Forschendes Lernen an Universitäten: Prinzipien, Methoden, Best-Practices an der Ruhr-Universität Bochum [1. Aufl.] 9783658308278, 9783658308285

Der Band erörtert umfassend Theorien, Traditionen und Innovationen im Feld Forschenden Lernens (FL). Die Beispiele reich

328 115 11MB

German Pages XVIII, 631 [610] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Front Matter ....Pages 1-1
Forschendes Lernen als Lern- und Lehrformat – Prinzipien und Potentiale zwischen Wunsch und Wirklichkeit (Jürgen Straub, Paul Sebastian Ruppel, Sandra Plontke, Birgit Frey)....Pages 3-57
Von der Reformidee zum Alltagsprinzip – Eine kurze Geschichte Forschenden Lernens an der RUB (Judith Ricken)....Pages 59-65
inSTUDIES und inSTUDIESplus – Neun Jahre Lehrentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum (Flora Mehrabi)....Pages 67-75
Front Matter ....Pages 77-77
Forschendes Lernen an der RUB – Erfahrungen, Chancen, Herausforderungen und Entwicklungspotenziale aus der Sicht von Lehrenden (Katharina Mojescik, Jessica Pflüger, Caroline Richter, Carla Scheytt)....Pages 79-88
Forschendes Lernen aus Sicht der Wissenschaftsdidaktik (Peter Salden)....Pages 89-97
Fakultätsübergreifendes Methodenzentrum als Schnittstelle für Forschendes Lernen (Cornelia Weins, Sebastian Jeworutzki, Sebastian Gerhartz, Yvonne Kohlbrunn, Nele Kuhlmann, Daniel Weller)....Pages 99-107
Front Matter ....Pages 109-109
Einleitende Bemerkungen (Judith Ricken)....Pages 111-114
Das Online-Forschungslogbuch – Eine Unterstützungsmaßnahme beim Erwerb geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungskompetenzen (Julia Eberle, Rebecca Krebs, Nikol Rummel)....Pages 117-126
ABC: ABseits des Curriculums – Non-formales und informelles Lernen ab dem 1. Semester forschend erfassen (Sandra Aßmann, Yannic Steffens, Mario Engemann, Andrea Blome)....Pages 127-135
PHase – In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen (Christian Bunnenberg, Sandra Aßmann, Jörg Maack, Andrea Blome)....Pages 137-145
Einleitende Bemerkungen (Paul Sebastian Ruppel, Jürgen Straub)....Pages 147-156
Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium (Ivonne Möller, Astrid Ludwig)....Pages 159-166
Peer-Tutoring im Psychologie-Studium aus Sicht der Teilnehmenden und Tutor_innen – Ein Evaluationsprojekt (Greta Ontrup, Annette Kluge)....Pages 167-176
MA-DOC – Im Peer-to-Peer-Modus zum Master und zur Promotion (Paul Sebastian Ruppel, Jürgen Straub)....Pages 177-185
Schreiben und Sprechen reflektieren und gestalten – Sprechstunde für nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende (Ayşe Yıldırır)....Pages 187-195
Forschendes Lernen als digitale Lehre – Eine Einführung in Potenziale und Herausforderungen für Studierende und Lehrende (Ines Gottschalk)....Pages 197-202
Academic Videoclipping als digitale Lehrmethode – Potenziale und Herausforderungen in der didaktischen Konzeption und Umsetzung eines innovativen Lehr-Lernsettings (Ines Gottschal, Sabrina Zajak)....Pages 205-213
Bloggin: Am Beispiel satzzeichen! – Dem linguistischen Blog an der RUB (Nicole Auerbach-Kutscher)....Pages 215-223
Blended Learning – Arbeits- und Organisationspsychologie für Nicht-Psycholog_innen (Alina Tausch, Annette Kluge)....Pages 225-238
Lernen und Beitragen – Exegese des Neuen Testaments in einer Gelehrtenwerkstatt. E-Learning und Textauslegung (Peter Wick)....Pages 239-250
Hands on – Von der Theorie in die Praxis. Ein Anwendungsbeispiel aus den Ingenieurwissenschaften (Inka Mueller)....Pages 251-260
Elektronische Lektüren (Holger Gemba, Stephanie Heimgartner)....Pages 261-268
Von den Quellen zur Karte – Die Topographie der Stadt Rom in republikanischer Zeit (Bernhard Linke, Marie Föllen, Stefan Schorning)....Pages 269-278
eLab – Eine virtuelle Lernumgebung zur Qualitativen Analyse (Rochus Schmid)....Pages 279-286
Einleitende Bemerkungen (Pradeep Chakkarath, Sandra Plontke)....Pages 287-301
Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst – Wege des Verstehens, Formen der (Re-)Präsentation (Ralph Köhnen, Sandra Plontke, Jürgen Straub)....Pages 303-310
Die Sozialwissenschaften im Theater (Paul Sebastian Ruppel, Jürgen Straub, Pradeep Chakkarath)....Pages 311-323
Lenz-Herbst – Ein Symposium zum Theater von J.M.R. Lenz. Mit Vorträgen, Lesungen und Präsentationen (Judith Schäfer)....Pages 325-334
Schreiben. Präsentieren. Gestalten. – Ein Blick hinter die Kulissen des ROTTSTR5 Theaters (Markus Tillmann)....Pages 335-341
Zwischen Bilderflut und Bildersturm – Zur Rolle von Bildern in Religion und Gesellschaft (Patrick Krüger, Martin Radermacher)....Pages 343-351
Das Projekt UnVergessen – Genese, Teilnehmende und Forschendes Lernen (Katrin Bente Karl, Yvonne Behrens)....Pages 353-361
Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken – Der Ansatz öffentlicher Lehrforschung (Ines Gottschalk, Sabrina Zajak)....Pages 363-371
Nachhaltigkeitsforum RUB – Zukunftsfähiges Gestalten: Umwelt – Wissenschaft – Gesellschaft (Matthias Thome)....Pages 373-383
Einleitende Bemerkungen (Gabriele Bellenberg)....Pages 385-389
Kinder- und jugendliterarische Medien – Perspektiven empirisch forschenden Lernens im Master of Education (Ralf Glitza, Cornelius Herz, Lisa-Marie Stremmer)....Pages 391-398
Forschendes Lernen am Fall – Kasuistisches Pilotseminar zur Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters im Master of Education (Nele Kuhlmann)....Pages 399-407
Studierende erforschen Fachbiographien und Fachvorstellungen zu Deutsch und Mathematik (Katrin Rolka, Sebastian Susteck)....Pages 409-417
Forschendes Lernen im Praxissemester im Fach Russisch als Fremdsprache – Vorbereitung der Studierenden auf die Durchführung von Studienprojekten (Anastasia Drackert)....Pages 419-428
Die Einnahme einer forschenden Grundhaltung im Praxissemester – Perspektiven einer bildungswissenschaftlichen Begleitung (Grit im Brahm)....Pages 429-437
Forschendes Lernen in den Schulpraxisstudien des Lehramtsstudiums in der Bachelor-Phase – Ein Ansatz zur Bildung von Theorie-Praxis-Bezügen (Peter Floß, Carolin Kull)....Pages 439-448
Einleitende Bemerkungen (Birgit Frey)....Pages 449-454
Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum (Birgit Frey, Flora Mehrabi)....Pages 457-469
Fragen stellen mit allen Sinnen – Künstlerische Verfahren Forschenden Lernens (Antje Klinge, Constanze Schulte, Anna-Carolin Weber)....Pages 471-482
Herausforderungen der interdisziplinären Lehrforschung am Beispiel des Projekts Das ist doch krank, oder? (Joschka Haltaufderheide, Kirsten Persson, Ina Otte, Jochen Vollmann)....Pages 483-493
Not in my Backyard! – Chancen und Herausforderungen der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten als Thema eines interdisziplinären Moduls (Ute Berbuir)....Pages 495-504
Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Menschen in prekären Lebenslagen (Notburga Ott, Thorsten Schäfer, Jonas Seidel, Birgit Zeyer-Gliozzo)....Pages 505-513
Transdisciplinary Learning Lab – Ein simulationsbasiertes und transferorientiertes Modul (Saskia Hohagen, Marleen Voß, Uta Wilkens, Thomas Süße)....Pages 515-522
Forschende Haltung trifft praktische Projektarbeit – Interdisziplinäre Produktentwicklung im Team (Katharina Zilles, Andreas Kilzer)....Pages 523-532
Einleitende Bemerkungen (Andrea Koch-Thiele)....Pages 533-541
Vom Parkett in die (Geo)Loge (Lena Tillmann, Lars Tum)....Pages 543-544
UNGEBUNDEN – Projekt Literaturagentur (Nina Kullmann, Lisa Brammertz)....Pages 545-550
Der Nahe Osten im studentischen Blickfeld (Jan Gehm, Rebekka Scheler)....Pages 551-558
Forschend lernen und lehren – Die studentische Ringvorlesung HERMAION (Robert Peter Felix Queckenberg)....Pages 559-566
LabExchange – Forschen im Ausland (Sonja Yeh)....Pages 567-578
Front Matter ....Pages 579-579
Fünf Herausforderungen des Forschenden Lernens (Antonia Scholkmann)....Pages 581-590
Forschendes Lernen – Ein Nukleus der Hochschuldidaktik (Gabi Reinmann)....Pages 591-604
Back Matter ....Pages 605-631
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Forschendes Lernen an Universitäten: Prinzipien, Methoden, Best-Practices an der Ruhr-Universität Bochum [1. Aufl.]
 9783658308278, 9783658308285

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Jürgen Straub · Sandra Plontke Paul Sebastian Ruppel Birgit Frey · Flora Mehrabi Judith Ricken Hrsg.

Forschendes Lernen an Universitäten Prinzipien, Methoden, Best-Practices an der Ruhr-Universität Bochum

Forschendes Lernen an Universitäten

Jürgen Straub · Sandra Plontke · Paul Sebastian Ruppel · Birgit Frey · Flora Mehrabi · Judith Ricken (Hrsg.)

Forschendes Lernen an Universitäten Prinzipien, Methoden, Best-Practices an der Ruhr-Universität Bochum Mit Geleitworten von Prof. Dr. Kornelia Freitag und Prof. Dr. Joachim Wirth

Hrsg. Jürgen Straub RUB, Sozialwissenschaft Bochum, Deutschland

Sandra Plontke RUB, Sozialwissenschaft Bochum, Deutschland

Paul Sebastian Ruppel RUB, Sozialwissenschaft Bochum, Deutschland

Birgit Frey RUB, inSTUDIES Bochum, Deutschland

Flora Mehrabi RUB, Erziehungswissenschaft Bochum, Deutschland

Judith Ricken RUB, Dezernat für Hochschulentwicklung und Strategie Bochum, Deutschland

ISBN 978-3-658-30827-8 ISBN 978-3-658-30828-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Forschendes Lernen – Vision und Realität an der Ruhr-Universität Bochum Geleitwort von Kornelia Freitag Universitäre Vision oder Fata Morgana, Anregung zum kritischen Denken oder business as usual, Revolution hochschuldidaktischer Praxis oder genuin universitäre Lehrmethode mit langer Tradition? Forschendes Lernen ist von allem ein bisschen – und das macht es zu einem komplexen, aber, bei gezieltem Einsatz, auch zu einem wertvollen Instrument universitärer Strategieund Lehrentwicklung. Um das Potenzial der Idee und der Methode des Forschenden Lernens zu erschließen, wurde es an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) im Studienjahr 2010/11 in eine „Zukunftsvision Lehre“ überführt, in den Schritten „Forschung erfahren, erlernen, leben“ konkretisiert und „zum zentralen Prinzip didaktischen Handelns“ in der Lehre erhoben (Hellermann, Schmohr & Sekman 2012; vgl. auch Ricken sowie die Einführung von Straub, Ruppel, Plontke & Frey, beide in diesem Band). Seitdem erproben Lehrende und Studierende der RUB gezielt Lehr-Lernszenarien, die dezidiert als „Forschendes Lernen“ begriffen und ausgewiesen werden. Und so ist auch dieser Band entstanden, der die Vision einer wirksamen Verbindung von Forschung und Lehre ausführt und Erfahrungen schildert, wie sie in der Praxis verwirklicht werden kann. Die Idee, dass an der Universität Lehre aus der Forschung heraus erfolgt, ist nicht neu. Und dass neueste Forschungsergebnisse an Studierende weitergegeben werden, hat sich ebenfalls seit Langem durchgesetzt. Vergleichsweise neu ist aber die der rasanten gesellschaftlich-technisch-medialen Entwicklung unserer Zeit Rechnung tragende Forderung, dass an Universitäten nicht nur einzelne, besonders „begabte“, sondern alle Studierenden forschend lernen sollen. Zwar werden und sollen nicht alle später eigene Forschung betreiben, aber sie sollen mithilfe des Forschenden Lernens zum kritischen Denken befähigt werden. Das bedeutet, dass nicht nur mehr dem zukünftigen akademischen „Nachwuchs“, sondern allen Studierenden eine forschende Haltung zu vermitteln ist; dass alle in die Position von Forschenden zu bringen und damit

VI

Kornelia Freitag

zum kritischen Denken anzuregen sind. Dies erfordert ein wesentlich höheres Maß an (Hochschul-)Didaktik und (Vermittlungs-)Systematik, als traditionell an einer Universität zu erwarten war. Um dies zu erreichen, ist die Fähigkeit von Lehrenden, verständlich, inspirierend und zielorientiert zu lehren – schon das zweifellos ein hoher Anspruch – nun durch die Kompetenz, forschungsbasiert, -orientiert und -anregend zu lehren, zu ergänzen. Was es bedeutet, dass sich diese gewachsenen Anforderungen an universitäre Lehrende in Deutschland weder in ihrer formalen Vorbereitung auf die Lehre, noch im Umfang ihres Lehrdeputats oder der Zahl ihrer Studierenden widerspiegeln, kann hier nicht ausgeführt werden. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass die Erhöhung des Lehrdeputats in einer Zeit, in der sowohl die Anforderungen an die Lehre als auch die Studierendenzahlen erheblich gestiegen sind, den Willen und die Ressourcen der Lehrenden zur hochschuldidaktischen Qualifizierung nicht eben befördert hat. Umso wichtiger ist die Unterstützung von Lehrenden durch universitäre Einrichtungen und Programme, die zeitliche und materielle Ressourcen für das Erlernen und Erproben von hochschuldidaktischen Methoden zum Umgang mit den neuen Anforderungen und Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen. An der RUB wird die Implementierung von Forschendem Lernen kontinuierlich durch das Zentrum für Wissenschaftsdidaktik (vgl. Salden, im vorliegenden Band) sowie das Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ (jährlich in einem Umfang von 200.000 €) gefördert. Darüber hinaus und in enger Abstimmung mit dem Zentrum und dem Programm widmen sich wesentliche Teilprojekte im Qualitätspakt Lehre der RUB – inSTUDIES und inSTUDIESplus – dem Forschenden Lernen (vgl. Wirth sowie Straub et al., beide im vorliegenden Band). Eine besondere Rolle spielt in diesen Zusammenhängen insbesondere auch der spontane, aber auch der organisierte Austausch der Lehrenden über ihre Erfahrungen. Diese Diskussion der Erfolge, Grenzen und möglichen Versionen von Methoden, Formaten und Zielen Forschenden Lernens in unterschiedlichen Fächern, studentischen Gruppen und Gegenstandsbereichen unter Kolleg_innen hat sich als besonders fruchtbar erwiesen. Das ist auch der Hintergrund für die Entstehung der Idee zum vorliegenden Band. Er demonstriert verschiedenste Wege, auf denen Bochumer Lehrende die Vision des Forschenden Lernens Realität werden lassen. Er zeigt, warum es sich lohnt, sich

Geleitwort

VII

die Mühe mit der neuen Methode zu machen. Und er hofft, dazu anzuregen, eigene Wege zu beschreiten, Studierende durch Forschendes Lernen kritisch denken zu lehren. Literatur Hellermann, Klaus, Schmohr, Martina & Sekman, Ümit (2012): Vielfältige Lernkultur durch „Forschendes Lernen“ an der Ruhr-Universität Bochum. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung (ZFHE) 3/2012: S. 2835.

Forschendes Lehren und Lernen im Qualitätspakt Lehre Geleitwort von Joachim Wirth Forschung und Lehre sind die grundlegenden Aufgaben einer Universität, und ihre unzertrennliche Kombination unterscheidet Universitäten von anderen wissenschaftlichen Forschungs- oder Lehreinrichtungen. Entsprechend sind Universitäten auch der Ort, um Studierende nicht nur mit bereits erforschten und etablierten Wissensbereichen vertraut zu machen, sondern ihnen auch eine forschende Grundhaltung zu vermitteln, mit der sie sich selbst neues Wissen erschließen können. Im Forschenden Lehren und Lernen werden genau diese Grundhaltung und die dafür notwendigen Methoden adressiert. Insofern ist qualitativ hochwertiges Forschendes Lehren und Lernen ein universitäres Kernanliegen. In diesem Sammelband finden sich dafür zahl- und lehrreiche Beispiele, deren Studium dazu beitragen kann, universitäre Lehre weiterzuentwickeln. Im Forschenden Lehren und Lernen wird die Forschung selbst zur Lehrund Lernmethode. Das erfordert für Studierende wie für Lehrende, sich auf Neues einzulassen, sich auf unsicheres Terrain zu begeben und sich dort mit hohem eigenem Engagement zu bewegen. Studierende lernen nicht ‚nur‘ den Kanon, der ihnen vorgegeben wird, sondern müssen – innerhalb eines gewissen Rahmens – selbst definieren, worüber sie etwas herausfinden und wie sie dabei vorgehen möchten, und das, ohne dafür bereits hinreichend gerüstet zu sein. Lehrende müssen – innerhalb eines gewissen Rahmens – Kontrolle abgeben und Studierenden sowohl Freiheiten lassen als auch sie individuell und spontan unterstützen. Ihre Lehre wird dadurch teilweise unvorhersehbar, nicht nur inhaltlich oder zeitlich, sondern auch in Bezug auf das Erreichen der Lehrziele. Die Forschung bringt entsprechend Unsicherheit in das Lehren und Lernen. Diese Unsicherheit mag der eine als Risiko empfinden. Die andere erkennt darin das Wesen von Forschung, die Chance auf Neues und Neuartiges, das Neugier und Interesse entfacht und aufrechterhält.

X

Joachim Wirth

Es ist diese Neugier, dieses Interesse und diese Lust, etwas Neues auszuprobieren, die auch die im Rahmen des Qualitätspakts Lehre geförderten Lehrentwicklungsprojekte inSTUDIES und inSTUDIESplus an der RuhrUniversität Bochum prägen. Der Qualitätspakt Lehre ermöglichte erstmals im Bereich der Lehre, und nicht wie bislang üblich ausschließlich im Bereich der Forschung, systematisch Neues zu probieren und zu evaluieren und somit forschungsbasiert Lehre weiterzuentwickeln. Insofern ist der gesamte Qualitätspakt Lehre als Forschendes Lehren und Lernen begreifbar. In diesem Band werden viele erfolgreiche Beispiele Forschenden Lehrens und Lernens präsentiert, die im Rahmen des Qualitätspakts Lehre entstanden sind. Sie zeigen Wege auf, wie mit den Risiken des Forschenden Lehrens und Lernens umgegangen wird und wie seine Chancen genutzt werden können. Für beides ist eine vertrauensvolle und gegenseitig wertschätzende Zusammenarbeit der Schlüssel. In Bochum wird durch das inSTUDIESplusTeilprojekt „Forschendes Lernen³“ eine solche Zusammenarbeit in besonderem Maße ins Zentrum gerückt. Die hochgestellte 3 symbolisiert die Kooperation von Studierenden, Promovierenden, Postdocs und Dozierenden innerhalb eines Forschenden Lehr- und Lernprojektes. Damit wird an der RuhrUniversität Bochum durch das Forschende Lehren und Lernen die Idee der universitas in zweierlei Hinsicht verwirklicht: universitas als Gemeinschaft der Lehrenden und Studierenden sowie als Gemeinschaft von Forschung und Lehre. Forschendes Lehren und Lernen ist damit ein grundlegender Ausdruck von Universität, dessen Vielfalt und Kraft in diesem Band eindrucksvoll aufgezeigt wird.

Inhalt

Geleitwort von Kornelia Freitag Forschendes Lernen – Vision und Realität an der Ruhr-Universität Bochum .................................................................................................................... V Geleitwort von Joachim Wirth Forschendes Lehren und Lernen im Qualitätspakt Lehre .............................IX I

Einleitung

Jürgen Straub / Paul Sebastian Ruppel / Sandra Plontke / Birgit Frey Forschendes Lernen als Lern- und Lehrformat – Prinzipien und Potentiale zwischen Wunsch und Wirklichkeit ...................................................3 Judith Ricken Von der Reformidee zum Alltagsprinzip – Eine kurze Geschichte Forschenden Lernens an der RUB .................................................................... 59 Flora Mehrabi inSTUDIES und inSTUDIESplus – Neun Jahre Lehrentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum ....................................................................... 67 II

State of the Art und Perspektiven

Katharina Mojescik / Jessica Pflüger / Caroline Richter / Carla Scheytt Forschendes Lernen an der RUB – Erfahrungen, Chancen, Herausforderungen und Entwicklungspotenziale aus der Sicht von Lehrenden ...................................................................................................... 79

XII

Inhalt

Peter Salden Forschendes Lernen aus Sicht der Wissenschaftsdidaktik ............................. 89 Cornelia Weins / Sebastian Jeworutzki / Sebastian Gerhartz / Yvonne Kohlbrunn / Nele Kuhlmann / Daniel Weller Fakultätsübergreifendes Methodenzentrum als Schnittstelle für Forschendes Lernen ............................................................................................. 99 III

Best Practices-Projekte und Resultate im Rückblick

Einstieg in das Forschende Lernen Judith Ricken Einleitende Bemerkungen ................................................................................. 113 Julia Eberle / Rebecca Krebs / Nikol Rummel Das Online-Forschungslogbuch – Eine Unterstützungsmaßnahme beim Erwerb geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungskompetenzen ... 117 Sandra Aßmann / Yannic Steffens / Mario Engemann / Andrea Blome ABC: ABseits des Curriculums – Non-formales und informelles Lernen ab dem 1. Semester forschend erfassen .......................................................... 127 Christian Bunnenberg / Sandra Aßmann / Jörg Maack / Andrea Blome PHase – In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen ........ 137 Forschendes Lernen im Peer-to-Peer-Modus Paul Sebastian Ruppel / Jürgen Straub Einleitende Bemerkungen ................................................................................. 149

Inhalt

XIII

Ivonne Möller / Astrid Ludwig Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium ...................... 159 Greta Ontrup / Annette Kluge Peer-Tutoring im Psychologie-Studium aus Sicht der Teilnehmenden und Tutor_innen – Ein Evaluationsprojekt ................................................... 167 Paul Sebastian Ruppel / Jürgen Straub MA-DOC – Im Peer-to-Peer-Modus zum Master und zur Promotion ......... 177 Ayşe Yıldırır Schreiben und Sprechen reflektieren und gestalten – Sprechstunde für nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende............................ 187 Forschendes Lernen in Zeiten der Digitalisierung Ines Gottschalk Forschendes Lernen als digitale Lehre – Eine Einführung in Potenziale und Herausforderungen für Studierende und Lehrende .............................. 199 Ines Gottschalk / Sabrina Zajak Academic Videoclipping als digitale Lehrmethode – Potenziale und Herausforderungen in der didaktischen Konzeption und Umsetzung eines innovativen Lehr-Lernsettings ................................................................ 205 Nicole Auerbach-Kutscher Bloggin: Am Beispiel satzzeichen! – Dem linguistischen Blog an der RUB .......................................................................................................... 215 Alina Tausch / Annette Kluge Blended Learning – Arbeits- und Organisationspsychologie für Nicht-Psycholog_innen ..................................................................................... 225

XIV

Inhalt

Peter Wick Lernen und Beitragen – Exegese des Neuen Testaments in einer Gelehrtenwerkstatt. E-Learning und Textauslegung.......................................... 239 Inka Mueller Hands on – Von der Theorie in die Praxis. Ein Anwendungsbeispiel aus den Ingenieurwissenschaften ..................................................................... 251 Holger Gemba / Stephanie Heimgartner Elektronische Lektüren ...................................................................................... 261 Bernhard Linke / Marie Föllen / Stefan Schorning Von den Quellen zur Karte – Die Topographie der Stadt Rom in republikanischer Zeit ..................................................................................... 269 Rochus Schmid eLab – Eine virtuelle Lernumgebung zur Qualitativen Analyse .................. 279 Forschendes Lernen und Kooperationen mit außeruniversitären Institutionen und Partnern Pradeep Chakkarath / Sandra Plontke Einleitende Bemerkungen ................................................................................. 289 Ralph Köhnen / Sandra Plontke / Jürgen Straub Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst – Wege des Verstehens, Formen der (Re-)Präsentation .......................................................................... 303 Paul Sebastian Ruppel / Jürgen Straub/ Pradeep Chakkarath Die Sozialwissenschaften im Theater .............................................................. 311

Inhalt

XV

Judith Schäfer Lenz-Herbst – Ein Symposium zum Theater von J.M.R. Lenz. Mit Vorträgen, Lesungen und Präsentationen ............................................... 325 Markus Tillmann Schreiben. Präsentieren. Gestalten. – Ein Blick hinter die Kulissen des ROTTSTR5 Theaters ......................................................................................... 335 Patrick Krüger / Martin Radermacher Zwischen Bilderflut und Bildersturm – Zur Rolle von Bildern in Religion und Gesellschaft .................................................................................................. 343 Katrin Bente Karl / Yvonne Behrens Das Projekt UnVergessen – Genese, Teilnehmende und Forschendes Lernen ........................................................................................... 353 Ines Gottschalk / Sabrina Zajak Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken – Der Ansatz öffentlicher Lehrforschung ...................................................... 363 Matthias Thome Nachhaltigkeitsforum RUB – Zukunftsfähiges Gestalten: Umwelt – Wissenschaft – Gesellschaft ........................................................... 373 Forschendes Lernen in der Lehrer_innenausbildung Gabriele Bellenberg Einleitende Bemerkungen ................................................................................. 387 Ralf Glitza / Cornelius Herz / Lisa-Marie Stremmer Kinder- und jugendliterarische Medien – Perspektiven empirisch forschenden Lernens im Master of Education .............................................. 391

XVI

Inhalt

Nele Kuhlmann Forschendes Lernen am Fall – Kasuistisches Pilotseminar zur Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters im Master of Education ............................................................................................................. 399 Katrin Rolka / Sebastian Susteck Studierende erforschen Fachbiographien und Fachvorstellungen zu Deutsch und Mathematik .................................................................................. 409 Anastasia Drackert Forschendes Lernen im Praxissemester im Fach Russisch als Fremdsprache – Vorbereitung der Studierenden auf die Durchführung von Studienprojekten ......................................................................................... 419 Grit im Brahm Die Einnahme einer forschenden Grundhaltung im Praxissemester – Perspektiven einer bildungswissenschaftlichen Begleitung .......................... 429 Peter Floß / Carolin Kull Forschendes Lernen in den Schulpraxisstudien des Lehramtsstudiums in der Bachelor-Phase – Ein Ansatz zur Bildung von Theorie-PraxisBezügen ................................................................................................................ 439 Forschendes Lernen in interdisziplinären Formaten Birgit Frey Einleitende Bemerkungen ................................................................................. 451 Birgit Frey / Flora Mehrabi Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum ................................................................................. 457

Inhalt

XVII

Antje Klinge / Constanze Schulte / Anna-Carolin Weber Fragen stellen mit allen Sinnen – Künstlerische Verfahren Forschenden Lernens ................................................................................................................. 471 Joschka Haltaufderheide / Kirsten Persson / Ina Otte / Jochen Vollmann Herausforderungen der interdisziplinären Lehrforschung am Beispiel des Projekts Das ist doch krank, oder?................................................................. 483 Ute Berbuir Not in my Backyard! – Chancen und Herausforderungen der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten als Thema eines interdisziplinären Moduls........................................................... 495 Notburga Ott / Thorsten Schäfer / Jonas Seidel / Birgit Zeyer-Gliozzo Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Menschen in prekären Lebenslagen ......................................................................................................... 505 Saskia Hohagen / Marleen Voß / Uta Wilkens / Thomas Süße Transdisciplinary Learning Lab – Ein simulationsbasiertes und transferorientiertes Modul ................................................................................. 515 Katharina Zilles /Andreas Kilzer Forschende Haltung trifft praktische Projektarbeit – Interdisziplinäre Produktentwicklung im Team .................................................................................. 523 Forschendes Lernen aus studentischer Initiative und Perspektive Andrea Koch-Thiele Einleitende Bemerkungen ................................................................................. 535 Lena Tillmann / Lars Tum Vom Parkett in die (Geo)Loge ............................................................................ 543

XVIII

Inhalt

Nina Kullmann / Lisa Brammertz UNGEBUNDEN – Projekt Literaturagentur ............................................... 545 Jan Gehm / Rebekka Scheler Der Nahe Osten im studentischen Blickfeld.................................................. 551 Robert Peter Felix Queckenberg Forschend lernen und lehren – Die studentische Ringvorlesung HERMAION ...................................................................................................... 559 Sonja Yeh LabExchange – Forschen im Ausland ............................................................... 567 IV

Rückblicke und Ausblicke auf eine kooperative Lernkultur:

Learning by doing research Antonia Scholkmann Fünf Herausforderungen des Forschenden Lernens .................................... 581 Gabi Reinmann Forschendes Lernen – Ein Nukleus der Hochschuldidaktik ....................... 591 Autorinnen und Autoren ................................................................................... 605

I

Einleitung

Forschendes Lernen als Lern- und Lehrformat – Prinzipien und Potentiale zwischen Wunsch und Wirklichkeit Jürgen Straub, Paul Sebastian Ruppel, Sandra Plontke & Birgit Frey „Es ist ferner eine Eigentümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, daß sie Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu tun hat und lernt. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da.“ (Humboldt 1982 [1908/09], S. 254) „Lang ist […] die Liste der Bücher und Artikel in Sammelwerken und Zeitschriften, analog und digital, die dem forschenden Lernen gewidmet sind, noch größer vermutlich die Menge der in den Hochschulen unter dieser Devise laufenden Veranstaltungen, Projekte und Experimente, die nicht publiziert werden. […] So erfreulich diese Entwicklung […] ist, so wenig erstaunlich ist es bei so ausgeweiteter Verwendung, dass der Begriff des forschenden Lernens an Klarheit und Schärfe verliert und in vielfältigen Bedeutungen gebraucht wird und dass ähnliche Begriffe mit ihrerseits unklaren Abgrenzungen neben ihm auftauchen.“ (Huber & Reinmann 2019, S. 1)

Vielfalt als Ausgangspunkt Forschendes Lernen ist als Konzept und Praxis in zahllosen Hochschulen international etabliert. Einige haben dieses hochschuldidaktische Prinzip in ihrem Leitbild verankert und fördern einschlägige Aktivitäten intensiv (exemplarisch: Huber, Kröger & Schelhowe 2013; Tremp & Hildbrand 2012; Wildt 2009a; zu institutionellen Strategien allgemein: Jenkins & Healey 2005). Dies lässt sich ungeachtet der Tatsache feststellen, dass unter „forschendem Lernen“ vieles verstanden und im Zeichen dieses Kollektivsingulars tatsächlich recht Verschiedenes unternommen und vollbracht wird. Es versteht sich längst von selbst: „Das“ forschende Lernen gibt es nicht. Daran ändert sich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_1

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Jürgen Straub, Paul Sebastian Ruppel, Sandra Plontke & Birgit Frey

selbst dann nichts, wenn man – was häufig geschieht – das Adjektiv zum Eigennamen erklärt und mit einem Großbuchstaben versieht: Forschendes Lernen, dieses mehr oder weniger ambitionierte Konzept existiert nur im Plural. Seine dazu gehörige Praxis erst recht. Auch die lerntheoretischen Grundlagen sowie die praktischen, didaktischen Konsequenzen, die aus den jeweiligen Auffassungen, wie Menschen (möglichst effektiv und nachhaltig) lernen, in der Lehre gezogen werden, divergieren beträchtlich. Das alles zeigen auch die im vorliegenden Band versammelten Beiträge und Beispiele zur Genüge – und hoffentlich eindrucksvoll. Forschendes Lernen an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) – das funktioniert nur in einer Form, die Vielfalt zulässt und integriert. Die damit verbundene Dynamik bringt stetig neue Versuche und Varianten hervor. Dieser ganz bewusst betriebene Pluralismus macht Auseinandersetzungen nicht überflüssig, ganz im Gegenteil. Vielfalt ruft wechselseitige Kritik und die Suche nach besonders vielversprechenden, befriedigenden und erfolgreichen Varianten forschenden Lernens auf den Plan. Vor allem aber nötigt sie uns zu begrifflichen Differenzierungen, die das Verschiedene, gleichwohl unter denselben Namen Subsumierte, in gebührender Weise auseinanderzuhalten gestatten. Noch immer wird in der Praxis und sogar in der Theorie forschenden Lernens allzu vieles kurzerhand in ein und denselben Topf geworfen. Wie jeder Kollektivsingular verführt auch der hier interessierende zu übertriebener Homogenisierung und Vereinheitlichung. Pauschale Beschreibungen und Bewertungen „des“ forschenden Lernens entbehren indes jeder Grundlage1 (siehe auch Reinmann, in diesem Band). 1

Aus der Unmenge von einschlägigen Publikationen nennen wir hier lediglich einige informative Monographien und Sammelbände, die den aktuellen – natürlich keineswegs einheitlich repräsentierten – Forschungsstand schnell zu vermitteln vermögen: Görts 2003; Huber & Reinmann 2019; Huber, Hellmer & Schneider 2009; Kaufmann, Satilmis & Mieg 2019; Laitko, Mieg & Parthey 2017; Mieg & Lehmann 2017; Ludwig 2011; Obolenski & Hilbert 2003; Reiber 2007; Reitinger 2013; Sonntag, Rueß, Ebert, Friederici & Deicke 2016. Eine knappe Bilanz zieht Huber 2017. Die aktuelle Monographie von Huber und Reinmann (2019) darf wohl als derzeit umfassendste Übersicht gelten und obendrein als Artikulation einer theoretisch besonders sorgfältig begründeten Position. Von

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Es ist aus guten Gründen üblich geworden, •

forschendes Lernen im eigentlichen oder engeren Sinn

von (in fast allen Fällen bescheideneren) Varianten abzugrenzen, die dann zum Beispiel als • • • • • • •

forschungsbasiert, forschungsorientiert, forschungsanregend, forschungsnah, forschungsbezogen oder sogar, vollends vage, als forschungsähnlich, vielleicht auch noch als projektorientiertes oder problemorientiertes Studium oder dergleichen

den begrifflichen und bildungstheoretischen Grundlagen forschenden Lernens führt der Weg in diesem Buch über eine typologische Differenzierung verschiedener Ansätze bis hin zu seiner curricularen Implementierung, didaktischen Umsetzung (in verschiedenen Kontexten und Disziplinen), zu neuen Prüfungsformen und schließlich zur Erforschung forschenden Lernens. Von den Studien zur Evaluation und Entwicklung forschenden Lernens erwähnen wir exemplarisch das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von 2014-2018 geförderte Transfervorhaben ForschenLernen, das sich „mit der Analyse der Umsetzung und Wirkung von Forschendem Lernen in Projekten des Qualitätspakts Lehre [beschäftigt]. ForschenLernen ist ein Verbundprojekt, beruhend auf einer Kooperation von Universitäten und Fachhochschulen zur Institutionalisierung von Forschendem Lernen in Deutschland.“ (https://www.wihoforschung.de/de/ forschenlernen-49.php; zuletzt abgerufen am 12.01.2020) Drei Fragen stehen dabei im Zentrum des an der LMU München, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der FH Potsdam – in Kooperation mit weiteren Hochschulen – durchgeführten Projekts: „1. Wie lassen sich spezifische, wirksame Formate Forschenden Lernens klassifizieren? 2. Welche Kompetenzentwicklung wird durch Forschendes Lernen bei Studierenden gefördert? 3. Wie und wann lernen Studierende beim Forschenden Lernen? Zudem geht es darum zu verstehen, wie an den beteiligten Hochschulen das gelebte Forschungsverständnis die Gestaltung Forschenden Lernens mitbestimmt“ (ebd.). Einige Hinweise zur Beantwortung vor allem der letzten Frage liefert auch die vorliegende Dokumentation ausgewählter Aktivitäten aus dem Qualitätspakt Lehre-Projekt der RUB.

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etikettiert werden.2 Solche Differenzierungen sind unerlässlich, wenngleich es erwartungsgemäß bis heute keinen einheitlichen Gebrauch der terminologischen Bezeichnungen gibt (und neben den angeführten noch eine ganze Reihe weiterer Namen und Klassifikationsversuche kursieren). Allgemein verbindliche Sprachgebrauchsnormierungen sind auch in diesem Fall ein hoffnungsloses Unterfangen, wie bereits Hubers Systematisierungs- und Ordnungsversuch zeigt. Man muss also stets im Einzelfall sagen, was man gerade meint bzw. worum es bei den verschiedenen Ansätzen geht. Huber (2014, S. 23) hält als verbindendes Merkmal fest, „dass sich diese Ansätze anders als das sonstige Lehren und Lernen nicht so sehr auf die Ergebnisse, die gesicherten Erkenntnisse der Forschung, sondern vorrangig auf den Prozess, in dem diese gewonnen werden, auf die Fragestellungen, Annahmen, Vorgehensweisen, Arbeitsformen usw., auf Wege und Umwege beziehen und Studierende in größere Nähe dazu bringen wollen.“ Manchmal ist es dennoch gar nicht so einfach, wirklich nennenswerte Gemeinsamkeiten oder tatsächliche Ähnlichkeiten auszumachen, die den vielfach immer noch generell verwendeten Titel „forschendes Lernen“ überzeugend rechtfertigen. Dies gilt auch für die Beiträge im vorliegenden Band. Eigentlich müsste man also stets fragen: was heißt „forschend“ denn nun genau, wenn diese Bezeichnung Lehrveranstaltungen eines bestimmten didaktischen Formats mit spezifischen Zielen sowie die jeweils angestrebte, spezifische Form des Lernens charakterisieren soll? Offenkundig unterstellt die Bezeichnung eine zumindest basale Verwandtschaft über alle Programme und Projekte hinweg: irgendwie sollte, wo anspruchsvolle Lehrveranstaltungen dieses Typs angeboten werden, wissenschaftliche Forschung vorgesehen, zumindest jedoch im Spiel oder in nachbarschaftlicher Nähe sein. Stets geht es nicht allein um die

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Vgl. etwa Stang (2017) sowie Huber (2014), wo die wichtigsten Unterscheidungen erläutert werden und die Begriffe „forschungsnah“ oder alternativ „forschungsbezogen“ nicht als spezifische Varianten, sondern als überwölbende Oberbegriffe eingeführt werden; vgl. auch Huber und Reinmann (2019, Kap. 1 und 3), wo allerdings schon im Untertitel des Buches ein Weg vom forschungsnahen zum forschenden Lernen ausgewiesen wird (siehe auch Rueß, Gess & Deicke 2016 sowie Reinmann, in diesem Band).

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Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse (Theorien, methodologische Positionen, Methoden, empirische Befunde), sondern um ein erfahrungsgesättigtes Können, das die Lernenden im Grunde genommen nur im Vollzug oder Nachvollzug einer Praxis auszubilden vermögen. Im folgenden Abschnitt wird zunächst die ehrgeizigste Version forschenden Lernens beschrieben. An ihr wird deutlich, dass mitunter in das (maximal zweisemestrige) Angebot forschenden Lernens so gut wie alles hineingepackt wird, was von begabten und besonders motivierten, am Ende tatsächlich erfolgreichen Studierenden allenfalls im Laufe eines ganzen Hochschulstudiums bis zum Erlangen des Master-Grades erreicht werden kann. Zumindest klingen die programmatischen Vorhaben und Ankündigungen nicht selten so. Häufig ist hier der Wunsch Vater des Gedankens. Es ist unübersehbar, dass in den wild wuchernden Diskursen forschenden Lernens oftmals die absolute Ausnahme zum allgemeinen, attraktiven Leitbild erklärt wird. Warum das durchaus sinnvoll und zweckmäßig sein, aber auch zu verklärenden Überhöhungen der Realität und zu bedenklichen Überforderungen der Beteiligten führen kann, sollte in den nächsten Abschnitten deutlich werden. Wie in der gesamten Einführung beschränken wir uns auch in den nächsten Abschnitten auf eine selektive, akzentuierte Erörterung von Aspekten, die uns besonders wichtig erscheinen (und neuralgische Punkte darstellen, die auf offene Fragen und bestehende Desiderate verweisen). Studieren als attraktive Enkulturation in die Forschungspraxis Unsere Ausführungen sind, bei aller Zurückhaltung gegenüber übermäßigen Ansprüchen und schönfärbender Begeisterung, von einem klaren Votum für forschendes Lernen geprägt – in seinen verschiedenen Varianten, die alle ihre eigenen Berechtigungen, Stärken und Vorteile besitzen. Es gibt überzeugende Argumente für dieses hochschuldidaktische Prinzip. Viele Lehrende und zahlreiche Studierende, die intensive Erfahrungen mit diesem Lehr-Lern-Format gesammelt haben, blicken trotz des hohen Arbeitsaufwandes für alle Beteiligten meistens gerne auf einschlägige Veranstaltungen zurück und ziehen eine

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insgesamt positive Bilanz (vgl. für die RUB: Mojescik, Pflüger, Richter & Scheytt, in diesem Band; allgemein etwa Huber & Reinmann 2019, Kap. 8, wo auch Typen empirischer Forschung differenziert werden und der Stand vorliegender Befunde kritisch bilanziert wird). Was die positiven Rückmeldungen betrifft, spielen sich insbesondere zwei Aspekte in die Hände: •



zum einen haben die Studierenden in vielen Fällen (zumindest in zufriedenstellendem Ausmaß) tatsächlich gelernt, was sie lernen sollten. Zahlreiche Evaluationsstudien belegen das (selbst wenn mitunter nicht genau geklärt wird, auf welche Praxis forschenden Lernens sie sich beziehen, und selbst wenn manche Untersuchungen in methodischer Hinsicht nicht allzu belastbar sind und viele Ergebnisse lediglich auf den Selbstauskünften der Teilnehmer_innen beruhen, also keine objektiv nachgewiesenen Lernfortschritte dokumentieren. Letzteres ist bekanntlich nicht zuletzt wegen der heillosen Konfundierung von Variablen in einem so komplexen Feld und in längeren Untersuchungszeiträumen eine besondere methodische Herausforderung); zum anderen wollten und wollen die Studierenden lernen, was sie in der vorgeschlagenen Weise lernen sollen: sie haben sich den ‚Stoff‘ mit hoher intrinsischer Motivation, anhaltender Freude und spürbarer Befriedigung angeeignet. Sie haben die (teilweise selbst gestellten) Aufgaben in einer Weise gemeistert, die ihnen neben dem merklichen Wissenszuwachs auch ein paar positive Gefühle beschert hat und ihr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl hat steigern und stabilisieren können. Selbstwirksamkeitserfahrungen und Erfolgserlebnisse sind in aller Regel unmittelbar wohltuend und kommen der längerfristigen Motivation und dem Handlungspotential von Subjekten zugute. Oft ziehen sie die Anerkennung durch andere (Kommiliton_innen oder Dozent_innen) nach sich. Forschendes Lernen ist häufig zutiefst befriedigend, ein besonders geeignetes Medium für eine an wissenschaftliche Tätigkeiten gekoppelte Form einer vielgliedrigen Selbst-

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bestätigung. Dafür ist gewiss auch der hohe Stellenwert von zugeschriebener Autonomie verantwortlich, der die forschend Lernenden zu selbstverantwortlichen und selbsttätigen Subjekten macht – obwohl sie natürlich von Dozent_innen, die am Ende die Urteile über die erbrachten Leistungen fällen und Zensuren vergeben, beraten, begleitet und manchmal angeleitet werden. Die Idee der Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Selbsterfahrung war seit den ersten Anfängen dieses Lehr-Lern-Konzeptes zentral (wie die nach wie vor lesenswerte Schrift der Bundesassistentenkonferenz aus dem Jahr 1970 eindrücklich belegt; vgl. Huber & Reinmann 2019, Kap. 1 und 2; auch Reinmann, in diesem Band). Beides, also sowohl der tatsächliche Ertrag, von dem Studierende, Lehrende oder Evaluationsstudien berichten, als auch die von vielen trotz aller Mühen (oder gerade wegen der bewältigten Herausforderungen) erlebte Lust am forschenden Lernen haben wesentlich zur ungebrochenen Attraktivität dieses Konzeptes beigetragen. Wir teilen diese Einschätzung voll und ganz, wobei die Herausgeber_innen des vorliegenden Bandes aus zweierlei Perspektiven auf die Idee und Wirklichkeit forschendes Lernen schauen. Ein Teil des Teams – Sandra Plontke, Paul Ruppel und Jürgen Straub – hat jahrelange, sogar jahrzehntelange, überwiegend positive Erfahrungen mit dem Entwurf und der Durchführung einschlägiger Veranstaltungen gesammelt. Der andere Teil – Birgit Frey, Flora Mehrabi und Judith Ricken – hat sich mit derselben Leidenschaft und Ausdauer um die Konzeption, Organisation und Evaluation von einschlägigen Förderprogrammen oder die Unterstützung der Lehrenden gekümmert und dadurch vieles an der RUB erst möglich gemacht.3

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Auf die dankenswerten Verdienste, die dem Rektorat und anderen übergeordneten Instanzen des Hochschul- und Projekt-Managements zugeschrieben werden dürfen, kommen wir am Ende dieser Einleitung zu sprechen.

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Forschend lernen als Ideal: einen wissenschaftlichen Habitus sowie dazugehörige Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden Forschend lernen heißt in allen ehrgeizigen Varianten: Forschen lernen. Das ist weitaus mehr als dieses oder jenes lernen, während und indem man forscht (oder während man etwas dieser Tätigkeit Verwandtes, Ähnliches tut, vielleicht lediglich in Auszügen, selektiv und fragmentarisch). Der Anspruch, der mit forschendem Lernen im engeren Sinn verwoben ist, ist sehr hoch, ja enorm. Forschen lernen und schließlich forschen können ist schwierig und herausfordernd. Sieht man genauer hin, umfasst diese komplexe Tätigkeit bzw. das darin verkörperte Lehr- und Lernziel am Ende eines längeren Wegs der Enkulturation •





einen wissenschaftlichen Habitus, der eher einer allgemeinen kognitiven Haltung zu sich und zur Welt als einem Fachwissen von engstirnigen Spezialist_innen gleicht, eher einer von Rationalität durchdrungenen Lebensform als einem bloßen Set von exakt geregelten Verfahren und verfügbaren Techniken ähnelt; aber auch genau diese fachwissenschaftliche Expertise in Gestalt von theoretischem Wissen und vor allem von methodischer Kompetenz (die in sich vielfach gegliedert ist, also selbst wieder vielerlei Fähigkeiten und Fertigkeiten im Feld methodisch geregelten Denkens und Handelns beinhaltet); in besonders anspruchsvollen Varianten, die allesamt davon ausgehen, dass sich viele Wissensfelder bzw. Forschungsgebiete nicht fein säuberlich disziplinär einhegen und voneinander abgrenzen lassen, auch noch inter- oder transdisziplinäre Kompetenzen (was bedeuten kann, dass sich jemand in personam in mehreren Disziplinen auskennt und deren Wissensbestände verknüpfen und integrieren kann, oder aber zumindest dazu in der Lage ist, Brücken zu bauen sowie Übersetzungsleistungen zum Zweck der intendierten interdisziplinären Synergien anzuregen und in die eigene Forschungstätigkeit einzubezie-

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hen; allgemein zu „interdisziplinären Kompetenzen“ bzw. Interdisziplinarität siehe Lerch 2018; Schier & Schwinger 2014; auch Straub, 2011). Diesen aus Einstellungen, implizitem und explizitem Wissen, theoretischer und methodischer Kenner- und Könnerschaft zusammengesetzten Komplex kann man bekanntlich in einzelne Komponenten zerlegen und dann noch viel detaillierter beschreiben. Ausgefeilte Konzeptionen forschenden Lernens tun das oft ohne Umschweife, wenn sie mit einer genaueren Deskription bestimmter Ziele und Zwecke dieses Unternehmens beginnen. Wir halten uns zunächst an eine in gewisser Weise ideale Variante, die ganz offenkundig derartig umfassend, aufwendig und anspruchsvoll ist, dass man ohne Zögern auch von einer emphatischen Idealisierung sprechen darf. Diese idealisierende Vorstellung dürfte wohl von keiner Wirklichkeit forschenden Lernens gänzlich erreicht werden. Nichtsdestotrotz ist dieser utopische Entwurf mit seinen anregenden Vorgaben und den ein wenig einschüchternden Vorhaben aufschlussreich. Das hochschuldidaktische Prinzip und praktische Format forschenden Lernens ist wie kaum ein anderer Veranstaltungstyp der Idee wissenschaftlicher Rationalität verpflichtet, einer vernunftorientierten, methodisch geregelten Praxis, die von unbändiger Neugierde angetrieben wird und tatsächlich neue Erkenntnisse zu schaffen vermag. In der einen oder anderen Weise sollten beim forschenden Lernen eben genuin wissenschaftliche Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, angeeignet und erprobt werden, die es, wenngleich nicht sogleich und auf einen Schlag, jedoch allmählich und möglichst bald gestatten, dass Studierende in wachsendem Maße mit • • • • •

kreativen Ideen, bearbeitbaren Fragestellungen, umsetzbaren Projektentwürfen, gegenstandsnahen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Reflexionen, geeigneten Untersuchungsdesigns und -plänen,

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kompetent ausgewählten oder sogar eigens entwickelten Verfahren und Techniken sowie schließlich mit forschungspraktischen Kompetenzen vielfältiger Art

aufwarten können. Diese Fähigkeiten und Fertigkeiten sollen lohnenswerte wissenschaftliche Untersuchungen oder Teilstudien auf den Weg und zum erfolgreichen Abschluss bringen können. Die beim forschenden Lernen zurückzulegende Strecke führt dann schließlich bis hin zur öffentlichen Präsentation der erlangten Ergebnisse • •

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in (didaktisch, rhetorisch, pädagogisch und psychagogisch möglichst versierten) Vorträgen, in schriftlichen Publikationen der einen oder anderen Art, wobei dem wissenschaftlichen Schreiben selbst, wie es immer häufiger heißt, größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu widmen und gezielte Förderung zu gönnen sei; auf eigens veranstalteten Workshops für Studierende, Lehrende oder einfach für Angehörige der eigenen Fakultät oder Universität, bei unterhaltsamen, vielleicht bürgernahen Präsentationen wie etwa Science Slams im öffentlichen Raum, auf einer fachwissenschaftlichen Konferenz, auf einer trans- bzw. interdisziplinären, fachübergreifenden, eventuell auch nicht-wissenschaftliche Akteure (z.B. aus der Wirtschaft, Politik, dem Erziehungs- und Bildungssystem oder der Kunst) einbeziehenden Tagung oder sogar im Rahmen von Ausstellungen in privaten Räumen und Galerien, öffentlichen Einrichtungen wie Museen oder Theatern, wobei das Ausstellungsprojekt womöglich von vorneherein vorgesehen und vielleicht das übergeordnete Ziel des Lehrforschungsprojekts und forschenden Lernens war. (An der RUB gibt es deswegen bereits eine außerordentlich ausgefeilte, überaus nützliche „Handreichung zur

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Planung und Durchführung von Ausstellungen im Rahmen von Lehrprojekten“.4) Bereits die obenstehende Liste lässt erahnen, dass es beim forschenden Lernen nicht ausschließlich um den Erwerb genuin wissenschaftlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten gehen muss (und kann), also nicht allein um • • • • •



die im Zentrum stehende, in sich mehrfach gegliederte methodische Kompetenz oder die ebenfalls wissenschaftsspezifische (meta-)theoretische und methodologische Expertise, die Fähigkeit zu analytischem Denken, logischem Schließen und rationalem Argumentieren, die Fähigkeit im Umgang mit den für die Forschung unbedingt erforderlichen oder hilfreichen Techniken und Medien, die Fähigkeit zu bibliographischen und anderen Recherchen, die es gestatten, den aktuellen Forschungsstand zu bilanzieren sowie bestehende Defizite und Desiderate zu identifizieren, oder die Fähigkeit, erlangte Forschungsergebnisse so zu vermitteln bzw. zu publizieren, dass die daran interessierte scientific community Zugang dazu hat, die neuen Erkenntnisse berücksichtigen und im fortlaufenden wissenschaftlichen Diskurs darauf reagieren kann.

Es geht außerdem um ein weiteres Bündel von zusätzlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die man sich beim forschenden Lernen aneignen kann (und oft erklärtermaßen auch aneignen soll). Diese wissenschaftsnahen Zusatzqualifi-

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Diese Handreichung (Atzl & Schulz 2013) umfasst knapp 50 Seiten und möchte zur „perfekten Ausstellung“ beitragen. Sie lässt dabei – in alphabetischer Ordnung – wirklich keinen Schritt aus – vom „Auf- und Abbau“, von den „Ausstellungstafeln“ und der „Beschilderung“ über den „Katalog“ und „Leihvertrag“ oder die „Sicherheit“ und „Technik“ bis hin zum Schluss des Ausstellungslexikons mit den Einträgen „Versicherung“, „Vitrinen“ und „Zeitplanung“. Sie gibt potentiellen Interessent_innen auch zahlreiche hilfreiche Checklisten an die Hand.

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kationen erlauben es Personen erst, sich im materiellen Raum sowie im soziokulturellen Feld, in dem geforscht wird, sicher und erfolgreich zu bewegen und dabei eigene Akzente zu setzen. Studierende, die forschend lernen, sollen bekanntlich auch in die Lage versetzt werden, • •

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in wissenschaftlichen Kontexten selbstbestimmt zu denken und vorzugehen, sozial kompetent zu handeln, insofern dies zum Beispiel (vor allem in sozial- und kulturwissenschaftlichen Projekten5) o für den Zugang zum Untersuchungsfeld und die soziale Organisation und Koordination der Forschungstätigkeit erforderlich ist, o für die Kontaktaufnahme mit (mehr oder weniger fremden) Menschen und sodann für die Erhebung von Daten z.B. in Gestalt von Interviews, Gruppendiskussionen oder anderen Gesprächsformaten entscheidend ist (wobei beim Vorliegen erheblicher kultureller Fremdheit die sogenannte interkulturelle Kompetenz zu einem wichtigen Bestandteil der sozialen wird, weil dann eine teilweise besondere Geschicklichkeit im Hinblick auf soziale

Manche der folgenden Punkte fallen in Projekten forschenden Lernens z.B. in der Mathematik oder theoretischen Physik einfach weg. Aber: Forschende bewegen sich generell nicht im luftleeren Raum, und selbst die hoch artifiziellen naturwissenschaftlichen Labors sind keine sozial und kulturell neutralen Orte, an denen man sich – unberührt von sozialen Erwartungen und kulturellen Ansprüchen – unbedarft und unbehelligt bewegen könnte. Um wie viel stärker noch gilt das für sozial- oder kulturwissenschaftliche Projekte, deren Empirie die (angehenden) Wissenschaftler_innen schnurstracks in unbekannte soziale Milieus und fremde Kulturen führt! Forschende sind häufig Fremde in einem mehrfachen Sinn. Sie kennen sich am Anfang ihrer Unternehmungen oftmals nicht bloß mit den wissenschaftlichen ‚Dingen‘ nicht hinreichend aus, sondern müssen obendrein lernen, ihren Forschungspartner_innen so zu begegnen, dass sie tatsächlich Zugang zu den sie interessierenden Feldern und Phänomenen bekommen. Fremde Menschen sind bekanntlich mehr und anderes als bloße ‚Untersuchungsobjekte‘, die nicht selbst auf die Forschenden, die konkreten Personen und deren Tun, reagieren würden, nicht zuletzt auf der Grundlage ihrer Erwartungserwartungen. All das gilt es generell zu berücksichtigen, wie gesagt in disziplinärer Perspektive. Vgl. exemplarisch etwa Cronshagen, Hogh und Wöltjen (2016), wo disziplinspezifische Konzepte des Forschens am Beispiel der Geschichte, Philosophie und Sportsoziologie erörtert werden.

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Perspektivenübernahme, Empathie, Sensibilität und andere Aspekte praktischen Fremdverstehens verlangt ist); grundsätzlich gilt, dass man sich in den soziokulturellen Wirklichkeiten, an denen man interessiert ist, zurechtfinden muss, o für die wissenschaftsinterne Kommunikation und Kooperation in Forschungsteams unabdingbar ist (weshalb Teamfähigkeit – wie weitere „allgemeine Schlüsselqualifikationen“ – oft als sekundäres Lernziel aller einschlägigen Lehrangebote im Format forschenden Lernens angeführt wird), über eine längere Zeitstrecke bei der Erfüllung sehr verschiedener, womöglich gleichermaßen anspruchsvoller Aufgaben motiviert, diszipliniert und konzentriert bei der Sache zu bleiben (und dabei das notwendige Maß an Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz oder auch die Fähigkeit zur Selbstkritik zu entfalten), sich langfristig zu fokussieren und den eigenen Alltag über viele Monate hinweg zweckmäßig zu organisieren und auf das (in aller Regel detailgenau zu protokollierende, im Prozess zu reflektierende) Forschungsvorhaben einzustellen (Zeit-, Aufgaben- und Selbstmanagement, Organisations- und Administrationsfähigkeit gehören in diese Rubrik).

