Poesie am Collége de France, wo er durch seine konservativen Ansichten auf Widerstand der republikanisch gesinnten Studenten stieß. Anfang der 1860er Jahre zog er sich in das Privatleben zurück, 1865 erhielt er eine Berufung in den Senat, einem politischen Instrumenarium Napoleons III. (S. 234). Honoré de Balzac hat ihm in seinem Roman „Les illusions perdues“ (Verlorene Illusionen, 1837–1844) mit der Person des skrupellosen Emporkömmlings Lucien Chardon ein wenig rühmliches Denkmal gesetzt. Lepenies, Wolf: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne, München 2000. Leconte de Lisle (1818–1894), Journalist und Literat, war zunächt republikanisch orientiert, zog sich aber nach der Machtübernahme Napoleons III. in eine unpolitische Literatur zurück, in das Ideal der „poésie ojective“, in eine Lyrik, die nicht von romantischen Gefühlen beherrscht wird, sondern ästhetischen Normen verpflichtet ist („La moralité d’une œuvre d’art, c’est sa beauté“/„Die Moral eines Kunstwerkes ist seine Schönheit“). Leconte de Lisle wurde zu einer führenden Figur der so genannten „Par-

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Anmerkungen

nassiens“ und 1886 Mitglied der Académie Française. Brown, Irving: Leconte de Lisle. A study on the man and his poetry, New York 1924. Baudelaire an Eugène de Broise, 13. Juni 1857, in: Ders., Œuvres complètes. Correspondance générale II, S. 58–61. Ebenda, S. 59, Fußnote 4. Baudelaire an Poullet-Mallassis, 30. Dezember 1857, in: Ders., Œuvres complètes. Correspondance générale II, S. 113. „[…] six poëmes nouveaux beaucoup plus beaux que ceux supprimés […].“ Baudelaire an Alphonse de Calonne, 10. November 1858, in: Ders., Œuvres complètes. Correspondance générale II, S. 233. „Il n’y aura plus que les gens d’une mauvaise foi absolue qui ne comprendront pas l’impersonnalité volontaire de mes poësies.“ Zit. bei: Kracauer, Siegfried: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1976, S. 57. Brade, Johanna: Suzanne Valadon. Vom Modell in Montmartre zur Malerin der klassischen Moderne, Stuttgart/Zürich 1994; Schüle, Klaus: Paris. Die kulturelle Konstruktion der französischen Metropole, Opladen 2003, S. 25–28. Zu Valadon siehe auch den Roman von: Vesper, Elke: Schreckliche Maria. Das Leben der Suzanne Valadon, Hamburg 1991. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 93f. Suchanek-Fröhlich, Stefan: Kulturgeschichte Frankreichs, Stuttgart 1966, S. 570. Statistique de la France. Résultat généraux du dénombrement de 1876 (1878), S. 198– 203, zit. bei: Zeldin, Histoire des passions française 3, S. 46. Zeldin, Theodore: Histoire des passions française, Bd. 3. Goût et corruption, Paris 2003, S. 46. Charle, Christophe: Histoire sociale de la France au XIXe siècle, Paris 1991, S. 291. Tyszka, Carl: Löhne und Lebenskosten in Westeuropa im 19. Jahrhundert, in: Gewerkschaftliche Rundschau für die Schweiz. Monatsschrift des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, 6/2 (1914), S. 34. Braudel, Fernand: Frankreich, Bd. 3. Die Dinge und die Menschen, Stuttgart 1990, S. 196. Condemi, Concetta: Les cafés-concerts. Histoire d’un divertissement (1849–1914), Paris 1992, S. 158. Labracherie, Pierre: La vie quotidienne de la bohéme littéraire au XIXe siècle, Paris 1967, S. 167. Mit einem „Omnibus“ ist im 19. Jahrhundert ein schienenungebundener und pferdebespannter Wagen, der einer Straßenbahn ähnelt, gemeint. Labracherie, La vie quotidienne, S. 167, 190. Condemi, Les cafés-concerts, S. 157. Zu Thérésa siehe: Leclerq, Pierre-Robert: Thérésa, la diva du ruisseau, Paris 2006. Labracherie, La vie quotidienne, S. 215. Kracauer, Offenbach, S. 67. Pomarède, Vincent: Étienne Moreau-Nélaton. Un collectionneur-peintre ou un peintre-collectionneur, Paris 1988, S. 86. Martin-Fugier, La Vie d’artiste, S. 349f.

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Monnier, Gérard: L’art et ses institutions en France. De la Révolution à nos jours, Paris 1995, S. 274f. 40 Grunfeld, Frederic V.: Rodin. Eine Biographie, Berlin 1993, S. 13–15, 19. Ebenda, S. 421. 41 42 Martin-Fugier, La Vie d’artiste, S. 432. 43 Schüle, Die kulturelle Konstruktion, S. 29–31. 44 Zu den verschwimmenden Grenzen zwischen Bohème und Bürgertum siehe: Seigel, Paris Bohème, S. 15, 21f. 45 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 98. 46 Seigel, Paris Bohème, S. 280. 47 Poggioli, Renato: The Theory of the Avant-garde, Cambridge, Mass. 1968, S. 132. 48 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 98. 49 Gay, Bürger und Boheme, S. 40–51. 50 Lottman, Herbert R.: Flaubert, London 1989; Coquiot, Gustave: Paul Cézanne, Paris 1919, S. 24; Wrigley, Richard: Edouard Manet, London 1992; Adler, Kathleen: Camille Pissarro. A biography, New York 1977; Varnedoe, Kirk: Gustave Cailleotte, New Haven/London 1987, S. 1f. Whiteley, Linda: Art et commerce d’art en France avant l’époque impressioniste, in: 51 Romantisme, 40 (1983), S. 65–75. Monnier, l’art es ses institutions, S. 153. 52 53 Ebenda. 54 Ebenda, S. 156f. Siehe dazu u.a.: Souvenirs de la galerie Pourtalès. Tableaux, antiques et objets d’art. 55 Photographiés par Goupil & Cie, Paris 1863. 56 Proust, Marcel: Unterwegs zu Swann, in: Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1 und 2, Frankfurt a.M. 2018, S. 60. 57 Das Werk, das sich heute im Besitz des Musée du Louvre befindet, war Teil der Pariser Privatsammlung von James-Alexandre de Pourtalès-Gorgier (1776–1855), weshalb es auch als „Odalisque Pourtalès“ bezeichnet wird. Zum Kauf des Gemäldes durch Pourtalès-Gorgier siehe: Siegfried, Susan L.: Ingres, Delacroix et l’Odalisque, in: Allard, Sébastien (Hg.): Paris 1820. L’affirmation de la génération romantique. Acte de la journée d’étude organisée par la Centre André Chastel le 24 mai 2004, Bern u.a. 2005, S. 67. 58 Monnier, L’art et ses institutions, S. 157f. 59 Couÿba, Charles-Maurice: L’Art et la Démocratie, Paris o.J. [1902], S. 3. „Ni l’art collectif dans un État souverain, ni l’art libre dans un État libre, mais l’art dans un État protecteur […], une conception continuellement exposée à osciller entre le principe d’autorité et le principe de liberté.“ 60 Larroumet, Gustave: L’Art et l’État en France. Achats, commandes et encouragements de l’État, Paris 1895, S. 197. „Depuis les origines de la France, les forces sociales se sont toujours employées à faire l’éducation du goût national.“ Larroumet, L’Art et l’État, S. 197. „La démocratie contemporaine ne peut abandonner 61 ce rôle. C’est pour cela qu’elle fait de l’art un service public. Ce service, l’État l’exerce par ses constructions d’édifices, ses acquisitions d’œuvre d’art, les encouragements qu’il donne aux formes supérieures de l’art […], les facilités qu’il procure aux expositions

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Anmerkungen

libres, mais surtout par ses enseignements et par ses musées, qui sont une forme de l’enseignement.“ Musgrave, Richard A.: Merit goods, in: The New Palgrave, Bd. 3. K to P. London 1987, S. 452f.; Stepan, Paul: Intro zur Kulturökonomie, in: Kurswechsel, 4 (2003), S. 6f. Zit. bei: Suchanek-Fröhlich, Kulturgeschichte Frankreichs, S. 477. Braun, Rudolf/Gugerli, David: Macht des Tanzes. Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914, München 1993, S. 119–134; Brockliss, Laurence W. B.: French Higher Education in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. A Cultural History, Oxford 1987. Monnier, L’art et ses institutions, S. 45–47. Das Ende der „École des Beaux-Arts“ wurde in den 1960er Jahren eingeleitet, als sie von André Malraux als Kulturminister in Frage gestellt wurde. Aber erst in den Jahren von 1970 bis 1973, unter der Präsidentschaft von Georges Pompidou, wurde die Kunstausbildung tatsächlich nachhaltig reformiert: Die „Écoles d’art“, die als Abschluss ein Staatsdiplom boten, lösten die „École des BeauxArts“ offiziell ab. Jeder Schule wurde größte Autonomie bezüglich der pädagogischen Mittel sowie der Arbeitstechniken und Thematiken zugestanden. Der Atelierunterricht sollte, um künstlerische Isolation zu vermeiden, durch den „Ausgleich und die Zirkulation von Ideen“ („brassage et la circulation des idées“) ersetzt und der Einfluss der „maîtres“ beseitigt werden; ebenso wurde der „Prix de Rome“ (S. 166, 170) abgeschafft. Ebenda, S. 360f., 367f.; Poirrier, Philippe: L’État et la culture en France au XXe siècle, Paris 2000, S. 73–78, 118–136. Monnier, L’art et ses institutions, S. 46f. Tulard, Jean: Frankreich im Zeitalter der Revolution 1789–1851, Stuttgart 1989, S. 244, 248. Siehe dazu auch: Baecque, Antoine de: La politisation de la culture, in: Ders./ Mélonio, Françoise: Histoire culturelle de la France, Bd. 3. Lumières et liberté. Les dix-huitième et dix-neuvième siècles, Paris 1998, S. 172–183; Telesko, Werner: Napoleon Bonaparte. Der „moderne Held“ und die bildende Kunst 1799–1815, Wien/Köln/Weimar 1998. Der „Sénat conservateur“, kurz „Senat“ genannt, der im Zentrum der Verfassung des Französischen Konsulates stand, setzte sich aus 80 auf Lebenszeit bestellten Mitgliedern über vierzig Jahre zusammen. Er wählte das Tribunat, eines der Lesgislativorgane der Konsulatsverfassung, die obersten Richter und die drei Konsuln. Zudem konnte er Gesetzesbeschlüsse und Volkswahlen als verfassungswidrig erklären. Hellmuth, Thomas: „On disait: Il va paraître“. Ein kulturhistorischer Essay zum Roman Die Hundert Tage, in: Lughofer, Johann Georg (Hg.): Im Prisma. Joseph Roths Romane, Wien/St. Wolfgang 2009, S. 311. Monnier, L’art et ses institutions, S. 49. Lee, Simon: David, London 1999, S. 111–184. Ebenda, S. 223–286; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 246; Baecque, La politisation de la culture, S. 181; Stolpe, Elmar: Klassizismus und Krieg. Über den Historienmaler Jacques-Louis David, Frankfurt a.M./New York 1985. Suchanek-Fröhlich, Kulturgeschichte Frankreichs, S. 527. Monnier, L’art et ses institutions, S. 49f. Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1983, S. 745; Suchanek-Fröhlich, Kulturgeschichte Frankreichs, S. 591f.

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Zit. bei: Wolf, Norbert: Kunst-Epochen, Bd. 10. 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 103 [kursive Hervorhebung im Original]. Hugo, Victor: Hernani. Drame, Paris 1999, S. 45. „La liberté dans l’art, la liberté dans la société, voilà le double but auquel doivent tendre d’un même pas tous les esprits conséquents et logiques: […] la liberté littéraire est fille de la liberté politique.“ Zu den langandauernden Auseinandersetzungen zu Hugos „Hernani“, der „Bataille d’Hernani“, siehe: Gautier, Théophile: Histoire du romantisme suivie de notices roman­ tiques et d’une étude sur la poésie française 1830–1868, Paris 1993 [Erstausgabe: 1874], S. 85–98; Halbwachs, Pierre: A propops de la „Bataille d’Hernani“, in: Girard, Louis (Hg.): Romantisme et Politique 1815–1851. Colloque d l’École Normale Supérieure de Sain-Cloud (1966), Paris 1969, S. 99–109. „Hernani“ ist ein Drama um zwei Liebende, die schöne Doña Sol de Silva und den aus adeligem Geschlecht stammenden Hernani, den Anführer einer Räuberbande. Don Carlos, der junge König von Spanien (gemeint ist der künftige Kaiser Karl V.), begehrt aber Doña Sol ebenfalls, woraus sich zahlreiche dramatische Verstrickungen ergeben. Am Ende nehmen sich Hernani und in der Folge auch Doña Sol das Leben. Zum einen stellt Hugo die Liebe als schicksalhaftes Ereignis dar und thematisiert ritterliche Tugenden wie Ehrenhaftigkeit und Edelmut, zum anderen zeichnen sich die Hauptpersonen des Stückes aber durch ihre Zerissenheit aus, die etwa Don Carlos zwischen Unbekümmertheit bzw. Verwerflichkeit und Besonnenheit oszillieren lässt. Arnold Hauser hat in seiner 1953 erschienen „Sozialgeschichte der Kunst und Literatur“ darauf hingewiesen, dass Kunst als Instrumentarium für politische Propaganda seit der Julirevolution von 1830 abgelehnt und nun das romantische Prinzip des „L’art pour l’art“ wirksam wurde. (Hauser, Sozialgeschichte, S. 771). Allerdings ist die Romantik auch während der Julirevolution nicht allein auf das Prinzip „L’art pur l’art“ zu beschränken, sondern in ihrer politischen Intention zu verstehen, der die Julirevolution von 1830 durchaus entgegegekommen war. Pelta, Corinne: Le romantisme libéral en France 1815–1830. La représentation souveraine, Paris/Montréal/Torino 2001, S. 11 [Hervorhebung im Original]. „[…] aussi politique, sociale, philosophique, économique […]. Cette notion circonscrit l’élan de synthèse entre des différentes branches du savoir visant à instaurer un système de représentation où la réalité humaine, sociale et politique se conjuguent dans une vision de la société et de l’individu à laquelle l’art fournit des éléments non seulement descriptifs, interprétatifs, de compréhension du réel, mais aussi actifs – participant effectivement à la construction sociale et politique. […] Le je est indissociable du nous.“ Ebenda, S. 12. „Une vision sociale du monde s’élabore où il n’est pas possible de séparer ce qui est du domaine de l’imagination, de la sensibilité, de l’emotion et du domaine de la raison, ce qui est privé et public, ce qui est individuel et collectif.“ Mélanges poétiques. Le bal. Poëme, par Ulric Guttinguer, in: Globe, 72 (1825), S. 356, zit. bei: Pelta, Le romatisme libéral, S. 273. „Tout système, toute routine est la mort de la poésie […] tous les aucunes ne sont que perroquets. Il faut donc que chacun se fasse sa propre école.“ Goblot, Jean-Jacques: La jeune France libérale. Le Globe et son groupe littéraire 1824– 1830, Paris 1995.

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Anmerkungen

[Comte, Charles:] De l’autorité légitime et du gouvernement parlementaire, in: Censeur, IV [1815], S. 42, zit. bei: Pelta, Le romantisme libéral, S. 273f. 84 Jouffroy, Théodore: Mélanges philosophiques, 4. Aufl., Paris 1866, S. 338. „Une révolution est donc un pas que fait l’esprit humaine dans la recherche de la vérité. Condamne le révolution, ce donc condamne la nature humaine […].“ V[itet], L[udovic]: De l’independance en matière de goût (Ier article) – Du romantisme, 85 in: Globe, 89 (1825), S. 444, zit. bei: Pelta, Le romantisme libéral, S. 272. „[…] le plus romantique […] de tous romantiques“. 86 Monnier, L’art et ses institutions, S. 52. 87 Eisenman, Stephen F.: The decline of History Painting: Germany, Italy and France, in: Ders. (Hg.): Nineteenth Century Art. A critical History, 2. Aufl., London 2002, S. 277. 88 Germer, Stefan: Alte Medien – neue Aufgaben. Die gesellschaftliche Position des Künstlers im 19. Jahrhundert, in: Wagner, Monika (Hg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Bd. 1, Reinbek b. Hamburg 1992, S. 99. 89 Gautier, Théophile: Salon de 1848, in: La Presse, 22. April 1848. „Le jury est enfin dis­ paru; il a été emporté par ce vent acerbe et purificateur qui a soufflé quinze jours avec tant de violence […]; mais les bourreaux de l’esprit ne sont-ils pas aussi coupable que les bourreaux du corps, et le meurtre d’une idée n’est-il pas le plus grand des crimes? Censeurs, membres du jury, tous ceux qui mutilent la pensée doivent être mis au rang des inquisiteurs et des tortionnaires […]; laissez le peuple juger par lui-même!“ 90 Monnier, L’art et ses institutions, S. 52. 91 Ebenda, S. 53. „Il incarne bien […] le projet d’une politique républicaine des arts.“ 92 Ebenda, S. 52–54. 93 Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 27. 94 Zit. bei: Herding, Klaus (Hg.): Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Frankfurt a.M. 1978, S. 31. 95 Zit. bei: Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 175. 96 Zit. bei: Eisenman, Stephen F.: The Rhetoric of Realism: Courbet and the origins of the Avant-Garde, in: Ders. (Hg.): Ninetheenth Century Art. A critical History, 2. Aufl., London 2002, S. 222. 97 Proudhon, Pierre-Joseph: Du principe de l’art et de sa destination sociale, in: Ders.: Œuvres complètes. Nouvelle Edition, Bd. 11, hg. von C. Bouglé et H. Moysset, Genf/ Paris 1982, S. 175. „De tous les actes de la vie, le plus grave, celui qui prête le moins à l’ironie est celui qui la termine, c’est la mort.“ 98 Reck, Hans Ulrich: Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München 2003, S. 200. 99 La Presse, 15. Februar 1851, zit. bei: Herding (Hg.), Realismus als Widerspruch, S. 81. 100 Proudhon, Du principe de l’art, S. 176. „C’est cette plaie hideuse de l’immoralité moderne que Courbet a osé montrer à nu […]. La, nous dit-il, je ne vois plus qu’une chose qui soit respectable: ce sont les pleurs des mères, des sœurs, des épouses; c’est l’ignorance des enfants. Tout le reste est comédie, et, comme vous dites, sacrilège. Or ce sacrilège, vous ne l’apercevriez pas, âmes pourries et cadavéreuse que vous êtes, si la peinture ne vous le faisait entrer de vive force dans la conscience, par l’horreur même de la représentation.“ 101 Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 24–28.

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102 Précurseur d’Anvers, 22. August 1861, zit. bei: Herding (Hg.), Realismus als Widerspruch, S. 28 [Hervorhebung im Original]. 103 Siehe dazu etwa die zahlreichen zeitgenössischen Dokumente bei: Herding (Hg.), Realismus als Widerspruch. 104 Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 26, 28. 105 Lévêque, Jean-Jacques: Musée d’Orsay. Tentative d’un itinéraire à travers les collections, Paris 2001, S. 28. „[…] à la frontière entre réalisme social et l’aventure de la peinture […].“ 106 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 86f. [Kursiv im Original]. 107 Tacke, Charlotte: Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg (1848–1914), in: Hinrichs, Ernst (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 1994, S. 330. 108 Monnier, L’art et ses institution, S. 76f.; Lauren, Jeanne: À propos de l’École des beauxarts, Paris 1987, S. 129. 109 Monnier, L’art et ses institutions, S. 77–79. 110 Zerner, Henri: Le regard des artistes, in: Corbin, Alain (Hg.): Histoire du corps, Bd. 2. De la Révolution à la Grande Guerre, Paris 2005, S. 107. 111 Eisenman, The decline of History Painting, S. 276. 112 Monnier, L’art et ses institutions, S. 79. 113 Poirrier, L’État et la culture, S. 20; Monnier, L’art et ses institutions, S. 226–231; GenêtDelacroix, Marie Claude: Art et État sous la IIIe République. Le système des Beaux-Arts 1870–1940, Paris 1992. 114 Antonin Proust (1932–1905) war zur gleichen Zeit wie Manet als Maler im Atelier von Thomas Couture ausgebildet worden, arbeitete später als Journalist und war schließlich als überzeugter Republikaner in der Politik engagiert, u.a. wurde er 1870 in den Stadtrat von Nior und 1876 als Deputierter für das Departement Deux-Sèvres in die Nationalversammlung gewählt. Er war Mitglied der „Commission des monuments historiques“ und an mehreren republikanischen Kunstprojekten beteiligt, u.a. an einem „Musée des sculptures comparées“ (1879) und einem „Musée des Arts décoratifs“ (1905). Monnier, L’art et ses institutions, S. 223f. 115 Orwicz, Michael R.: Anti-academism and state power in the early third republic, in: Art History, 14/4 (1991), S. 582. 116 Le Salon, in: Le Petit Parisien, 2. Mai 1880, „Le nouveau classement permet de juger immédiatement la valeur des tableaux groupés par catégories de peintre. C’est ainsi qu’on remarque dans le groupe des Hors concours une quantité de médiocrités, de vieilleries, de niaiserie sans valeur aucune. Le classement des hors concours dans un group compact aura pour résultat immédiat d’appéler l’attention du public sur la nécessité absolue de rétablir le jury pour tout le monde sans distinction. La section des exempts est la plus vivante du Salon. Elle est composée de tableaux de jeunes peintres, et, certes, on y rencontre, de même qui dans la section des non-exempts, quelques peintures vraiment belles et ayant beaucoup plus de valeur que celle qui s’étalent majesteusement dans la section de hors concours.” 117 Siehe dazu v.a.: Proust, Antonin: L’Art dans la République, Paris 1892; Larroument, Gustave: L’art et l’État en France, Paris 1895; Couÿba, Charles-Maurice: Les Beaux-Arts et la Nation, Paris 1908; Ders.: L’Art et la démocratie; Paul-Boncour, Joseph: Art et démocratie, Paris 1912.

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Anmerkungen

Winock, Michel: La Belle Époque. La France de 1900 à 1914, Paris 2002, S. 316. Paul-Boncour, Art et démocratie. „[…] le rôle des pouvoirs publics n’est pas d’imposer une formule d’art, mais seulement de chercher les moyens administratifs d’exprimer le plus exactement possible celle qui existent.“ 120 Monnier, L’art et ses institutions, S. 266. 121 La Presse, 25. Juni 1882. „[…] sans toucher à cette indépendance à laquelle vous vous accoutumez […]“. 122 Monnier, L’art et ses institutions, S. 219f.; Wetzel, Christoph: Das Reclam Buch der Kunst, Stuttgart 2001, S. 388f. 123 Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 39. 124 Poirrier, L’État et la culture, S. 17, 20. 125 Orwicz, Anti-academism and state power, S. 580. 126 Monnier, L’art et ses institutions, S. 220. 127 Gachons, Jacques des: Le „Doit et Avoir“ des Salons, in: Le Figaro, 22. Mai 1909. „L’Etat, qui, généreusement, et depuis trois ans, donne une bourse tous les 24 moins à une poéte et tous les 24 mois une bourse à un prosateur, donne tous les ans, aux peintres et sculpteurs, dix bourses de 4.000 francs, 15 encouragements de 1.000 francs, 30 encouragements de 500 francs et, par-dessus le marché, un prix National de 10.000 francs. La République aime la peinture.“ 128 Monnier, L’art et ses institutions, S. 221. 129 Ebenda, S. 73. 130 Zeldin, Histoire des passions française 3, S. 47. „Pour la plupart des gens, littérature n’etait pas synonyme de révolution ni d’orginalité, mais de goût […].“ 131 Taliano De Garets, Françoise: Négoce et art dans le Bordelais à l’époque contemporaine, in: Marseille, Jacques/Eveno, Patrick (Hg.): Histoire des industries culturelles en France XIXe–XXe siècle, Paris 2002, S. 287, 290. 132 Robert Bissière (1919), zit bei: Ebenda, S. 290. „Bordeaux est peut-être la seule grande ville de France où le prix de Rome ait conservé quelque prestige.“ 133 Taliano De Garets, Négoce et art, S. 285f. 134 Ebenda, S. 284. 135 Levitt-Pasturel, Deborah: Critical response to Japan at the Paris 1878 Exposition Universelle, in: Gazette des Beaux-Arts, 119 (1992), S. 68–80. 136 Gay, Bürger und Boheme, S. 201–203, 206, 222f., 227. 137 Bonin, Hubert: L’argent des Banquiers et la culture: entre mécénat et identité, in: Marseille/Eveno (Hg.), Histoire des industries culturelles, S. 281. 138 Dies vermuten etwa: White, Harrison/White, Cynthia: Canvases and Careers. Institutional Change in the French Painting World, New York 1965. 139 Monnier, L’art et ses institutions, S. 151. 140 Gay, Bürger und Boheme, S. 232f. 141 Zit. bei: Varnedoe, Gustave Caillebotte, S. 197. „[…] que ces tableaux n’aillent ni dans un grenier ni dans un musée de province mais bien au Luxembourg et plus tard au Louvre […].“ 142 Journal des Artistes, 8. April 1894, zit. bei: Laurent, Jeanne: Arts et pouvoirs en France de 1793 à 1981, St.-Etienne 1982, S. 90.

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Zur Auseinandersetzung um das Testament von Caillebotte siehe: Varnedoe, Gustave Caillebotte, S. 197–204. Heute befinden sich die Werke im Musée d’Orsay. 144 Léger, Charles: Courbet selon les caricatures et les images, Paris 1920, S. 38; Herding, Erlöser und Scharlatan, S. 14f. 145 Monnier, L’art et ses institutions, S. 213. 146 Germer, Alte Medien, S. 98 [Kursiv im Original]. 147 Gachons, Jacques des: Le „Doit et Avoir“ des Salons, in: Le Figaro, 22. Mai 1909. „On assure que l’année où Rodin exposait son Balzac, des gens sont venus […] à Paris de tout les points de l’Europe, traversèrent en aveugle la nef de la galerie des Machines, s’arrêtèrent devant l’objet, s’extasiérent ou s’echauffèrent suivant leur témpérament, puis repartirent sans s’interesser à rien d’autre. Ils avaient vu le ‚Balzac de Rodin’: ils étaient satisfaits.” 148 Alle Zitate finden sich bei: Grunfeld, Rodin, S. 416f. 149 Rodenbach, Georges: Une Statue, in: Le Figaro, 17. Mai 1898, zit. bei: Ebenda, S. 418. 150 Zit. bei: Mathieu, Caroline: Musée d’Orsay. Guide, Paris 1992, S. 194. „[…] la sculpture doit exagérer […] les formes“. 151 Grunfeld, Rodin, S. 345–362, 420; Rosenblum, Robert/Janson, Horst W.: Art of the Ninetheenth Century. Painting and Sculpture, London 1984, S. 481–483. 152 Grunfeld, Rodin, S. 421–425. 153 Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871 (Seher-Briefe), in: Rimbaud, Arthur: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe, hg. von Thomas Eichhorn, 2. Aufl., München 2002, S. 376f. „Musset est quatorze fois exécrable pour nous […]. Ô! les contes et les proverbes fadasses! ô les nuits! Ô Rolla, ô Namouna! ô la Coupe! tout est français, c’està-dire haïssable au suprême degré […]; tout séminariste en porte les cinq cents rimes dans le secret d’un carnet […]; à dix-huit ans, à dix-sept même, tout collégien qui a le moyen fait le Rolla, écrit un Rolla!“ 154 Monnier, L’art et ses institutions, S. 166f.; Zola, Émile: L’Œuvre, Paris 1983; Zu Fagerolles Streben nach Bekanntheit und seiner Anpassungsfähigkeit siehe: Sitzia, Emilie: L’artiste entre mythe et réalité dans trois œuvres de Balzac, Goncourt et Zola, Åbo 2004, S. 87,138f. 155 Ebenda, S. 108. 156 Sitzia, L’artiste entre mythe et réalité, S. 139. „Il reprend l’originalité des autres, certains aspects révolutionnaires, en les adoucissant de manière à ce qu’ils soient accepables pour le public de l’époque.“ 157 Zola, L’Œuvre, S. 306f. „L’intérieur était d’un luxe magnifique et bizarre: de vieilles tapisseries, de vieilles armes, un amas de meubles anciens, de curiosités de la Chine et du Japon […]. Mais […] l’atelier surtout était une merveille, assez étroit, sans un tableau, entièrement recouvert de portièrs d’Orient […], des lances soutenant […] le dais […], au-dessus d’un entassement de tapis, de fourrures et de coussins, presque au ras du parquet.“ 158 Ebenda, S. 307. „[…] une petite toile sur un chevalet de bois noir, drapé de peluche rouge […].“  159 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 86, 88f. 160 Zit. bei: Joutard, Philippe: L’ouverture des connaissance et les mutations culturelles

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Anmerkungen

1871–1914, in: Duby, Georges (Hg.): Histoire de la France de 1852 à nos jours, Paris 1987, S. 190. „[…] école du poncif et de la mode imbécile […]“. 161 Zit. bei: Kracauer, Offenbach, S. 56. 162 Le Figaro, 7. April 1909. „Grand succés pour tous ces admirables artistes.“ Siehe dazu auch: Martin-Fugier, Les salons de la IIIe république. Art, littérature, politique, Paris 2003, S. 95. 163 Monnier, L’art et ses institutions, S. 167f. 164 Ebenda, S. 169f., 172f. 165 Gay, Bürger und Boheme, S. 231. 166 Taliano De Garets, Négoce et art, S. 285f. 167 Monnier, L’art et ses institutions, S. 171–174. 168 Pichois, Claude/Ziegler, Jean: Baudelaire, Paris 1987, S. 442–452; Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 105–107. Pierre Bourdieu betont in erster Linie die Provokation, die Baudelaire mit seiner Bewerbung für die Académie Française beabsichtigte, und die Schwierigkeiten, die „die revolutionären Gründer einer neuen Ordnung zu deren Errichtung vollbringen müssen“. (S. 107). Damit ist er stark im Konzept der „Gegenkultur“ verhaftet, das allerdings – wie bereits oben erwähnt – überdacht werden muss. 169 Zeldin, Histoire 3, S. 19. Als Vergleich seien hier etwa Comtesse de Ségurs „Les Mé­ moirs d’un âne“ genannt, von denen 600.000 Stück verkauft wurden. Ebenda, S. 21. 170 Sainte-Beuve, Charles-Augustin: Des prochaines élections à l’Académie, in: Le Constitutionnel, 20. Januar 1862, zit. bei: Pichois/Ziegler, Baudelaire, S. 449. „Ce qui est certain, c’est que M. Baudelaire gagne à être vu, que là où l’on s’attendait à voir entrer un homme étranger, excentrique, on se trouve en présence d’un candidat poli, respectueux, exemplaire, d’un genil garçon, fin de langage et tout à fait classique dans les formes.“ 171 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 90. 172 Brief an seinen Bruder Achille, 31. Januar 1857, in: Flaubert, Gustave: Werke, Briefe, Materialien, Bd. 7. Briefe, Zürich 1977. 173 Marx, Erich: Nachwort, in: Zola, Nana, S. 504. Siehe dazu auch die Funktion sexueller Trieberfüllung im bürgerlichen Gesellschaftsmodell auf S. 41 in diesem Buch. 174 Ebenda, S. 509. 175 Darragon, Éric: Manet, Paris 1989, S. 259. „À la concurrence du jury“. 176 William Adolphe Bouguereau (1825–1905) war ein Vertreter der „art académique“ (Akademischer Klassizismus), der sich streng an die Regeln der „Académie de Beaux-Arts“ (S. 162) hielt. Vielfach sind auf seinen Gemälden antike und mythologische Sujets thematisiert. Die Pinselstriche sind nicht mehr zu erkennen; die Gemälde erinnern an Fotografien. 1876 gehörte er damit bereits zu den konservativen Malern. 177 Zit. bei: Martin-Fugier, La Vie d’artiste, S. 223. „Refuser M. Manet n’est pas une bonne chose. […] Il occupe dans l’Art contemporain une place autrement grande que M. Bouguereau, par exemple, que je vois parmi les membres du jury.“ 178 Martin, Louis-Leon: La Seizième Exposition du Salon d’Automne. Un „vernissage“ au Grand Palais, in: Paris-Soir, 1. November 1923. „Au moment d’un Salon – celui d’Automne ou celui des Beaux-Arts, je ne sais plus en juste – le directeur d’une revue où j’assurais jadis la critique d’art me dit ou à peu près: ‚Allez! et découvrez-moi une demi-douzaine de talents nouveaux‘; à quoi je répondis que, si, pareil aux sourciers, je possédais un tel pouvoir, je quitterais mon honorable profession de critique d’art pour

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celle, honorable aussi, mais plus lucrative, de marchand de tableaux. […] N’attendez pas de moi de révélations sensationelles. Il arrivera certainement, et j’ajoute heureusement, que je parlerai d’inconnus; mais je suis, fichtre!, bien incapable de prédire qu’ils auront un jour du genie.“ Mélonio, Françoise: La culture comme heritage, in: Baecque, Antoine de/Dies., Histoire culturelle de la France 3, S. 218f. „Le XIXe siècle est caractérisé par le glissement du système académique régi par l’État à celui du marché régulé par les marchands et critiques d’art […].“ Zit. bei: Monnier, L’art et ses institutions, S. 77. „L’art de la peinture me paraît complètement tué par le commerce de la peinture.” Germer, Alte Medien, S. 98. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, in: Engelmann (Hg.), Michel Foucault, S. 68f. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 64. Siehe dazu auch die bereits im vorangegangenen Unterkapitel erwähnte Bedeutung des Kritikers sowohl als Partner als auch als Gegner des Künstlers (S. 173). Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 260. Rosenblum/Janson, Art of the Ninetheenth Century, S. 120f.; Boehn, Max von: Vom Kaiserreich zur Republik. Eine Kulturgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert, München 1921, S. 72–74. Crow, Thomas: Classicism in Crisis: Gros to Delacroix, in: Eisenman, Stephen F. (Hg.): Nineteenth Century Art. A Critical History, neue Aufl., London 2002, S. 70f. Pitwood, Michael: Dante and the French Romantics, Genf 1985; Germer, Alte Medien, S. 104f. Dante Alighieri: Die göttliche Komödie, 11. Aufl., München 1989, S. 38. Étienne-Jean Délécluze, in: Le Moniteur Universel, 18. Mai 1822, zit. bei: Germer, Alte Medien, S. 109. Zit. bei: Boehn, Vom Kaiserreich zur Republik, S. 75. Zit. bei: Ebenda, S. 75. Claudon, Francis: La Littérature, in: Ders. (Hg.): Le Romantisme, Paris 1996, S. 232. Zit. bei: Ebenda, S. 183. „Le romantisme n’est ni précisément dans le choix des sujets ni dans la vérité exacte, mais dans la manière de sentir.“ Dayre, Éric: Le Moderne: Traduction et politique du Romantisme, in: Bour, Isabelle/ Ders./Née, Patrick (Hg.): Modernité et Romantisme, Paris 2001, S. 268–286. Stendhal: Racine et Shakespeare, Paris 1823, S. 43. „Le romanticisme est l’art de présenter aux peuples les œuvres littéraires qui, dans l’état actuel de leurs habitudes et de leurs croyances, sont susceptibles de leur donner le plus de plaisir possible. Le classicisme, au contraire, leur présente la littérature qui donnait le plus grand plaisir possible à leur arrière-grands-pères.“ Suchanek-Fröhlich, Kulturgeschichte Frankreichs, S. 564. Rosenblum/Janson, Art of the Ninetheenth Century, S. 62f. Pillement, Georges/Noisette de Crauzat, Claude: La Peinture, in: Claudon (Hg.), Le Romantisme, S. 43. „[…] vers un raffinement, un manièrisme qui en étaient le reniement.“