Auch diese Aufzählung ist unvollständig. Manche Autor_innen betrachten etwa Employability oder sogar Citizenship bzw. das gesellschaftliche Verantwortungsgefühl und den Gemeinsinn demokratisch engagierter Bürger_innen ebenfalls als allgemeine Schlüsselkompetenzen, die durch forschendes Lernen besonders gefördert würden (und demnach ebenfalls als sekundäre LehrLernziele oder wenigstens als willkommene Nebenfolgen forschenden Lernens ausgewiesen werden können). Wir lassen hier dahingestellt, wie weit man diesbezüglich gehen sollte (und wie sehr man moralische Ideale, politische und normative Vorgaben umstandslos zu handlungsleitenden Prinzipien im wissenschaftlichen Studium machen sollte – oder ob man den modischen Begriff der „Kompetenz“ so selbstverständlich und theorielos gebrauchen sollte, wie es längst der Fall ist; vgl. dazu Reichenbach 2012, 2018, 2019, der

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die ausufernde Semantik insbesondere, aber nicht allein in der Erziehungswissenschaft und Pädagogik beklagt; auch Straub 2018; zum Kompetenzbegriff siehe Straub 2007). Bereits unsere begrenzte Liste verdeutlicht hinreichend, dass es beim forschenden Lernen stets um mehr und anderes geht als lediglich um genuin wissenschaftliche Tätigkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Vieles, was beim Forschen gelernt werden soll und muss, gehört nicht zum Kern einer genuin wissenschaftlichen Denkform und Praxis, sondern zu deren allgemeinen Voraussetzungen (die häufig auch in anderen Berufsfeldern erfüllt werden müssen; man denke an Selbstdisziplin und -kontrolle, die ja vielerorts, wo Professionalität gefragt ist, unabdingbar sind). Im Übrigen scheint beim forschenden Lernen stets der Einsatz der ganzen Person gefordert. Damit hängt es zusammen, dass die Bildung der Persönlichkeit bis heute als Lehr- und Lernziel ausgewiesen wird, das im Format forschenden Lernens (angeblich) besonders stark unterstützt werden kann (Euler 2005; Huber & Reinmann 2019, Kap. 2). Kaum sonst irgendwo sind der Erwerb von fachwissenschaftlicher Expertise, wissenschaftsnahen Kompetenzen, allgemeinen Schlüsselqualifikationen und einem die Person als Person und Persönlichkeit bildenden Erfahrungsschatz so eng miteinander liiert wie im Konzept forschenden Lernens. Manche sprechen von einer einzigartigen Trias von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenzen (Euler 2005, wo diese Begriffe genauer erläutert und auf die gleichermaßen relevanten Dimensionen des Erkennens, des Wertens und des Könnens bezogen werden; Wildt 2011b, Folie 11, fügt noch eine Organisations- und eine Systemkompetenz hinzu, die das Handeln in Organisationsstrukturen bzw. in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen orientieren sollen). Dieses überaus breite Profil ändert natürlich nichts daran, dass im interessierenden Kontext zweifellos das Forschen als eine genuin wissenschaftliche Tätigkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und stehen sollte. Das bedeutet in der ambitioniertesten Variante – jedenfalls idealerweise –, dass das Forschen in allen seinen Komponenten bzw. in seiner Gesamtgestalt erfahren und gelernt werden soll. Die häufig zitierte Definition von Ludwig Huber macht das noch einmal unmissverständlich klar. Sie beinhaltet im Übrigen vieles (oder setzt stillschweigend voraus), was wir bislang ausgeführt haben:

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„Forschendes Lernen zeichnet sich von anderen Lehrformen dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit)gestalten, erfahren und reflektieren.“ (Huber 2009, S. 11; siehe auch Huber 2010, 2014; Huber & Reinmann 2019; Schneider & Wildt 2009, S. 55ff., sowie viele andere, die diese Definition mehr oder weniger teilen und die einzelnen Schritte oder Phasen häufig – auch graphisch – zyklusförmig anordnen, ohne damit eine lineare, unumkehrbare Abfolge suggerieren zu wollen). Wie hoch der in dieser definitorischen Bestimmung forschenden Lernens steckende Anspruch ist, zeigen auch die bereits von der Bundesassistentenkonferenz 1970 angeführten Merkmale, die Huber – als einer der Koautoren dieser berühmten ‚Denkschrift‘ – in vielen seiner Publikationen und Vorträge zusammenfassend wiedergibt, z.B. auf einer Folie mit folgenden Punkten: „selbstständige Wahl des Themas; selbstständige ‚Strategie‘, besonders bezüglich Methoden, Versuchsanordnungen, Recherchen; entsprechendes unbegrenztes Risiko an Irrtümern und Umwegen einerseits, Chance für Zufallsfunde, ‚fruchtbare Momente‘ andererseits; dem Anspruch der Wissenschaft zu genügen (z.B. angemessene Prüfung des schon vorhandenen Wissens, Ausdauer, Selbstkritik); Prüfung des Ergebnisses hinsichtlich seiner Abhängigkeit von Hypothesen und Methoden; Aufgabe, das erreichte Resultat so darzustellen, dass seine Bedeutung klar und der Weg zu ihm nachprüfbar wird“ (https://www.hfwu.de/fileadmin/user_upload/KoLe/Dateien/FoLe /Vortrag_Huber.pdf, zuletzt abgerufen am 1.1.2020). Zweierlei scheint in Hubers einflussreicher Auffassung zentral: die Selbständigkeit des studentischen (Forschungs-)Handelns sowie die Verbindlichkeit genuin wissenschaftlicher Standards und Gütekriterien. Forschend lernen heißt hier eben zuvorderst: Forschen lernen, sich also all das aneignen, was diese (unabhängig von disziplinären Differenzen) höchst komplexe Tätigkeit voraussetzt und verlangt. Das geht naturgemäß langsam

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und schrittweise von statten. Wildt (2011a) zerlegt die (graphisch als Stufen dargestellte) Entwicklung vom Novizen zum Experten (in Anlehnung an Dreyfus & Dreyfus 1987) in folgende Etappen und Qualifikationsniveaus: „Neulinge – fortgeschrittene Anfänger – kompetente Problemlöser – Meister des Faches – wahre Experten“ (vgl. auch das praxisorientierte Modell der Kometenzentwicklung durch forschendes Lernen bei Schneider 2009). Auch diese Aufzählung zeigt bereits: das ist ein langer, steiniger Weg. In Hubers Definition wird einer drohenden Überforderung der Studierenden zwar vorgebeugt, indem die Akteur_innen – in aller Regel zunächst und noch eine ganze Zeit lang mehr oder weniger unerfahrene Noviz_innen – nicht unbedingt allein mit der selbstbestimmten, selbständigen und eigenverantwortlichen Entwicklung und Durchführung eines Forschungsvorhabens betraut werden. Sie genießen nicht nur die unterstützende Beratung und Begleitung, für welche die Dozent_innen zuständig sind, sondern können (und sollen) womöglich auch das entlastende Angebot ergreifen, das zu entwerfende und zu verwirklichende Projekt gemeinsam mit anderen zu gestalten und abzuwickeln, zu erfahren und zu reflektieren. Dieses kooperative Moment, das aus der individuellen, mehr oder minder alleine verrichteten Arbeit eine Mitarbeit und Mitverantwortung in der Gruppe macht, ist aber noch kein unbedingt wirksamer Schutz gegen allzu hohe Ansprüche, die stets lauern, wenn es um forschendes Lernen im engeren Sinn geht. Die Einbindung in ein Team, das die Ideen ebenso teilt wie die Verantwortung für das ganze Unternehmen, hilft gewiss, bewahrt jedoch nicht zwangsläufig vor einschüchternden Ambitionen, Leistungsdruck und Überanstrengungen (vor allem dann, wenn besonders ehrgeizige und leistungsstarke Studierende die Ziele setzen und den Takt vorgeben). Das zeigen auch alle Darstellungen eines Forschungszyklus, der zweifellos sehr viele oder sogar alle der oben aufgelisteten Anforderungen und Lernziele enthält. Dieser Zyklus, den nach Huber (2009, S. 23) alle tatsächlich forschend Lernenden „gewiss […] möglichst vollständig durchlaufen, wenigstens im Blick haben“ sollten, ist an sich äußerst anspruchsvoll. Huber weiß das natürlich, was nicht nur die relativierende Formel „wenigstens im Blick haben“ signalisiert, sondern mehr noch das unmittelbar daran anschließende Eingeständnis: „Aber da das nicht immer möglich oder sinnvoll ist,

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lassen sich […] die Typen des auf Forschung bezogenen Lernens auch danach unterscheiden, welche dieser Aspekte oder Phasen in den Vordergrund gerückt werden“ (ebd.). Differenzierte Ansprüche, realistische Aussichten für alle (auch angehende Wissenschaftler_innen) Selbst wenn man annimmt, dass Studierende, die kleinere Forschungsprojekte eigenständig und selbstverantwortlich entwerfen und durchführen sollen, bereits über wissenschaftliches Basiswissen verfügen und einige elementare Kompetenzen besitzen, die sie zu wissenschaftlichen Untersuchungen durchaus befähigen (Methodenkenntnisse etwa), ist es zumal im Bachelor-Studium gleichwohl viel, oft allzu viel verlangt, in ein, zwei Semestern einen vollständigen Forschungszyklus zu durchlaufen (und dabei alles aufzunehmen und zu behalten, was einem begegnet). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn man damit mehr meint und anstrebt als lediglich ein oberflächliches Kennenlernen der einzelnen Phasen (ein bloßes „Hineinschnuppern“). Wir wissen, dass sogar viele Bachelor-Abschlussarbeiten diesem hohen Anspruch allenfalls teilweise entsprechen. Sie sind – vor allem in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften – meistens nur punktuell gelungen (im Sinne etablierter wissenschaftlicher Standards). Dazu kommt: Die in solchen Qualifikationsarbeiten errungenen Erkenntnisse mögen vielleicht für irgendwelche Dritte interessant sein, stellen in aller Regel jedoch keine nennenswerten wissenschaftlichen Fortschritte dar, die von den Dozent_innen wirklich beachtet oder gar von der scientific community in den Korpus disziplinären oder inter- und transdisziplinär relevanten Wissens aufgenommen würden. Das gilt bekanntlich auch für die allermeisten Master-Abschlussarbeiten, egal in welchem Fach. Sie verändern ihre Disziplin – deren Forschungsstand und Wissensbestand – nur sehr selten. Auch methodische Innovationen sind hier rar. Man darf nicht zu viel verlangen und erwarten. Am ehesten tragen solche Qualifikationsarbeiten wohl zum wissenschaftlichen Fortschritt bei, wenn sie in größere Forschungsprojekte etablierter Wissenschaftler_innen

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eingebunden sind und dort gut isolierbare Teilfragen bearbeiten können. Das mag in einigen naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen vielleicht besser funktionieren als in den geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächern. Eine Ausnahme bleibt es jedoch hier wie dort. Es ist kein Geheimnis, dass der Großteil studentischer Abschlussarbeiten fast ungelesen in Archiven oder Abstellkammern verschwindet (um nach der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist vernichtet zu werden). Das gilt erst recht für Berichte aus Veranstaltungen im Feld forschenden Lernens. Lehrende machen – auch in Begutachtungsprozessen – entsprechend Abstriche von überzogenen Ansprüchen und beachten auch individuelle Lernfortschritte und intraindividuelle Maßstäbe. Nur wenige Ergebnisse studentischer Forschungsbemühungen stellen wissenschaftliche Neuerungen dar. Die heute gegebene Möglichkeit, Erträge aus studentischen (oder von Studierenden mitverantworteten und mitgestalteten) Projekten kurzerhand online zu publizieren – auf dafür vorgesehenen Plattformen, die teilweise Einnahmen mit solchen nur selten nach strengen Qualitätsstandards geprüften Publikationen erzielen, oder auf privaten websites, die extrem geduldig und gefräßig alle eingespeisten Daten einfach aufnehmen und allgemein zugänglich machen – ändert nur wenig an dieser Tatsache. Solche Veröffentlichungen erreichen alles in allem eher selten wissenschaftliche Expert_innen (die in den zirkulierenden oder offerierten Texten auch keine innovativen Erkenntnisse erkennen könnten, falls sie sie tatsächlich einmal zu lesen bekämen bzw. lesen würden). Wer dem zustimmt, ist gegen überschwängliche Idealisierungen forschenden Lernens und die damit einhergehenden Überforderungen der Beteiligten gut gerüstet. Nur dann braucht die absolute Ausnahme nicht zur allgemeinen Regel und zum allseits verbindlichen Maßstab erhoben werden (an dem gemessen die meisten Studierenden eher schlecht abschneiden müssten). Von verklärenden Überzeichnungen entlastet, wird der Blick frei für die tatsächliche Leistungsfähigkeit und Erfolgsträchtigkeit eines Lehr-Lern-Formats, das zurecht einen guten Ruf genießt und vielen attraktiv erscheint – gerade auch in seinen bescheideneren Varianten. Vom markierten Risiko der Überforderung sind übrigens nicht nur die Studierenden betroffen (worüber in empirischen Evaluationen forschenden

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Lernens regelmäßig geklagt wird, wobei der gesteigerte Zeitaufwand noch das harmloseste Bedenken darstellt; vgl. auch die Untersuchungsergebnisse von Mojescik, Pflüger, Richter & Scheytt, in diesem Band). Auch Lehrende klagen mitunter – trotz ihrer intrinsischen Motivation und den oft bemerkenswerten Erfolgen, die sie gemeinsam mit den Studierenden erleben, sowie der Anerkennung und Dankbarkeit, die sie vielfach gerade in Veranstaltungen im Feld forschenden Lernens ernten. Die sich oft über zwei Semester erstreckenden Seminare, in denen meistens auch in der vorlesungsfreien Zeit weitergearbeitet wird, sind eben nicht nur etwas Besonderes, sondern auch besonders aufwendig und anstrengend, mitunter auszehrend. Sie treiben auch die Lehrenden über den gewohnten, Verlässlichkeit und Sicherheit gewährenden Rahmen eingeschliffener Routinen hinaus und verlangen ihnen ständig neue Umstellungen und Einstellungen ab, nicht zuletzt eine möglichst kontinuierliche Weiterentwicklung ihres Wissens und Könnens, welche die Lehrenden dann selbst zu Lernenden macht. Man weiß zum Beispiel, wie viele Dozent_innen spontan reagieren, wenn man ihnen digitale Medien empfiehlt, von denen sie bislang nichts wussten und zu denen sie Abstand gehalten haben. „Wie forschendes Lernen durch Teilhabe und mediale Unterstützung gelingen kann“ (Wolf 2016), diese eigentlich verlockende Aussicht zieht nicht gleich alle an. Sie gehört zu einem ganzen Bündel möglicher Maßnahmen, welche die anhaltende Verbesserung gerade auch der Didaktik und Durchführung forschenden Lernens zu einer anhaltenden Überforderung machen können. Nicht alle halten das auf Dauer aus, ohne die Freude daran zu verlieren. Die positiven Beispiele, die gemeinhin eine starke Vorbildfunktion und -wirkung besitzen, helfen nicht immer, die eigene Motivation, Leistungsbereitschaft und -fähigkeit auf demselben hohen Niveau zu halten. Dass es in allen Disziplinen trotz der gängigen Klage über den zeitfressenden Aufwand und den kräftezehrenden Einsatz der Beteiligten zahlreiche positive Beispiele gibt, trägt übrigens nicht wenig zum gesteigerten Renommee bei, den das Lehren derzeit generell genießt – langsam, aber sicher. Die Anerkennung, die vor allem den herausragenden Lehrenden derzeit gezollt wird – auch in Gestalt immer neuer Lehrpreise (etwa des Stifterverbandes für

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die Deutsche Wissenschaft) –, kommt letztlich allen Dozent_innen und ihrem Ansehen zugute. Sie verdankt sich wohl nicht zuletzt jenen aus der Masse der Lehrveranstaltungen hervorstechenden Angeboten, welche forschendes Lernen erfolgreich praktizieren – die also Lehrveranstaltungen (mehr oder weniger) zu Forschungsstätten machen und damit dem alten humboldtʼschen Ideal einer „Einheit von Forschung und Lehre“ ihre Referenz erweisen (vgl. dazu die Empfehlungen des Wissenschaftsrats 2000, der die besagte Einheit als Kennzeichen guter Lehre betrachtet; ebenso Huber 2009, und viele andere mehr). Dazu passt es, dass die Attraktivität gerade des forschenden Lernens auch von einer zweiten Idee zehrt, die ebenfalls zum Bildungsideal Wilhelm von Humboldts gehört. Der große Wissenschaftler und politische Kopf wusste schon ganz genau, warum er die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens nicht als trockenes Brot für abstrakte, blutarme Geistwesen verkaufen wollte, sondern – das Wahre, Gute und Schöne zweifellos idealisierend und emphatisch hervorkehrend – als Nahrung für leibliche Subjekte anbot, die mit dem möglichst leidenschaftlichen Wissenserwerb ihren persönlichen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont erweitern, kurz: sich selbst als Person bilden und umbilden. Zurück zur Gefahr der Überforderung im Feld forschenden Lernens – und den Konsequenzen, die man daraus ziehen sollte! Wir betonen, dass unsere obigen Ausführungen keineswegs besagen, Studierende seien grundsätzlich oder generell nicht zu wirklicher, innovativer Forschung imstande. Manche verfahren zweifellos frühzeitig nach allen Regeln der ‚Kunst‘ – und entfalten dabei eine Kreativität und Originalität, ein Ausmaß an Disziplin und Ausdauer sowie weitere Eigenschaften, die unschwer als Anzeichen oder Ausdruck ihres wissenschaftlichen Talents entziffert werden können. Solche Studierenden gibt es natürlich, und viele Lehrende haben an ihnen ihre besondere Freude und bieten ihnen an, alsbald in die Rolle von herausragenden, besonders begabten Nachwuchswissenschaftler_innen zu schlüpfen. Aber das sind und bleiben eben Ausnahmen – die gewiss eine besondere Förderung verdienen, doch ist dies dann eben ein ziemlich exklusives, elitäres Programm. Das ist alles andere als schlecht. Ganz im Gegenteil, es handelt sich dabei um

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bloße Notwendigkeiten zumindest an jenen Universitäten, die sich um Spitzenforschung und die Personen, die sie künftig betreiben werden, kümmern wollen und müssen. Forschendes Lernen (im engeren Sinn) ist auch ein didaktisches Format für herausragende wissenschaftliche Begabungen. In diesem Zusammenhang ist es kontraproduktiv, anti-elitäre Haltungen und die egalitäre Orientierung am Durchschnitt zu einem ethisch-moralischen oder politischen Prinzip zu erklären, weil sich damit ganz gewiss keine Spitzenforschung auf den Weg bringen oder steigern lässt. Das wiederum heißt natürlich nicht, Talente nicht auch dort zu suchen, wo man sie – aufgrund geläufiger (bildungs-)soziologischer Erkenntnisse oder eingeschliffener Vorurteile – zunächst nicht vermuten würde. Diese gezielte und beharrliche Suche ist übrigens nicht nur aus normativen, demokratischen Gründen wichtig, weil sie allen die gebührende Aufmerksamkeit, Beachtung und Anerkennung verspricht. Sie ist nicht nur ein Weg, auf dem sich soziale Benachteiligungen kompensieren und Ungleichheiten vermindern lassen. Sie ist auch deswegen zweckdienlich und schlicht rational, weil sich wissenschaftliche (ebenso wie künstlerische oder sonstige) Begabungen in pluralistischen, liberalen und halbwegs meritokratisch orientierten Gesellschaften erfahrungsgemäß in allen sozialen Schichten und kulturellen Milieus finden lassen – wenn man nur genau genug und ohne allzu große Voreingenommenheit hinsieht. Festzuhalten ist, dass forschendes Lernen ein durchaus elitäres Konzept und eine Lehr-Lern-Praxis sein kann, von der vorrangig die wissenschaftlich besonders interessierten, die ambitionierten und leistungsstarken Studierenden profitieren. Auf solche Studierende sind nicht zuletzt Formate des Peerto-Peer-Lernens zugeschnitten, die vorsehen, dass Doktorand_innen ihr Wissen und Können direkt an Master- und vielleicht auch schon an ausgewählte Bachelor-Studierende weitergeben.6 Dieser spezielle Modus des Peer-to-Peer6

Das geschieht im Rahmen von Peer-to-Peer-Beratungen, Mentoringprogrammen oder auch von regelrechten Forschungskooperationen, in denen die jüngeren Noviz_innen in die Projekte von Nachwuchswissenschaftler_innen eingebunden werden; vgl. dazu Ruppel und Straub, die im vorliegenden Band das in manchen Fakultäten der RUB etablierte MA-DOC-Prinzip vorstellen.

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Lernens passt zu außergewöhnlich anspruchsvollen Veranstaltungen im Format forschenden Lernens. Er ergänzt andere Konzepte des Peer-to-Peer-Prinzips, die entsprechend ganz anderen Zwecken dienen mögen (zum Beispiel dem Anliegen, benachteiligte oder leistungsschwächere Studierende an das Niveau des Durchschnitts heranzuführen und für Forschung zu interessieren, obwohl sie in diesem Feld keine ausgewiesenen Fachleute werden wollen; vgl. hierzu das Geleitwort der amtierenden Prorektorin Kornelia Freitag zum vorliegenden Band, die das forschende bzw. forschungsorientierte oder forschungsnahe Lernen just als eine solche Maßnahme für alle Studierende ausweist und deren Anregungspotential hervorhebt; allgemein zum Peer-to-PeerPrinzip im forschenden Lernen vgl. Spies 2017). Im mehrgliedrigen Konzept forschenden Lernens ist für alle Platz und für alle etwas dabei. Um zweckmäßige Differenzierungen und Angebote für spezielle Zielgruppen kommt man jedoch nicht herum. Forschendes Lernen im vollständigen Zyklus vollziehen und dabei schlau und kompetent werden: Wie schnell das alles gehen und wie weit es die Lernenden tatsächlich bringen kann, darüber herrscht alles andere als Einigkeit. Das bleibt auch dann so, wenn man den bestehenden Konsens berücksichtigt, dass solche Fragen für verschiedene, unterschiedlich voraussetzungsvolle und wissenschaftlich ambitionierte Studiengänge ohnehin separat beantwortet werden müssen. Was sich in ein, zwei Semestern, die in den Bachelor- oder Master-Studiengängen dafür vorgesehen sind, lernen lässt, hängt selbstverständlich von den Voraussetzungen ab, die einerseits die Anfänger_innen in BA-Studiengängen und andererseits die bereits fortgeschrittenen MA-Studierenden mitbringen (sollten). Auch die dezidiert wissenschaftlich ausgerichteten Studiengänge oder -programme bringen gegenüber den anwendungs- oder praxisorientierten Angeboten einige Eigenheiten mit sich, die für das Verständnis und die Praxis (unterschiedlicher Typen) forschenden Lernens keineswegs unerheblich sind. Dies kann auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass man – wie es zum Beispiel in der Fakultät für Sozialwissenschaft an der RUB üblich ist – ein weniger voraussetzungsreiches BA„Empiriemodul“ vom anspruchsvolleren MA-„Forschungsmodul“ begrifflich unterscheidet. Während das erste für alle offen ist, müssen Studierende,

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die ein MA-Forschungsmodul absolvieren wollen, bereits über gute Methodenkenntnisse sowie erste Forschungserfahrungen verfügen (etwa im Feld der Datensammlung und Quellenkritik bzw. der empirischen Datenerhebung oder experimentellen Versuchsplanung). Analoges gilt übrigens für die Lehramtsausbildung, die bekanntlich ihre eigenen Spezifika besitzt.7 Es ist inadäquat, unter „forschendem Lernen“ kurzerhand dasselbe zu verstehen und vorzusehen, egal ob man sich an BA- oder MA-Studierende wendet – in Fachhochschulen oder Universitäten, in wissenschaftszentrierten, auf theoretische und methodische Expertise abzielenden, in praktisch ausgerichteten, angewandten Studiengängen oder im Lehramtsstudium, in Massenuniversitäten oder aber in exzellenten Hochschulen, in denen reichlich Gelegenheiten bestehen, hochbegabte, unbändig neugierige und einsatzbereite Studierende schon frühzeitig mit einem Research Department oder Institute for Advanced Study, einem Max-Planck- oder Fraunhofer-Institut oder dergleichen sowie ihrem institutionellen Betrieb und durchaus eigentümlichen Personal bekannt machen zu können. Wer solche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt und bedenkt, betreibt Augenwischerei. Es ist nicht alles dasselbe, nur weil man es beherzt in die Rubrik forschenden Lernens eingliedert. Das zu ignorieren nützt niemandem, schon gar nicht den Studierenden, deren Bedürfnisse und Anliegen bekanntlich verschieden sind. Die Abgrenzung des forschenden Lernens im engeren oder eigentlichen Sinn vom forschungsbasierten, forschungsorientierten, forschungsnahen und forschungsähnlichen Lernen ist nicht bloß zweckmäßig; sie ist unerlässlich. Nur bei den ersten beiden Typen geht es um wissenschaftliche Forschung, die diesen Namen verdient (wobei das forschungsbasierte Lernen – wie wir es hier verstehen wollen – nur möglich ist, weil erfahrene Wissenschaftler_innen die Studierenden in ihre eigenen, laufenden Projekte einbeziehen und auf der Grundlage relativ genauer

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Im vorliegenden Band gibt es deshalb ein eigenes Kapitel dazu; vgl. die Einleitung von Bellenberg sowie die Einzelbeiträge in dieser Rubrik, die ausnahmslos den hohen Stellenwert sowie manche Eigenheiten forschenden Lernens im Lehramtsstudium behandeln (außerdem z.B. Feyerer, Hirschenhauser & Soukup-Altrichter 2014; Obolenski & Meyer 2003; Roters, Schneider, Koch-Priewe, Thiele & Wildt 2009; Schocker-v. Ditfurth 2001).

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Anweisungen daran teilhaben lassen. So können Studierende forschend lernen und forschen lernen, obwohl sie keineswegs alles selbstbestimmt und selbständig auf den Weg gebracht haben und durchführen, bis hin zur Vermittlung innovativer Forschungsergebnisse, die auch für Dritte interessant sind und eine Disziplin – wie geringfügig auch immer – verändern). Alle anderen Typen sind – egal wie man die einzelnen Bezeichnungen genauer definiert – mehr oder weniger an wissenschaftlicher Forschung orientiert, dieser Tätigkeit zumindest in ausgewählten Aspekten nahe, verwandt oder ähnlich, fallen aber keineswegs schon mit ihr zusammen. Meistens ist mit den bescheideneren Varianten bereits viel getan. Im forschungsorientierten BA-Empiriemodul mag es genügen, dass Studierende zum Beispiel mit bibliographischen Recherchemethoden, mit Anforderungen des Feldzugangs oder mit exemplarischen Methoden der Datensammlung bzw. Datenerhebung, der systematischen Quellenkritik oder auch der experimentellen Versuchsplanung vertraut gemacht werden. Im MA-Forschungsmodul mag der Fokus dann auf Verfahren der Datenauswertung liegen, wobei quantitative und qualitative Analysemethoden ebenso gelehrt und gelernt werden können. Auch mag dann das Schreiben wissenschaftlicher Texte (vom Rezensionsaufsatz über einen Essay oder Artikel für ein fachwissenschaftliches Journal mit klaren Vorgaben und Regeln bis hin zur wissenschaftlichen Monographie) oder die Publikation in unterschiedlichen Medien ganz oben auf dem Programm forschenden Lernens stehen (zu Funktionen speziell des Schreibens im Forschenden Lernens vgl. Gottschalk & Ruppel 2019). Die Typen von Lehrveranstaltungen, in denen die verschiedenen Varianten verwirklicht werden, unterscheiden sich also nicht allein hinsichtlich ihres qualitativen Anspruchs, sondern auch in quantitativer Hinsicht bezüglich der Anzahl von Komponenten oder Elementen, die nun einmal zu einer genuin wissenschaftlichen Praxis, die den state of the art repräsentiert, gehören. Alle Komponenten einbeziehen, den gesamten Forschungszyklus durchlaufen: Dieses Ziel erscheint angesichts der Lehr- und Lernbedingungen an vielen (Massen-)Universitäten hypertroph. Es ist nicht für alle das Richtige. Wir glauben, dass es gegenwärtig wichtig ist, vor allzu ehrgeizigen, womöglich alle

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Beteiligten und jedenfalls die durchschnittlich begabten Studierenden überfordernden Ansprüchen und Zielen zu warnen. Manches mag beim ersten Hinhören zwar gut und verlockend klingen, sich beim ersten Nachdenken aber doch eher als unrealistisch, verfehlt und irreführend erweisen. An allzu hohen Ambitionen und übergroßen Aufgaben wächst niemand. Sie zeitigen absehbare kontraproduktive Wirkungen, zu denen allerlei Misserfolgserlebnisse und Frustrationen der Beteiligten gehören (die ihre anfängliche intrinsische Motivation schnell verlieren dürften). Der von Robert Musil (in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften) gepriesene „Möglichkeitssinn“ ist ein willkommener, gerade für die wissenschaftliche Forschung unverzichtbarer Bestandteil unserer Kreativität. Wenn er in der Hochschuldidaktik und akademischen Lehre nicht mit Wirklichkeitssinn einhergeht, mit einem Gespür und erfahrungsgesättigten Bewusstsein für das in bestimmten Konstellationen von Individuen und Gruppen Erreichbare, ist er ein schlechter Ratgeber. Ergänzende Lernformen und die Kernpunkte forschenden Lernens Viele Didaktiker_innen und Hochschullehrer_innen halten trotz aller Schwierigkeiten ganz entschieden am Konzept forschenden Lernens fest und verteidigen es gegen allzu starke Aufweichungen und Verwässerungen. Solche Gefahren stellen sich nicht zuletzt durch partielle Verwandtschaften mit anderen, immer wieder neuen oder neuartig klingenden Konzepten und Praktiken ein, die in die Nähe forschenden Lernens gerückt oder manchmal regelrecht mit ihm amalgamiert werden. Man denke etwa an vereinzelte Ähnlichkeiten mit dem Konzept der „Lerner- oder Studierendenzentrierung“ oder mit dem „problem- und projektorientierten Lernen“ (Reinmann 2009, S. 42f.); weitere Begriff wie das „entdeckende“, das „handlungsorientierte“ und „erfahrungsbasierte“ oder „erfahrungsgesättigte“, das „selbstgesteuerte“, das „transformative“ oder aber das von Klaus Holzkamp (1993; dazu Ludwig 2011; ganz allgemein Straub 2010) besonders akribisch ausgearbeitete, gleichwohl beinahe unbeachtet gebliebene Konzept des „expansiven“ Lernens liegen hier

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nahe.8 Gabi Reinmann warnt indes (in Übereinstimmung mit Huber und anderen) davor, die Unschärfe des Konzepts forschenden Lernens so weit gedeihen zu lassen, bis es seine klare Bedeutung und spezielle Funktion einbüßt und in einer allseits bemühten und zentral positionierten „Problemorientierung“ aufgeht. Eine anspruchsvolle, komplexe Vorstellung müsse dagegen auf den „Kernmerkmalen des forschenden Lernens, wie es 1970 konzipiert wurde“ (auf der besagten Bundesassistentenkonferenz), bestehen. Im Übrigen dürfe man dabei die „ergänzenden Lernformen (genetisches, rezeptives und kritisches Lernen) nicht außer Acht“ lassen (ebd.): „Forschendes Lernen findet demnach dann statt, wenn Studierende eine eigene Forschungsarbeit durchführen (z.B. als Abschlussarbeit), wenn sie durch Übernahme einer einzelnen Aufgabe an einem Forschungsprojekt mitwirken (z.B. in größeren Projekten), wenn sie im ‚Kleinen‘, also angeleitet und übend Forschung praktizieren (Lehrforschung im Rahmen von Veranstaltungen) oder wenn sie einen Forschungsprozess zumindest nachvollziehen können (genetisches Lernen)“ (ebd.). Dabei bleibt das anspruchsvolle Ideal Hubers in Kraft: nichts ist für die Lernenden so lehr- und aufschlussreich wie die möglichst selbstbestimmte und selbständige Beteiligung am gesamten Zyklus eines Forschungsprozesses, der das Forschung gestaltende und erfahrende Subjekte als ‚ganze Person‘ involviert und beansprucht, wodurch erst eine wirkliche „Forscherhaltung“ ausgebildet und verfestigt werden könne, ein auf Neugierde und Offenheit, methodisch kontrollierte und theoretisch reflektierte Erfahrungs- und Erkenntnisbildung eingeschworener sozialer Habitus.

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Wildt (2011a) arrangiert auf einer Vortragsfolie (Nr. 24) folgende „Formen aktiven Lernens“ auf einer Art Treppe, wodurch er einen ansteigenden Aktivitäts- oder Komplexitätsgrad insinuiert. In der Stufenfolge „Erfahrungslernen, handlungsorientiertes Lernen, entdeckendes Lernen, problemorientiertes Lernen, projektorientiertes Lernen, fallorientiertes Lernen, Forschendes Lernen“ kommt immer ein neues, zusätzliches Merkmal hinzu, nämlich „Selbstorganisation + Planung + Methode + Relevanz + Kontext + Theorie und Empirie“. Es ist offenkundig, dass auch diese Lerntypen nicht allgemein verbindlich definiert sind und erst recht die zugeordneten Charakteristika nicht allgemein konsensfähig sein dürften. Dieser Vorschlag zur ordnenden Systematisierung kann gleichwohl hilfreich und nützlich sein; es kommt eben stets auf den konkreten Zweck an, den man mit terminologischen Regelungen verfolgt.

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Alle auf das hier interessierende Konzept bezogenen, mit ihm teilweise verwandten Lehr-Lernformen – wie etwa bereits das stark praxisorientierte „situierte Lernen“, welches Reinmann (2009) in Anlehnung an Stein (1998) prägnant resümiert und sowohl mit kognitiven bzw. kognitivistischen Konzepten, als auch mit dem forschenden Lernen vergleicht – teilen einige konstitutive, unverzichtbare Merkmale. Dabei sind spezielle Akzentuierungen möglich und gängig. Die im Folgenden aufgelisteten Aspekte fehlen jedoch speziell bei der Charakterisierung forschenden Lernens nie. Das kann man ungeachtet der Tatsache behaupten, dass sie oft nur stichwortartig angeführt und weder bezüglich ihrer theoretischen Herkunft noch in ihren Details genauer ausgeführt und bedacht werden.9 Im Einzelnen sind folgende lerntheoretische Annahmen besonders wichtig: • •





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Lernen ist kein rezeptiv-passiver, sondern ein aktiver Vorgang, der den Einsatz womöglich der ‚ganzen Person‘ verlangt, was heißen soll: Lernen spielt sich auf kognitiver, affektiv-emotionaler und praktischer Ebene zugleich ab (und umfasst auch die stetig zu aktivierenden oder zu verändernden motivationalen Voraussetzungen zielorientiert handelnder, leiblicher Subjekte); Lernende werden also als Denkende, Fühlende, Wollende und Handelnde in Anspruch genommen, wobei die sinnlichen Register ihrer kommunikativen Selbst- und Weltbeziehung, ihr Vermögen zu anschaulichem Denken, ihre Phantasie, Vorstellungs- und Imaginationskraft genauso wichtig sind wie ihre diskursiven und logischen Fähigkeiten oder ihre auf Argumente setzende Urteilskraft; Lernende gelten als erlebnis- und handlungsfähige Subjekte, deren positives Selbstgefühl und Selbstbewusstsein gerade auch in Lehr-

In theoretischer Hinsicht stammen die wesentlichen Annahmen aus der Tradition des amerikanischen Pragmatismus (John Dewey, George H. Mead, William James u.a.; dazu z.B. Faulstich 2013; Reich 2004, 2008), der sowjetischen Psychologie der kulturhistorischen Schule und Tätigkeitstheorie (Lev S. Vygotskij, Aleksandr R. Luria, Aleksej N. Leontjev; dazu etwa Kölbl 2006) oder aus dem Reservoir neuerer sozialkonstruktivistischer Ansätze (dazu z.B. Fischer 1995; Kunter & Trautwein 2013; Reinmann 2009; Stangl 2020).

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Lern-Kontexten der interessierenden Art von – didaktisch vorgesehenen, konzeptuell und personell ermöglichten bzw. initiierten oder induzierten – Erfahrungen der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit abhängen; insbesondere die Selbstbestimmungschancen und Selbstwirksamkeitserlebnisse sind für die Weckung und Aufrechterhaltung intrinsischer Motivation unabdingbar und maßgeblich (worin Lernende sich übrigens nicht von den Lehrenden unterscheiden); beim forschenden Lernen lernt niemand allein: Lernende werden hier nicht als einsame Monaden oder isolierte Gehirne gedacht, sondern als Handelnde, die permanent in soziale Kontexte eingebettet sind und ihre (mehr oder weniger erfolgreichen, Lernerträge abwerfenden) Tätigkeiten und Handlungen mit und neben anderen Akteur_innen vollziehen (und mitunter gegen sie, wie alle Konkurrent_innen auch in der universitären Konstellation eines Lehrforschungsseminars oder einer Forschungswerkstatt wissen); forschendes Lernen ist ko-konstruktiv und kooperativ; es vollzieht sich zumindest streckenweise im Raum eines extended mind, eines sozialen Raums aus shared cognitions, shared emotions sowie shared intentions/motives (dazu grundlegend: Zahavi 2015; León, Szanto & Zahavi 2017). In diesem sozialen Raum können kreative Einfälle, gute Ideen, schlagende Argumente und stringente Gedanken nicht (immer) ohne Weiteres einem identifizierbaren Individuum zugeordnet und zugesprochen werden, manchmal überhaupt nicht. Das macht, nebenbei bemerkt, nicht nur die schöpferische Forschungspraxis, sondern gerade auch die Frage nach angemessenen Prüfungsformen und Beurteilungsverfahren oftmals schwierig, ja vertrackt; auch diesbezüglich sind Flexibilität und Innovationen nach wie vor gefordert (vgl. etwa Dany, Szczyrba & Wildt 2008; Reinmann 2015b). Wenn die Communities of Practice (Wenger 1998; dazu auch Huber 2009, S. 28f.) für zu erbringende Leistungen zuständig sind und schließlich verantwortlich gemacht werden (Reinmann 2009, S. 38, zitiert hier die wichtigen sozialkonstruktivistischen Arbeiten von Lave 1988, Lave & Wenger

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1991, Wenger 1999), ist die individuelle Leistungsbeurteilung mehr als bloß inkonsequent. Sie ist im Grunde genommen unangemessen und lässt sich – fernab von antiquierten ideologischen Grabenkämpfen um individualistische oder kollektivistische, kapitalistische oder sozialistische Ordnungen gar – nur noch damit rechtfertigen, dass in einem auf identifizierbare Individuen geeichten, meritokratischen Prüfungssystem, in dem die Einzelnen notgedrungen miteinander konkurrieren, ihre Kompetenzen also kompetitiv erringen, austragen, bewähren und beweisen müssen, aufs Individuum zentrierte Prüfungsmethoden unabdingbar sind; zum stets beachteten Kontext gehört neben dem sozialen Raum auch die kulturelle oder interkulturelle Konstellation der jeweiligen Veranstaltung, die offenbar auch Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation und Kooperation mit sich bringen kann. Diese reichen bekanntlich von den üblichen, sprachlich bedingten Hürden bis zu den in den kulturellen Lebensformen verwurzelten Verständigungs- und Übersetzungsschwierigkeiten, die im äußersten Fall auch mit handfesten Aversionen oder latenten Aggressionen und unbewussten Abjektionen einhergehen können (dazu Straub 2019). Wo gemeinsam forschend gelernt wird, können erlebte kulturelle Differenzen gerade auch innerhalb der Lerngemeinschaft selbst zu Stolpersteinen des kollektiven Unternehmens werden. Das ist nicht anders als in anderen Gemeinschaften auch, in denen Aktivitäten vielerlei Art von einem Wir und nicht von einzelnen, bloß aggregierten oder in der Summe des Gesamtergebnisses einfach addierten Ichs ausgeheckt und ausgeführt werden (sollen); auch der materielle Raum und die in ihm vorhandenen Dinge zählen zum Kontext forschenden Lernens, der manchmal unter ausdrücklicher Berücksichtigung der ästhetischen oder aisthetischen, sinnlich-anschaulichen Qualitäten der räumlichen, materiellen und gegenständlichtechnischen Bedingungen konzipiert und gestaltet wird – und zwar nicht nur dann, wenn sich ohnehin alles im Musischen Zentrum oder einem vergleichbaren Ort abspielt, an dem stets leibliche Subjekte

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empfangen und tätig werden; so mag beispielsweise ein Projekt forschenden Lernens, bei dem Wissenschaft und Kunst miteinander in Berührung kommen und fruchtbare Beziehungen eingehen, Synergien freisetzen sollen, zeitweise besser in einem von Farben, Formen und Gerüchen überquellenden Atelier aufgehoben sein als im sterilen, vielleicht sogar fensterlosen Seminarraum eines modernen Funktionsbaus; denkende und handelnde, forschende Subjekte sind auch erlebende Personen, und deren Denken und Handeln sind normalerweise nicht ganz unabhängig von dem, was sie in einer materiellen, sozialen und kulturellen Umgebung und Situation gerade erleben und empfinden. In diesem (metaphorischen) Sinn kann man sagen, dass auch die Mauern, Wände und Artefakte um sie herum mit-denken und mitforschen (Reinmann 2009, S. 38, verweist hier auf Hutchin, der 1995 von hybriden Aktivitätssystemen sprach, in denen soziale Akteure mit den Artefakten um sie herum ko-existieren und ko-operieren; vgl. dazu auch Latour 2008; Meyer-Drawe 1999; Rheinberger 2006); klar ist heute im Übrigen (der ebenfalls triviale Sachverhalt), dass auch forschendes Lernen von digitalen Medien und Werkzeugen profitieren und zumindest strecken- und teilweise in virtuellen Räumen stattfinden kann (sogar die empirische Datenerhebung in sozialund kulturwissenschaftlichen Disziplinen erfolgt mittlerweile in solchen, eigens geschaffenen Räumen, ebenso natürlich andere Phasen des Forschungsprozesses, wie die Datenauswertung oder Diskussion der empirischen Befunde und theoretischen Innovationen etc.). Ob man deswegen allerdings eine Ära „Forschendes Lernen 2.0“ ausrufen sollte, in der „partizipatives Lernen zwischen Globalisierung und medialem Wandel“ oder „zwischen Postmoderne und Globalisierung“ platziert wird und die Wissenschaft zur e-science mutiert (Kergel & Heidkamp 2016; Kergel & Hepp 2016), wird sicherlich weiter diskutiert werden. Dabei ist es natürlich notwendig und lohnenswert, sich auch speziell im Feld forschenden Lernens auf (immer wieder)

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neue technische und mediale Bedingungen einzustellen und Konsequenzen der „digital gestützten Wissensproduktion“ (Kergel & Heidkamp 2016) – auch in Gestalt neuer Optionen und Potenziale – zu erkunden. Wenn das ohne jene Voreingenommenheit geht, die zwar Werbeagenturen für ihre Verkaufsfeldzüge nutzen dürfen, den Wissenschaften aber eher schlecht zu Gesicht steht – umso besser! Die angeführten allgemeinen (lerntheoretischen) Kernpunkte forschenden Lernens machen unmissverständlich klar, dass man nicht einfach alles und jedes zum Gegenstand forschenden Lernens machen kann. Dieses Format ist für bestimmte Anliegen und Zwecke bestens geeignet, für andere nicht. Selbst dort, wo es aus guten Gründen als zweckdienliches Lehr-Lern-Format und hochschuldidaktisches Prinzip in Betracht kommt, muss es nicht gleich ein und dasselbe bedeuten und bewirken. Die Lage ist, wie dargelegt, sehr viel komplizierter, differenzierter. Das ist indes kein Nachteil oder Schaden, solange man das zu Unterscheidende halbwegs genau auseinanderhält und nicht Heterogenes in überschwänglichen Aufrufen zum forschenden Lernen so lange amalgamiert, bis alles in einem völlig undurchschaubaren Einheitsbrei verrührt ist. Viele allzu pauschale Lobreden auf das forschende Lernen und seine – um Ludwig Wittgensteins (1953) auch in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Begriff zu bemühen – durch „Familienähnlichkeiten“ verbundenen Verwandten schlagen diese gebotene Um- und Vorsicht allzu schnell in den Wind. Forschung, Praxis, Ethik: Übergänge in nicht-wissenschaftliche Domänen Manchmal endet das forschende Lernen gar nicht mit dem Abschluss des Forschungsvorhabens, der Dokumentation und Publikation bzw. Präsentation seiner Resultate. Mitunter ist nämlich vorgesehen, neben und nach den spezifisch wissenschaftlichen Erträgen auch noch in eine (lebensweltliche oder institutionelle, berufliche) Praxis zu intervenieren und dort etwas Positives zu bewirken. Wissenschaft soll im Rahmen forschenden Lernens in solchen

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Fällen also unmittelbar praktisch relevant sein, sie soll sich nützlich machen und etwas vollbringen, was diesen oder jenen Menschen hilft oder weiterhilft – nicht zuletzt jenen Personen selbst, die zum Beispiel als forschend Lernende in der Lehrer_innenausbildung ihre Tätigkeit reflektieren und uno actu optimieren sollen (wie es mit der Einführung des Praktikumssemesters im Master of Education hierzulande vorgesehen und obligatorisch ist, sodass die ersten Versuche, an der Schule zu lehren, zugleich mit dem im eigenen forschenden Lernen fundierten Bemühen verbunden sind, den eigenen Unterricht zu verbessern; vgl. Bellenberg, in diesem Band, sowie die von ihr eingeleiteten Beiträge, die aus besagtem Grund auf eine solche Koinzidenz von Forschungs- und Anwendungszusammenhang fokussieren; z.B. Kuhlmann, in diesem Band). Es gibt weitere Beispiele auch aus ganz anderen Praxis- und Berufsfeldern, etwa dort, wo universitäre Veranstaltungen in wirtschaftlich motivierte Start-up-Unternehmen münden können. In derartigen Fällen gilt die (möglichst unmittelbare oder verzögert-indirekte) Anwendung oder Umsetzung erzielter (Forschungs-)Ergebnisse in eine Praxis außerhalb der Hochschule als Element bzw. als Konkretisierung der allgemeinen „Tätigkeitsorientierung“ forschenden Lernens (Wildt 2009b, S. 4ff.). Johannes Wildt gehört zu jenen hochschuldidaktisch arbeitenden Vertreter_innen einer Konzeption forschenden Lernens, die den idealen, vollständigen Zyklus von Forschungshandlungen erst mit dem „Eintauchen in die Praxis“ als abgeschlossen ansehen (2009, S. 5; 2011a, Folie 15). In seinen am Hochschuldidaktischen Zentrum der Technischen Universität Dortmund entwickelten Präsentationen und in anderen Publikationen findet sich immer wieder diese – so oder ähnlich häufig anzutreffende – Abfolge unerlässlicher Schritte (von denen alle bis auf den letzten auch oben angeführt wurden): „Themenfindung und -aushandlung → Formulierung von Fragestellungen bzw. Hypothesen → Entwurf eines Forschungsdesigns → Durchführung → Auswertung → Vermittlung → Anwendung → Eintauchen in die Praxis“ (ebd.). Wir zitieren diese im Original in einem Oval graphisch dargestellte Abfolge aus dem genannten Grund: sie endet eben nicht mit Forschungsergebnissen und ihrer Vermittlung, sondern sieht deren Anwendung sowie die Teil-

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habe an einer Praxis ausdrücklich vor. Dadurch wird die spezifisch wissenschaftliche Arbeit mit praktischen Anliegen und Ambitionen verwoben. Forschung mündet hier (bisweilen beinahe übergangslos) in praktische Tätigkeiten, Instruktionen oder Interventionen ein. Dies lässt die Grenze zwischen den theoretisch-methodisch versierten, auf systematische Erfahrungsund/oder Erkenntnisbildung abzielenden Wissenschaften und allerlei Formen der beruflichen und lebensweltlichen Praxis zwangsläufig porös und unscharf werden. Das ist nicht der einzige Punkt, an dem sich die Überschreitung spezifisch wissenschaftlicher Domänen belegen und bedenken lässt. Dieses aufmerksame Bedenken ist wichtig, wenn wissenschaftliche von lebensweltlichen oder von anderen professionellen Praxen nicht allein unterschieden, sondern alle Seiten durch solche Abgrenzungen vor falschen Erwartungen und Überforderungen beschützt werden sollen. Dass das Konzept forschenden Lernens häufiger mit dem Anspruch auf praktische Relevanz verknüpft wird, ließe sich an vielen Beispielen zeigen. Was in ein „Eintauchen in die Praxis“ einmünden soll, sollte etwa bei Euler (2005) bereits bei praktischen Problemen ansetzen, die es sodann mithilfe wissenschaftlicher Forschung zu lösen gelte. Sein Konzept ist grundsätzlich diesem Gedanken verpflichtet (der allerdings nicht mehr so politisiert ist und nicht so emphatisch vorgetragen wird wie in den bewegten 1960er und engagierten 1970er Jahren, als dieses Insistieren auf praktische Relevanz sogar gegen die reine Forschung einer an Praxis desinteressierten Wissenschaft vorgebracht wurde, vor allem in den Plädoyers für ein „Projektstudium“; s.o.10). Euler erklärt unter anderem folgende Ziele und Komponenten zu unabdingbaren Bestandteilen seines Konzepts forschenden Lernens (obwohl es dabei gerade nicht mehr um Forschung, sondern um die praktische Anwendung und problemlösende Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse geht):

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Wie umstritten das Projektstudium wegen seiner praktischen und im Grunde genommen zutiefst politischen Anliegen war – Demokratisierung, Emanzipation, Partizipation, Mitbestimmung in der und durch die wissenschaftliche Forschung sowie ähnliches mehr waren gängige Signalwörter – zeigt auf ebenso exemplarische wie typische Weise ein in den Gesammelten Schriften Hans Kilians (2020) wieder abgedruckter Beitrag mit dem Titel „Orientierungshilfe zum sogenannten Projektstudium“.

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• • •

„Lernen bzw. Studieren zielt auf den Erwerb von Handlungskompetenzen zur Bewältigung praktischer Lebenssituationen. Kompetenzen bezeichnen eine wechselseitige Bezogenheit von theoriebasiertem Denken und praktischem Tun, von Reflexion und Aktion. Die Bewältigung praktischer Lebenssituationen beinhaltet sowohl das Verstehen und Erklären des Gegebenen als auch dessen kritische Evaluation und konstruktive Weiterentwicklung. […] Konstitutiv für das Studieren ist die Grundlegung einer praxisbezogenen und herausfordernden Problemstellung. Der didaktische Zuschnitt der Problemstellung erfolgt in Abstimmung mit den Voraussetzungen der Studierenden sowie den verfolgten Lernzielen. In diesem Zusammenhang ist auch zu entscheiden, inwieweit in einer Studieneinheit mehrere Kompetenzdimensionen gleichzeitig angestrebt werden. Über den längeren Zeitraum etwa eines Kurses oder Semesters schließt der Ansatz sowohl fachliche als auch überfachliche Handlungskompetenzen ein. […]“ (ebd., S. 263f.)

Beinahe überflüssig erscheint es zu sagen, dass sowohl im Hinblick auf die Forschungspraxis als auch auf das vorgesehene Feld der Anwendung bzw. der Implementierung der Resultate in einer Praxis häufig ethisch-moralische Reflexionsschleifen vorgesehen sind, die den allgemeinen Richtlinien einschlägiger Prüfinstanzen und -gremien Rechnung tragen. Solche insbesondere für die vorausschauende und vorbereitende Reflexion zuständigen Ethikkommissionen finden sich heute in immer mehr Hochschulen. Sie beziehen zunehmend auch Projekte aus dem Feld forschenden Lernens in ihre Aufsichts- und Beratungstätigkeit ein und/oder halten die Studierenden an, selbst über ethischmoralische Voraussetzungen, Implikationen und Folgen nachzudenken und eine Verantwortung für ihr Forschungshandeln zu übernehmen, die weit über wissenschaftliche Seriosität und Sorgfaltspflichten hinausgeht. Das Spektrum an Aspekten und Tätigkeiten, die in Projekten forschenden Lernens womöglich wichtig sind, ist zweifellos extrem breit. Quod erat demonstrandum: Wer hier

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„Forschung“ sagt, könnte zugleich auch „Praxis“ meinen, eine zwar wissenschaftlich begründete, aber dennoch weit über die eigentliche Zuständigkeit der Wissenschaften hinausgehende, praktische Intervention in ein bestimmtes (Berufs-)Feld. Ebenso liegen ethisch-moralische Fragen nahe, die nicht allein den Umgang mit Menschen in Forschungsprojekten (ihr Recht auf Anonymität etwa), sondern auch eine allgemeine gesellschaftliche und globale Verantwortung der Wissenschaftler_innen betreffen. Was die Anwendungsorientierung bzw. Praxiskomponente oder die vorgesehene instruktive Intervention in eine Praxis zum Zweck ihrer wissenschaftlich fundierten Verbesserung angeht, sei auch hier auf die Notwendigkeit einer sorgfältigen Differenzierung hingewiesen. So trifft etwa Gabi Reinmann (2009, S. 36) in ihrem grundsätzlichen Plädoyer für eine – im Zuge der Bologna-Reform ohnehin notwendige, weil konzeptionell und gesetzlich vorgesehene – praktische Ausrichtung der Universität aus guten Gründen folgende sach- und zweckdienliche Unterscheidung. Sie grenzt nämlich das (mit BA-Studiengängen verbundene) Ziel, „den Studierenden eine Berufsausbildung zu bieten und das Lernen auf die Praxis auszurichten“, von der moderateren „Prämisse, dass ein Universitätsstudium allenfalls eine Berufsvorbildung leisten kann und soll“, ab. Dabei fokussiert sie, dieser Unterscheidung folgend, den Wert und die Funktion des (praktisch ambitionierten) situierten Lernens einerseits, des (wissenschaftszentrierten) forschenden Lernens (mit digitalen Medien) andererseits (ebd., S. 36ff., 41ff.). Wichtig ist, dass diese Autorin beharrlich am Forschungsbezug und der wissenschaftlichen Autonomie des forschenden Lernens festhält – wie immer Praxiselemente, die außeruniversitäre berufliche Kompetenzen vorbereiten und vorbilden, auch hier eine gewisse Rolle spielen mögen, und wie immer Reinmann die scheinbare Dichotomie und kontrastive Konkurrenz zwischen „Wissenschaft und Beruf“ zu unterlaufen versucht, um produktive Beziehungen zu eruieren und gangbare Brücken zu schlagen. Das tut sie vor allem dadurch, dass sie den Erwerb genuin wissenschaftlicher Kompetenzen als Befähigung zu einer längst nicht mehr auf spezielle Berufe beschränkten Wissensarbeit auslegt, die in der „Wissensgesellschaft“ (so titelte bereits Kreibich 1986) in vielen Berufen mittlerweile entscheidend ist.

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Kritische Zwischentöne ernst nehmen Wer wissenschaftliche Texte zum forschenden Lernen liest, kann sich mitunter kaum des Eindrucks erwehren, da werde etwas mit großer Begeisterung gerühmt und gefeiert. Natürlich gibt es auch kritische Zwischentöne und mitunter sogar tiefer gehende Bedenken, die zwar kaum einmal das Gesamtkonzept und übergeordnete Ziel forschenden Lernens in Bausch und Bogen verdammen, aber durchaus grundlegende Zweifel wecken und Bedenken anmelden – auch am politischen Rahmen, in dem sich die Erfolgsgeschichte forschenden Lernens bewegt. Forschendes Lernen genießt nicht nur viel Ansehen und gezielte Förderung, sondern stößt auch auf Einwände, unter anderem die folgenden: •

In regelmäßigen Abständen warnen Autoren wie Jürgen Mittelstraß (1996) davor, dass die grassierenden „Diskurse forschenden Lernens“ zu einer unsäglichen Verwässerung der Idee und Wirklichkeit wissenschaftlicher Forschung beigetragen haben. Die inflationäre Verwendung des Forschungsbegriffs selbst – maßgeblich vorangetrieben durch die besagten Diskurse – untergrabe unabdingbare Ansprüche, die an eine versierte Forschung zu stellen seien, deren Erträge neue Erkenntnisse hervor- und damit die disziplinären oder inter- und transdisziplinären Debatten voranbringen müssen. Wirkliche Forschung verändere den Stand unseres Wissens und werfe neue Fragen auf, an denen sich die Wissenschaften künftig abarbeiten – und dies, bitteschön, auf höchstem Niveau unter Einsatz aller verfügbaren Kenntnisse, Möglichkeiten und Mittel. In dieser radikal skeptischen Sicht bilde forschendes Lernen vielleicht die Studierenden, die auf diesem Weg etwas lernen und sich als aktive, partiell autonome und meistens kooperative Subjekte auch selbst etwas beibringen mögen. Die Wissenschaften dagegen würden durch die in aller Regel ziemlich elementaren (und oft dilettantischen) Übungen kaum befördert (allenfalls in Ausnahmefällen, meist dort, wo Studie-

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rende einfach die fremdbestimmten, delegierten Aufgaben in laufenden Forschungsprojekten von Professor_innen übernehmen). Deswegen habe dieses ganze Unternehmen mit tatsächlicher Forschung meistens nicht das Mindeste zu tun und laufe auf einen bloßen Etikettenschwindel hinaus, eine kollektive Selbstillusionierung des akademischen Personals obendrein, welche die edle Idee wissenschaftlicher Forschung aushöhlen und in einer Art Ausverkauf allzu billig feilbieten. Komplementär zu diesem Einwand verhält sich das Bedenken besorgter Hochschuldidaktiker_innen und fürsorglicher Professor_innen, die beklagen, dass Studierende in einigen Projekten für fremdbestimmte Forschungsprojekte hemmungslos instrumentalisiert und einfach nur als kostenlose Arbeitskräfte ausgenutzt würden. In dieser Position und Funktion als Hilfskraftersatz sei natürlich wenig zu lernen, was mit genuin wissenschaftlichen Kompetenzen zu tun habe. Johannes Wildt (2009b), der diesen Einwand (wie auch den oben angeführten) erörtert, konzediert, dass „die Studierenden in Forschungsprojekten lediglich zu ausführenden Organen des Designs degradiert werden würden, ohne dass daraus für sie ein erkennbarer Lerngewinn entstünde“ (ebd., S. 5). Während hier also die Forschung vorangetrieben und die Forschungskapazität in Gestalt der „Humanressourcen“ gesteigert würde, blieben die Lernenden auf der Strecke – womit das wohl wichtigste Ziel forschenden Lernens verfehlt würde. Wildt relativiert beide bislang angeführte Kritikpunkte und plädiert dafür, die jeweiligen Auswüchse einzuhegen – was möglich sei und meistens ohnehin geschehe –, sodass man mit Kompromissen unterschiedlicher Art eigentlich ganz gut fahren könne. Wer umsichtig ans Werk gehe, werde schon etwas zustande bringen, das dem Anspruch der Didaktiker_innen, dass nämlich beim forschenden Lernen genuin wissenschaftliche Kompetenzen erworben und die Lernenden zunehmend in die Lage versetzt würden, professionelles Forschungs-

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handeln zu zeigen, ebenso gerecht wird wie dem Anspruch wissenschaftlicher Expert_innen, die nach wirklicher Forschung und einer strengen Orientierung am state of the art rufen (wobei man keineswegs das von Wildt zugrunde gelegte Modell nomologischer Wissenschaften und ihrer experimentellen, hypothesenprüfenden Forschung bemühen muss; das ist eine – nicht zuletzt disziplinabhängige – Variante neben anderen). Wir haben ausführlich dargelegt, dass diese – extreme Positionen vermeidende – Haltung die stärksten Argumente für sich reklamieren kann. Es geht auch in diesem Feld selten um „alles oder nichts“. Zweifellos ist in der universitären Sozialisation und Enkulturation viel gewonnen, wenn es gelingt, Studierenden eine wissenschaftliche Forschungshaltung nahezubringen und forschungsspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten (systematisch und sukzessive) so in die Curricula zu integrieren, dass Student_innen in wachsendem Maß zum Forschungshandeln fähig sind (selbst wenn keine herausragenden Forschungspersönlichkeiten aus ihnen werden sollten und sie dieses Berufsziel ohnehin niemals attraktiv fanden und verfolgten). Wie Wildt (2009b) empfiehlt, kann und sollte man sich an einer erfahrungsgemäß möglichen und in der Hochschuldidaktik zurecht als attraktiv geltenden Integration der Ziele „allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn“ und „Erweiterung individuellen Wissens“ versuchen (ebd., S. 4), ganz im Sinne des wohl begründeten Standpunkts von Huber (2009, 2010), der forschendes Lernen (im gegen die obigen Einwände gewappneten, selbst-kritischen Modus) für „nötig und möglich“ hält. Einen etwas spekulativ formulierten, aber gleichwohl naheliegenden Einwand trägt Markus Metzger (2010) vor, wenn er zu bedenken gibt, dass auch das forschende Lernen – allen guten Absichten und Bemühungen zum Trotz – stets Gefahr laufe, lediglich Formen „defensiven Lernens“ zutage zu fördern, also das edle Ziel „expansiven Lernens“ (im Sinne von Holzkamp 1993; dazu Straub 2010) zu verfehlen. Während es beim defensiven Lernen lediglich um die Übernahme fremdbestimmter Ziele und Zwänge sowie die Vermeidung

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negativer Sanktionen (schlechte Zensuren, nicht bestandene Prüfungen etc.) geht, erweitert das expansive Lernen die Handlungsfähigkeit eines (möglichst) selbstbestimmten, eigene Lernziele setzenden und Eigenverantwortlichkeit anstrebenden, handelnden Subjekts (das auch beim Lernen handelt). Metzger – dem es eigentlich um Potentiale des Grounded Theory-Ansatzes in (sozialwissenschaftlichen, schulpraktischen) Projekten forschenden Lernens geht (siehe auch Metzger, 2008) – erkennt zurecht eine überall dort anzutreffende Idealisierung forschenden Lernens, wo die „Unvereinbarkeit der fremdgesetzten Vorgaben mit dem weitgehend selbstbestimmten Lernprozess“ (Metzger 2010, S. 79) unterschlagen würde. Das ist in der Tat ein Widerspruch, der für dieses Lehr-Lern-Format in spezieller Weise relevant ist. Es ist schon richtig, dass den „subjektiven Lerngründen“ (ebd., S. 80), den persönlichen Relevanzsetzungen und Motiven der Studierenden auch in Projekten forschenden Lernens nicht uneingeschränkt Rechnung getragen wird – was ja auch mit prinzipiellen Grenzen zu tun hat, insbesondere dann, wenn es um Prüfungsleistungen geht, die stets oktroyierte Regeln voraussetzen und zur Anwendung bringen. Während also die Flucht ins defensive Lernen stets eine Option darstellt, ist sie im Feld forschenden Lernens – wo ja ausdrücklich und oft emphatisch auf Selbstbestimmung, Selbstorganisation etc. gesetzt wird – ein besonderes Ärgernis, weil dadurch wesentliche Bestandteile des erklärten Formats sabotiert werden. In diese Richtung weisend und doch ganz anders geartet ist die Kritik von Sybille Peters (2006). Sie richtet sich eigentlich nicht gegen das forschende Selbst – das auch diese Autorin zu bewahren und zu entwickeln empfiehlt –, sondern bezieht sich auf die politischen Rahmenbedingungen und den (diagnostizierten) „neoliberalen“ Geist einer Gesellschaft, die auch die Universität und namentlich die Studierenden in ihre hegemoniale Verfassung einbeziehe (und entsprechend abrichte). Dies geschehe, wie – im Anschluss an Michel Foucaults (2004) kritische Studien zur „Gouvernementalität“ und ihrem histo-

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rischen Formenwandel häufig zu lesen und zu hören ist – durch einen eigentümlich zwanglosen Zwang einer Sozialisation und Enkulturation, die den Einzelnen Freiheit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung zugestehen und zusprechen und sie just dadurch subjektivieren und unterwerfen. Peters sieht im forschenden Lernen, insofern gerade dieses Format auf Selbsterfahrung und Selbstgestaltung, Autonomie und Eigenverantwortung schwört, eine derartige – meistens latent wirksame – nicht-repressive Repression am Werk. Settings forschenden Lernens „erfordern ein gewisses Maß an Aktivität und Probierlaune, um das in ihnen verborgene Erkenntnispotential freizulegen“ (ebd., S. 54). Alles wirkt dabei so offen und frei und ist dennoch Bestandteil eines Mitmachprogramms für all jene, die als verantwortliche, selbsttätige und selbstwirksame Subjekte mit eigener Initiative und Kreativität möglichst viel in die Hand nehmen (und damit den Lehrenden einiges abnehmen), um so ihr eigenes Scherflein zum Fortschritt von Wissenschaft und Gesellschaft beizutragen (im größten Glücksfall entlasten sie den Lehrbetrieb merklich und tragen auf äußerst kostengünstige Weise zur Forschung bei, alles womöglich in Peer-to-Peer-Konstellationen, in denen gut bezahlte Professor_innen eigentlich kaum mehr auftauchen und anwesend sein müssen). Pointiert behauptet Peters, im forschenden Lernen würde „Eigenaktivität gesteuert und konditioniert. […] Das alte Dispositiv der Disziplinierung wird abgelöst und durch ‚Techniken des Selbst‘ ersetzt“ (ebd.). Fremdgesteuerte Selbststeuerung oder heteronome Autonomie nennt man das, oder auch, mit einem Begriff, der beides zusammen-denkt: Auteronomie (Straub 2013). Die Autorin macht im Übrigen zurecht darauf aufmerksam, dass die Hymne aufs forschende Lernen in einer Zeit, in der exzellente wissenschaftliche Forschung und ein stark verschultes, reguliertes und reglementiertes Bachelor-Studium oftmals denkbar weit auseinanderdriften, wie ein seltsames Beruhigungsmittel anmute, das alle einlulle und den Blick auf die eigentlich ziemlich forschungsfernen (curricularen) Realitäten vieler Hochschulen stark verkläre (ebd., S. 54f.). Die

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mächtige Tagespolitik operiert in der Tat nicht im Sinne des hochschuldidaktischen Prinzips forschenden Lernens, sondern eher nach der (von Mittelstraß propagierten) Devise: wirklich forschen vermögen nur wenige Spezialist_innen! Die anderen haben, wo sie nichts an den wissenschaftlichen state of the art Anknüpfendes zu sagen haben, zu schweigen und sich aus dem, was sie offenbar nicht hinreichend können, gefälligst herauszuhalten. Ganz anders sieht das etwa Bruno Latour, der nicht allein die Studierenden, sondern gleich alle Gesellschaftsmitglieder zu „Mitforschern“ und „Involvierten“ erklärt (siehe wiederum Peters 2006, S. 55f.). Peters‘ ausgewogenes Resümee liest sich schließlich so: „Das Schlagwort von der ‚Gouvernementalität‘ sollte in diesem Zusammenhang zwar nicht dazu verleiten, die Konditionierung von Eigenaktivität durch ‚Involvement‘ insgesamt zu verwerfen. Problematisch wird es jedoch dann, wenn in der Perspektive der individuellen Förderung die gesellschaftliche und politische Dimension aus dem Blick gerät, die immer dann im Spiel ist, wenn das Verhältnis von Forschung und Lehre zur Disposition steht“ (ebd., S. 55f.). Die Autorin hat auch recht damit, „dass Forschung und Lehre prinzipiell auf komplexe Weise ineinander verschachtelt sind. Die alte Formel der Einheit von Forschung und Lehre wird dem nicht gerecht, umso weniger aber die Art, in der man augenblicklich von ihr Abschied nimmt. Stattdessen erscheint das klassische humboldtsche Prinzip heute als historische Variante eines tiefer liegenden Zusammenhangs: Wissenschaftliche Disziplinen entwickeln oder verändern sich in Abhängigkeit davon, in welches Zusammenspiel Wissenschaft und Öffentlichkeit eintreten.“ (ebd., S. 57)11

11

Peters‘ Ausführungen sind auch in diesem Zusammenhang interessant, geht es dieser Autorin doch vornehmlich um die performative Kraft des freien wissenschaftlichen Vortrags, der in seiner „Lebendigkeit“ Erkenntnisse zu schaffen (und nicht nur wiederzugeben) vermag – vor einem gespannten Auditorium, dass die kreative Rede mit- und nach-

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Forschendes Lernen ist kein Wundermittel, es taugt nicht zur therapeutischen oder reparativen Behandlung von Hochschulen, Fakultäten und Studiengängen, aus deren Curricula die wissenschaftliche Forschung im Zuge der Bologna-Reform beherzt vertrieben oder marginalisiert wurde. Wenn BachelorAbsolvent_innen am Ende eine Berufsausbildung und nicht bloß eine universitäre Berufsvorbildung absolviert haben sollen, ist damit ja nicht die wissenschaftliche Profession gemeint. Forschendes Lernen kompensiert nicht den häufig zu beobachtenden Mangel an forschendem Lehren (ebd.), erschöpfen sich Vorlesungen und Seminare selbst an Universitäten doch oftmals im Verlesen elementarer Lehrbücher und kompakter Einführungstexte durch die Dozent_innen und Studierenden (möglichst in PowerPoint-fähigen, bunten Listen, bebilderten Tabellen und herausgehobenen Merkkästen präsentiert, knapp zusammengefasst fürs Tutorium oder häusliche Repetitorium und die anstehenden Prüfungen). Selbst angesehene Wissenschaftler_innen schreiben mittlerweile reihenweise Bücher nach dem Motto „Ich lese für Euch!“ und fassen alles übersichtlich zusammen, also nicht nach der Devise: „Ich forsche und berichte Euch davon!“ Die Verlage reißen sich um elementare Darstellungen wissenschaftlicher Erkenntnisse (Theorien, Methoden, empirisch Befunde), die möglichst noch in populärwissenschaftlicher Form und Sprache publiziert werden sollen (allgemein verständlich, anschaulich, ohne Anmerkungsapparate, möglichst unmittelbar medial verwertbar etc.). Es ist gegenwärtig durchaus offen, wie sich forschendes Lernen – in all seinen zu unterscheidenden Varianten – in dieses unebene Gelände einfügt und zu den vielseitigen Anforderungen und bleibenden Herausforderungen verhält. Forschendes Lernen an der RUB In Deutschland und vielen anderen Ländern bildet forschendes Lernen einen wichtigen Bestandteil der Lehre an Hochschulen und konnte sich in praktisch vollzieht. Es sind solche ‚traditionellen‘ Formen eines ereignishaften „geteilten Denkens“, deren Nähe zur Forschungshaltung von Philosophen und Wissenschaftlern vergangener Jahrhunderte heute zu Unrecht kaum mehr erinnert und gewürdigt wird.

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allen Fachwissenschaften etablieren. Die Ruhr-Universität Bochum ist dafür ein gutes, ja ein sehr gutes Beispiel. In allen Fakultäten wird hier forschendes Lernen praktiziert. Die Universitätsleitung unterstützt dieses hochschuldidaktische Prinzip und Format seit Jahrzehnten und trägt dazu bei, dass sich interessierte Hochschullehrer_innen dauerhaft engagieren und auch selbst für die Einwerbung von Drittmitteln sorgen, die für forschendes Lernen in Lehrveranstaltungen auf Bachelor- und Master-Niveau eingesetzt werden (wobei manchmal auch Doktorand_innen einbezogen werden, sodass das Peer-toPeer-Lernen zwischen drei Qualifikationsstufen erfolgen kann). An der RUB existiert seit langem das Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ (vgl. dazu den Bericht von Judith Ricken im vorliegenden Band; siehe auch das Geleitwort von Kornelia Freitag, der amtierenden Prorektorin für Lehre und Nachfolgerin von Uta Wilkens, welche die in Teamarbeit erstellten, letztlich erfolgreichen Förderanträge auf den Weg brachte, von denen als nächstes die Rede sein wird). Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Qualitätspakt Lehre über die Zeit von ca. zehn Jahren großzügig geförderte, zweiphasige Projekt inSTUDIES und inSTUDIESplus ergänzt die Bemühungen des Rektorats (wobei das Maßnahmenfeld, in dem forschendes Lernen gefördert wird, nur eines von insgesamt sieben Feldern ist12, in denen die vom BMBF gewährten Drittmittel eingesetzt werden, die Qualität der Lehre und entsprechender institutioneller Strukturen nachhaltig zu verbessern; vgl. dazu den Bericht von Flora Mehrabi, in diesem 12

Das von Jürgen Straub geleitete Maßnahmenfeld hört auf den Namen „intensiv & interdisziplinär forschen“ umfasst ca. 40 Teilprojekte, die in die Rubriken „Interdisziplinäre Summer School“, „Forschendes Lernen“ und „Fakultätsübergreifendes Methodenzentrum“ eingeteilt sind. Das von Cornelia Weins geleitete Methodenzentrum ist eine bleibende Errungenschaft des BMBF-Projekts, die nicht zuletzt dem forschenden Lernen in allen Fakultäten bereits vielfach zugutegekommen ist und weiter zu Dienste stehen wird (siehe dazu den Beitrag von Weins, Jeworutzki, Gerhartz, Kohlbrunn, Kuhlmann & Weller, in diesem Band). Die anderen Maßnahmenfelder sind: „ins Studium“ (Leitung: Herold Dehling), „international studieren“ (Leitung: Klaus Hackl), „in die Praxis“ (Leitung: Uta Wilkens), „initiativ handeln“ (Leitung: Andrea Koch-Thiele), „integrierende Studiengangentwicklung“ (Leitung: Kornelia Freitag) sowie „in die Fläche“ (Leitung: Martina Schmohr). Joachim Wirth hat die wissenschaftliche Projektleitung und das übergeordnete Projektmanagement übernommen.