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Anmerkungen

Zit. bei: Ebenda, S. 44. „Les belle formes sont celles qui ont de la fermeté et de la plénitude, et où les détails ne compromettent pas l’aspect des grandes masses.“ Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, 6. Aufl., München 1994. Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel: Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle, Paris 1854–1868, zit. bei: Germann, Georg: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974, S. 129. Olsen, Donald J.: Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 210f. Gay, Bürger und Boheme, S. 183 [Kursiv im Original]. Der Stich „Das Urteil des Paris“ stellt eine Szene aus der griechischen Mythologie dar: die Wahl der Schönsten unter drei Göttinnen durch Paris, die den Raub der Helena und schließlich den Krieg um Troja nach sich ziehen sollte. Der Stich setzt sich aus drei Teilen zusammen: Paris mit den Göttinnen auf der Erde, umgeben von zahlreichen anderen Personen, u.a. von drei sitzenden Flussgöttern, darüber Apoll mit dem Sonnenwagen und rechts oben die Darstellung des Zeus. Die drei sitzenden Flussgötter, von denen einer aus dem Bild herausblickt, dienten Manet als Vorlage für die Komposition seiner Figuren in „Le Déjeuner sur l’herbe“. Bätschmann, Oskar: Édouard Manet, Paul Cézanne: Maler des modernen Lebens?, in: Wagner (Hg.): Moderne Kunst 1, S. 138f., 143. Zerner, Henri: Le regard des artistes, in: Corbin (Hg.), Histoire du corps 2, S. 90–97, 107f. Victorine Meurent (1844-1927) war vor allem in den 1860/70er Jahren ein beliebtes Modell und arbeitete, nachdem sie Zeichen- und Malunterricht genommen hatte, selbst als Malerin. Sie stellte mehrmals im Pariser Salon aus und erteilte auch Gitarrenunterricht. Von ihren Gemälden sind nur noch wenige erhalten. Um ihr offensichtlich bewegtes Leben ranken sich zahlreiche und wohl großteils erfundene Geschichten, die u.a. von ihrem angeblichen Alkoholismus und von einer Tätigkeit als Straßensängerin mit einem Affen erzählen. Die Frage der „Wahrheit“ wurde etwa auch bei Rodins „Das Eherne Zeitalter“ (1877) diskutiert, zumal ihm vorgeworfen wurde, die Plastik sei nicht anderes als ein Abguss vom lebenden Modell. Siehe dazu u.a.: Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 268. Zerner, Le regard des artistes, S. 109. „Il faut bien souligner, que le débat est idéologique et qu’il est articulé en termes qui sont éthiques tout autant qu’esthétiques.“ Ebenda, S. 109f.; Gay, Bürger und Boheme, S. 182. Eisenman, Stephen F.: Manet and the Impressionists, in: Ders. (Hg.), Ninetheenth Century Art, S. 285f. Zerner, Le regard des artistes, S. 110. L’Époque, 7. Juni 1865, zit. bei: Clark, Timothy J.: The Painting of Modern Life: Paris in the Art of Manet and his Followers, Princeton 1984, S. 139 [Großschreibung im Original]. Zitiert auch bei: Gay, Bürger und Boheme, S. 183. Gay, Bürger und Boheme, S. 184. Bätschmann, Maler des modernen Lebens, S. 138f., 141. Joutard, L’ouverture, S. 190; Balk, Claudia: Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler – Sarah Bernhardt – Eleonore Duse, Basel/Frankfurt a.M. 1994, S. 88, 192f.

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Abel, Richard: Der französische Stummfilm, in: Nowell-Smith, Geoffrey (Hg.): Geschichte des internationalen Films. Sonderausgabe, Stuttgart/Weimar 2006, S. 107f. 218 Joutard, L’ouverture, S. 190; Charle, Christophe: La dérégulation culturelle. Essai sur d’histoire des cultures en Europe au XIXe siècle, Paris 2015, S. 408. 219 Louise Michel, gelernte Grundschullehrerin und in den 1850er Jahren Gegnerin des Bonapartismus, beteiligte sich an der Pariser Kommune von 1871 als Krankenpflegerin. Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune wurde sie zu zwanzig Monaten Haft verurteilt und nach Neukaledonien verbannt. Seit den 1880er Jahren agitierte sie für den Anarchismus, wurde neuerlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und überlebte einen Mordanschlag. Zudem setzte sie sich für den Feminismus ein und war als Autorin tätig. Kilian, Michaela: „Keine Freiheit ohne Gleichheit!“ Louise Michel (1830 oder 1833–1905), Anarchistin, Schriftstellerin, Ethnologin, libertäre Pädagogin, Lich/Hessen 2008. 220 Barrows, Susanna: Miroirs déformants. Réflexions sur la foule en France à la fin du XIXe siècle, Paris 1990; Charle, La dérégulation culturelle, S. 413f. 221 Charle, La dérégulation culturelle, S. 411. 222 Martin-Fugier, La Vie d’artiste, S. 91–99; Schüle, Die kulturelle Konstruktion, S. 19–25. 223 Laberthe, Philibert: Le cabaret du Lapin blanc, in: Nisard, Charles: Des chansons populaires chez les anciens et chez les Français. Essai historique suivi d’une étude sur la chansons des rues contemporaine, Bd. 2, Paris 1867, S. 245. „Puisque la loi veut que tout passe, / Que fera-t-on du vieux lapin? / Si dans quelques jours il trépasse, / Comment s’accomplira sa fin? / Mais, ô douleur! Chacun sanglote: / Un chiffonier du Tapis-franc / Doit ensevelir dans sa hotte / Le Lapin blanc, le Lapin blanc.“ 224 Siehe dazu v.a.: Condemi, Les café-concerts. 225 Lecoq, Benoit: Le café, in: Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire, Bd. 3. Les France, Paris 1997, S. 3780f.; Rieger, Dietmar: Kommentar, in: Ders. (Hg.): Französische Chansons. Von Béranger bis Barbara, Stuttgart 1987, S. 367–370; Leduc, Jean: L’enracinement de la République 1879–1918, 2. Aufl., Paris 1997, S. 162. 226 Turcaret ist die Titelfigur der Komödie „Turcaret“ (1709) von Alain-René Lesage (1668– 1747), in der das Pariser Finanzbürgertum karikiert und kritisiert wird. Turcaret, ein neureicher Finanzier, verkörpert darin gleichsam die Niedrigkeit in einer vom Kapital beherrschten und verdorbenen Gesellschaft. Lesage provozierte mit „Turcaret“ einen Skandal und erzielte damit zugleich einen großen Erfolg. Auf Druck des Pariser Finanzbürgertums wurde das Stück, das in der Comédie Française gespielt wurde, letztlich aber abgesetzt. Siehe dazu u.a.: Briesemeister, Dietrich: Turcaret, in: Schwendemann, Irene (Hg.): Hauptwerke der französischen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen, München 1976, S. 208f. 227 Le Chat noir, 14. Januar 1882, zit. bei: Gay, Bürgertum und Boheme, S. 370, Anm. 6. „[…] nous bâillons / Chez les Banquiers, rois de l’usure. / Nous faisons la caricature / De Turcaret bête et hautain, / Chacun de nous prêteà sa hure, / peintre, poète ou cabotin […] / Bourgeois, fuis, quand nous ripaillons / […] / Et nous trinquons, mortelle injure / En disant ‚bren!‘ au Philistin!” 228 Zu Salis, dem „Chat noir“ und der gleichnamigen Zeitschrift siehe: Labracherie, La vie quotidienne, S. 161–168. 229 Herder-Lexikon Symbole, 4. Auflage, Freiburg/Basel/Wien 1996, S. 85.

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Anmerkungen

230 Verhaeren, Paul: Le Salons des Indépendants, in: L’art moderne, 5. April 1891, zit. bei: Rewald, John: Post-Impressionism from van Gogh to Gauguin, 3., überarbeitete Aufl.,New York 1978, S. 7. Jean-François Sirinelli konstatiert eine ähnliche Situation für die 1920er Jahre, eine „subtile Mélange aus Kühnheit und Klassizismus“ („mélange subtil d’audace et de classicisme“): „Zwischen revolutionären Gärstoffen und ‚Rückkehr zur Ordnung‘, zwischen Surrealismus und blühender ‚bürgerlicher‘ Literatur ist es wohl der Begriff ‚Mannigfaltigkeit‘, der […] den Inhalt und die Tonart der französischen Kultur der 1920er Jahre definiert.“ Sirinelli, Jean-François: Le Temps accélléré (1918–1962), in: Rioux, Jean-Pierre/Sirinelli, Jean-François (Hg.): Histoire culturelle de la France, Bd. 4, Paris 1998, S. 182. „Entre ferments révolutionnaires et ‚retour à l’ordre‘, entre surréalisme et littérature ‚bourgeoise‘ épanouie, c’est bien le mot ‚diversité‘, qui […] définit la teneur et la tonalité de la culture française des années 1920.“ 231 Martin-Fugier, La Vie d’artiste, S. 227; Monnier, L’art et ses institutions, S. 267–269. 232 Le Petit Parisien, 17. März 1890. „Notez que malgré la scission, le nombre des envois a été presque égal à celui des années précédentes. Beaucoup d’artistes fantaisistes, découragés par leur insuccès perpétuel, ont repris, en effet, courage cette année en se disant que, puisqu’il y avait deux Salons, le nombre des aspirants serait moins grand dans chacun et, partant, l’admission plus facile.“ 233 Monnier, L’art et ses institutions, S. 269–274. 234 Gimpel, René: Journal d’un collectionneur marchand de tableux, Paris 1963, S. 400, zit. bei: Ebenda, S. 274. „[…] celui de demain […]“. 235 Partsch, Susanne: Kunst-Epochen, Bd. 11. 20. Jahrhundert I, Stuttgart 2002, S. 32f., Roque, Georges: Qu’est-ce que l’art abstrait. Une histoire de l’abstraction en peinture (1860–1960), Paris 2003, S. 62. 236 Vauxcelle, Louis: Le Salon des „Indépendants“ (1906), in: Dagen, Philippe (Hg.): Pour ou contre le fauvisme. Textes de peintres, d’écrivains et de journalistes, Paris 1994, S. 74. „[…] il ait voulu atteindre à la plus haute synthèse […]. Mais une synthèse doit être précédée de longues et laborieuses analyses; il ne faut pas confondre simplification et insuffisance, schématisme et vide.“ 237 Partsch, Kunst-Epochen 11, S. 34f. 238 Apollinaire, Guillaume: Les peintres cubistes. Médiations Estéthiques, Paris 1965, S. 119. „Le cubisme est l’art peindre des ensemble nouveaux avec des éléments empruntés non à la réalité de vision, mais à la réalité de conception.“ 239 Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 86. 240 Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait, S. 81. 241 Apollinaire, Guillaume: Die Kubisten (1911), in: Apollinaire zur Kunst. Texte und Kritiken 1905–1918, hg. von Hajo Düchting, Köln 1989, S. 128. 242 Zimmermann, Michael F.: Naturalismus unter dem Eiffelturm. Die Kunst auf der Weltausstellung von 1889, in: Gersmann, Gudrun/Kohle, Hubertus: Frankreich 1871– 1914, Stuttgart 2002, S. 152. 243 Zum „Primitivismus“ siehe u.a. den aufschlussreichen Aufsatz von: Schawelka, Karl: Das Primitive als Kulturschock. Pablo Picasso, in: Wagner (Hg.), Moderne Kunst 1, S. 218–236. Bezeichnenderweise wird die „primitive Kunst“ bzw. die „Urkunst“ in Frankreich in den letzten Jahren wieder verstärkt rezipiert: 2006 wurde auf Initiative Jacques Chiracs, der sich wie viele seine Vorgänger im Amt des Präsidenten der Repu-

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blik ein bleibendes Denkmal setzen wollte, das „Musée du Quai Branly“ eröffnet, in dem den vermeintlichen Ursprüngen der Menschheit nachgespürt werden soll. Freilich lässt sich die „Urkunst“ auch in der Gegenwart als eine Erfindung der Zivilisation interpretieren, mit der die Entfremdung infolge der Industrialisierung kompensiert werden soll. Siehe dazu: Hellmuth, Thomas: Mission Civilisatrice. Die „Chaîne Française d’Information Internationale“ (CFII) im Schatten des Kolonialismus, in: XING, 5 (2006), S. 26f. Monnier, L’art et ses institutions, S. 213. Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 38. Zur Bedeutung der Sozialisation bei der Wahrnehmung siehe: Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Reinbek b. Hamburg 2000, S. 152– 156. Gauguin nimmt im Übrigen bereits die Intention des Films vorweg, bei der Bildkomposition die geschlossene durch die offene Form abzulösen und damit die traditionellen Perspektiven zu brechen. Ebenda, S. 188–191, 219–222. Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871 (Seher-Briefe), in: Rimbaud, Sämtliche Dichtungen, S. 370–373 [Kursiv im Original]. „Toute poésie antique abouit à la poésie ­grecque, Vie harmonieuse. […] La première étude de l’homme qui veut être poète est sa propre connaissance, entière; il cherche son âme, il l’inspecte, il la tente, l’apprend. […] Le Poète se fait voyant par un long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens.“ Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 229. Bätschmann, Maler des modernen Lebens, S. 146. Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait, S. 50–55. Zit. bei: Doran, Michael: Introduction, in: Ders. (Hg.): Conversations avec Cézanne, Paris 1978, S. 16. „Le dessin pur est une abstraction. Le dessin et la couleur ne sont points distincts, tout dans la nature étant coloré.“ Courbet, Gustave: Lettre à un group des jeunes artistes de Paris (1861), zit. bei: Castagnary, Jules-Antoine: Les libres propos, Paris 1864, S. 183. „[…] le peintre ne peut demander des sujets aux choses qui ne tombent point sous le sens […] il est enchaîné par le monde visible.“ Castagnary, Jules-Antoine: Les libres propos, Paris 1864, S. 195–197. „‚Le Beau, a dit Courbet, est dans la nature‘. – Le Beau est dans l’homme, contredis-je […]. Dans la nature, il n’y a ni beau ni laid, mais seulement des formes et des apparences colorées. Le concept de beauté ou laideur naît en notre esprit […]. Le Beau n’ayant point de réalité objective, il n’existe donc qu’à l’état d’abstraction.“ Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait, S. 149. Delaunay, Robert: Du cubisme à l’art abstrait, hg. von Pierre Francastel, Paris 1957, S. 186. „[…] je travaille beaucoup d’après nature; comme on appelle cela vulgairement: devant le sujet […].“ Apollinaire, Guillaume: Chronique d’art. 1902–1918, Paris 1960, S. 90. „[…] car le plaisir que ces œuvres se proposent de donner au spectateur est direct. […] Chaque tableau de Picabia a son existence propre limitée par le titre qu’il lui a donnée.“ Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait, S. 151 [Kursiv im Original]. „Autrement dit, il ne s’agit pas d’opposer à la représentation de la réalité extérieure l’expression d’une réalité autre, qu’elle soit transcendantale ou intérieure. Non. La réalité don’t il s’agit est celle de

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Anmerkungen

l’œuvre elle-même, ce qui est très différent dans la mesure où il ne s’agit plus d’expression mais de construction.“ Delaunay, Du cubism à l’art abstrait, S. 123. Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait, S. 148. „[…] le simultanisme, lié à sa technique chromatique, l’usage des contrastes simultanés […].“ Partsch, Kunst-Epochen 11, S. 36f. Apollinaire, Guillaume: Die Fenster, in: Apollinaire zur Kunst, S. 287. Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871 (Seher-Briefe), in: Rimbaud, Sämtliche Dichtungen, S. 370f. „Du reste, libre aux nouveaux! d’exécrer les ancêtres […].“ Paech, Joachim: Bilder von Bewegung – bewegte Bilder. Film, Fotografie und Malerei, in: Wagner (Hg.), Moderne Kunst 1, S. 242–247; Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 89–91; Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait, S. 147–159. Robert Delaunay, zit. bei: Partsch, Kunst-Epochen 11, S. 121. Lejeune, Dominique: La France de la Belle Epoque 1896–1914, Paris 2000, S. 154f. Paech, Bilder von Bewegung, S. 242. Duchenne de Boulogne, Guillaume-Benjamin: Mécanisme de la physionomie humaine, ou analyse électro-physiologique de l’expression des passions applicable à la pratique des arts plastiques, Paris 1862. Dupouy, Stéphanie: Künstliche Gesichter. Rodolphe Töpffer und Duchenne de Boulogne, in: Mayer, Andreas/Métraux, Alexandre (Hg.): Kunstmaschinen. Spielräume des Sehens zwischen Wissenschaft und Ästhetik, Frankfurt a.M. 2005, S. 25, 31–37, 56f. Charles Baudelaire (1859), zit. bei: Monnier, L’art et ses institutions, S. 162. „[…] la servante des sciences et des arts, mais la très humble servante […].“ Mayer, Andreas/Métraux, Alexandre: Kunstmaschinen und Maschinenkunst. Einführende Bemerkungen, in: Dies. (Hg.), Kunstmaschinen, Frankfurt a.M. 2005, S. 16. Fénéon, Félix: Les impressionistes en 1886 (1886), zit. bei: Mayer/Métraux, Kunstmaschinen und Maschinenkunst, S. 21. Wolf, Kunst-Epochen 10, S. 35. Siehe dazu auch: Mayer/Métraux, Kunstmaschinen und Maschinenkunst, S. 21f. Breton, André: Le Surrealisme et la peinture (1928), zit. bei: Nadeau, Maurice: Geschichte des Surrealismus. 6. Auflage, Reinbek b. Hamburg 2002, S. 51 (Fußnote 2). Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 65, 173. Nadeau, Geschichte des Surrealismus, S. 22, 40–48. Über den Schrifsteller Isidore Ducasse (1846-1870) ist nur wenig bekannt. Sein Pseudonym „Lautréamont“ ist verumutlich Eugène Sues Schauerroman „Latréaumont“ (1837) entnommen, bei dem ein blasphemischer Anti-Held im Zentrum steht. Tatsächlich steht die Hauptfigur in seinen „Chants de Maldoror“ im Gegensatz zum Menschen und zu Gott und ist gleichsam die Inkarnation des Bösen. In seinem Buch versucht er, in das Unbewusste einzudringen, und schafft eine infernale Bilderwelt. Dabei verwendete er erste Ansätze der „écriture automatique“, des „automatichen Schreibens“, mit dem das Unbewusste zum Vorschein kommen soll. Breton, André: Caractère de l’evolution moderne, in: Les pas perdus, zit. bei: Nadeau, Geschichte des Surrealismus, S. 48. Lope, Hans-Joachim: Französische Literaturgeschichte, 2., ergänzte Aufl., Heidelberg 1984, S. 325.

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279 Partsch, Kunst-Epochen 11, S. 175–177. 280 Nadeau, Geschichte des Surrealismus, S. 31. 281 Beylie, Claude/Prédal, René: Les années folles et les années fastes (1919–1939), in: Bey­ lie, Claude (Hg.): Une histoire du Cinéma français, Paris 2005, S. 98–99. 282 Ebenda, S. 97. „[…] la division traditionelle entre arts de l’espace et arts du temps: d’une côté, l’architecture, la peinture et la sculpture, de l’autre la musique, la poésie et la danse […].” 283 Rees, Alan Leonard: Das Kino und die Avantgarde, in: Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des internationalen Films, S. 92; Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 59; Edwards, Gwynne: The discreet Art of Luis Buñuel. A reading of his films, London/New York 1991, S. 41–60; Neumann, Kerstin-Luise: Ein andalusischer Hund, in: Koebner, Thomas (Hg.): Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, Bd. 1, 4., durchgesehene und erweiterte Aufl., Stuttgart 2002, S. 204–207. 284 Darré, Yann: Histoire sociale du cinéma français, Paris 2000, S. 25f., 31f.; Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: Les Surréalistes et le cinéma, Paris 1988, 2. Aufl., Paris 1988, S. 12–30. 285 Azoury, Philippe/Lalanne, Jean-Marc: Cocteau et le cinéma. Désordres, Paris 2003, S. 34. 286 Damus, Kunst im 20. Jahrhundert, S. 32. 287 Ebenda, S. 11. Kapitel 4 1

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Rimbaud, Arthur: La chanson de la plus haute tour / Lied vom höchsten Turm, in: Rimbaud, Arthur: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe, hg. von Thomas Eichhorn, 2. Aufl., München 2002, S. 242–245. „Telle la prairie / À l’oubli livrée, / Grandie, et fleurie / D’encens et d’ivraies, / Au bourdon farouche / Des sales mouches.“ Reboux, Paul: Soirs de Paris, in: Paris-Soir, 5. Oktober 1923. „Les femmes sont l’objet d’hommage muets, ou même de galanterie qu’on leur décoche au passage, prestement, ainsi qu’au bal masqué. Chaque gandin, coiffé d’un chapeau très haut de forme, donne le bras à une dame au châle de cachemire. Les ombrelles trop petites abritent mal du soleil nouveau qui fait tourner la tête. Peu à peu, ce soir se dore. Ses reflets jouent dans les grosse laternes dont s’orne le perron de Tortoni. […] Les terrasses de café dégagent un parfum d’absinthe dont l’air s’aromatise. On va, on regarde, on sourit sans en savoir la cause, on savoure l’harmonieux déclin de la journée dans l’un des décors du monde les mieux faits pour le bonheur. Aujourd’hui? … Dzing! Tu peux pas te garer, eh ballot! … Coin! Coin! Coin! Coin! … Have a guide, sir? … ONOT … Craoû! Craoû! Craoû! Klakson! … Résultat complet des … Coin! Coin! … central limited bank … Coin! … Dzing! … Sensationnel! … Film! … Cache ton … Coin! … Superproduction! … Brrrrrrou! Engrenages … Coâ! Coâ! … Aïe! Voyou! Tag …! Je sais bien qu’il faut être de son temps. Mai tous cela me fait penser, non sans quelque nostalgie, à la douceur de vivre – que nous ne connaîtrons peut-être plus […].“ Rousseau’s Bekenntnisse. Uebersetzt von H. Denhardt, Bd. 1. Viertes Buch, Leipzig o.J., S. 201f.

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Anmerkungen

Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Nouvelle édition. Corrigée & augmentée, Tome III, Amsterdam 1783, S. 179f. [Kursivsetzung im Original]. „Dans le fauxbourg Saint-Marcel, lieu où par excellence dominent la misere, le mauvaise aire, [...] une fievre pourpreuse, brochant sur le tout, moissonoit les pauvres par centaines. Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Nouvelle édition. Corrigée & augmentée, Tome I, Amsterdam 1782, S. III–IV. „J’ai fait des recherches dans toutes les classes de citoyens, & n’ai pas dédaigné les objets les plus éloignés de l’orgueilleuse opulence, afin de mieux établir par ces oppositions la physionomie morale de cette gigantesque capitale.“ Thompson, Victora E.: Telling „Spatial Stories“: Urban Space and Bourgeois Identity in Early Nineteenth-Century Paris, in: The Journal of Modern History, 75 (2003), S. 529. Mercier, Tableau de Paris III, S. 180. „[…] l’extrême-onction descendoit du grenier au septieme étage.“ Olsen, Donald J.: Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 62. Ebenda, S. 55–62. Trollope, France: Paris et les Parisiens en 1835, Bd. 1, Paris 1856 [Erste Auflage: 1836], S. 146. „Dans une ville […] où les boutiques et les cafés ressemblent à des palais enchantés; […] où les femmes paraissent trop délicates et trop gracieuses pour être des créatures tout-à-fait terrestres, et les hommes trop soigneux et trop galans pour permettre qu’un souffle d’air impur approche d’elles; dans cette même ville vous ne pouvez faire un pas sanc que votre vue et votre odorat soient choqués et dégoûtés de toutes les façons imaginables.“ Thompson, Telling „Spatial Stories“, S. 529. Jouy, Étienne de: L’hermite de la chaussé d’Antin. Ou, Observations sur les mœurs et les usages parisiens au commecement du XIXe siècle, Bd. 3, Paris 1813, S. 292f. „Il n’est peut-être pas de ville au monde […] où les différentes classes de la population vivent dans un plus grand isolement qu’à Paris, et c’est principalement de cette difference de mœurs et d’habitudes qui fait en quelque sorte de chaque quartier une nation à part, que se compose le caractère general des Parisiens et la physionomie particulière de cette grande cité.“ Olsen, Die Stadt als Kunstwerk, S. 62–65; Vigier, Philippe: Nouvelle histoire de Paris. Paris pendant la Monarchie de Juillet (1830–1848), Paris 1991, S. 497. Trollope, France: Paris et les Parisiens en 1835, Bd. 2, Paris 1856 [Erste Auflage: 1836], S. 74. „[…] la richesse […] es visible […] dans le grand nombre de belles maisons qui s’élèvent avec rapidité, blanches et brillantes comme de jeunes champignons, dans la partie nord-ouest de Paris. C’est là un monde tout-à-fait noveau […].“ Trollope, Paris et les Parisiens 1, S. 153. „[…] on est plongé dans d’horribles ténèbres, et il n’y a pas de petite ville de province, en Angleterre, qui ne soit incomparablement mieux éclairée […].” Perrot, Michelle: Jeunesse de la grève. France 1871–1890, Paris 1984 (L’Univers historique). Ebenda, S. 51–54; Shorter, Edward/Tilly, Charles: Strikes in France 1830–1968, London 1974, S. 109. Charle, Histoire sociale, S. 57.

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Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, Paris 2005, S. 116. „Dans ce marécage social que constitue le monde du travail, l’ouvrier, soumis aux affres d’une misère effroyable, risque á tout moment de sombrer dans le crime.“ Grundlegend zu dieser Problematik siehe die Studie von: Chevalier, Louis: Classes laborieuses et Classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIXe siècle, Paris 1958 (Civilisations d’hier et d’aujourd’hui). Durch das Zusammenwirken von (nur zum Teil gelungener) bürgerlicher Integration und der sich durchsetzenden Eugenik wurde allerdings Ende des 19. Jahrhunderts die soziale Begründung von Kriminalität durch die Vorstellung der kriminellen „Natur“ zunehmend abgelöst. (Ebenda, S. 117). Heine, Heinrich: Lutetzia 1. Text, Apparat 1.–10. Artikel, bearbeitet von Volkmar Hansen, Hamburg 1988, IV. (30. April 1840), S. 31. Corbin, Alain: L’arithmétique des jours au XIXe siècle, in: Ders.: Le Temps, le désir et l’horreur. Essais sur le XIXe siècle, Paris 1991, S. 14. Louis Blanc (1811–1882), Historiker und Journalist, zunächst Republikaner, wandelte sich schließlich zum Sozialisten und war nach der Revolution von 1848 Mitglied einer provisorischen Regierung, welche die Republik proklamierte. Seine Ideen, die „soziale Frage“ zu lösen, wurden von den konservativen Republikanern in der Regierung abgelehnt. Nachdem er nach den Wahlen vom 23. April 1848 als Regierungsmitglied abgesetzt worden war, ging er nach Belgien und schließlich nach London ins Exil. Tacke, Charlotte: Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg (1848–1914), in: Hinrichs, Ernst (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs. Durchgesehene und aktualisierte Ausgabe, Stuttgart 1997, S. 314–317. Gille, Charles: Die Junigräber, in: Rieger, Dietmar (Hg.): Französische Chansons. Von Béranger bis Barbara, Stuttgart 1987, S. 85. „Tremblez! tremblez! la guerre sociale / A de nos jours pris son point de départ; / C’est une guerre acharnée et fatale / Où riche et pauvre useront leur poignard!“ Rieger, Dietmar: Kommentar, in: Ders. (Hg), Französische Chansons, S. 327, 329–331. Du Camp, Maxime: Souvenirs littéraires. Tome second, Paris 1892, S. 298. „[…] Paris m’apparut tout à coup comme un corps immense dont chaque fonction était mise en œuvre par des organes spéciaux, surveillés et de singulière précision. Je tombai dans une rêverie que le mouvement et le bruit rendaient plus intense; […] j’étais décidé à étudier un à un tous le rouages qui donnent le mouvement à l’existence de Paris.“ Ebenda, Perrot, Michelle/Guerrand, Roger-Henri: Szenen und Orte, in: Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4. Von der Revolution zum Großen Krieg, Paris 1987, S. 363–366. „Caf ’conc“ ist eine Abkürzung für „Café-concert“, d.h. für Lokale, in denen im 19. Jahrhundert Varieté-Vorstellungen geboten wurden (S. 149, 192, 256). Bruant, Aristide: À Saint-Ouen, in: Rieger (Hg.), Französische Chansons, S. 188–193. „Là où qu’i’ pouss’ des moissons / De culs d’ bouteill’ et d’ tessons, / […] Ma mèr’ m’a fait dans un coin, / […] C’est à côté des fortifs, / On n’y voit pas d’ gens comifs / Qui sent’ l’ musque. / Ni des môm’ à qui qu’i’ faut / Des complets quand I’ fait chaud, / C’est un lusque, / […] Faut chiner pour attraper / Des loupaqu’ ou pour chopper / Des mill’ pattes, / Dame, on nag’ pas dans l’ benjoin, […] / Enfin je n’ sais pas comment / On peut y vivre honnêt’ment, / C’est un rêve; / Mais on est récompensé, / Car comm on est harassé, / Quand on crève … / El’ cim’tière est pas ben loin, / À Saint-Ouen.“

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Anmerkungen

Mitterand, Henri: Zola et le naturalisme, Paris 1986, S. 21, 26f. „Natur, Beobachtung, Beleg, Untersuchung, Wirklichkeit, Analyse, Determinismus, dergestalt sind die Begriffe, mit denen Zola den Naturalismus zumeist erklärt.“ (Ebenda, S. 26. „Nature, observation, document, enquête, réalité, analyse, logique, déterminisme, tels sont les mots par lesquels Zola explicite le plus souvent le naturalisme.“) Zola, Émile: Le Roman expérimental, 5. Aufl., Paris 1881, S. 229f. „La nature est entrée 31 dans nos œuvres d’un élan si impétueux, qu’elle les a emplies, noyant parfois l’humanité, submergeant et emportant les personnages, au milieu d’une débâcle de roches et de grands arbres.“ Kalifa, Crime et culture, S. 117. 32 Rieger, Kommentar, S. 368f. 33 34 Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt a.M. 1993, S. 189. 35 Virey, Joseph: Des odeurs que répandent les animaux vivants, in: Recueil périodique de la Société de médicine de Paris, Bd. VIII, Paris 1799; Cloquet, Hippol: Osphrésiologie, ou Traité des odeurs, du sens et des organes de l’olfaction, Paris 1821; Lévy, Michel: Traité d’hygiène publique et privée, Bd. 1, 3. Aufl., Paris 1857. 36 Corbin, Pesthauch und Blütenduft, S. 187. Ende des 19. Jahrhunderts, als ein gesunder, durchtrainierter Körper als Voraussetzung für eine starke Nation gelten sollte und in der Schule die „gymnastique“ eingeführt wurde, waren Ausdünstungen auch in gutbürgerlichen Kreisen nicht mehr zu vermeiden und daher an eine solche strikte „naturwissenschaftliche“ Unterscheidung nicht mehr zu denken. Ebenda, S. 190. 37 38 Lallement, Michel: Le Travail de l’utopie. Godin et le Familistère de Guise. Biographie, Paris 2009; Perrot/Guerrand, Szenen und Orte, S. 375–378. 39 Fridenson, Patrick: Herrschaft im Wirtschaftsunternehmen. Deutschland und Frankreich 1880–1914, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 2, München 1988, S. 84. 40 Charles, L. J.: Visites de la Société International, in: Revue philanthropique, 18 (1905), S. 779–785; Koven, Set/Michel, Sonya: Womanly Duties. Materialist politics and the origins of welfare states in France, Germany, Great Britain and the United States, 1880–1920, in: Montgomery, Fiona/Collette, Christine (Hg.): The European’s Women History Reader, London/New York 2002, S. 229, 246 (Fußnote 26). 41 Guerrand, Roger-Henri/Rupp, Marie-Antoinette: Brève histoire du service social en France 1896–1976, Toulouse 1978. 42 Nède, André: La Maison sociale, in: Le Figaro, 8. April 1909. 43 Ebenda. 44 Charle, Histoire sociale, S. 277–280, 286–296; Démier, Francis: La France du XIXe siècle 1814–1914, Paris 2000, S. 427f. 45 Charle, Histoire sociale, S. 278. 46 Ebenda, S. 301. 47 Aline Valette (1850–1899) trat für die rechtliche Gleichstellung der Frauen unter anderem beim Wahlrecht sowie für den Zugang zur Universität und zu Berufen, die nur Männern vorbehalten waren, ein. Sie war Mitglied der 1892 in Paris gegründeten „Fédération Française des Sociétés Féministes“ und der „Parti Ouvrier Francais“ (POF) so-