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Band, auch das Geleitwort des hauptverantwortlichen Projektleiters Joachim Wirth). Nach unserer Auffassung bezeugen alle Beiträge und Beispiele im vorliegenden Band, dass sich die Sache gelohnt hat und weiterhin lohnen wird. Forschendes Lernen ist hoch attraktiv und, gemessen an den gesetzten Zielen und verbindlichen Kriterien, nachweislich effektiv – auch dort, wo das Ideal exzellenter Forschung in weiter Ferne bleibt und kleinere Brötchen gebacken werden müssen, in forschungsbasierten, forschungsorientierten oder forschungsnahen Lehrveranstaltungen, in denen manchmal sogar andere Ziele die genuin wissenschaftlichen Ambitionen überwölben und (zumindest vorübergehend) an den Rand drängen. Das ist etwa dann der Fall, wenn Universitätsseminare in ungemein aufwendige Ausstellungen in Museen münden (oder jedenfalls Wesentliches dazu beitragen), oder wenn forschendes Lernen dazu führt, dass zum Beispiel hilfsbedürftige ältere oder aus ihrer Heimat geflohene Menschen Unterstützung finden, Anteilnahme an ihrem gelebten Leben und Anerkennung für ihre ertragenen Leiden erhalten. Auch solche von gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl, sozialer Empathie und solidarischer Fürsorge getragenen Elemente können wichtige Bestandteile einer universitären Lehrveranstaltung sein. Weder Ausstellungsmacher_innen noch Personen, die politisch denken, Solidarität für andere bekunden und soziales Engagement zeigen, betätigen sich wissenschaftlich (oder als Wissenschaftler_innen). Sie verlassen den Elfenbeinturm und tun anderes. Die Grenzen zwischen Lehrveranstaltungen, die dem forschenden Lernen gewidmet sind, und solchen praktischen Feldern und politisch-sozialen Ambitionen sind mitunter dünn. Behält man die Grenzüberschreitungen im Auge, kann man konzedieren: Manchmal rechtfertigen die praktischen Leistungen von Studierenden, dass sie ihre genuin wissenschaftlichen Anstrengungen beim forschenden Lernen temporär zurückfahren und beschränken, um Zeit für anderes zu gewinnen – für nicht-wissenschaftliche Anliegen und Interessen der allgemeinen Öffentlichkeit, für bedürftige Menschen oder, wie das in praxis- beziehungsweise anwendungsorientierten Projekten oft der Fall ist, für verbesserungsbedürftige Praxen (wie etwa den Unterricht von Lehrer_innen in der Schule). Genau das war einmal der Sinn eines sogenannten „Projektstudiums“

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oder „projektorientierten Studiums“, das Huber (2009, S. 26) vom forschenden Lernen im engeren Sinne gerade deswegen abzugrenzen empfiehlt, weil die angestrebten Projekte mit wissenschaftlichen Tätigkeiten im Grunde genommen nichts mehr zu tun haben. Sie verdanken sich vielmehr einem politischen, gesellschaftlichen oder sozialen Engagement, das in irgendeiner Weise auf die Verbesserung der Verhältnisse abzielt (bzw. auf das, was die Akteure als Verbesserung begreifen: „in den Anfängen standen dafür z.B. neue Konzepte oder Einrichtungen wie Kinder- oder Schülerläden, Arbeit mit Gastarbeiterkindern, das soziale und politische Leben in einem Problemviertel, Stadtplanungen, aber auch veränderte Studiengänge und -formen mit ‚kritischem Berufspraxisbezug‘ usf., um nur an einige der berühmt gewordenen Projekte zu erinnern“ [ebd.]. Projektstudien und die eng damit verwandten Konzepte der „Aktionsforschung“ oder der „partizipativen Sozialforschung“ sind keineswegs ganz verschwunden, im Gegenteil, es gibt durchaus eine Art Renaissance.13 Heutzutage mag es in ähnlicher Weise um die Solidarität mit geflüchteten Menschen, um den Kampf gegen den Klimawandel, eine ökologische Lebensweise, etwa den Verzicht auf Flugreisen oder vegane Ernährungsstile gehen). Die Abhandlungen und good practice-Beispiele im vorliegenden Band bieten – obwohl das Buch noch voluminöser geworden ist als erwartet und zunächst vorgesehen – lediglich Einblicke in das, was im Feld forschenden Lernens möglich und längst Wirklichkeit geworden ist. Dabei ist vieles im Fluss, nicht fertig oder gar vollendet. Die zahlreichen Beiträge und Exempel repräsentieren lediglich einen Ausschnitt aus dem, was wir als „forschendes Lernen an der RUB“ bezeichnen. Wir haben eine Auswahl treffen und vieles vernachlässigen müssen. Es wurde darauf geachtet, aus allen Fakultäten etwas dabei zu haben – und dabei möglichst viel Verschiedenes. Es gibt nicht ‚das‘ forschende Lernen oder ‚den‘ Weg forschenden Lernens – es gibt mehrere. Wir

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Vgl. etwa von Unger (2014) oder von Unger, Narimani & M'Bayo (2014), wo die gesteigerte (Selbst-)Reflexivität dieses politisch ambitionierten Forschungsstils sowie die intensivierte Aufmerksamkeit gegenüber ethisch-moralischen Aspekten wissenschaftlicher Forschung generell deutlich wird.

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hätten andere Beispiele präsentieren können, ebenso eindrückliche und überzeugende. Keine Auswahl ist frei von Kontingenz. Die im Folgenden in verschiedenen Rubriken präsentierte Palette ist lediglich ein Auszug aus dem Tätigkeitsbericht einer Universität, in der Forschung als passionierte Praxis betrieben und entsprechend gefördert wird – gerade auch dann, wenn sie Studierende auf die eine oder andere Weise einbezieht und am Abenteuer wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung teilhaben lässt. Zumindest ein Geheimnis des schillernden Konzepts forschenden Lernens liegt wohl im verheißungsvollen Versprechen, Literaturkenntnis und Lebenserfahrung, Lesen und Leben etwas näher miteinander in Kontakt zu bringen, als es in gewöhnlichen Vorlesungen und Seminaren der Fall ist – und dafür ist es eben entscheidend, dass die forschend Lernenden die Erkenntnisse, über die sie schließlich verfügen und die sie weitergeben können, zu einem guten Teil im versuchenden Vollzug des eigenen und weitgehend eigenständigen, theoretisch reflektierten und methodisch kontrollierten Handelns, also selbsttätig, proaktiv und dabei in ständigem Austausch mit anderen sowie in der niemand erspart bleibenden Auseinandersetzung mit sich selbst errungen haben. Es bleibt uns zu danken – zuvorderst den zahlreichen Autor_innen, deren eindrucksvolle Zügigkeit und Zuverlässigkeit es uns erst möglich gemacht hat, den umfänglichen Band binnen eines Jahres zu konzipieren und fertig zu stellen. Ohne das am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie im Dauereinsatz befindliche Lektorat – das auch in diesem Fall von Alina Czilwik und Nicola-Kim Raschdorf übernommen wurde, erneut mit professioneller Sachkunde, Umsicht und Präzision – hätte das gewiss nicht so schnell geklappt. In der Schlussphase hat unsere aktuelle Forschungspraktikantin – Tina Marie Hoke, die in Leipzig Psychologie studiert – mit großer Akribie zur redaktionellen Fertigstellung des Manuskripts beigetragen. Einige andere – Jens Ostermann, Jennifer Degner oder Kira Rudolph etwa – haben an anderen Stellen geholfen. Für die Aufnahme des Bandes ins Verlagsprogramm sind wir dem Verlag Springer VS sehr verbunden, für die Betreuung durch unsere Verlagslektorin Dr. Elke Flatau bedanken wir uns ebenfalls. Vielleicht ist es das richtige Zeichen, wenn wir am Schluss unserer Einleitung das vorliegende

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Buch all jenen Studierenden zueignen, die eine maßgebliche Rolle in jenen Projekten gespielt haben, von denen die Projekt- und Seminarleiter_innen im Folgenden berichten (und in manchen Fällen auch die Studierenden selbst). Ohne sie und die Forschungspartner_innen, die sie in zahllosen Fällen ausfindig machen und aufsuchen mussten, um mit ihnen so eindrucksvoll kooperieren zu können, wie sie es nun einmal getan haben, wäre nichts vorangegangen und geglückt. Literatur Atzl, Isabel & Schulz, Stefan (2013): Handreichung zur Planung und Durchführung von Ausstellungen im Rahmen von Lehrprojekten (Ruhr-Universität Bochum). Bochum. Bundesassistentenkonferenz (BAK) (1970): Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen. In: Schriften der BAK. 5. Neudruck. Bielefeld. Cronshagen, Jessica, Hogh, Philip & Wöltjen, Timm (2016): Lehre im Format welcher Forschung? Überlegungen zum Forschungsbegriff am Beispiel der Geschichte, der Philosophie und der Sportsoziologie. In: Kergel, David & Heidkamp, Birte. (Hg.) (2016): Forschendes Lernen 2.0. Wiesbaden: S. 229-224. Dany, Sigrid, Szczyrba, Birgit & Wildt, Johannes (Hg.) (2008): Prüfungen auf die Agenda! Hochschuldidaktische Perspektiven auf Reformen im Prüfungswesen. Blickpunkt Hochschuldidaktik, Bd. 118. Bielefeld. Dreyfus, Hubert L. & Dreyfus, Stuart E. (1987): Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition. Reinbek bei Hamburg. Euler Dieter (2005): Forschendes Lernen. In: Spoun, Sacha & Wunderlich, Werner (Hg.) (2005): Studienziel Persönlichkeit. Beiträge zum Bildungsauftrag der Universität heute. Frankfurt a.M./New York: S. 253-272.

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ForschenLernen: BMBF-Verbundprojekt der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Fachhochschule Potsdam. München. Online unter: https://www.wihoforschung. de/de/forschenlernen-49.php Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Bd. 2: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1977/78 und 1978/79. Frankfurt a.M. Faulstich, Peter (2013): Menschliches Lernen: Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. Bielefeld. Feyerer, Ewald, Hirschenhauser, Katharina & Soukup-Altrichter, Katharina (Hg.) (2014): Last oder Lust? Forschung und Lehrer_innenbildung. Münster. Fischer, Hans Rudi (Hg.) (1995): Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Heidelberg. Görts, Wim (Hg.) (2003): Projektveranstaltungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Bielefeld. Gottschalk, Ines & Ruppel, Paul S. (2019): Funktionen des Schreibens im Forschenden Lernen – Ein Systematisierungsversuch am Beispiel eines schreibintensiven sozialwissenschaftlichen Lehrforschungsprojekts. In: Berendt, Brigitte, Fleischmann, Andreas, Schaper, Niclas, Szczyrba, Birgit, Wiemer, Matthias & Wildt, Johannes (Hg.) (2019): Neues Handbuch Hochschullehre, G. 4.17. Berlin. Holzkamp, Klaus (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a.M./New York. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: Huber, Ludwig, Hellmer, Julia, & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld: S. 9-35. Huber, Ludwig (2010): Forschendes Lernen ist nötig. Wie ist es möglich? Vortrag an der TU Braunschweig am 13. Januar 2010. Nürtingen-Geislingen. Online unter: https://www.hfwu.de/fileadmin/user_upload/ KoLe/Dateien/FoLe/Vortrag_Huber.pdf

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Von der Reformidee zum Alltagsprinzip – Eine kurze Geschichte Forschenden Lernens an der RUB Judith Ricken Vor zehn Jahren fand das Forschende Lernen über das 2010/11 entwickelte Zukunftskonzept seinen Platz als Leitprinzip an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Seitdem ist es in unterschiedlichen Variationen erprobt, weiterentwickelt, an Fachspezifika angepasst, transferiert und in die Breite getragen worden, so dass es heute zum Selbstverständnis der Lehre an der RUB gehört. Die unterschiedlichen Stadien dieser Entwicklung skizziert dieser Beitrag. Phase 1: Forschendes Lernen als gemeinsam getragene Reformidee Das Ende der 2000er Jahre war in Nordrhein-Westfalen hochschulpolitisch von Diskussionen über Studienbeiträge und Studierendenprotesten geprägt. An der RUB entstanden in diesem Kontext zwei wichtige Vorbedingungen für die heutige Verankerung Forschenden Lernens: hochschulweit geführte Gespräche und Workshops mit Studierenden, Fakultäts- und Hochschulleitung sowie die Anforderung, im Kontext der Exzellenzinitiative ein Zukunftskonzept für die Lehre zu entwickeln. Einer der Hauptgegenstände der Studierendenproteste 2008/09 an der RUB war der Wunsch nach weniger Verschulung und mehr Wahlfreiheit und Eigenständigkeit. Um plakative Allgemeinkritik zu vermeiden und konstruktiv mit den Anliegen umzugehen, gab es in unterschiedlichen Konstellationen – mal Studierende für sich, mal Studierende und Fakultätsvertreter_innen gemeinsam, sowohl zentral als auch dezentral organisiert – Austauschforen in Form von Workshops, Qualitätszirkeln oder moderierten Gesprächen. In vielen Fällen entstanden auf diese Weise Anforderungen bzw. konkrete Vorschläge, wie mehr Freiheit und Eigenständigkeit im Studium, insbesondere auch im frühen Bachelorstudium, erreicht werden können. Auffallend häufig

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_2

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wurde dabei die Idee formuliert, Studierende früh und gleichzeitig niveauadäquat selbst forschen zu lassen. Sie fand bei Lehrenden wie bei Studierenden gleichermaßen hohe Sympathie und Akzeptanz. Im Kontext der Bewerbung 2010 in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder entwickelte die RUB ein Zukunftskonzept für die Universität, das für die Lehre unter dem Titel Forschung erfahren, erlernen, leben stand. Es wurde von der Prorektorin für Lehre und Weiterbildung und der Projektgruppe Lehre für die Exzellenzbewerbung in enger Rückkopplung mit dem Rektorat sowie der Universitätskommission für Lehre erarbeitet. Zur Umsetzung des Konzepts wurden zwei Universitätsprogramme vorgesehen, eines davon „Forschendes Lernen“, das im nächsten Abschnitt erläutert wird. Obwohl das Zukunftskonzept als Konzeptpapier – obgleich intern digital publiziert – nie eine hohe hochschulöffentliche Reichweite erfahren hat, ist Forschendes Lernen als Gestaltungsprinzip inzwischen an der RUB als selbstverständlich etabliert. Dafür maßgeblich verantwortlich war die Entscheidung der Hochschulleitung, unterstützt durch die Universitätskommission für Lehre, entsprechende Vorhaben mit umfangreichen internen Mitteln zu fördern und dazu das Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ tatsächlich einzuführen. Phase 2: Muster für Forschendes Lernen finden und erproben Bereits bei der Verwendung der 2007 eingeführten Studienbeiträge bestand der Wunsch, Innovationen in der Lehre zentral zu fördern. So wurde 2008 einmalig der Wettbewerb lehrreich durchgeführt, der innovative Lehrideen suchte, die von Lehrenden und Studierenden gemeinsam getragen bzw. befürwortet wurden. Als Fördervolumen wurden 400.000 Euro aus internen Mitteln (Studienbeiträge) bereitgestellt. Die RUB sammelte auf diesem Weg erstmalig institutionell Erfahrungen mit der Konzeption und Durchführung eines hochschulinternen Wettbewerbs für Lehre und den Wirkungen der daraus geförderten Lehrideen. So wurde dieser Erstling mehrfach lehrreich: so-

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wohl was die entstandenen Konzepte anging als auch mit Blick auf die möglichst zielgerichtete, akzeptierte und zugleich schlanke Gestaltung eines Verfahrens (vgl. Ricken 2011). Für die Ausgestaltung des Universitätsprogramms „Forschendes Lernen“ waren diese Erfahrungen ausgesprochen hilfreich, und so konnte 2010 relativ schnell die erste Ausschreibung des neuen Programms erfolgen, die dann auch das Verständnis von Forschendem Lernen an der RUB durch fünf allgemeine Kriterien in Anlehnung an Huber (2009) genauer, aber immer noch sehr offen charakterisierte. Ziel des Programms sollte es sein, neue Formate für die Umsetzung von Forschendem Lernen in den Fächern zu erproben und zu evaluieren, die Vorbildwirkung entfalten können. Insbesondere ging es darum, die Freiheitsgrade von Studierenden bereits in den ersten Studiensemestern deutlich zu erhöhen und insbesondere Lehrangebote umzugestalten, die regelmäßig wiederkehren und eine hohe Reichweite haben. Ein Antragsverfahren mit einem jährlichen Fördervolumen von 400.000 Euro aus hochschulinternen Mitteln (zunächst Studienbeiträge, später Qualitätsverbesserungsmittel) wurde eingerichtet und die Universitätskommission für Lehre als Jury eingesetzt. 2010 wurden die ersten Projekte gefördert. Das Interesse aus den Fakultäten und Instituten war hoch, gleichzeitig wurde relativ schnell deutlich, dass es bei sechs Förderungen im Jahr (Mittelwert 2010-2011) einige Zeit dauern würde, bis die Erfahrungen mit Forschendem Lernen auf dem Campus in der Breite geteilt würden. Deshalb und aufgrund seiner strategischen Bedeutung für die Universität wurde das Forschende Lernen auch zu einem der Handlungsfelder des campusweiten Qualitätspakt Lehre-Projektes inSTUDIES. Die ursprünglich angedachte Aufstockung des Budgets für das Universitätsprogramm ließ sich nicht in der geplanten Form realisieren, sodass von 2012 bis 2015 ein inSTUDIES-Wettbewerb zum Forschenden Lernen mit jährlichen Fristen ausgeschrieben wurde. Intensiv studieren ermöglichte die Umsetzung von auch ressourcenintensiven Lehrangeboten im Optionalbereich, dem Wahlpflichtbereich des 2-Fächer-Bachelors, die aus Studienbeiträgen in der Form nicht hätten umgesetzt werden können, unter anderem durch die regelhafte Bewilligung von halben wissenschaftlichen Mitarbeiter_innenstellen. Diese interne

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Konkurrenz war nicht immer leicht zu händeln. Sie sorgte mitunter für Irritationen bei Lehrenden und/oder Begutachtenden, brachte zusätzliche Verfahrensfragen bei den zuständigen Stellen z.B. in Fällen von Doppelbewerbungen oder bereits erfolgten Ablehnungen in einem der beiden Verfahren mit sich oder ließ es notwendig erscheinen, die Verfahren auch zeitlich deutlich voneinander abzutrennen. In beiden Fällen führte dies mit der Zeit zu deutlichen Präzisierungen der Verfahren (beispielsweise zur Einführung von standardisierten Antragsformularen mit maximalen Zeichenzahlen). Zugleich entwickelte sich auf dem Campus eine hohe Aufmerksamkeit für das Thema Forschendes Lernen insgesamt. 2013 gelang es in der Zwischenbilanz-Tagung des inSTUDIES-Projektes, die Erfahrungen mit den verschiedenen Formaten Forschenden Lernens und die Wege, auf denen sie zustande gekommen waren, gemeinsam zu reflektieren und universitätsintern formatbezogene Empfehlungen auszusprechen. Bei der campusweiten Diskussion über die Schwerpunkte für die Fortführung von inSTUDIES in einer möglichen zweiten Förderphase waren sich die verschiedenen Akteure schnell einig, dass eine weitere Zweigleisigkeit wettbewerblicher Verfahren für Forschendes Lernen nicht mehr erforderlich war. Zusätzlicher Bedarf zur Förderung neuer Formate wurde stattdessen vielmehr in der Erprobung und Evaluation verschiedener struktureller Elemente sowie im Transfer guter Praxis gesehen. Phase 3: Forschendes Lernen systematisieren und in die Breite bringen Seit 2016 wird Forschendes Lernen als Gestaltungsprinzip der Lehre an der RUB auf drei Wegen weiterentwickelt: über inSTUDIES mit strukturbildend orientierten Teilprojekten in den Fakultäten und mit einer zentral organisierten Transferunterstützung sowie über die modifizierte Weiterführung des Universitätsprogramms. Im neu konturierten Maßnahmen- bzw. Handlungsfeld „intensiv & interdisziplinär forschen“ wurde der Wettbewerb ersetzt durch Teilprojekte mit

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verschiedenen Startzeitpunkten. Diese erprobten und evaluierten strukturelle Prinzipien, z.B. den systematischen Einsatz von Peer-Elementen oder die gemeinsame Entwicklung und Nutzung von dem Forschenden Lernen angemessenen Prüfungsformen. Ein Teilprojekt beschäftigte sich darüber hinaus aus organisationssoziologischer Perspektive mit der Praxis Forschenden Lernens (siehe Beitrag von Mojescik, Pflüger, Richter & Scheytt, in diesem Band). Um ein weiteres Wachstum in der Breite der Erfahrungen zu unterstützen, wurde das Maßnahmenfeld „in die Fläche“ ausgebaut. Die Datenbank Lehrmuster (www.rub.de/lehrmuster) ermöglicht nun Interessierten die niedrigschwellige systematische Suche nach guten Beispielen für Forschendes Lernen aus der Lehrpraxis der RUB, basierend auf den Evaluationsberichten über (in der Regel) geförderte Projekte und entsprechenden Hinweisen für die praktische Umsetzung. Ihre unmittelbare Vernetzung mit Lehre laden, dem Downloadcenter des Zentrums für Wissenschaftsdidaktik, sorgt für eine inhaltliche Fundierung für verschiedene Themenblöcke. Derzeit entsteht in einem Kondensat aus wissenschaftlicher Expertise zum Forschenden Lernen und Praxiserfahrungen an der RUB ein Manual zum Forschenden Lernen, das zukünftig Lehrenden theoretisch fundierte, praktische Anregungen für die Gestaltung von Lehrangeboten nach dem Prinzip Forschenden Lernens geben wird. Auch das Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ hat eine Weiterentwicklung erfahren. Seit 2017 unterscheidet es die Antragslinien „Konzeptentwicklung“, „Konzepttransfer“ und „Sachkostenzuschuss“. Die Differenzierung wurde notwendig, weil die antragsberatende Universitätskommission für Lehre zunehmend den Eindruck gewann, dass Formate zum wiederholten Male zur Förderung beantragt wurden – entweder, weil Personen von der Erprobung eines Formats an einer anderen Fakultät oder einem anderen Institut nichts wussten, oder weil sie Geld für die erneute, gegebenenfalls angepasste Durchführung ihres Formats benötigten. Mit der eingeführten Unterscheidung verändern sich die Anforderungen an Anträge: „Konzeptentwicklungen“ sind neuartige, bisher an der RUB nicht in dieser Form durchgeführte Formate Forschenden Lernens (im Schnitt acht Anträge pro Studi-

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Judith Ricken

enjahr). Unter „Konzepttransfer“ fällt die Übertragung eines bereits bewährten Konzepts auf ein anderes Fach. Anders als zunächst erwartet gehen hier noch die wenigsten Anträge ein, im Schnitt wurde in den vergangenen drei Jahren ein Transferprojekt pro Jahr gefördert. Die wie von der Kommission erwartet hohe Nachfrage erzeugt der auf 5.000 Euro gedeckelte „Sachkostenzuschuss“ mit einem im Vergleich zu den anderen beiden Antragsformaten deutlich kürzeren Antragsformular (im Schnitt zwölf Anträge pro Studienjahr). Überraschend oder nicht, so erfreut sich das Universitätsprogramm seit seiner Einführung gleichbleibend hoher Nachfrage mit im Schnitt gut 20 Anträgen pro Studienjahr. Auch die Bewilligungsquote blieb über die Jahre konstant bei rund 50 Prozent. Die Verteilung der Bewilligungen auf die Fächer entspricht in etwa der Verteilung der Studierenden über die RUB hinweg, das heißt der Schwerpunkt der Förderung liegt in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Jedoch haben alle Fakultäten und zentralen wissenschaftlichen Einrichtungen, die Studiengänge verantworten, bereits an dem Programm partizipiert. Forschendes Lernen, so kann man sagen, ist über viele beteiligte Lehrende und erreichte Studierende in der Breite angekommen. Phase 4: Forschendes Lernen als bewährtes Alltagsprinzip für Innovationsprojekte nutzen An der RUB mit ihrer großen fachlichen Vielfalt gehört Forschendes Lernen nach zehn Jahren intensiver Unterstützung zum Selbstverständnis in der Lehre auf dem ganzen Campus. Alle Studiengänge sehen Formate Forschenden Lernens vor. Im Optionalbereich des 2-Fächer-Bachelorstudiengangs und im Wahlbereich einiger 1-Fach-Bachelorstudiengänge hat es sein eigenes wählbares Profil. Für weitere Innovationsvorhaben bildet es damit eine gute Basis. So war es bei der Entwicklung eines campusweiten Konzepts für Data Literacy und Data Science an der RUB die gleichzeitige Idee mehrerer Akteure, Data Science-Angebote im Format Forschendes Lernen mit einer internen

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Förderung über das bestehende Universitätsprogramm aufzubauen – ein bewährter Weg, der sich leicht um einen thematischen Schwerpunkt ergänzen lässt, ohne dass größere organisatorische Hürden genommen werden müssen, sofern das inhaltliche Ziel geteilt wird. 2018 in das campusweite Konzept integriert, wird er seit 2019 tatsächlich beschritten und fördert nun die ersten Lehrvorhaben in der Umsetzung. Wie sich das Forschende Lernen an der RUB weiterentwickelt und wie die nächste Phase überschrieben sein wird, lässt sich jetzt noch nicht abschätzen. Die Erfahrung zeigt aber: Es ist ein äußerst tragfähiges, fachunabhängiges, aber fachlich spezifizierbares Prinzip mit hoher Akzeptanz bei Lehrenden und Studierenden. Forschendes Lernen wird also, davon ist auszugehen, auch im nächsten Jahrzehnt die Lehre an der RUB wesentlich prägen. Literatur Berbuir, Ute, Hansen, Holger, Koch-Thiele, Andrea & Ricken, Judith (2013): Wettbewerbe als Anreiz für studentische Mitgestaltung in der Studienreform. In: Pohlenz, Philipp & Oppermann, Antje (Hg.) (2013): Exzellenz – Pakt – Lehre. 13. Jahrestagung des Arbeitskreises Evaluation und Qualitätssicherung. Bielefeld: S. 147-154. Carell, Angela, Ricken, Judith & Wilkens, Uta (2012): Spielarten forschenden Lehrens und Lernens in der Hochschule. In: Landfried, Klaus, Kohler, Jürgen & Benz, Winfried (Hg.): Handbuch Qualität in Studium und Lehre. 36. Ergänzungslieferung, Rubrik E 3.2. Berlin: o.S. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: ders., Hellmer, Julia & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld: S. 9-36. Ricken, Judith (2011): Der Wettbewerb „lehrreich“ – Gemeinsam für gute Lehre. In: dies. (Hg.) (2011): lehrreich – Ausgezeichnete Lehrideen zum Nachmachen. Bielefeld: S. 94-102.

inSTUDIES und inSTUDIESplus – Neun Jahre Lehrentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum Flora Mehrabi “Insanity is doing the same thing over and over again, but expecting different results.” (Rita Mae Brown, 1983, S. 68)

Innovation − ein aktuell beliebtes und überstrapaziertes Label oder ein wichtiger Motor für zukunftsorientierte Weiterentwicklung von Hochschullehre? Der Begriff Innovation wird assoziiert mit Neugier, Inspiration, neuen Möglichkeitsräumen, aber auch mit Druck, potenziellem Widerstand und Scheitern. Er unterliegt keiner einheitlichen Definition (Kopcha, Rieber & Walker, 2016) und die Faktoren, die einen Innovationsprozess beeinflussen, sind vielfältig (Fleuren, Wiefferink & Paulussen 2004; Fleuren, Paulussen, van Dommelen & van Buuren 2014; Gannawaya, Hintonb, Berrya & Moorea 2013). Sowohl der jeweilige sozio-politische Kontext, wie z.B. der Veränderungsbedarf und die Gesetzgebung, oder auch die Charakteristika einer Organisation, die sich unter anderem in den Entscheidungsprozessen, der Vernetzung und der administrativen Unterstützung zeigen, spielen auf dem Weg zu neuartiger Lehre eine wichtige Rolle (Kopcha, Rieber & Walker, 2016; Fleuren, Wiefferink & Paulussen 2004; Fleuren, Paulussen, van Dommelen & van Buuren 2014; Gannawaya, Hintonb, Berrya & Moorea 2013). Determinanten des Ergebnisses sind auch die Merkmale der innovativen Angebote, z.B. die Kompatibilität mit dem Bestehenden, der Anreiz für die Anbieter_innen und Nutzer_innen sowie das Risiko im Falle eines Misserfolgs (Fleuren, Wiefferink & Paulussen 2004; Fleuren, Paulussen, van Dommelen & van Buuren 2014). Last, but not least sind es, im Falle der Lehre vielleicht ganz besonders, die Eigenschaften und Ressourcen der Beteiligten in Form von Wissen, Fähigkeiten und Zielsetzungen, die darüber entscheiden, ob neue Wege beschritten und kreative Ideen in die Tat umgesetzt werden. Neue Ziele bedürfen neuer Wege (siehe Eingangszitat).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_3

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Flora Mehrabi

Innovation in der Lehre kann das Ergebnis eines Antriebs sein, nicht nur sich selbst vor neue Herausforderungen zu stellen, sondern vor allem die Lernenden, die Praktiker_innen und Forscher_innen von morgen mitzureißen und dabei zu unterstützen, über das Bestehende hinauszuwachsen und Anforderungen in der Zukunft zu bewältigen. Eine gelungene Identifizierung geeigneter Handlungsfelder und die persönliche Bereitschaft, etwas Anderes auszuprobieren, sind begünstigende Voraussetzungen für einen erfolgreichen Innovationsprozess (Fleuren, Wiefferink & Paulussen 2004; Fleuren, Paulussen, van Dommelen & van Buuren 2014; Gannawaya, Hintonb, Berrya & Moorea 2013). Eine bestehende Struktur, ein Ort, an dem Neues erwünscht ist, kann dabei helfen, die Komfortzone zu verlassen und sich auf unbekanntes Terrain zu begeben (Collingwood 1979). Für mehr Innovation in der Lehre starteten im Jahr 2011 an der RuhrUniversität Bochum (RUB) die campusweiten Lehrentwicklungsprojekte inSTUDIES und ELLI (Exzellentes Lehren und Lernen in den Ingenieurwissenschaften) im Rahmen des Bund-Länder-Programms Qualitätspakt Lehre. Die Projekte nahmen die individuelle Profilbildung und die Qualität und Beratung entlang des gesamten Student Life Cycles in den Blick. Orientiert am Leitbild Lehre, welches Lehrende und Studierende der RUB im Jahr 2010 gemeinsam entwickelten, sollten neue Lehr-Lern-Formate die Studierenden in ihrer Eigenverantwortlichkeit, in ihrem Interesse an Erkenntnisprozessen und in der diskursiven Auseinandersetzung mit fachaffinen und fachfremden Themen stärken. Die neuen Lehrformate im Projekt inSTUDIES wurden im sogenannten Optionalbereich angeboten, einer fakultätsübergreifenden Einrichtung an der RUB, die seit 2001 als zentraler Ort von Studienangeboten jenseits des Fachcurriculums besteht. Alle 2-Fach-Bachelorstudierenden an 14 Fakultäten der RUB erwerben im Optionalbereich 30 CPs (credit points) und können aus unterschiedlichsten Angeboten, die über das eigene Fach hinausgehen, Angebote wählen. Der Fokus liegt auf den fachübergreifenden Schlüsselkompetenzen, welche insbesondere die berufsbezogene Attraktivität der Absolvent_innen nach dem Studium steigern sollen. Der fakultätsübergreifende Optionalbereich ist eine ideale Plattform für ‚alternative‘ Lehrideen

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und somit optimal für die Modularisierung neuer Lehrangebote aus dem inSTUDIES-Projekt. Das auf die Bachelor-Studienphase gerichtete Lehrentwicklungsprojekt konzentrierte sich auf die Übergänge von der Schule an die Hochschule und von der Hochschule in die Berufspraxis sowie auf die individuelle Vertiefung in die Fächer durch forschendes Lernen, studentische Initiativen, interdisziplinäre und künstlerische Formate sowie internationale Studienangebote. Gezielte Beratungs- und Lehrformate begleiteten diese Schnittstellen. Für eine empirisch fundierte Qualitätsoptimierung der neuen Angebote wurden diese im Prä-Post-Design, insbesondere hinsichtlich der Inanspruchnahme, der erworbenen Fachkompetenzen und fachübergreifenden Kompetenzen sowie der Zufriedenheit, formativ und summativ evaluiert. Die vielfältigen und zielgruppenspezifischen Formate im Optionalbereich wurden von den Studierenden sehr gut angenommen. Die entwickelten Angebote waren und sind bestens geeignet, um Studierende unterschiedlicher Fächer in ihrer Profilbildung zu unterstützen und einer heterogenen Studierendengruppe Schlüsselkompetenzen zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund erfolgte eine Neustrukturierung und es wurden die folgenden acht Profile im Optionalbereich fest etabliert: Praxis, Lehramt, Liberal Arts Education, Sprachen, International, Forschung, Wissensvermittlung und Freie Studien. Die neue Struktur erleichtert die Angebotsauswahl für alle Studierenden der RUB, die sich im Hinblick auf ihre beruflichen Ziele intensiv auf spezielle Kompetenzen konzentrieren und über ihre Fachgrenzen hinaus in eine selbst gewählte, über das Profil nach außen dokumentierbare Richtung weiterentwickeln möchten. Auch die Möglichkeit, Angebote komplett frei zu kombinieren, besteht weiterhin und ohne Einschränkung. Das Ergebnis zeigte, wie Innovationen in einer Organisation wie einer Universität mit rund 43.000 Studierenden und 5.800 Beschäftigten umgesetzt werden können, wenn Strukturen wie der Optionalbereich günstige Rahmenbedingungen für Neues bieten. Im nächsten Schritt und mit dem zweiten erfolgreichen Antrag an das BMBF in der Förderlinie Qualitätspakt Lehre rückten die 1-Fach-Bachelorund 1-Fach-Master-Studiengänge in den Fokus. Auf der Grundlage der positiven Erfahrungen in den 2-Fach-Bachelor-Studiengängen werden in der

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zweiten Förderphase (inSTUDIESplus, 2016-2020) in enger Verzahnung mit bestehenden Strukturen Angebote für 1-Fach-Master-Studiengänge und 1Fach-Bachelor-Studiengänge in sieben Maßnahmenfeldern entwickelt und mithilfe von Transferaktivitäten auf dem Campus und darüber hinaus in die Fläche getragen: (1) Ins Studium. Studienanfänger_innen kommen mit sehr heterogenen Vorkenntnissen an die Universität. Für die RUB stehen der Einsatz besonderer Beratungsangebote und spezifischer Propädeutika im Zentrum der Unterstützung eines guten Studieneinstiegs. Vorbereitende „RUBCheck“ Online-Self-Assessments, insgesamt 23 an der Zahl, dem Studium vorgeschaltete Summer Universities mit den Schwerpunkten Mathematik, Statistik und Naturwissenschaften, semesterbegleitende Intensivlernkurse wie das MathePlus-Projekt für die Zielgruppen Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Umwelttechnologie & Ressourcenmanagement, Elektrotechnik, Informationstechnik, IT-Sicherheit und Mathematik oder das Konzept Kleingruppe zur verbesserten Falllösungstechnik in selbstorganisierten Lerneinheiten in der Rechtswissenschaft sowie Master-Coaches für ausländische Studierende in verschiedenen Studiengängen wurden zu diesem Zwecke erfolgreich entwickelt und umgesetzt. (2) Intensiv und interdisziplinär forschen. Hierbei handelt es sich um LehrLern-Formate, bei denen Studierende, begleitet und angeleitet durch erfahrenere Studierende oder Doktorand_innen, idealerweise den gesamten Forschungsprozess durchlaufen und Erkenntnisse in verschiedenen wissenschaftlichen Präsentationsformen aufarbeiten und kommunizieren. In Pilotbereichen erprobte und bewährte Formate werden multipliziert und mit Prüfungsformen verbunden, die den didaktischen Prinzipien des forschenden Lernens gerecht werden. Ebenso werden Module ausgebaut und evaluiert, die einen engen Austausch zwischen Bachelor- und Master-Studierenden curricular etablieren, sowie ein fakultätsübergreifendes Methodenzentrum auf-

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gebaut. Zahlreiche Beiträge in diesem Band entspringen dem Maßnahmenfeld „Intensiv und interdisziplinär forschen“ und sind an entsprechenden Stellen ausführlich dargestellt (vgl. auch Straub, Ruppel, Plontke & Frey, in diesem Band). (3) International studieren. Ein internationaler Campus ist die Voraussetzung, damit Studierende von Heterogenität in all ihren Facetten profitieren und Kompetenzen für das verantwortungsvolle Handeln in einer globalen Gesellschaft weiterentwickeln können. inSTUDIESplus richtet einerseits den Blick auf Angebote, die Kontakte und Austausch zwischen lokalen und internationalen Studierenden an der RUB fördern (Internationalization at home und RUB arts & culture international), und bietet andererseits ein Förderprogramm für MasterStudierende, um forschungsorientierte Auslandsaufenthalte zu realisieren (vgl. Yeh, in diesem Band). Außerdem steht eine nachhaltige Internationalisierung der Lehrangebote in den Fakultäten, Instituten und Zentren im Vordergrund, indem dauerhafte Kooperationsstrukturen mit einem starken Lehr- und Forschungsfokus verwurzelt werden. Das Projekt Internationalization at home bietet fachspezifische Angebote zur Förderung der Vernetzung lokaler und internationaler RUB-Studierender in den Naturwissenschaften. Die Studierenden erwerben mithilfe eines fachspezifischen Buddy-Programms und in Sprachtandems interkulturelle Kompetenz vor Ort und können ihre fremdsprachlichen Fähigkeiten verbessern. Im Rahmen des Teilprojekts RUB arts & culture international wird durch vielfältige kulturelle Formate, Workshops und künstlerisch-ästhetische Angebote wie die „Open Stage“ das internationale Leben am Campus der Ruhr-Universität so gestärkt und sichtbar gemacht, dass internationale Studierende aller Fachrichtungen sowie die lokalen Universitätsangehörigen sich künstlerisch-kreativ ausprobieren können und sich dabei vernetzen. Das Musische Zentrum der RUB bildet den zentralen Ort diverser kultureller Ausdrucksformen und Aktivitäten (vgl. Klinge, Schulte & Weber, in diesem Band).

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Flora Mehrabi (4) In die Praxis. In neuen kooperativen Lehr-Lehr-Formaten können Studierende praktische Problemlösungen erarbeiten, eigene Projektideen entwickeln oder unternehmerisch tätig werden, indem sie z.B. eigene Gründungsvorhaben voranbringen. In den Lehrangeboten steht die Praxisanwendung und die Eigeninitiative der Studierenden im Mittelpunkt (vgl. Hohagen, Voß, Wilkens & Süße, in diesem Band). Sie sollen ein reflektiertes Bewusstsein für ihre fachliche Expertise entwickeln, als Wissensträger_innen in Organisationen auftreten und Wissen in praktische Problemlösungen überführen können. Lehrende begleiten sie dabei in der Rolle von Coaches. Das Angebotskonzept des Seminars Arbeitsmarktintegration und Zuwanderung beispielsweise umfasst eine gezielte Kombination didaktischer Elemente des projektartigen, problemorientierten und forschenden Lernens. Ein intensiver Wissenschafts-Praxis-Austausch im Rahmen der Lehrveranstaltung dient dem Ziel, Studierende für Chancen und Herausforderungen im Bereich der Arbeitsmarktintegration und Zuwanderung zu sensibilisieren und auf der Basis ihrer Erarbeitung von Handlungsempfehlungen ein wechselseitiges Lernen zu forcieren. In einem anderen Projekt namens Simulationsgestützte Gesprächstrainings werden mithilfe von Schauspieler_innen schwierige Gesprächssituationen (z.B. vom Typ Eltern-Lehrer, Ärztin-Patient, Personalgespräch) simuliert und von den Teilnehmer_innen systematisch durchlaufen und reflektiert. (5) Initiativ handeln. Eine besondere Stärke der Lehr-Lernkultur an der RUB ist die ausgeprägte studentische Beteiligung, aus der immer wieder wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Lehre entstehen. Die Bereitstellung gesonderter Mittel für studentische Projekte mit hoher wissenschaftlicher Güte gab Studierenden die Möglichkeit, Initiativprojekte anzustoßen, weiterzuentwickeln, campusweit zu kommunizieren und dafür Kreditpunkte zu erwerben. Hinzu kam eine in der ersten Förderphase bereits begonnene Vernetzung der Projekte untereinander, sowohl an der RUB als auch bundesweit. Auf

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das Maßnahmenfeld wird im Kapitel Einleitende Bemerkungen (KochThiele, in diesem Band) eingegangen. (6) Integrierende Studiengangentwicklung. Während in der ersten Förderphase die Erprobung unterschiedlicher Lehr-Lern-Formate in verschiedenen fachlichen Ausrichtungen im Zentrum stand, ging es in der zweiten Förderphase auch um die curricular-organisatorische Weiterentwicklung und innovative Umstrukturierung von Master-Studiengängen. Fokussiert werden unter anderem die Verzahnung von Wissenschaft und Praxis im Sinne einer gezielten Vorbereitung auf einen auch außerakademischen Arbeitsmarkt mit einer neuen sprach-/kulturwissenschaftlichen Vertiefungsrichtung „Osteuropäische Studien mit Praxisbezug“ bzw. einem geschichtswissenschaftlichen Studiengang Public History – beide stehen in enger Kooperation mit außeruniversitären Einrichtungen und Partnerinstitutionen – sowie dem wirtschaftswissenschaftlichen Studiengang Economic Policy Consulting, welcher Studierende in die Lage versetzt, Fach- und Führungsaufgaben zu übernehmen und aktive Politikberatung zu betreiben. In der Sportwissenschaft werden die beiden Studiengänge Sports Science und Management & Consulting in Sports mit Hilfe und im Sinne der forschungsorientierten Lehre und mit dem zweiten Fokus auf Internationalisierung neu konzipiert und realisiert. Die Internationalisierung von Studiengängen spielt auch in der Studiengangentwicklung der Biologie und Philosophie (History, Philosophy and Culture of Science [HPS+]) eine wichtige Rolle. In der Biologie wird darüber hinaus die kompetenzorientierte Ausrichtung von Prüfungen durch innovative und bedarfsorientierte Fortbildungsformate für Lehrende und durch die Förderung eines Kulturwandels vorangetrieben. (7) In die Fläche. Das übergeordnete Ziel im Maßnahmenfeld 7 „In die Fläche“ ist es, den Transfer neuer Lehr-Lern-Formate in die fachbezogene Lehre anzuregen und die Verantwortlichen bei der curricularen Umgestaltung ihrer Studienangebote zu unterstützen. Zur Zielerreichung werden zum einen hochschuldidaktische Begleitangebote zu den Themen Heterogenität, Forschendes Lernen, Förderung von

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Flora Mehrabi Eigenständigkeit und Projektmanagement in der Lehre konzipiert und durchgeführt sowie die Unterstützung der studentischen Initiativprojekte forciert. Insgesamt werden in diesem Maßnahmenfeld Teilprojekt-übergreifende Maßnahmen zur Unterstützung von Transfer- und Verstetigungsprozessen ergriffen.

Die Angebote in allen Förderlinien von inSTUDIESplus richten sich insbesondere an Master-Studierende sowie fortgeschrittene Bachelor-Studierende, wobei einige Projekte den Prinzipien des peer learning folgen. In Einzelfällen vermitteln nicht nur Master-Studierende ihr fortgeschrittenes Wissen und Können an Bachelor-Studierende, sondern wirken auch Doktorand_innen in forschungsorientierten Lehrveranstaltungen und Lehrforschungsprojekten mit, sodass Studierende aktuelle Dissertationsprojekte kennenlernen und, von Doktorand_innen angeleitet und begleitet, in komplexe Forschungsprojekte einbezogen werden (vgl. Ruppel & Straub sowie die einschlägigen Beispiele, in diesem Band). Die entwickelten Konzepte sind nicht nur um Peer-Learning-Elemente, sondern auch um kompetenzorientierte Prüfungsverfahren erweitert worden, die den Lernerfolg der Studierenden hinsichtlich der Fähigkeit zum eigenständigen Forschen erfassen. Für eine ausdifferenzierte Methodenausbildung wurde ein interdisziplinäres Methodenzentrum gegründet (siehe den Beitrag von Weins, Jeworutzki, Gerhartz, Kohlbrunn, Kuhlmann & Weller, in diesem Band), welches auf Erfahrungen der RUB mit der Research School, der fakultätsübergreifenden Graduiertenschule und der Professional School of Education, der Querstruktur für das Lehramtsstudium, zurückgriff und erstmalig fakultätsübergreifend Angebote der Methodenlehre für Bachelor- und Master-Studierende bereitstellt. Das Methodenzentrum bietet vielfältige Angebote im Bereich quantitativer und qualitativer Methoden empirischer Forschung an, die Interessierten aus den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zugutekommen. Neun Jahre BMBF-Förderung für Lehre bringen erstaunlich viel Bewegung auf den Campus. Durch den Qualitätspakt Lehre erreichte die Lehrentwicklung und -qualität der RUB in einem relativ kurzen Zeitraum ein deutlich

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stärkeres Gewicht neben der Forschung. Mithilfe der Drittmittelförderung werden Bedingungen geschaffen, welche die Universitätsmitglieder auf breiter Fläche in einen Entwicklungs- und Innovationsprozess involvieren und an dem sich alle Statusgruppen – von den Studierenden sowie der Professorenschaft bis hin zur Universitätsverwaltung – gemeinsam und höchst engagiert in einem campusweiten Projekt zur Verbesserung der Beratung und Lehre an der RUB einbringen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und bietet erneut Inspiration für Lehre am Puls der Zeit. Literatur Brown, Rita Mae (1983): Sudden Death. New York. Kopcha, Theodore J., Rieber, Lloyd P. & Walker, Brandy B. (2016): Understanding university faculty perceptions about innovation in teaching and technology. In: British Journal of Educational Technology 5/2016: S. 945-957. Fleuren, Margot, Wiefferink, Karin & Paulussen, Theo (2004): Determinants of innovation within health care organizations. In: International Journal for Quality in Health Care 2/2004: S. 107-123. Fleuren, Margot A.H., Paulussen, Theo G.W.M., Dommelen, Paula van & Buuren, Stef van (2014): Towards a measurement instrument for determinants of innovations. In: International Journal for Quality in Health Care 5/2014: S. 501-510. Gannawaya, Deanne, Hintonb, Tilly, Berrya, Bianca & Moorea, Kaitlin (2013): Cultivating change: disseminating innovation in higher education teaching and learning. In: Innovations in Education and Teaching International 4/2013: S. 410-421. Collingwood, Vaughan (1979): Planning of Innovation in Higher Education. Innovations in Education and Training International. In: Programmed Learning and Educational Technology 1/1979: S. 8-15.

II

State of the Art und Perspektiven

Forschendes Lernen an der RUB – Erfahrungen, Chancen, Herausforderungen und Entwicklungspotenziale aus der Sicht von Lehrenden Katharina Mojescik, Jessica Pflüger, Caroline Richter & Carla Scheytt Einleitung Das Lehrkonzept des „Forschenden Lernens“ (FL) erlebt im aktuellen hochschuldidaktischen Diskurs eine Renaissance. Auch an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) ist Forschendes Lernen als didaktisches Prinzip bereits seit einigen Jahren curricular verankert (vgl. die Beiträge von Ricken und Mehrabi in diesem Band). Seit 2010 werden innovative Lehrformate des Forschenden Lernens im Rahmen eines vom Rektorat initiierten Universitätsprogramms personell und finanziell gefördert (vgl. Ricken in diesem Band). Zudem fördert die inSTUDIES-Projektlinie „Forschendes Lernen“ (mit BMBF-Mitteln aus dem Qualitätspakt Lehre) die Konzeption und Durchführung von LehrLern-Formaten, die sich an didaktischen Prinzipien des Forschenden Lernens orientieren und Studierenden das aktive Forschen im Studium ermöglichen (vgl. Wirth sowie die Einleitung der Herausgeber in diesem Band). Beide Programme veranschaulichen, dass dem Forschenden Lernen eine wesentliche Rolle bei der Weiterentwicklung des Studiums an der RUB zugeschrieben wird. Das soziologische Forschungsprojekt FLOAT („Forschendes Lernen aus Perspektive von Organisation und Akteuren“) untersucht daher begleitend die Umsetzung Forschenden Lernens in dieser Universität. In diesem Beitrag soll anhand illustrativer Interviewpassagen skizziert werden, wie das didaktische Konzept Forschendes Lernen in der Lehrpraxis unterschiedlicher Fachdisziplinen verstanden und gelebt wird, welche Chancen und Herausforderungen sich hieraus aus der Sicht von Lehrenden ergeben, und welche Entwicklungspotenziale ihrerseits thematisiert werden. Dies

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_4

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erfolgt sehr zugespitzt und weitgehend deskriptiv (für ausführlichere und theoretisierende Beiträge siehe Mojescik, Pflüger & Richter 2019; Mojescik, Pflüger & Richter i.E. und Mojescik, Pflüger, Richter, Ricken, Scheytt & Schmohr i.E.). Das Forschungsprojekt FLOAT Das Forschungsprojekt FLOAT untersucht institutionelle Rahmenbedingungen, Praktiken und Deutungen bezüglich Forschenden Lernens seitens der Universität und Lehrenden exemplarisch an der RUB. Um die Wirkung der erwähnten Programme auf die didaktische und inhaltliche Ausrichtung der individuellen Lehrpraxis sowie die Deutungen der antragstellenden Lehrpersonen zu analysieren, wurden 22 problemzentrierte Interviews (nach Witzel 2000) geführt, davon 16 mit Lehrenden unterschiedlicher Statusgruppen (Professor_innen, promovierende und promovierte wissenschaftliche Mitarbeiter_innen) sowie unterschiedlicher Fächer (vier Interviews in den Naturwissenschaften, fünf in den Geisteswissenschaften und sieben in den Gesellschaftswissenschaften) sowie sechs Interviews mit Organisationsvertreter_innen, die im Rahmen von spezifischen Förderprogrammen involviert sind. Die Interviews mit Lehrenden thematisierten sowohl das Lehr- und Forschungsverständnis der Befragten als auch ihre Motivation für die Antragstellung im Rahmen der Förderprogramme sowie ihre Erfahrungen mit Formaten Forschenden Lernens. Die Interviews mit Organisationsvertreter_innen fokussierten (sich verändernde) institutionelle Faktoren des Forschenden Lernens an der RUB. Durch die Einbindung beider Perspektiven sollte ein exploratives und doch in gewissem Maße umfassendes Verständnis der Umsetzung von FL an der RUB generiert werden. Aus diesem Grund wurde bei der Zusammensetzung des Samples auch darauf geachtet, verschiedene Fachdisziplinen und Fakultäten einzubeziehen. Ausgewertet wurden die Interviews in Anlehnung an gängige inhaltsanalytische Verfahren (Kuckartz 2018), dabei mehrfach kodiert, kategorisiert und

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vergleichend betrachtet. Interpretiert wurden die Daten unter Bezug auf unterschiedliche theoretische, organisationssoziologische Konzepte (Neo-Institutionalismus, Mintzbergs „Organizational Configurations“). So zeigt sich, dass Lehrende als Akteure im Spannungsfeld von Lehre und Forschung einerseits mit den veränderten (internationalen) Rahmenbedingungen von Hochschulen konfrontiert, andererseits als zentrale ‚Gestalter‘ maßgeblich an der (lokalen) Umsetzung dieser Entwicklungen beteiligt sind. Gemeinsamkeiten und Differenzlinien in der Praxis Forschenden Lernens Über Begrifflichkeiten, Abgrenzungskriterien und konzeptuelle Grundlagen Forschenden Lernens wurde und wird viel geschrieben (vgl. Huber 2009; Huber 2014; Reinmann 2015; vgl. auch Straub et al. in diesem Band). Als wesentliches Definitionsmerkmal für FL gilt unter anderem, dass sich solche Formate am idealtypischen Verlauf eines (kompletten) Forschungszyklus – „von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse“ – orientieren (Huber 2009, S. 11). Eben diese Orientierung taucht auch in unseren Interviews mit Lehrenden als zentrale Gemeinsamkeit auf und, so wird mehrfach betont, stellt einen wesentlichen Mehrwert von FL dar: „Das finde ich einen ganz großen Wert, ja. […] den Gesamtzirkel zu durchlaufen, ist irgendwie schon das Schönste. Da wo das irgendwie geht.“ (Mitarbeiter_in/WiMi Gesellschaftswissenschaften, Abs. 13)

Mit Blick auf dieses zentrale Kriterium Forschenden Lernens finden wir in der Lehrpraxis unseres Samples – und das ist möglicherweise einer unserer kontraintuitiven Befunde – zunächst keine systematischen Unterschiede in der Ausgestaltung von FL entlang fachdisziplinärer Grenzen. Es finden sich sowohl in den Naturwissenschaften, als auch in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften eine starke Orientierung an dieser Idealform des FL, aber auch Formate, die eher dem didaktischen Prinzip des forschungsorientierten Lernens entsprechen

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(zur Unterscheidung von forschendem, forschungsorientiertem und forschungsbasiertem Lernen siehe z.B. Huber 2014). Da sich bekanntermaßen jedoch Forschungsverständnis und Forschungspraktiken zwischen verschiedenen Fachdisziplinen unterscheiden (z.B. Knorr-Cetina 1999), weist auch unser Sample disziplinär unterschiedliche Schwerpunksetzungen in der konzeptionellen Ausrichtung bei der Umsetzung Forschendes Lernens auf. Wenngleich disziplinübergreifend die Orientierung am gesamten Forschungsprozess beobachtet werden kann, werden innerhalb der betrachteten Disziplinen unterschiedliche Phasen des Forschungsprozesses unterschiedlich stark akzentuiert. In den Naturwissenschaften sind das forschende Erlernen von praktischen experimentellen Kenntnissen sowie die Involviertheit der Studierenden in Forschungsprojekte, z.B. in der Form, dass Studierende Doktorand_innen im Labor bei ihren Versuchen unterstützen, schon lange genuin in Lehrpraktiken und Studienstrukturen verankert. Im Rahmen der von uns untersuchten Formate des Forschenden Lernens rückt jedoch eine Phase des Forschungsprozesses in den Vordergrund, die bislang in naturwissenschaftlichen LehrLern-Formaten nicht im Mittelpunkt stand: die Entwicklung eigenständiger Forschungsfragen. Dies verdeutlicht z.B. der folgende Interviewausschnitt: „Und ich glaube, wenn wir dahinkommen möchten, und das wäre zumindest mein Anspruch, wenn ich sage, ich will Forschendes Lernen unterrichten, dann muss ich glaube ich als erstes diesen Schalter umlegen und sagen, ich habe hier einen Forscher vor mir. Ich habe hier nicht einen Studenten, der was lernen muss oder dem ich was eintrichtere, sondern ich muss rausfinden, wie ich den dazu kriege, dass er Fragen stellen kann.“ (Prof. Naturwissenschaften, Abs. 26)

In den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften ist dagegen die konzeptionelle Entwicklung von Fragestellungen bereits grundlegender Bestandteil der Curricula und Prüfungsformate, wohingegen in Formaten des Forschenden Lernens zunehmend auch die Anbindung an reale Forschung in die Lehrpraxis übergeht. Diese Entwicklung scheint im Feld noch legitimierungsbedürftig zu sein; es wird beispielsweise die Sorge ausgedrückt, dass sich Studierende ausgenutzt fühlen könnten:

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„Zum einen will man eben der individuellen Betreuung gerecht werden, zum anderen muss man die Masse im Blick behalten und zum Dritten muss man das im Blick behalten, wofür man ja auch noch da ist, also jenseits der Lehre, so dass eigentlich Formate wie Forschendes Lernen ganz zwangsweise resultieren, weil man eben die hohe Lehrbelastung dann irgendwie versuchen muss geschickt mit der eigenen Forschung zu verbinden, ohne dass die Studierenden den Eindruck haben, naja der benutzt uns nur als Forschungskaninchen.“ (Prof. Geisteswissenschaften, Abs. 3)

Beide Akzentuierungen werden von den Lehrenden jeweils als etwas Neuartiges in ihrer Lehrpraxis beschrieben – wenngleich diese Praktiken im jeweils anderen Fach bereits etabliert sind. Diese Beobachtung unseres (begrenzten) empirischen Materials könnte und sollte unseres Erachtens noch in weiteren, breiter angelegten Studien vertiefend untersucht werden, da sie auch theoretisch interessant scheint (z.B. mit Blick auf die Frage, ob sich Lehrpraktiken zwischen Disziplinen in Folge verschärften Profil- und Konkurrenzdrucks zwischen Universitäten angleichen, wie neo-institutionalistisch argumentiert werden könnte). Obiges Zitat verweist auch darauf, dass die Forschungstätigkeiten der Befragten das Verständnis (und die Umsetzung) Forschenden Lernens prägen. Vergegenwärtigt man sich, dass Lehrende in deutschen Universitäten, die sich zumeist (noch) der Humboldtʼschen Leitidee verpflichtet fühlen, in der Regel auch Forschende sind, so überrascht dieser Befund kaum. Da die akademische Sozialisation in den jeweiligen Fachdisziplinen unterschiedlich verläuft und gleichzeitig hoch individuell geprägt sein kann, ist die Umsetzung von Formaten des Forschenden Lernens eng an die jeweilige Lehrperson, ihre eigenen akademischen Erfahrungen und an ihr (fachspezifisch geprägtes) individuelles Forschungsverständnis geknüpft. Eher untergeordnet scheint demgegenüber das eigene Verständnis der Lehrenden als Didaktiker_innen. Elementar bei der Ausgestaltung von Formaten Forschenden Lernens scheint deshalb – über die Disziplinen hinweg – die akademische Sozialisation der Lehrenden zu sein. Die Erfahrungen im Studium dienen als Schablone für die Ausgestaltung der eigenen Lehrtätigkeit. Das eigene positive Erleben motiviert die Lehrenden, selbst forschende Formate mit einem hohen Aufwand anzubieten. So werden insbesondere solche Lehrende gelobt, die Forschung und Lehre miteinander verbunden haben, wie das folgende Zitat zeigt:

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Katharina Mojescik, Jessica Pflüger, Caroline Richter & Carla Scheytt „Ich glaub, wenn ich so auf meine eigene Biographie so zurückblicke, dann waren das vor allem Dingen ehemalige Hochschullehrer, die ich selbst hatte, […] die weltberühmt in ihrem Fach waren und die trotzdem Zeit gefunden haben, mit jedem einzelnen Studierenden zu sprechen und jedes studentische Anliegen als gleichberechtigt wichtig zu einem internationalen Vortrag oder einem DFG-Antrag [verstanden haben, Anm. der Autorinnen]. Als Studierende hatten wir immer den Eindruck, wir partizipieren an Forschung. Das konnte daraus bestehen, dass Lehrpersonen im Seminar selbst Ideen entwickelt haben und man ihnen beim Verfassen des nächsten Artikels zuschauen konnte beziehungsweise eingreifen konnte oder eben, dass sie diskutiert haben. […] Und natürlich waren wir alle stolz wie Oskar, wenn man dann irgendwie dann in einem Aufsatz in der Fußnote erwähnt wurde, weil man da den Hinweis gegeben hatte.“ (Prof., Geisteswissenschaften, Abs. 11)

Der Interviewte hebt somit besonders die Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden hervor und deutet vor diesem Hintergrund seine eigene Rolle als Lehrender. Diese Erfahrungen dienen als Motivation, Formate anzubieten, die Studierenden Partizipation an Forschung ermöglichen – auch dies ist ein Befund, den wir in ähnlicher Form mehrfach finden. Chancen und Herausforderungen Forschenden Lernens Die Chancen Forschenden Lernens werden in der hochschuldidaktischen Literatur eingehend diskutiert (z.B. Euler 2005). Meist steht dabei die Förderung der Potenziale von Studierenden im Mittelpunkt. Unser Material weist jedoch auch daraufhin, dass solche Formate für Studierende und Lehrende gleichermaßen gewinnbringend sein können.1 Denn wie obiges Zitat bereits andeutet, profitieren nicht nur die Studierenden von der Partizipation in forschungsorientierten Formaten. Sicherlich dient FL entscheidend dazu, Studierenden die Gelegenheit zu geben, Forschen zu erlernen und sich das Handwerkszeug und die Kompetenzen für eine wissenschaftliche Herangehensweise praktisch zu erschließen. Aber auch die Lehrenden können (für ihre Rolle als Forschende) Vorteile aus solchen 1

Auch für Hochschulen scheint Forschendes Lernen ein auf mehrfache Weise attraktives Format zu sein. Diese Perspektive kann jedoch hier nicht weiter ausgeführt werden (siehe Mojescik, Pflüger & Richter 2019).

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Formaten ziehen. Wenngleich Befragte aller Statusgruppen die Motivation für die Ausrichtung auf Forschendes Lernen zunächst intrinsisch begründen, zeigt sich, dass sie die Formate auch für Forschungsleistung nutzbar machen. Der individuelle Mehrwert kann dabei divers ausfallen. So wird eigene Drittmittelforschung in der Lehrpraxis konzipiert, durchgeführt oder (weiter-)analysiert; die Zusammenarbeit mit Praxispartner_innen wird durch deren Einladung zu Veranstaltungen intensiviert; es wird gemeinsam mit Studierenden publiziert; die Formate werden genutzt, um zielgerichtet geeignete Promovend_innen (nicht zuletzt als Gewinn für die eigene Forschung) zu akquirieren; oder, siehe Zitat oben, dadurch, dass sich instruktive Ideen für die eigene Forschung im Austausch mit den Studierenden entwickeln. Für Lehrende bietet ein solches Lehrformat also das Potenzial, ihre Lehre mit der reputationsrelevanteren Forschung synergetisch zu verknüpfen und diese „Überlebensstrategie“ (siehe Bloch & Würmann 2012) systematisch auszubauen. Bei der Umsetzung dieser Strategie steht jedoch immer wieder der hohe Betreuungsaufwand als Hindernis bzw. Herausforderung solcher Formate im Weg. Ein hoher Betreuungsaufwand entsteht gerade bei sehr heterogenen Studierendengruppen mit unterschiedlichen theoretischen und methodischen Vorkenntnissen. Zudem verläuft ein Forschungsprozess – wenn er sich an realen Forschungsbedingungen orientiert – nie geradlinig, sondern muss in der Praxis immer wieder realen Bedingungen angepasst werden (z.B. im Versuchsaufbau, in der Auswahl von Interviewten, in der Arbeit mit historischen Quellen), wie auch das folgende Zitat illustriert: „dann merkt man, dass man hauptsächlich mit Studierenden zu tun hat, oder doch in einem großen Maße mit Studierenden zu tun hat, die hauptsächlich die Überforderung sehen und nicht das Reizvolle an dem Thema et cetera. Die vor lauter Überforderung allmählich auch vergessen, wie interessant das Thema eigentlich ist.“ (WiMi, Gesellschaftswissenschaften, Abs. 11)

Um die Studierenden nicht zu überfordern, ist daher eine intensive Betreuung notwendig. So merken einige Nachwuchswissenschaftler_innen in unserem Sample an, dass aufwändige Lehrformate wie FL ihrer wissenschaftlichen Qualifizierung nicht dienlich sind, da deren Umsetzung intensive individuelle

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Betreuung der Studierenden fordert. Dieser Betreuungsaufwand lässt sich nur schwerlich mit der eigenen wissenschaftlichen Karriere verbinden. Professor_innen merken hinsichtlich des Aufwands an, dass exzellente Lehre im Gegensatz zu exzellenter Forschung nicht gleichsam anerkannt und reputationsförderlich ist. Entwicklungspotenziale in der Praxis Forschenden Lernens Da Forschendes Lernen in der Durchführung vergleichsweise aufwändig und betreuungsintensiv ist, wird in unseren Interviews mit Lehrenden die Förderung mit finanziellen Mitteln und vor allem Personalmitteln als Voraussetzung für die Realisierung der beantragten Vorhaben durchgängig betont. Anderweitig hätten die Interviewten laut eigener Angabe von der Umsetzung abgesehen. Daher sehen die Befragten die Notwendigkeit finanzieller Unterstützung und plädieren für eine Weiterführung institutioneller Förderungen. Dieser Wunsch nach langfristiger Förderung trifft gleichzeitig auf den Anspruch der Organisationsvertreter_innen, dass erfolgreiche Formate in den jeweiligen Fakultäten etabliert und verstetigt werden, ohne weiterhin Teil der Projektförderung zu sein. Explizit gewünscht wird es auch, den stärkeren Austausch über Lehrinhalte und Lehrpraxis innerhalb der Fakultäten bzw. an den Lehrstühlen zu fördern. Hochschuldidaktische Weiterbildungsangebote speziell zur Umsetzung von Forschendem Lernen, zum Umgang mit Chancen und Herausforderungen, wie sie zuletzt auch bereits an der RUB stattgefunden haben, können dazu flankierend sinnvoll sein. Unsere Empirie lässt außerdem vermuten, dass bezüglich Formaten des Forschenden Lernens auch Austausch über Fakultätsgrenzen hinweg sinnvoll ist, da sich nur graduelle Abstufungen in der Umsetzung von Forschendem Lernen entlang disziplinärer Grenzen gezeigt haben. Besonders interessant scheint uns zudem, die eigene Lehrsozialisation individuell (oder in geeignetem Rahmen) zu reflektieren, da diese augenscheinlich die Lehrpraxis prägt und gleichzeitig mit der Forschungstätigkeit verbunden

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ist. Lehre und Forschung stehen in enger Verbindung, aber auch in Konkurrenz zueinander. Die Lehrenden kritisieren insbesondere die fehlende Anerkennung ihrer Lehrtätigkeit im Vergleich zur Forschung. Vor allem für die Durchführung der innovativen und zeitaufwändigeren Lehrformate wünschen sie sich deshalb mehr Anerkennung. Die kompetitive, institutionelle Förderung wird hierzu als erster Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren Anerkennungskultur honoriert. Darüber hinaus werden jedoch noch weitere Möglichkeiten aufgeworfen: beispielsweise die Weiterförderung oder Verstetigung besonders erfolgreicher Formate, oder die Verleihung eines universitätsweiten Lehrpreises. Literatur Bloch, Roland & Würmann, Carsten (2012): Außer Konkurrenz? Lehre und Karriere. In: Die Hochschule 2/2012: S. 199-324. Euler, Dieter (2005): Forschendes Lernen. In: Wunderlich, Werner & Spoun, Sascha (Hg.) (2005): Studienziel Persönlichkeit: Beiträge zum Bildungsauftrag der Universität heute. Frankfurt a.M./New York: S. 253-272. Huber, Ludwig (2004): Forschendes Lernen. 10 Thesen zum Verhältnis von Forschung und Lehre aus der Perspektive des Studiums. In: Die Hochschule 13/2004: S. 29-49. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: Huber, Ludwig, Hellmer, Julia & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld: S. 9-35. Huber, Ludwig (2014): Forschungsbasiertes, Forschungsorientiertes, Forschendes Lernen: Alles dasselbe? Ein Plädoyer für eine Verständigung über Begriffe und Entscheidungen im Feld forschungsnahen Lehrens und Lernens. In: Das Hochschulwesen 62/2014: S. 32-39. Knorr-Cetina, Karin (1999): Wissenskulturen. Frankfurt a.M. Kuckartz, Udo (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 4. Auflage. Weinheim/Basel.

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Mojescik, Katharina, Pflüger, Jessica & Richter, Caroline (2019): Ökonomisierung universitärer Lehre? Befunde zur universitären Transformation am Beispiel des Forschenden Lernens. In: Burzan, Nicole (Hg.) (2019): Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. Mojescik, Katharina, Pflüger, Jessica & Richter, Caroline (i.E.): Mintzberg revisited: Perspectives from organizational sociology on changing universities, using the example of teaching. Mojescik, Katharina, Pflüger, Jessica, Richter, Caroline, Ricken, Judith, Scheytt, Carla & Schmohr, Martina (i.E.): Lehrende sind Forschende. Die Lehrpraxis des ‚Forschenden Lernens‘ soziologisch betrachtet. Reinmann, Gabi (2015): Heterogenität und forschendes Lernen: Hochschuldidaktische Möglichkeiten und Grenzen. In: Klages, Benjamin, Bonillo, Marion & Bohnmeyer, Axel (Hg.) (2015): Gestaltungsraum Hochschullehre. Leverkusen: S. 121-137. Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung 1/2000: Art. 22.

Forschendes Lernen aus Sicht der Wissenschaftsdidaktik Peter Salden Wissenschaftsdidaktik beschäftigt sich damit, wie Wissenschaft mit ihren unterschiedlichen fachlichen und überfachlichen Facetten gelehrt und gelernt werden kann – sei es innerhalb oder außerhalb der Institution Hochschule. Wieso ist das notwendig? Forschergeist begleitet uns von Kindesbeinen an. Doch was in jedem Menschen an wissenschaftlichem Geist vorhanden ist, macht nicht aus jedem später auch wirklich eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler. Dies erfordert Fertigkeiten, die sich zu einer spezifischen Form systematischen Denkens und Handelns zusammenfügen – einer wissenschaftlichen Arbeitsweise. Wissenschaftliches Arbeiten erfordert zudem Wissen und methodische Kompetenz in einem Fach, dessen Wissens- und Methodenbestand man dank der wissenschaftlichen Arbeitsweise weiterentwickeln kann. Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zu werden, ist ein Lernprozess, der durch Lehre unterstützt wird. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass Forschendes Lernen als Rahmenkonzept für solche Lernprozesse förderlich ist. Der folgende Text geht dem – in aller Kürze – nach. Begriff und Gegenstand der Wissenschaftsdidaktik Die Frage nach Erwerb und Vermittlung wissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweise lässt sich historisch weit zurückverfolgen. Der Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner beispielsweise führt sie bis auf Platons Höhlenerzählung zurück, in der er eine Art „Urmodell wissenschaftlichen Lehrens und Lernens“ sieht (Benner 2020, S. 15). Der Begriff „Wissenschaftsdidaktik“ ist derweil viel jünger und findet sich erst seit den 1960er Jahren. Sein Auftreten fällt mit der Zeit der Hochschulreform zusammen, in der, ausgehend von den neugegründeten Universitäten der Bundesrepublik, intensives Nachdenken

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_5

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darüber einsetzte, was die Bildung und Ausbildung an einer wissenschaftlichen Institution ausmacht. Die erste neugegründete Universität der BRD war die Ruhr-Universität Bochum (RUB). Folgerichtig lassen sich die Spuren der Diskussion um Wissenschaftsdidaktik hier besonders früh ausmachen. So fanden beispielsweise im Sommersemester 1969 an der RUB eine Ringvorlesung und ein Kolloquium zum Thema „Wissenschaft und Lehre“ statt, die vom Rektor sowie vom Institut für Pädagogik der RUB angestoßen worden waren (Schaller 1970a, S. 3). Im Nachgang dieser Veranstaltungen erschien eine Publikation, die für den frühen Begriff von Wissenschaftsdidaktik elementare Motive enthält. Eines dieser Motive ist der Hinweis darauf, dass es bei der Ausbildung an einer Hochschule nicht um die Vermittlung eines abschließend definierten Bildungskanons gehe (wie man ihn für die Schule vermuten könnte; Schaller 1970b, S. 6) und auch nicht nur um praktische Kompetenzen zur Berufsbefähigung (im Sinne dessen, was heute als „employability“ verstanden wird; Saß 1970, S. 28). Im Zentrum stehe vielmehr die Wissenschaft. Eine Wissenschaft sei allerdings nicht allein durch die Angabe ihrer Inhalte zu beschreiben (da sich diese nicht vollständig erfassen ließen) und auch nicht allein durch ihre Methodik (da Methodik unvollkommen sei und sich stetig wandele). Stattdessen sei Wissenschaft beschrieben durch „eine bestimmte Art des Verhaltens zu Methoden und Inhalten, durch die Art des kritischen Umgangs mit beiden“ (ebd., S. 31). Kennzeichnend seien dabei z.B. eine fragende Grundhaltung, kritische Reflexion, Kreativität und Kommunikation. Versteht man den Gegenstand eines wissenschaftlichen Bildungsganges so, dann muss er die Befähigung zur Teilhabe an Wissenschaft und zur selbstständigen Ausübung von Wissenschaft in den Mittelpunkt stellen. Ein anderes Motiv, das sich (nicht nur) in den Bochumer Diskussionen jener Zeit findet, ist die Reflexion über den Zusammenhang von Wissenschaft, Didaktik und Kommunikation. Hier ging es darum, dass wissenschaftliche Tätigkeit immer mit der Vermittlung und dem Erwerb wissenschaftlicher Erkenntnis und einer entsprechenden Haltung einhergehe, d.h., dass Wissenschaft ohne kommunikatives Geben und Nehmen nicht möglich sei.

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Sich selbst und seine Ideen verständlich zu machen sowie andere mit ihren Ideen zu verstehen und darauf aufzubauen, sei für Wissenschaft elementar. In diesem Verständnis würde sich aber der Gegensatz von Forschung und Lehre auflösen, sodass „Lehre vielmehr nichts anderes ist als die Fortsetzung des Wissenschaftsprozesses, der in der Forschung abläuft“; demzufolge habe „Wissenschaftsdidaktik nicht nur eine Funktion für die Lehre, sondern in ebenso unverzichtbarem Maße für die Forschung“ (ebd., S.32f.; vgl. Schaller 1970b, S. 7). Lehre hat aus wissenschaftsdidaktischer Perspektive also „ihre Wurzeln im Betreiben der Wissenschaft selbst“ (Huber 1999, S. 30). Egal, ob im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen, Doktorandinnen und Doktoranden oder Studentinnen und Studenten: Eine Wissenschaftlerin bzw. ein Wissenschaftler sei in unterschiedlicher Weise immer mit Vermittlung und damit letztlich mit Didaktik befasst. Zusammengefasst bedeutet dies: Wissenschaftsdidaktik beschäftigt sich mit der allgemeinen Frage, wie Menschen zur Ausübung von Wissenschaft befähigt werden können. Sie geht davon aus, dass dies nur durch aktive Teilhabe an Wissenschaft geschehen kann und dass Wissenschaft tatsächlich genau so angelegt ist: als Teilhabe, Kommunikation und gemeinsame kritischkonstruktive Weiterentwicklung des jeweiligen Gegenstands. Sinnvoll ist demzufolge also auch nicht die Trennung von Forschung und Lehre, sondern der Einbezug der Studierenden in die Forschung als wesentlicher Bestandteil der Lehre (Schaller 1970b, S. 6ff., 15f.). Wissenschaftsdidaktik und Forschendes Lernen Die genannte Betrachtungsweise des Zusammenhangs von Wissenschaft und Lernen wurde von ihren Anhängerinnen und Anhängern auch als Abgrenzung gegen ein zu technisches Verständnis von Didaktik verstanden. Angesprochen war damit die Sorge, dass ein überzogener Glaube allein an didaktische Lehrmethoden der Komplexität wissenschaftlicher Ausbildung nicht angemessen wäre. Der Hochschuldidaktiker Ludwig Huber schrieb rückbli-

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ckend davon, dass Wissenschaftsdidaktik „eine zu enge (technologische) Auffassung von Lehre als Unterricht, von Hochschuldidaktik als Unterrichtstechnologie verhindern“ sollte (1999, S. 30). Der Pädagoge Hartmut von Hentig warnte als Fürsprecher von Wissenschaftsdidaktik gar vor einer „Generalmanipulation durch die Lerntechniker“ (1970, S. 24), der er seine Überlegungen entgegenstellte. Anlass zur Sorge besteht allerdings auch umgekehrt. Wenn man die genannten Grundideen von Wissenschaftsdidaktik zu orthodox versteht, läuft man Gefahr, Didaktik letztlich zu vernachlässigen. Denn im ungünstigen Fall führt die Annahme, dass sich Didaktik in jeder Wissenschaftstätigkeit vollzieht und man vor allem durch Teilhabe daran zur Wissenschaftlerin bzw. zum Wissenschaftler wird, zu einem klassischen Irrtum: dass nämlich gute Forschung automatisch mit guter Lehre einhergeht. Nach allem, was man heute aus der Hochschulforschung weiß, ist dies nicht der Fall. So gibt es deutliche Hinweise darauf, dass zwischen Lehrqualität und Forschungserfolg praktisch kein Zusammenhang besteht (Schneider & Mustafic 2015, S. 9). Zum anderen scheint die Voraussetzung einer vorstehend beschriebenen Wissenschaftsdidaktik – dass nämlich Lehrende ihre Forschung selbstverständlich in den Austausch mit Studierenden einbringen und diese Gelegenheit haben, sich selbst auf einen solchen Weg zu machen – in heutigen Massenuniversitäten nicht mehr gegeben: „Die Einheit von Forschung und Lehre, vielfach beschworen und zum Charakteristikum der Universitäten schlechthin deklariert, fällt schnell in sich zusammen, wenn sie empirisch untersucht wird“ (Rzadkowski 2018, S. 69). Ausgehend von den ohne Frage bedeutsamen und auch weiterhin aktuellen Überlegungen der konzeptionell orientierten Wissenschaftsdidaktik der 1960er/70er Jahre stellt sich also doch die Frage, welche Lehrmethodik den Erwerb wissenschaftlicher Kompetenzen unterstützen kann. Es verwundert nicht, dass hier im Zusammenhang mit Wissenschaftsdidaktik als Rahmenkonzept das Forschende Lernen stets ein Thema war und ist. Dies gilt sowohl für allgemeine als auch für fachspezifische Überlegungen zur Wissenschaftsdidaktik, wie die nachfolgenden Beispiele aus der einschlägigen Literatur zeigen.

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Als eine allgemeine Betrachtung lässt sich die „Skizze einer universitären Wissenschaftsdidaktik“ des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Nieke nennen. Er hebt das Forschende Lernen als eines der zentralen Formate hervor, die aus wissenschaftsdidaktischer Perspektive erfolgversprechend seien. Er versteht hierbei unter dem Forschenden Lernen eine Vorgehensweise, bei der die eigene Entwicklung einer echten Forschungsfrage sowie selbstständiges Vorgehen zur Beantwortung einer solchen Frage kennzeichnend sind (Nieke & von Freytag-Loringhoven 2014, S. 33ff.; vgl. ebenfalls allgemein zum Zusammenhang von Wissenschaftsdidaktik und Forschendem Lernen: Benner 2020, S. 305ff.). Fachspezifisch hat beispielsweise Nora Rzadkowski für ihre Profilierung einer rechtswissenschaftlichen Wissenschaftsdidaktik das Forschende Lernen als eines der didaktischen Modelle benannt, die wissenschaftlichem Lernen in diesem Fach dienen können. Wie auch Nieke bezieht sie sich dabei auf den grundlegenden Text der Bundesassistentenkonferenz von 1970 (BAK 1970; vgl. Reinmann, in diesem Band) und hebt besonders hervor, dass die Selbstständigkeit in der Themenwahl und auch in der Bearbeitung beispielsweise den Unterschied zu problembasierten Lernmodellen ausmache (Rzadkowski 2018, S. 79ff.; vgl. für ein anderes fachspezifisches Beispiel Schurig 2007). Wichtig ist, dass sich sowohl in diesen Beispieltexten als auch in anderen Texten zur Wissenschaftsdidaktik und zum Forschenden Lernen zeigt, dass Forschendes Lernen immer komplexer gedacht war als nur als eine bloße Teilhabe an Wissenschaft bzw. ihre selbstständige Erprobung. Deutlich zeigt sich dies schon im Ausgangstext der Bundesassistentenkonferenz; später unternimmt beispielsweise Ludwig Huber den Versuch, Formen Forschenden Lernens näher zu skizzieren und beschreibt dafür Lernsettings, die Lehrende gezielt herstellen und ausgestalten müssten. Hier nennt er z.B. das modellhafte Vorführen und beschreibt Anforderungen an die Gestaltung von Laboraufgaben (Huber 2009, S. 29ff.). Der genannte Text von Huber ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit, Forschendes Lernen sowohl in einer gewissen Abstraktheit für alle Fächer anschlussfähig zu definieren und zugleich zu konkretisieren, was nun genau

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bei Forschendem Lernen methodisch passiert. Hier zeigt sich, dass dies mindestens fachspezifisch, aber auch innerhalb jedes einzelnen Faches recht stark variieren kann. Kein Wunder also, dass der vielfach unterschiedlich definierte Begriff sich beispielsweise gegenüber empirischer Wirksamkeitsforschung als eine schwer greifbare Hydra erwiesen hat. So hat die Wissenschaftsdidaktik im Forschenden Lernen womöglich ihr wichtigstes didaktisches Rahmenkonzept gefunden – aber worin genau es besteht, muss im Detail offenbleiben. Huber schlussfolgert in seinem Text: „Es kommt nicht darauf an, ein bestimmtes, eng umschriebenes Modell des Forschenden Lernens durchzusetzen. Sondern darauf: in diese Richtung zu gehen“ (ebd., S. 31). Dem ist aus wissenschaftsdidaktischer Perspektive zuzustimmen. Nach dem, was inzwischen über Lehre und Lernen in der Wissenschaft und in Hochschulen bekannt ist, reicht dies allein aber nicht aus, um Studierende an Wissenschaft heranzuführen. In ihrer Metastudie über den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf Lernerfolg in der Hochschule kommen Schneider und Preckel (2017, S. 593) zu dem wichtigen Ergebnis, dass es beim Erfolg einer bestimmten Lehrmethode am Ende auf die Umsetzung im Detail ankommt. Das Bekenntnis zu einem Konzept wie dem Forschenden Lernen und seine nominelle Umsetzung sind also keine Gewähr für gute Lehre. Stattdessen beeinflussen viele Faktoren auch im Rahmen eines solchen Konzepts, ob es hält, was man sich von ihm verspricht. Dies sind die vielen kleinen Stellschrauben, die für Forschendes Lernen ebenso wie für jedes andere didaktische Setting gelten, also beispielsweise die Dauer und Güte der Vorbereitung, die Klarheit der Lernziele und die Gestaltung von Rückmeldeprozessen (vgl. ebd.).

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Fazit Fassen wir zusammen, was aus wissenschaftsdidaktischer Perspektive in Hinblick auf Forschendes Lernen gesagt werden kann: •





Teilhabe an Wissenschaft: Um sich eine wissenschaftliche Haltung und eine wissenschaftliche Arbeitsweise aneignen zu können, müssen Studierende an wissenschaftlicher Arbeit teilhaben können und diese auch selbst ausüben. Dies kommt dem Wesen von Wissenschaft entgegen, da alle wissenschaftliche Tätigkeit didaktische Elemente enthält. Didaktische Rahmung: Teilhabe an Wissenschaft allein reicht allerdings nicht aus. Es braucht (allzumal in einer Massenuniversität) einen geeigneten methodisch-konzeptionellen Rahmen, in dem dies geschieht. Hierfür bietet sich Forschendes Lernen an. Methodische Umsetzung im Detail: Ob Forschendes Lernen erfolgreich ist, liegt an seiner Umsetzung im Detail. Dies gilt umso mehr, als dass das Forschende Lernen selbst kaum methodische Vorgaben macht.

Umso wichtiger sind die Setzung unterstützender Rahmenbedingungen, die Forschendes Lernen ermöglichen, sowie die Beratung und Qualifizierung von Lehrenden zu diesem Thema. Schlägt man den Bogen zurück zum Anfang dieses Textes und schaut hierfür noch einmal auf die Ruhr-Universität Bochum, so lassen sich entsprechende Strukturen u.a. in dem entsprechenden finanziellen Förderprogramm der Hochschulleitung sowie in den Beratungsund Qualifizierungsangeboten des Zentrums für Wissenschaftsdidaktik finden. Damit ist auch der Rahmen geschaffen, um die fortlaufende Verständigung über Ziele, Methoden und Gestaltungsoptionen von Wissenschaftsdidaktik und von Forschendem Lernen in dieser Universität – und über sie hinaus – zu führen.

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Literatur Benner, Dietrich (2020): Umriss der allgemeinen Wissenschaftsdidaktik. Grundlagen und Orientierungen für Lehrerbildung, Unterricht und Forschung. Weinheim/Basel. Bundesassistentenkonferenz (BAK) (1970): Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen. Bonn [Neudruck 2009, Bielefeld]. Hentig, Hartmut von (1970): Wissenschaftsdidaktik. In: ders., Huber, Ludwig & Peter Müller (Hg.) (1970): Wissenschaftsdidaktik. Referate und Berichte von einer Tagung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Göttingen: S. 13-40. Huber, Ludwig (1999): An- und Aussichten der Hochschuldidaktik. In: Zeitschrift für Pädagogik 1/1999: S. 25-44. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: ders., Hellmer, Julia & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld: S. 9-35. Nieke, Wolfgang & Freytag-Loringhoven, Konstantin von (2014): Bildung durch Wissenschaft. Skizze einer universitären Wissenschaftsdidaktik. Rostock. Online unter: https://www.uni-rostock.de/storages/unirostock/UniHome/Weiterbildung/KOSMOS/Kosmos_Dokumente/ Nieke_Freytag_Bildung_durch_Wissenschaft.pdf Rzadkowski, Nora (2018): Recht wissenschaftlich. Drei wissenschaftsdidaktische Modelle auf empirischer Grundlage. Baden-Baden. Saß, Hans-Martin (1970): Hochschuldidaktik als Wissenschaftsdidaktik. In: Schaller, Klaus (Hg.) (1970): Wissenschaft und Lehre. Hochschuldidaktische Vorschläge und Versuche. Heidelberg: S. 27-41. Schaller, Klaus (1970a): Vorwort. In: ders. (Hg.) (1970): Wissenschaft und Lehre. Hochschuldidaktische Vorschläge und Versuche. Heidelberg: S. 3. Schaller, Klaus (1970b): Fragestellungen der gegenwärtigen Diskussion zur Hochschuldidaktik. In: ders. (Hg.) (1970): Wissenschaft und Lehre. Hochschuldidaktische Vorschläge und Versuche. Heidelberg: S. 5-17.

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Schneider, Michael & Mustafic, Maida (Hg.) (2015): Gute Hochschullehre: Eine evidenzbasierte Orientierungshilfe. Berlin/Heidelberg. Schneider, Michael & Preckel, Franzis (2017): Variables associated with achievement in higher education: A systematic review of meta-analyses. In: Psychological Bulletin 6/2017: S. 565-600. Schurig, Volker (2007): Wissenschaftsdidaktik: forschendes Lernen in Aktion. In: Merkt, Marianne & Mayrberger, Kerstin (Hg.) (2007): Festschrift für Rolf Schulmeister, Bd. 2: Die Qualität akademischer Lehre. Zur Interdependenz von Hochschuldidaktik und Hochschulentwicklung. Innsbruck: S. 89-113.

Fakultätsübergreifendes Methodenzentrum als Schnittstelle für Forschendes Lernen Cornelia Weins, Sebastian Jeworutzki, Sebastian Gerhartz, Yvonne Kohlbrunn, Nele Kuhlmann & Daniel Weller Einleitung Das hochschuldidaktische Prinzip „Forschendes Lernen“ fordert eine Neuausrichtung universitärer Lehre, die ebenso vielversprechend wie voraussetzungsreich ist: Studierende sollen im Forschenden Lernen „den Prozess eines Forschungsvorhabens […] in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit)gestalten, erfahren und reflektieren.“ (Huber 2009, S. 11) Auf diese Weise sollen im Lehrkontext Forschungsergebnisse entstehen, die „auch für Dritte interessant“ sind (ebd.). Damit unterscheidet sich das Forschende Lernen von tradierten Lehrformaten, in denen vorwiegend die Rezeption von Forschung stattfindet, und fordert eine authentische, das heißt an konkreten Fragestellungen orientierte, methodisch-informierte und kritisch-reflexive Lehr-Lern-Situation im Rahmen der Hochschullehre. Dadurch entsteht die hochschuldidaktische Herausforderung, Studierenden umfassende Fach- und Methodenkompetenzen zu vermitteln und ihnen zugleich möglichst große Freiräume in ihrem Forschungsprozess zu gewähren. An der Ruhr-Universität Bochum (RUB), die das Forschende Lernen „zum zentralen Prinzip didaktischen Handelns“ erhoben hat (vgl. Hellermann, Schmohr, Sekman 2012), wurden und werden im Rahmen verschiedener Förderformate vielfältige forschungsorientierte Lehr-Lern-Formen und übergreifende Beratungs-, Weiterbildungs- und Unterstützungsangebote

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_6

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entwickelt, erprobt und evaluiert, um den angestrebten hochschuldidaktischen Wandel zu ermöglichen (vgl. u.a. die Einleitung sowie die Beiträge von Ricken & Mehrabi sowie Mojescik , Pflüger, Richter & Scheytt, alle in diesem Band). Eine zentrale Schnittstelle stellt dabei das fakultätsübergreifende Methodenzentrum der RUB dar, welches seit 2016 als Teil des inSTUDIESplusProjekts aus Mitteln des Qualitätspakts Lehre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Durch die Ausrichtung der Hochschullehre am Forschenden Lernen wird der Erwerb von Kompetenzen im Bereich empirischer Forschung zu einer Querschnittsaufgabe – ähnlich der Vermittlung wissenschaftlichen Schreibens (Girgensohn 2007, S. 39f.). Das Methodenzentrum versteht sich hier als zentrale Anlaufstelle, um Studierende – aber auch Lehrende – beim Erwerb und der Vermittlung ebenjener Kompetenzen zu unterstützen, indem flexible, an individuellen Studienprofilen und -zielen ausgerichtete Lernangebote zur Verfügung gestellt werden. Im Folgenden wird zunächst die Entstehung des Methodenzentrums umrissen, um anschließend das Spektrum der Unterstützungsformate vorzustellen. In einem Ausblick nehmen wir die im bisherigen dreijährigen Förderzeitraum gesammelten Erfahrungen zum Anlass, die Möglichkeiten interdisziplinärer Methodenvermittlung auszuloten. Das fakultätsübergreifende Methodenzentrum: Entstehung und Formate Die Gründung des fakultätsübergreifenden Methodenzentrums an der RUB im Oktober 2016 ist als Erfolgsgeschichte studentischer Partizipation und gezielter Förderung von studentischen Initiativen zu sehen. Im Rahmen von inSTUDIES, einem universitätsweiten Projekt zur Förderung und Ausgestaltung individueller Studienverläufe, welches durch Mittel des Qualitätspakts Lehre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wurde, gab es die Möglichkeit für Studierende, sich mit eigenen Projektideen zur Verbesserung von Studium und Lehre zu bewerben. Im Jahr 2013 haben

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Studierende der Sozialwissenschaft im Rahmen eines Ideenwettbewerbs Mittel eingeworben, um Lehrformate zur Unterstützung der Kommiliton_innen beim Erlernen empirischer Forschungsmethoden zu entwickeln. In zwei studentischen Initiativprojekten wurden zunächst Peer-to-Peer-Angebote zu quantitativen Methoden und später auch zu qualitativen Methoden konzipiert, in denen Studierende in Beratungen auf Augenhöhe individuelle Herausforderungen im Forschungsprozess thematisieren konnten sowie in Hands-on-Sessions niedrigschwellig erste Erfahrungen in der Anwendung von Statistik-Software und mit verschiedenen Datenerhebungs- und Auswertungsmethoden sammeln konnten. Seit Oktober 2016 sind beide studentischen Initiativprojekte im Rahmen des fakultätsübergreifenden Methodenzentrums, welches ein Teilprojekt des BMBF geförderten inSTUDIESplus-Projekts ist, professionalisiert und für eine Laufzeit von zunächst vier Jahren institutionalisiert worden. Das Methodenzentrum ist sowohl konzeptionell als auch personell aus dem studentischen Anliegen nach mehr Unterstützungsangeboten im Bereich empirischer Forschungsmethodik hervorgegangen und bietet nun bereits seit fast drei Jahren eine zentrale Anlaufstelle für Bachelor- und Master-Studierende bei Fragen zu empirischen, quantitativen und qualitativen, Forschungsmethoden. Es fördert fächerübergreifend und interdisziplinär die Kompetenzen von Studierenden, befähigt diese zu eigenen, empirischen Forschungen und erlaubt, individuelle Schwerpunkte in Studienverläufen zu legen bzw. diese inhaltlich zu vertiefen. Darüber hinaus bietet das Methodenzentrum gezielt Beratungsund Workshop-Formate für Lehrende an, die selbst Veranstaltungen nach dem Prinzip des Forschenden Lernens konzipieren und durchführen (wollen). Die vier Mitarbeiter_innen haben einen Hintergrund in den Sozial-, Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaften. Der methodische Schwerpunkt liegt auf den Verfahren und Methoden der Gesellschaftswissenschaften, behandelt quantitative und qualitative Zugänge und Verfahren als gleichwertig und bietet so Anknüpfungspunkte für empirische Arbeiten. Das formulierte Projektziel schließt eng an die Zielsetzung der studentischen Initiativprojekte an: Es soll insbesondere, dem Anspruch des Forschenden Lernens gemäß, darum gehen, die Lücke zwischen theoretischem Methodenwissen und der

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praktischen Durchführung von eigenständiger Forschung möglichst nah an den individuellen Anliegen der Studierenden zu schließen – also anwendungsorientierte Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Die Angebote des Methodenzentrums bestehen derzeit aus vier Bausteinen: (1) Anwendungsorientierten Workshops und Kurz-Inputs, (2) individuellen Beratungen, (3) Fortbildungsformaten für Lehrende und (4) E-Learning-Einheiten. Diese Bausteine zielen mit jeweils spezifischer Schwerpunktsetzung darauf, Studierende im Prozess des Forschenden Lernens zu unterstützen und Lehrende dazu zu befähigen, forschungsorientierte Lehr-Lern-Formate erfolgreich zu konzipieren und durchzuführen. Wir werden im Folgenden alle Formate kurz beschreiben. (1) Unsere Workshops sind Formate, in denen sowohl Kenntnisse über Datenerhebungs- und Auswertungsmethoden als auch Wissen über die Anwendung wichtiger Softwarelösungen vermittelt werden, welche in praktischen Übungen erprobt werden können. Hierbei sind Software-Workshops als Kompaktkurse konzipiert, in denen in nur wenigen Stunden die Grundlagen von quantitativer und qualitativer Datenanalyse mithilfe von Softwarelösungen für statistische Auswertungen und qualitative Analysen wie SPSS, Stata und R sowie MaxQDA und RQDA vermittelt werden.1 Komplementär dazu stehen Methoden-Workshops und Intensiv-Workshops, letztere oft in Kooperation mit externen Expert_innen. Diese Workshops widmeten sich in der bisherigen Projektlaufzeit Themen wie qualitativen Beobachtungsverfahren, Interviewforschung, der Erhebung quantitativer Daten mit standardisierten Fragebögen, Beobachtungsverfahren und Dokumentenanalysen, fortgeschrittenen Verfahren quantitativer Datenanalyse wie Klassifikationsverfahren oder Multilevel-

1

SPSS, Stata, R, MaxQDA und RQDA sind Namen von Softwarepaketen. Es handelt sich um Rundum-Pakete, die keinem bestimmten methodischen Verfahren zugeordnet werden können. Wo die Namen als Abkürzungen entstanden sind, sind die ausformulierten Bezeichnungen nicht gebräuchlich, weshalb ein Ausschreiben hier keinen Mehrwert bietet.

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Regressionen oder Zugangsmöglichkeiten zu Datensätzen für Sekundäranalysen. Webscraping-Techniken und Verfahren zur quantitativen Textanalyse erweitern das Feld der angebotenen Methoden in Richtung stärker textorientierter Disziplinen. Die Workshops sind auf ein bis zwei Tage angelegt und leben neben einer theoretischen, methodologischen Einführung von gezielt eingesetzten praktischen Phasen sowie der Arbeit mit und an Daten. Weiterhin wird ein Teil des Workshop-angebots als studentisches Peer-to-Peer-Format konzipiert und durchgeführt. Diese Workshops bieten Studierenden Möglichkeiten, sich mit Kommiliton_innen aus anderen Disziplinen auszutauschen und dadurch verschiedene Perspektiven auf vorliegendes Datenmaterial kennenzulernen. Aufgrund dieser interdisziplinären Ausrichtung wird das Spannungsfeld zwischen fachlicher Anbindung und überfachlicher Methodenkenntnisse für die Studierenden, aber auch Dozierenden, erfahrbar und kann im besten Fall produktiv zur Vermittlung von Kompetenzen genutzt werden. Darüber hinaus können Lehrende die Mitarbeiter_innen des Methodenzentrums für Kurz-Inputs in ihr Seminar einladen. Mögliche Themen sind hier beispielsweise Analysen mit Statistiksoftware am Beispiel eines zum Seminarkontext passenden Datensatzes, Beobachtung im Kontext von Schule oder Auswertungen mit MaxQDA. (2) Parallel dazu gibt es die intensiv genutzte Möglichkeit für Studierende, sich individuell in Sprechstunden durch Mitarbeiter_innen des Methodenzentrums beraten zu lassen. Hierzu ist es lediglich nötig, dass die Studierenden den Stand ihrer eigenen Forschung vorab kurz skizzieren und eine konkrete Frage oder Schwierigkeit zu ihrer Forschung formulieren. Im Rahmen eines 30- bis maximal 60-minütigen Beratungsgesprächs werden gemeinsam – nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe – individuelle Lösungen mit den Studierenden erarbeitet. Zentral und deutlich zu betonen ist, dass das Methodenzentrum hierbei nicht in Konkurrenz zur Betreuung der Lehrenden steht, sondern lediglich eine punktuelle und auf methodische Aspekte beschränkte Ergänzung bietet, welche mit den Betreuenden abgesprochen sein

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Weins, Jeworutzki, Gerhartz, Kohlbrunn, Kuhlmann & Weller soll. Die Erfahrung zeigt, dass an vielen Stellen im Prozess einer Forschungsarbeit – von der Methodenwahl über die Datenerhebung bis hin zur Ergebnisdarstellung – Beratungsbedarf entstehen kann, bei dem die Mitarbeiter_innen niedrigschwellig und in einem geschützten, bewertungsfreien Raum weiterhelfen können. Neben Studierenden nehmen auch Lehrende Beratungen in Anspruch. Sie tun das beispielweise, um ein Seminarkonzept im Forschenden Lernen mit uns dahingehend zu diskutieren, ob die einzelnen Phasen sinnvoll aufeinander aufbauen, ob genügend Zeit für die einzelnen Schritte eingeplant wurde oder welche Literatur bzw. ELearning-Tools sich für die eigenständige Vor-/Nachbereitung der verwendeten Erhebungs-/Auswertungsmethoden durch die Studierenden eignen. Auf diese Weise sind in den letzten drei Jahren Kooperationen mit zahlreichen Fakultäten sowie verschiedenen interdisziplinär verorteten Projekten entstanden. (3) Neben den individuellen Beratungen bieten wir Fortbildungs- und Workshop-Formate für Lehrende an. So haben wir in Kooperation mit dem Zentrum für Wissenschaftsdidaktik der RUB und einem hochschuldidaktisch ausgerichteten Teilprojekt von inSTUDIES eine Fortbildungsreihe zum Thema „Forschendes Lernen“ mit dem Fokus auf empirische Forschungsmethoden entwickelt und realisiert (siehe Beitrag von Engel und Salden, in diesem Band). In kurzen Inputs wurden zunächst die Forschungsparadigmen quantitativer und qualitativer Forschung aufgefrischt und anschließend die jeweiligen Forschungszyklen im Hinblick auf besondere Herausforderungen für Studierende vorgestellt. Im zweiten Teil der Veranstaltung stand der Austausch auf kollegialer Ebene im Fokus: So wurde an Thementischen konkret an Seminarkonzepten gearbeitet und darüber diskutiert, ob es sinnvoller ist, mögliche Forschungsmethoden für Studierende einzuschränken oder Wahloptionen offen zu lassen. Zusätzlich wurden für Lehrende im Master of Education Workshops und eine

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Tagung zum Thema „Kasuistik“ angeboten, die insbesondere für Begleitseminare des „Praxissemesters“2 einen spannenden und lohnenswerten Zugang bieten können. (4) Unser E-Learning-Katalog ist ein kontinuierlich wachsendes Angebot an Modulen, die quantitative und qualitative Methoden zum Gegenstand haben. Er soll den Studierenden ermöglichen, Verfahren und Lösungsansätze eigenständig zu erarbeiten und anhand von Simulationen zu erproben. In einer nach drei Niveau-Stufen gestaffelten Ebenenstruktur gibt es die Möglichkeit, sich Grundlagen in kurzen Texten anzulesen, an Beispieldaten zu arbeiten – etwa ein Interview zu transkribieren oder die Parameter eines Regressionsmodells zu bestimmen – und den eigenen Lernstand anhand von Quizzen selbst zu testen. Die Module werden vielfach im Format H5P zur Verfügung gestellt und können dadurch von Lehrenden sehr einfach in Moodle-Kurse oder ähnliche E-Learning-Plattformen ihrer Veranstaltungen übertragen werden. (Zwischen-)Bilanz und Ausblick Die hohe Akzeptanz des Methodenzentrums als Schnittstelle des Forschenden Lernens zeigt sich im stetigen Anstieg der Zahl von Studierenden, die unsere vielfältigen Angebote in Anspruch nehmen: Bislang haben bereits rund 1.400 Studierende an unseren Workshops teilgenommen, wobei sich die Teilnehmerzahlen seit Beginn des Projekts auf einem Niveau von rund 300 Studierenden pro Semester bewegen. Die Fachzugehörigkeit der Teilnehmer_innen ist vielfältig, wobei die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dominieren. Die Bewertung der Workshops durch die Teilnehmenden fällt äußerst positiv aus: Der größte Teil der Studierenden (95,6 % von 871 gültigen Evaluationen) bewertet unsere Workshops auf einer 5er-Skala im Rahmen der 2

Das Praxissemester ist ein Schulpraktikum im Master of Education im Umfang von einem Semester, welches dem Prinzip des Forschenden Lernens folgt (vgl. dazu die Beiträge von Drackert sowie im Brahm, in diesem Band).

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freiwilligen Evaluation als gut (35,7 %) oder sogar sehr gut (59,9 %). Zudem geben die Studierenden in einem Großteil der Fälle (70,5 % von 809 gültigen Evaluationen) an, einen Kompetenzzuwachs von mindestens einer Kategorie auf einer 5er-Selbsteinstufungsskala erfahren zu haben. Die restlichen Teilnehmer_innen (28,3 %) gaben an, dass ihre Kompetenzen stabil geblieben seien. Dabei handelt es sich um Studierende, die sich im Vergleich zu anderen Teilnehmer_innen bereits im Vorfeld als deutlich überdurchschnittlich kompetent einstuften und in offenen Angaben anführten, die Veranstaltungen eher als Auffrischung besucht zu haben. In ähnlicher Weise sind die Beratungen von Studierenden äußerst positiv bewertet worden: 22,9 % bewerteten die Beratung mit „gut“ und 75,3 % mit „sehr gut“ (170 gültige Evaluationen). Die große Nachfrage nach Workshops und Beratungen zeigt den Bedarf an individueller methodischer Unterstützung bei den Studierenden. Dass dieser Bedarf nicht nur in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften besteht, sondern auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern, ist sicherlich auch Folge der Bemühungen um die Individualisierung von Studienverläufen und der starken Orientierung am Konzept der forschungsintensiven Lehre an der Ruhr-Universität Bochum. Auch veränderte Rahmenbedingungen, wie die viel diskutierten Digitalisierungsprozesse und die mit ihnen verbundenen Phänomene steigern den Bedarf an methodischen Fertigkeiten fakultätsübergreifend. In vielen Fachgebieten verändern sich durch die Digitalisierung der Zugang und die Verfügbarkeit von Daten, neue digitale Werkzeuge, aber auch statistische Verfahren spielen in der Forschung eine größere Rolle; zudem verändern sich nicht zuletzt auch die Gegenstände der Fächer. Die Angebote des Methodenzentrums bieten Studierenden flexible Zugänge zu computergestützten Methoden, welche im Rahmen des Forschenden Lernens immer häufiger benötigt werden und leisten damit auch einen Beitrag, diese veränderten Rahmenbedingungen positiv aufzugreifen. Der Bedarf an methodischer Weiterqualifikation ist dabei nicht auf BA- und MA-Studierende beschränkt: Die Erfahrungen der letzten drei Jahre zeigen, dass auch unter Promovierenden und Lehrenden ein großes Interesse an den Angeboten des Methodenzentrums besteht. Mittelfristig wird es die Aufgabe des Zentrums sein,

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diese Bedarfe zu adressieren und neue Formate und Angebote für die Lehrenden (Fortbildungen, Methodenberatung, Data Science-Bausteine) zu entwickeln und zu implementieren sowie gemeinsam mit der RUB Research School ein Angebot für Promovierende zu konzipieren. Literatur Hellermann, Klaus, Schmohr, Martina & Sekman, Ümit (2012): Vielfältige Lernkultur durch „Forschendes Lernen“ an der Ruhr-Universität Bochum. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung 7, H. 3: S. 28-35. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: ders., Hellmer, Julia & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen (Motivierendes Lehren und Lernen in Hochschulen 10). Bielefeld: S. 9-35. Konnertz, Ursula & Mühleisen, Sibylle (Hg.) (2016): Bildung und Schlüsselqualifikationen. Zur Rolle der Schlüsselqualifikationen an den Universitäten. Frankfurt a.M.

III

Best Practices-Projekte und Resultate im Rückblick

Einstieg in das Forschende Lernen

Einleitende Bemerkungen Judith Ricken Forschendes Lernen, so formuliert es das Zukunftskonzept der RUB unter dem Motto „Forschung erfahren, erlernen, leben“, soll von Beginn an im Studium verankert sein. Eine frühe Hinführung zum forschenden Lernen soll Studierenden die Möglichkeit eröffnen, bereits früh im Bachelorstudium kleine Forschungsprojekte anzugehen. Forschen soll frühzeitig durch den Vollzug einer methodisch angeleiteten Praxis, also durch den Entwurf eigener Vorhaben und ihrer schrittweisen Umsetzung im Sinne einer undergraduate research experience (vgl. Fung, Besters-Dilger & van der Vaart 2017; Linn, Palmer, Baranger, Gerard & Stone 2015) erlernt werden können. In der Praxis ist diese Aufgabe sehr anspruchsvoll. Studienanfänger_innen unterscheiden sich in ihren Vorerfahrungen, ihrem (wissenschaftlichen) Vorwissen und in ihren (forschungspraktischen und anderweitigen) Kompetenzen, an die sie anknüpfen können. Für eine reflektierte Entwicklung von Forschungskompetenz, bei der inhaltliche, methodische und persönliche Kompetenzen zusammenwirken, braucht es Kontinuität und Zeit sowie eine intensive Begleitung, Betreuung und Beratung (durch die Dozent_innen und häufig auch durch peers, beispielsweise durch bereits erfahrenere Kommiliton_innen aus Masterstudiengängen; vgl. hierzu Ruppel & Straub, die unter anderem auf dieses sogenannte BA-MA-Prinzip des peer-to-peer-Lernens eingehen, in diesem Band). Wichtig ist es, die Lernziele und Ansprüche an die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Studierenden anzupassen, um nicht unrealistische Ziele zu verfolgen und kontraproduktive Überforderungen zu erzeugen. Dies bedeutet, dass im Bachelorstudium – insbesondere in den ersten Semestern – in aller Regel kein forschendes Lernen im engeren Sinne angestrebt werden sollte. Tatsächlich innovative Erkenntnisse, die den Wissensstand einer Disziplin verändern und künftige Forschungen anregen, sind in dieser Phase

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_7

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Judith Ricken

kaum erreichbar (vgl. Straub, Ruppel, Plontke & Frey, in diesem Band). Jedoch sind Formen des forschungsorientierten, forschungsnahen Lernens möglich, von denen die Noviz_innen erheblich profitieren können. In entsprechenden Lehrveranstaltungen werden bestimmte Phasen des Forschungsprozesses fokussiert und spezielle Methoden ins Zentrum gerückt (etwa die Datensammlung und Quellenkritik in den Geschichtswissenschaften, der Feldzugang und die Datenerhebung in den empirischen Sozial- oder Kulturwissenschaften, die Versuchsplanung oder die an apparativ vermittelte Messungen gebundene Versuchsdurchführung in den experimentellen Naturwissenschaften). Der gesamte Forschungsprozess, der im forschenden Lernen idealerweise vollständig und unter Verwendung aller verfügbaren theoretischen Kenntnisse und Methoden durchlaufen werden soll, kann Noviz_innen nur in Auszügen und auf einem jeweils geeigneten Anspruchsniveau zugetraut und zugemutet werden. Die in diesem Kapitel vorgestellten Ansätze tragen den genannten Anforderungen auf unterschiedliche Weise Rechnung. ABC und PHase zeigen, wie eine Fachmethoden und -inhalte integrierende Startphase in das Studium so gestaltet werden kann, dass Studierende von Beginn angeleitet an kleinen Forschungsprojekten arbeiten. In beiden Fällen wurde dafür das Curriculum auch strukturell überarbeitet. Das Online-Forschungslogbuch ist im Unterschied dazu ein Instrument, das in sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern auch ohne curriculare Anpassungen veranstaltungsbegleitend oder integriert genutzt werden kann, um den individuellen Kompetenzerwerb der Studierenden zu unterstützen. Alle drei Berichte geben wertvolle Hinweise für die Ausgestaltung der oft nicht im Fokus der Konzeptentwicklung stehenden Einstiegsphase in das forschende Lernen und machen deutlich, welche Gewinne hier mit wohlüberlegten Maßnahmen erreicht werden können.

Einleitende Bemerkungen

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Literatur Fung, Dilly, Besters-Dilger, Juliane & Vaart, Rob van der (2017): Excellent education in research-rich universities. Online unter: https://www.leru. org/files/Excellent-Education-in-Research-Rich-Universities-Full-pa per.pdf Linn, Marica C., Palmer, Erin, Baranger, Anne, Gerard, Elizabeth & Stone, Elisa (2015): Undergraduate research experiences: Impacts and opportunities. In: Science 6/2015: S. 627-633.

Das Online-Forschungslogbuch – Eine Unterstützungsmaßnahme beim Erwerb geistesund sozialwissenschaftlicher Forschungskompetenzen Julia Eberle, Rebecca Krebs & Nikol Rummel Rahmenbedingungen und Projekthintergrund Die Konzeption und Erprobung des Online-Forschungslogbuchs wurde im Rahmen des Universitätsprogramms „Forschendes Lernen“ an der Ruhr-Universität Bochum im Zeitraum von April 2016 bis Juli 2017 gefördert. Die Erprobung und Evaluation wurde im Anschluss an den Förderzeitraum am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie fortgesetzt. Ausgangspunkt des Projekts war die Erfahrung, dass Studierende in den Geistes- und Sozialwissenschaften oft bereits im ersten Semester eigenständig ihre erste Hausarbeit schreiben und damit häufig große Schwierigkeiten haben. Das Anfertigen einer Hausarbeit erfordert die Anwendung geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden, kann also als eine Forschungsarbeit gesehen werden, bei der einer fachbezogenen Forschungsfrage im Sinne des forschenden Lernens literaturbasiert nachgegangen wird. Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden werden allerdings im Studium in der Regel entweder nicht explizit oder nur in sehr abstrakter Form ohne Bezug zur eigenen Forschungsarbeit vermittelt. Die erste Hausarbeit ist dann allerdings oft direkt eine Prüfungsleistung. Es gibt für die Studierenden somit kaum Raum, ohne Leistungsdruck mit Forschungsmethoden zu experimentieren und aus den eigenen Anfängerfehlern zu lernen. Entsprechend sind Studierende geistes- oder sozialwissenschaftlicher Fächer in der Studieneingangsphase mit dem Erstellen von wissenschaftlichen Literaturarbeiten oft überfordert, erleben das Schreiben von Hausarbeiten als sehr stressbehaftet und verbinden geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden mit unangenehmen Erfahrungen. Ziel des Projekts war es

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_8

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daher, Studierende durch die Entwicklung des Online-Forschungslogbuchs beim Erwerb und Einsatz geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden zu unterstützen. Das Schreiben einer geistes- oder sozialwissenschaftlichen Arbeit erfordert eine Vielzahl von Kompetenzen, insbesondere in Bezug auf selbstreguliertes und eigenständiges Arbeiten. Häufig beginnt der Prozess des Arbeitens an der Hausarbeit im Anschluss an einen Seminarbesuch in der vorlesungsfreien Zeit. Gleichzeitig ist in der Regel neben der Unerfahrenheit mit geistesund sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden meistens noch relativ wenig inhaltliches Vorwissen über das Thema der Arbeit vorhanden. Dozierende können aufgrund der Menge zu betreuender Hausarbeiten in aller Regel nur wenig individuelle, auf die Studierenden und ihre jeweiligen Hausarbeitsthemen zugeschnittene Unterstützung bieten. Gerade die forschungsnahen Tätigkeiten beim Erstellen einer Hausarbeit, etwa die professionelle Literaturrecherche oder Quellenkritik, bleiben den Studierenden oft selbst überlassen. Speziell die hohe Eigenständigkeit bei dieser Form des forschenden Lernens erfordert große Transfer-, Reflexions- und auch Motivationsleistungen. Die Studierenden müssen nicht nur dafür Sorge tragen, dass sie ihr Hausarbeitsthema motiviert und engagiert mit wenig Unterstützung von außen bearbeiten, sie müssen vor allem auch lernen, reflexiv mit ihren Erfahrungen im Schreibprozess umzugehen, um diese für weitere Arbeiten nutzen zu können. Zu Studienbeginn besonders ungewohnt und daher schwierig gestaltet sich zudem das Übertragen abstrakt erlernter Techniken geistes- und sozialwissenschaftlichen Arbeitens auf eigene Fragestellungen. Hier weisen Hausarbeiten große Defizite auf, auch über die Studieneingangsphase hinaus. Das eigenständige Erstellen einer geistes- oder sozialwissenschaftlichen Hausarbeit wirkt vor dem Hintergrund der geschilderten Anforderungen zunächst häufig überfordernd und frustrierend und führt in vielen Fällen zu Prokrastination, also dem Verschieben der intendierten Tätigkeit auf einen späteren Zeitpunkt (vgl. Klingsieck & Fries 2012). Studierende zögern den Beginn der Forschungsarbeit hinaus, und wenn sie dann mit der Arbeit beginnen, bleibt oft nicht mehr genug Zeit, um lernförderliche Strategien adäquat einzusetzen, da diese in der Regel zeit- und arbeitsintensiv sind. Daraus

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entstehen oft sehr unfruchtbare Arbeitsprozesse, die zu ebenfalls unerfreulichen Ergebnissen führen. Studierende sind demnach oft frustriert, wenn es um das Erstellen von Hausarbeiten geht, sowohl in Bezug auf den Prozess der Forschungsarbeit als auch aufgrund schlechter Ergebnisse und entsprechender Noten. Dies führt wiederum zu unangenehmen, aversiven Emotionen in Bezug auf zukünftige Hausarbeiten. Da lernbezogene Emotionen in der Regel einen großen Einfluss auf Motivation, Lernprozess, Leistung und Selbstregulation haben (vgl. Pekrun, Goetz, Titz & Perry 2002), setzte das Projekt mit der Entwicklung des Online-Forschungslogbuchs an dieser Stelle an. Ziel war dabei, eine individualisierbare Unterstützungsmaßnahme für den selbstregulierten geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess zu konzipieren, die unabhängig von konkreten Lehrveranstaltungen und Semesterzeiten nach Bedarf bei der eigenständigen Erstellung einer Hausarbeit genutzt werden kann, um den genannten Problemen entgegenzuwirken und Studierende beim Erwerb geisteswissenschaftlicher Forschungskompetenzen und bei der Entwicklung sinnvoller Arbeitsweisen im Studium zu fördern. Das Online-Forschungslogbuch Das Online-Forschungslogbuch ist ein Moodle-Kurs, der als Workflow-Management-System fungiert und es den Studierenden ermöglicht, verschiedene Strategien zur Förderung der notwendigen Selbstregulationsfähigkeit sowie Forschungskompetenzen bei der Erstellung von Hausarbeiten zu erlernen und im Sinne eines externalen Ablaufskripts anzuwenden. Externale Skripts sind eine wissenschaftlich erprobte Unterstützungsmaßnahme, die Lernende kognitiv entlastet, weil sie es erleichtert, den komplexen und unstrukturiert erscheinenden Vorgang des Erstellens einer Hausarbeit in konkrete Teilschritte zu zerlegen und so einzelne, schrittweise bewältigbare Handlungsschritte auszumachen, z.B. Themenfindung, Literaturarbeit, Gliederung etc. (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Startseite des Online-Forschungslogbuchs mit den Teilschritten einer Hausarbeit

Gleichzeitig macht die Dokumentation der einzelnen Schritte innerhalb des Online-Forschungslogbuchs den eigenen Lernfortschritt für die Studierenden direkt einsehbar und darum besser reflektierbar. Das kann einerseits dazu beitragen, die Motivation auf längere Sicht aufrechtzuerhalten, weil nachvollzogen werden kann, welche Teilziele schon erreicht wurden. Andererseits kann es auch helfen besser wahrzunehmen, welche Aspekte der einzelnen Aufgaben noch Schwierigkeiten bereiten und wo eventuell noch Klärungs- bzw. Überarbeitungsbedarf herrscht. Für jeden Arbeitsschritt des Schreibprozesses werden nicht nur diverse Hilfsmaterialien, wie zum Beispiel Checklisten, bereitgestellt, sondern es wird insbesondere auch ein Logbuch für den Arbeitsprozess angeboten, das die Reflexion anzuregen soll. Hierbei werden mittels

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sogenannter kognitiver und metakognitiver Prompts, also konkreter Fragen zur eigenen Forschungsarbeit und zum eigenen Forschungsprozess, Anregungen für sinnvolle Reflexionsprozesse in den Logbucheinträgen gegeben. Zusätzlich wird durch das schriftliche Festhalten eigener Ziele im Arbeitsprozess und die Nutzung einer To-Do-Liste die Verbindlichkeit erhöht, mit welcher die selbst gesteckten Ziele verfolgt werden. Abbildung 1 zeigt das Erscheinungsbild des Online-Forschungslogbuchs in Moodle (in einer Schwarz-Weiß-Reproduktion; das Original ist farbig). Die Gliederung des Online-Forschungslogbuchs orientiert sich an den Teilschritten, die beim Erstellen einer Hausarbeit durchlaufen werden müssen. Neben einem schriftlichen Hinweis darauf, dass diese Teilschritte in der Regel nicht einer nach dem anderen abgearbeitet werden, sondern im Verlauf der Forschungsarbeit immer wieder ein Zurückspringen auf frühere Teilschritte notwendig ist, enthält die Startseite zudem einen Link zu einem Einführungsvideo, das die Nutzung des Online-Forschungslogbuchs erklärt. Innerhalb jedes Teilschritts werden verschiedene Unterstützungsmaßnahmen und Hilfsmittel angeboten, die die Bewältigung des jeweiligen Schrittes unterstützen sollen. Jeder Teilschritt umfasst dabei die Aspekte Einführung, hilfreiche Materialien, Frist- und Zielsetzung, Reflexion und Arbeitsergebnis. Zu Beginn jeden Schrittes findet sich eine kurze inhaltliche Einführung, die erklärt, worum es im jeweiligen Teilschritt vorrangig geht und was das zentrale Ziel des Arbeitsschrittes ist. Unter Hilfreiche Materialien finden die Studierenden Texte und Zusatzinformationen. Für den Teilschritt Themenfindung sind hier beispielsweise Material zur Annäherung an ein Hausarbeitsthema, einen Leitfaden zur Themenfindung bei Hausarbeiten sowie Methoden zum Sammeln und Sortieren von Ideen verfügbar. Im Bereich Frist- und Zielsetzung werden die Studierenden mittels eines Links auf ein externes To-Do-Listen-Programm verwiesen, in dem sie ihre eigenen Termine und nächsten Schritte festlegen können (siehe Abbildung 2).

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Abbildung 2: Exemplarische Darstellung konkreter Ziel- und Fristsetzung innerhalb des Schritts „Literaturrecherche“

Das To-Do-Listen-Programm kann auch als App auf dem Smartphone installiert werden und dort, wenn von den Studierenden gewünscht, Erinnerungen an die zu erledigenden Aufgaben anzeigen. Im dritten Bereich jedes Teilschritts, der Reflexion, werden die Studierenden zunächst dazu angeregt, ihre aktuelle Gefühlslage in Bezug auf den Arbeitsschritt anhand lernrelevanter Emotionen wie Neugier, Verwirrung und Frustration einzuschätzen. Dies soll über die explizite Wahrnehmung der aktuellen Gefühlslage in Bezug auf die Hausarbeit eine vertiefte Reflexion anregen, die über das bloße Abhaken von erledigten Aufgaben hinausgeht und das individuelle Erleben des Arbeitsprozesses fokussiert. Weiterhin werden die Studierenden mittels Prompts dazu angeregt, auf der deskriptiven, der analytischen und der integrativen Ebene zu reflektieren (vgl. Marchel 2004). Hierfür sollen sie neutral den aktuellen Stand ihrer Forschungsarbeit beschreiben, Erfolge im Arbeitsprozess festhalten sowie erlebte Schwierigkeiten und Irrwege reflektieren und abschließend das weitere Vorgehen bis zur nächsten Reflexion planen. Relevante Aufgaben für die weitere Arbeit

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sollen anschließend in der To-Do-Listen-Software eingetragen werden. Wann und wie oft reflektiert wird, bleibt den Studierenden jedoch selbst überlassen. Der letzte Abschnitt Arbeitsergebnis dient dazu, das tatsächliche Produkt der Arbeit innerhalb des jeweiligen Teilschritts zu hinterlegen und somit relevante Dokumente gesammelt an einem Ortes abzuspeichern und zu sichern bzw. bei der Arbeit mit mehrere Personen an einer gemeinsamen Forschungsarbeit die jeweils aktuellsten Dokumente für alle Beteiligten verfügbar zu machen. Zudem macht das direkte Abspeichern des Ergebnisses den Fortschritt direkt sichtbar und kann dadurch helfen, die eigene Motivation aufrechtzuerhalten. Projektverlauf und Projektergebnisse Das Projekt startete im Wintersemester 2015/16, zunächst mit einer Befragung unter Studierenden der Erziehungswissenschaft. Ziel der Befragung war es zu erfahren, welche Aspekte des Schreibens einer Hausarbeit als besonders herausfordernd empfunden werden und warum. Im Zuge der Befragung zeigte sich, dass Studierende Hauptgründe für Schwierigkeiten besonders im Bereich der Themenfindung sowie im Umgang mit wissenschaftlicher Fachliteratur sehen. Diese Befunde wurden als Ausgangspunkte für die Konzeption des Online-Forschungslogbuchs genommen. Anschließend wurde eine erste Version des Online-Forschungslogbuchs entwickelt und im Sinne eines Design-Based-Research-Ansatzes eingesetzt und evaluiert. Zunächst erfolgte eine intensive Pilotierung mit drei freiwilligen Studierenden. Anschließdend wurde das Online-Forschungslogbuch an Einführungsseminare zu Techniken wissenschaftlichen Arbeitens in der Erziehungswissenschaft angedockt und in insgesamt drei Durchgängen (Wintersemester 2016/17, Wintersemester 2017/18, Sommersemester 2018) von Studierenden beim Schreiben ihrer ersten Hausarbeit verwendet. Nach jedem Durchgang wurden Anpassungen und Optimierungen aufgrund der gesammelten Erkenntnisse vorgenommen. Hierfür wurden sowohl detaillierte Rückmeldungen einzelner Studierender zur wahrgenommenen

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Nützlichkeit einzelner Elemente des Online-Forschungslogbuchs als auch auf Befragungen mittels standardisierter Fragebögen und Nutzungsdaten aus dem Online-Forschungslogbuch herangezogen. Die Nutzung des Online-Forschungslogbuch wurde in einigen Semestern verpflichtend, in anderen freiwillig gestaltet, woraus sich interessante Vergleiche zwischen Nicht-Nutzern, freiwilligen Nutzern und verpflichteten Nutzern ziehen ließen. Die Erprobung und Evaluation konnte dabei deutlich tiefergehender ausfallen als ursprünglich geplant, da drei Studierende1 der Erziehungswissenschaft im Rahmen einer Bachelorarbeit und zweier Masterarbeiten einzelne Aspekte der Nutzung und des geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses von Studienanfängern genauer untersuchten. Darüber hinaus waren in der gesamten Phase des Projekts Studierende der Erziehungswissenschaft aktiv an der Entwicklung der Projektidee und des Online-Forschungslogbuchs sowie an der Gestaltung der Evaluation, der Auswertung und Publikation der Ergebnisse beteiligt2 und erlebten so durch das Projekt selbst eine Form des forschenden Lernens hautnah mit. Auf Interesse stieß das Projekt auch auf wissenschaftlicher Ebene. Ausgewählte Ergebnisse wurden sowohl auf der Konferenz der Gesellschaft für empirische Bildungsforschung in Heidelberg präsentiert (vgl. Schönfeld, Eberle, Arukovic & Rummel 2017), als auch auf der International Conference on Computer-Supported Collaborative Learning in Philadelphia, USA (vgl. Eberle, Schönfeld, Arukovic & Rummel 2017) sowie auf der International Conference of the Learning Sciences in London, UK (vgl. Eberle, Schönfeld, Arukovic & Rummel 2018). Die im Rahmen des Projekts gesammelten Daten zeigen insgesamt, dass freiwillige Nutzer_innen sowohl auf der emotionalen Ebene, als auch hinsichtlich ihres berichteten Prokrastinationsverhaltens vom OnlineForschungslogbuch profitieren. Erstsemesterstudierende nehmen jedoch unter der Bedingung „Freiwilligkeit“ das Angebot in der Regel gar nicht an. Von 1 2

Wir danken Selma Arukovic, Tim Schönfeld und Berke Kücük ganz herzlich für ihre Beiträge zum Projekt. Insbesondere Tim Schönfeld, der als studentische Hilfskraft in den zentralen Phasen des Projekts intensiv mitgearbeitet hat, danken wir an dieser Stelle nochmals herzlich.

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verpflichtender Nutzung profitieren Studierende hingegen nicht, da sie die zentralen Elemente des Online-Forschunglogbuchs nicht sinnvoll nutzen. Von einer verpflichtenden Implementation des Online-Forschungslogbuchs in die Einführungsseminare der Erziehungswissenschaft wurde daher zunächst abgesehen. Für Studierende höherer Semester und auch anderer geistes- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge, die aufgrund unangenehmer Vorerfahrungen mit Hausarbeiten selbst einen Bedarf zur freiwilligen Nutzung sehen, könnte das Online-Forschungslogbuch jedoch eine hilfreiche Ergänzung darstellen. Die Überlegungen zum weiteren Einsatz und zur sinnvollen Implementation des Online-Forschungslogbuchs an der Ruhr-Universität Bochum sind daher derzeit noch nicht abgeschlossen. Das Projekt illustriert eindrücklich, dass der Einstieg in Forschendes Lernen beim Verfassen wisenschaftlich anspruchsvoller Hausarbeiten gezielter Unterstützung bedarf. Der hohe Grad an Autonomie beim Forschenden Lernen kann zwar viele Vorteile, aber auch gravierende Nachteile bieten, so dass es eine große Herausforderung darstellt, eine adäquate Unterstützung zu konzipieren und sinnvoll zu implementieren. Literatur Eberle, Julia, Schönfeld, Tim, Arukovic, Selma & Rummel, Nikol (2017): Evaluation of an Online-Environment to Avoid Frustration and Procrastination in Literature-Based Inquiry Learning. In: Smith, Brian K., Borge, Marcela, Mercier, Emma & Lim, Kyu Yon (Hg.) (2017): Making a difference: prioritizing equity and access in CSCL, 12th International Conference on Computer-Supported Collaborative Learning (CSCL) 2017, Bd. 2. Philadelphia, PA: S. 877-878. Eberle, Julia, Schönfeld, Tim, Arukovic, Selma & Rummel, Nikol (2018): How to Enjoy Writing Papers: Supporting Literature-Based Inquiry Learning to Reduce Procrastination and Foster Ownership and Positive Emotions. In: Kay, Judy & Luckin, Rosemary (Hg.) (2018): Rethinking Learning in the Digital Age: Making the Learning Sciences Count, 13th

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International Conference of the Learning Sciences (ICLS) 2018, Bd. 3. London: S. 1583-1584. Klingsieck, Katrin Birte & Fries, Stefan (2012): Allgemeine Prokrastination. In: Diagnostica 4/2012: S. 182-193. Marchel, Carol A. (2004): Evaluating Reflection and Sociocultural Awareness in Service Learning Classes. In: Teaching of Psychology 2/2004, S. 120123. Pekrun, Reinhard, Goetz, Thomas, Titz, Wolfram & Perry, Raymond P. (2002): Academic emotions in studentsʼ self-regulated learning and achievement. A program of qualitative and quantitative research. In: Educational Psychologist 2/2002, S. 91-105. Schönfeld, Tim, Eberle, Julia, Arukovic, Selma & Rummel, Nikol (2017): Evaluation einer Unterstützungsmaßnahme zur Vermeidung von Prokrastination und Frustrationserfahrungen beim forschenden Lernen in der universitären Lehre. Poster präsentiert auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) 2017. Heidelberg.

ABC: ABseits des Curriculums – Non-formales und informelles Lernen ab dem 1. Semester forschend erfassen Sandra Aßmann, Yannic Steffens, Mario Engemann & Andrea Blome Ausgangspunkt der Projektidee Im Fach Erziehungswissenschaft an der RUB beschäftigen sich die Studierenden mit Lernprozessen in non-formalen und informellen Kontexten – also Lernen, das abseits des Curriculums stattfindet. Forschende Zugänge sind für diesen Gegenstand sehr hilfreich. Vor diesem Hintergrund war die Kernidee des Projekts ABC: ABseits des Curriculums – Non-formales und informelles Lernen ab dem 1. Semester forschend erfassen (im Folgenden mit ABC abgekürzt) die Förderung des Forschenden Lernens in der Studieneingangsphase von Bachelorstudierenden in der Erziehungswissenschaft. Ein komplettes Grundlagenmodul bietet durch die enge Verzahnung von Lehrveranstaltungen (Vorlesung und Proseminar) und Prüfungen, ergänzt um ein Tutorium sowie den gezielten Einsatz digitaler Medien, eine Einführung in das Forschende Lernen. Für eine heterogene Studierendenschaft, die Berufe in schulischen oder außerschulischen pädagogischen Handlungsfeldern anstreben, ist Forschendes Lernen aus verschiedenen Motivlagen heraus bedeutend: Für angehende Lehrer_innen sind Kompetenzen im Umgang mit Forschendem Lernen notwendig, um die Anforderungen an das Lehramt zu erfüllen. So ist zum Beispiel in der Schule „Innovieren“ laut KMK-Beschluss ein pädagogisches Handlungsfeld von Lehrenden (vgl. Kultusministerkonferenz Beschluss vom 16.12.2004). Dafür sind das Wissen über Forschungsprozesse und die Kompetenz, selbst forschend tätig zu werden, notwendig. Die Einführung in das Forschende Lernen schon zu Beginn der Studienphase ermöglicht den Studierenden, frühzeitig mit Forschungsarbeit in Kontakt zu treten und einen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_9

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Einblick in die Planung, Organisation und Durchführung von Forschungsprozessen zu gewinnen. Dadurch werden sie motiviert, selbst Forschungsfragen zu generieren und erlernen die notwendigen Kompetenzen, um Forschendes Lernen schon während der Bachelorphase praktisch durchzuführen. Die Studierenden erlangen Sicherheit und Souveränität im Umgang mit Forschungsprozessen und können im Hinblick auf die Wahl von Studienschwerpunkten Forschungsprofile ausbilden, die stärker als bisher Forschungsarbeit in der Bachelorphase berücksichtigen. Ziel des Projekts war es, die Studierenden bereits in der Studieneingangsphase für qualitative Forschungsprozesse zu sensibilisieren und zu befähigen, sodass sie erste kleine Forschungsprojekte selbstständig planen, durchführen und anschließend kriteriengeleitet reflektieren können. Die Studierenden kennen und verstehen grundlegende, theoretische Prinzipien der qualitativen Sozialforschung und wenden diese in ihren eigenen Forschungsprojekten praxisorientiert an. Forschendes Lernen in der Studieneingangsphase – Die Studierenden „abholen“ Um die Anforderungen des Projektes an die Kompetenzen der Studienanfänger_innen anzuschließen, ist der Moodle-Kurs in sechs Themenfelder der qualitativen Sozialforschung eingeteilt. Zu jedem Themenfeld gibt es kurze Einführungstexte, die die entsprechende Forschungsliteratur zusammenfassen und Basiswissen vermitteln. Der Moodle-Kurs folgt dabei der Chronologie eines Forschungsprozesses und führt in verschiedene Aspekte der Forschungsarbeit ein. Zunächst gibt es eine grundlegende Einführung in die qualitative Sozial- und Medienforschung. Dann werden die theoretischen Grundlagen der exemplarisch gewählten qualitativen Bereiche Interviewforschung und Ethnografische Beobachtung erklärt. Im nächsten Schritt wird die praktische Umsetzung der Forschungsmethoden erläutert und Hinweise zur Durchführung eines Interviews oder einer ethnografischen Beobachtung werden gegeben. Korrespondierend mit einem fortschreitenden Forschungsprozess wird in das Transkribieren von Erhebungsdaten eingeführt. Zuletzt werden forschungsethische Kriterien thematisiert. Die Einführungstexte werden den Studierenden online über den Moodle-Kurs zur Verfügung gestellt. Anknüpfend an

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den theoretischen Input werden praktische Online-Aufgaben in Kleingruppen bearbeitet, die auf ein tieferes Verständnis der Texte zielen. Die Aufgaben sind interaktiv und multimedial gestaltet. Darüber hinaus sind die Aufgaben größtenteils so angelegt, dass sie die Kooperation und Interaktion zwischen den Studierenden fördern. Die Studierenden erstellen eigenständig eine digitale Mind-Map, eine Fotostory, ein Video, transkribieren und interpretieren ein vorgegebenes Interview und beurteilen zwei Studien hinsichtlich forschungsethischer Kriterien. Die Gruppen erhalten nach Abgabe der jeweiligen Aufgaben innerhalb einer Woche ein individuelles Feedback, welches die Lehrenden über die Kommentarfunktion von Moodle schreiben und somit den Studierenden die Möglichkeit geben, ihre Stärken und Schwächen bei der Aufgabenbearbeitung zu reflektieren. Dabei haben die Studierenden die Möglichkeit, Rückfragen zum Feedback zu stellen, um sich so mit den Lehrenden in einen Interaktionsprozess zu begeben. Umsetzung des Projekts und Zeitplan Zur Vorstellung des Projektes und der Konzeption des Moodle-Kurses sowie der Gruppenfindung wurde zuerst ein Informationstreffen mit den Studierenden vereinbart. Dort bestand auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen oder Anregungen zur Gestaltung des Kurses zu äußern. Anschließend folgte die sechswöchige Projektphase, in der die Kursteilnehmenden online in Moodle die sechs Selbstlerneinheiten bearbeiteten. Der sechswöchige Moodle-Kurs gilt als Vorbereitung für die forschende Arbeit im sich anschließenden Proseminar (Präsenzveranstaltung). Die Erarbeitung theoretischer Grundlagen bereitete das praktische Arbeiten in einem Proseminar vor, sodass die Studierenden mit Abschluss des Moodle-Kurses und des Proseminars eine umfassende theoretische und praktische Einführung in qualitative Sozialforschung erfahren haben. Die enge Verzahnung von Theorie und Praxis soll dabei den prozessualen und zirkulären Charakter der qualitativen Sozialforschung abbilden. Das eigenständige Bearbeiten der Aufgaben im Moodle-Kurs (Erstellen von Online-Mindmaps, Videos usw.) wurde zu Beginn des Proseminars

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aufgegriffen und reflektiert. Im Proseminar gestalteten die Studierenden schließlich unter Anleitung des Lehrenden in Kleingruppen ein eigenes Forschungsdesign, indem sie selbstständig Forschungsfragen entwickelten und die im Forschungsprozess generierten Daten transkribierten und auswerteten. In einer Präsentationssitzung stellten die Studierenden ihr eigenes Forschungsprojekt vor und im Plenum wurden Aspekte der Durchführung und Auswertung diskutiert und Anregungen zur weiteren Arbeit mit den erhobenen Daten gegeben. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit der eigenen Forschungsfrage war dann theoriebasiert oder praxisorientiert in einer Hausarbeit oder Qualifizierungsarbeit möglich. Exemplarisches Studierendenergebnis Neben einer fachinhaltlichen Einführung in die qualitative Sozialforschung wurde parallel die Medien- und Urteilskompetenz der Studierenden gefördert. So erstellten die Studierenden in Kleingruppen eine digitale Mind-Map, eine Fotostory, ein Video, transkribierten und interpretierten ein vorgegebenes Interview und beurteilten abschließend zwei Studien hinsichtlich forschungsethischer Kriterien. Um einen Einblick in die Ergebnisse zu erhalten, wird ausschnittsweise eine exemplarische Fotostory einer Gruppe abgebildet (siehe Abbildung 1). Zu Beginn der Fotostory haben die Studierenden ihre Kleingruppen in zwei Tandems (i.d.R. 2 x 2 Studierende) geteilt. Jedes Tandem hatte einen individuellen Text: Das erste Tandem las sich in die Grundlagen der qualitativen Interviewforschung ein, während das andere Tandem sich in einem kleinen Literaturstudium mit ethnographischen Studien vertraut machte. In der Fotostory sollten beide Ansätze dann zusammengefügt werden, indem die Tandems eine fiktive Situation initiierten und sich über ihr Gelesenes austauschten. Ziel dieser Aufgabe war es, die kommunikative Kompetenz (vgl. Schell 2005) der Studierenden zu erweitern. Dazu setzten sich die Studierenden mit den fachlichen Gegenständen aktiv und kooperativ auseinander und formulierten Kernaspekte, die sich in den Sprechblasen wiederfinden. Das

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Einüben der Medienkompetenz erfolgte über die reflexive Interaktion (vgl. Schorb 2008) mit der Eigenerstellung einer Fotostory, die eine authentische Medienerfahrung darstellt.