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wie Gründerin der Wochenzeitschrift „L’Harmonie sociale“, die erstmals 1892 erschien und sich an die Arbeiterinnen wandte. Sie gehörte ferner zu den Mitverfasserinnen der 1893 erschienenen Schrift „Socialisme et Sexualisme: Programme du parti socialiste féminin“. (Offen, Karen: Debating the woman question in the Third French Republic, 1870–1920, Cambridge u.a. 2018, S. 163, 165, 229, 261.) Valette, Aline: Le Travail des Femmes dans l’atelier de couture, in: La Fronde, 16. Dezember 1897. „Quand Marx a dit: ‚Travailleurs de tous les pays, unissez-vous‘, il s’adressait aux travailleuses comme aux travailleurs.“ Die Rubrik „Le Travail des Femmes“ erschien regelmäßig und beschreibt die Situation der Frauen in verschiedenen Arbeitsbereichen. Valette, Aline; Le Travail des Femmes dans le tissage Leclerq-Dupin, in: La Fronde, 27. Januar 1898. „[…] se solidarisant avec leurs sœurs de travail.“ Willard, Claude: Les Attaques contre Notre-Dame de l’Usine, in: Mouvement Social, 57 (1966), S. 245–251; Hilden, Patricia: Working Women and Socialist Politics in France 1880–1914, Oxford 1986, S. 114f. Valette, Aline; Le Travail des Femmes dans le tissage Leclerq-Dupin, in: La Fronde, 27. Januar 1898. „[…] ont fait, à la sueur de leur sang, la fortune de leur patron millionaire“. Willard, Les Attaques, S. 246 (Fußnote 7). Du Camp, Maxime: Paris, ses organes, ses fonctions, et sa vie dans la second moitié du XIXe siècle. Tome premier, 6. Aufl., Paris 1879, S. 8. „Paris étant un grand corps, j’ai essayé d’en faire l’anatomie. Tout mon ambition est d’apprendre au Parisien comment il vit et en vertu de quelles lois physique fonctionnent les organes administratifs dont il se sert à toute minute […].“ Benevolo, Leonardo: Die Stadt in der europäischen Geschichte, München 1999, S. 208–210. Nède, André: La Maison sociale, in: Le Figaro, 8. April 1909. „L’un des malheurs et aussi l’un des dangers du temps actuel, c’est l’ignorance où sont, les unes à l’égard des autres, les classes social […]. On a prétendu que la Révolution francaise les avait abolies, sur le papier, oui, en fait, no. Et ce ne serait peut-être pas soutenir un paradoxe, que de montrer la scoiété de ce vingtième siècle commencant plus divisée, plus separée en group divers, souvent hostile, que l’ancienne société francaise: celle-ci, quoi qu’on raconte, fut accueillante, demuée de morgue, et tout pleine de bonhomie familière […].“. Benevolo, Die Stadt, S. 208f.; Hülk, Walpurga: Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand, Hamburg 2019, S. 69. Gemeint sind die bereits erwähnten „hôtels particuliers“ (S. 112), die Stadthäuser von Adeligen, hohen Beamten und Teilen der Bourgeoisie, die sich von den „maisons particuliers“, den Häusern des wohlhabenden Bürgertums, abgrenzten. Escholier, Raymond: Le nouveau Paris. La vie artistique de la cité moderne, Paris o.J. [1913], S. 1f. „Le 2 decembre 1851 fit deux grandes victimes: la République et le vieux Paris. Nous savons aujourd’hui que la République n’était que blessé, mais le vieux Paris, frappé au coeur par le baron Haussmann, ne s’est pas relevé. La Troisième Republique a terminé l’oeuvre du Second Empire. De l’ancienne ville si pittoresque [...] il ne reste plus guère que quelques hôtels déshonorés par des affiches commerciales, quelques pâtés des maisons malodorantes, quelques ruelles mal famées.“

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Anmerkungen

Benevolo, Die Stadt, S. 241. Zur „Recollection“, der nachträglich ergänzten und umgedeuteten Erinnerung, siehe: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kollektiven Gedächtnisses. Broschierte Sonderausgabe, München 2003, S. 109. Niethammer, Lutz: Bürgerliche Gesellschaft als Projekt, in: Ders. u.a.: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a. M. 1990, S. 30f., 46f.; Ders.: Ägypten. Eine Sinngeschichte, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2000, S. 26–31. Zur ritualisierten Erinnerung siehe: Assmann, Erinnerungsräume, S. 121. Krauß, Henning: Die Französische Revolution als Thema der Literatur während des Zweiten Weltkriegs und des Algerienkriegs, in: Ders. (Hg.): Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989, S. 245f. Siehe dazu die umfassende Untersuchung bei: Certeau, Michel de/Julia, Dominique/ Revel, Jacques: Une politique de la langue. La Révolution française et les patois, Paris 1975. Görtz, Barbara: Untersuchungen zur Diskussion über das Thema Sprachverfall im Finde-Siècle, Frankfurt 1989; Tolar, Karin: Der Topos vom Sprachverfall zwischen 1870 und 1914, Salzburg 1993 (Unveröffentlichtes Manuskript). Littré, Émile: Histoire de la langue française, 2. Aufl., Paris 1863. Baum, Richard: Problem der Norm im Französischen der Gegenwart, in: Hausmann, Franz Josef (Hg.): Die französische Sprache von heute, Darmstadt 1983, S. 381. Deschanel, Émile: Les Déformations de la langue française, Paris 1898, S. 5. Settekorn, Wolfgang: Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich. Einführung in die begrifflichen, historischen und materiellen Grundlagen, Tübingen 1988, S. 104. Gourmont, Rémy de: Esthétique de la langue française, Paris 1899, S. 8. Originalzitat: „[…] conditions dans lesquelles la langue française doit évaluer pour maintenir sa beauté, c’est-à-dire sa pureté originelle.“ Görtz, Untersuchungen, S. 147. Gourmont, Esthétique, S. 117f. „[…] les langues se modifient si rapidement que le vieillard ne comprend plus ses petits-enfants. […] Cela est inévitable et cela est bien, puisque c’est conforme aux lois du mouvement et de la vie.“ Gourmont, Esthétique, S. 118. „Les enfants apprennent dans les prisons scolaires ce que la vie seule leur enseignait autrefois et mieux, ils perdent sous la peur de la grammaire cette liberté d’esprit qui faisait une part si agréable à la fantaisie dans l’évolution verbale.“ Beim Rougon-Macquart-Zyklus handelt es sich um ein großes literarisches Projekt Émile Zolas, in dem er in zwanzig Romanen – eine Generationengeschichte der Familien Rougon, Macquart und Mouret – die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung des Zweiten Kaiserreiches zu ergründen versucht. Letztlich gestaltete sich das Projekt aber auch zu einer Kritik an der Dritten Republik, zumal Literatur auch im Zusammenhang mit der Zeit, in der sie entstanden ist, zu analysieren ist. Neben sozialhistorischen Aspekten prägt, nicht zuletzt infolge der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung von Vererbungstheorien, biologischer Determinismus die Romane. Zola, Emile: La Curée, Paris 1894, S. 17. Ebenda, S. 337.

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Berthier, Philippe: Hôtel Saccard. Etat de lieux, in: Baguley, David/Becker, Colette/ Ders. u.a.: La Curée de Zola ou „la vie à outrance“, Paris 1987, S. 107–118. Warren, Jill: Zola’s View of Prostitution in „Nana“, in: Horn, Pierre L./Pringle, Mary Beth (Hg.): The Image of the Prostitute in Modern Literature, New York 1984, S. 29–51. Zola, Émile: Nana, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 486, 488. Hülk, Rausch der Jahre. Kuzmics, Helmut/Mozetič, Gerald: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz 2003, S. 35. Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de province, Paris 1892 [Erste Auflage: 1857] S. 57f. „Ils commencèrent lentement, puis allèrent plus vite. Ils tournaient: tout tournait autour d’eux […], le vicomte, l’entraînant, disparut avec elle jusqu’au bout de la galerie, où, haletante, elle faillit tomber, et, un instant, s’appuya la tête sur sa poitrine. Et puis, tournant toujours, mais plus doucement, il la reconduisit à sa place; elle se renversa contre la muraille et mit la main devant ses yeux. […] Ils passaient et revenaient, elle immobile du corps et le menton baissé, et lui toujours dans sa même pose, la taille cambrée, le coude arrondi, la bouche en avant. Elle savait valser, celle-là! Ils continuèrent longtemps et fatiguèrent tous les autres.“ Baudelaire, Charles: Le voyage – Die Reise, in: Ders.: Die Blumen des Bösen – Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe, München 1986, S. 285. Rimbaud, Arthur: Das Trunkene Schiff, in: Ders., Sämtliche Dichtungen, S. 150f., 156f. „Je ne me senti plus guidé par les haleurs […] / Ni nager sous les yeux horribles des pontons“. Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 334f. Rimbaud, Arthur: La chanson de la plus haute tour, in: Ders., Sämtliche Dichtungen, S. 244f. „Oh! le moucheron enviré à la pissotière de l’auberge […], et que dissout un rayon.“ Ders., La chanson de la plus haute tour, S. 242–245. „Telle la prairie / À l’oubli livrée, / Grandie, et fleurie / D’encens et d’ivraies, / Au bourdon farouche / Des sales mouches.“ Rimbaud an Paul Demeny, 15. Mai 1871, in: Ders., Sämtliche Dichtungen, S. 368f., 90 (Chant de guerre Parisien).„J’ai résolu de vous donner une heure de littérature nouvelle; je commence de suite par un psaume d’actualité: / Chant de guerre parisien / Le printemps est évident […] / Et les Ruraux qui se prélassent / Dans de longs accroupissements, / Entendront des rameaux qui cassent / Parmi les rouges froissements!“ Ebenda, S. 370f. [Kursivsetzung im Original]. „[…] libre aux nouveaux! d’exécrer les ancêtres […].“ Eichhorn, Thomas: Das Schreiben und das Schweigen. Nachwort, in: Rimbaud, Sämtliche Dichtungen, S. 405, 409–411. Zit. bei: Nadeau, Maurice: Geschichte des Surrealismus. 6. Aufl., Reinbek b. Hamburg 2002, S. 63. Damus, Martin: Kunst im 20. Jahrhundert. Von der transzendierenden zur affirmativen Moderne, Reinbek b. Hamburg, S. 168–173. Köhler, Erich: Die französische Literatur, in: Schwendemann, Irene (Hg.): Hauptwerke der französischen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Mit einem einführenden Essay von Erich Köhler, München 1976, S. 12. La Révolution d’abord et toujours, in: La Révolution surréaliste, 5 (1925), S. 32. (http://

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Anmerkungen

www.andrebreton.fr/work/56600100338660, abgerufen am: 15. März 2020) „Nous ne somme pas des utopistes: cette Révolution nous ne la concevons que sous sa forme sociale.“ Siehe dazu auch: Nadeau, Geschichte des Surrealismus, S. 152. 94 Hellmuth, Thomas: Die bürgerliche Gesellschaft im französischen Spielfilm, in: Bauer, Ingrid u.a. (Hg.): >kunst >kommunikation >macht. Sechster Österreichischer Zeitgeschichtetag 2003, Innsbruck u.a. 2004, S. 358–361. 95 Zu „Les quatre cents coups“ (Die Vierhundert Schläge) siehe u.a.: Giesenfeld, Günther: Sie küssten und sie schlugen ihn, in: Koebner, Thomas (Hg.): Filmklassiker, Bd. 2, 4. Aufl., Stuttgart 2002, S. 352–358; Paech, Joachim: Gesellschaftskritik und Provokation – Nouvelle Vague: Sie küssten und sie schlugen ihn, in: Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hg.): Fischer Filmgeschichte, Bd. 3. Auf der Suche nach Werten 1945–1960, Frankfurt a.M. 1990, S. 362–385; Gillain, Anne: Les 400 coups de François Truffaut. Étude critique, Paris 1991; Croce, Arlene: Les quatre cents coups, in: Film Quarterly, 13/3 (1960), S. 35–38. 96 Paech, Gesellschaftskritik und Provokation, S. 371. 97 Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 336; Haensch, Günther: Der französische Staat von der Großen Revolution bis 1958, in: Ders./Tümmers, Hans. J. (Hg.): Frankreich. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft. 3., völlig neu bearb. Aufl., München 1998, S. 56. 98 Hülk, Rausch der Jahre, S. 34 99 Hermet, Guy: Les populismes dans le monde. Une histoire sociologique XIXe–XXe siècle, Paris 2001, S. 190f.; Hellmuth, Thomas: „On disait: Il va paraître“. Ein kulturhistorischer Essay zum Roman Die Hundert Tage, in: Lughofer, Johann Georg (Hg.): Im Prisma. Joseph Roths Romane, Wien/St. Wolfgang 2009, S. 311; Winock, Michel: Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 1982, S. 231. 100 Béranger, Pierre-Jean de: Les Souvenirs du peuple, in: Rieger (Hg.), Französische Chansons, S. 40–44. 101 Zit. bei: Haupt, Heinz-Gerhard: Von der Französischen Revolution bis zum Ende der Julimonarchie (1789–1848), in: Hinrich (Hg.), Kleine Geschichte Frankreichs, S. 284. 102 Béranger, Pierre-Jean de: Sainte-Hélène, in: Rieger (Hg.), Französische Chansons, S. 52, 54. „Démon, écoute. […] / Trouble ses nuits, reserre ses entraves; / Tiens de ses maux la coupe sous les yeux. / Cet homme ainsi purifiant sa gloire, / Pour l’avenir redevient un flambeau, / Sur l’infortune achève sa victoire / Et de rois triomphe au tombeau.“ 103 Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 321–325; Wüstemeyer, Manfred: Demokratische Diktatur. Zum politischen System des Bonapartismus im Zweiten Empire, Köln/Wien 1986. 104 Jones, Colin: Frankreich. Eine illustrierte Geschichte, Frankfurt/New York 1995, S. 213–217. 105 Hülk, Rausch der Jahre, S. 15–42. 106 Mexiko war 1861 infolge eines Bürgerkrieges zahlungsunfähig und stellte die Rückzahlung von Schulden an das Ausland ein. Daraufhin beschlossen Frankreich, Großbritannien und Spanien vertraglich, die ausstehenden Schulden auch militärisch einzutreiben. Bald zeigte sich aber, dass Frankreich nicht nur die Schulden einzutreiben, sondern Mexiko zu erobern beabsichtigte. Großbritannien und Spanien zogen sich daher zurück. Frankreich hatte zunächst militärische Erfolge zu verzeichnen und akzeptierte die

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Einsetzung des habsburgischen Erzherzogs Maximilian zum Kaiser von Mexiko. Dieser verlor allerdings bald die Unterstützung sowohl der mexikanischen Konservativen, die seine Pläne zur Errichtung einer konstitutionellen Monarchie ablehnten, als auch der mexikanischen Liberalen, die wiederum einer Monarchie von Frankreichs Gnaden skeptisch gegenüberstanden. 1866 griffen zudem US-amerikanische Gruppen ein und zwangen Frankreich dazu, seine Truppen abzuziehen. Das mexikanische Kaiserreich endete 1867 mit der Hinrichtung Maximilians, der in den Auseinandersetzungen mehr ‚Spielball‘ als Spieler war. 107 Die französische Regierung beabsichtigte, vom niederländischen König Wilhelm III. das Großherzogtum Luxemburg zu kaufen und durch Gebietszuwachs mehr Macht zu erlangen. Dieser willigte zunächst ein, befürchtete aber schließlich, in einen französisch-deutschen Konflikt hineingezogen zu werden. Daher wollte er den Kaufvertrag nur einhalten, wenn auch Bismarck zustimmte. Bismarck empfahl aber, aus dem Vertrag auszusteigen. Zwar hatte er zuvor den Franzosen vermittelt, dass er gegen eine Gebietserweiterung keine Einwände erheben würde. Da aber die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit gegen den Kauf zu sein schien, musste er sein – übrigens im Geheimen gegebenes – Zugeständnis zurückziehen. In der Folge war ein Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland nicht mehr zu vermeiden, sogar ein Krieg stand bevor. Schließlich vereinbarten beide Länder auf diplomatischer Ebene die Neutralität Luxemburgs. 108 Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 321–331; Grüner, Stefan/ Wirsching, Andreas: Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen/Basel 2003, S. 56f. 109 Tourneur, A.: Gambetta en 1869. Belleville & Marseille. Lettre & documents inédits, Lille 1904, S. 89–92. 110 Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke, Bd. IV, Berlin 1988 [Erste Auflage: 1871], S. 75. 111 Démier, La France, S. 298; Edwards, Steward: The Paris Commune 1871, Newton Abbot 1973, S. 249–276. 112 Edwards, The Paris Commune 1871, S. 266, 271. 113 Kerbaul, Eugène: Nathalie Le Mel. Une bretonne révolutionnaire et féministe, Paris 1997; Kestenholz, Salomé: Die Gleichheit vor dem Schafott. Portraits französischer Revolutionärinnen, Darmstadt 1988, S. 61–104. 114 Marx, Bürgerkrieg, S. 45–108. 115 Engels, Jens Ivo: Kleine Geschichte der Dritten Französischen Republik (1870–1940), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 20; Démier, La France, S. 298. 116 Marx, Bürgerkrieg, S. 74. 117 Adolphe Thier stand in den 1820er Jahren liberalen Kreisen nahe und war 1830 Anhänger des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe, bekleidete in der Julimonarchie mehrere Ministerämter und hatte von 1836 bis 1840 das Amt des Ministerpräsidenten inne. Zunehmend nahm er eine konservative Haltung ein, wandte sich gegen die radikalen Republikaner und trat gegen das infolge der 1848er Revolution eingeführte allgemeine Wahlrecht ein. Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune, die ihm vor allem bei den Konservativen bzw. Monarchisten Hochachtung eingebracht hatte, wurde er im