Abbildung 1: Exemplarische Fotostory

Evaluationsergebnisse An der Evaluation in Form eines Querschnittsdesigns nahmen 47 Studierende teil (87,2% weiblich und 12,8% männlich), wovon 70% im ersten Semester studierten. Für das Projekt ABC wurde parallel zur üblichen EvaSysSeminarevaluation ein Instrument entwickelt, das neben dem Aspekt des Forschenden Lernens auch den Moodle-Kurs berücksichtigte. In diesem Zusammenhang haben zwei Masterstudierende der Erziehungswissenschaft eine empirische Hausarbeit geschrieben: Sie analysierten das Seminar in Hinblick

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auf die Auswirkungen des Moodle-Kurses auf die eigene Wahrnehmung der Studierenden hinsichtlich ihrer intrinsischen Motivation und der Autonomieunterstützung. Die Hausarbeit evaluierte der Kurs aus einer Zusammenschau von bereits vorformulierten Items aus den EvaSys-Bögen sowie Items, die eigens zu diesem Zweck entwickelt wurden. Auf Basis einschlägiger Fachliteratur (vgl. Hartnett 2016), die zeigt, dass Autonomieunterstützung im Lernkontext zu selbstbestimmten Formen der Motivation führen kann, widmete sich die Hausarbeit der konkreten Fragestellung, ob der Moodle-Kurs bei den Studierenden eine intrinsische Motivation durch Autonomieunterstützung herstellen konnte. Als zentrales Ergebnis zeigt sich, dass die Autonomieunterstützung der Studierenden mit ihrer intrinsischen Motivation zusammenhängt. Personen mit einer geringen Wahrnehmung der Autonomieunterstützung wiesen auch ein geringeres Gefühl des Autonomieerlebens auf und waren weniger intrinsisch motiviert. Für die Praxis bedeutet das, dass es sinnvoll ist, Moodle-Kurse autonomieunterstützend zu gestalten, um die intrinsische Motivation der Teilnehmenden zu steigern.1 Die Items, die unabhängig von der Hausarbeit für die eigene Evaluation entwickelt wurden, zeigen eine Bewertung des Moodle-Kurses mit einer Schulnote von 2,7. Diese Bewertung deutet unter anderem auf den als (zu) hoch empfundenen Arbeitsaufwand zur Absolvierung des Kurses hin, wie sich in Gesprächen mit den Studierenden zeigte. Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass die Studierenden im ersten Semester waren und selbst erst einmal im Studium sozialisiert und mit neuen Arbeitsaufgaben und -formaten vertraut gemacht werden müssen. In der Evaluation gaben 70% der Studierenden an, ihre Kenntnisse zur Methodik der qualitativen Sozialforschung erweitert zu haben. Insgesamt sind die Studierenden mit dem Projekt ABC zufrieden, was sich an den Kommentaren, die 1

Dies kann praktisch so umgesetzt werden, dass die gestellten Aufgaben begründet werden, keine kontrollierende Sprache verwendet wird sowie die lernrelevanten Aktivitäten an die persönlichen Interessen der Lernenden angepasst werden. Konkret wurde dies im Moodle-Kurs so umgesetzt, dass zur Abgabe der unterschiedlichen Wochenaufgaben Kalenderdaten als Richtwert angegeben wurden, jedoch nicht verpflichtend waren, sodass die Studierenden ihre Aufgaben auch am letzten Tag hätten abgeben können. Bei den Aufgabenstellungen wurde darauf geachtet, dass die Sprache nicht kontrollierend wirkte, indem das Attribut bitte eingefügt wurde.

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in der Evaluation generiert wurden, zeigt. Das eigenständige Bearbeiten einer Forschungsfrage wurde besonders positiv erlebt. In diesem Zusammenhang äußerten die Studierenden, dass sie gerne an weiteren Projekten teilnehmen möchten: „Ich wünsche mir mehr Veranstaltungen, in denen eigene Forschungsarbeiten durchgeführt werden“ und „ABC-Kurs: kreative Aufgabenstellungen; arbeiten mit Medien & Kennenlernen verschiedener Programme; Feedback zu den Aufgaben“. Stärken und Schwächen des Projekts Die hier beschriebenen Erfahrungen beziehen sich auf die erste Projektdurchführung im Wintersemester 2017/18. Die Studierenden haben im Projekt eigenständig ein kleines Forschungsprojekt geplant und begaben sich anschließend auf Forschungsreise, um ihr theoretisch erarbeitetes Vorhaben in der Praxis umzusetzen. Die Stärken des Projekts zeigen sich in dessen Ablauf, der umfassend in die Prozesse der qualitativen Sozialforschung einführt: Das selbstorganisierte Lernen von Beginn der Planung an, über die Erhebung der Daten und anschließend das Interpretieren und Vorstellen der Ergebnisse fördert eine intensive Auseinandersetzung mit Forschendem Lernen. Die Studierenden waren in den zirkulären Prozess des qualitativen Forschens integriert und erlebten auf ihrer Forschungsreise die Abläufe eines qualitativen Forschungsvorhabens. Die selbstständig generierten Forschungsdaten können anschließend fakultativ in Hausarbeiten aufgegriffen, vertieft und weiterentwickelt werden. Der vorbereitende Moodle-Kurs entlastete die Seminararbeit, sodass in den Präsenzveranstaltungen ein Fokus auf die Umsetzung der Forschungsprojekte gelegt werden konnte. Das angegliederte Tutorium bot den Studierenden in dieser Hinsicht Anregung und Unterstützung. Mit dem starken Fokus auf qualitative Forschungsmethoden wurde mit dem Projekt die Angebotsvielfalt in der Studieneingangsphase im Studiengang B.A. Erziehungswissenschaft erweitert. Einige Schwierigkeiten in der Durchführung ergaben sich in der eigenständigen Organisation und Kommunikation innerhalb der Kleingruppen im Moodle-Kurs, denen seitens der Projektleitung durch das Angebot digitaler

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Kommunikationstools (Moodle-Forum, Adobe Connect etc.) entgegenzuwirken versucht wurde. Hier ist besonders anzumerken, dass sich die Studierenden in den ersten Studiensemestern in die neuen Arbeits- und Lernformen in der Universität einfinden müssen und es hilfreich ist, sie organisatorisch und beratend zu unterstützen. In der Evaluation des Moodle-Kurses lobten die Studierenden die unterschiedlichen Aufgabenformate. Neben einer fachinhaltlichen Einführung in die qualitative Sozialforschung wurde parallel die Medien- und Urteilskompetenz der Studierenden gefördert. So erstellten die Studierenden eigenständig eine digitale Mind-Map, eine Fotostory, ein Video, transkribierten und interpretierten ein vorgegebenes Interview und beurteilten abschließend zwei Studien hinsichtlich forschungsethischer Kriterien. Diese Aufgabenstellungen wurden von Studierenden zum Teil als besonders „kreativ“ wahrgenommen, es zeigte sich aber auch an dieser Stelle, dass einige Studierende die Aufgaben aufgrund fehlender Kompetenzen und Techniken nicht zu ihrer eigenen Zufriedenheit vollständig erarbeiten konnten; allerdings minderte das die Qualität der Studierendenergebnisse aus Perspektive der Lehrenden nicht. Dieser Umstand wurde trotzdem seitens der Lehrenden durch ein Unterstützungsangebot in Form von Bereitstellung hilfreicher Links und Leitfäden aufzufangen versucht. Nachhaltigkeit und Transfer des Projektes ABC Der Moodle-Kurs wurde im Sommersemester 2018 in einer reduzierten Variante in einem Proseminar im B.A.-Studiengang Erziehungswissenschaft verwendet. Das interdisziplinäre Forschungs- und Lehr-/Lernprojekt der Erziehungs- und Geschichtswissenschaft PHase: In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen (vgl. den Beitrag PHase in diesem Band) hat sich im Sommersemester 2019 mit dem Konzepttransfer des Moodle-Kurses in die Geschichtswissenschaft befasst. Kern des Projektes PHase ist es, den im Projekt ABC entwickelten Selbstlernkurs für die Anforderungen des neuen Master-

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studiengangs Public History zu adaptieren, um den Studierenden eine interaktive und handlungsorientierte Einführung in Methoden der qualitativen Sozialforschung zu ermöglichen. Literatur Hartnett, Maggie (2016): The Importance of Motivation in Online Learning. In: dies. (Hg.) (2016): Education in Online-Motivation. Singapur: S. 5-32. Schell, Fred (2005): Aktive Medienarbeit. In: Hüther, Jürgen & Schorb, Bernd (Hg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. 4., vollständig neu konzipierte Auflage. München: S. 9-16. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss vom 16.12.2004. Online unter: https:// www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004 _12_16-Standards-Lehrerbildung.pdf Schorb, Bernd (2008): Handlungsorientierte Medienpädagogik. In: Sander, Uwe, von Gross, Friederike & Hugger, Kai-Uwe (Hg.) (2008): Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: S. 75-86. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2014): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Online unter: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/ Recht/LAusbildung/KMK-Beschluesse/index.html

PHase – In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen Christian Bunnenberg, Sandra Aßmann, Jörg Maack & Andrea Blome Der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann konstatierte 1993 mit Blick auf die gesellschaftliche Relevanz von Geschichte: „So viel Geschichte wie heute war nie“ (Bergmann 1993, S. 209). Seine mittlerweile oft bemühte Bemerkung kann als eine der bekanntesten akademischen Reaktionen auf einen seit den späten 1970er Jahren in der Bundesrepublik einsetzenden „Geschichtsboom“ gelten. Standen die Geschichtswissenschaft und der Geschichtsunterricht seit den 1960er Jahren hierzulande angesichts der erstarkenden Sozialwissenschaften unter einem erhöhten Legitimationsdruck, sodass sich sogar der Bundespräsident Walter Scheel 1976 zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass Deutschland „Gefahr [laufe], ein geschichtsloses Land zu werden“ (Scheel 1976, S. 1049), gaben Initiativen wie die Geschichtswerkstättenbewegung, der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und nicht zuletzt mediale Großereignisse wie die vom WDR im Januar 1979 ausgestrahlte US-amerikanische TV-Serie Holocaust entscheidende Impulse für ein breites öffentliches Interesse der bundesrepublikanischen Gesellschaft an Geschichte (Bösch, 2019, S. 363). Unter Historiker_innen und Geschichtsdidaktiker_innen ist man sich daher seit mittlerweile fast 30 Jahren einig: Geschichte in der Öffentlichkeit boomt. Und: es ist derzeit kein Ende in Sicht. Historische Ausstellungen, Mittelaltermärkte, Kinofilme, Dokumentationen, historische Romane, Radiofeature und Computerspiele sind mithin die sichtbarsten medialen Präsentationsformen von Geschichte. In den Auslagen der Buchhandlungen, den einschlägigen Feuilletons und in den Programmen der Fernsehsender reiht sich Jubiläum an Jubiläum. Allein die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg 2014 oder das sogenannte „Lutherjahr“ 2017 waren Anlass zu Dutzenden Sachbüchern, Ausstellungen und Dokumentarfilmen. Erzeugt werden diese Darstellungen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_10

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von Vergangenheit durch Institutionen und Akteure aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik, die mit ihren Angeboten die Öffentlichkeit oder Teilöffentlichkeiten für Geschichte interessieren oder auf diese aufmerksam machen wollen. Die Zielsetzung der inhaltlichen und medialen Gestaltung oszilliert dabei zwischen reinen Unterhaltungsformaten und kritisch-reflektierten Vermittlungsangeboten der historisch-politischen Bildung. Jegliche dieser Erscheinungsformen von Geschichte in und für die Öffentlichkeit bilden das Feld der geschichtswissenschaftlichen Disziplin „Public History“ (Lücke & Zündorf 2018). Die universitäre Public History analysiert die Repräsentationen von Vergangenheit als Bestandteile einer als kollektives Konstrukt in der Gesellschaft verankerten Geschichtskultur und fokussiert dabei vor allem Institutionen, Professionen, Medien sowie Adressat_innen und beleuchtet deren kognitive, ästhetische, politische, moralische, religiöse und ökonomische Dimensionen (Rüsen 2014). Gleichzeitig widmet sich die Public History auch den Produktionsprozessen und -zusammenhängen der Repräsentationen von Vergangenheit. Als universitäre Disziplin gibt es die Public History seit 1976 in den USA, als an der University of California der erste gleichnamige Masterstudiengang eingerichtet wurde. Ein Angebot, das zunächst als „Employment-Maßnahme“ für Historiker_innen angelegt war, gibt es gegenwärtig allein in den Vereinigten Staaten an 135 Universitäten (Lücke & Zündorf 2018, S. 14). Eine universitäre Public History in Deutschland wurde 2008 erstmalig durch die Freie Universität Berlin eingerichtet. Mittlerweile gibt es Angebote in Form von Studiengängen, Studienmodulen oder Lehrenden mit entsprechenden Denominationen an den Universitäten Heidelberg, Köln, Flensburg, Regensburg, Tübingen, Bremen und Bochum. Unterscheidungsmerkmale lassen sich vor allem aus der Struktur der Studiengänge oder -module, den Praxisphasen und den fachwissenschaftlichen Anteilen ableiten. Der im Wintersemester 2017/18 an der Ruhr-Universität Bochum eingerichtete Masterstudiengang Public History setzt sich ebenfalls mit allen Erscheinungsformen von Geschichte in der Öffentlichkeit auseinander. Studierende des Studienganges bewegen sich dabei perspektivisch in potenziellen

PHase – In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen

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Berufsfeldern (z.B. Museen, Archive, Geschichtsagenturen, Medienanstalten), mit dem Ziel, Prozesse der Erinnerungs- und Geschichtskultur sowohl inhaltlich als auch medial mitzugestalten und zugleich deren spezifische Dimensionen zu erforschen. Im ersten Jahrgang des Studienganges hat sich gezeigt, dass dafür Grundkenntnisse in qualitativer Sozialforschung in zunehmendem Maße erforderlich sind, diese jedoch nur in geringem Maße im Studienverlauf Platz fanden. Aus diesem Grund wurde in Kooperation mit der Erziehungswissenschaft das Lehr-/Lernprojekt PHase initiiert, das das fachliche Studium um forschungsmethodisches Wissen ergänzt. „PHase“ steht dabei für „In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen“ und dient dazu, dass die Studierenden befähigt werden, qualitative Forschungsmethoden in ihren zukünftigen beruflichen Handlungsfeldern anzuwenden und kriteriengeleitet zu reflektieren. Kern des Projektes ist es, den im Rahmen des Universitätsprogramms „Forschendes Lernen“ in der Erziehungswissenschaft entwickelten und mit Erfolg evaluierten Selbstlernkurs ABC: Abseits des Curriculums auf Moodle-Basis (vgl. den Artikel von Sandra Aßmann, in diesem Band) für die Anforderungen des neuen Masterstudiengangs Public History zu adaptieren. Es erfolgt also ein Transfer von der Erziehungs- in die Geschichtswissenschaft. Die beiden leitenden Dozent_innen (Bunnenberg und Aßmann) hatten bereits Erfahrung mit der interdisziplinären Zusammenarbeit im Rahmen eines sogenannten 5x5000-Projektes,1 in dem sie gemeinsam Lehrveranstaltungen angeboten haben. Insofern sind die Fachkulturen wechselseitig bekannt. Jörg Maack, eine wissenschaftliche Hilfskraft mit Bachelorabschluss und Andrea Blome, eine studentische Hilfskraft aus der Erziehungswissenschaft, die selbst an dem ABC-Projekt mitgearbeitet hat, begleiteten die Weiterentwicklung des Projektes engmaschig und brachten die studentische Perspektive bereits auf Planungsebene mit ein.

1

In diesem Förderprogramm vergibt das Rektorat der RUB regelmäßig fünf Mal jeweils 5000 Euro, um innovative Entwicklungen im Bereich des eLearning zu initiieren.

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Bei dem digitalen Selbstlernkurs handelt es sich um eine interaktive und handlungsorientierte Einführung in Methoden der empirisch-qualitativen Sozialforschung. Die Auseinandersetzung mit den Kursinhalten des ABC-Kurses befähigt Studierende (in der Grundkonzeption Erstsemesterstudierende der Erziehungswissenschaft), eine eigene Forschungsfrage zu entwickeln und diese in kleinem Rahmen empirisch zu bearbeiten (z.B. durch die Entwicklung eines Interviewleitfadens und die Durchführung, Transkription und Reflexion eines Interviews). Da es sich um ein digitales Lehrangebot handelt, kann der Einsatz des Moodle-Kurses auch parallel zu einer „klassischen“ Lehrveranstaltung im wöchentlichen Rhythmus eingesetzt werden. Die Studierenden können so in ihrem eigenen Tempo und ortsunabhängig an den Inhalten arbeiten. Die erworbenen Kompetenzen können zudem in den Seminarsitzungen der jeweiligen Module des Studienganges zur Analyse, Modellierung und Durchführung von Besucher- und Rezipient_innenforschung angewandt und erprobt werden. Der interdisziplinäre Ansatz des Projektes war zur Entwicklung des PHase-Kurses insofern leitend, als erziehungswissenschaftliches Wissen auf die Geschichtswissenschaft und ihre speziellen Anforderungen übertragen wird. Die Anpassungen werden dabei auf die Erfordernisse des Studiengangs Public History zugeschnitten, sodass auch der Transfer vom Bachelor- auf das Masterniveau – z.B. bezogen auf das erwartbare Lerntempo oder den Schwierigkeitsgrad und den Umfang von Aufgaben – erfüllt werden kann. Während der ABC-Kurs innerhalb eines Semesters stattfindet, soll der PHase-Kurs langfristig in zwei aufeinanderfolgenden Semestern und entsprechend in zwei Modulen eingesetzt werden: •

In der Praktischen Übung (Modul 1) erarbeiten die Studierenden des Studiengangs Public History eigenständig eine (kleine) Ausstellung zu einem historischen Thema und erproben in diesem Kontext auch empirische Methoden zur Besucher_innenforschung. Das Lehrangebot des PHase-Kurses unterstützt dieses Vorgehen durch die Vermittlung von theoretischem und methodischem Wissen.

PHase – In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen •

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Im praxisorientierten Seminar (Modul 2) setzen sich die Studierenden aufbauend darauf u.a. kritisch mit Konzepten der Besucher- und Rezipient_innenforschung geschichtsvermittelnder Institutionen (u.a. Museen, Gedenkstätten) auseinander. Weiterhin dienen die beiden Module sowie das Lehrangebot des PHase-Kurses als Vorbereitung auf das Praxissemester, in dem sich die Studierenden an ihren Praktikumsstandorten im Bereich der empirischen Besucher_innenforschung engagieren können.

Die verfolgten Lernziele des Kurses liegen also darin, dass Studierende des Masterstudiengangs Public History an Methoden qualitativer Sozial- und Medienforschung herangeführt werden und diese im Forschungsfeld praktisch umsetzen können. Der Kurs ist dabei in vier Blöcke unterteilt (vgl. Abbildung 1): (1) Einführung in die qualitative Sozialforschung: Die Studierenden erarbeiten allgemeine Grundlagen der qualitativen Sozialforschung. Hierbei soll auch der Unterschied zur quantitativen Sozialforschung deutlich werden. (2) Forschungsmethoden: Die Studierenden erarbeiten in Kleingruppen ausgewählte Methoden der qualitativen Sozialforschung. Dazu wurde die qualitative Interviewforschung, die qualitative Onlinebefragung sowie die ethnographische Beobachtung vom Projektteam als besonders bedeutsam für die Geschichtswissenschaft identifiziert. (3) Methodendurchführung: Die Studierenden entwickeln eine eigene Forschungsfrage im Kontext der Besucher- und Rezipient_innenforschung, die sie auf Basis ihres erarbeiteten Wissens aus den ersten beiden Blöcken empirisch überprüfen. Dazu wenden sie ihre jeweilige Methode empirisch im Deutschen Bergbaumuseum in Bochum an. (4) Datenauswertung & Meta-Analyse: Im Anschluss an die Durchführung werten die Studierenden mithilfe einer Inhaltsanalyse ihre Forschungsdaten aus. Zudem sollen die Gruppen, auf Grundlage ihrer Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung der Methode, mögliche

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Christian Bunnenberg, Sandra Aßmann, Jörg Maack & Andrea Blome Potenziale und Grenzen ihrer Methode für die Besucher- und Rezipient_innenforschung herausarbeiten.

Abbildung 1: PHase Verlaufsplan

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Die vier Blöcke werden von den Studierenden online in dem dafür konzipierten Moodle-Kurs bearbeitet. Dafür stehen zu jedem Block Grundlagentexte zur Verfügung, die einen Einblick in die verschiedenen Aspekte der qualitativen Sozialforschung ermöglichen. Die Erfahrungen des ABC-Projekts haben gezeigt, dass eine Begleitung der Onlinephasen durch Präsenzveranstaltungen sinnvoll ist, um z.B. organisatorische Fragen zur Zeitplanung und zur Gruppenfindung zu klären, aber auch, um eine Unterstützung bei der Entwicklung der Forschungsfrage und der Methodendurchführung anzubieten. Aus diesem Grund wurden drei Präsenzsitzungen für das Projekt geplant, die zeitlich vor, in der Mitte und am Ende des Projektes stattfinden. So wird die OnlineArbeitsphase um drei Präsenztreffen ergänzt, die die Onlinephase vorbereiten, begleiten und reflektieren. Außerdem wird ein Besuch in einem regionalen Museum realisiert, um dort die entwickelten Fragestellungen empirisch zu untersuchen. Um in der Onlinephase ein tiefergehendes Verständnis der Grundlagentexte zu sichern, werden zu jedem Text kleinere Arbeitsaufgaben angeboten, die in Einzel- oder Gruppenarbeit beantwortet werden sollen. Die Ergebnisse aus den einzelnen Blöcken werden in einer Dateiablage innerhalb des Kurses hochgeladen, die auch für die anderen Teilnehmenden des Kurses einsehbar ist. Der Kurs basiert demnach auf einem konstruktivistischen Ansatz, da die Teilnehmenden aktiv an den Inhalten des Kurses mitarbeiten, indem sie sich situiert und selbstständig Wissen aneignen und dieses miteinander teilen. Dadurch erhält z.B. die Gruppe, die ein Interview durchführt, auch Zugriff auf alle Materialien und Ergebnisse der anderen Gruppen und kann sich daher auch während oder nach Abschluss des Projektes über die anderen Methoden informieren. Der Aufbau des Kurses folgt der Chronologie eines Forschungsprozesses. Die Studierenden erarbeiten sich demnach innerhalb des digitalen Selbstlernkurses Wissen über qualitative Sozialforschung und deren Methoden, um dieses Wissen dann in der Praxis anzuwenden. Sie werden durch die Bearbeitung einer eigenen Forschungsfrage in alle Facetten eines Forschungsprojekts eingeführt und entwickeln, planen, bewerten und reflektieren selbstständig ihr eigenes Projekt. Die Bearbeitung des Kurses soll den Studierenden somit er-

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Christian Bunnenberg, Sandra Aßmann, Jörg Maack & Andrea Blome

möglichen, qualitative Forschungsmethoden in Bezug auf ihr zukünftiges berufliches Handlungsfeld reflektiert und handlungsorientiert einsetzen zu können. Gleichzeitig werden die Studierenden durch den Moodle-Kurs auch an Techniken digitalen Arbeitens herangeführt, die heutzutage in allen Berufsfeldern Relevanz besitzen. Der erstellte Kurs wird im Sommersemester 2019 auf freiwilliger Basis mit ca. 30% der bisherigen Studierenden der beiden Public History-Jahrgänge erprobt. Aus diesem Grund stehen derzeit exemplarische Ergebnisse des Projektes noch aus – als vorläufiges Zwischenergebnis lässt sich aber feststellen, dass die Studierenden mit hoher Motivation an den Inhalten arbeiten, zu guten Resultaten kommen und sich aktiv in die Präsenzsitzungen einbringen. Die jeweils ausgewählten Fallbeispiele an der Schnittstelle zwischen Fachwissenschaft und Praxisorientierung eröffnen theoretisch fundierte Perspektiven auf die Repräsentation von Geschichte im öffentlichen Raum. Die forschungsorientierte Lehrveranstaltung fördert nicht zuletzt Kenntnisse über didaktische Konzepte und Methoden zur Wissenschaftsvermittlung. Für den Bereich der Besucher- und Rezipient_innenforschung erhält der Erwerb von methodischen und theoretischen Fertigkeiten und Fähigkeiten eine große Bedeutung. Die geschichtswissenschaftlich und geschichtsdidaktisch gewendeten Methoden der empirischen Sozialforschung können im Praxissemester und im Rahmen der Masterarbeit von den Studierenden in eigenen Forschungsprojekten zur Anwendung gebracht werden. Nach einer erfolgreichen Erprobung des Vorhabens soll der digitale Selbstlernkurs zu einem dauerhaften Angebot in den oben erwähnten Modulen werden.

PHase – In Public History angeleitet soziale Wirklichkeit erforschen

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Literatur Bergmann, Klaus (1993): „So viel Geschichte wie heute war nie“ – Historische Bildung angesichts der Allgegenwart von Geschichte. In: Schwarz, Angela (Hg.) (1993): Politische Sozialisation und Geschichte. Festschrift für Rolf Schörken zum 65. Geburtstag. Hagen: S. 209-228. Bösch, Frank (2019): Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. München. Lücke, Martin, & Zündorf, Irmgard (2018): Einführung in die Public History. Göttingen. Rüsen, Jörn (2014): Die fünf Dimensionen der Geschichtskultur. In: Nießer, Jacqueline & Tomann, Juliane (Hg.) (2014): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn/München: S. 46-57. Scheel, Walter (1976): Folgerungen aus der Geschichte für Wert und Würde der Demokratie. Ansprache anlässlich der Eröffnung des Deutschen Historikertages am 22. September 1976. In: Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 105: S. 1049.

Forschendes Lernen im Peer-to-Peer-Modus

Einleitende Bemerkungen Paul Sebastian Ruppel & Jürgen Straub Es zählt zu den allgemeinen, lebensweltlichen Erfahrungen, dass sich peers gegenseitig etwas beibringen können – mitunter mehr und (auch lebenspraktisch) Wichtigeres, als wenn vermeintliche Autoritäten fortgeschrittenen Alters Wissen und Können zu vermitteln suchen. In der Entwicklungspsychologie gehört es seit vielen Jahrzehnten zu den elementaren Erkenntnissen, dass sich speziell in der Jugendphase dieses informelle, in die Alltagspraxis integrierte Lehren und Lernen mitunter kaum durch ähnlich effektive Alternativen ersetzen lässt. Das Lehren und Lernen im Peer-to-Peer-Modus ist mittlerweile auch als hochschuldidaktisches Prinzip etabliert. Inwiefern gilt jedoch, was für peers im Alltag Jugendlicher zutrifft, auch für Studierende? In welchem Sinne sind Studierende peers (und nicht bloß Gleichaltrige)? In aller Regel teilen sie nur manche Erfahrungen im Hochschulalltag und verbringen nur einen kleineren Teil ihrer Zeit miteinander. Sie verbindet allenfalls ein sehr spezieller und begrenzter konjunktiver Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Die oben gestellten Fragen sind auch berechtigt und wichtig, sobald wir annehmen, dass Personen mit dem Eintritt in die Hochschule den Status von Jugendlichen im „psychosozialen Moratorium“ (Erik H. Erikson) zwar noch nicht ganz verloren haben, aber doch allmählich aufgeben und wenigstens zeitweise suspendieren müssen. Die Welt schaut schnell etwas anders aus, sobald sie als Studierende in die Rolle von Lehrenden schlüpfen und temporär die professionellen Dozent_innen ersetzen oder ihre Arbeit ergänzen – wobei ihnen stets eine Mitverantwortung zuwächst, auch wenn sie an Prüfungen und Leistungsbeurteilungen in aller Regel nicht beteiligt werden. Den neuen Freiheiten und Möglichkeiten der Mitgestaltung der Lehr-Lern-Praxis korrespondieren neue Verantwortungen und große Herausforderungen. Anke Spies (2017, S. 129) beginnt ihre Ausführungen zum Peer-to-PeerPrinzip im forschenden Lernen bezeichnender Weise mit den Worten: „Das

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Paul Sebastian Ruppel & Jürgen Straub

vernetzende Peer-to-Peer-Prinzip scheint eine motivational förderliche, aber anforderungsreiche Komponente Forschenden Lernens zu sein.“ Sie unterscheidet dabei – wie üblich – mehrere Typen, neben der klassischen Form tutorialen Lehrens eine „moderierte Peer-to-Peer-Orientierung“. Binnendifferenzierungen sind möglich: Während im konventionellen Tutorium eine Wiederholung, Vertiefung, Erweiterung, intensive Aneignung und kritische Reflexion der in der Hauptveranstaltung – meistens einer Vorlesung – vermittelten Inhalte vorgesehen ist, sind im Rahmen forschenden Lernens auch die tutorialen Formate sehr viel stärker auf Eigenaktivität und Kooperation sowie einen intensiven Austausch der beteiligten Studierenden mit den PeerTutor_innen ausgelegt (wodurch Lernbarrieren abgebaut werden sollen). In den von den Dozent_innen kontinuierlich mentorierten Varianten sind die Lehrpersonen in der Peer-Forschungsgruppe öfter präsent und spielen demgemäß eine stärkere Rolle bei der beratenden, strukturierenden oder korrigierenden Mitgestaltung des Forschungsprozesses. Nur die im forschenden Lernen zum Einsatz gelangenden Varianten sind im Folgenden relevant (für allgemeinere Ausführung zum peer learning in der Hochschulbildung vgl. etwa Boud, Cohen & Sampson 2014). Wichtig ist es außerdem, diejenigen Formate, die ausschließlich die Zusammenarbeit von Studierenden auf gleicher Qualifikationsstufe vorsehen, von solchen abzugrenzen, die auf den Austausch nicht nur zwischen verschiedenen Semestern, sondern auch zwischen BA- und MA-Studierenden oder auch Doktorand_innen abzielen. Diese Form grenzüberschreitender Kooperation wird an der RUB als MA-DOC bzw. BA-MA-Prinzip bezeichnet und derzeit systematisch entwickelt und erprobt (siehe den Beitrag von Ruppel und Straub in dieser Rubrik; vgl. auch Edgcomb Crowe, Rice, Morris, Wolffe & McConnaughay 2010). Die Chancen auf Beteiligung an der Lehre und kooperatives Lernen bergen auch Risiken. Wer erfolgreich sein und Anerkennung erhalten möchte, kann auch scheitern. Auch in diesem Feld sind Studierenden nicht vor Kritik gefeit. Erfreulicherweise überwiegen die positiven Evaluationen die negativen Befunde in aller Regel deutlich – Peer-to-Peer-Formate sind bei Studierenden beliebt und werden überwiegend als gewinnbringend eingeschätzt (z.B. Spies

Einleitende Bemerkungen

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2017 und die Beiträge von Möller & Ludwig sowie Ontrup & Kluge in diesem Band). Dies gilt sowohl für den angestrebten Erwerb von Wissen und Können als auch für den Weg, auf dem dies vollbracht wird. Bilanziert man Vorteile und Nachteile, Chancen und Risiken dieses Lehr-Lern-Modus, lassen sich vor allem folgende Punkte anführen: Als positiv wird erlebt und (mitunter auch in empirischen Studien) bewertet: • •







die in aller Regel geringere Asymmetrie in den Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden (man kommuniziert auf Augenhöhe); die damit verwobene Abwesenheit von Machtkonstellationen und die normalerweise geringe Auswirkung direkt präsenter Hierarchien, die zwar nicht völlig verschwinden, jedoch in den Hintergrund rücken und zumindest vorübergehend an Bedeutung und Einfluss verlieren – solange sich die dozierenden peers nicht selbst in die Rolle der Mächtigen aufschwingen und einen ‚eigentlich‘ ungebührlichen Distinktionsgewinn durch neue soziale Hierarchisierungen anstreben; die stärker empfundene potentielle Austauschbarkeit der Rollen, die zumindest in vielen Konstellationen spontaner und leichter gewechselt werden können als in traditionellen Lehr-Lern-Beziehungen (in denen zumal die ‚professoral‘ sich gebenden Dozent_innen bekanntlich eher ungern von ihrem hohen Ross steigen, um sich in die Position der Lernenden zu begeben und dies auch noch coram publico zuzugeben); die motivierende Kraft, als Studierender durch anhaltendes, partizipatives Lernen und kontinuierliche Übung zumindest in einem bestimmten Gebiet bald schon selbst – wie die bereits lehrenden peers – über Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Dozent_innen zu verfügen, kann kaum überschätzt werden; eine besondere Note erhält der letzte Punkt, wenn (einige wenige) Studierende sogar erfahren können, dass sie manches, was zur Wissensvermittlung in einem Seminarraum etc. gehört, ohnehin bereits

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Paul Sebastian Ruppel & Jürgen Straub









besser können als manche ihrer Professor_innen und der wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen (z.B. anschauliche und ansehnliche Präsentationen erstellen; vielfältige technische Mittel und Medien in den Vortrag einbeziehen; auch freies Reden in öffentlichen Räumen kann dazu gehören, vielleicht in mehreren Sprachen); die Bildung von sozialen Netzwerken, mit der kollaborative Lehr-LernFormate gemeinhin einhergehen; eine größere Anzahl Studierender lernt sich – ggf. über verschiedene Qualifikationsstufen hinweg (vertikale Vernetzung) – näher kennen als in üblichen Lehrveranstaltungen; die Möglichkeit, Lehrveranstaltungen ineinander übergehen zu lassen, indem jene Student_innen, die mit dem forschenden Lernen beginnen, zunächst die (empirischen) Ergebnisse und reflektierten Erfahrungen des vorangegangenen Forschungsseminars zur Kenntnis nehmen (durch die Lektüre von Forschungsberichten oder auch in eigens dafür vorgesehenen, den erwünschten Wissenstransfer gewährleistenden Veranstaltungen, zu denen manchmal auch die allgemeine Öffentlichkeit eingeladen wird); gerade erfahrene peers mit vergleichsweise hoher wissenschaftlicher Expertise können Vorbildfunktion entfalten, die Noviz_innen ermutigen und zur Nachahmung der Mentor_innen motivieren kann; die in ökonomischer Sicht offenkundig vorteilhafte Nutzung vorhandener studentischer Ressourcen und Expertisen; das geht mit einer Entlastung der Dozent_innen einher, die durch das Engagement der peers Zeit gewinnen (und phasenweise vielleicht ganz in den Hintergrund treten können, ohne ihre Gesamtverantwortung abgeben zu dürfen).

Als negativ, potentiell riskant oder schwierig wird eingeschätzt (wiederum von den verschiedenen Akteursgruppen oder von empirischen Studien): •

die (erlebte) Überforderung, mit der sich die peers in der lehrenden, anleitenden bzw. mentorierenden Position konfrontiert sehen können;

Einleitende Bemerkungen •







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wahrgenommene Defizite auf allen Seiten und speziell das Bedürfnis von (ehrgeizigen, anspruchsvollen) peers nach der permanenten Anwesenheit von Lehrpersonen, die über ausgeprägte wissenschaftliche Expertise und Forschungskompetenz verfügen und alle auftauchenden Fragen sogleich beantworten, professionellen Rat und zügig weiterführende Anleitung gewähren können, sobald Bedarf besteht. Das ist zumindest bei peers auf gleichem Qualifikationsniveaus kaum der Fall, sodass anspruchsvolle studentische Forschungsgruppen, die das Ideal forschenden Lernens tatsächlich ernst nehmen und ihm nahe kommen können, eher selten entstehen; vgl. dazu den einführenden Beitrag von Straub, Ruppel, Plontke & Frey, im vorliegenden Band); aufkeimende Konkurrenz in (manchmal sehr ausgeprägt) kompetitiven Situationen, andere gruppendynamische Effekte (dazu ausführlicher Spies 2017, S. 132ff.) sowie negative Affekte (Missgunst, Neid, Missachtung, Herabsetzungen, Demütigungen und andere Entwertungen, etc.), die dem (forschenden) Lernen im Weg stehen und den Individuen womöglich schaden; unter ökonomischen Gesichtspunkten der (meistens) erhöhte Bedarf an Betreuung und Unterstützung, Anleitung und Weiterbildung, den die lehrenden, tutorierenden oder den Forschungsprozess beratend und unterstützend begleitenden peers von den Seminarleiter_innen zu Recht erwarten. Dadurch kann die oben erwähnte Entlastung der Dozent_innen wieder aufgehoben werden (diesbezüglich können die Verhältnisse sehr verschieden ausfallen, nicht zuletzt in Abhängigkeit vom verwirklichten Typ forschenden, forschungsbasierten, forschungsorientierten oder forschungsnahen Lernens, aber auch von den jeweils zu bewältigen Aufgaben); die labile Balance zwischen der Präsenz von Dozent_innen im Hintergrund und ihrem proaktiven Intervenieren, Moderieren und Anleiten. Alle Beteiligten müssen mitunter mit flexiblen Hierarchien ‚jonglieren‘;

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Paul Sebastian Ruppel & Jürgen Straub •



die unaufhebbare Spannung zwischen dem mit dem Peer-to-Peer-Prinzip verbundenen Abbau von Asymmetrien und Hierarchien, die aber dennoch hintergründig wirkmächtig und in Beurteilungs-/Prüfungssituationen in aller Regel wieder vollständig manifest werden; die Schwierigkeit, Lernresultate jenseits des Erwerbs theoretisch-methodischer Expertise, der gewonnenen Forschungsergebnisse, ihrer ebenfalls an wissenschaftlichen Standards ausgerichteten Darstellung in Forschungsberichten oder ihrer didaktischen Präsentation in öffentlichen Darbietungen angemessen und möglichst objektiv zu beurteilen (vgl. Spies 2017, S. 135f.); das betrifft etwa die motivationsfördernden kollaborativen Aspekte der Gruppenarbeit oder die Förderung von Schlüsselkompetenzen wie etwa die Teamfähigkeit.

Studentisches Lehren und Lernen im Peer-to-Peer-Modus stärkt die didaktische Expertise der Akteur_innen im Übrigen besonders dann, wenn die Beteiligten im Vollzug ihrer Tätigkeit und danach darüber nachdenken, was man denn eigentlich aus welchen Gründen, zu welchen Zwecken, nach welchen Prinzipien und Regeln bzw. mit welchen Verfahren getan hat – und was dabei herausgekommen ist, in wissenschaftlich-fachlicher und psychosozialer Hinsicht (etwa im Hinblick auf die gewachsene Motivation und stärkere Vernetzung von Studierenden, nicht zuletzt auf ihre Freude am kontinuierlichen Austausch und am selbstbestimmten, kollaborativen Arbeiten). Diese Reflexion sozialen Handelns und gemeinschaftlichen Tuns ist die beste Voraussetzung und nicht selten eine unerlässliche Bedingung für eine kontinuierliche oder abrupte, sukzessive oder in qualitativen Sprüngen sich vollziehende Verbesserung forschenden Lehrens und Lernens (für hochschuldidaktische Empfehlungen zur Förderung von „Reflexion im Forschenden Lernen“ siehe auch den von Riewerts, Rubel, Saunders & Wimmelmann 2018 vorgelegten Leitfaden). Dabei ist es wohl so, dass eine nicht zu behebende Spannung bestehen bleibt und eine ständige Herausforderung bildet, die Spies (2017, S. 136) zugunsten der wissenschaftlichen, messbaren und zertifizierbaren Erträge und studentischen Leistungen zu bearbeiten empfiehlt – wofür der strukturierende, unterrichtende und anleitende Beitrag der Dozent_innen

Einleitende Bemerkungen

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auch künftig wesentlich bleiben dürfte: „Peer-to-Peer entbindet Lehrende nicht von der Verantwortung, das Lernsetting so abzusichern, dass zertifikationsrelevante Erträge tatsächlich erzielt und Risiken des Scheiterns minimiert werden (können). Der hochschuldidaktische Preis dafür sind fachlich und methodisch begründbare Einschränkungen bzw. Relativierungen der Freiheit in der Wahl von Themen und Methoden. Der Gewinn dagegen kann in der qualitativen Steigerung von Abschlussarbeiten und der Optimierung des Theorie-Praxis-Verhältnisses liegen.“ (ebd.) Forschendes Lernen im Peer-to-Peer-Modus wird in den verschiedenen Veranstaltungen durchaus verschieden konzipiert, umgesetzt und weiterentwickelt. Das zeigen auch die in dieser Rubrik versammelten Beispiele. In ihrem Beitrag Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium skizzieren Ivonne Möller und Astrid Ludwig, wie sich Peer-Mentoring variantenreich und eng vernetzt in die Lehre integrieren lässt. Zu diesem Zweck werden Studierende z.B. darin geschult und begleitet, studentische Lerngruppen zu leiten (in denen kooperatives Lernen gelernt wird). Dadurch bekommen sie berufsqualifizierende Schlüsselkompetenzen vermittelt, etwa die Fähigkeit zur Projektleitung und zum Projektmanagement. Sobald forschendes Lernen erprobt wird, können die Studierenden solche Fähigkeiten praktisch umsetzen. Die Darstellung der Evaluierung der sogenannten Peer-MentoringModule für die angehenden Mentor_innen sowie der einschlägigen Veranstaltungen, an denen sie mitwirken, zeigt, wie eine prozessbegleitende, engmaschige Bewertung und Weiterentwicklung jener Angebote gestaltet werden kann, die sich zum Ziel gesetzt haben, Mentor_innen für das Lehren und Lernen im Peer-to-Peer-Modus systematisch zu qualifizieren. Auch der Beitrag von Greta Ontrup und Annette Kluge mit dem Titel Peer-Tutoring im Psychologie-Studium aus Sicht der Teilnehmenden und Tutor_innen – Ein Evaluationsprojekt widmet sich dem Aspekt der Bewertung, nicht zuletzt zur bedarfsbezogenen Optimierung von Fachtutorien im Kontext forschenden Lernens sowie von Angeboten für die Tutor_innen. Die Ergebnisse zeigen, dass alle Beteiligten von derlei Angeboten profitieren, Selbstwirksamkeit erleben und positive Erfahrungen des mit- und voneinander Lernens machen

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Paul Sebastian Ruppel & Jürgen Straub

können. Die Ausführungen legen zudem nahe, neben formalisierten Trainings und (Weiter-)Bildungsangeboten (wie sie im Beitrag von Möller & Ludwig skizziert werden), auch Formen der stärker informell gestalteten Vernetzung und des Austauschs für Studierende zu erwägen, die als peers ihren Kommiliton_innen beim gemeinsamen Lernen zur Seite stehen und in der Lehre Verantwortung übernehmen. Im Beitrag MA-DOC – Im Peer-to-Peer Modus zum Master und zur Promotion stellen Paul Sebastian Ruppel und Jürgen Straub Formate dar, die einen vergleichsweise breit gefassten peer-Begriff anlegen. In solchen Formaten werden das gemeinsame Lernen und Forschen über die Grenzen der Qualifikationsniveaus des Masters und der Promotion hinweg verwirklicht. Im Peer-toPeer-Arrangement im Sinne des MA-DOC-Modells docken Masterstudierende an laufende Promotionsprojekte an. So entstehen für alle Beteiligten gewinnbringende Kooperationen, die in manchen Fällen einen möglichst nahtlosen Übergang vom forschenden Lernen zur professionellen Forschung respektive vom Masterstudium zur Promotionsphase vorbereiten oder einleiten. Im letzten Beitrag dieser Rubrik mit dem Titel Schreiben und Sprechen reflektieren und gestalten – Sprechstunde für nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende stellt Ayşe Yıldırır ein Projekt dar, welches der steigenden sprachlichen Diversität und Internationalisierung der Studierendenschaft Rechnung trägt und sich speziell an Nicht-Muttersprachler_innen richtet. Das Kernstück bildet dabei eine Sprechstunde, die als vergleichsweise niederschwelliges und kultursensibles Unterstützungs- sowie Weitervermittlungsangebot an den jeweiligen Bedürfnissen der Studierenden ansetzt und sich deren sprachlichen Herausforderungen im Studium widmet. Dabei werden sowohl kulturell kanonisierte Formen der mündlichen Kommunikation und Präsentation als auch Konventionen des wissenschaftlichen Schreibens reflektiert und erfahrungsnah individuelle Umgangsweisen mit bestehenden sprachlichen Hürden gesucht.

Einleitende Bemerkungen

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Literatur Boud, David, Cohen, Ruth & Sampson, Jane (Hg.) (2014): Peer Learning in Higher Education: Learning from & with Each Other. London/New York. Edgcomb, Michelle R., Crowe, Heljä Antola, Rice, Jeffrey D., Morris, Sherri J., Wolffe, Robert J. & McConnaughay, Kelly D. (2010): Peer and NearPeer Mentoring: Enhancing Learning in Summer Research Programs. In: Council on Undergraduate Research Quarterly 2/2010: S. 18-25. Riewerts, Kerrin, Rubel, Katrin, Saunders, Constanze & Wimmelmann, Susanne (2018): Reflexion im Forschenden Lernen anregen. Ein Leitfaden für Selbststudium und Weiterbildung. In: Working Paper der AG Forschendes Lernen in der dghd: Working Paper Nr. 3. Online unter: www.uni-oldenburg.de/fl-workingpaper Spies, Anke (2017): Das Peer-to-Peer-Prinzip des Forschenden Lernens. In: Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen: Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M.: S. 129-137.

Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium Ivonne Möller & Astrid Ludwig Neben den hohen fachlichen Anforderungen an unsere Absolvent_innen werden fachaffine, berufsqualifizierende Kompetenzen immer wichtiger für den erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben. Die Fakultät für Physik und Astronomie hat daher gezielt physikspezifische Schlüsselkompetenz-Module entwickelt und curricular verankert. Zur Qualitätsüberprüfung und -sicherung wurde ein Evaluationstool entwickelt, welches nach einigen Iterationsschritten nun als Standardtool bei allen Peer-Mentoring-Modulen der Fakultät eingesetzt wird. Die Ergebnisse der Evaluierung fließen zeitnah in die Weiterentwicklung der Module ein. In diesem Beitrag werden im Folgenden die Peer-Mentoring-Module und die Evaluierungstoolbox (Fragebögen, Verfahrensschritte etc.) sowie erste Ergebnisse vorgestellt. Peer-Mentoring-Modul im Physik-Studium Im Zuge einer grundlegenden Überarbeitung der gestuften Studiengänge an der Fakultät für Physik und Astronomie an der Ruhr-Universität Bochum wurde mithilfe neuer, curricular fest verankerter Module zum Forschenden Lernen sowie durch die Intensivierung des Peer-Mentorings die Berufsqualifizierung von Physik-Absolvent_innen gezielt forciert. Zu diesem Zwecke wurden zu Studienbeginn physikspezifische Module zum Lernen lernen (Lerngruppenleitung) und ab dem vierten Semester verpflichtende Module zum Forschenden Lernen etabliert, während in der Masterphase fachübergreifende Schlüsselkompetenzen (z.B. Projektleitung und -management) gestärkt wurden. Um das Zusammenspiel der Module zu verstehen, werden die einzelnen Module hier kurz erläutert:

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_12

160

Ivonne Möller & Astrid Ludwig

Lerngruppenleitung (LGL) Hier lernen Studierende im 3./4. Fachsemester im Zweierteam eine Lerngruppe (LG) für Studierende im 1./2. Fachsemester zu leiten. Neben der Leitung einer Kleingruppe stehen das Anwenden des Prinzips der minimalen Hilfe und das kooperative Lernen im Vordergrund. Das Modul beginnt mit einer zweitägigen Schulung, in der in vielen Simulationen der Rollenwechsel vom Lernenden zum Lehrende geprobt wird. Die Schulung wird in enger Kooperation mit dem Zentrum für die Ausbildung von Tutoren (ZAT) der RUB durchgeführt. Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin (aktuell Annette Wolff) ist für die Entwicklung der Schulung maßgeblich und verantwortlich. Im Semester wird von den LGL-Teams wöchentlich eine 90 Minuten dauernde LG geleitet. Die Studierenden können wählen, ob Sie eine LG zur Experimentalphysik (Physik I oder II) oder zu den mathematischen Methoden leiten möchten. Zugangsvoraussetzung ist selbstverständlich ein bestandener Leistungsnachweis für das entsprechende Modul, in dem eine LG geleitet wird. Die fachliche Sicherung wird über eine 90-minütige Besprechung gewährleistet, die vor jeder LG stattfindet. Hier müssen die LGL zeigen, dass sie die Aufgaben inhaltlich beherrschen und sich zusätzlich mit dem Vermitteln dieser Inhalte auseinandergesetzt haben. Es werden mögliche Fragen der LG-Teilnehmer sowie mögliche Antworten/Nachfragen diskutiert. Diese Besprechung wird von einem Physik-Studierenden geleitet, der bzw. die sich im letzten Jahr des Masters befindet. Die Sicherung der Vermittlungskompetenz wird über regelmäßige Hospitationen des LGL-Betreuers bzw. der LGL-Betreuerin (LGL-B) gewährleistet. Als Pflichtmodul wurde die Lerngruppenleitung im Wintersemester 2013/14. SOWAS SOWAS steht für Selbst-Organisiertes Wissenschaftliches Arbeiten im Studium und beschreibt den Bestandteil des physikalischen Grundpraktikums, in dem das forschende Lernen im Vordergrund steht. Die Studierenden müssen von der Projektidee über die Planung bis zur Durchführung und Analyse alle

Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium

161

Schritte mit möglichst großer Selbstständigkeit durchführen. Das Projekt wird im vierten Fachsemester absolviert und bereitet die Studierenden auf die Arbeit an der Bachelor-Arbeit vor. Das Modul wurde im Sommersemester 2004 zur freiwilligen Teilnahme, im Wintersemester 2006/07 als Wahlfpflichtmodul und sodann im Wintersemester 2013/14 als Pflichtmodul eingeführt. Projektleitung (PL) Im Modul Projektleitung lernen die Masterstudierenden die Grundlagen der Projektleitung. Für einen perfekten Realitätsbezug im Hinblick auf den späteren Berufseinstieg wurde ein praxisnaher Ansatz gewählt. Alle erlernten Kenntnisse werden zeitnah praktisch erprobt: Jede(r) PL-Studierende ist verantwortlich für eine SOWAS-Gruppe. Die Projektleitung wurde im Wintersemester 2012/13 als Pflichtmodul eingeführt. Aufbau und Weiterentwicklung des Evaluationstools Zur Qualitätssicherung und zur Überprüfung der Lernwirksamkeit der neuen Module wurde mit ihrer Einführung nach und nach ein eigenständiges Evaluationstool aufgebaut. Zu Beginn wurden alle Veranstaltungsteile hospitiert. Sowohl während als auch nach Abschluss der Veranstaltungen wurden Feedback-Gespräche mit den Lehrenden und Lernenden geführt. Die Ergebnisse wurden jeweils für die Weiterentwicklung im nächsten Durchlauf reflektiert. In den ersten Jahren erlebten daher alle Module eine teils gravierende Überarbeitung. Um den Einfluss und die Veränderungen durch die neu implementierten Maßnahmen zu überprüfen und die Auswirkungen auf weitere Module zum forschenden Lernen zu erfassen, wurde eine umfassende Online-Befragung durchgeführt. Hierzu wurden alle Studierenden aufgefordert, die bereits an einem der Module teilgenommen hatten. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass die Module in der Retrospektive von den Studierenden sehr positiv wahrgenommen wurden und insbesondere die Verzahnung der Module positiv

162

Ivonne Möller & Astrid Ludwig

hervorgehoben wurde. Allerdings wurde kritisiert, dass sehr viel Zeit für die Evaluation aufgewendet wird und die Fragen teilweise doppelt sind bzw. man deren Sinn nicht erfassen kann. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen wurde ein vierteiliges Instrument pilotiert, welches zum Wintersemester 2017/18 noch einmal überarbeitet wurde und seitdem als Standardverfahren für alle beteiligten Module eingesetzt wird. Die Evaluationstoolbox besteht aus vier Tests: (1) Ein Pretest, der vor dem Start des Moduls ausgefüllt wird (LGL und PL) (2) Ein fachlicher Test, der direkt nach dem Pretest und vor dem Zwischentest auszufüllen ist (LGL) (3) Ein Zwischentest direkt nach der Schulung und vor dem ersten Einsatz als Lerngruppenleiter_in und Projektleiter_in (LGL und PL) (4) Ein Posttest, der in der letzten Lehrveranstaltung ausgefüllt wird (LGL, PL und SOWAS) (5) Ein fachlicher Test, der in der letzten Lehrveranstaltung ausgefüllt wird (LGL) Mit Ausnahme der fachlichen Tests werden mittlerweile alle Evaluationen online durchgeführt. Zu Beginn wurden jeweils eine Woche vor der Veranstaltung per Mail individualisierte Links verschickt und die Studierenden wurden gebeten, an der Abstimmung teilzunehmen. Aufgrund der geringen Rücklaufquote wird seit dem Wintersemester 2017/18 der Computer-Arbeitsraum der Physik genutzt, an dem alle Studierenden direkt vor Ort die Bögen gleichzeitig ausfüllen. Die Evaluierung ist somit ein fester Bestandteil der Module geworden. Der Fragenpool der Pre-/Zwischen- und Posttests ist größtenteils identisch. Die Fragen befassen sich mit den Vorerfahrungen der Studierenden im Bereich Lerngruppenleitung bzw. Projektleitung. Anschließend werden die Erwartungen an das Modul abgefragt. Im Posttest werden dann die Bestandteile des Moduls evaluiert und der individuelle Wissensgewinn abgefragt. Die Ergebnisse des Pretests und des fachlichen Tests werden den Lehrenden zeitnah zur Verfügung gestellt (im Falle der Lerngruppenleitung bereits in der

Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium

163

Mittagspause des ersten Schulungstags), so dass der/die Lehrende die Ergebnisse direkt in die Schulung einfließen lassen kann. Bei der Überarbeitung der Fragebögen wurde zum Beispiel eine flächendeckend fünfteilige Antwortskala etabliert; nahezu alle „Freitext-Antworten“ wurden in „Auswahl-Antworten“ umgewandelt. Die jeweiligen Antwortmöglichkeiten wurden aus den „Freitext-Antworten“ der letzten Semester iteriert. Das übergeordnete Ziel ist hier die Automatisierung des gesamten Verfahrens inklusive der Auswertung der Ergebnisse. Neben der Optimierung des Evaluationstools hat die Evaluierung erste Ergebnisse aufgezeigt, die direkt in inhaltliche Weiterentwicklung der PeerMentoring-Module eingeflossen sind. Erste Ergebnisse und Weiterentwicklung der Module Wie bereits erwähnt, werden die Evaluationsergebnisse zeitnah mit den Lehrenden besprochen und fließen somit direkt und umgehend in die Weiterentwicklung ein. Der nächste Durchlauf baut somit immer auf den Erfahrungswerten der Vorjahre auf. An dieser Stelle berichten wir von einigen exemplarischen Änderungen in den einzelnen Modulen. Im Modul Lerngruppenleitung gab es innerhalb der Fakultät immer wieder den Kritikpunkt, dass Studierende im 2. Studienjahr noch nicht die fachliche Sicherheit hätten, Fragen der Studierenden im 1. Studienjahr korrekt zu beantworten. Hier müsste man, nach Meinung vieler Lehrenden, erfahrene Wissenschaftler_innen (mindestens Doktorand_innen) einsetzen. In den ersten Durchläufen waren die Rückmeldungen der Lerngruppenteilnehmer tatsächlich gemischt, da einige LGL nicht adäquat auf die möglichen Fragen der Studierenden vorbereitet waren. Als Folge wurden die wöchentlichen Besprechungen mit dem fachlichen Betreuer bzw. der fachlichen Betreuerin umgestellt. Zu Beginn war diese Besprechung eher eine Nachhilfestunde, in der der LGL-B die physikalischen Hintergründe der Aufgaben an der Tafel erläutert und dann die Aufgabe vorgerechnet hat. Mittlerweile müssen alle LGL die Aufgaben bereits zu Hause gelöst haben. In der wöchentlichen Besprechung

164

Ivonne Möller & Astrid Ludwig

wählt der LGL-B eine Person aus, die die wichtigsten Lösungsschritte kurz und knapp an der Tafel erläutert. Die weitere Zeit wird ausschließlich dazu genutzt, sich mögliche Fragen der LG-Teilnehmer zu überlegen, denkbare Umwege und Irrwege zu identifizieren und schließlich Nachfragen an die LGTeilnehmer zur formulieren. Durch dieses Verfahren ist der Fokus deutlich in Richtung des Prinzips der minimalen Hilfe verschoben worden. Erfreulicherweise nehmen die LGL-Studierenden dies ebenfalls als sehr positiv wahr: 95-100% der Studierenden finden die Verknüpfung von Studierenden aus dem zweiten Studienjahr mit dem ersten Studienjahr sinnvoll und würden das System auf jeden Fall beibehalten. Allerdings regen einige Studierende an, ein alternatives Modul für Studierende zu entwickeln, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur Probleme haben, eine Kleingruppe zu moderieren. Die Fakultät hat diese Anregung dankend aufgenommen und erarbeitet derzeit ein alternatives Konzept. Des Weiteren wurde die Schulung anhand der Rückmeldungen weiterentwickelt. Ein wichtiger Aspekt war den Studierenden der Kontakt zu ehemaligen LGL. Diese werden mittlerweile regelmäßig zur Schulung eingeladen. Im Wesentlichen wurde bei den ersten Schulungen bemängelt, dass zu viel Zeit für die theoretische Vermittlung von allgemeinen Kompetenzen im Hinblick auf die Leitung einer fachlichen Lerngruppe verwendet wird. In enger Zusammenarbeit mit Annette Wolff vom ZAT der RUB wurden diese theoretischen Teile in aktive Übungen mit direktem Bezug zum Modul LGL umgewandelt. Die Schulung wird seit dieser Änderung nicht mehr als langweilig wahrgenommen, sondern als äußerst anstrengend, da jede Person mindestens drei Simulationen mitmachen muss. Im Modul SOWAS wurde von den Studierenden bemängelt, dass die Benotung des Posters willkürlich erscheint. Ebenso war die Rolle des PL bzw. der PL bei der Benotung der Posterpräsentation unklar. Als Konsequenz wurde für die Poster-Bewertung ein Bewertungsbogen entwickelt, welcher allen Studierenden zur Verfügung gestellt wird.1 Dieser Bogen ist analog zum

1

Online unter: https://praktikum.physik.ruhr-uni-bochum.de/fileadmin/praktikum/ SOWAS/SOWAS_LeitfadenBenotung_POSTER.pdf

Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium

165

Bewertungsbogen im Standardpraktikum aufgebaut. Anhand des Bogens werden alle Poster von zwei Prüfer_innen bewertet. Die Benotung ist somit für die Studierenden deutlicher nachvollziehbar. Mit der Einführung des Bewertungsbogens wurde zusätzlich die Bewertungsskala von ganzen Noten auf Drittelnoten geändert, um die Leistung differenzierter bewerten zu können. Im Hinblick auf die Rolle des PL bei der Bewertung der Posterpräsentation wurde den PL ermöglicht, an der Präsentation und der Befragung teilzunehmen. Bei der anschließenden Festlegung der Kopfnoten diskutieren die PL gleichberechtigt mit den beiden Prüfer_innen. Nachdem die Kopfnote festgelegt wurde, haben die PL dann noch die Möglichkeit, eine individuelle Rückmeldung zu geben, falls eine Person besonders aus der Gruppe herausgeragt ist. Wenn es eine besonders aktive Person gab, die das Projekt nach vorne getrieben hat, kann der PL die Note der Posterpräsentation um eine Drittelnote nach oben setzen. Dies gilt umgekehrt auch für Personen, die sehr passiv am Projekt teilgenommen haben; diese werden dann um eine Drittelnote nach unten gesetzt. Diese Regel wird den SOWAS-Studierenden frühzeitig mitgeteilt. Im Modul Projektleitung wurde aufgrund der Evaluationsergebnisse ein komplett neues Lehr-Lernformat eingeführt. Das Feedback der Studierende beurteilte die theoretische Vermittlung der Grundzüge durch die Projektleitung in Form von Referaten als langweilig, uninteressant und überflüssig, da sie keinen direkten Bezug zur konkreten Arbeitsaufgabe hatten. Im Gespräch mit dem Dozenten (aktuell Dr. Hartwig Junge), hat sich ergeben, dass die meisten Physik-Studierenden die passive Vermittlung des überfachlichen Wissens als „unsinnig“ einstufen, da sie darauf gedrillt wurden, dass nur Fachinhalte für Physik-Studierende wichtig seien. Daher wurden diese Theorie-Referate komplett abgeschafft. Die Projektleiter (M.Sc.-Studierende) müssen nun eigenständig drei Schulungen zu den Themen „Präsentationstechniken“, „Erstellen eines Posters“ und „Grundlagen der Programmierung“ für die B.Sc.-Studierenden konzipieren, organisieren und durchführen. Der erste Durchlauf im Sommersemester 2018 hat einen höheren Kompetenzzuwachs beider Kohorten gezeigt, jedoch auch deutlich gemacht, dass Inhalte der Lerntrainings von den Modulbeauftragten engmaschiger kontrolliert werden

166

Ivonne Möller & Astrid Ludwig

müssen. Dieses Verfahren hat bereits im aktuellen Durchlauf Erfolge gezeigt: Die Lerntrainings sind deutlich effektiver und zielorientierter gestaltet. Ob dies einen positiven Effekt auf den Kompetenzzuwachs der SOWAS-Studierenden hat, können wir erst nach der Post-Evaluation sagen. Zusammenfassung und Ausblick Die Einführung der Peer-Mentoring-Module hat sich bewährt. Sie hat sich positiv auf die überfachlichen und fachlichen Kompetenzen der Studierenden ausgewirkt, so dass derzeit keine Änderung im Curriculum geplant ist. Die aufwändige Evaluation mit vielen kleinen Iterationsschritten und die zeitnahe Auswertung konnten bereits genutzt werden, um die Module schnell und zielgerichtet weiterzuentwickeln und an das Vorwissen der Physik-Studierenden anzupassen. Einige offene Punkte müssen noch anhand einer weiteren semesterübergreifenden Evaluation untersucht werden. Zukünftig wird das Evaluationstool für das Monitoring und die Weiterentwicklung der Lehrkonzepte als Standardinstrument eingesetzt. Durch das differenzierte Erhebungsinstrument können bestehende und neue Angebotsformate bedarfsgerecht nachjustiert und regelmäßig in ihrer Wirksamkeit überprüft werden. Ein wichtiger Punkt ist hier die Dokumentation der einzelnen Verfahrensschritte sowie die Automatisierung der Auswertung, um so eine nachhaltige Weiterführung zu gewährleisten.

Peer-Tutoring im Psychologie-Studium aus Sicht der Teilnehmenden und Tutor_innen – Ein Evaluationsprojekt Greta Ontrup & Annette Kluge „Wie sehr stimmen Sie der Aussage zu: Der Besuch des Tutoriums war hilfreich.“

Wer in der heutigen Hochschullandschaft lernt, hat in seiner akademischen Ausbildung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahl eines oder mehrere Tutorien zu besuchen. Fachtutorien sollen den Lernfortschritt und den Kompetenzerwerb von Studierenden begleiten und fördern. Der Einsatz von PeerTutor_innen verspricht ein Lernformat, das auf Studierende niedrigschwellig und zugänglich wirkt. Im Kontext des Forschenden Lernens können Tutorien eine vielfältige Bandbreite von rezeptivem bis partizipativem Lernen abbilden. Die Frage danach, ob diese Veranstaltungen als hilfreich erlebt werden, steht stellvertretend für – an Universitäten weit verbreitete – Lehrevaluationen. Evaluationen können dabei helfen, die Effektivität auch von Fachtutorien festzustellen, zu sichern und zu optimieren. Der folgende Beitrag beschreibt die Evaluation der an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum im Bachelor of Science Psychologie und Wirtschaftspsychologie angebotenen Fachtutorien. Es wird zunächst der Hintergrund des Projekts skizziert. Die Methoden und Ziele des Evaluationsprojekts werden eingeführt, bevor die Ergebnisse präsentiert werden. Im Sinne einer summativen Evaluation wird ein Fazit im Hinblick auf die didaktisch-methodische Gestaltung von Lehr- und Lernerfahrungen gezogen. Im Sinne einer formativen Evaluation werden Implikationen für den Einsatz von Peer-Tutoring-Formaten diskutiert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_13

168

Greta Ontrup & Annette Kluge

Hintergrund Forschendes Lernen kann viele Formen annehmen: Eine Facette können peer-gestützte Formate sein (vgl. Spies 2017). An der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum werden derartige Peer-Tutoring-Formate eingesetzt. Begleitend zu regulären Veranstaltungen haben Studierende die Möglichkeit, Erlerntes zu wiederholen und anzuwenden, zu verstehen und zu vertiefen. Die Veranstaltungen werden von Studierenden in etwa der gleichen Ausbildungsstufe angeleitet, von sogenannten peers. Tutorien können in vielerlei Hinsicht eine effektive Lehr- und Lernform darstellen. Auf der einen Seite können durch den Peer-Modus Lernwiderstände abgebaut werden (vgl. Moust & Schmidt 1995), z.B. bei von den Studierenden als schwierig erlebten Themen wie der Methodenlehre in der Psychologie. Das ermöglicht sowohl den Teilnehmenden als auch den Tutor_innen positive Lernerfahrungen. Auf der anderen Seite kann dadurch begünstigt die akademische Leistung von Teilnehmenden und Tutor_innen gleichermaßen gesteigert werden (vgl. Bowman-Perrott, Davis, Vannest, & Williams 2013). Die positiven Lernerfolge hängen jedoch maßgeblich von der didaktisch-methodischen Gestaltung der Tutorien ab (vgl. Abermet & Pötschke 2010). Das hier geschilderte Projekt hatte zum Ziel, die angebotenen Fachtutorien auf dieser Grundlage zu evaluieren: Dabei stand zum einen die Frage im Vordergrund, ob die Tutorien im Sinne eines Peer-Konzeptes ‚wirken‘, ob also durch die Tutorien positive Lernerfahrungen begünstigt werden. Zum anderen sollten auf der Grundlage der didaktisch-methodischen Evaluation die Effektivität der Lernform beurteilt und mögliche Ansatzpunkte zur Unterstützung des Formats identifiziert werden. Peer-Tutoring in der Psychologie An der Fakultät für Psychologie werden peer-gestützte Veranstaltungen primär für Studienanfänger_innen im Bachelor angeboten. Die Fachtutorien

Peer-Tutoring im Psychologie-Studium

169

werden in den Fachbereichen „Biologische Psychologie“ und „Psychologische Methodenlehre“ eingesetzt. Die angebotenen Formate haben zum Ziel, die fachlichen Kompetenzen der Studierenden zu fördern. Die konkreten Lehrformate, curricularen Verankerungen und Bedingungen sowie die spezifischen Funktionen der peer-gestützten Lehrformate variieren dabei. Tabelle 1 zeigt die im Sommersemester 2019 angebotenen Tutorien in der Übersicht. Tabelle 1: Übersicht über die Tutorien der Fakultät für Psychologie im Sommersemester 2019 Name des Tutoriums

Statistik & angewandte Datenanalyse II

Evolution & Emotion

Anzahl Parallelgruppen

6

10

8

Curriculare Verankerung

Unbenotete Optionalveranstaltun g (0 CP)

Benotete Pflichtveranstaltung (3 CP)

Benotete Pflichtveranstaltung (3 CP)

Qualifikation Tutor_innen

Studierende (mit oder ohne Bachelorabschluss)

Studierende mit Bachelorabschluss

Studierende mit Bachelorabschluss & Erfahrung in Neuroanatomie

Zeitumfang

Einmal wöchentlich (90 Minuten)

Einmal wöchentlich (90 Minuten)

Einmal wöchentlich (90 Minuten)

Teilnehmerzahl bzw. Größe der Gruppen

10-35

25-30

14

Zielgruppe

Bachelorstudierende, zweites Fachsemester

Bachelorstudierende, zweites Fachsemester

Bachelorstudierende, zweites Fachsemester

Funktion des Tutoriums

Klausurvorbereitung: Wiederholung und praktische Übung der Vorlesungsinhalte; Klärung von Fragen; Besprechung von Übungsaufgaben

Ergänzung- und Vertiefung der Vorlesungsinhalte

Praktische Übung, Wissensvermittlung/ Vertiefung

Ergebnisse/Methoden /Prozesse werden …

… rezipiert … angewendet

… rezipiert … angewendet … erforscht

… rezipiert … angewendet … erforscht

a

a Einordnung

(E&E)

Das menschliche Gehirn – ein Malund Bastelkurs (M&B)

basierend auf der Klassifikationsmatrix Forschenden Lernens nach Rueß, Gess & Deicke (2016).

170

Greta Ontrup & Annette Kluge

Ziele und Vorgehen Ziele: Das hier vorgestellte Evaluationsprojekt soll dazu beitragen festzustellen, wie die angebotenen tutoriellen Peer-Formate den Lernprozess der Studierenden unterstützen und fördern. Die Evaluation wird sowohl aus der Perspektive der Teilnehmenden als auch aus der Sicht der Tutor_innen durchgeführt. Wie oben dargelegt, soll der Peer-Charakter von Tutorien positive Lernerfahrungen für beide Seiten erlauben. Somit wird zunächst der Frage nachgegangen, ob die Teilnehmenden und Tutor_innen von dem Peer-Charakter profitieren, das heißt, ob die Tutorien positive, selbstwirksame Lernerfahrungen begünstigen. Da die Wirksamkeit der Veranstaltungen darüber hinaus von der didaktisch-methodischen Gestaltung der Tutorien abhängt, wird diese im zweiten Schritt evaluiert. Einerseits wird nach den Erfahrungen der Teilnehmenden gefragt, andererseits wird aus Perspektive der Tutor_innen erfasst, inwieweit diesen die didaktisch-methodische Gestaltung leicht oder schwerfiel. Die Analyse der beiden Perspektiven dient der Identifikation von möglichen Ansatzpunkten zur Optimierung der Lernerfahrung und zur Unterstützung der Tutor_innen. Abbildung 1 fasst dies graphisch zusammen und skizziert das Zusammenspiel der Evaluationsfragen. Konkret umfasst die Evaluation folgende Fragen: • • • •

Beeinflusst das Tutorium die Lernerfahrung und Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden? Beeinflusst das Tutorium die Lernerfahrung und Selbstwirksamkeit der Tutor_innen? Wie bewerten die Teilnehmenden das Tutorium im Hinblick auf Abstimmung, Unterstützung, Didaktik & Feedback? Wie leicht/schwer fiel den Tutor_innen die Gestaltung der Tutorien im Hinblick auf Abstimmung, Unterstützung, Didaktik & Feedback?

Peer-Tutoring im Psychologie-Studium

171

Didaktisch-Methodische Gestaltung

Lehr-Modus

Wie bewerten die Teilnehmenden das Tutorium im Hinblick auf didaktische und methodische Aspekte?

Bewerten die Teilnehmenden das Tutorium als gut gestaltet? Wie leicht/schwer fiel den Tutor_innen die Gestaltung? Zeigen sich Anhaltspunkte zur Optimierung?

Lehr-Modus Wie bewerten die

Tutor_innen

das Tutorium im Hinblick auf didaktische und methodische Aspekte?

Lehr- und Lernerfolg

Peer-Modus Inwieweit fördert das Tutorium als Peer-Tutoring-Format Selbstwirksamkeit und Lernerfahrung der Teilnehmenden?

Peer-Modus Profitieren Teilnehmende und Tutor_innen gleichermaßen von dem Peer-Charakter der Veranstaltungen?

Inwieweit fördert das Tutorium als Peer-Tutoring-Format Selbstwirksamkeit und Lernerfahrung der Tutor_innen?

Positive Lehr- und Lernerfahrung Abbildung 1: Skizzierung des Zusammenspiels von Lehr- und Peer-Modus der Tutorien.

172

Greta Ontrup & Annette Kluge

Methode: Die Teilnehmenden und Tutoren_innen wurden im Rahmen der Abschlussveranstaltungen der einzelnen Tutorien (Sommersemester 2019) eingeladen, an der schriftlichen Evaluation teilzunehmen. Die Befragung setzte sich überwiegend aus standardisierten Fragebögen zusammen. Dazu boten offene Fragen den Teilnehmenden und Tutor_innen die Möglichkeit ergänzende Angaben zu machen. Ergebnisse der Evaluation Es nahmen 201 Studierende (Teilnehmende) und 21 Tutor_innen an der Evaluation teil. In Tabelle 2 sind die Teilnehmerzahlen und die Mittelwerte der globalen Bewertung der Tutorien durch die Teilnehmenden aufgezeigt. Insgesamt waren die Teilnehmenden mit dem Statistik-Tutorium am zufriedensten und bewerteten dieses als sehr nützlich. Auch die biopsychologischen Kurse Evolution & Emotion (E&E) und der Mal- & Bastelkurs (M&B) wurden als zufriedenstellend und nützlich bewertet. Auf einer Skala von 1 (abgenommen) bis 7 (zugenommen) gaben die Teilnehmenden an, dass ihre Selbstwirksamkeit durch das Peer-Tutoring eher zugenommen hat (MSTAT = 5.69, SDSTAT = 0.85; ME&E = 5.21, SDSTAT = 0.94; MM&B = 5.26, SDM&B = 0.94). Sie stimmten außerdem zu, dass die Teilnahme auf einer Skala von 1 (keine Zustimmung) bis 7 (hohe Zustimmung) positive Lernerfahrungen bedeutete (MSTAT = 5.54, SDSTAT = 0.94; ME&E = 5.10, SDSTAT = 0.81; MM&B = 5, SDM&B = 1.24). Das Ergebnis spiegelte sich in den Angaben der Tutor_innen wieder: Auch diese gaben an, im Hinblick auf ihre Selbstwirksamkeit (MSTAT = 6.34, SDSTAT = 0.41; ME&E = 5.97, SDSTAT = 0.73; MM&B = 5.55, SDM&B = 0.94) und Lernerfahrung (MSTAT = 6.12, SDSTAT = 0.42; ME&E = 5.79, SDSTAT = 0.81; MM&B = 5.53, SDM&B = 0.92) profitiert zu haben.

Peer-Tutoring im Psychologie-Studium

173

Tabelle 2: Teilnehmerzahlen der Evaluation und globale Bewertung der Kurse durch die Teilnehmenden Kurs

Statistik

Evolution & Emotion

Das menschliche Gehirn – ein Mal- und Bastelkurs

N

Zufriedenheit

A

12

6.67

B

7

C

N

Zufriedenheit

Nützlichkeit

N

Zufriedenheit

6.75

10

5.10

4.80

16

6.50

6.13

5.00

5.57

4

6.50

5.50

13

5.54

5.23

8

6.38

6.75

9

6.00

5.22

12

5.83

5.92

D

35

6.57

6.34

3

6.33

6.33

13

5.46

4.85

E

16

6.13

6.44

4

6.00

5.50

15

5.73

5.33

F

1

4.00

4.00

4

6.50

5.75

9

6.11

5.78

G

-

-

-

2

4.50

4.00

8

6.00

5.38

79

6.30

6.37

36

5.81

5.25

86

5.88

5.52

Insg.

Nützlichkeit

Nützlichkeit

N: Anzahl der Teilnehmenden pro Kurs; Zufriedenheit: Wie gut hat dir das Tutorium gefallen? (1 = gar nicht bis 7 = sehr); Nützlichkeit: Wie hilfreich war das Tutorium für dich? (1 = gar nicht bis 7 = sehr).

Abbildung 2 zeigt für Teilnehmende und Tutor_innen insgesamt hohe und damit positive Bewertungen der didaktisch-methodischen Gestaltung. Für eine bessere Übersicht sind die Bewertungen durch die Teilnehmenden durch einfarbige, die der Tutor_innen durch gepunktete Balken dargestellt. Für die Teilnehmenden bedeuten hohe Werte eine positive Bewertung der Gestaltung, für die Tutor_innen, dass ihnen die didaktisch-methodische Gestaltung leichtfiel. Die Teilnehmenden des Statistik-Tutoriums bewerteten alle Kategorien als sehr positiv. Die Tutor_innen gaben auf die Frage wie leicht ihnen eben diese Gestaltung fiel im Vergleich etwas geringere Werte an. Das gilt

174

Greta Ontrup & Annette Kluge

auch für die Kategorien der Unterstützung, Didaktik und Feedback für den Kurs Evolution & Emotion und den Mal- & Bastelkurs. Statistik

Emotion & Evolution

Das menschliche Gehirn – ein Mal- und Bastelkurs

7 6 5 4 3 2 1 0

Teilnehmende: Tutor_innen: Teilnehmende: Tutor_innen: Teilnehmende: Tutor_innen: Teilnehmende: Tutor_innen: Abstimmung Abstimmung Unterstützung Unterstützung Didaktik Didaktik Feedback Feedback

Abbildung 2: Bewertung der didaktisch-methodischen Gestaltung.

Fazit und Implikationen Insgesamt fiel die Bewertung der Tutorien sehr positiv aus. Teilnehmende und Tutor_innen berichteten einen Zuwachs an Selbstwirksamkeit und positive Lernerfahrungen. Das peer-gestützte Lernen führte demnach zu wechselseitig positiven Konsequenzen, die über den rein fachlichen Lernzuwachs hinausgehen (vgl. Bowman-Perrott, Davis, Vannest, & Williams 2013). Der Erfolg im Hinblick auf diese Lehr- und Lernerfahrungen könnte durch die gelungene didaktisch-methodische Gestaltung begünstigt worden sein. Auch diese wurden aus Sicht der Teilnehmenden und Tutor_innen positiv bewertet. Nichtsdestotrotz sollen Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung diskutiert werden. Die Tutor_innen zählten auf, dass ihnen „Detailfragen“ und

Peer-Tutoring im Psychologie-Studium

175

„unterschiedliche Bearbeitungsgeschwindigkeiten“ bei der Durchführung Schwierigkeiten bereitet hätten. Vergleichbare Evaluationen an Universitäten führten auf einer ähnlichen Grundlage formalisierte Tutor_innen-Trainings oder Einführungskurse ein, mit dem Ziel die Tutor_innen auf die didaktischmethodischen Herausforderungen vorzubereiten. Das Kapitel Evaluierung der Peer-Mentoring-Module im Physikstudium dieses Bandes (Möller & Ludwig) beschreibt die erfolgreiche Implementierung eines vergleichbaren Programms an der Ruhr-Universität Bochum. Eine niedrigschwellige Alternative könnte die stärkere Anregung eines wechselseitigen Austauschs sein. Die Tutor_innen gaben an, dass der „kollegiale Teamgeist“ und „Austausch untereinander“ für die Durchführung hilfreich waren. Fachübergreifende Tutor_innenNetzwerke könnten den gegenseitigen Erfahrungsaustausch und damit die gegenseitige Unterstützung fördern (vgl. Abermet & Pötschke 2010). Ein entsprechendes Netzwerk könnte durch formalisierte Starttermine angeregt und nachfolgend informell organisierte Treffen ausgebaut werden. Die Integration freiwilliger „Tutor-to-Tutor“-Kurzbeiträge – zum Beispiel zu den persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Detailfragen – könnte Elemente einer formalisierten Ausbildung aufgreifen. Ein solch informelles Programm könnte dem Umstand, dass die didaktisch-methodische Gestaltung durch die Teilnehmenden als sehr positiv bewertetet wurde, eher Rechnung tragen, als ein formales Training. Alles in allem lässt sich ein positives Fazit für die Fachtutorien des Lehrstuhls für Psychologie ziehen: Die Tutorien sind in ihrer didaktisch-methodischen Gestaltung erfolgreich, Studierende und Tutor_innen werden in ihrem Lernprozess unterstützt.

176

Greta Ontrup & Annette Kluge

Literatur Abermet, Viola & Pötschke, Manuela (2010): Abschlussbericht über die Evaluation der Tutorien des Fachbereichs 05 im Sommersemester 2008. Kassel. Bowman-Perrott, Lisa, Davis, Heather S., Vannest, Kimberly, & Williams, Lauren (2013): Academic Benefits of Peer Tutoring: A Meta-Analytic Review of Single-Case Research. In: School Psychology Review 1/2010: S. 39-55. Moust, Jos H. C., & Schmidt, Henk G. (1995): Facilitating small-group learning: A comparison of student and staff tutors' behavior. In: Instructional Science 22/1995: S. 287-301. Rueß, Julia, Gess, Christopher & Deicke, Wolfgang (2016): Forschendes Lernen und forschungsbezogene Lehre-empirisch gestützte Systematisierung des Forschungsbezugs hochschulischer Lehre. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung 2/2016: S. 23-44. Spies, Anke (2017): Das Peer-to-Peer-Prinzip des Forschenden Lernens. In: Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen: Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M.: S. 129-137.

MA-DOC – Im Peer-to-Peer-Modus zum Master und zur Promotion Paul Sebastian Ruppel & Jürgen Straub Einleitung Die Einbindung von Masterstudierenden in laufende empirische Promotionsprojekte in den Sozialwissenschaften steckt in den Kinderschuhen. Hier setzt das Projekt MA-DOC: Im Peer-to-Peer Modus zum Master und zur Promotion an.1 Es zielt auf die Etablierung kooperativen Lernens und qualitativen Forschens im Peer-to-Peer-Modus, wobei das wissenschaftliche Niveau durch exzellente Doktorand_innen geprägt wird – die allerdings als Lehrende und Forschende auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten ihrer Forschungspartner_innen Rücksicht nehmen müssen. Unterstützt durch diverse Modi der Vermittlung, Vernetzung und Strukturierung docken Masterstudierende an Promotionsprojekte an. Sie entwickeln eigenständige Teilprojekte, die sie im Tandem mit den Promovierenden bearbeiten. So bekommen sie Zugang zu realen und von Kooperationsinteresse geprägten Forschungssettings. Intendiert ist eine Winwin-Situation für alle Beteiligten, in der Synergieeffekte für erfolgreiche Qualifikationsarbeiten genutzt werden. Mit der Etablierung der „Meisterklasse: Qualitative Methoden der Sozialforschung und Kulturanalyse“ sowie der Umsetzung des Bochumer MA-DOC-Modells in Lehrforschungsprojekten und den intensiven Vernetzungsbemühungen in der Region zielen die Bestrebungen des Projekts insgesamt darauf, eine Verankerung und Verstetigung

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Initiiert wurde das Projekt von Jürgen Straub mit Paul Sebastian Ruppel als Teilprojektmitarbeiter im Rahmen der zweiten Förderphase von inSTUDIES Anfang Oktober 2016; es läuft bis Ende 2020.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_14

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dieses Modus Forschenden Lernens auch über den Campus der RUB hinaus zu erreichen.2 Zielsetzung des Projekts und seine Umsetzung als Forschendes Lernen im Peer-to-Peer-Modus Zentrales Anliegen des Projekts ist die Entwicklung und Implementierung des MA-DOC-Modells in diversen Formaten Forschenden Lernens, um kooperatives Lernen und qualitatives Forschen im Peer-to-Peer-Modus zwischen Masterstudierenden und Promovierenden zu ermöglichen (zum „Peerto-peer-Prinzip des Forschenden Lernens“ siehe Spies 2017; zum hier dargelegten Ansatz vgl. auch die auf dem vorliegenden Beitrag aufbauenden Ausführungen von Ruppel 2020, in Vorbereitung). Forschendes Lernen in diesem Modus zeichnet sich dadurch aus, dass es die Zusammenarbeit über die Grenzen von Qualifikationsniveaus hinweg ermöglicht. Übergeordnetes Ziel ist dabei die Entwicklung fakultätsübergreifender kooperativer Lehr-Lern-Formate mit Peer-Learning-Elementen. Mit dem hier vorgestellten Projekt soll ein Beitrag dazu geleistet werden, in dem sowohl nieder- als auch höherschwellige Vermittlungs-, Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen, die das MA-DOC-Modell als festes Peer-to-Peer-Arrangement zu realisieren helfen, etabliert werden. Die Umsetzung erfolgt mittels Erarbeitung und Bereitstellung von Informationen, Unterstützungsangeboten und strukturellen Neuerungen. Als herausgehobene Innovation und feste Installierung des Projektes bzw. des mit ihm verbundenen MA-DOC-Modells kann die Etablierung der „Meisterklasse: Qualitative Methoden der Sozialforschung und Kulturanalyse“ gelten, die seit 2017 jährlich am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) stattfindet. Sie ermöglicht den Doktorand_innen-Master-Transfer in Peer-

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In der Region spielen Kooperationen in der Universitätsallianz Ruhr, zu der die Universitäten in Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen gehören, eine herausgehobene Rolle. Für die o.g. Meisterklasse, die am gemeinsamen Institute for Advanced Study in the Humanities, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI), durchgeführt wird, können sich Studierende und Doktorand_innen aller drei Institutionen bewerben.

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Learning-Konstellationen und gewährleistet damit eine stark „forschungsorientierte Formatierung von Lernprozessen“ (Schrittesser 2009, S. 8). Die Meisterklasse ist ein neuartiges Veranstaltungsformat mit dem Ziel, methodische Expertisen im Bereich der qualitativen Sozialforschung und Kulturanalyse zu vermitteln (für einen knappen Überblick zur qualitativen Forschung vgl. Mey & Ruppel 2018; für eine dezidiert auch kulturanalytische/-psychologische Perspektive interpretativer Zugänge vgl. Straub 2010). Zu diesem Zweck arbeiten ausgewiesene Expertinnen und Experten (wie 2017/18 Aglaja Przyborski, 2019 Fritz Schütze, 2020 Jörg Bergmann) mit ausgewählten Masterstudierenden und Promovierenden an empirischem Material aus den laufenden Projekten. Zugleich zielt die Meisterklasse auf eine stärkere Verzahnung zwischen Master- und Promotionsphase, sodass die von erfahrenen Expert_innen begleiteten Doktorand_innen ihre Forschungserfahrungen an Masterstudierende weitergeben können und alle Beteiligten durch den interdisziplinären und multiperspektivischen Austausch Anregungen für ihre Forschungsprojekte erhalten. Neben der Meisterklasse erfährt das MA-DOC-Modell in diversen Lehrforschungsprojekten seine Umsetzung, in die Promovierende als Kooperationspartner_innen für die teilnehmenden Masterstudierenden systematisch eingebunden werden. In den dem Forschenden Lernen verschriebenen Seminaren finden für gewöhnlich über die Dauer eines Jahres in den Vorlesungszeiten alle zwei Wochen vierstündige gemeinsame Treffen statt. Das erste Semester dient der Aneignung von Wissensbeständen zum jeweiligen Themenkomplex und zur theoretisch-methodologischen und forschungspraktischen Annäherung an die anstehenden Aufgaben. Prinzipien und Methoden qualitativer Datenanalyse – insbesondere der Dokumentarischen Methode, der Relationalen Hermeneutik und des Grounded Theory-Ansatzes – stehen dabei im Mittelpunkt. Die Masterstudierenden vertiefen sich auf der Basis beispielhafter Daten in komplexe Ansätze und Verfahren der interpretativen Text- und Bildanalyse und lernen dabei die Promovierenden und deren Projekte kennen. Die kooperierenden Doktorand_innen stellen ihre Vorhaben zu Beginn der Veranstaltung vor und kommen im weiteren Verlauf zu einzelnen Treffen,

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um die Entwicklung der eingegangenen Zusammenarbeit bzw. den Forschungsprozess mit den Studierenden kontinuierlich im Plenum zu besprechen. Kooperationsprojekte können mehr oder weniger eng an die Dissertationsvorhaben angegliedert sein. Gewöhnlich wird die im jeweiligen Projekt (vorrangig) genutzte Methode eingehender diskutiert sowie gemeinsam erprobt. Die Masterstudierenden formieren sich sodann in Forschungsteams (bestehend aus jeweils ca. 2-4 Studierenden) und spezialisieren sich so auf ein Verfahren und eine Thematik. Die Promovierenden stellen den Masterstudierenden in aller Regel eigene Daten zur Bearbeitung bereit, sodass der Schwerpunkt des Lernprozesses tatsächlich auf der Datenanalyse und Ergebnispräsentation liegen kann (und die Zeit nicht – wie bereits im sogenannten „Empiriemodul“ des BA-Studiengangs Sozialwissenschaft – mit der aufwendigen Erhebung von Daten verbracht werden muss). Eine eigenständige Datensammlung im MA-DOC-Seminar ist zwar nicht ausgeschlossen, bildet aber die Ausnahme oder hat lediglich ergänzenden Charakter (wenn etwa zusätzliche Materialien zum Beispiel durch die Schaffung von Korpora aus Blogs verfügbar gemacht werden). Die Treffen im zweiten Semester sind vornehmlich als Forschungswerkstatt oder -kolloquium zur gemeinsamen Arbeit am Datenmaterial im Sinne einer Interpretationsgemeinschaft gestaltet. Meistens werden bei jedem Treffen die Projekte von zwei studentischen Forschungsgruppen besprochen. Flankiert wird die Veranstaltung durch bedarfsbezogene Unterstützung und die kontinuierliche Betreuung durch die Doktorand_innen und die Leitung des jeweiligen Lehrforschungsprojekts. Neben diesen Face-to-Face-Sitzungen werden telefonische Beratungen angeboten und weitere Unterstützung per Mailaustausch und in Form schriftlicher Rückmeldungen zu Zwischenresultaten der Projekte gewährt, dies nicht zuletzt zum Zweck, Schreibprozesse möglichst früh im Forschungsverlauf zu initiieren und sie kontinuierlich begleiten zu können (zum wissenschaftlichen Schreiben im Forschenden Lernen vgl. Gottschalk & Ruppel 2019). Dieser Modus der Peer-to-Peer-Arbeit erlaubt den Masterstudierenden die Entwicklung und Bearbeitung eigenständiger „Teilforschungsfragen“, die an die laufenden Promotionsvorhaben angedockt sind oder ergänzende Perspektiven eröffnen. Der Arbeitsprozess ist als Kooperation in authentischen

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Forschungskontexten gestaltet und wirkt einer nicht selten zu beobachtenden, solitären Arbeitsform bzw. einer Isolierung von Forschungsprojekten und Forschenden während des Masterstudiums (und mitunter auch während der Promotion) entgegen. Für eine solche Peer-to-Peer-Forschung bedarf es der Etablierung einer angemessenen Atmosphäre für vertrauensvolle Zusammenarbeit, die unter anderem unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten, Zeit- und Zielvorstellungen offenzulegen und auszuhandeln gestattet. Angestrebt wird eine hochschuldidaktische Einbettung, welche der Kooperation einen verbindlichen Rahmen gibt und sie flankierend zu begleiten erlaubt, ohne sie – durch Vorgaben der Seminarleitung – in Gänze zu strukturieren. So ergeben sich bisweilen sehr ertragreiche Formen kreativer Zusammenarbeit mit gut abgewogenen und abgestimmten Verantwortlichkeiten. Verantwortung zu übernehmen oder abzugeben, bildet einen wichtigen Bestandteil kooperativen Lernens und Forschens. Die Arbeitsbündnisse bleiben manchmal über die formalisierte Dauer der Zusammenarbeit hinaus bestehen und münden im Idealfall auch in gemeinsame Publikationen (vgl. Sieben, Pauge & Ruppel 2018; Steinnebel & Ruppel, in Vorbereitung) oder ebnen bereits den Weg vom Masterstudium in die künftige Promotionsphase. Das MA-DOCModell dient allgemein der Vermittlung methodischer Expertise und praktischer Forschungskompetenz auf hohem Niveau, fördert jedoch zu einem frühen Zeitpunkt speziell auch die (Karriere-)Interessen wissenschaftlich besonders begabter MA-Studierender. Institutionelle Verstetigung des MA-DOC-Projekts in curricular verankerten Formaten Neben der Etablierung der Meisterklasse, ihrer langfristigen Weiterführung und -entwicklung über die inSTUDIES-Projektlaufzeit hinaus, konnte Forschendes Lernen im Peer-to-Peer-Modus zwischen Masterstudierenden und Promovierenden im Sinne des MA-DOC-Modells bereits in mehreren sozialwissenschaftlichen Lehrforschungsprojekten im Rahmen des MA-Forschungsmoduls angeregt bzw. umgesetzt werden. Die Themen und Titel der

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durchgeführten Seminare lauten beispielsweise: Moralische Subjektivierung. Qualitative Methoden der Text- und Bildanalyse; Zwischen Arbeit, Recht und Moral. Zur Geschichte und Entwicklung der Sexarbeit im Ruhrgebiet; Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst. Wege des Verstehens – Formen der Repräsentation.3 Daneben konnte das MA-DOC-Modell in einer adaptierten Form im neu implementierten Kolloquium für BA- und MA-Abschlussarbeiten am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie etabliert werden. In diesem Rahmen wird nun Peer-to-Peer-Arbeit zwischen BA- und MA-Studierenden ermöglicht und von einem Tandem aus einer promovierenden und einer promovierten Person begleitet. Neben diesen stärker formalisierten Implementierungen wurde auch die niederschwellige Einführung des MA-DOC-Modells in einer ausgewählten Forschungswerkstatt an der RUB angeregt und in Form erster Tandems als kooperatives Peer-to-Peer-Arrangement zwischen Masterstudium und Promotion etabliert. Es ist vorgesehen, solche Lehr-LernSettings dauerhaft an der Fakultät für Sozialwissenschaft und perspektivisch an weiteren Fakultäten der RUB zu verankern. Ausblick Mit der Umsetzung des MA-DOC-Modells haben wir bislang sehr gute Erfahrungen gemacht. Die an Peer-to-Peer-Arrangements beteiligten Masterstudierenden und Promovierenden schätzen die produktive Zusammenarbeit sehr, wie aus engmaschigen Evaluationen, Feedbackrunden sowie Nachbefragungen immer wieder ersichtlich wird. Mittelfristig ist jedoch nicht von einer – in Zahlen gefasst – allzu großen Verbreitung des kooperativen Lernens und qualitativen Forschens im Peer-to-Peer-Modus zwischen Masterstudierenden und Promovierenden auszugehen. Man betritt in diesem Feld – jeden-

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Die Dozent_innen dieser Veranstaltungen und die Kooperationspartner_innen in der Promotionsphase sind mehrheitlich am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, aber auch am Lehrstuhl für Gender Studies tätig. Zu ihnen gehörten bislang (in alphabetischer Reihenfolge): Giovanna Gilges, Monique Kaulertz, Sandra Plontke, Paul Sebastian Ruppel, Katja Sabisch, Anna Sieben, Jürgen Straub und Rebecca Thrun.

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falls in den Sozial- und Kulturwissenschaften – weitgehend Neuland. Das erfordert die Initiierung und permanente, flankierende Begleitung solcher Kooperationen, also auch ein hohes Maß an Abstimmungen und Rücksprachen – zumindest so lang noch keine festen und personenunabhängigen Strukturen etabliert sind (insofern solche Strukturen überhaupt denkbar und realisierbar sind; vieles in diesem Projekt hängt eben von motivierten, engagierten und fähigen, forschungserfahrenen und sozial kompetenten Kooperationspartner_innen und einer angemessenen Leitung ab). Für Promovierende, die in derlei Kooperationen eingebunden werden, wäre im Sinne formalisierter Tandems des MA-DOC-Modells unter anderem an spezifische, hochschuldidaktische Weiterbildungsangebote sowie angemessene Zertifizierungen für die Initiierung und erfolgreiche Umsetzung von Forschungskooperationen zu denken. Für die Masterstudierenden sollte eine bleibende Anlaufstelle zur Information und Beratung sowie zur Unterstützung bei sich ergebenden, oftmals unvorhersehbaren Herausforderungen in MA-DOC-Projekten eingerichtet werden. Unabhängig davon gilt es unseres Erachtens noch genauer auszuloten, wie eine Klärung von Betreuungsverhältnissen sowie Verantwortungsübernahmen möglichst verbindlich zwischen allen Beteiligten erfolgen kann, wenn Masterstudierende und Promovierende jenseits etablierter Lehrforschungsprojekte im Peer-to-Peer-Modus zusammenarbeiten. Nicht zuletzt verlangt dies neben einer vertrauensvollen Kooperation auch nach Modi des angemessenen Umgangs mit sensiblen Forschungsdaten sowie konsensfähigen Arrangements der Anerkennung und Würdigung individueller Beiträge bei öffentlichen Präsentationen sowie Publikationen. All das sind selbstredend keine Spezifika des Bochumer MA-DOC-Modells, sondern exemplarische Hinweise darauf, wie durch die Umsetzung dieses ambitionierten Ansatzes der allgemein interessante Brückenschlag zwischen Forschendem Lernen und professioneller Forschung sowie Masterstudium und Promotionsphase gelingen kann.

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Literatur Gottschalk, Ines & Ruppel, Paul S. (2019): Funktionen des Schreibens im Forschendes Lernen. Ein Systematisierungsversuch am Beispiel eines schreibintensiven sozialwissenschaftlichen Lehrforschungsprojekts. In: Berendt, Brigitte, Fleischmann, Andreas, Schaper, Niclas, Szczyrba, Birgit, Wiemer, Matthias & Wildt, Johannes (Hg.) (2019): Neues Handbuch Hochschullehre, G. 4.17. Berlin: S. 65-94. Mey, Günter & Ruppel, Paul S. (2018): Qualitative Forschung. In: Decker, Oliver (Hg.) (2018): Sozialpsychologie und Sozialtheorie, Bd. 1: Zugänge. Wiesbaden: S. 205-244. Ruppel, Paul S. (2020): Die Forschungswerkstatt als kooperatives Lehr-LernArrangement: Peer-to-Peer-Learning zwischen Masterstudierenden und Promovierenden der Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. In: ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung 2/2020 [in Vorbereitung]. Schrittesser, Ilse (2009): Editorial - Professionalität und Professionalisierung. Einige aktuelle Fragen und Ansätze der universitären LehrerInnenbildung. In: dies. (Hg.) (2009): Professionalität und Professionalisierung. Einige aktuelle Fragen und Ansätze der universitären LehrerInnenausbildung. Frankfurt a.M.: S. 7-18. Sieben, Anna, Pauge, Matthias & Ruppel, Paul S. (2018): Die „richtige“ Nähe und Distanz zum eigenen Kind. Eine Einzelfallanalyse mütterlicher Positionierungen in Zeiten des intensive parenting. In: Sozialer Sinn 2/2018: S. 309-332. Spies, Anke (2017): Das Peer-to-Peer-Prinzip des Forschenden Lernens. In: Mieg, Harald A. & Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen: Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M.: S. 129-137. Steinnebel, Jana & Ruppel, Paul S. (in Vorbereitung): Die fotografische Inszenierung ökologischen Bewusstseins: Nachhaltigkeitsorientierte Reisepraxis und massenkompatibles Selbstmarketing.

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Straub, Jürgen (2010): Das Verstehen kultureller Unterschiede. Relationale Hermeneutik und komparative Analyse in der Kulturpsychologie. In: Cappai, Gabriele, Shimada, Shingo & Straub, Jürgen (Hg.) (2010): Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse. Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns. Bielefeld: S. 39-99.

Schreiben und Sprechen reflektieren und gestalten – Sprechstunde für nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende Ayşe Yıldırır Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Buch in der Hand. Sie schlagen es auf und stoßen auf folgenden Satz: „È una bella lingua!“. Sie können ungefähr feststellen, um welche Sprache es sich hier handelt. Die einzelnen Wörter oder auch den Satz verstehen Sie, dank ihrer Mehrsprachigkeit und der Tatsache, dass ihre Muttersprache der indogermanischen Sprachfamilie zuzuordnen ist. Falls Sie diesen Satz nicht verstehen, aber verstehen wollen, können Sie die Satzbestandteile im Detail betrachten. Sie übersetzen einzelne Wörter und interpretieren den Satz. Ihre Assoziationen wie etwa der Ausdruck „Bella Italia“ oder der Film La vita è bella helfen Ihnen beim Interpretieren. Sie versuchen, Ihre Assoziationen abzugleichen, um eine sinngemäße Übersetzung zu erreichen. Dabei bleibt der Sinn der Wörter im Vordergrund. Wenn Sie versuchen, eine Eins-zu-eins-Übersetzung von Wörtern zu einem Satz zusammenzufügen, aber nicht den Satz als Ganzes betrachten, ergibt sich sehr wahrscheinlich eine Spannung zwischen Ihrer ersten Wortassoziation und den von Ihnen geformten Sätzen. Nun überlegen Sie ein paar Sekunden. Schauen Sie sich nun den Satz wieder an: „È una bella lingua!“ Nun verstehen Sie den Satz. Die Grundidee der Entschlüsselung der Bedeutung des Satzes ist also die Übersetzung von segmentierten Inhalten und Interpretationsfähigkeit. Ich bitte nun darum, in einer gelernten „Fremdsprache“ aus der indogermanischen Sprachfamilie wie Italienisch und in einer gelernten „Fremdsprache“ aus der agglutinierenden Sprachfamilie wie Türkisch einen kurzen Text über ein fachbezogenes Thema bzw. in akademischer Sprache einen Essay oder eine Hausarbeit zu schreiben. Falls Sie dies nicht können und eventuell einen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_15

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Unterschied zwischen den Sprachfamilien erkennen, lassen Sie sich nicht beirren. Ihr Schreiberfolg hängt ohnehin von Ihren kognitiven, affektiven Faktoren, vom Bildungshintergrund der Eltern und Literalisierungsgrad auch in der Erstsprache ab. Viel Erfolg!1 Die kurze Einleitung möchte auf den routinehaften, habitualisierten Gebrauch der Sprache aufmerksam machen und Sprache als ein komplexes, ‚intelligentes‘ menschliches Kommunikationsmittel vorstellen. Durch das Erlernen einer Fremdsprache und die Nutzung einer neuen Sprache werden wir häufig damit konfrontiert, wie komplex die routinierten Kommunikationsmittel der Anderen sind und funktionieren. Betrachtet man den Prozess des Verstehens und Kommunizierens in einer fremden Sprache etwas genauer, zeigt sich schnell die Abhängigkeit subjektiv-kognitiver Verarbeitungsprozesses von kulturellen Gepflogenheiten und Praxen (siehe Abbildung 1). Die kulturelle Prägung des Sprachgebrauchs in jedweder Form zeigt sich auch in spezifischen Kommunikationsstilen und Ausdrucksweisen (vgl. Fix 2002; Eco 1994, 2010, 2016).

Abbildung 1: Kulturelle Prägungen des Sprachgebrauchs (Eigene Darstellung).

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Der letzte Satz dieses Abschnitts wurde (leicht abgewandelt) von Elke Langelahn (2016) übernommen.

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Der im Folgenden vorgestellte Projektbaustein2 – Schreiben und Sprechen reflektieren und gestalten: Sprechstunde für Nicht-Muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende3 – fokussiert das Verstehen und Verfassen von Texten in akademischen Kontexten und legt einen Fokus auf die Reflexion der kulturellen Prägung von Praktiken des Schreibens und Sprechens. Kernstück dieses Bausteins ist das Angebot einer regelmäßigen Sprechstunde, die den individuellen Studierenden ebenso zugutekommen soll, wie auch einer Institution, in der die nachhaltige Förderung von Sprech- und Schreibkompetenzen nicht-muttersprachlicher Studierender nicht nur wegen der sprachlichen Diversität in Migrationsgesellschaften, sondern auch wegen der angestrebten Internationalisierung von Studiengängen immer wichtiger wird. Wissenschaftliches Schreiben und Sprechen gelten als Schlüssel zum akademischen Erfolg. Die Studierenden sind aufgefordert, ihre Studienleistungen in bestimmten Kommunikationsformen zu erbringen: Hausarbeiten, Essays, Referate und weitere schriftliche sowie mündliche Prüfungen sind unverzichtbare Leistungen, die das persönliche ‚Wissenskapital‘ der Lernenden sukzessive bereichern. Gerade in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften haben mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeiten eine enorme Bedeutung. Erbrachte Leistungen können als gute Ergebnisse gewertet werden, wenn die Studierenden das erlangte Wissen für die Dozent_innen verständlich und klar sowie den akademischen Erwartungen gemäß darstellen können. Für viele Studierende mag das Auswendiglernen – je nach Thema – attraktiv sein. Sie merken sich die wichtigsten Punkte, prägen sich den Jargon des Faches ein und kommunizieren ihr erworbenes „Wissen“ so, wie sie es sich, orientiert am Vorbild des ‚Originals‘, angeeignet haben. Dabei besitzt ein möglichst zügiger und effizienter Wissenstransfer Priorität, im Gegensatz zum vertieften Verstehen eines Sachverhalts bzw. Texts. Die Lernenden rich-

2 3

Der Projektbaustein ist Teil eines Gesamtprojekts zum Thema „Forschungsbezogenes Schreiben und öffentliches Präsentieren“. Nicht-Muttersprachler_innen sind Studierende, die ihr Abitur im Ausland erworben und Deutsch für den Zweck des Studiums gelernt haben.

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ten sich in diesem Prozess bewusst und zielgerichtet nach den formalen Anforderungen der jeweiligen Fachbereiche. Bei den Nicht-Muttersprachler_innen (NM) vollzieht sich der Prozess des Verstehens wegen des fremden Vokabulars und der meistens nur partiell vertrauten Grammatik mit einem wesentlich größeren Zeitaufwand, auch wenn sie sich um bloßes, reproduktives Auswendiglernen bemühen. Bisherige Lese- und Spracherfahrungen (im Elternhaus, in der Schule usw., vgl. dazu Himmelrath 2018), das aktuelle subjektive Interesse sowie die Freude am Thema mögen das Lernen und Verstehen in allen Fällen erleichtern. Gleichwohl bleiben für Nicht-Muttersprachler_innen verschiedene Hürden bestehen, die in der hier vorgestellten Sprechstunde thematisiert und bearbeitet werden können. Dieses Angebot dient vor allem als erste Anlaufstelle. Nach einer vertrauensvollen Aussprache über individuell bestehende Probleme beim Verstehen und Verfassen von Texten (oder auch mündlicher Vorträge in Lehrveranstaltungen) werden erste Hilfestellungen gegeben und vor allem gezielte Vermittlungsleistungen erbracht, sodass die Studierenden weitere Unterstützungsangebote insbesondere der Universität wahrnehmen können. Beschreibung des Konzepts Jede Disziplin und jedes Fach haben eigene Besonderheiten. Diese Besonderheiten bestimmen den didaktischen Handlungsraum. Die Inhalte und Methoden sind die Grundlagen für die Struktur des Texts. Das bedeutet auch, dass die Lerninhalte und Lehrformen wegen der Rahmenbedingungen des Fachs in dynamischer Wechselbeziehung stehen. Daher ist es wichtig, dynamische Ansätze für verschiedene Angebote/Lehrformate in die Lehre zu integrieren. Auf der Grundlage dieser Idee wurde die Sprechstunde als ein neues, innovatives Angebot für nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende

Schreiben und Sprechen reflektieren und gestalten

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entworfen. Eine Hauptmotivation zur Entwicklung dieses Angebots liegt darin, Nicht-Muttersprachler_innen wie Bildungsin- und -ausländer_innen4 sowie internationale Studierende während ihres Studiums bei ihrer fachspezifischen Arbeit zu unterstützen. Die idealisierte universitäre Handlungspraxis – Selbstständigkeit der Studierenden sowie Nutzung des höchsten Potenzials der jungen Leuten auf ihrem akademischen Weg – gewinnt bei diesem, am Individuum orientierten, Angebot große Bedeutung. Die Sprechstunden bieten folgende Hilfestellungen an: •

• • • •

• •

4

Individuelle Aussprache über sprachliche Herausforderungen (bei rezeptivem Verstehen, Sprechen und Schreiben); Beratung in bis zu zweistündigen Sprechstunden in einem geschützten Vertrauensraum; Einschätzungen der eigenen Leistungen und Beurteilungen durch andere (Lehrende, Kommiliton_innen) reflektieren; vertiefte Analyse anhand eines bestimmen Themas (mündlich und schriftlich); rationale Lern- und Arbeitsstrategien entwerfen; individuell angepasste Lernschritte zur Entwicklung sprachlicher Fertigkeiten entwerfen: Verarbeitung von formalen Schreibkonventionen, Aneignung des Fachvokabulars und der allgemeinen Wissenschaftssprache, Darstellungshaltung (subjektiv oder neutral), Präsentationstechniken unter Berücksichtigung sprachlicher Herausforderungen sichten; Bewertungskriterien für wissenschaftliches Schreiben transparent machen; Vorbereitungshilfen für mündliche Prüfungsleistungen;

Vgl. dazu das Informationsmanagement der Ruhr-Universität Bochum.

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Weitervermittlung an weitere universitäre Angebote (Schreibzentrum, Bereich Deutsch als Fremdsprache, International Office, Zentrale Studienberatung, Talentscouts, Psychologische Beratung, Sozialberatung, OASE, AStA-Beratung).

Durch die Sprechstunde erhalten die Studierenden einen Zugang zur weiteren Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse und Schreibkompetenzen. Studierende sollen mindestens zwei Termine im Semester wahrnehmen; bei größerem Unterstützungsbedarf ist eine Sprechstunde alle zwei bis vier Wochen angezeigt. Wichtige Prinzipien der Sprechstunde sind die folgenden: • • •



In jeder Sprechstunde ist eine starke Orientierung an den Bedürfnissen und Erwartungen der Studierenden maßgeblich. Wichtig ist die Identifikation von Stärken und Schwächen der individuell vorliegenden sprachlichen Kompetenzen. Praktische Übungen sind wichtig, z.B. Übungen des Ausdrucksstils durch Schreibproben und mündlichen Austausch (Exposé, Tagebuch oder Mini-Hausarbeit sowie Mini-Vortrag). Beispiele sind wichtig, z.B. für kulturspezifische Rhetorik und Präsentationsformen.

In jedem Schritt wird an der für die Betroffenen oft nicht hinreichend transparenten kulturellen Prägung des Sprechens und Schreibens gearbeitet. Dabei können auch allgemeine kulturelle Unterschiede – aus dem Erleben und aus der Sicht der Studierenden – thematisiert und problemzentriert besprochen werden. Empathie und die Signalisierung von Verständnis und Unterstützung sind dabei entscheidende Faktoren für den Erfolg einer Sprechstunde mit Nicht-Muttersprachler_innen. Generell ist ein problem- und zielorientiertes Vorgehen wichtig (Erarbeitung persönlicher Lösungsoptionen). Die Sprechstunde dient insgesamt der Identifikation und Bearbeitung kommunikationsbasierter Frustrationen im akademischen Kontext. Die Beherrschung der Sprache als unverzichtbares Werkzeug an der Universität ermöglicht nicht nur den angestrebten Abschluss, sondern bestimmt auch den Erfolgsgrad sowie

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die Vielfalt möglicher Kontakte und damit das allgemeine soziale Wohlbefinden der Studierenden. Ich möchte am Ende dieses Beitrags festhalten, dass viele nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende mit Sprach- und Schreibproblemen kämpfen, selbst wenn ihre kognitive Leistungsfähigkeit, ihre Kreativität und auch das sprachliche Niveau in der mündlichen Alltagskommunikation von vielen Muttersprachler_innen als sehr gut empfunden werden. Laut einer Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2017) steht die „Schwierigkeit mit Deutsch im Alltag und Studium“ an erster Stelle. An zweiter Stelle werden „Anpassungsprobleme“ genannt, die auch bestehen, wenn Studierende aus einem „gebildeten Elternhaus“ kommen und eine gute Schuldbildung genossen haben, da „in Deutschland eine andere Lernkultur“ vorherrscht (Kercher 2018, S. 10). Laut Kercher werden die Studienabbruchgründe der deutschen Studierenden mit denen von internationalen Studierenden gleichgesetzt. Zu den besonderen Schwierigkeiten der Bildungsin- und -ausländer_innen liegen bislang kaum systematische Untersuchungen vor (vgl. ebd.). Die hier vorgestellte Sprechstunde kann dieses Defizit in keiner Weise beheben. Sie kann aber dazu beitragen, Ungleichheiten im universitären Bildungssystem zu begegnen und NichtMuttersprachler_innen dazu befähigen, sprach- und kommunikationsbezogene Probleme im Studium zu besprechen und gezielt nach individuellen Lösungen zu suchen.5

5

Für Unterstützung bei der Abfassung dieses Textes und anderen Angelegenheiten im Zusammenhang des inSTUDIESplus-Projekts der Sprechstunde bedanke ich mich bei Jürgen Straub, Mechthild Kirsch und Sandra Plontke. Besonderer Dank für den intensiven und produktiven Austausch gilt zudem dem Bereich Deutsch als Fremdsprache, dem International Office (Rebekka Kirsch), der Praktikumsbeauftragten der Fakultät für Sozialwissenschaft (Heike Hoppmann), International Services (Vira Bushanska) und dem Talentscouting der Ruhr-Universität Bochum.

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Literatur Brandl, Heike, Duxa, Susanne, Leder, Gabriela & Riemer, Claudia (Hg.) (2010): Ansätze zur Förderung akademischer Schreibkompetenz an der Hochschule. Fachtagung 2.-3. März 2009 an der Universität Bielefeld. In: Materialien Deutsch als Fremdsprache, Bd. 83. Eco, Umberto (1994): Einführung in die Semiotik. München. Eco, Umberto (2010): Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Wien. Eco, Umberto (2016): Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M. Fix, Ulla, Habscheid, Stephan & Klein, Joseph (Hg.) (2001): Zur Kulturspezifik von Textsorten. Tübingen. Fix, Ulla (2002): Sind Textsorten kulturspezifisch geprägt? Plädoyer für einen erweiterten Textsortenbegriff. In: Peter Wiesinger (Hg.) (2002): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Frankfurt a.M./Berlin: S. 173-178. Himmelrath, Armin (2018): Auf die Eltern kommt es an. Spiegel Online. Online unter: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/bildung-indeutschland-arbeiterkinder-studieren-seltener-als-akademikerkinder-a1206959.html Informationsmanagement der Ruhr-Universität Bochum. Online unter: http://dwh.uv.ruhr-uni-bochum.de/informationsmanagement/glossar /statistik-definitionen/?type=0&uid=12&cHash=a403d7f4f593da6178 08290715f22f9d Kercher, Jan (2018): Studienerfolg und Studienabbruch bei Bildungsausländerinnen und Bildungsausländern in Deutschland und anderen wichtigen Gastländern. DAAD. Online unter: https://www.daad.de/ medien/der-daad/analysen-studien/blickpunkt-studienerfolg_und_ studienabbruch_bei_bildungausländern.pdf Langelahn, Elke (2016): Studierenden Text-Feedback geben – effizient und konstruktiv. Bielefeld: Universität Bielefeld. Online unter: https://www.

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uni-bielefeld.de/einrichtungen/zll/publikationen/Handreichung_TextFeedback.pdf Thomas, Alexander (2008): Psychologie des interkulturellen Dialogs. Göttingen. Weidemann, Doris (2007): Akkulturation und interkulturelles Lernen. In: Jürgen Straub, Arne Weidemann & Doris Weidemann (Hg.) (2007): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: S. 488-498.

Forschendes Lernen in Zeiten der Digitalisierung

Forschendes Lernen als digitale Lehre – Eine Einführung in Potenziale und Herausforderungen für Studierende und Lehrende Ines Gottschalk Neben dem forschenden Lernen ist auch die „Digitale Lehre“ ein wesentliches Teilziel der Lehrentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum und als Universitätsprogramm institutionalisiert.1 Die Beiträge in dieser Rubrik zeigen, in welch vielfältiger und herausfordernder Weise sich eine digitale Lehre im Rahmen forschenden Lernens verwirklichen lässt und unterschiedlichste Kompetenzbereiche von Studierenden befördert. Im Folgenden werden die anschließend präsentierten Beiträge in den drei Themenbereichen Blended Learning zur Vorbereitung und Begleitung forschenden Lernens, Digitalisierung als Forschungsgegenstand und -methode sowie Digitale Aufbereitung als Wissenstransformation und (öffentliche) Präsentation vorgestellt. Blended Learning zur Vorbereitung und Begleitung forschenden Lernens Weit verbreitet ist die Integration von einzelnen eLearning-Elementen in die (traditionelle) Lehre. Dazu werden zur Vorbereitung oder Begleitung des (forschenden) Lernens Lehr-Lerninhalte auf einer Plattform digital zur Verfügung gestellt. Wechseln sich Präsenz- und Onlinephasen ab, spricht man von Blended Learning. Durch das hochschuldidaktische Qualifizierungsprogramm, die Einrichtung eines eTeams sowie die mehrfache Ausschreibung des Wettbewerbs 5x5000 – deren Gewinner 5.000 Euro zur Entwicklung innovativer

1

Vgl. dazu die Website https://www.ruhr-uni-bochum.de/universitaetsprogramme/ digitale-lehre.html

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_16

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eLearning-Vorhaben erhielten – haben bereits einige Lehrprojekte eLearningElemente in ihre Lehrkonzepte integriert. Die leicht zu erlangende Verstetigung sowie die gute Übertrag- und Erweiterbarkeit werden als Vorteile von in Moodle oder anderen Plattformen aufbereiteten Lehrmaterialien genannt. Lernenden bietet die Digitalisierung – so legen es die Beiträge nahe – einen flexiblen und somit niedrigschwelligen Zugang zu Lehrinhalten. Dabei muss von Seiten der Lehrenden gewährleistet werden, dass fachkundig und leicht nachvollziehbar in die Struktur und Benutzung des Moodle-Kurses eingeführt wird. Die Integration von eLearningKomponenten bedeutet also auch für Lehrende eine neue Auseinandersetzung mit dem eLearning-Format sowie der Gestaltung von Videos oder Gamification-Maßnahmen und bringt die Verpflichtung mit sich, Studierende zu begleiten und im Umgang mit der digitalisierten Lehre zu unterstützen. Im Beitrag von Rochus Schmid zum eLab wird eine virtuelle Umgebung präsentiert, die dem Laborpraktikum in der Chemie blended learning-Komponente vorangestellt ist. Mit Hilfe von Videos wird Studierenden gezeigt, wie Nachweisverfahren durchgeführt und analysiert werden, sodass die Praxisphase bereits in der vorgängigen Vorbereitung visuell unterstützt wird und letztendlich schneller durchlaufen werden kann. Gleichzeitig gibt der Beitrag Einblick, wie für das eLab eine neue Webanwendung entwickelt wurde, die die Trennung von wechselnden Teilnehmer_innendaten und permanenten Daten, wie sie im Rahmen der virtuellen Experimente anfallen und relevant sind, ermöglicht. Im Beitrag von Peter Wick steht hingegen ein sogenanntes Wiki – also eine Website, deren Inhalte kontinuierlich von allen Besucher_innen entwickelt und verändert werden können – als eLearning-Komponente im Vordergrund. Am Beispiel eines Projekts zur Exegese des Neuen Testaments in einer Gelehrtenwerkstatt verdeutlicht er, wie ein Wikitext, der von den Studierenden gemeinsam gelesen, gedeutet und online kommentiert wird, den Textzugang von Studierenden verbessert. Darüber hinaus unterstützt diese Arbeitsform die Studierenden dabei, sich als Forschende zu verstehen und durch die gemeinsame Exegese zu einer kleinen Forschungsgemeinschaft heranzuwachsen.

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Mit verschiedenen eLearning-Elementen wie Level-Up, eduClips, einem online zur Verfügung gestelltes Forschungstagebuch sowie diversen Checklisten haben Alina Tausch und Annette Kluge ihren Kurs zur Einführung in die Arbeits- und Organisationspsychologie konzipiert. Sie reflektieren in ihrem Beitrag, wie mit eLearning-Elementen gesetzte Lernziele erreicht werden können und Präsenzveranstaltungen, eLearning-Komponenten und Projektgruppenarbeit sinnvoll miteinander verknüpft werden können. Digitalisierung als Forschungsgegenstand und -methode Maßnahmen der Digitalisierung im Feld forschenden Lernens lassen sich nicht nur als „schematischer Rahmen“ bei der Vermittlung von Lehrinhalten, sondern auch als Themen, zweckdienliche Mittel und Methoden in die Forschung selbst einbeziehen. Das geschieht zum einen dadurch, dass Forschungsgegenstände, die selbst in Bezug zur Digitalisierung stehen, zum Lerngegenstand werden, und zum anderen dadurch, dass sich die durch die Digitalisierung unmittelbar verändernden oder erst dadurch entstandenen Untersuchungsgegenstände oder aber einschlägige digitale Forschungsmethoden selbst in den Mittelpunkt rücken. So geht es im Projekt Hands on – SHM Systeme live von Inka Müller um automatisierte Monitoringsysteme, die die kontinuierliche Überwachung von Strukturen wie beispielsweise Brücken oder Windenergieanlagen ermöglichen. Indem Studierende selbst Structural Health Monitoring-Systeme aufbauen, testen und analysieren, sollen ihr Verständnis für SHM-Methoden nachhaltig verbessert sowie Hindernisse und Besonderheiten bei der Anwendung erkannt und überwunden werden. In den Digital Humanities verortet wurden in der Veranstaltung Elektronische Lektüren an der Fakultät für Philologie von Holger Gemba und Stephanie Heimgartner die Rolle digitaler Medien bei der Produktion, Publikation und Rezeption literarischer Texte sowie neue Untersuchungsmethoden und -parameter der Fremdsprachendidaktik und Literaturwissenschaft im Umgang mit digitalen bzw. digitalisierten Texten in den Blick genommen. Dadurch

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sollte bei den Studierenden eine anhaltende Reflexion digitaler Medien und Techniken angestoßen werden. Digitale Aufbereitung als Wissenstransformation und (öffentliche) Präsentation Zentraler Bestandteil des Forschungszyklus im forschenden Lernen ist die Aufbereitung und Präsentation von Inhalten bzw. Forschungsergebnissen. Viele Projekte gehe auch dabei neue Wege; in einigen werden digitale Formate gewählt, um die Öffentlichkeit zu erreichen und dabei innovative (Präsentations-)Formate kennenzulernen und sich zusätzliche Kompetenzen anzueignen. Digitalisierung dient hier als Tool zur Wissensaufbereitung, wobei sich die Studierenden nicht nur für die außeruniversitäre Berufspraxis wichtige digitale Kompetenzen und Präsentationsfähigkeiten aneignen, sondern auch mit Fragen der Wissensübersetzung konfrontiert werden. Lehrende sind hingegen neben der Begleitung solcher Aneignungs- und Translationsprozesse mit der digitalen Aufbereitung von Inhalten sowie dem Erstellen und der Verwaltung von Plattformen betraut, sodass hier neue Kooperationen beispielsweise mit den IT-Services der Universität entstehen. So wurde im Projekt Von der Quelle zur Karte von Bernhard Linke, Marie Föllen und Stefan Schorning von den Studierenden eine interaktive Karte des antiken Roms mit der chronologischen Ordnung aller fassbaren Infrastrukturprojekte der republikanischen Zeit (3. und 2. Jahrhundert v.Chr.) erstellt. Anhand der visuell unterstützenden Karte präsentierten die Studierenden am Ende der Veranstaltung ihre Forschungsergebnisse auch im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung. Für den von Nicole Auerbach betreuten Blog satzzeichen! bereiten Studierende linguistische Inhalte für eine außerfachliche Leser_innenschaft auf und setzen sich so auch mit Anforderungen des wissenschaftlichen Arbeitsund Schreibprozesses sowie der Vermittlung von Forschungsergebnissen an Laien oder Novizen auseinander. Ziel ist es unter anderem, über das Medium

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des Webblogs eine andere Leserschaft zu erreichen, als es bei einem ähnlichen Projekt in analogen Medien möglich wäre. Um die öffentliche Präsentation von Forschungsergebnissen geht es auch in dem Projekt von Ines Gottschalk und Sabrina Zajak. Hier wurden jedoch Videos genutzt, in denen bzw. durch die Studierende ihre Erkenntnisse vermittelten. Damit mussten sie sich nicht nur mit der Übersetzung ihres Wissens in ein Videoformat vertraut machen, sondern auch spezielle Produktionstechniken einübten. Die Videos wurden später auf einem Blog (über Rubcast) präsentiert und auch auf einer öffentlichen Veranstaltung allgemein zugänglich gemacht. Fazit Die Beiträge zeigen auf je eigene Weise, dass sich Wissenschaft und Forschung und somit auch Lehr-Lernsettings durch die weit verbreitete Digitalisierung mit veränderten Bedingungen (der Wissensproduktion und -vermittlung) auseinandersetzen zu haben. Sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden müssen digitale Kompetenzen entwickeln und erproben und sich in diesem vielschichtigen Feld beständig weiterbilden. Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten, Wissen für die breitere Öffentlichkeit aufzubereiten. Sie ist deswegen aufs Engste mit aktuellen Forderungen nach einer stärkeren Öffnung der Wissenschaft in Richtung Öffentlichkeit und Praxis verknüpft.

Academic Videoclipping als digitale Lehrmethode – Potenziale und Herausforderungen in der didaktischen Konzeption und Umsetzung eines innovativen Lehr-Lernsettings Ines Gottschalk & Sabrina Zajak Der digitale Wandel macht auch vor der Wissenschaft nicht Halt. Er geht mit einer „digitalisiert erweiterten Wissenschaftspraxis bzw. e-Science“ einher (vgl. Heidkamp & Kergel 2016). Damit verbunden steigen auch die Anforderungen an die akademische Medienkompetenz von Hochschullehrenden und Studierenden (vgl. Reinmann, Hartung & Florian 2014, S. 321f.). Versteht man die Universität unter anderem auch als Vorbereitung auf das außeruniversitäre Berufsleben, so sollte die Hochschulbildung mit digitalen Lehr-Lernsettings auf eine Arbeitswelt 4.0 vorbereiten (vgl. Winde 2017). Im hier vorgestellten Beitrag steht die studentische Produktion von wissenschaftlichen Kurzvideos, sogenannten Academic Videoclippings, als digitale Medien im Vordergrund. Während E-Learning-Formate bereits weit verbreitet sind (vgl. Bremer 2013), findet das Lernen über das Erstellen von eigens produzierten Videos über die eigenen Forschungs- und Lernergebnisse bislang nur selten Erwähnung (z.B. bei Seiler Schiedt 2013, S. 272). Die Präsentation von Forschungsergebnissen in Videoclips ist Teil eines generellen Trends in den Wissenschaften, wie Webseiten wie Proquest.libguides (vgl. https://proquest.libguides.com/academicvideoonline), aber auch Zeitschriften, die immer häufiger auch ein Abstract im Video-Format erwarten, zeigen (vgl. https://av.tib.eu/media/19850#t=00:35, 00:47).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_17

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Öffentliche Sozialforschung: Engagement in der Ruhr-Metropole als Projektsetting Im Projekt Öffentliche Sozialforschung: Engagement in der Ruhr-Metropole wurden Videoclippings im Rahmen eines Formats zur öffentlichen Lehrforschung durchgeführt, in dem sowohl selbst-transformative als auch dialogorientierte Varianten Anwendung fanden (vgl. Gottschalk & Zajak, in diesem Band; Zajak & Gottschalk, im Druck). Im Rahmen eines einsemestrigen Seminars forschten die Studierenden und dokumentierten sowohl den Prozess als auch die Ergebnisse im Videoformat. Der Einsatz von digitalen Medien im Forschenden Lernen zur Unterstützung des Lehrens und Lernens ist nichts Neues (vgl. Kergel & Heidkamp 2015, 2016). Allerdings wird sich hierbei in erster Linie auf die Nutzung von digitalen Plattformen wie zum Beispiel Moodle oder aber auf die Verwendung digitaler Medien für das Lernen bezogen. Im Gegensatz dazu steht in dem hier diskutierten Projekt die Entwicklung eigener medialer Darstellungen im Vordergrund. Innovativ am realisierten Lehrforschungsprojekt ist die Tatsache, dass Studierende selbst ihren Forschungs- und Lernprozess dokumentieren und die Erkenntnisse im Videoformat der Öffentlichkeit präsentieren. Durch die Zusammenarbeit mit den IT-Services sowie das Hochladen der Videos bei RUBcast, der Aufzeichnungsplattform der Ruhr-Universität Bochum (die Videos finden sich unter https://oc-video.ruhr-uni-bochum.de/ engage/ui/index.html?e=1&p=1&epFrom=b1a54262-3684-403f-9731-8e77 c3766f9a) wurden zudem neue, innerinstitutionelle Kooperationsformen angebahnt.1 Studierenden wurde dabei ermöglicht, unterschiedliche Filmproduktionstechniken auszuprobieren und sich so auf die Arbeitswelt 4.0 vorzubereiten. Da als Grundlage der Videos Minifallstudien dienten, wurde darüber hinaus eine anspruchsvolle Verbindung wissenschaftlichen Arbeitens mit digitalen Techniken geschaffen. Mit der Kombination von medial gestützter Wissensproduktion und -vermittlung lassen sich Academic Videoclippings als neues Instrument für „Forschendes Lernen mit digitalen Medien“ verstehen, 1

Für die gute Zusammenarbeit sei den IT-Services und RUBCast hier nochmal herzlich gedankt.