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Anmerkungen

August 1871 von der Nationalversammlung zum Staatspräsidenten der Dritten Republik gewählt. Er war Vertreter einer konstitutionellen Monarchie, sprach sich aber dennoch für die Beibehaltung der Republik aus, weshalb er 1873 von den Monarchisten, welche die Nationalversammlung dominierten, zum Rücktritt gezwungen wurde. 118 Michel, Louise: La Commune, Paris 1898, S. 201–217. 119 Grüner/Wirsching, Frankreich, S. 57f., 64. 120 Engels, Kleine Geschichte, S. 23. 121 Sowerwine, Charles: France since 1870. Culture, politics and society, 3. Aufl., London 2018, S. 30. 122 Lejeune, Dominique: La France des débuts de la IIIe République 1870–1896, 6. Aufl., Paris 2016, S. 8–10. 123 Ebenda, S. 318–320; Tacke, Von der zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 337. 124 Prochasson, Christophe: Les années 1880: au temps du Boulangisme, in: Winock, Michel: Histoire de l’extrême droite en France, Paris 1994, S. 54; Leduc, Jean: L’enracinement de la République 1879–1918, 2. Aufl., Paris 1997, S. 24f., Engels, Kleine Geschichte, S. 24. 125 Winock, Michel: L’héritage contre-révolutionnaire, in: Ders. (Hg.), Histoire de l’extrême droite, S. 40. 126 Lacordaire, Henri-Dominique: Conférence de Notre-Dames de Paris, Tome troisème. Annèes 1846–1848, Paris 1872, S. 494. „[…] qu’entre le fort et le faible, entre le riche et le pauvre, entre le maître et le serviteur, c’est la liberté qui opprime, et la loi qui affranchit.“ 127 Leduc, L’enracinement, S. 22–34, 49–61. 128 Engels, Kleine Geschichte, S. 28f. 129 Ebenda, S. 30. 130 Démier, La France, S. 329f., 332–336. 131 Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 338f. 132 Leduc, L’enracinement, S. 33. 133 Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 338. 134 Engels, Kleine Geschichte, S. 30. 135 Démier, La France, S. 337–340. 136 Lefebvre-Filleau, Jean-Paul: Les scandales de la IIIe République, Paris 2005, S. 26–27. 137 Bourson, Pierre-Alexandre: L’affaire Panama, Paris 2000. 138 Baju, Anatole: L’École decadente, Paris 1887, S. 2. „Baudelaire pourrait en être appelé le vrai précurseur. […] Et Rimbaud, ce frère intellectuel de Verlaine, presque divin par la langue, ravi si jeune à l’Art, mort, disent les uns, roi d’une peuplade sauvage, disent les autres […].“ 139 Sternhell, Zeev: La droite révolutionnaire 1885–1914. Les origines françaises du fascisme, Paris 1997 [Erste Auflage: 1978], S. XXI–XXVI. 140 Renan, Ernest: Philosophie de l’histoire contemporaine. La Monarchie constitutionnelle en France, in: Revue des Deux Mondes, 2/84 (1869), S. 75. „[…] la société est […] établi non par l’homme, mais par la nature elle-même […]. La société est une hiérarchie […], tous les êtres (même les animaux) ont des droits; mais tous les êtres ne sont pas égaux, tous sont des membres d’un vaste corps, des parties d’un immense organisme

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qui accomplit un travail divin. La négation de ce travail divin est l’erreur où verse facilement la démocratie française.“ 141 Prochasson, Les années 1880, S. S. 59. 142 Winock, L’héritage, S. 28–40. 143 Ebenda, S. 34f. 144 Rivarol, Antoine de: De la réligion, in: Ders.: Œuvres complètes, Tome premiere, Paris 1808, S. 341. „[…] car il ne s’agit pas de savoir si une religion est vraie ou fausse, mai si elle est nécessaire. […] or, si telle religion n’est pas démontrée, et qu’il soit pourtant démontré qu’elle est nécessaire, alors cette religion jouit d’une vérité politique. Je vais plus loin, et je dis […] que tout religion est une vraie religion, comme tout poème est un vrai poème. Une religion dèmontrée ne différerait pas de la physique ou de la géometrie; ou plutôt ce ne serait pas une religion.“ 145 Ebenda, S. 35–37. 146 Zit. bei: Gengembre, Gérard: La Contre-Révolution ou l’Histoire désespérante. Histoire des idées politiques, Paris 1989, S. 209. Siehe dazu auch: Winock, L’héritage, S. 35. 147 Sternhell, La droite révolutionnaire, S. 80–178; Prochasson, Les années 1880, S. 63–66. 148 Lejeune, Dominique: La France de la Belle Époque 1896–1914, 4. Aufl., Paris 2000, S. 27. 149 Birnbaum, Pierre: Affaire Dreyfus, culture catholique et anisémitisme, in: Winock (Hg.), Histoire de l’extrême droite en France, S. 103f. 150 Joly, Bertrand: Nationalistes et conservateurs en France (1885–1902), Paris 2008, S. 225– 226. 151 Der Orden der Assumptionisten ist ein von Emmanuel d’Alzon 1850 gegründeter Missionsorden, der u.a. Massenwallfahrten wie jene nach Lourdes initiiert hat. Im 19. Jahrhundert war er stark antisemitisch orientiert und trug u.a. durch die Verwendung moderner Kommunikationsstrategien dazu bei, den Antisemitismus in der französischen Bevölkerung zu verankern. 152 Kertzer, David I.: Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, München 2004, S. 230–234. 153 Sternhell, Zeev: Maurice Barrès et le nationalisme français, Paris 1975; Burrow, John Wyon: Die Krise der Vernunft. Europäisches Denken 1848–1914, München 2003, S. 209. 154 Barrès, Maurice: Scènes et doctrines du nationalisme, Paris o.J. [um 1895], S. 88. „Que pour permettre à la conscience d’un pays tel que la France de se dégager, il faille raciner les individus dans la terre et dans les morts, dans la terre de nos morts, cela paraît une conception fort matérielle à des personnes qui croient avoir atteint à un idéal d’autant plus élévé qu’elles ont mieux étouffé en elles la voix du sang et l’instinct du terroir.“ 155 Die Kanonade von Valmy vom 20. September 1792 war eine Schlacht im Ersten Koalitionskrieg. Die mit leichten Kanonen ausgestatteten französischen Truppen hielten der Koalitionsarmee, die zusätzlich durch die Ruhr geschwächt war, stand. Am folgenden Tag wurde der französische König für abgesetzt erklärt und die Republik ausgerufen. Da die Revolutionsarmee überraschend den Rückzug der gegnerischen Armee erzwingen konnte, wurde Valmy zu einem Mythos überhöht, der den französischen Kampfgeist steigern konnte. 156 Winock, Nationalisme, S. 12.

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Anmerkungen

Renan, Ernest: Nouvelle Lettre à M. Strauss, in: Œuvres complètes de Ernest Renan, Bd. 1, hg. von Henriette Psichari, Paris 1947, S. 438. „Certes, nous repoussons comme une erreur de fait fondamentale l’égalité des individus humains et l’égalité des races: les parties élevées de l’humanité doivent dominier les parties basses; la société humaine est un édifice à plusieurs étages, où doivent régner la douceur, la bonté […], non l’égalité.“ 158 Prochasson, Les années 1880, S. 66f. 159 Drumont, Édouard: La France Juife. Éssai d’histoire contemporaine, Bd. 1, 43. Aufl. 43. Aufl., Paris o.J. [1886], S. 289, 336. 160 Kertzer, Die Päpste gegen die Juden, S. 233. 161 Drumont, La France Juife 1, S. VI. „Le seul auquel la Révolution ait profité est le Juif. Tout vient du Juif; tout revient au Juif.“ 162 Drumont, Édouard: La France Juife. Éssai d’histoire contemporaine, Bd. 2. 43. Aufl., Paris o.J. [1886], S. 232. „Alors même qu’il en tire tout le profit, le Juif méprise le travail manuel, le travail des ateliers et des champs il admire exclusivement le courtier [...]. La civilisation chrétienne avait garanti, ennobli, poétisé le labeur, la civilisation juive l’exploite par le Juif capitaliste et le diffame par le Juif révolutionnaire; le capitaliste fait de l’ouvrier un serf, le révolutionnaire, dans ses livres et ses journaux, l’appelle un forçat.“ 163 Drumont, Édouard: La Dernière Bataille. Nouvelle étude psychologique et sociale, Paris 1890, S. 92f. „Une vraie fête juive que cette Exposition! […] le Juif l’a faite à l’image même de ses pensées; c’est un bazar gigantesque, une tente plus magnifique qu’un palais; […] la tour qui rappelle l’origine et la Babel de Mésopotamie; c’est la Magie basse avec ses fausses lueurs […].“ 164 Ankersmit, Franklin Rudolf: Representative Democracy: Rosanvallon on the French Experience, in: Palonen, Kari/Pulkkinen, Tuija/Rosales, José María (Hg.): The Ashgate research companion to the politics of democratization in Europe. Concepts and histories, Farnham 2008, S. 25. 165 Déroulède, Paul: La République intangible, in: Ders.: Qui vive? France quand même! Notes et discours 1883–1910, Paris 1910, S. 257. „Mais autre chose est de vouloir arracher la République au joug des Parlementaires, autre chose de vouloir la renverser. L’un est même le contraire absolu de l’autre.“ 166 Déroulède, Paul: La Plébiscite républicaine, Gouvernement Direct du Peuple, in: Ders., Qui vive?, S. 261. 167 Fauvel, Raoul/Roggées Georges: C’est le général Boulanger. Chant patriotique, Paris 1887, S. 2f. „Mon général, notre France fidèle / Compte sur vous […]. / Qui sait? demain, nous dirons avec calme: / Mon géneral, ... la victoire, ou la morte. / Peuple Français renait à l’espérer. / Ce géneral, c’est Boulanger.“ 168 Auch in der Gegenwart folgt ein im Wahlvorschlag benannter Vertreter nach, wenn ein Abgeordneter zur Nationalversammlung verstirbt oder eine andere politische Funktion im Staat übernimmt. Scheidet er aus anderen Gründen aus, dann findet eine Nachwahl statt. 169 Prochasson, Les années 1880, S. 73–81; Garrigue, Jean: Le général Boulanger, Paris 1991. 170 Émile Zolas Artikel und andere zeitgenössische Texte zur Dreyfus-Affäre finden sich in: Duclert, Vincent (Hg.): Émile Zola. La Vérité en marche. Textes sur l’affaire Dreyfus, Paris 2013. Zeitgenössische Quellen bietet auch: Thalheimer, Siegfried: Die Affäre Dreyfus, 2. Aufl., München 1986. 171 Zur Dreyfus-Affäre siehe u.a.: Winock, Nationalisme, S. 157–185; Birnbaum, Affaire

Nachwort

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Dreyfus, S. 83–124; Johnson, Martin P.: The Dreyfus Affair. Honour and Politics in the Belle Époque, London 1999. 172 Abosch, Heinz: Jean Jaurès. Die vergebliche Hoffnung, München 1986. 173 Tacke, Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, S. 342f. 174 Lalouette, Jacqueline: La Séparation des Églises et de l‘État. Genèse et développement d’une idée 1789–1905, Paris 2005; Lejeune, La France de la Belle Époque, S. 55–60. 175 Grüner/Wirsching, Frankreich, S. 75, 77, 90f. 176 Winock, L’héritage, S. 36f. 177 Kertzer, Die Päpste gegen die Juden, S. 237f. 178 Grüner/Wirsching, Frankreich, S. 75–77. 179 Winock, Michel: La Belle Époque. La France de 1900 à 1914, Paris 2002, S. 253. „Le Parti républicain radical et radical-socialiste reste une fédération assez floue de comités, de sociétés de pensée, de loges maçonniques, de journaux, d’unions locales, d’élus.“ 180 Tümmers, Hans J.: Das französische Wirtschaftssystem, in: Haensch/Ders. (Hg.), Frankreich. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, S. 198. 181 Petit Parisien, 25. Juli 1880. „Pas un législateur qui n’ait fait du socialisme. Confucius en Chine, Manon dans l’Inde, Zoroastre en Perse, Moïse avec le Décalogue, Solon à Athenes comme Lycurgue à Sparte, Platon dans sa République et dans se lois, Jesus dans ses prédications, Mahomet dans le Coran, – tous les auteurs des codes, tous les fondateurs de peuple, tous le réformateurs apparaissent agiter par l’idée sociale […].“ 182 Grüner/Wirsching, Frankreich, S. 87; Zadra, Dirk: Der Wandel des französischen Parteiensystems. Die „présidentiable“ in der V. Republik, Opladen 1997, S. 35f. Nachwort 1 2 3

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Steckbrief, 13. Juni 1835, zit. bei: Hoffmann, Anna Rebecca: An Literatur erinnern. Zur Erinnerungsarbeit literarischer Museen und Gedenkstätten, Bielefeld 2018, S. 217. Büchner, Georg: Dantons Tod. Ein Drama, Stuttgart 1988 [Erstausgabe: 1835], S. 7. Siehe dazu u.a. das Beispiel des „Pointillismus“ bzw. „Divisionismus“, der sich etwa – wie bei George Seurat – an der modernen Optik und Forschungen zur Wahrnehmungsphysiologie orientierte. Widauer, Heinz: Der „Pointillismus“. Rezeption und Folgen, in: Ders. (Hg.): Seurat – Signac – Van Gogh. Wege des Pointillismus. Katalog zur Ausstellung in der Albertina, 16. September 2016 bis 8. Januar 2017, Wien 2016, S. 13–24. Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einleitung, 7., vollständig überarbeitete Auflage, Münster 2015, S. 17–25. Hellmuth, Thomas: Hegemonic Masculinity. On the Functionalization of Sexuality / Hegemoniale Männlichkeit. Zur Funktionalisierung der Sexualität, in: Public History Weekly, 8/3 (2020), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2020-15174 (abgerufen am: 12. März 2020). Der Roman wurde 1961 unter dem gleichnamigen Titel von Yves Robert verfilmt. Auch Robert fühlt sich in dieser Verfilmung dem „poetischen Realismus“ verpflichtet: Die Realität wird dargestellt, ohne Partei zu ergreifen und eine Wertung vorzunehmen. Zwar werden immer wieder soziale Probleme, etwa Gewalt an Kindern, thematisiert, die Darstellung entbehrt aber einer tatsächlichen realistischen Härte bzw. wirkt stre-

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Anmerkungen

ckenweise geradezu erheiternd. Die Realität wird folglich mit künstlerischen Handgriffen gefiltert und poetisch verklärt. Dennoch zeigt sich, ähnlich wie im Roman von Louis Perigaud, zum einen die Problematik von autoritärer Erziehung und einengenden Normen und Werten, zum anderen aber auch die Notwendigkeit der praktischen Erfahrung, um in der bürgerlichen Gesellschaft seine Individualität ausleben zu können, zugleich aber auch als Bürger zu funktionieren. Pergaud, Louis: La guerre des boutons, Paris 1972, S. 105. „On est en république, on est tous égaux, tous camarades, tous frères: Liberté, Egalité, Fraternité!“ Ebenda, S. 105f., 109f. Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick, Reinbeck b. Hamburg 2000, S. 214f. Guerrand, Roger-Henri: Private Räume in: Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4. Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt a.M. 1992, S. 341f. Corbin, Alain: Pesthauch und Blütendurf. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt a.M. 1988, S. 191f.

Literatur und Quellen

Quellen und Primärliteratur Zeitungen und Zeitschriften

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Discographie

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Oldtime / Alamy Stock Photo Abb. 2: History and Art Collection / Alamy Stock Photo Abb. 3: Yogi Black / Alamy Stock Photo Abb. 4: Roger Viollet / APA picturedesk.com Abb. 5: Bibliothèque nationale, Paris / akg-images Abb. 6: akg-images / Maurice Babey Abb. 7: Science History Images / Alamy Stock Photo Abb. 8: Shawshots / Alamy Stock Photo Abb. 9: akg-images Abb. 10: akg-images Abb. 11: Collection Joinville / akg-images Tafel 1: Musée d’Orsay / Peter Barritt / Alamy Stock Photo Tafel 2: La Tour d’Argent / Granger Historical Picture Archive / Alamy Stock Photo Tafel 3: Les Arts Décoratifs, Paris / Jean Tholance / akg-images Tafel 4: Metropolitan Museum of Art, New York Tafel 5: Musée Carnavalet, Histoire de Paris / akg-images / APA picturedesk.com Tafel 6: Musée d’Orsay, Paris / Art Heritage / Alamy Stock Photo Tafel 7: Musée d’Orsay, Paris / akg-images Tafel 8: Musée d’Orsay, Paris / akg-images Tafel 9: Museum of Fine Arts, Houston / Art Collection 2 / Alamy Stock Photo Tafel 10: Sammlung H. Havemeyer jr. / akg-images / Erich Lessing Tafel 11: Musée de Louvre, Paris / akg-images / IAM / World History Archive Tafel 12: Musée Orsay / akg-images / Erich Lessing Tafel 13: Musée du Louvre, Paris / akg-images Tafel 14: Musée d’Orsay / akg-images / Album Tafel 15: Musée d’Orsay / akg-images / Laurent Lecat Tafel 16: Musée d’Orsay / akg-images Tafel 17: Musée d’Orsay / akg-images / Laurent Lecat Tafel 18: Tate Gallery, London / akg-images / WHA / World History Archive Tafel 19: Art Institute of Chicago / Historic Images / Alamy Stock Photo

Sach- und Ortsregister Aberglaube 101–102 Académie des Beaux-Arts 4, 140, 157, 159, 162–163, 166, 167, 170, 183, 186, 188, 204, 207 Action française 116, 244–245, 249 Adel (siehe Aristokratie) Agrarismus - jakobinischer Agrarismus 72, 107, 113 - katholischer Agrarismus 72, 107, 113 Aix-en-Provence 180 Albigenser (siehe Katharer) Algerien 84, 122 Alphabetismus 25, 82, 84, 92 Antike 17–18, 31, 59, 61, 63, 73, 75–76, 145, 158, 170, 183–184, 186, 203–204, Antiparlamentarismus 247–248, 83, 233–234, 238, 265 Antisemitismus 7–8, 12, 69, 115, 191, 245, 247, 251. 257, 265, Arbeiter und Arbeiterinnen 18, 76, 92, 106, 107, 120, 127, 149, 154, 213–214, 219–222, 237, 247, 264 Arbeitszeit 92, 94, 99, 214, 221 Aristokratie 18, 20–21, 24, 28–29, 31, 33, 38, 43, 47–48, 57–58, 65, 75–76, 105–105, 107, 110, 212, 233, 264 Art primaire 198 Art primitif (siehe Art primaire) Aubagne (Bouches-du-Rhone) 77 Aufklärung 7–8, 11, 13–14, 19, 24–25, 31, 35, 39, 46, 50, 53, 59, 63, 65, 67, 70, 124, 143, 155, 159, 186, 207, 224, 231, 239, 241, 243, 246, 248 Auxy-Duresses (Côte-d’Or) 112