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wie sie beispielsweise im Teaching Trends 2014 zu digitalen Medien in der Hochschule in einem Schwerpunkt diskutiert werden (vgl. Zawacki-Richter, Kergel, Kleinefeld, Muckel, Stöter & Brinkmann 2014). Im Beitrag wird das realisierte Seminarkonzept vorgestellt und auf Potenziale und Herausforderungen in der Durchführung eingegangen. Zur didaktischen Konzeption eines experimentellen Settings Das Format wurde im Sommersemester 2018 in zwei parallellaufenden Seminaren mit einer Laufzeit von nur einem Semester durchgeführt. Das eine Seminar lief unter dem Titel Lokales Engagement in der Geflüchtetenhilfe und fand mit 14 Studierende statt, die in vier Gruppen zusammen forschten und produzierten. Das andere Seminar zu Social Movements and Prefigurative Politics in a Global Perspective wurde auf Englisch mit 15 Studierenden durchgeführt, die sich auf fünf Gruppen aufteilten. Beide Veranstaltungen wurden im Masterstudium der Sozialwissenschaft als Seminare im Rahmen thematischer Schwerpunktmodule angeboten und mit vier bzw. bei einer zusätzlich absolvierten Modulabschlussprüfung mit fünf Kreditpunkten (CPs) vergütet. Dafür sollten die Studierenden ein leitfadengestütztes Interview pro Gruppe zu einem thematisch selbst gewählten Thema durchführen, sodass hier Forschungselemente im Sinne eines Forschenden Lernens integriert wurden (von der Datenerhebung bis zur Ergebnispräsentation). Eine klar zu beantwortende Fragestellung und zentrale Erkenntnisse sollten in einem fünf- bis zehnminütigen wissenschaftlichen Kurzvideo festgehalten werden. Unterstützung beim Videodreh und dem Schneiden erhielten die Studierenden von IT-Services der RUB in Form eines Workshops und von Seminarbesuchen und Einzelberatungen durch Mitarbeitende. Die Seminare unterschieden sich zwar inhaltlich und in der sprachlichen Durchführung, waren dabei jedoch gleich aufgebaut. Die Abfolge der Sitzungen soll hier in Kürze dargestellt werden: Die Seminare begannen mit einer Einführung in das jeweilige Seminarthema. Zudem wurden den Studierenden Beispielvideos von den oben genannten Webseiten vorgestellt, um sie mit

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dem Format des wissenschaftlichen Kurzvideos vertraut zu machen. In der zweiten Sitzung stand eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Engagementfeldern (im deutschsprachigen Seminar) sowie mit Konzepten präfigurativen Handelns (im englischsprachigen Seminar) im Vordergrund. Dabei sollten die Studierenden schon einmal überlegen, welche Themen sie für ihre Forschung spannend finden würden. In der dritten Sitzung fand ein eintägiger Workshop von vier Unterrichtseinheiten mit dem IT-Service der RUB statt, der die Studierenden in den Dreh und den Schnitt von Bewegtbildern einführen sollte. Der Workshop wurde von IT-Services in Absprache mit Sabrina Zajak und Ines Gottschalk auf Deutsch konzipiert und in Teilen für die internationalen Studierenden aus dem Seminar Social Movements and Prefigurative Politics in a Global Perspective auf Englisch übersetzt. Im Slot am Morgen stand der Dreh von Videos im Vordergrund. Anhand der kostenfreien Software DaVinci Resolve 16 wurden am Nachmittag von Studierenden aufgenommene Beispielmaterialien geschnitten und Funktionen des Programms vorgestellt. Zur Gestaltung der Videos wurde im Anschluss an den Workshop von Ines Gottschalk ein Dokument zur Verfügung gestellt, das Links zu Beispielvideos, Gestaltungsmöglichkeiten, lizenzfreier Musik, zu Videos und Funktionen zur Programmnutzung beinhaltet. Auch das Thema Datenschutz wurde darin behandelt, welches im Zuge der zum damaligen Zeitpunkt neu eingesetzten EU-Datenschutz-Grundverordnung sowie der Problematik, dass die Studierenden gerne ihre Interviewpartner_innen filmen wollten und in den Videos auch Informationen von Webseiten von Organisationen vorgestellt wurden, eine neue Dringlichkeit bekam. Im Anschluss an den Workshop fanden zudem inhaltliche und methodische Sitzungen statt, in denen sich die Studierenden in Gruppen zusammenfanden sowie eine Ideenskizze für die eigene Forschung und ein erstes Storyboard für die Gestaltung des Videos entwickeln sollten. Für die Ideenskizze und das Storyboard bekamen die Studierenden eine Vorlage. In der Ideenskizze sollten sie Leitfragen zum Themenfeld, zur Fragestellung, zum Ziel der Studie, zu möglichen Interviewpartner_innen sowie Interviewfragen beantworten. Zum Ende des Semesters Anfang Juli fand eine Sneak Preview erster bis dahin erstellter Videosequenzen statt, zu der auch der IT-Service geladen

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wurde, um den Studierenden Feedback zu geben. Die fertiggestellten Videos wurden über RUBcast hochgeladen und auf dem Projektblog neben einer Präsentation zum Academic Videoclipping online gestellt (vgl. https:// engagementforschung.blogs.ruhr-uni-bochum.de/?p=449). Potenziale und Herausforderungen einer innovativen Lehrmethode Academic Videoclippings als innovative Lehrmethode gehen unseres Erachtens sowohl mit Potenzialen als auch mit Herausforderungen einher. Zu den Potenzialen gehört, dass es die öffentliche Kommunikation von Lehr- und Forschungsinhalten und somit die Sichtbarkeit auch im Sinne einer öffentlichen Lehrforschung (vgl. Gottschalk & Zajak, in diesem Band) mit Hilfe von Videos erhöht, die bisher als methodisches Hilfsmittel und als Darstellungsform stark vernachlässigt wurden. Auf Hochschulebene bedeutet das, dass potenziell ein neues Feld von Wissenschaftsmanagement und -marketing erschlossen werden kann. Aber auch für den Forschungs- und Lernprozess bringt solch ein Format Potenziale mit sich. So setzen sich die Studierenden auf innovative Weise mit dem Forschungsfeld auseinander und bereiten ihre Forschungserkenntnisse prägnant auf, sodass eine kreative Form der Wissensaneignung stattfand, bei dem sie ihre technischen und digitalen Fertigkeiten verbessern konnten. Für die Studierenden eröffnen sich auch neue Jobperspektiven. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass die technische Infrastruktur für Videoformate, die auch der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, an der Ruhr-Universität Bochum einem Wandel unterliegt und Herausforderungen bei der Bereitstellung der Videos mit sich brachten. So ließen sich zum einen die Videos vorübergehend nicht auf allen technischen Geräten abspielen. Zum anderen war zeitweise unklar, ob Videos durch interne Umstellungen nur noch passwortgeschützt und zukünftig nicht mehr öffentlich abrufbar sind. Eine (hochschulinterne) Infrastruktur, die eine öffentliche Präsentation und Sichtbarkeit sowie auch ein digitales, externes Wissenschaftsmarketing unterstützt, ist daher zwingende Voraussetzung für solch ein Lehrformat.

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Darüber hinaus geht das Format trotz aller Potenziale mit einem hohen Arbeitsaufwand für Studierende und Lehrende einher. Dies unter anderem auch deswegen, weil die Software zum Schneiden der Videos in der kostenfreien Variante nicht auf allen technischen Geräten störungsfrei läuft und zum Teil in der Anwendung (unvorhersehbare) Probleme bereitet. Darüber hinaus ist das Videoformat im Curriculum nicht als Leistungsnachweis für die Modulabschlussprüfung anerkannt, sodass die Studierenden noch ein kurzes Essay verfassen müssen. Insgesamt bedeutet das Seminar für die Studierenden einen sehr hohen Arbeitsaufwand für die Kreditierung mit (lediglich) vier bzw. fünf Kreditpunkten. Auch die Balance zwischen Wissenschaft und Dokumentation zeigt sich als Herausforderung. Video und Technik stehen aufgrund der vielfältigen und ungewohnten Herausforderungen bei den Studierenden und Lehrenden stärker im Vordergrund als die Konzeption und Durchführung der Mini-Fallstudie an sich. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass sich viele Studierende dafür entscheiden, Interviews direkt zu filmen, sodass das Interview sowohl zu einer Forschungs- als auch zu einer Dokumentationsmethode werden kann. Auswirkungen dieser Schwerpunktsetzung auf den qualitativen Forschungsprozess ließen sich gesondert diskutieren. Wichtig scheint es jedenfalls, die Forschung und die Videoproduktion nicht parallel laufen zu lassen. Ebenso wichtig ist es, die Wissensaufbereitung dem Forschungsprozess in einem gesonderten Seminar folgen zu lassen. Von Ines Gottschalk wird daher in Zusammenarbeit mit dem eLearning an der Überführung und Verstetigung des Seminars in ein Blended-Learning-Format gearbeitet, in dem nicht geforscht wird, sondern die Videoproduktion und die Reflexion der Überführung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in visuelles Wissen im Vordergrund steht. Wichtig ist es dabei unter anderem, Leitfäden und Lessons Learned in Zusammenarbeit mit den IT-Services und dem eLearning zu erarbeiten und klare Anforderungen bezüglich der inhaltlichen und formalen Aufarbeitung solcher Videos für die Studierenden, aber auch die curriculare Verankerung exakt festzulegen.

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Ausblick Das experimentelle, anspruchsvolle Semester geht, wie hoffentlich gezeigt werden konnte, mit vielen Lerneffekten und Potenzialen, aber auch mit bleibenden Herausforderungen einher. Eine informelle Befragung zeigt, dass die meisten der Studierenden wieder ein solches Seminar besuchen würden und seinen innovativen Charakter begrüßen. Forschendes Lernen mit Digitalisierung stärker zusammendenken, lässt sich als Antwort an eine zeitgemäße akademische, aber auch außerberufliche Medienkompetenz verstehen. Damit ist es Teil einer Strategie des Ausbaus der Digitalisierung in Studium und Lehre, die für Universitäten von strategischer Bedeutung ist. Dabei stellt die vorgestellte Konzeption und Praxis nicht nur eine neue Form des digitalen Wissenschaftsmarketings, sondern auch einen neuen Lehr-Lernansatz dar, der weiter ausgebaut werden sollte. In theoretischen, reflexiven Arbeiten lässt sich darüber hinaus das Spannungsverhältnis zwischen einer Forschungsorientierung einerseits und einer Produktorientierung andererseits in den Blick nehmen, wie es sich in ähnlicher Form auch in anderen Formaten Forschenden Lernens, die eine Produktorientierung aufweisen, zeigen (vgl. Gottschalk & Ruppel 2019). Darüber hinaus kann das Videoformat auch als Medium der Wissenstransformation in den Blick genommen werden, durch welches der Forschungsgegenstand auf eine bestimmte Art und Weise in Übersetzungsprozessen der Öffentlichkeit vermittelt, aber auch den Studierenden im Forschungs- und Lernprozess zugänglich gemacht wird.

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Literatur Bremer, Claudia & Krömker, Detlef (Hg.) (2013): E-Learning zwischen Vision und Alltag. Münster/München (Medien in der Wissenschaft, 64). Online unter: http://www.waxmann.com/?eID=texte&pdf=2953 Volltext.pdf&typ=zusatztext Gottschalk, Ines & Ruppel, Paul S. (2019): Funktionen des Schreibens im Forschendes Lernen. Ein Systematisierungsversuch am Beispiel eines schreibintensiven sozialwissenschaftlichen Lehrforschungsprojekts. In: Neues Handbuch Hochschullehre 92: S. 65-94. Heidkamp, Birte & Kergel, David (2016): Der ,Digital Turn‘ - Von der Gutenberg-Galaxis zur e-Science Perspektiven für forschendes Lernen in Zeiten digital gestützter Wissensproduktion. In: Kergel, David & Heidkamp, Birte (Hg.) (2016): Forschendes Lernen 2.0. Partizipatives Lernen zwischen Globalisierung und medialem Wandel. Wiesbaden: S. 45-67. Kergel, David & Heidkamp, Birte (2015): Forschendes Lernen mit digitalen Medien. Ein Lehrbuch. Münster/New York. Online unter: http:// www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783830983 835 Kergel, David & Heidkamp, Birte (Hg.) (2016): Forschendes Lernen 2.0. Partizipatives Lernen zwischen Globalisierung und medialem Wandel. Wiesbaden. Online unter: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658 -11621-7 Reinmann, Gabi, Hartung, Silvia & Florian, Alexander (2014): Akademische Medienkompetenz im Schnittfeld von Lehren, Lernen, Forschen und Verwalten. In: Imort, Peter & Niesyto, Horst (Hg.) (2014): Grundbildung Medien in pädagogischen Studiengängen. München (Medienpädagogik interdisziplinär 10): S. 319-332. Seiler Schiedt, Eva (2013): Digitale Medien als Brücken zwischen Forschung und Lehre: Wie unterstützten Informations- und Kommunikationstechnologien die Forschungsuniversität? In: Bremer, Claudia (Hg.) (2013): E-Learning zwischen Vision und Alltag. (Medien in der Wissenschaft, 64). Münster/New York: S. 266-276.

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Winde, Mathias (2017): Hochschulbildung 4.0 als Herausforderung für die Organisation des Studiums und die Institution Hochschule. In: Die Hochschule: Journal für Wissenschaft und Bildung 1/2017: S. 111-119. Zajak, Sabrina & Gottschalk, Ines (im Druck): Forschendes Lernen als öffentliche Sozialforschung: Zum Konzept der öffentlichen Lehrforschung. In: Selke, Stefan, Bude, Heinz, Jende, Robert, Lessenich, Stephan & Neun, Oliver (Hg.) (2020): Handbuch „Öffentliche Soziologie“. Wiesbaden. Zawacki-Richter, Olaf, Kergel, David, Kleinefeld, Norbert, Muckel, Petra, Stöter, Joachim & Brinkmann, Katrin (2014): Teaching Trends 2014. Offen für neue Wege: Digitale Medien in der Hochschule. Münster. Online unter: http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean= 9783830981701

Bloggin: Am Beispiel satzzeichen! – Dem linguistischen Blog an der RUB Nicole Auerbach-Kutscher Ein linguistischer Blog für den interessierten Laien Sprache zu erzeugen und zu verstehen, ist eine der Fähigkeiten des Menschen, die ihn im Kern seines Wesens ausmachen. Was wären wir schließlich ohne die Möglichkeit, uns mit anderen Menschen sprachlich verständigen zu können? Komplexe oder auch abstrakte Inhalte würden uns in einem weiten Maße unerschließbar bleiben. Und wie würde erst unsere soziale Gemeinschaft, unserer Lebenswelt ohne Sprache aussehen? Sprache ist ein wesentlicher Schlüssel zum Mensch-sein. Beschäftigt man sich genauer mit der Sprache, so merkt man schnell, dass sie auch über einen rein grammatikalischen Blick hinaus unzählige Perspektiven eröffnet und sich in ihrem Kontext unterschiedlichste Einzelaspekte, Gegenstandsbereiche und Zusammenhänge fokussieren lassen, die nicht nur für Linguist_innen, sondern für alle, die Sprache nutzen, erkenntnisreich sein können. Wir können zum Beispiel Antworten auf so fundamentale Fragen nachgehen wie: Warum können wir eigentlich das, was jemand anderes sagt oder schreibt, verstehen? Oder: Wie erlernen kleine Kinder im Spracherwerbsprozess das Sprechen und welche Rolle spielen dabei genetische und soziale Faktoren? Und was hat Sprache damit zu tun, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen? Um die entsprechenden wissenschaftlichen Antworten auf solche und andere Fragen auch mit einer breiteren Öffentlichkeit zu teilen, gründeten einige Lehrende und Studierende der Germanistischen Linguistik im Jahr 2017 an der RUB den sprachwissenschaftlichen Blog satzzeichen!.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_18

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Die Besonderheit des Projektes besteht darin, dass die Artikel nicht von bereits profilierten Expert_innen geschrieben werden, sondern von Studierenden. Diese können ein für das Projekt konzipiertes Begleitseminar besuchen, das einmal im Jahr als Blockveranstaltung angeboten wird. Ferner besteht eine kleine studentische Redaktion, die sich im zweiwöchentlichen Turnus bei Schreibtreffs zusammenfindet. Diese Möglichkeit einer längerfristigen Beteiligung stellt eine sinnvolle Ergänzung zu den Seminaren dar und sollte noch weiter ausgebaut werden. Das Blog-Projekt wurde dem Charakter von Weblogs entsprechend auf einen unbegrenzten Zeitraum festgelegt. Die Studierenden können in dem Projekt eigene oder auch neue Studieninhalte vertiefen, bündeln und in Texten schlussendlich auf eine gewinnbringende Art sichern. Durch die Nutzung des Mediums Weblog können außerdem andere und auch mehr Leser_innen erreicht und Inhalte attraktiver vermittelt werden, als es bei einem ähnlichen Projekt in analogen Medien möglich wäre. Zudem lassen sich mit dem Schreiben in einer leserfreundlicheren Textsorte, als sie im wissenschaftlichen Kontext sonst oft üblich sind, auch gut wesentliche Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens wie beispielsweise Kohärenz (inhaltlicher Zusammenhang) und Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) vergegenwärtigen. Die Artikel sind an eine Leserschaft ohne notwendige linguistische Expertise gerichtet. Die Zielgruppe ist als ungefähr gleichaltrig wie die Studierenden angesetzt. So sollen Rezipient_innen erreicht werden, die beim Schreiben wissenschaftlicher Texte in der Regel nicht im Fokus stehen oder direkt angesprochen werden, womit neben dem Anspruch an die größere Reichweite linguistischer Erkenntnisse weitere Ziele verknüpft sind: Die Studierenden müssen nämlich Praxisbezüge von fachlichen Inhalten, die sie häufig vor allem in einem eher theoretischen Kontext kennengelernt haben, erkennen und herausarbeiten. Indem sie die Zusammenhänge solcherart durchdenken und zudem auch einen klaren, kohärenten und pointierten Text schreiben müssen, können sie abstraktere Inhalte häufig besser verstehen, inhaltliche Probleme erkennen und weiterführende Erkenntnisse generieren. Außerdem sollen die Studierenden durch das Projekt dazu angeregt werden, einen rezipientenorientierten, gut verständlichen Schreibstil zu entwickeln, der ihnen

Bloggin: Am Beispiel satzzeichen!

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auch dauerhaft als Schlüsselkompetenz in vielen Berufsfeldern von Geisteswissenschaftler_innen zur Verfügung steht.

Abbildung 1: Aufnahme der Homepage (www.satzzeichen-blog.de)

Die Studierenden können in dem Projekt außerdem ihre digitalen Kompetenzen erweitern. So werden sie dazu angehalten, im Spektrum dessen zu recherchieren und auszuwählen, was ihnen über das Internet an Informationen, Formaten und Tools etc. zu ihrem Thema zur Verfügung steht. Die Blog-Artikel können so über entsprechende Links inhaltlich erweitert werden, aber auch die multimedial-kreative Ausgestaltung durch unterschiedliche digitale Formate und Tools kann die Attraktivität von Inhalten steigern. Außerdem wird

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der Blog von einem Instagram-Profil begleitet, mit dem Austausch und Reichweite des Blogs noch erhöht werden sollen – eine entsprechende FacebookSeite befindet sich noch im Aufbau. Das Instagram-Profil bietet die Möglichkeit, auf eine zeitgemäße Art neu erschienene Artikel zu bewerben, aber auch unabhängig von bestehenden Blog-Artikeln weitere linguistische Inhalte pointiert zu behandeln. Das Seminar zum Blog: Strukturen, Methoden und der Umgang mit Umsetzungsproblemen Das begleitende Hauptseminar findet jeweils im Wintersemester statt und ist für rund zwanzig Studierende geöffnet. Um im Rahmen der dreitägigen, über zwei Wochen verteilten Veranstaltung einen Teilnahmenachweis zu erlangen, müssen die Teilnehmer_innen einen Artikel zu einem (bei Bedarf mit Unterstützung) selbst gewählten linguistischen Thema schreiben, diesen nach einem entsprechenden mehrstufigen Feedback-Verfahren auch überarbeiten und einen Werbe-Instagram-Post vorbereiten. Als wesentlich für die erfolgreiche Umsetzung der eigenen Textprojekte wird in der Seminar-Vorbesprechung zunächst die Notwendigkeit eines rezipientenfreundlichen Stils, aber vor allem auch das Erfordernis der fachlichen Expertise der/des Schreibenden herausgearbeitet. Die Seminarteilnehmer_innen müssen daher bis zum ersten Seminartag aktuelle und inhaltlich überzeugende wissenschaftliche Literatur zum entsprechenden Gegenstandsbereich recherchieren und aufbereiten. In dieser Wissensaneignungsphase bietet sich unter anderem eine Internetrecherche an, bei der die Studierenden ihre Fähigkeiten, kritisch mit Informationen und Quellen umzugehen, weiterentwickeln können. Um eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie eine mögliche thematische und stilistische Ausgestaltung ihres Themas aussehen könnte, sollen sie außerdem bereits bestehende journalistische und ähnliche Texte in ihre Vorbereitungen einbeziehen (solche Texte sind in der Regel umstandslos im Internet zu finden). Am ersten Seminartag präsentieren die Studierenden ihr Thema in Kleingruppen und stellen dabei auch dar, welche Teilaspekte

Bloggin: Am Beispiel satzzeichen!

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des Themas sie in ihrem Artikel aus welcher Perspektive aufgreifen wollen. Darauf erhalten sie ein Feedback. Im weiteren Seminarverlauf werden dann zunächst rezipientenorientierte Aspekte der Versprachlichung in den Fokus genommen. Dafür wurden Übungen entwickelt, die den Studierenden dabei behilflich sein sollen, einen leserfreundlichen Schreibstil zu entwickeln und sie so für mögliche Bedürfnisse von Rezipienten zu sensibilisieren. An entsprechenden Stellen des Seminars werden immer wieder auch Arbeitsaufträge erteilt, die den Einstieg in das Schreiben des eigenen Artikels zum Ziel haben. Fertige Teilprodukte werden im Partner-Feedback besprochen. Am letzten Seminartag werden die bis dahin zu erarbeitenden Artikel von den Studierenden selbst noch einmal auf typische Umsetzungsprobleme überprüft und entsprechend überarbeitet. Auf diese zweite Version geben dann die Arbeitspartner_innen und auch die Seminarleitung und Projekthilfskraft ein ausführliches Feedback. Die finale Einzelberatung zu der entsprechend überarbeiteten Textversion findet nach Beendigung des Seminares durch die Projektleitung und -hilfskraft statt. Um sicherzustellen, dass das Feedback auf Adressatenseite konstruktiv aufgenommen wird, wurde hier von Feedback-Mails auf persönliche Treffen umgestellt. Bei der Feedback-Gabe kristallisieren sich immer wieder ähnliche Probleme im Hinblick auf Inhalt oder Darstellung heraus, von denen hier einige kurz aufgegriffen werden sollen: So fällt es den Schreibenden gerade vor dem eigenen komplexen (allerdings auch nicht immer ganz strukturierten) Hintergrundwissen oft schwer, den roten Faden des Artikels konsequent zu verfolgen und dabei Kürze und Prägnanz anzustreben. Hinzu kommt auch die universitäre Schreibsozialisation der Studierenden, die schließlich in wissenschaftlichen Hausarbeiten lernen, ein vielschichtiges Forschungsfeld differenziert darzustellen. Es ist für sie daher oft eine Herausforderung, das Themenspektrum in ihren Artikeln leserfreundlich einzugrenzen und den wissenschaftlichen Diskurs in seinen Entwicklungen und Argumente nicht detailliert nachzuzeichnen. Die Seminarteilnehmer_innen müssen also in solchen Fällen auch für die unterschiedlichen Funktionen und antizipierten Rezipient_innen der Textsorten „Hausarbeit“ und „Blogbeitrag“ sensibilisiert werden.

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Viele Artikel sind zudem entweder textstellenweise oder auch über die Artikelgesamtheit unzusammenhängend geschrieben und widersprechen damit der angezielten Leserfreundlichkeit, aber auch der Kohärenz wissenschaftlichen Denkens. Daher bietet es sich in diesem Zusammenhang an, die Struktur der Informationsgabe zu thematisieren und herauszuarbeiten, inwiefern Inhalte hier unpassend zusammengestellt sind. Die Studierenden sollten außerdem darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie nicht nur einzelne Sätze überarbeiten, sondern den dazugehörigen gesamten Absatz berücksichtigen sollten. Schwierigkeiten bereitet den Studierenden auch immer wieder die Umsetzung von komplexen theoretischen in leserfreundliche Inhalte. Diese Aufgabe der Schreibenden spielt aber eine zentrale Rolle für die Verständlichkeit und Attraktivität der entsprechenden Blogtexte. Hier können daher Umsetzungsbeispiele herangezogen und geübt werden, in denen gut zu erkennen ist, wie pointierte oder auch einfachere Formulierungen, Illustrationen von Sachverhalten durch Beispiele und ein bildhafter Sprachgebrauch die Wahrnehmung und Relevanz eines vorerst abstrakten Inhaltes verändern können. Ein weiteres typisches Problem in vielen der Texte sind aber auch unsaubere, unklare oder wenig gut verständliche Formulierungen. Entsprechend muss die sprachliche ‚Sauberkeit‘ daher als Voraussetzung für inhaltliche Klarheit an konkreten Beispielen veranschaulicht werden. Auch die Verständnisprobleme, die durch solche Textstellen auf Rezipientenseite entstehen können, müssen aufgezeigt werden. Die Artikel profitieren in jedem Fall von der vorgenommenen intensiven Beratung. Die Studierenden können danach strukturelle und sprachliche Probleme ihrer Text häufig auch selbständig erkennen. Ideen zur konkreten Umsetzung von Teilinhalten und das Umformulieren erweisen sich allerdings immer wieder als eine Schwierigkeit, so dass die Projektleitung hier häufig Anregungen geben muss, damit die Schreibenden sich vorstellen können, wie eine mögliche Umsetzung aussehen könnte. Die Entwicklung solcher für berufliche Kontexte überaus interessanter Darstellungskompetenzen sollte im Studienverlauf noch weiter gefördert werden. Sie erfordert allerdings Zeit und Unterstützung.

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In die Breite: Verallgemeinerbarkeit und Anschlussvorteile des Projektes Grundsätzlich kann das Schreiben von Blogtexten für Studierende der unterschiedlichsten Fächer und Disziplinen ein didaktisch attraktives Angebot darstellen. Nicht nur, weil mit dem Blogartikel ein öffentlich einsehbares Produkt entsteht, das auch von anderen wahrgenommen werden kann (von zukünftigen Arbeitgebern etwa, aber auch von Personen aus dem eigenen Privatleben), oder weil der geringe Umfang des zu schreibenden Textes motivierend wirkt, gerade weil er in der Regel leicht zu bewältigen ist. Studierende können vor allem auch fachliche Inhalte erwerben und vertiefen sowie praxisnahe Fähigkeiten wie etwa Selbstorganisations-, Recherche-, Rezeptions-, Darstellungs-, Präsentations- und digitale Kompetenzen weiterentwickeln. Gerade der letzte Aspekt ist aktuell ein wesentliches Teilziel der Lehrentwicklung an der RUB, um der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur zu entsprechen, sondern um sie auch mitgestalten zu können. Da in der Germanistik – wie wohl in den meisten Geisteswissenschaften – die berufsfeldorientierenden Kompetenzen, die Studierende im Studium erwerben können, künftig noch stärker fokussiert werden sollen, ist das Projekt auch aus dieser Perspektive attraktiv. Schließlich zielt das Germanistikstudium mit Ausnahme des Lehramts nicht auf die Ausbildung für einen konkreten Beruf ab, weshalb eine Praxisausrichtung immer stärker gefordert wird. In einer Zeit, in der Inhalte in großem Umfang digital aufgearbeitet werden und sich damit weitere Berufsfelder für Schreibende ergeben, ist ein Projekt, das auf die Entwicklung der entsprechenden praxisorientierten Kompetenzen abzielt, folglich ein interessantes Angebot. Die Praxis: Umsetzungsempfehlungen Unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen lassen sich für eine mögliche Formatübernahme in andere Fächer unter anderen folgende praktische Hinweise festhalten:

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Nicole Auerbach-Kutscher •





Das Einrichten eines Blogs (z.B. bei dem Content-Management-System WordPress) ist prinzipiell nicht aufwendig und auch kostenlos möglich. Es ist allerdings sinnvoll, bereits zu Anfang zu reflektieren, welche Bedürfnisse bei der Nutzung entstehen können (Welches Image soll vermittelt werden? Wie soll der Blog strukturiert sein? Wie viele Texte sollen auf der Startseite zu sehen sein? Auf welchem Weg kann vermieden werden, dass visuell unterschiedliche Inhalte nicht zueinander passen? Soll es thematische Unterkategorien geben? Wie kann die Kommunikation mit den Usern konkret umgesetzt werden und welche der Sozialen Medien sollen wie benutzt und wie eingebunden werden, um so z.B. auf der Startseite des Blogs wahrnehmbar zu sein?). Auf dieser Basis kann dann ein entsprechend passendes Blogdesign (ein theme) gewählt und ein aufwendiger späterer Relaunch der Seite vermieden werden. Es könnte sich hierbei durchaus auch als vorteilhaft darstellen, eines der komplexeren, aber kostenpflichtigen themes zu wählen. Programmiertechnisches Wissen kann bei der grundlegenden Gestaltung ein Vorteil sein, ist aber nicht unbedingt notwendig. Das Veröffentlichen der entsprechenden Artikel ist im Gegensatz zur Seitengestaltung sehr zeitaufwendig. Inhaltliche Unausgereiftheit und eine unzureichende Darstellung können gelegentlich auch größere, zeitraubende Probleme aufwerfen. Die Option, nicht alle eingereichten Texte zu veröffentlichen, sollte man sich daher freihalten. In solchen Fällen ist es wichtig, den Studierenden anhand konkreter Textstellen aufzuzeigen, welche zentralen (!) Probleme sich darstellen und wie eine angemessenere Gestaltung aussehen könnte (siehe aber den nächsten Punkt). Auch so können die Projektziele Schreibkompetenz-Förderung und die Beschäftigung mit Wissenschaftskriterien gefördert werden. Ein persönliches Feedback ist nicht nur zeitökonomischer als eine schriftliches, sondern vor allem auch motivierender für die Schreibenden. Es sollte dabei unbedingt darauf geachtet werden, dass auch die Stärken des konkreten Textes hervorgehoben werden und die

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entsprechende Leistung allgemein erfasst wird, da die Detailliertheit von Korrekturvorschlägen bei den Schreibenden auch ein falsches Bild von der eigenen Leistung vermitteln und demotivierend sein kann. Das Feedback sollte als Angebot, den eigenen Text zu optimieren, und nicht als wertendes Urteil wahrnehmbar sein. Auf den Stellenwert, aber auch den zeitlichen Umfang der Überarbeitung sollte bereits im Vorfeld des Schreibens hingewiesen werden („Ein guter Text entsteht erst in der Überarbeitung“). Verschiedene Versionen ein und desselben Blogartikels können dies gut veranschaulichen und damit auch die Motivation stärken. Es sollten individuelle Zeitpläne und Feedback-Termine mit den Studierenden vereinbart werden, die ein zeitnahes Abarbeiten der entsprechenden Aufgaben gewährleisten. So kann ein stockender Überarbeitungsprozess vermieden werden.

Trotz des hohen Zeitaufwandes ist das Projekt in jedem Fall auch für Lehrende eine interessante und gewinnbringende Erfahrung (die auch Rückwirkungen auf den eigenen Schreibstil haben kann), zumal Content-Management-Systeme eine technisch unaufwendige, aber professionell wirkende Umsetzung erlauben und die Motivation der Seminarteilnehmer_innen in aller Regel hoch ist.

Blended Learning – Arbeits- und Organisationspsychologie für Nicht-Psycholog_innen Alina Tausch & Annette Kluge Die Idee für unser Seminar entstand aufgrund zunehmender Nachfragen fakultätsfremder Studierender, ob sie an Seminaren zur Arbeits- und Organisationspsychologie teilnehmen können. Das Forschende Lernen hat uns die Möglichkeit gegeben, innerhalb eines Semesters eine neue Lehrveranstaltung zu konzipieren und im darauffolgenden Semester zu pilotieren, die es NichtPsycholog_innen ermöglicht, einen breiten thematischen Einblick in psychologische Inhalte zu erhalten und gleichzeitig selbstständig und praxisorientiert Forschung zu betreiben, um die Inhalte im Rahmen eigener berufspraktischer Erfahrungen zu vertiefen. Warum Blended Learning? Um unsere Idee umzusetzen, haben wir auf das Konzept des Blended Learning gesetzt, das als Lernsystem Instruktionen in der direkten Interaktion mit computer-mediierten Instruktionen verbindet (Graham 2006). Es bietet Vorteile wie pädagogische Vielfalt, Wissenszugang und Interaktion oder Einfachheit der Überarbeitung (Osguthorpe & Graham 2003). Für uns waren vor allem die Verstetigung der Veranstaltung auf Fakultätsebene und die niedrigen Teilnahmehürden für die Studierenden, die aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen und Semestern zu uns kommen und damit auch individuelle Verpflichtungen und Stundenpläne haben, von Relevanz. Das Blended-Learning-Konzept hat es uns ermöglicht, den Studierenden in drei Blocksitzungen von jeweils einem Tag einen zielgruppenorientierten, thematischen Überblick zu geben und sie Gruppen bilden zu lassen, die dann selbstorganisiert mit den zur Verfügung gestellten Materialien arbeiten und darüber hinaus ein For-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_19

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schungsprojekt bearbeiten, das in der Abschlusssitzung präsentiert wird. Darüber hinaus konnten wir die E-Learning-Anteile mit Gamification anreichern, sodass wir in unseren Augen nicht nur ein inhaltlich und methodisch spannendes, sondern auch unterhaltsames und abwechslungsreiches Seminar kreiert haben, das auch durch die Aufmachung der Inhalte motiviert. Gleichzeitig ist das Konzept für den Lehrstuhl leicht wiederverwertbar, da die Lehrmaterialien und der strukturierte Lernprozess über die Plattform Moodle ideal vorbereitet sind und jedes Jahr wiedereingesetzt werden können. So können sich die Lehrenden auf die Betreuung der Studierenden während der Projektphase fokussieren, ohne jedes Jahr neuen Vorbereitungsaufwand zu haben. Das macht es möglich, das Seminar auch ohne weitere Fördergelder anzubieten. Eckdaten des Seminars Die Projektbearbeitung hat für uns Mitte September 2016 begonnen mit ersten Recherchen zum Thema Blended Learning, einer Zusammenstellung von relevanten Themen, der Erstellung von Lehrmaterialien und der Zusammenstellung des Moodle-Kurses mit Unterstützung einer studentischen Hilfskraft. Das Pilot-Seminar fand dann im Anschluss im Sommersemester 2017 statt – sodass die Studierenden ein Semester Zeit hatten, um ihre Forschungsprojekte zu planen und umzusetzen. Insgesamt haben an diesem ersten Seminar 27 Studierende aus sieben verschiedenen Studiengängen und neun verschiedenen Fachsemestern teilgenommen. Die Evaluation des Seminars hat ergeben, dass 18 von 26 Studierenden die Veranstaltung besser oder eher besser als ihre sonstigen Lehrveranstaltungen finden und nur zwei sie (eher) schlechter bewerten. Der Einsatz von Blended Learning hat 88% der Studierenden sehr gut oder gut gefallen und hat für 19 der Studierenden die Teilnahme am Seminar erleichtert bzw. erst möglich gemacht.

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Ablauf der Lehrveranstaltung Der Aufbau des Seminars besteht aus drei wesentlichen Bausteinen: den Präsenzveranstaltungen, dem E-Learning und der Projektgruppenarbeit (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Die drei Bausteine des Blended-Learning-Kurses

Das Seminar beginnt mit einer ganztägigen Auftaktveranstaltung, in der der oder die Lehrende die Studierenden kennenlernt und diese sich auch untereinander begegnen, um eine Vertrauensbasis auch für die medienvermittelte Zusammenarbeit zu schaffen. Die Studierenden teilen sich am Ende der Sitzung in Projektgruppen auf, die dann über das Semester gemeinsam arbeiten werden. In der Sitzung wird ebenso das Seminarkonzept vorgestellt, die Struktur und Benutzung des Moodle-Kurses erläutert und inhaltlich in das

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erste Thema „Führung“ und die Forschungsmethoden „Interview“ und „Beobachtung“ eingeleitet. Dabei wird, gemäß der Five First Principles (Merrill 2002) (siehe nächster Abschnitt) auch an das Vorwissen der Studierenden aus den verschiedenen Disziplinen angeknüpft. Anschließend geht es für die Studierenden Zuhause, in der Uni-Bibliothek oder unterwegs in Moodle weiter: Der stark vorstrukturierte MoodleKurs enthält alle Informationen und Lernmaterialien zur Erarbeitung der Inhalte. Die Abbildung 2 zeigt einige der wesentlichen Elemente.

Abbildung 2: Screenshot der Startseite des Moodle-Kurses mit Beschriftung der einzelnen Elemente.

Wesentliches Element, das den Lernfortschritt über das ganze Seminar begleitet, ist das sogenannte Level-Up. Um den Charakter des Forschenden Lernens zu stärken, das Gelernte in eine Gesamtgeschichte einzubinden und durch Gamification zum Lernen zu motivieren, durchläuft jeder Studierende im Moodle-Kurs seine eigene Forscher_innen-Karriere. Durch das Anklicken der einzelnen Lernmaterialen und mit Abgabe der erforderlichen Aufgaben können sie im Lauf des Seminars die Karriereleiter vom Studenten bzw. der

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Studentin bis zum Pensionär bzw. zur Pensionärin aufsteigen (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3: Forscherkarriere, die im Rahmen des Moodle-Kurses durchlaufen wird (eigene Darstellung unter Verwendung von roomstyler.com)

Nach der Auftaktveranstaltung hat jede Gruppe die Aufgabe, in Moodle eine Führungstheorie auszuwählen und auf Basis der im Online-Kurs zur Verfügung gestellten Informationen und Theorietexte eine sogenannte Theoriekarte zu erstellen, auf der sie ihr Thema für die anderen Gruppen kompakt und möglichst grafisch aufarbeitet. Zusätzlich lesen sich alle in die Forschungsmethoden ein. Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, was dabei besonders zu beachten ist und wie man vorgeht, um diese Methoden in der eigenen Forschung einzusetzen, haben wir für jede der Forschungsmethoden einen eduClip vorbereitet: Diese 15-20-minütigen Lehrvideos geben einen Überblick über die Methoden und Tipps für die Umsetzung in kompakter und ansprechender Form. Ein weiteres Element, das die Studierenden über das ganze Seminar hinweg begleitet, ist das Forschungstagebuch. In diesem Dokument, umgesetzt als ausfüllbares Word-Formular, damit es von allen einfach bearbeitbar ist und auch ausgedruckt werden kann, gibt es zu jedem Abschnitt des Seminars eine Seite mit Fragen und Hinweisen. Von der Auftaktveranstaltung über die einzelnen Methoden bis hin zu den Forschungsprojekten wird jeder Arbeitsschritt des Seminars durch Reflexionsfragen, Checklisten und gelernten Modellen zum Ausfüllen passend unterstützt. Die Nutzung des Tagebuchs ist freiwillig, sodass jede/r Studierende individuell entscheiden kann, ob er/sie seine/ihre Gedanken, seinen/ihren Lernfortschritt und die Projektbearbeitung hier dokumentieren möchte oder lieber auf andere Art und Weise lernt.

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Es hat sich gezeigt, dass einige Studierende das Angebot genutzt und sehr geschätzt haben, während andere das Tagebuch gar nicht verwendet haben. Und das ist gerade das Gute an der Online-Bereitstellung der Materialien: Sie können aufwandsarm und nachhaltig zur Verfügung gestellt werden und es bleibt in der Verantwortung des/der einzelnen Studierenden, zu entscheiden, ob das Material zu seiner/ihrer individuellen Art zu Lernen passt und für ihn/sie nützlich ist. Das Forschungstagebuch hilft den Studierenden vor allem dabei, ihr erstes (und zweites) Forschungsprojekt in der Gruppe zu strukturieren. Die Aufgabe in der ersten Hälfte des Seminars ist es, gemeinsam einen Arbeitsplatz zur Untersuchung auszuwählen. Hierbei können die Studierenden unter anderem ihre eigenen (Neben-)Jobs oder die von Freund_innen oder Verwandten untersuchen. Auf Basis der von ihnen ausgewählten Führungstheorie, die sie in einer Theoriekarte mit dem Hintergrundmaterial aus Moodle aufbereiten, sollen sie sich für eine interessante Fragestellung entscheiden, die sie an diesem Arbeitsplatz untersuchen können. Für diesen ersten Teil sollen sie zunächst eine Beobachtung am Arbeitsplatz durchführen und diese entsprechend dokumentieren, um dann danach oder in einem nächsten Termin, den/die Arbeitsplatzinhaber_in und/oder die Führungskraft zu interviewen. Die Ergebnisse und Erkenntnisse, die die Gruppe aus den gesammelten Forschungsdaten für ihre Fragestellung ableitet, soll sie auf einem wissenschaftlichen Poster darstellen. Ein interaktives Beispiel-Poster in Moodle gibt ihnen Tipps zu Struktur und Inhalten sowie zur Ausgestaltung. Die Poster werden anschließend in einer gemeinsamen Poster-Konferenz in der Midterm-Veranstaltung vor Kleingruppen präsentiert. Dabei wird ein Rotationsprinzip angewendet, sodass immer unterschiedliche Personen aus der Projektgruppe die Poster kurz präsentieren und dann mit dem Publikum diskutieren. So erhalten die Gruppen Peer-Feedback, das sie in ihr zweites Forschungsprojekt einbauen können. Im zweiten Projekt geht es dann inhaltlich um verschiedene Motivationstheorien und zugehörige Konstrukte. Eine kurze Einführung in der Midterm-Veranstaltung zu den Themen Arbeitszufriedenheit und Motivation gibt einen ersten Einblick, die Moodle-Materialien erlauben wieder eine vertiefte

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Beschäftigung. Außerdem werden zwei neue Methoden eingeführt: das Experiment und, darauf aufbauend, die Praxisintervention. Die Aufgabe der Studierenden ist es, sich am gleichen oder einem anderen Arbeitsplatz nun eine kleine Interventionsmaßnahme zu überlegen, die dabei hilft, Motivation und Zufriedenheit gemäß der ihnen zugeordneten Theorie zu fördern. Um zwischen den verschiedenen Bedürfnissen der Teilnehmer_innen zu differenzieren, können mit dem Seminar drei oder fünf Kreditpunkte (CP) erreicht werden. Diejenigen, die nur drei CP benötigen, überlegen sich die Interventionsmaßnahme nur theoretisch, diejenigen mit fünf CP führen diese tatsächlich durch. In der Abschlussveranstaltung kommen ein letztes Mal alle zusammen, um in einer zweiten Poster-Konferenz die Ergebnisse zu präsentieren. Es gibt einen erneuten Rückgriff auf das Modell am Anfang, das die Arbeits- und Organisationspsychologie sowie die verschiedenen gelernten und angewandten Forschungsmethoden und Inhalte miteinander in Beziehung setzt. Es werden außerdem einige praktische Beispiele für die Anwendung der Inhalte gegeben – von einer Diskussion über Feelgood-Manager im Unternehmen über feindseliges Führungsverhalten bis zum Assessment Center. Eine Abschlussevaluation und Feedbackrunde beschließen das Seminar, das einen groben, möglichst bunten und praxisorientierten Überblick über die zentralen Themen der Arbeits- und Organisationspsychologie geben soll. Didaktisches Konzept Die vorgestellten Lehrelemente sind so zusammengestellt und aufeinander abgestimmt, dass sie dazu dienen, die First Principles of Learning nach Merrill (2002) umzusetzen. Jedem der Grundprinzipien (= basic methods) wurden spezifische Lehrmethoden (= variable methods) zugeordnet, die dabei helfen sollen, die Lernumgebung so zu gestalten, dass neues Wissen erlernt, in den eigenen Wissensschatz integriert und mit Anwendungskenntnissen verknüpft werden kann.

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Die Idee, durch Forschung zu lernen, lässt sich sehr gut mit diesem Ansatz verbinden, ist doch der zentrale Aspekt daran die Problemorientierung. Die Studierenden sollen lernen, konkrete Fragen, z.B. zur Führung in einem Unternehmen, beantworten zu können, und das nicht „küchenpsychologisch“, sondern auf Basis systematischer Analyse, darauf aufbauenden Verstehens und Intervenierens. Deswegen werden die Studierenden vor die Aufgabe gestellt, zwei Forschungsfragen anhand von konkreten, selbst gewählten Projekten zu bearbeiten und letztlich zu beantworten. Dabei lernen sie verschiedene Forschungsmethoden (Beobachtung, Interview und Experiment) miteinander zu vergleichen und ihre Vor- und Nachteile in verschiedenen Situationen einschätzen zu können. Um diese Probleme zu lösen, wird auch das Vorwissen der Studierenden mit eingebunden, das auf Grund der verschiedenen Studiengänge, Semester und außeruniversitären Erfahrungen der Studierenden sehr heterogen ist und gerade deshalb dazu einlädt, durch Erfahrungsaustausch zu lernen. Die enge Zusammenarbeit der Projektgruppen in der Forschung und der anschließenden Erstellung der wissenschaftlichen Poster ermöglichen die Erreichung dieses Ziels. Das Forschungstagebuch triggert die Aktivierung von Vorwissen durch gezielte Fragen wie zum Beispiel danach, wie Arbeit in der eigenen Disziplin (z.B. den Ingenieurwissenschaften) definiert wird. Die Bildung gemeinsamer mentaler Modelle wird durch einheitliche Definitionen und eine gemeinsame Erarbeitung von Konstrukten und Theorien in der Auftaktsitzung gefördert. Das Prinzip der Demonstration neuen Wissens wird vor allem über die eduClips umgesetzt, in denen die Studierenden Schritt für Schritt durch die verschiedenen Forschungsmethoden hindurchgeführt werden. Ihnen werden Beispiele wie die Hawthorne-Studien gegeben, die zeigen, wie Forschung aussehen kann und worauf dabei besonders zu achten ist. Im Forschungstagebuch gibt es zu jedem Projekt-Abschnitt Checklisten, die die Durchführung der eigenen Forschung erleichtern sollen und die Studierenden systematisch durch den Prozess der Vorbereitung führen sollen. Auch in den Präsenz-Veranstaltungen wird das Demonstrationsprinzip aufgegriffen – hier wird zum

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Beispiel anhand eines schlechten Interview-Beispiels diskutiert, worauf man beim Interviewen achten muss und welche Regeln es einzuhalten gilt. Die Anwendung des Gelernten findet in den Gruppenprojekten statt, in denen all das Wissen zusammengebracht werden muss, um selbst mit den erlernten Methoden Forschung zu betreiben und Erkenntnisse zu gewinnen. Zunächst muss von den Studierenden selbst ein geeigneter Anwendungsfall gefunden werden, meist eine Situation aus ihrer Tätigkeit als Hilfskraft oder im Nebenjob, um dann an diesem Fall eine selbst entwickelte Forschungsfrage systematisch zu beantworten. Die Verarbeitung der Forschungsprojekte auf Forschungspostern und die gemeinsamen Poster-Konferenzen erlauben die Diskussion der Durchführung, die Besprechung von Schwierigkeiten und Erfolgen und die Rekapitulation der Lerninhalte, bezogen auf konkrete Alltagsprobleme. Das öffentliche Präsentieren der eigenen Lernerfolge fördert auch die Integration des Gelernten. Die Diskussion der verschiedenen Vorgehensweisen und Ergebnisse unter den Studierenden ermöglicht die Reorganisation des Wissens in eine eigene Struktur. Weitere Reflektionsfragen im Workbook helfen bei der Abrundung des Gelernten über das Seminar hinaus. Ergebnisse des Seminars Abbildung 4 zeigt eine Zusammenstellung einiger der im Seminar erstellten Theoriekarten. Jede Gruppe hat eine Karte zu einer Führungs- und einer Motivationstheorie erstellt, sodass am Ende ein Set von insgesamt 16 verschiedenen Theorien entstanden ist. Dank der Unterstützung durch inSTUDIES konnten wir im ersten Seminar diese Theoriekarten auch für alle Studierenden auf DIN-A5 ausdrucken, sodass alle eine erste Theoriesammlung bei der Hand haben, falls sie im Studium oder Berufsleben einmal mit einem arbeits- oder organisationspsychologischen Problem konfrontiert werden. Natürlich werden die Theoriekarten auch online als Sammlung zum Herunterladen zur Verfügung gestellt.

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Abbildung 4: Zwei Theoriekarten, die im Seminar von den Studierenden erstellt wurden

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Insgesamt haben die Studierenden auf Basis der vorgegebenen Theorien eine Vielzahl spannender Projekte und Fragestellungen entwickelt, die sie mit vielfältigen Methoden untersucht haben. Beispielhaft sei hier das Projekt einer Gruppe dargestellt, die die Aufgabe hatte, sich im ersten Teil des Seminars mit dem Ansatz der gesundheitsförderlichen Führung (vgl. Franke, Ducki & Felfe 2015) auseinanderzusetzen. Diese Führungstheorie haben die Studierenden anschaulich in einer Grafik auf der Theoriekarte (Abbildung 5) dargestellt.

Abbildung 5: Theoriekarte „Gesundheitsförderliche Führung“

Daraus haben sie für ihr erstes Forschungsprojekt die Frage abgeleitet, inwieweit der Health-oriented Leadership-Ansatz in der untersuchten Kindertagesstätte umgesetzt wird. Dazu haben die Studierenden eine Führungskraft der Tagesstätte, die zwölf Mitarbeiter_innen unter sich hat, interviewt und eine

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Beobachtung vor Ort durchgeführt. Die Erkenntnisse haben sie auf ihrem Forschungsposter zuhörer_innen-freundlich aufbereitet (Abbildung 6).

Abbildung 6: Forschungsposter „Gesundheitsförderliche Führung“

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Generell konnten die Studierenden herausfinden, dass die Führungskraft sich gesundheitsbewusst verhält und auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter_innen und akute Stresssituationen eingeht. Die Position der Führungskraft als Vorbild in Sachen gesundheitsförderlichem Verhalten war allerdings noch nicht ausreichend bewusst und könnte, gerade in Hinblick auf den Umgang mit häufig hohem Arbeitspensum, noch gezielter eingesetzt werden. Mit diesem und den anderen Forschungsprojekten haben die Studierenden einen umfassenden Einblick in die praktische Anwendung von Theorien und die Annäherung an reale Probleme mit fundierten Forschungsmethoden und Hintergrundwissen bekommen. Die vielen verschiedenen Beispiele zeigen ihnen, wie vielfältig und auch anspruchsvoll die Arbeit sein kann und dass sich oft ein tieferer Blick auf Probleme lohnt, um daran arbeiten zu können. Weitere Einbindung des Lehrkonzepts Die Möglichkeit der Verstetigung durch den bereits bestehenden MoodleKurs und die klare, aber für die Studierenden zugleich flexible zeitliche Strukturierung ermöglicht uns, das Seminarangebot in jedem Sommersemester anzubieten (im Sommersemester 2019 schon zum vierten Mal). Dabei profitieren die Studierenden anderer Fakultäten, aber ebenso die durchführenden Lehrenden, die sich in der lernunterstützenden Rolle erproben können und ebenso die Möglichkeiten des Moodle-unterstützten forschenden Lernens für sich entdecken und kreativ weiterführen.

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Literatur Franke, Franziska, Ducki, Antje & Felfe, Jörg (2015): Gesundheitsförderliche Führung. In: Felfe, Jörg (Hg.) (2015): Trends der psychologischen Führungsforschung. Neue Konzepte, Methoden und Erkenntnisse (Psychologie für das Personalmanagement), Bd. 27. Göttingen: S. 253-264. Graham, Charles R. (2006): Blended learning systems: Definition, current trends, and future directions. In: Bonk, Curtis J. & Graham, Charles R. (Hg.) (2006): The handbook of blended learning. Global perspectives, local designs (Pfeiffer essential resources for training and HR professionals). San Francisco. Online unter http://www.click4it.org/images/ a/a8/Graham.pdf Merrill, M. David (2002): Fist principles of instruction. In: Educational technology research and development 3/2002: S. 43-59. Osguthorpe, Russell T. & Graham, Charles R. (2003): Blended Learning Environments. Definitions and Directions. In: Quarterly Review of Distance Education 3/2003: S. 227-233.

Lernen und Beitragen – Exegese des Neuen Testaments in einer Gelehrtenwerkstatt. E-Learning und Textauslegung*1 Peter Wick Der Rahmen In einem interdisziplinären Forschungskolleg hat sich mir über Jahre gezeigt, dass es für Wissenschaftler_innen viel leichter ist, Vorträge von fachfremden Disziplinen zu hören, als gemeinsam Texte aus fachfremden Disziplinen zu lesen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass, wenn Expert_innen gewisse Texte aus ihrem Fachbereich vorgelegt haben, sofort ein Lese-Gefälle zwischen Expert_innen und Nichtexpert_innen im Raum stand. Nichtexpert_innen fühlten sich durch ihre wissenschaftliche Sozialisation nicht ermächtigt, ihre Lesewahrnehmungen und Verknüpfungen vom Text zu ihrer Disziplin zu äußern, da nur der/die Expert_in über die Kriteriologie verfüge, Textwahrnehmungen von Nichtexpert_innen jeweils als richtig oder falsch zu taxieren. Doch auch innerhalb eines Faches lassen sich solche Phänomene beobachten. An einer Tagung wagen weniger Qualifizierte oft nicht, vor Professor_innen ihre Schlüsse aus dem Lesen eines Textes in die Diskussion einzubringen, da wiederum Expert_innen da sind, die dies sofort als ungenügend bezeichnen könnten. Viele Studierende bringen solche Leseerfahrungen aus der Schule mit. Viele haben dort bis heute gelernt, dass Textlektüre einen bestimmten Textsinn erschließen muss, den der Lehrerende bereits kennt. Eine moderne Methodik schützt davor nicht. Wenn Schüler_innen auf eigenen Wegen oder   *

Der Beitrag ist bereits zuvor in leicht angepasster Form erschienen unter dem Titel: Sinnoffene Textdeutung und Digitales Lernen: Wie Studierende mit Hilfe eines Wikis zu Textforschern werden! In: Giercke-Ungermann, Annett & Handschuh, Christian (Hg.) (2020): Digitale Lehre in der Theologie. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Theologie und Hochschuldidaktik, Bd. 11. Münster: S. 195-203.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_20

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in Gruppenarbeiten sich ein Textverständnis erarbeiten sollen, von dem sie zuerst nur wissen, dass der Lehrerende es bereits kennt und zuletzt über richtig und falsch entscheidet, kann dies dazu führen, dass sie Anpassungsstrategien an die Lehrperson und eine Kompetenz des Erahnens ihrer Meinung einüben oder dass sie prinzipiell irritiert werden, denn jedes Gespräch, das über einen Text geführt wird, wird so letztlich zur Farce. Viele Studierende bringen solch eine „negative“ Erwartungshaltung an die Textlektüre mit an die Universität. Dort wird diese an manchen Orten verstärkt, an manchen aufgebrochen. Wenn der Text primär als Träger eines bestimmten Sinnes verstanden wird, dann werden Studierende so sozialisiert, dass sie lernen, diesen Sinn möglichst genau zu verstehen, indem sie die Interpretation ihrer Dozierenden möglichst sorgfältig nachvollziehen können. Wird der Text hingegen als eigenes Universum verstanden, dem ein nicht fassund kontrollierbares Sinnpotenzial innewohnt, können Studierende zu Textentdeckern werden, die aus einer Vielzahl von Auslegungsmethoden auswählen und sich so von vielen Seiten dem Text nähern und dabei ihren Textbeobachtungen ein eigenständiges Gewicht geben können. Im Gespräch werden diese Textbeobachtungen der einzelnen Teilnehmer_innen vorwiegend als Bereicherung und als Ergänzung erfahren. Im kritischen Gespräch lernen die Teilnehmer_innen, Rechenschaft abzulegen über die methodischen Perspektiven, die sie zu diesen Ergebnissen geführt haben, beziehungsweise die ihnen erlauben, Textwahrnehmungen von anderen zu integrieren. Linguistische Ansätze und vor allem literaturwissenschaftliche Textzugänge aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fordern so einen Textzugang und messen dem Akt des Lesens und der Rezeption des Textes durch den Lesenden eine fundamentale Bedeutung für die Textinterpretation zu. Dieser Ansatz drang in verschiedene textorientierte Disziplinen unterschiedlich schnell ein. Der entsprechende Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Dieser Ansatz bietet eine ideale hermeneutische Basis für Forschendes Lernen mit Texten. Der vorliegende Beitrag präsentiert und reflektiert die Erfahrungen aus der didaktischen Umsetzung eines exegetischen Lehr-Lern-Projekts, das 2011 von mir auf dem Boden von jahrelangen Vor-

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arbeiten zusammen mit Jan Heilmann entworfen und seitdem mehrfach erprobt und weiterentwickelt worden ist. Dieses Projekt vermittelt Studierenden einerseits einen hohen Respekt vor dem Text als eigenem Kosmos und macht zugleich Mut, einen Text als Neuland selbst zu betreten und zu erforschen. Das Lehr-Lern-Konzept ist durch RuhrCampusOnline und das Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ der Ruhr-Universität Bochum gefördert, beim eLearning-Wettbewerb 5x5000 ausgezeichnet und von der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bochum und dem Rektorat für den Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre 2014 vorgeschlagen worden. Da es bereits wissenschaftlich reflektiert und ausgewertet worden ist (vgl. Heilmann & Wick 2017), soll es hier im Sinne eines Erfahrungsberichts dargestellt werden. Das Projekt: Exegese des Neuen Testaments in einer

Gelehrtenwerkstatt Im Jahr 2011 habe ich eine vollständig überarbeitete Methodenlehre zum Neuen Testament publiziert (vgl. Wick & Egger 2011). In ihr wird viel Gewicht auf die praktische Anwendbarkeit der einzelnen Methodenschritte gelegt. Die Lesenden werden dazu angeleitet, die Texte selbständig auszulegen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt darauf, die Texte in ihrer Endgestalt wahrzunehmen. Deshalb stehen synchrone Methoden im Zentrum. Mit dem Manuskript und dem Buch habe ich zahlreiche Präsenzseminare durchgeführt. Nach einer Einführung in die Methoden bearbeiteten Kleingruppen je einen Text (Perikope) aus dem Neuen Testament mit diesen Methodenschritten und stellten ihre Ergebnisse in je einer Sitzung vor. Dieses Seminar wurde nun komplett umgestaltet. Die Präsenz wurde auf zwei Blocktage reduziert. Der ganze Text des Neuen Testaments wurde auf Griechisch und in deutscher Übersetzung auf ein Wiki gesetzt. Das bedeutete sehr viel Arbeit, die durch die Unterstützung der Universität finanziert werden konnte. Nachdem sich die Arbeitsmethoden in den neuen Wiki-Semina-

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ren eingespielt hatten, konnte auf eine weitere externe Unterstützung verzichtet werden. Seither wird praktisch jedes Semester ein solches Seminar durchgeführt. Idealerweise nehmen Studierende aus dem zweiten oder dritten Studienjahr daran teil. Das Seminar ist jeweils auf eine bestimmte neutestamentliche Textgruppe zugeschnitten. Wunder Jesu im Matthäusevangelium, Gleichnisse Jesu bei Lukas, der Passionsbericht bei Markus und viele weitere Themen standen schon im Fokus eines Seminars. Ab Beginn der Vorlesungszeit bekommen die Studierenden, die sich angemeldet haben, auf elektronischem Weg eine obligatorische Lektüreaufgabe. Diese beinhaltet circa 120 Seiten aus der Methodenlehre. Es gibt in dieser Phase noch keinen direkten Kontakt mit dem Dozierenden. Nach ungefähr vier Wochen findet der erste Präsenzblock – in der Regel an einem Freitag – statt. Die Lektüre wird kurz überprüft. Eine Perikope aus dem angezeigten Thema steht im Zentrum dieses Tages. Diese wird in untereinanderstehende Sinnzeilen gegliedert und auf einem Handout allen vorgelegt. Sinnzeilen sind die kleinstmöglichen Sinneinheiten eines Textes – oft sind es Haupt- oder Nebensätze, manchmal aber auch noch kleinere Einheiten wie etwa ein Ausruf in einer direkten Rede. Dieser Text wird zweispaltig als griechisch-deutsche Synopse vorgelegt. Nach einer Vorstellungsrunde und einer kurzen Einführung liest jeder für sich den Text auf dem Handout. Die Aufgabe lautet, bei der eigenen Lektüre das wahrzunehmen, was unverständlich ist, was (ver-)stört, was anscheinend fehlt oder was nicht passen will. Es geht also darum, das eigene Stolpern beim Lesen nicht zu übergehen, dies schriftlich festzuhalten und mit den anderen Teilnehmer_innen zu diskutieren. Dieser Schritt legt Rechenschaft ab über das erste Verständnis und bricht dieses zugleich auf für weitere Erkenntnisse. Oft sind biblische Texte bei den Studierenden bekannt. Dann ist dieser Schritt umso wichtiger, weil sich bereits ein festes Vorverständnis gegenüber diesem Text eingeprägt hat. Stolpersteine des Lesens und Verstehens bereiten den Boden dafür, den Text wieder als fremd und als ein Gegenüber zu erfahren und sich auf einen neuen Verstehensprozess einzulassen. Daraufhin werden in drei aufeinander aufbauenden Durchgängen, welche jeweils wiederum aus drei Arbeitsphasen bestehen, erstens je eine Gruppe

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von durch die Lektüre bereits angeeigneten Methodenschritten besprochen und vertieft. Dies sind im ersten Durchgang die sprachlich-syntaktischen Methodenschritte, die dazu dienen, Lexikon, Grammatik und Stil eines Textes zu analysieren. So werden für die Studierenden die Bausteine sichtbar, aus denen ein Text aufgebaut ist. Diese methodischen Fragen werden nun in einem zweiten Schritt von spontan zusammengesetzten Kleingruppen an dem für diesen Blocktag ausgewählten Text durchgeführt. Die Ergebnisse werden schriftlich notiert. Wer Verben auflistet oder parallele Satzkonstruktionen entdeckt, vergisst in der Regel sein bisheriges Verständnis vom Text, da er sein Denken auf Ungewohntes ausrichtet. In einer dritten Phase werden diese Ergebnisse gegenseitig vorgestellt und diskutiert. Hier werden für das Seminar entscheidende Kompetenzen eingeübt: genaueste Textwahrnehmung, Achten und Wertschätzen der Textbeobachtungen von anderen und die Integration der verschiedenen Beobachtungen. Der Dozierende beteiligt sich sehr zurückhaltend an den inhaltlichen Diskussionen, um nicht das Expert_innen-Laiengefälle zu aktivieren und die Studierenden zum Verstummen zu bringen. Seine Interventionen sind darauf ausgerichtet, dass die Studierenden in und mit ihren Beiträgen anfangen, über die oben genannten Kompetenzen zu reflektieren, um sich diese anzueignen. Er ermutigt zur genauesten Textbeobachtung und deren Formulierung. Er leitet dazu an, die eigenen Textbeobachtungen nicht einem vermeintlichen Textsinn unterzuordnen, sondern diesen durch jene zu problematisieren. Er zeigt an den Beobachtungen der Studierenden, wie aus diesen erste vorsichtige, inhaltliche Schlüsse gezogen werden können. In einem Text, der praktisch ohne Adjektive auskommt, kann so die Beschreibung nicht im Vordergrund stehen. Wenn ein Viertel der Wörter Verben sind, dann muss Bewegung und Handlung zentral sein. Dies ist die vierte und wichtigste Kompetenz. Ganz wichtig ist nun, dass die auf diese Weise gemeinsam erarbeiteten Beobachtungen und erste inhaltliche Schlüsse vor den Augen der Studierenden in das Wiki beim entsprechenden Text kommentierend eingefügt werden.

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So stehen die vielfältigen Ergebnisse auf einer Kommentarplattform beieinander und es ist offensichtlich durch dieses mediale System, dass sie auch in Zukunft von allen Kursteilnehmer_innen abgerufen und ergänzt werden könnten. Nun werden diese drei Arbeitsphasen in einem zweiten Durchgang mit einem Set von semantischen Methoden und narrativen Analyseschritten praktiziert. Dabei wird untersucht, auf welche Weise die Textbausteine (Lexikon, Grammatik, Stil) aus dem vorhergehenden Untersuchungsdurchgang miteinander verknüpft sind und welcher Sinn durch diese Beziehungen generiert wird. Welche Akteur_innen sind im Text feststellbar und welche Verben werden ihnen zugeschrieben? Wer wirkt auf wen ein und was hat dies für Folgen? Gibt es Alternativmöglichkeiten im Text und was haben diese für eine Bedeutung? Wie verhält sich der Text und einzelne Schlüsselwörter daraus zum größeren Kontext, in dem er steht? Die Ergebnisse dieses Dreischritts werden wiederum auf dem Wiki festgehalten. Hier erleben die Studierenden, wie sich ganz neue Sinninhalte vor ihren Augen im Text auftun, wie sie alle zu diesen Sinnentdeckungen beitragen und wie sich ihre Beobachtungen oft gegenseitig ergänzen. Als drittes Methodenset wird die Pragmatik eines Textes mit diesen drei Arbeitsphasen untersucht. Welche Wirkung hat der Text auf seine Leser_innen? Welche Signale finden sich im Text, die darauf zurückschließen lassen, was der Verfassende mit diesem Text bei seinen intendierten Leser_innen auslösen wollte? Hier ist besonders darauf zu achten, dass die Studierenden zwischen dem Sinn und der Botschaft eines Textes und dessen impliziten Absicht unterscheiden lernen. Auch diese Ergebnisse werden auf dem Wiki gesichert. Nun ist ein kurzer, aber umfassender Eintrag auf dem Wiki zu dieser Perikope vorhanden. Die Studierenden haben erlebt, wie sie selbst und gemeinsam mit dem Dozierenden einen Kommentar zu einer Perikope an einem einzigen Tag erarbeitet haben. Auf diesen kann in der folgenden Zeit immer zurückgegriffen werden.