Avantgarde 62, 146, 152, 154–155, 166, 171, 174, 183, 191, 205–206, Barbizon (Saine-et-Marne) 174, 198 Bauern 67, 69, 75–76, 80, 93–94, 98–99, 101–102, 106, 107, 110–113, 115, 120, 234 Béarnais 114 Beauvais (Oise) 16 Bohème 145, 151–152, 154, 171, 192–194, 209, Bonapartismus 239, 247 Bouches-du-Rhône 77, 102 Bordeaux 33–34, 81, 95, 122–123, 171, 179, 236 Bourgeoisie 30, 32, 57–58, 188, 212–213, Boulanger-Krise 29, 73, 106, 251, 257, 265 Bresse 89, 119 Brest 80 Bretagne 65, 97, 104, 110, 111, 120, 198, 259, Burgund 89, 100, 106, 121–125 Bussang (Vosges) 93 Café 22, 25, 29, 88, 94, 135, 149, 191– 192, 210, 212, 241, 256 Café-concert (siehe Kabarett) Cambrai (Pas-de-Calais) 66 Carmagnol 16, 250 Cavagnac (Lot) 100 Cavaillon (Vaucluse) 83 Chablis (Yonne) 35, 112 Chanson 7–8, 12, 103, 114, 116–118, 124, 135, 149–150, 192–193, 214–218, 229, 233–234, 248

Sach- und Ortsregister

Château-Chinon (Nièvre) 89–90 Châteaurenard (Bouche-du-Rhône) 112 Chatte (Isére) 76 Cluny 112 Comédie-Française 28, 114–115, 161, 190 Commune de Paris (siehe Pariser Kommune) Côte-d’Or 98, 100, 109, 112, 124, Cuzy (Saône-et-Loire) 90 Dekadenz 38, 242–243, 257 Demokratie 15, 61, 83, 97, 108, 155, 162, 165, 242, 262–263 - parlamentarische Demokratie 167, 233, 235, 247–248, 252 - plebiszitäre Demokratie 83, 233–234, 238, 247–248, 265 Deutsch-Französischer Krieg 44, 55, 68, 77, 79, 82, 227, 235, 240, 244, 248, 265 Deutschland 44, 63, 236 Dialekt (siehe patois) Dijon 76, 106, 123, 125, Direktorium 71, 263 Diskurs 11, 22–23, 24, 39, 75, 143, 157, 159, 165–166, 172, 174, 178, 182, 186– 187, 189, 205, 241, 257, 272, 298 - offener Diskurs 11, 14, 22, 35, 49, 106, 123, 143–144, 155,–156, 158–159, 160– 161, 167–168, 171–173, 180, 191, 194, 207, 210, 231–232, 241, 244, 255–257, 259, 262 Dreyfus-Affäre 29, 81, 106, 176, 193, 225, 244, 248–251, 257, 265 Dritte Republik 29, 64, 68–69, 74, 76, 81, 92, 106, 112, 167–168, 236,

371 237–238, 240–241, 243, 247–248, 251, 265 Eiffelturm 73–74, 201–202, 247 Eisenbahn 51, 88–89, 179, 201 École des Beaux-Arts 51, 62, 152, 155, 157, 162, 167–169, 180, 183–184, 189, Elsass 98, 213, 236 Ernährung 31–32, 87, 120–121, 221, 296 Erster Weltkrieg 8, 28, 73, 92, 123, 181, 223, 251–252, 256 Erstes Kaiserreich 20, 158–159, 233– 234, 263 Erziehung 18, 36, 40, 44–46, 46–56, 80, 91, 156, 244, 279, 328 Eugenik 43–44, 218, 317 Europa 10, 32, 64–65, 73, 109–110, 119, 123, 157, 174, 193, 233, Expressionismus 207, 256 Faubourg Saint-Marceau 211–212, 214, Familie 21, 39–43, 50–52, 58, 67, 80–82, 91, 97–98, 103, 105–106, 108, 114, 147, 219–220, 222–223, 243, 245, 252, 258 Fauvismus 181, 195–197 Félibrige 103–104, 110, 115–117, 144, 258 Film 39, 48–50, 190, 201, 206, 210, 231–232, 260–261, 327 Folklorismus 79, 93 Franche-Comté 98, 104–106 Freiheit 8, 11, 14, 16, 18–22, 23–24, 30, 33, 35, 49, 56, 62, 67–80, 84, 96, 97, 105, 110, 127, 132, 145, 155, 160, 166, 170, 194, 209, 215, 219, 226, 227–229, 232, 239, 240, 249, 255, 258–260, 262 - eingezäunte Freiheit 14–22, 24, 26, 29, 35, 62, 71, 74, 152, 155–180, 205,

372 207, 232–254, 256–257, 258, 261 - Freiheitsbaum 16, 75–76 - Freiheitsgöttin (siehe Marianne) - Freiheitsstatue 78 Freimaurer 81, 115, 233, 245, 252 Friedhof 101–102, 218 Frühsozialismus 116, 233, 239, 264 Gallien 59, 63–66, 113, 117, 122 Gedächtnis 26, 59–61 - kollektives Gedächtnis 26, 59–60 - kommunikatives Gedächtnis 59 - kulturelles Gedächtnis 59–60 Geistliche (siehe Klerus) Geschlecht/Geschlechterrollen 4, 39–43, 50, 53–54, 210, 222, 240 Gesellschaftsvertrag 15, 239, 255 Gewalt 15–16, 23–24, 42, 70, 83, 97, 164, 227, 236, 244, 258 - politische Gewalten (staatliche Gewalt, Gewaltentrennung, staatliche Repression etc.) 14–16, 15–16, 42, 83, 236 - physische Gewalt (gewalttätige ­Auseinandersetzungen, Demonstrationen, körperliche Züchtigung etc.) 23–24, 53 70, 97, 227, 236, 244, 258 Gray (Haute-Saône) 99 Grenoble 35 Großbürgertum 20, 32, 57, 96, 212–213 Grundschullehrer und -lehrerin 8, 54, 78, 80, 99, 261, Guise (Aisne) 219 Identität 11, 18, 61, 66, 98–99, 101, 105, 109, 112, 172–173, 206, 213, 241, Impressionismus 152, 165, 180, 197, 204, 207, 230, 256, Individualismus 14, 19, 30, 124, 159–

Sach- und Ortsregister

160, 226, 231, 243, 245, 245 Industrialisierung 94, 104, 106–107, 163, 188, 209, 221–222 Institut de France 157, 166 Instituteur und institutrice (siehe Grundschullehrer und -lehrerin) Jakobiner 18, 26, 70, 72, 79, 158, 247, 263 Julimonarchie 20–21, 66, 78, 91, 105, 160, 213, 238, 264, Kabarett 135, 149, 192–193, 256 Katharer 109–110, 116, Katholaizismus 19, 111, 239 Katholizismus (siehe auch Katholaizismus) 18, 67, 75, 98–100, 105, 111, 239, 245, Kelten 63–65, 110–111, 113, 122, Kino 89, 206, Kirchenglocken 99 Klassizismus 4, 38, 61–62, 73, 138, 140, 157–159, 163, 171, 183–187, 197–207, 159, 196, 256, 308, 312 Kleidermode 51, 89–91 Kleinbürgertum 30, 57, 215 Klerus 17, 50, 57, 78, 102–104, 109, 112, 233, 239, 245 Kochbücher 120 Kolonialausstellung 86–87 Konsumgesellschaft 73, 89, 92, 172, 211, 224, 226, 235, 237 Kubismus 181, 196–197, 256 Kunstgesellschaften 171, 178–180 Kunsthandel 151–154, 174 Kunstkritik 27, 38, 146, 150, 167, 169, 171, 174, 178, 181–182, 189, 196, 200, 206, 223 Künstlerkolonie 174, 198, 207

Sach- und Ortsregister

Kunstmarkt 151–153, 164, 174, 182, Kunstpolitik 155–159, 162–163, 165–171 La Flèche (Sarthe) 44 Landschaft 19, 68, 109, 112, 114, 121, 126, 154, 179–180, 188, 198, 261 Landwirtschaft 98–99, 101, 105–106, 241 Languedoc 76, 89, 103, 114, Legitimisten 77, 105, 238–240, 265 Le Havre 83, 213 Liberalismus (siehe auch Rechts- und Linksliberalismus) 160, 235, 239 Liga der Menschenrechte 81, 244, 249 Ligue de la patrie française 116, 244, 249 Ligue des patriotes 244, 248 Linksliberalismus 76, 116, 155, 233, 236, 237, 239, 249, 251–253 Literatur 9, 11, 22, 24, 51–54, 67, 91–92, 95, 103, 106, 110, 114, 117, 123, 126, 144, 152, 155–157, 160, 165, 170–171, 178–180, 186–187, 199, 207, 209, 227, 229, 231–232, 254, 256, 258 - Drama 24, 67, 144–145, 160–161, 190–191, 199, 250, 255, 303 - Lyrik (Gedicht) 27, 52, 114, 121, 144, 146–147, 176, 180, 193, 201, 209, 228– 230, 243, 259 - Roman 17, 27, 36, 38–39, 41, 47, 52– 53, 58, 67–68, 87, 91–92, 95, 107, 110, 115, 144–145, 177, 181, 192, 218, 224, 226–227, 259, 314, 320, 327 Louhan (Saône-et-Loire) 113 Lunel (Hérault) 83 Lyon 87–88, 159, 179, 213, 233, 237 Menschen- und Bürgerrechte 15, 49, 81, 84, 244, 249, 263–265 maison sociale 220–221

373 Marianne 56, 69–73, 76–78, 84, 111– 112, 131–132, 154, 158, 241 Marseillaise 35, 74, 80, 82, 241 Marseille 36–37, 81, 87–88, 111, 179– 180, 232, 237, Massif central 104, 213 Metz 44, 179 Modérés 233, 239–240, 265 Monarchisten 77, 83, 108, 237–239, Monarchismus 54, 61, 68, 83, 116, 159, 236, 238, 244–245 Montmartre 30, 148, 149, 192–193, 220, 227, 236, 256 Montpellier 44, 171–172, 180 Montségur 81, 109, 112, 116–117 Morvan 95, 104, 109, 123–124 Mündigkeit 56, 84, 155, 255, 258, 259 Musik (siehe auch Chanson) 7, 11, 30, 35, 51, 79, 82, 93, 102, 123, 145, 148, 179, 192, 196, 206, 254, 256, 214 - Revolutionslieder 16, 57–58, 250 - Trinklieder 117–118, 121–122, 124 - Volkslieder 64, 111, 113, 115, 117, 122 Nahrungsmittel (siehe Ernährung) Nancy 77 Nantes 179 Nation/national 7–11, 18, 25–26, 29, 44, 50, 54, 56–75, 69, 79, 82–83, 86, 88, 92, 100, 107–126, 144, 148, 155–157, 16–170, 173, 180, 191, 193, 212, 223–225, 234, 236–238, 241–242, 244–246, 248–249, 251, 257–258, 276, 280–282, 318, 324, 326 - integraler Nationalismus 69, 115, 245–247, 249, 251, 257, 276 - Nationalgarde 236 - Nationalfeiertag 69, 82–83, 241 - Nationalhymne (siehe Marseillaise)

374 - Nationalismus 7, 69, 115, 191, 242, 245–246, 249, 251, 276 - Nationalversammlung 25, 29, 50, 83, 119, 148, 193, 223, 234, 236–238, 244, 248, 324, 326 - republikanischer Nationalismus 115, 242, 246 - Willensnation 242, 246, 282 Naturalismus 191, 204, 207, 218, 256, 272, 318 Neogotik 187 Neo-Impressionismus 204 Neoklassizismus (siehe Klassizismus) Nièvre 17, 89–90 Normandie 97, 110, 119, 213 Notabeln 99, 104, 107, 252 Onanie 43–45, 258 Oper 10, 13, 20, 26, 28–29, 36–37, 114, 123, 145–146, 172, 190 Opportunisten 233, 239, 269 Orden-Affäre 242 Orleanisten 83, 238–239, 244, 265 Panama-Skandal 242 Paris 19–21, 23, 25–29, 32–33, 35, 37, 44, 45, 62, 67–68, 71–72, 73, 76–78, 81, 86–88, 91, 95, 97–98, 106, 114– 115, 119, 124, 147–148, 154, 178, 188, 191–195, 197–198, 201, 210–224, 229, 234, 235–237, 248, 251, 264–265 Pariser Kommune 72, 229–230, 236– 237, 239–240, 265, 311, 323 Parteien 69, 233, 240, 252–253 - Alliance Républicain Democratique 252 - Féderation Républicaine 252 - Parti radical 155, 236, 252–253 - Parti républicain socialiste 253, 265

Sach- und Ortsregister

- Parti Socialiste de France 253 - Parti Socialiste Français 253 - Section Française de l’Internationale Ouvrière (SFIO) 253 Patois 79, 100, 103, 114, 224–225, 258 patrie (siehe Vaterland) patrimoine national 18, 60, 112, 117, 169 Pays d’Oc 110 Périgord 75 Petit Lavisse 54–56, 258 Picardie 97 plan Freycinet, 88, 240 plebiszitäre Demokratie (siehe Demokratie) Pointillismus 181, 204, 256, 327 Poitou-Charantes 97 Pont-Aven (Finistère) 174, 198 Pressefreiheit 23–24, 168, 264 Pressewesen 23–24, 91–92, 100, 168, 171, 175, 181, 238, 240, 245, 264–265, Priester (siehe Klerus) Prix de Rome 166, 170–171, 177–178, 302 Proletariat (siehe Arbeiter und Arbeiterinnen) Prostitution 41–43, 45–46, 176, 181, 197, 260, Provence 76, 103, 144, 180 Québec 117 Radicaux 76, 116, 233, 236–237, 239, 249, 251–253 Rassismus (siehe auch Antisemitismus) 7–8, 12, 84–87, 118–119, 246–247, 257 Rationalismus 18–18, 22, 32, 41, 53, 62, 101–102, 123, 156, 159, 186–187, 202, 205–206, 230, 259, 260

Sach- und Ortsregister

Realismus 36, 139, 163–165, 167, 180, 184, 189, 197, 200, 204, 207, 256 - Poetischer Realismus 259, 327 Reblaus 121–122, 123, 241 Rechtsextremismus 8, 12, 69, 104, 115– 116, 233, 241, 243–252, 254, 257, 265 Rechtsliberalismus 18, 69, 72, 82, 214, 238–239, 107, 233, 239–240, 252–253, 265 Religion 18, 51, 65, 79, 111–112, 180, 239, 243, 251–252, 254 - gallisch-keltische Religion 65 - Religionsunterricht 79, 80, 99 - Volksreligion/Volksfrömmigkeit 65, 102 - Zivilreligion 18, 51, 111–112 Republikaner (siehe auch Links- und Rechtsliberalismus) Restaurant 25–26, 29, 33–34, 36, 88, 119, 128, 209–210, 256 Restauration 121, 157, 159–160, 233, 245, 263 Revolution/revolutionär 59, 162, 171, 177, 190, 207, 237, 239, 253–254 - Französische Revolution 1789 8, 14, 15–20, 23–25, 31, 33, 44, 57, 60–62, 65–66, 69–73, 75–80, 82–83, 98–99, 104–105, 110–111, 114, 119, 143, 155, 157–158, 164, 207, 209, 223–224, 231, 233, 238, 241, 243–244, 246–248, 249, 252, 255, 257–258, 263–264 - Julirevolution 1830 67, 83–84, 160, 165, 179, 186, 264 - Revolution 1848 83, 165, 214, 264 Romantik 111, 138, 159–162, 163, 165, 180, 184–188, 196–197, 199, 205–207, 230–231, 256, 303

375 Rosière (Cher) 105 Säkularisierung 8, 17–18, 79, 92, 99– 100, 124, 197, 233, 254 Saint-Amand-Montrond (Cher) 112 Sâone-et-Loire 90, 93, 100, 113, Salons 4 - Pariser Salon 4, 26–27, 38, 153, 162– 163, 166–170, 174–177, 181, 183–184, 188–189, 194, 256 - private Salons 22, 24–25, 27–29, 36, 40–41, 43, 51, 91, 105, 147–148, 150, 159, 177–178, 182, 186, 256 - Salon d’Automne 182, 195–197 - Salon des indépendants 194–195 - Salon des refusés 166, 188 Schule 42, 44.45, 47, 50–51, 53–54, 62–63, 78–81, 92, 94–95, 100, 113–114, 161, 226, 240, 251, 258, 269, 281, 318 Schulpflicht 79, 82, 92, 99, 236, 240, 269 Second Empire (siehe Zweites Kaiserreich) Sexualität 10, 41–46, 257 Sklaverei 46, 83–84, 247, 263, 286 société (siehe Verein) Sociétés des amis des arts (siehe Kunstgesellschaften) soziale Frage 193, 213, 215, 221, 232, 241, 257, 264, 317 Sozialismus (siehe auch Frühsozialismus) 114, 193, 242, 251, 168, 214, 222, 233, 236, 239–240, 244, 250, 253, 257, 319 Spielzeug 51–52, 75 Sprachpolitik 100, 108, 110–111, 114– 115, 117, 156, 158, 224–225, 282

376 Straßburg 72, 179, 255 Streik 213–214, 221–222 Surrealismus 181, 205–207, 230–231, 256, 312 Symbolismus 181, 191, 205–206, 230, 299 Tahiti 151, 198 Tanz 10–11, 18, 29–31, 51, 89, 95–96, 113, 115, 123, 133, 206, 227–228, 250, Theater 13, 23, 26, 27, 29, 33, 36–37, 89, 91, 93–94, 119, 144, 160–161, 165, 168, 188, 190–191, 231, 256, 274 Thorey-sous-Charny (Auxois) 101 Tischkultur 11, 31, 209, 256, 260, 51 - Service à la française 33–34, 95 - Service à la russe 33–36, 51 Toulouges (Pyrénées-Orientales) 77 Toulouse 114 Tourismus 123–126, 174, 198, 261 Trachten 89–90, 119, 126, Triaucourt-en-Argonne (Meuse) 111 Tricolore 36, 45, 67, 69–70, 72, 77, 111, 158, 241, 250, 264 Tulle (Corrèze) 76 Turnunterricht 44, 79, 244, 258, 318 Ursprünglichkeit 125, 141, 151, 198, 259 Valenciennes (Nord) 82, 284 Vaterland 44, 55, 77, 81, 108, 116, 123, 244, 249, 258 veillée 94 Vendée 97–98 Verein (siehe auch Ligue und Liga) 44, 46, 60, 76, 81–32, 93–94, 103, 105, 110–111, 114, 118, 123, 125–126, 144, 146, 168, 171, 174–175, 178–180, 194– 195, 225, 213, 225, 251, 256, 264, 278 Verfassung (siehe auch Gesellschafts-

Sach- und Ortsregister

vertrag) 14, 15, 17, 20, 34, 39, 62, 76, 234, 236–239, 248, 255, 263–264, 302 Versailles 15–16, 18, 66, 236, 263 Vézelay (Yonne) 112 Vic-sur-Cère (Cantal) 113 Vichy-Regime 108 Vizille (Isère) 35 Volkskultur (siehe auch Musik/Volkslieder) 11, 113, 118–119, 197, 224, Volkskunde 90, 113, 118–119 Wein 7–8, 18, 32–34, 38, 68, 88, 93–95, 101–103, 109, 112, 117–118, 121–125, 145–146, 179, 241, 295, 297 Wehrpflicht 88 Weltausstellung 27, 45, 69, 73–75, 86, 118, 165, 195, 197–198, 235, 247 Wirtschaftsliberalismus 235, 239 Wissenschaft 8–9, 11, 24, 25, 32, 43, 48, 50–52, 53–60, 63, 65, 84, 101, 109, 118, 156–157, 187–188, 196, 202–206, 209, 218–219, 225, 230, 242, 247, 294, 298, 318, Zeitverständnis 59, 206, 224 Zensur 23, 168, 235, 265 Zweites Kaiserreich 178, 211, 83, 233, 235, 238, 240, 264, Zweite Republik 82, 160, 233, 264,

Personenregister Abbé Gregoire 79, 110, 294 Amorós, Francisco 44 Amouretti, Frédéric 104, 116 Ampère, Jean Jacques 117 Antoine, André 191 Apollinaire, Guillaume 196–197, 200–201, 206 Aragon, Louis 224, 230 Baju, Anatole 242 Balzac, Honoré de 51, 95, 107, 110, 174, 175–176, 223, 299, Barni, Jules 81 Barrès, Maurice 115, 245–246, 248, Bartholdi, Frédéric Auguste 78 Bastien-Lepage, Jules 68, 130 Baudry, Paul 189 Baudelaire, Charles 146–147, 165, 180– 181, 186, 204, 206, 223, 228, 242, 308 Beaumarchais, Caron de 24 Beauvilliers, Antoine 25 Becque, Henri 176 Béranger, Pierre-Jean de 162, 233–234 Bergson, Henri 202 Bernard, Émile (Koch) 32, 35 Bernard, Émile (Maler) 198 Bernhardt, Sarah 190 Bissière, Robert 171 Bizet, Georges 115 Blanc, Charles 163, 167 Blanc, Louis 214, 317 Blin, Jules 145 Bonald, Louis de 243 Bonnat, Léon 151, 179 Bouguereau, William Adolphe 181, 308

Boulainvillier, Henri de 65 Boulanger, Georges 29, 73, 106, 248– 249, 251, 257, 265, 276 Boullée, Etienne-Louis 19–20 Bousquet, Marie-Louise 28 Bourdieu, Pierre 13, 101, 151, 165, 256, Braque, Georges 196, 198 Breton, André 205, 230, Brillant-Savarin, Jean-Anthelme 32 Bruant, Aristide 192–193, 216, 218–219 Bruno, G. (= Augustine Fouillée) 55, 84 Bruyas, Albert 171–174, 180 Büchner, Georg 255 Buffon, Georges-Louis Leclerc comte de 27, 47–48, 118 Buñuel, Luis 206 Cabanel, Alexandre 140, 189 Caillebotte, Gustave 152, 172–173 Calonne, Alphonse de 147 Cambry, Jacques 65 Camondo, Isaac de 171 Camp, Maxime du 215, 222–223 Campe, Joachim Heinrich 39–40 Canudo, Ricciotto 206 Carco, Francis 150 Carlyle, Thomas 16 Carpeaux, Jean-Baptiste 10 Cassagnac, Paul de 245 Castagnary, Jules-Antoine 167, 181, 200 Cazin, François Joseph 102 Cézanne, Paul 152–153, 159, 171–172, 180, 196, 199–200

378 Charles-Brun, Jean 116 Charton, Édouard 26, 52 Chasse-Boeuf, Constantin François de 64 Chatillon-Plessis 35, 37, 209 Cheverny, Victor de 90 Choderlos de Laclos, Pierre 24 Choquet, Victor 172 Clemenceau, Georges 29 Cocteau, Jean 206, 231, 274 Colas, Achille 154 Combe, Émile 251 Comte de Lautréamont (= Isidore Ducasse) 205 Condamine, Charles Marie de la 47–48 Coquelin, Benoît Constant 190–191 Courbet, Gustave 46, 136–136, 163–165, 167, 172–174, 179–180, 184, 197, 200 Couture, Thomas 38, 129, 162, 183, 305 Couyba, Charles-Maurice 155 Curnonsky (= Maurice Edmund Sailland) 120, 126 D’Alembert (siehe Rond d’Alembert) Dalí, Salvador 206 Daudet, Alphonse 115 Daudet, Léon 178 Daumier, Honoré 26–27, 41, 56, 70–71, 132, 165 David, Jacques-Louis 61, 158–159, 183, 186 Decamps, Alexandre 27 Deffès, Louis 114 Defoe, Daniel 53, 271 Degas, Edgar 135, 148, 172

Personenregister

Delacroix, Eugène 72, 84, 137, 152, 159, 165, 179, 184–185, 197 Demeaux, J.-B.-D. 43, 45 Demeny, Paul 229 Delair, Frédéric 34, 128 Delaunay, Robert 200–202 Déroulède, Paul 244, 248 Deschanel, Émile 225 Dmitrieff, Élisabeth 237 Dranem (= Arman Ménard) 150 Dreyfus, Alfred 29, 81, 106, 176, 193, 225, 244, 248–251, 257, 265 Drumont, Édouard 245, 247 Duban, Félix 62 Dubois, Urbain 32, 35 Duchamp, Marcel 146, 200 Duchenne de Boulogne, GauillaumeBenjamin 202–204 Duclos, Charles Pinot 47 Dumas der Ältere, Alexandre 67, 91, 294–295 Dupont, Pierre 121, 215 Dupré, Jules 182 Durand, Jean Nicolas Louis 62 Durand-Ruel, Paul 151 Edison, Thomas Alva 73 Eiffel, Gustave 73–74 Escholier, Raymond 223 Esparbès, Georges d‘ 149 Fabre, Joseph 69 Falguière, Alexandre 175 Ferreri, Marco 260 Ferry, Jules 18, 53, 79, 168, 269 Flaubert, Gustave 34, 58, 152, 165, 181, 222–223, 227 Foottit, George 85–86

Personenregister

Foucault, Michel 22, 43, 143, 256 Fouillée, Augustine (siehe Bruno, G.) 55 Fourès, August 116 Frantz-Reichel (= François-Étienne Obus Reichel) 122–123, 125 Frémiet, Emmanuel 68, 77, Freycinet, Charles de 88, 240 Gachet, Paul 171 Gachons, Jacques de 170, 174 Galipaux, Félix 150 Gambetta, Léon 18, 169, 236, 269 Gasquet, Marie 103 Gaugain, Henri 153 Gauguin, Paul 141, 151, 198–199, 259, 261, 313 Gaulle, Charles de 15 Gautier, Théophile 38, 146, 163–164, 167, 185, 189 Gavarni, Sulpice Guillaume 48 Geffroy, Gustave 175 Géricault, Théodore 163, 183–185, 197 Geoffrin, Marie-Thérèse de 24 Gérard, François 67 Gérôme, Jean-Léon 173 Gervex, Henri 4, 169, 176–177 Gille, Charles 214 Giono, Jean 116 Girardin, Émile de 52, 91 Giroux, Alphonse Gobineau, Joseph Arthur Comte de Godin, Jean-Baptiste André Goupil, Adolphe 152–153 Gourmont, Rémy de 225–227 Gouvest, Maubert de 47 Grévy, Jules 82, 194, 242

379 Grimm, Melchior 24 Guestier, Daniel 179 Guigou, Paul-Camille 180 Guilbert, Yvette 150 Guillemaut, Lucien 113 Guitant, Comtesse de 105 Guizot, François 17, 65, 78, 92, 146 Guizot, Guillaume 146 Hachette, Louis 52, 125 Haussmann, Georges-Eugène 20–21, 192, 215, 223, 225 Hazelius, Arthur 119 Hélvetius, Claude 47 Heine, Heinrich 178, 214 Heinrich IV. 67–68, 238 Herder, Johann Gottfried 59 Hetzel, Pierre Jules 52 Hugo, Abel 109 Hugo, Victor 17, 76, 143, 160–161, 179, 199, 223, 235 Ingres, Dominique 136, 138, 154, 166, 186–188 Itard, Jean 48 Jacob, Max 150 Jalade-Lafond, Guillaume 45 Jaucourt, François Arnail de 32 Jaurès, Jean 250–251 Jeanne d’Arc 68–70, 77–78, 111, 130, 154 Jouffroy, Théodore 162 Jouy, Étienne de 212 La Blaches, Vidal de 109 La Tour d’Auvergne-Corret, Théopile Malo de 64, 110 Laberthe, Philibert 192 Lacordaire, Henri Dominique 239

380 Lafont, Robert 116 Lamarck, Jean-Baptiste de Monet 44, 101, 218 Lamennais, Hugues Félicité Robert de 239 Landrin, Armand 118 Larousse, Pierre 28 Larroumet, Gustave 155–156 La Tour du Pin, René 104–105 La Villemarqué, Théodore Hersart de 65, 111 Laurent-Pichat, Léon 147 Lavisse, Ernest 54–58, 61, 63–64, 109, 258, 282–283 Le Play, Frédéric 104–105, 252 Lecomte, Georges 175 Leconte de Lisle, Charles Marie René 146, 165, 299–300 Lemel, Nathalie 237 Leo XIII. 69, 252, Lesseps, Ferdinand de 37, 242 Liouville, Henri 29 Littré, Émile 225 Loubon, Émile 180 Locke, John 14–15, 30, Lockroy, Édouard 74 Louis Napoleon (siehe Napoleon III.) Louis-Philippe von Orléon 66–67, 238, 264, 323 Lugné-Poe, Aurelien 191 Mac-Mahon, Patrice de 238 Macé, Jean 52, 268 Maillard, Jean 116, 268 Mallarmé, Stephane 206, 242 Man Ray 206 Manet, Édouard 139, 152, 166, 167, 171172, 176, 181, 183, 188–190, 197–198, 305, 310

Personenregister

Mangourit, Michel-Ange-Bernard 64 Marti, Claude 116–117 Martin, Louis-Léon 182 Matisse, Henri 196, 198 Marx, Karl 181, 222, 236–237, 253 Maurras, Charles 104, 115–116, 245, 248 Mayol, Félix 150 Méline, Jules 107–108 Ménard-Dorian, Aline 29 Mengaud, Lucien 114 Mercier, Louis Sébastien 25, 211–212 Mérimée, Prosper 28, 112, 166 Meurent, Victorine 189, 310 Michel, Louise 191, 237, 311 Michelet, Jules 20, 60–61, 68, 73, 109 Mirabeau, Gabriel de Riqueti, comte de 50, 156, Mirabeau, Octave 175 Miremont, Madame de 50–51 Mistral, Fréderic 102–103, 115–116, 118 Mitterand, François 17 Mollière (= Jean-Baptiste Poquelin) 94 Monet, Claude 151, 171–172, 198 Monfreid, George–Daniel de 151 Montesquieu, Charles de 15, 40, 57 Monticelli, Adolphe 180 Moreau-Nélaton, Étienne 150 Morveau, Guyton de 47 Musset, Alfred de 176, 190 Napoleon I. 24, 77, 82, 157, 233–234, 238, Napoleon II. 158 Napoleon III. 64, 82–83, 233–236, 240, 264, 166, 234–235, 238, Napoleon Bonaparte (siehe Napoleon I.) 158 Nède, André 223

Personenregister

Nelli, René 116 Nisard, Charles 64, 117–118, 122 Nussac, Louis de 103 Osiris, Daniel Iffla 77, 246 Padilla, Rafael 86 Paul-Boncour, Joseph 168 Paulus (= Chansonnier) 150 Peña, Narcisse-Virgile Díaz de la 162 Pergaud, Louis 259–260 Peyrat, Napoléon 109–110, 116 Picabia, Francis 200 Picasso, Pablo 198 Pissarro, Camille 171–172 Poincaré, Raymond 115 Ponson du Terrail, Pierre-Alexis 68 Pottecher, Maurice 93–94 Proudhon, Pierre-Joseph 116, 164 Proust, Antonin 167, 169, 197 Proust, Marcel 36, 95, 154, Puccini, Giacomo 145–146 Pujon, Maurice 244 Quillenbois (= Charles-Marie de Sarcus) 173–174 Quinsac, Paul 171 Quincy, Antoine Chrysostôme Quatremère de 159 Quiroul, Pierre 50 Ravenel, Jean (Pseudonym: Alfred Sensier) 189 Reboux, Paul 210–211 Récamier, Juliette 28 Rejane (= Gabrielle Rejou) 191 Renan, Ernest 242–243, 246, 282 Renoir, Pierre-Auguste 30, 96, 127, 133, 148, 171–172 Reynière, Grimond de la 32–33 Ricard, Louis-Xavier de 116 Rimbaud, Arthur 176–177, 199, 201,

381 206, 209, 229–230, 232, 242, 259, 261 Rivarol, Antoine de 243 Robespierre, Maximilien 83 Rochefort, Henri 29 Rodin, Auguste 151, 174–176, 183, 310 Rond d’Alembert, Jean Le 15, 24 Roque-Ferrier, Louis-Alphonse 116 Rostand, Edmond 191 Rouquette, Yves 116 Rousseau, Jean-Jacques 13–14, 31, 39– 40, 47–49, 56, 60, 186, 211, 258 Rousseau, Théodore 165, 198 Rouvier, Maurice 251 Roux, Joseph 103–104 Saint-Hilaire, Albert Geoffroy 87 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 146, 166, 180, 299 Salis, Rodolphe 193 Samain, Albert 149 Sand, George 235 Sardou, Victorien 190 Sébillot, Paul 118 Sée, Camille 240 Ségur, Comtesse Sophie de 52–53 Sensier, Alfred (siehe Jean Ravenel) 189 Shakespeare, William 94, 159, 186 Simon, Jules 238 Sisley, Alfred 171–172 Sourget, Adrien 179 Stendhal (= Henri Beyle) 125, 186 Sue, Eugène 92, 192, 223, 314 Talleyrand, Charles Maurice de 50 Tanguy, Julien François 153 Thérésa (= Eugénie Emma Valladon) 135, 149 Thier, Adolphe 237, 323–324

382 Thierry, Augustin 60, 65 Thoré, Théophile 27 Tissot, Samuel Auguste André David 43 Tocqueville, Alexis de 17, 23–24, 93, 97 Toulouse-Lautrec, Henri de 148, 176 Tourquet, Eugène 193 Trefusis, Violet 28 Trollope, France 212–213 Truffaut, François 48–49, 231–232 Valadon, Suzanne 134, 147–148 Valéry, Paul 176 Valette, Aline 222 Valladon, Eugénie Emma (siehe Thérésa) Van Gennep, Arnold 118 Van Gogh, Vincent 151, 171 Vaucaire, Maurice 149 Vaugeois, Henri 244 Vaulchier, Louis de 105 Vauxcelles, Louis 196 Vercingétorix 64–65 Verhaeren, Paul 194 Verlaine, Paul 206, 242 Verne, Jules 52–53, 244 Vernet, Carle 178–179

Personenregister

Vernet, Horace 234 Villevieille, Joseph 180 Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel 52, 112, 166, 187 Vitu, Auguste 32 Vollard, Ambroise 151 Waldeck-Rousseau, Pierre 105, 251 Walsin-Esterhàzy, Marie Charles 249 Whistler, James McNeill 166 Wilson, Daniel 242 Zola, Émile 36, 38, 41, 58, 107, 175– 177, 181, 218, 226–227, 249–250, 320