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Nun wird eine Liste von Perikopen verteilt, die bearbeitet werden können. Es bilden sich Kleingruppen, die jeweils eine Perikope als ihre Semesteraufgabe auswählen. Mit einer gemeinsamen Auswertung findet der Blocktag seinen Abschluss. Wichtig ist, dass es während dieses Blocktags – oft direkt nach der Mittagspause – eine kurze Einführung in die Technik des Wikis und die Arbeit damit gibt. Während des weiteren Semesters arbeiten die Kleingruppen selbständig und nach ihrem Zeitplan an ihrer Perikope. Etwa in der Mitte des Semesters gibt es an ein bis zwei Tagen eine obligatorische Sprechstunde von dreißig Minuten pro Kleingruppe. Der Dozierende kontrolliert den jeweiligen WikiEintrag der Gruppe und lässt sich dann die wichtigsten Forschungsergebnisse vortragen. Er gibt Ratschläge und verweist auf weiteres Sinnpotenzial des Textes. In der Regel ergibt sich hier ein exegetisches Gespräch auf Augenhöhe zwischen den Gruppenmitgliedern und dem Dozierenden, da sich jene schon tief in die Exegese „ihrer“ Perikope eingearbeitet haben. Nur wenn eine Gruppe kaum gearbeitet hat, müssen nochmals grundlegende Dinge im Gespräch geklärt werden. Doch auch solche Gruppen sehen von diesem Zeitpunkt an immer mehr und ausführlichere Beiträge anderer Gruppen auf dem Wiki. Dies wirkt sehr stimulierend und zugleich bekommen langsame Gruppen dadurch zahlreiche inhaltliche Anregungen, wie sie selbst vorgehen können. Kurz vor Semesterende findet der zweite und letzte Blocktag statt. Hier präsentieren die Gruppen einander ihre Arbeitsergebnisse. Die Seminarteilnehmer_innen werden im Voraus über den Rahmen und die Zielsetzung ihrer Präsentation schriftlich informiert. Sie sollen während zwanzig Minuten ihren Forschungsweg mit ihrem Text skizzieren. Zuerst lesen sie mit allen anderen den Text. Daraufhin sollen sie von den größten Stolpersteinen bei ihrem ersten Lesen ausgehen und zeigen, zu welchen exegetischen Ergebnissen sie am Schluss gekommen sind. Wichtig ist dabei, dass sie sich auf die für sie ergiebigsten methodischen Schritte konzentrieren und nur das Beste und Wichtigste von ihren Ergebnissen präsentieren. In der Regel müssen sie dafür aus einer großen Fülle auswählen. Sie lernen dabei, Forschungsergebnisse spannend zu präsentieren. Alle Teilnehmenden lernen dabei die Texte der anderen

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Gruppen tiefer kennen. Da diese aber zu einem einheitlichen Oberthema gehören, vertiefen sich dadurch zugleich die Kenntnisse über dieses Oberthema (z.B. Wunder Jesu, Passion) und übergreifende neue Erkenntnisse werden ermöglicht und auch diskutiert. Zur Relevanz dieses Zugangs Der hier dargestellte Zugang leitet die Studierenden zum Forschenden Lernen von Anfang an. Dies beruht zuerst auf dem Text- und Leseverständnis. Der Text wir als Text- und Sinnkosmos verstanden, der nicht abschließend erfasst werden kann. Zugleich setzt sich jeder Lesende durch den Akt des Lesens in eine Beziehung mit dem Text. Schon durch die Diversität der Lesenden und ihrer Situationen entsteht eine je verschiedene Beziehung zum Text, die diversen Sinn generiert. Die Studierenden beteiligen sich an der Sinnproduktion des Textes durch ihr Lesen und Beobachten. Sie erfahren sich dabei nicht mehr als zuerst einmal nichtwissende Rezipierende, die auf die Deutung von Expert_innen angewiesen sind, sondern durch ihren Akt des Lesens als Sinnproduzierende und damit als Forschende. Zugleich erleben sie ihre Mitstudierenden auch als solche. Durch das Lesen werden sie zu einer kleinen Forschungsgemeinschaft, die durch das Gespräch miteinander erfährt, wie sich Textbeobachtungen und Sinnassoziationen durch die gegenseitige Kritik und Bestätigung zu Positionen verdichten oder sich wieder auflösen. Dadurch erfahren sie sich als Gelehrtenwerkstatt, die ihre ersten Schritte unternimmt und dabei faszinierende erste Ergebnisse thetisch in den Raum stellen kann. Sie lernen durch eine Fülle von Methoden, Rechenschaft über ihre Lesenden und das Lesen der anderen abzulegen und ihre Ergebnisse wissenschaftlich zu falsifizieren oder zu verifizieren. Zugleich erfahren sie diesen Forschungsprozess als in sich offen und nicht abschließbar. Auch am Ende des Semesters, wenn eine Kleingruppe zu Spezialisten für einen Text geworden ist, werden Anmerkungen und Beobachtungen von Kommiliton_innen diese in der Unabgeschlossenheit des Texterkennungsprozesses bestärken.

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Der für sich effizienteste Weg, um nicht auf eigene exegetische Beobachtungen zu kommen, ist mit der Sekundärliteratur anzufangen. Diese Erfahrung wird bei diesem Zugang ernstgenommen. Lesen wird so vom Kopf auf die Füße gestellt. Ja, dies wird sogar in einer gewissen Einseitigkeit weitergeführt. Den Studierenden wird geraten, während des ganzen Semesters nicht zur Kommentarliteratur zu greifen, damit sie nicht durch ein sekundär erworbenes Textverständnis ihre eigenen Erkenntnisse im Angesicht der Meinungen der Expert_innen aufgeben. Erst in den Folgearbeiten zum Seminar erfolgt dann dieser Schritt. Alle, die eine Hausarbeit, eine mündliche Prüfung oder eine andere Leistung vorlegen wollen, dürfen sich als Einzelne auf die ganze Vorarbeit ihrer Gruppe stützen, sollen diese vertiefen und diese in das kritische Gespräch mit der Sekundärliteratur führen, indem sie mit dieser ihre Forschungsergebnisse korrigieren und vertiefen, aber auch gegenüber ihr mit guten Gründen an den eigenen Ergebnissen festhalten. Es hat sich über die Jahre gezeigt, dass Zweiergruppen besser sind als größere. Diese tendieren dazu, die Arbeit untereinander aufzuteilen und die Ergebnisse nur noch zusammenzustellen. Zweiergruppen hingegen besprechen ihre Ergebnisse in der Regel intensiv und führen ein eigentliches Forschungsgespräch. Der E-learning approach mit dem Wiki fördert diesen Textzugang maßgeblich. Immer wieder wird von den Teilnehmenden gesagt, dass die stark reduzierten Präsenzzeiten die Teilnahme an diesem Seminar fördern und manchmal auch erst ermöglichen. Indem der Wiki-Text während des ersten Blocktags vor aller Augen zum Kurzkommentar wächst und während des Semesters die Kommentare zu den Texten der einzelnen Gruppen ebenfalls für alle auf dem Wiki sichtbar wachsen, wird die Überzeugung gestärkt, tatsächlich an Forschung beteiligt zu sein. Das Wiki sichert für alle die Ergebnisse. So wird das Seminarthema als gemeinsames Thema erfahren, bei dem man von anderen lernt und selbst einen wichtigen Teil dazu beiträgt. Größere Abschlussarbeiten können so zum ganzen Thema geschrieben werden unter Zugriff auf die exegetischen Arbeiten zu jeder einzelnen Perikope. Die Studierenden haben Zugriff auf das ganze Wiki. So können sie schon zu Beginn ihrer Arbeit nach „best practice“-Beispielen suchen und von Jahrgängen davor lernen. Da auch über die Jahre kaum ein Thema wiederholt

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wird, wird das Wiki immer weiter kommentiert. Viele bezeichnen dieses Seminar als Highlight ihres Studiums und manche besuchen es zwei oder dreimal, vor allem, wenn es auch im Masterstudiengang angeboten wird. Die Erfahrung, selbst etwas entdecken zu dürfen und sogar zu sollen, wird immer noch als etwas Besonderes im Studium bezeichnet. Die Rolle des Dozierenden in einem solchen präsenzbeschränkten WikiSeminar unterscheidet sich grundlegend von der eines Lehrenden, der ein Führer zur richtigen Erkenntnis sein will. Die Rolle lässt sich am besten mit der eines Steuermanns vergleichen, der das Schiff von hinten mit einem kleinen Ruder steuert, anstatt voranzugehen, und die Studierenden folgen ihm in ihrem Verstehen. Bereits die Leseergebnisse aus der Lektüre, dann auch der Austausch über die Stolpersteine und alle weiteren Schritte vollziehen vor allem die Studierenden. Der Dozierende greift idealerweise immer nur leicht steuernd mit klärenden Weisungen ein. Erst wenn Textbeobachtungen zusammengetragen worden sind, ergänzt er sie mit eigenen, damit die ganze Gruppe sich als Forschungsgemeinschaft versteht. Gerade am ersten Blocktag und in der obligatorischen Sprechstunde muss er Transferhilfen geben, wie Textbeobachtungen in Sinninterpretationen überführt werden können. Herausforderungen und zukünftige Perspektiven Dank der fakultätsinternen Zusammenarbeit mit der Religionspädagogin Hanna Roose wird das Projekt seit zwei Jahren in neue Richtungen vorangetrieben. In gemeinsamen Seminaren werden Studierende neben den oben beschrieben Schritten auch dazu angehalten, ihren Text Schüler_innen oder Altersgenoss_innen vorzulegen. Deren Leseeindrücke und Sinnkonstruktionen werden festgehalten und mit den eigenen Ergebnissen konfrontiert. Im Blick auf die Schulen hat Hanna Roose diesen Ansatz zu einer neuen Methode, der Methode des „Biblischen Gesprächs“ weiterentwickelt, dass in den Schulen Lehrende und Schüler_innen zu solch einem entdeckenden und reflektierten Lesen und dem gemeinsamen Gespräch darüber anleitet (Roose 2020).

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Besonders wichtig für die Weiterentwicklung dieses Ansatzes ist ihr Beitrag zu offenen und geschlossenen Fragen. Tatsächlich muss den Studierenden in Zukunft mehr die Kompetenz vermittelt werden, Fragen voneinander unterscheiden zu können, die geschlossene beziehungsweise offene Antworten erwarten lassen. So gibt es auch bei einem sinnoffenen Textverständnis Fragen, die eindeutige Antworten erwarten lassen, wie etwa zu bereits aufgearbeiteten historischen Hintergründen. Andererseits gibt es Fragen, die eine Pluralität von Antworten zulassen und so das Sinnpotenzial eines Textes offen halten. Dazu kommen die vielen Fragen, die sich nicht von vorneherein der einen oder der anderen Seite zuordnen lassen. Gerade in der Beachtung der Unterscheidung und Kombination dieser Fragen liegt ein wissenschaftliches Potenzial zur weiteren Erforschung von Texten. Doch die Ergebnisse der letzten Jahre ermutigen dazu, dass der bereits erprobte Zugang von anderen Text-Disziplinen gewinnbringend übernommen und weiterentwickelt werden kann. Viele dankbare Studierende, die sich im Verlauf eines Semesters immer mehr als Textforscher_innen erleben und die stolz auf ihre Resultate sind, belohnen ein solches Vorgehen. Literatur Heilmann, Jan & Wick, Peter (2017): Exegese des Neuen Testaments in einer Gelehrtenwerkstatt. Forschendes Lernen in den Bibelwissenschaften in einem Blended-Learning-Szenario. In: Giercke-Ungermann, Annette & Hübenthal, Sandra (Hg.) (2017): Orks in der Gelehrtenwerkstatt? Bibelwissenschaftliche Lehrformate und Lernumgebungen neu modelliert, Theologie und Hochschuldidaktik 7. Münster: S. 105-119. Roose, Hanna (2020): Zwischen literarischem und theologischem Gespräch: Das biblische Gespräch. Hermeneutische, didaktische und praxistheoretische Überlegungen zu einem innovativen bibeldidaktischen Leitbild auf dem Weg in den Unterricht. In: Fricke, Michael, Schlag, Thomas & Langenhorst, Georg (Hg.) (2020): „Jugend und Bibel. Analysen – Bild-

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und Text-Arbeiten – Religionspädagogische Folgerungen“. Freiburg im Breisgau [im Druck]. Wick, Peter & Egger, Wilhelm (2017): Methodenlehre zum Neuen Testament. Biblische Texte selbständig auslegen (unter Mitarbeit von Dominique Wagner). Freiburg im Breisgau.

Hands on – Von der Theorie in die Praxis. Ein Anwendungsbeispiel aus den Ingenieurwissenschaften Inka Mueller Im Rahmen des Forschungsprojekts inSTUDIES wird seit dem Wintersemester 2018/19 das zweisemestrige Projekt Hands on – SHM Systeme live gefördert.1 Hier geht es darum, dass unsere Studierenden selbst Hand anlegen und SHM-Systeme aufbauen, testen und analysieren. Ziel ist es, durch das selbstständige Lösen von Forschungsaufgaben das Verständnis für SHM-Methoden nachhaltig zu verbessern sowie Hindernisse und Besonderheiten in der Anwendung selbst zu erkennen und zu überwinden. Dies fördert den langfristigen Lernerfolg und vertieft die Beschäftigung mit den Inhalten der zugehörigen Vorlesung Einführung in Structural Health Monitoring. Hintergrund Im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung ist die kontinuierliche Überwachung von Strukturen wie beispielsweise von Brücken oder Windenergieanlagen auch über lange Zeiträume vorstellbar. Eine traditionelle Inspektion durch geschultes Prüfpersonal kann durch automatisierte Monitoringsysteme, die mit fest installierter Sensorik arbeiten, ergänzt und unterstützt werden, wodurch die Sicherheit der Strukturen erhöht wird. Auf verschiedenen Techniken basierende Systeme, die mit fest installierter Sensorik sowie automatisierter Messdatenerfassung und Datenauswertung ein Langzeitmonitoring ermöglichen, werden unter dem Betriff Structural Health Monitoring subsummiert. Der Einsatz solcher Systeme erfordert ein Grundverständnis der jeweils integrierten Technik – der physikalischen Grundidee und der Messtechnik genauso wie der genutzten Datenanalysetechniken. Die Fakultät für Bau- und 1

Die Abkürzung SHM steht für Structural Health Monitoring.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_21

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Umweltingenieurwissenschaften der RUB bietet daher seit 2018 eine eigene Masterveranstaltung zu diesem Thema an. In dieser wird ein Überblick über bestehende Systeme und aktuelle Forschungen in diesem Bereich gegeben. Unsere späteren Absolventinnen und Absolventen sollen in der Lage sein, bei der Beschaffung eines solchen Systems für Neubauten oder bestehende Infrastruktur die richtigen Fragen zu stellen sowie Vor- und Nachteile verschiedener technischer Lösungen valide beurteilen zu können. Naturgemäß stehen für unsere Studierenden die Bauwerke im Vordergrund; bezüglich messtechnischer Aspekte sind wenige Vorkenntnisse vorhanden. Wichtig ist im hier vorgestellten Projekt überdies die Tatsache, dass zur erfolgreichen Berufsausübung in den Ingenieurwissenschaften neben der ingenieurwissenschaftlichen Fachkompetenz ebenfalls hervorragende analytische und kommunikative Fähigkeiten gefordert sind. Aus Erläuterungen anderer muss ein Problem extrahiert werden, ingenieurwissenschaftliche Lösungen müssen kommuniziert werden, um ihren Einsatz zu ermöglichen. Um nun eine umfassende Auseinandersetzung mit den Methoden des SHM auch an realen Beispielen zu ermöglichen, so für auftretende Schwierigkeiten zu sensibilisieren und die Methoden erlebbar zu machen, wurde die Vorlesung um einen Block ergänzt, in dem die Studierenden selbst in Kleingruppen Forschungserfahrung mit SHM-Systemen sammeln und Monitoringaufgaben eigenständig lösen können. Konzept Um forschendes Lernen zu verwirklichen, wird den Studierenden eine Struktur vorgegeben. Zu dieser Struktur – in der Regel eine Modellstruktur bzw. ein Konstruktionsdetail einer realen Struktur – bekommen sie einen Arbeitsauftrag. Dieser ist als ein grobes Ziel formuliert und lässt möglichst viel Raum für eigene Gestaltung. Während die grundlegende Lösungskompetenz, die in den Arbeitsaufträgen erworben werden soll, ähnlich bis gleich ist, variiert der Fokus der SHM-Methodenkompetenz. In den Praxisphasen lernen die Studierenden, das gegebene Problem aufzunehmen und zu analysieren. SHM-

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Methodenkompetenz, die in ihren theoretischen Grundlagen bereits in der Vorlesung behandelt wurde, wird erlernt und trainiert. Darüber hinaus erarbeiten sich die Studierenden autodidaktisch nur unter Zuhilfenahme kleiner allgemeiner Tutorien, die vorab in einer digitalen Lernumgebung zur Verfügung gestellt werden, den Umgang mit der eingesetzten Messtechnik. Nur wer die Messtechnik beherrscht, kann den selbstständig erarbeiteten Messplan abarbeiten. Für die Vielfalt der abzuarbeitenden Aufgaben ist ein Gruppenverständnis der Aufgabe und eine Aufgabenteilung innerhalb der Gruppe notwendig. Beides wird im vorliegenden Konzept also indirekt gefördert. Bei der Durchführung der Messungen entstehen dann in der Regel erste Schwierigkeiten. In der Gruppe müssen hierfür Lösungsalternativen entwickelt werden. Dies stärkt lösungsorientiertes Denken und trainiert vorausschauende Planung. Lösungskompetenz gleicher Art wird auch in der nachfolgenden Datenauswertung angestrebt. Abschließend ist es Teil des Konzeptes, die gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse zusammenfassend zu kommunizieren und somit Wissen für Studierende anderer Gruppen aufzubereiten. Modus der Durchführung Die Vorbereitungsphase erfolgt auf Basis einer zusammenfassenden Beschreibung der Struktur und des grob formulierten Arbeitsziels. Zusätzlich liegen Informationen zur theoretischen Einarbeitung in die vorhandene Messtechnik vor. Art und Umfang der Unterlagen variiert in Abhängigkeit der zu untersuchenden Struktur. Nun findet sich die Kleingruppe zusammen, es folgt ein Teambildungs- und Abstimmungsprozess. Nach der Vorbereitung folgt die Experimentier- und Analysephase. Die Kleingruppen erarbeiten ihren eigenen Arbeitsplan und führen selbstständig Untersuchungen durch. Eng damit verknüpft ist die Datenauswertung. Die Studierenden wählen für die Datenanalyse einerseits selbstständig SHM-Datenanalysemethoden aus, die sie bereits in der Vorlesung kennengelernt haben, andererseits gibt es einige Methoden, für die fertige Datenauswertealgorithmen und -programme vorliegen und deren Anwendung analysiert werden

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soll. In vielen Fällen ergibt sich mindestens eine Iterationsschleife, in der die Studierenden Annahmen, die sich als falsch herausgestellt haben, oder Ungenauigkeiten, die sich als störend in der Auswertung gezeigt haben, eliminieren. Typischerweise zeigen sich einige Pannen in der Gestaltung des Messplans oder der Messung erst nach erfolgter Datenauswertung. Typische Vor- und Nachteile verschiedener SHM-Methoden werden so praktisch erfahren und können mit theoretischem Wissen verbunden werden. Den Studierenden wird in dieser Phase eine studentische Hilfskraft zur Seite gestellt, die bei Fragen zur Technik und insbesondere zu programmiertechnischen Fragestellungen unterstützen kann. Dabei sind die studentischen Hilfskräfte angewiesen, ähnlich wie in einem Escape-Room nur dann einzugreifen, wenn Dinge völlig aus dem Ruder laufen oder sie explizit um Hilfe gebeten werden. In einer Abschlussphase diskutieren die Studierenden ihre Ergebnisse mit der Lehrperson. Wurden bestimmte Schlüsse aus den Ergebnissen noch nicht gezogen, kann darauf hingewiesen werden. In diesem Rahmen ist es möglich, auch falsche Arbeitsschritte und Schlussfolgerungen noch einmal durch die gemeinsame Analyse der Daten zu korrigieren. Es ist daher unbedingt notwendig, diesen Schritt zeitlich eng mit der Experimentier- und Analysephase zu verbinden – wenngleich die Abschlussphase in vielen Fällen lediglich eine Erfolgskontrolle und eine Sicherheitsmaßnahme ist. Nach erfolgreicher Durchführung der Untersuchungen und Auswertung der Ergebnisse präsentieren die Studierenden ausgewählte Ergebnisse. In vielen Fällen ist es nicht möglich, dass alle Kleingruppen alle Strukturen, Messequipments und Arbeitsaufgaben selbst forschend erlernen können. Durch die gegenseitige Vermittlung der grundlegenden Erkenntnisse, die in den Forschungsphasen gewonnen werden, wird die Präsentationskompetenz und Kommunikationsfähigkeit der Studierenden zudem gefördert. Formen der Präsentation sind dabei nicht fixiert; vorstellbar sind Präsentationen im Plenum genauso wie Online-Angebote, die über die digitale Lernplattform zugänglich gemacht werden. Im ersten erfolgten Durchlauf war geplant, die Kleingruppenarbeit im Anschluss an die Vorlesung anzubieten und den Studierenden freie Zeitein-

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teilung in der vorlesungsfreien Zeit zu ermöglichen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Studierenden gern schon viel früher selbst Hand angelegt hätten. Im nächsten Semester wurden daher Forschungsphasen und Vorlesung stärker im Wechsel angeboten. Dies erfordert eine etwas stärker vorgegebene Zeitplanung. Durch die Integration in das Modul Einführung in Structural Health Monitoring und die starke inhaltliche Interaktion mit dem Vorlesungsteil des Moduls ist die Einbindung des Projekts im Curriculum sichergestellt. Exemplarische Ergebnisse Durch zwei Gruppen, die sich mit zwei unterschiedlichen Strukturen beschäftigt haben, werden exemplarische Ergebnisse des Projekts vorgestellt. Die erste Struktur ist ein Modell einer Schrägseilbrücke, die mithilfe eines schwingungsbasierten passiven SHM-Systems überwacht werden soll. Als Messtechnik steht ein kommerzielles Messsystem mit Datenerfassung zur Verfügung. Die Sensorik besteht aus Beschleunigungsaufnehmern unterschiedlicher Sensitivität. Den Studierenden steht allerlei Equipment zur Verfügung, um die Brücke zum Schwingen anzuregen, beispielsweise ein Hammer und eine Modelleisenbahn. Auch sind aus der Vorlesung zwei Methoden bekannt, mit denen die Daten ausgewertet werden können: die einfache Peak Picking Methode und ein etwas fortschrittlicheres Verfahren, basierend auf Stochastic Subspace Identification (SSI). Beide Methoden haben die Studierenden in einer computer session im Rahmen der Vorlesung an numerischen Beispieldaten bereits angewendet – sie kennen also die Funktion unter idealen Rahmenbedingungen. Ziel ist es nun, das vorhandene Equipment und die Datenauswertungsmethoden zu nutzen, um das Eigenschwingungsverhalten der Struktur zu analysieren. Insbesondere soll erforscht werden, in welcher Weise eine Extraktion schadensrelevanter Parameter auch bei Anregung durch Umgebungseinflüsse, in diesem Falle die Überfahrt der Modelleisenbahn, möglich

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ist und welche Probleme hierbei auftreten. Ebenfalls interessant ist, herauszufinden, inwieweit sich diese Größen durch Schäden an der Brückenstruktur ändern.

Abbildung 1: Brückenstruktur mit Anregung Abbildung 2: 3D Beschleunigungssensor, andurch Modelleisenbahn gebracht unterhalb des Überbaus

Das Team aus vier Studierenden hat sich dieser Aufgabe nach ersten Anlaufschwierigkeiten mit dem Messequipment sehr systematisch genähert. Unter Nutzung des Hammers wurde eine rudimentäre experimentelle Modalanalyse durchgeführt, in der die Studierenden das Eigenschwingungsverhalten unter idealer Anregung beobachtet haben. Über Eigenfrequenzen hinaus haben sie

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sich auch Eigenmoden angeschaut und graphisch deren Sensitivität analysiert. Erst dann wurde die Anregung über die Modelleisenbahn näher unter die Lupe genommen. Nachdem sich nicht die gleichen Frequenzspektren zeigten, konnte durch systematische Änderung der Geschwindigkeit ermittelt werden, welche Peaks anregungsspezifisch sind und welche dem Schwingungsverhalten der Brücke zuzurechnen sind. Den Studierenden ist es daher recht schnell innerhalb weniger Stunden gelungen, Vor- und Nachteile der operationellen Modalanalyse in der Realität zu identifizieren. Im Vergleich dazu hat ein anderes Team aus drei Studierenden bis zu diesem Schritt fast die dreifache Zeit benötigt. Die Vierergruppe widmete sich dann selbst gestellten Problemen. So wurde ein Schaden durch Änderung der Lagerungsbedingungen der Brücke simuliert und dieser mithilfe des SSI-Algorithmus identifiziert. Zudem haben die Studierenden getestet, in welcher Weise die Algorithmen auch bei einer Erdbebensimulation, die durch starkes Rütteln am Untergrund des Versuchsaufbaus simuliert wurde, funktionieren. Es hat sich gezeigt, dass beide Methoden anwendbar sind, jedoch die hohe Sensitivität der Sensoren teilweise zu einem Übersteuern führt. Die Weitergabe der Ergebnisse erfolgt als Präsentation in einer Präsenzveranstaltung. Bei der zweiten Struktur handelt es sich um eine Plattenstruktur, die mithilfe eines aktiven SHM-Systems, basierend auf geführten Wellen, überwacht werden soll. Das System ist hierfür mit fünf piezoelektrischen Wandlern ausgestattet. Als Messequipment steht Hard- und Software der Firma TiePie zur Verfügung. Ziel ist es, herauszufinden, wie sensitiv verschiedene einfache Datenauswertemethoden sind. Hierzu sind insbesondere die statistische Datenanalyse und der Einfluss von Betriebs- und Umgebungsbedingungen zu berücksichtigen und zu analysieren. Außerdem soll ein zur Verfügung gestellter Algorithmus zur Lokalisation von Schäden getestet und auf seine Schwachstellen hin untersucht werden. Schäden können mithilfe von Magneten simuliert werden, die von beiden Seiten der Platte an die Struktur gebracht werden. Ein Team von vier Studierenden hat in seinen Forschungstätigkeiten nicht nur herausgefunden, dass die Unterscheidung zwischen ungeschädigtem und geschädigtem Zustand für unterschiedliche Arten der Datenauswer-

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tung der geführten Wellen stark variiert, sondern auch gezeigt, dass die Sensitivität gegenüber Schäden nur für kleine bis mittlere Schäden gesteigert werden kann, danach aber ein Bereich der Sättigung eintritt. Den Einfluss von Betriebs- und Umgebungsbedingungen haben sie insbesondere dadurch erfahren, dass Versuche, die zu Beginn des Tages aufgenommen wurden, im Vergleich mit Versuchen, die erst nach der Mittagspause aufgenommen wurden, deutlich andere Ergebnisse lieferten. Bezüglich des Lokalisationsalgorithmus wurde festgestellt, dass die Identifikation des Schadens besonders gut zwischen den einzelnen Wandlern funktioniert, während Schäden außerhalb des Wandlernetzwerkes deutlich schlechter detektiert und lokalisiert werden können. Sowohl für die Detektion als auch für die Lokalisation hat das Team eine deutliche Ortsabhängigkeit festgestellt. Diese Ergebnisse hat dieses Team mithilfe eines h5p-Moduls, das in die Onlinelernplattform eingebunden wurde, aufbereitet. Das Modul ist mit interaktiven Elementen versehen, um den Versuchsaufbau erlebbar zu machen und schließt mit einem kleinen Quiz ab, das den Kommiliton_innen ermöglicht, das gewonnene Wissen zu überprüfen. Rückmeldung der Studierenden In einem ersten Durchlauf war die Rückmeldung der Studierenden insgesamt sehr positiv. Besonders gefallen hat ihnen das eigenständige Arbeiten, wenngleich sich einige Teilnehmende insbesondere am ersten Tag etwas überfordert gefühlt haben. Diese Teilnehmenden haben die stete Anwesenheit der studentischen Hilfskräfte als besonders wertvoll bewertet. Das selbstständige Arbeiten mit zum Teil recht teurem Messequipment wird von den Studierenden durchweg positiv evaluiert. Der Wechsel zwischen Forschungsphasen und Vorlesung wird von den Studierenden gewünscht und positiv evaluiert. Ein Teil empfindet die Tutorien zum Messequipment als zu ausführlich, andere Teilnehmende wünschen sich noch weitere Informationen, um noch besser vorbereitet in die Forschungsphase starten zu können. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für den Einsatz von Matlab, einer Software zur Lösung

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mathematischer Problemstellungen, zur Datenanalyse und graphischen Aufbereitung der Daten. Hier ist der Anteil derer, die die eigenen Kenntnisse als zu gering einstufen, um damit effektiv in die Forschungsphase zu gehen, vergleichsweise groß. Positiv wurde von allen Beteiligten der recht flexible Umgang mit Zeiten, die für die Forschungsphasen zur Verfügung stehen, bewertet. Dies ist jedoch nur mit sehr flexiblen und engagierten studentischen Hilfskräften möglich. Zukunft/Verstetigung Für viele Studierende ist es das erste Mal, dass sie selbstständig Messtechnik bedienen. Es hat sich gezeigt, dass der Teufel – wie so häufig – für die Studierenden im Detail liegt. Ist dies in den meisten Fällen gewollt, stellen die Studierenden doch so fest, an welchen vielen kleinen Stellschrauben gedreht werden kann und muss, um ein SHM-System zum Laufen zu bringen. Im Bereich des Umgangs mit Matlab bestehen in hohem Maße Anlaufschwierigkeiten, die auf fehlende Programmierkompetenz zurückzuführen sind. Derzeit wird dies durch studentische Hilfskräfte bestmöglich kompensiert. In Zukunft ist diesbezüglich angestrebt, ein Kompendium mit den wichtigsten Befehlen im Rahmen des Projekts zu erstellen. Dies soll vorab online zur Verfügung gestellt werden und kann auch später als Nachschlagewerk dienen. Um immer aktuelle Beispiele zu haben, wird angestrebt, die zur Verfügung gestellten Algorithmen regelmäßig anzupassen. Auch variiert der Fokus der Aufgabenstellung diesbezüglich. In den ersten Gruppen hat sich bereits gezeigt, dass keine Gruppe wie die andere ist und schon hierdurch der Schwerpunkt der Untersuchungen immer etwas anders liegt – ein sehr schöner Effekt, der dazu führt, dass auch Gruppen, die prinzipiell an der gleichen Struktur gearbeitet haben, bei der Präsentation der Ergebnisse voneinander lernen.

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Danksagung Herzlich möchte ich mich bei meinen studentischen bzw. wissenschaftlichen Hilfskräften Bahareh Medghalchi und Facundo Nicuesa bedanken. Die Umsetzung dieses Projekts wäre ohne ihre tatkräftige Unterstützung und dem großen Einsatz vor, während und nach den Gruppenphasen nicht möglich gewesen.

Elektronische Lektüren Holger Gemba & Stephanie Heimgartner Ausgangspunkt Das auf zwei Semester (Winter 2018/19 bis Sommer 2019) angelegte Seminar Elektronische Lektüren wurde von Stephanie Heimgartner aus der Sektion Komparatistik und Holger Gemba vom Seminar für Slavistik an der Fakultät für Philologie gemeinsam entwickelt. Der interdisziplinären Veranstaltung im Feld forschenden Lernens war eine langjährige Zusammenarbeit vorausgegangen, nicht zuletzt im Interesse an innovativen Lehrformaten vorausgegangen. Das Seminar beschäftigt sich mit der Rolle digitaler Medien bei der Produktion, Publikation und Rezeption literarischer Texte ebenso wie mit neuen Untersuchungsmethoden und -parametern der Fremdsprachendidaktik und Literaturwissenschaft im Umgang mit digitalen bzw. digitalisierten Texten. Die Frage, wie sich unsere Wissenschaft unter den erwähnten Bedingungen verändert, soll auch in interkultureller Perspektive beleuchtet werden (mit einem Fokus auf westlichen Ländern und Russland). Zielgruppe Als Zielgruppe waren fortgeschrittene Studierende aus den Bachelor- und Masterveranstaltungen der Komparatistik, der Slavistik und weiterer Fächer aus der Fakultät unter Einschluss des Optionalbereichs gedacht. Der Großteil der Studierenden, die sich tatsächlich anmeldeten, stammte aus der Komparatistik, allerdings hatten wir im ersten Semester auch einen Studierenden der Neuropsychologie dabei, was interessante Blickwinkel und Ergebnisse ermöglichte. In der Komparatistik ist das Seminar den Modulen A3 (Theorien, Methoden, Modelle) sowie V2 (Intermedialität) zugeordnet, in der Slavistik wird es in der Rubrik „Poolkurse und weitere Veranstaltungen“ geführt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_22

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Fokus Methoden und Ziele der Digital Humanities stehen an der Fakultät für Philologie unserer Beobachtung nach mit wenigen Ausnahmen in Forschung und Lehre kaum im Fokus der Aufmerksamkeit. Mit Einrichtung der Professur Virtual Humanities wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema an der Ruhr-Universität Bochum sicherlich an Profil gewinnen, doch war die Stelle zum Zeitpunkt der Seminarkonzeption erst im Beantragungsprozess. Die Studierenden, wie affin sie auch zu digitalen Medien sein mögen, verbinden diese Affinität doch nur selten mit wissenschaftlichen Aufgaben und Zielen bzw. gar der Kenntnis oder Anwendung disziplinär relevanter Methoden, Forschungsansätze oder -projekte. E-Learning-Tools fördern kaum die im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Digitalisierung, insoweit es für unsere Lehrgegenstände Sprache und Literatur oder unsere Disziplinen insgesamt zunehmend an Bedeutung gewinnt, denn sie werden von Lehrenden wie Studierenden häufig lediglich als schematischer Rahmen für Lerninhalte genutzt, nicht aber als Gegenstand von Reflexion, Erforschung und Experiment. Planung Geplant war, mit dieser Veranstaltung eine intensive, fachlich orientierte Beschäftigung der Studierenden mit digitalen Medien und Techniken anzustoßen, die in einem zweiten Schritt in die Fakultät hineingetragen werden kann. Erster Fixpunkt dieses Transfers ist der Digital Philology Day am 5. Juni 2019, an dem verschiedene Digitalisierungsprojekte, vor allem im Bereich der Lehre, aber auch die Forschungsprojekte der Studierenden des Seminars der interessierten universitären Öffentlichkeit vorgestellt werden. Das Seminarprogramm wurde zunächst sehr grundsätzlich ausgerichtet und sollte sich an den Schwerpunktinteressen der Studierenden, die in Forschergruppen orga-

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nisiert sind, ausrichten. Wesentliche Inhalte wie Methoden und Tools der Digital Humanities, Auswirkungen der Digitalisierung auf Konzepte von Autorschaft und Gattungsinventar der Literatur oder die Nutzung von digitalen Mitteln zur interkulturellen wissenschaftlichen Kommunikation unter den erschwerten Bedingungen problematisch gewordener Ost-West-Beziehungen sollten aber auf jeden Fall abgedeckt werden. Eine vergleichbare Veranstaltung gab es unseres Wissens an der Fakultät noch nicht. Expertise Die Dozent_innen haben beide ausgiebige Erfahrungen mit innovativen Lehrformaten und E-Learning. Holger Gemba ist mit der Konzeption von Lesen HQ, einer Studienumgebung zum Erwerb fremdsprachiger Lesekompetenz an literarischen Texten (http://www.lesenhq.net/info), und rusculture.net, einer Studienplattform für russische Kultur und Sprache (http://rusculture.net), vertraut. Stephanie Heimgartner hat im Rahmen des Wettbewerbs 5x5000 ein Projekt The Rhythm Is Gonna Get Ya: Audiothek mit Gedichten über Blackboard (2011) durchgeführt und verschiedene Projekte im Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ betreut: Vom Manuskript zum Buch (Editionsphilologisches Projekt, 20112016); Literarische Karte des Ruhrgebiets (2015/16; http://literaturkarte.ruhr), außerdem ein inSTUDIES-Projekt mit dem Titel Literaturagentur (WiSe 2017/18). Haltung Die leitende Absicht bei der Konzeption dieser Veranstaltung war es von Anfang an, einerseits gegenüber den Studierenden und beteiligten Kolleg_innen erkennbar selbst als Lernende in Erscheinung zu treten, um eine möglichst unvoreingenommene Perspektive dem Thema gegenüber sowie eine disziplinäre Offenheit und Anschlussfähigkeit zu signalisieren. Andererseits war es wichtig, das erarbeitete Wissen und die Fragen und Diskussionen wieder in

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unsere Fakultät und andere Institutionen, die sich mit dem Thema Digitalisierung und Digital Humanities an der RUB auseinandersetzen, einzuspeisen. Ablauf der Veranstaltung im Wintersemester 2018/19 Bei den wöchentlichen Sitzungen, die in einem großen, hervorragend ausgerüsteten Raum des UFO mit funktionierender WLAN-Anbindung stattfanden, kristallisierte sich schnell eine zweigleisige Arbeitsweise heraus. Zum einen fand wöchentlich eine Auswertung ausgesuchter Lektüren statt, die u.a. dazu diente, eine gemeinsame Sprache und geteilte Interessenspunkte zu generieren. Zum anderen bildeten sich drei Arbeitsgruppen heraus, die selbstständig eigene Forschungsaufgaben entwickelten und diese auch in einem Moodle-Kurs als Mission Statements formulierten. Die Gruppe „Digitale Literatur“ setzte es sich zur Aufgabe, Bot-Literatur praktisch und theoretisch zu erforschen. Dabei standen Fragen der Autorschaft und des Status von Literatur im Fokus. Die Gruppe „Methoden und Projekte“ fokussierte quantitative Textanalysen unter Aspekten wie der automatischen Übersetzung, der Stilometrie und des Topic Modeling. Die Gruppe „Veränderung des Lesens“ setzte sich die Aufgabe, den Einfluss neuer Medien auf den Leseprozess neurobiologisch, soziokulturell und sozialwissenschaftlich zu untersuchen. Der theoretische Diskurs und die Arbeit an Forschungsthemen bildeten somit das Gerüst des Seminars und bestimmten folgerichtig auch die Struktur der wöchentlichen Sitzungen, die jeweils Plenumgespräche und Gruppenarbeit beinhalteten. Waren wir als Kursleiter_innen zu Beginn noch durchaus ‚dominant‘, so wechselte unsere Rolle sukzessive in die von Moderator_innen. Die anfängliche Unsicherheit der Studierenden, dass sich Dozent_innen in Moderator_innen verwandelten, veränderte sich im Verlauf des Seminars zu einer vertrauensvollen Perspektive auf ‚gleicher Augenhöhe‘.

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Workshop Wintersemester 2018/19 Bei einem Workshop am 18. Januar profitierten die Teilnehmer_innen des Seminars und mehrere Gäste aus dem Kolleg_innenkreis von Expertenwissen rund um ihre Themenbereiche. Eingeladene Wissenschaftler_innen sowie der Programmleiter des Eichborn Verlags berichteten aus ihrer Forschung bzw. beruflichen Praxis. Der Workshoptag sollte kein Tag des ausschließlichen Zuhörens sein, sondern interaktive Elemente mit einbinden, einerseits, damit konkret erprobt werden konnte, wovon die Expert_innen berichteten, andererseits auch, um die Hierarchie zwischen Fachleuten und Studierenden zugunsten einer Atmosphäre des Gesprächs und der Kooperation aufzulösen. Dominique Pleimling, Leiter des Eichborn Verlags, berichtete aus seiner beruflichen Erfahrung mit der Digitalisierung in der Verlagsbranche, einem potenziellen zukünftigen Wunsch-Arbeitgeber vieler Studierender der Literaturwissenschaft. Nicht nur hat der Bastei-Lübbe Verlag, zu dem Eichborn seit einigen Jahren gehört, eine fortgeschrittene E-Book- und Multimediastrategie, sondern es werden auch bei der Autoren- und Themenfindung sowie bei der Gestaltung von Printmedien Präferenzen der Digital Natives genutzt. Das sind aber nicht die einzigen Bereiche im Verlag, die von der Digitalisierung betroffen sind, vielmehr geht die Orientierung quer durch alle Bereiche von der Programmplanung bis zum Vertrieb. Über Erfahrungen mit dem Lesen am Bildschirm im Unterschied zum Lesen am Papier berichtete aus seiner Forschung im Anschluss Christoph Bläsi, Professor für Buchwissenschaft aus Mainz. Øyvind Eide, Professor für Digital Humanities an der Universität zu Köln, machte anschließend mit den Studierenden ein Experiment dazu, wie man Raumbeschreibungen in Texten in eine Gaming-Struktur umsetzt. Dazu erhielten die Studierenden einen kurzen Textausschnitt und sollten räumliche Veränderungen und ihre mögliche Umsetzung markieren. Den Abschluss für den Tag machte PD Dr. Henrike Schmidt von der FU Berlin. Sie stellte ihre Arbeit zu Facebook-Profilen russischer Autoren vor

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und unternahm mit den Studierenden eine Analyse solcher Selbstpräsentationen, die zu aufschlussreichen Ergebnissen über Modi der modernen Subjektkonstitution führte. Der Tag wurde von den Studierenden abschließend als informativ und gewinnbringend bewertet – vor allen Dingen die beiden Arbeitsgruppen innerhalb des Seminars, die sich mit digitalem Lesen und Digital-Humanities-Methoden beschäftigten, suchten den Austausch mit den eingeladenen Wissenschaftler_innen. Um auch eine interdisziplinäre Perspektive auf Digitalisierung zu werfen, besuchte das Seminar außerdem den unmittelbar unter unserem Seminarraum liegenden MakerSpace der RUB, ließ sich dessen Zweck und Erweiterungsperspektive erläutern und die 3-D-Drucker vorführen. Gemeinsam formulierten wir den Anspruch, als Geisteswissenschaftler an der Entwicklung neuer Technologien interessiert beteiligt zu sein und in die Diskussion über deren Nutzung miteintreten zu wollen, was anlässlich dieses Termins erfreulicherweise auch geschah. Sommersemester 2019 Das Sommersemester 2019 ist geprägt durch eine Konsolidierung der Gruppenarbeit und eine Schärfung der Forschungsfragen im Hinblick auf den bevorstehenden Digital Philology Day der Fakultät für Philologie, in dessen inhaltliche und organisatorische Vorbereitung und Durchführung die Studierenden gleichberechtigt eingebunden sind. Das Arbeitsformat hat sich von wöchentlichen Sitzungen im Wintersemester 2018/19 hin zu drei Tagesworkshops im Semester verändert; diese Straffung und Konzentration geht mit einer steigenden Eigenständigkeit der Arbeitsgruppen einher. Die Gruppen geben, nachdem sie zu Semesterbeginn zunächst ihr Mission Statement neu formuliert und geschärft haben, nun wöchentlich Arbeitsberichte in den Moodle-Kurs des Seminars ein. Diese Wochenberichte dienen der Kommunikation über den Leistungsfortschritt und sind Anlass für Kommentare und Feed-back sowohl vonseiten der Seminarleitung als auch des Plenums.

Elektronische Lektüren

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Digital Philology Day Sommersemester 2019 Die Einbindung der Veranstaltung in ein transferorientiertes Gesamtkonzept wird auch durch die Planung des Digital Philology Day am 5. Juni 2019 befördert, dessen erster Zweck es ist, die Kolleg_innen und Studierenden der Fakultät für Philologie über das Thema Digitalisierung in der fachlichen Lehre und Forschung miteinander ins Gespräch zu bringen. Dazu wird derzeit (Mai/Juni 2019) ein Programm erstellt, das Präsentationen sowohl der LehrDigitalisierungsprojekte der Fakultät umfasst als auch Beiträge benachbarter Kolleg_innen aus der RUB (CERES) sowie von Institutionen, die in diesem Themenbereich Hilfestellung anbieten (Methodenzentrum, DL in GB). Um einen offenen Austausch zu ermöglichen, wurde das Atrium des UFO reserviert, wo eine Posterausstellung, stündliche Kurzpräsentationen und Aktionen zum Mitmachen (Twitter, Mentimeter) stattfinden. Daneben finden Workshops und ausführlichere Projektvorstellungen in einem separaten Raum statt (Buchwissenschaft, DL in GB). Die Veranstaltung erstreckt sich über den ganzen Tag, sodass es auch möglich ist, für kurze Zeit zu einzelnen Programmpunkten zu kommen oder sich einfach nur umzuschauen. Auch Zaungäste sind willkommen. Die Präsentationen sollen im Anschluss über die Homepage der Fakultät verfügbar gemacht werden, sodass sie auch nachträglich noch wahrgenommen werden können. Die Studierenden des Seminars werden ebenfalls an diesem Tag den aktuellen Stand ihrer Forschungsprojekte vor- und zur Diskussion stellen. Sie gewinnen damit einerseits eine Präsenz im wissenschaftlichen Raum und können auf Augenhöhe mit älteren Kolleg_innen ihre Arbeit diskutieren und erfahren, wie der fachliche Austausch funktioniert. Dies ist auch deshalb so gut möglich, weil das Thema Digital Humanities an der Fakultät bisher nur durch wenige Forschungs- und Lehrprojekte präsent ist. Andererseits sind sie auch intensiv in Vorbereitung und Durchführung des Aktionstages eingebunden und bauen auf diese Weise ihre Kompetenzen im Bereich Organisation, Präsentation und Kommunikation aus.

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Unsere Hoffnung Durch das Seminar und die darin integrierten öffentlichen Veranstaltungen erhoffen wir uns eine vertiefte und intensive Diskussion mit interessierten Kolleg_innen der RUB über die fakultären Grenzen hinaus ebenso wie eine Art Initialzündung im Bereich innovativer Lehrprojekte. Wir stellen bewusst unseren eigenen Anfängerstatus aus, um zu zeigen, wie eine Lerngemeinschaft zwischen Studierenden und Lehrenden funktioniert und welche positiven Ergebnisse dabei erzielt werden können.

Von den Quellen zur Karte – Die Topographie der Stadt Rom in republikanischer Zeit Bernhard Linke, Marie Föllen & Stefan Schorning Thema, Zweck und Umsetzung des Konzepts Die hier vorgestellte Übung fand im Wintersemester 2014/15 über den Zeitraum eines Semesters statt. Im Rahmen der Veranstaltung wurde eine interaktive Karte Roms mit der chronologischen Ordnung aller fassbaren Infrastrukturprojekte der republikanischen Zeit (3. und 2. Jahrhundert v.Chr.) erstellt. Zur Vorbereitung darauf werteten die Studierenden in verschiedenen Gruppen auf der Basis intensiver Quellen- und Literaturrecherchen die bisherigen Ergebnisse der Forschung kritisch aus. Auf Grundlage dieser Recherchen, die zum Teil angeleitet, zu einem großen Teil aber eigenständig erfolgten, kamen die Studierenden in hohem Maße zu gut begründeten, eigenen Einschätzungen der Sachlage, die am Ende der Übung in einer gemeinsamen Reflexion im Plenum kontextualisiert und interpretiert wurden. Diese Synthese stand unter der übergreifenden Fragestellung, wann es im republikanischen Rom intensive Phasen der Bautätigkeit gab und welche politischen und sozialen Kontexte damit in Verbindung gebracht werden können. Am Ende des Vorhabens stand eine abschließende Tagung, auf der die Studierenden ihre Ergebnisse vor Fachkolleg_innen von anderen Universitäten vorstellten und diskutierten, wobei die Karte als visuelle Unterstützung diente. Diese Präsentation der Ergebnisse ermöglichte es den Teilnehmer_innen, mit althistorischen Fachleuten in einen wissenschaftlichen Diskurs zu treten und so einen Einblick in einen Teil des arbeitstechnischen Alltags von Historiker_innen zu gewinnen. Das Vorhaben verfolgte das Ziel, Studierende direkt in die Quellenarbeit und damit in die Grundlage aller (alt)historischen Arbeit einzuführen. Zur

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_23

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Organisation dieser Arbeit wurden die Studierenden in größere Gruppen aufgeteilt, die sich mit verschiedenen Zeiträumen (310-241 v.Chr.; 240-185 v.Chr.; 184-134 v.Chr.; 133-90 v.Chr.) beschäftigten, sowie in Kleingruppen innerhalb der Großgruppe, die dann bestimmte Bautypen wie beispielsweise Tempel, öffentliche Infrastruktur und Ähnliches untersuchten. Die Ergebnisse sollten in eine bei Moodle (einer digitalen Lernplattform) hinterlegte Datenbank und im Anschluss daran in digitale Einzelkarten eingearbeitet werden, die hinterher zu einer gemeinsamen Karte mit interaktiven Bedienungsmöglichkeiten umgesetzt werden sollten.1 Den Studierenden sollte dabei in nach Bedarf angeleiteter, aber dennoch möglichst eigenständiger Arbeit an den Quellen und der Sekundärliteratur bewusst werden, welche Prozesse bei der Forschung zur Geschichte der Antike ablaufen. Dazu gehörte zum einen ein Grundverständnis der in der Übung behandelten Epoche der römischen Geschichte, aber auch ein Einüben der Hilfswissenschaften, wie der Numismatik und der Epigraphik. Im Kern ging es demnach darum, historische Sachkompetenz und historische Methodenkompetenz einzuüben, um neue Forschungsergebnisse generieren zu können. Dabei beschreibt erstere die Aneignung von für das Fach konstitutiven Begriffen und Strukturen, letztere umfasst vor allem die Dimension der De-Konstruktion, also der kritischen Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen bisheriger Forschungen, und die der Rekonstruktion historischen Wissens, im vorliegenden Falle also des Erstellens der Karte aus den Quellen heraus. Modus der Durchführung Die Übung stieß auf großes Interesse bei den Studierenden. Es konnten insgesamt 32 Studierende zugelassen werden, da ein Großteil der Arbeit in

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Hierzu wurde auf die Nutzung einer SMART Notebook® Software zurückgegriffen, deren ursprüngliche Funktion in einer erweiterten Bedienung eines interaktiven Smartboards lag. Da die Software-Funktionen von Bildbearbeitung, Präsentationssoftware und HTML-Browsern vereinte, erschien sie geeignet, um die statischen Elemente von Datenbank und Bildern durch die Software interaktiver zu gestalten.

Von den Quellen zur Karte

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Kleingruppen erfolgte und in dieser Form ein gutes Betreuungsverhältnis gewährleistet werden konnte. Von den sonstigen im Geschichtsstudium angebotenen Veranstaltungen unterschied sich die Übung vor allem dadurch, dass sie als Blended-LearningFormat (einer Mischung aus Block-Präsenzsitzungen und eigenständigen eLearning-Phasen) konzipiert war und die Studierenden somit viel Freiraum für selbstständig organisierte Quellen-, Literatur- und Präsentationsarbeit hatten. Unterstützt wurden sie hierbei von zwei Dozenten, die die fachliche Leitung des Kurses übernahmen, sowie zwei eTutoren, deren Aufgabenbereich primär in der technischen Begleitung der Studierenden und der digitalen Umsetzung der Arbeitsergebnisse lag. Die Zeitplanung der Übung sah wie folgt aus:

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Bernhard Linke, Marie Föllen & Stefan Schorning

Präsenztermine Einführungssitzung 14.10.2014 1. Onlinephase

Inhalt Organisatorisches (Ziele der Übung, Gruppenbildung und Bildung von Kleingruppen, Erarbeitung eines Rasters zur Klassifizierung der Bauwerke) Lektürephase der Studierenden zu den Hilfswissenschaften der Alten Geschichte

1. Fachliche Präsenzsitzung 25.10.2014

Vorstellung der Methoden und der Hilfswissenschaften der Alten Geschichte

1. Onlinephase

Lektürephase der Studierenden zu den den Gruppen zugeteilten Bauwerken Erarbeitung der einzelnen Bauwerke anhand des in der ersten Sitzung erstellten Rasters mit Informationen zum Bauwerk (Jahr der Errichtung, Ausmaße, Lokalisation), zum Erbauer (Funktion, Absicht) und zum historischen Kontext (innen/außenpolitische Ereignisse)

2. Fachliche Präsenzsitzung 06.12.2014

Präsentation und Kontextualisierung der Gruppenergebnisse im Plenum

2. Onlinephase

Gestaltung der interaktiven Karte durch die Studierenden mit Unterstützung eines Technik-Teams der Ruhr-Universität

Abschluss März 2015 Tagung April 2015

Besprechung der Karte und Vorbereitung der Tagung Präsentation der Karte und Diskussionsteilnahme

Von den Quellen zur Karte

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Einbindung des Projekts in Studiengänge, -programme und -curricula Die Veranstaltung wurde im Wintersemester 2014/15 angeboten, wobei die curriculare Einbindung der Veranstaltung im Rahmen der Module III und V der Bachelorphase des Geschichtsstudiums erfolgte. Die Zielgruppe der Übung waren demnach Studierende des 3./4. Bachelor-Fachsemesters, einer Phase des Studiums, die insbesondere „der quellenkritischen Vertiefung methodischen Arbeitens, der Verbreiterung von Orientierungswissen, der Reflexion über die theoretischen Grundlagen des Faches und der Vermittlung berufsfeldorientierter und anwendungsbezogener Studieninhalte“ dient (RuhrUniversität Bochum 2012, §11, 3). In beiden Modulen dieses Studienjahres ergänzen ein Seminar und eine Übung zu speziellen Methoden und Theorien im Umfang von jeweils zwei Semesterwochenstunden einander sowohl methodisch als auch inhaltlich. Die Übungen dienen insbesondere dazu, „den Studierenden einen umfassenden Einblick in Arbeitstechniken, die für bestimmte Epochen charakteristisch sind […], zu vermitteln sowie in Interpretationsansätze einzuführen, die eine theoriegeleitete Beschäftigung mit Geschichte fördern“ (Ruhr-Universität Bochum 2012, §10, 6). Da der Schwerpunkt der Übung auf einer kritischen Auseinandersetzung mit antiken Quellen und bisheriger Forschung lag und das praktische Einüben bzw. Anwenden von basalen historischen Arbeitstechniken sowie den Hilfswissenschaften der alten Geschichte zum Ziel hatte, war eine Einbettung in diesen Abschnitt des Bachelorstudiums naheliegend. Dieses Üben konnte in erhöhtem Maß eigenständig durchgeführt werden, da den Studierenden die entsprechenden Grundlagen grundsätzlich schon vertraut waren: Nach dem erfolgreichen Absolvieren des Integrierten Proseminares in Modul I, das eine Propädeutik in das wissenschaftliche Arbeiten in der Alten Geschichte bietet, und der Einführungsvorlesungen in Modul II waren die Studierenden in der Lage, die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens im Projekt praktisch anzuwenden. Ein weiterer Vorteil für den weiteren Studienverlauf lag darin, dass den Studierenden durch die frühe Durchführung einer forschungsorientierten

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Lehrveranstaltung die Möglichkeit zur Profilbildung im Rahmen ihres Geschichtsstudiums gegeben wurde: Da es der weitere Verlauf des Studiums ermöglicht, einen Examensschwerpunkt in der Alten Geschichte zu bilden, konnten aus dieser Übung heraus konkrete Themen für spätere Seminar- und Bachelorarbeiten oder auch für mündliche Prüfungen entstehen. Ausgangsproblematik und Ziele Die Motivation zur Durchführung der Übung zu genau dieser Thematik entstand zum einen aus fachwissenschaftlichen Überlegungen heraus: In der aktuellen Forschung gab bzw. gibt es verstärkt Ansätze, sich der baulichen Gestaltung der Stadt Rom in republikanischer Zeit anzunehmen. Alle momentan existierenden Untersuchungen zur Topographie Roms bieten allerdings nur in einem geringen Umfang Karten, anhand deren bauliche Entwicklungen dargestellt werden. So gibt es natürlich Kartenmaterial, das Rom zu unterschiedlichen Zeitpunkten kartographisch erfasst (vgl. exempl. Richardson 1992, Kolb 2010, Coarelli 2013, Steinby 1993-2008, Russell 2016). Allerdings illustriert dieses immer nur die Resultate römischer Bautätigkeit – und nicht deren Entstehungsprozess, der von verschiedenen Faktoren wie Intentionen der Bauherren, Finanzierung, den politischen Umständen der Zeit und ähnlichem beeinflusst wurde. Zudem bilden die Karten immer nur einen gewissen Zeitpunkt ab, ohne auf ständige Veränderungen über einen Zeitraum hinweg im Detail eingehen zu können. Problematisch für die existierenden, zumeist archäologisch orientierten Überblickswerke ist die Tatsache, dass im Vergleich zur römischen Kaiserzeit die republikanischen Bauwerke nur in geringem Umfang mit Hilfe archäologischer Methoden fassbar sind, da die bauliche Substanz nur sehr schwer zugänglich ist. Genau dieses Problem wurde für die Lehrveranstaltung jedoch positiv gewendet als Chance im Rahmen des Forschenden Lernens gesehen, denn die literarischen und gegenständlichen Quellen (Münzen, Inschriften) ermöglichen sehr wohl eine topographische Einordnung republikanischer

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Bauvorhaben. Aus den genannten Quellengattungen lassen sich darüber hinaus auch Rückschlüsse auf den Erbauungskontext, die Absichten und die angedachte Funktion eines Bauwerks ziehen, die eine eher situative Analyse der Bautätigkeit im republikanischen Rom ermöglichen, sich aber auch in die Entwicklungen eines längeren Zeitraums einordnen lassen. Daher erschien diese Thematik wie kaum eine andere geeignet, den Studierenden die Möglichkeit zur eigenständigen Quellenarbeit zu geben. Am Ende des Projekts sollte als Synthese der Arbeitsergebnisse eine vorläufige Karte des republikanischen Rom stehen, die offen für eine Weiterentwicklung wäre. Sie sollte dergestalt interaktiv nutzbar sein, dass auf einer weitgehend noch nicht beschrifteten Karte durch Auswahl des Nutzers unterschiedliche Gattungen von Bauwerken in chronologischen Etappen sichtbar würden. Dadurch sollten sowohl diachrone als auch synchrone Nutzungsmöglichkeiten entstehen, d.h. es sollte möglich sein, sich architektonische Entwicklungen im Längsschnitt oder aber Manifestationen erhöhter Bautätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt, also gleichsam im Querschnitt, anzuschauen. Außerdem sollte es möglich sein, in einer Kartenlegende die entsprechenden Quellenstellen zu einem Bauwerk anzeigen zu lassen. Die von den Studierenden erstellte Karte sollte im Anschluss an das Projekt universitätsintern für alle Angehörigen der Ruhr-Universität Bochum (RUB) zur Verfügung stehen. Zum anderen resultierte die Motivation für die Übung aus aktuellen Trends in der Lehre, Ansätze zu Forschendem Lernen gerade auch in digitalen Formaten verstärkt auch in die universitäre Lehre einzubinden. Das Forschende Lernen zeichnete sich in dem vorliegenden Projekt vor allem dadurch aus, dass die Studierenden in möglichst eigenständiger, aber durch die Lehrenden angeleiteter Arbeit unbefangen die Quellen zur Topographie des republikanischen Roms auswerten konnten. In einer gemeinsamen Reflexion erfolgte dann der Abgleich der eigenen Ergebnisse mit den (spärlichen) Erkenntnissen der Forschung, die viel Freiraum für eigene Interpretationen und Ergebnisse boten und den Studierenden somit kein Gefühl von Redundanz ihrer Bemühungen vermittelt wurde, sondern ihnen vielmehr ihre eigenen Beitragsmöglichkeiten zum Diskurs aufgezeigt wurden. Gerade die zu er-

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stellende Karte Roms am Ende der Übung hatte durchaus den Charakter eines eigenen Forschungsergebnisses: So wurde die zentrale Beobachtung der Studierenden, dass bis zum Ende des 3. Jahrhunderts v.Chr. das Forum Romanum in einem erstaunlich geringen Maße durch politische Architektur ausgestaltet wurde, in einer jüngst (aber erst nach Abschluss der Übung) erschienenen Studie von Amy Russell (2016) eindrucksvoll bestätigt. Die in Form der Karte gesammelten Ergebnisse fanden auch in nachfolgenden Semestern Verwendung und stetige Erweiterung. Für die abschließende Tagung mussten die Studierenden zudem ihre Ergebnisse mittels der im Geschichtsstudium prominent verankerten Darstellungs- und Präsentationskompetenzen ansprechend aufbereiten. Das ist insofern von Bedeutung, als jede/r Historiker_in, ob er/sie als Geschichtslehrer_in oder in einem anderen Bereich historisch arbeitet, Sachwissen zielgruppenbezogen darstellen muss: „Die Einübung der historischen Darstellung durch mündliche, medial gestützte Präsentation, in der Übung zum Teil auch als Gruppenpräsentation kleinerer Projekte sowie die schriftliche Ausarbeitung fördern zudem die kommunikativen Kompetenzen“ (Ruhr-Universität Bochum 2013, S. 8). Die durchgeführte Tagung diente als ein erstes Feedback zu den Gruppenergebnissen und ihrer Präsentation, gab erste Impulse zur Weiterentwicklung der Karte für kommende Semestern und würdigte die Arbeit der Studierenden durch die Präsentation als Ergebnisse eines Forschungsergebnisses vor Fachkolleg_innen. Darüber hinaus wurden die Ergebnisse, die die Studierenden im Laufe der Veranstaltung produzieren, nicht „für die Schublade“ erarbeitet, sondern sollten im Anschluss allen RUB-Angehörigen, insbesondere den Historiker_innen, Archäolog_innen, klassischen Philolog_innen und Kunsthistoriker_innen, zur weiteren Forschung zur Verfügung stehen. Evaluation und Nachhaltigkeit Die erste Evaluation des Vorhabens erfolgte durch die beschriebene Tagung, auf der die Studierenden und die Lehrenden ein direktes Feedback bei den

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eingeladenen Fachwissenschaftler_innen einholen konnten. Zusätzlich wurde die Übung über EvaSys evaluiert, um den Lernfortschritt der Studierenden auf der einen, aber auch ihre Zufriedenheit mit dem Konzept auf der anderen Seite im Rahmen der an der RUB üblichen Evaluationsmethoden zu messen. Anhand des positiven Feedbacks der Studierenden und des nachhaltigen Interesses an einer Aufrechterhaltung der Übungsstruktur aufgrund des breiten interdisziplinären Nutzens für andere an der RUB vertretene altertumswissenschaftlich arbeitende Fachrichtungen ist eine Fortführung der Übung mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten in Planung. Eine thematische Anschlussfähigkeit könnte sich auch darin niederschlagen, dass sie zusammen mit Fachkolleg_innen aus den Bereichen der klassischen Philologie, der klassischen Archäologie oder der Kunstgeschichte angeboten wird, wie dies bereits bei anderen Übungsformaten der Fall war (z.B. im sogenannten 3D-Seminar). Exemplarische Ergebnisse und Präsentationsformen Link zur interaktiven Online-Karte: http://rub.toolturtle.de/ Literatur Coarelli, Filippo (2013): Rom. Der archäologische Führer. Darmstadt. Kolb, Frank (2010): Das antike Rom. Geschichte und Archäologie. München. Ruhr-Universität Bochum (2012): Modulhandbuch 2-Fach-Bachelor-Geschichte. Studienordnung für den gestuften Bachelor-/Master-Studiengang im Fach Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum. Ruhr-Universität Bochum (2013): Modulhandbuch 2-Fach-Bachelor-Geschichte. Studienordnung für den gestuften Bachelor-/Master-Studiengang im Fach Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum. Richardson, Lawrence (1992): A New Topographical Dictionary of Ancient Rome. Baltimore, London.

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Russell, Amy (2016): The Politics of Public Space in Republican Rome. Cambridge. Steinby, Eva Margareta (1993-2008): Lexicon Topographicum Urbis Romae. Rom.

eLab – Eine virtuelle Lernumgebung zur Qualitativen Analyse Rochus Schmid Hintergrund Das Laborpraktikum zur Qualitativen Analyse (QA) war über Jahrzehnte Bestandteil der universitären Chemieausbildung in den ersten Semestern. In der QA werden durch nasschemische Verfahren anorganische Salzgemische in Anionen und Kationen aufgetrennt und nachgewiesen. Hierbei lernt der Studierende das chemische Verhalten der verschiedenen Elemente kennen. Heutzutage sind derartige Nachweisverfahren in der chemischen Praxis allerdings nicht mehr zeitgemäß, da z.B. der Umgang mit teilweise sehr toxischen Übergangsmetallverbindungen nicht zu vertreten ist. Aus diesem Grund wurde die Qualitative Analyse ab Mitte der 1990er Jahre an der Ruhr-Universität Bochum durch ein Versuchspraktikum im ersten Semester ersetzt. Ein derartiges Praktikum mit identischen Versuchsvorschriften für alle Studierende hat jedoch entscheidende Nachteile gegenüber der klassischen QA. Denn die QA ist intrinsisch projektorientiert und eine optimale Form für die Einführung in Forschendes Lernen während der Studieneingangsphase. Jeder Studierende bearbeitet seine eigene Probe und kann sich bei der Lösung der Aufgabenstellung nicht auf ein vorgefertigtes Skript oder auf Ergebnisse von Studierenden aus den Vorjahren verlassen. Das freie und explorative Arbeiten erlaubt ein eigenständiges Erkennen und Begreifen chemischer Zusammenhänge (Löslichkeiten, Reaktivitäten usw.). Hinzu kommen mögliche Störungen der Nachweisreaktionen durch andere Ionen; und so muss jeder Studierende einen individuellen Lösungsweg für seine Probe erarbeiten. Hierdurch wird das logische und das analytische Denken wie auch die Kreativität maßgeblich gefördert.

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Aufgrund der positiven kompetenzbildenden Effekte wurde im Wintersemester 2012/13 die QA in stark reduzierter Form wieder aufgenommen. Modifikationen betrafen sowohl den (deutlich erniedrigten) Zeitaufwand als auch die in den Proben enthaltenen Elemente (die ebenfalls erheblich reduziert wurden). Mehr als die Hälfte der in der klassischen QA verwendeten Elemente (z.B. Quecksilber, Arsen, Antimon, Cadmium, Nickel) wie auch die Fällung von Sulfiden mit Schwefelwasserstoff sind im ersten Semester nicht durchführbar. Trotz dieser Reduktion zeigte sich bereits im ersten Jahr der Durchführung bei den Studierenden der Spaß am Knobeln und die sich automatisch entwickelnde Teamarbeit bei der Lösung der Proben. Es wurde aber auch deutlich, dass einige Studierende noch dem engen Korsett schulischer Abläufe verhaftet und mit dem selbstständigen wie auch freien Problemlösen überfordert waren. Daraus folgte, dass sie nicht in der Lage waren, die vorgegebene Anzahl von Proben in der Zeit von fünf Labortagen zu lösen. An dieser Stelle war eine Korrektur erforderlich, um den vorteilhaften Ansatz Forschenden Lernens in der QA gerade für diese Gruppe von Studierenden nicht zu einem frustrierenden Erlebnis werden zu lassen. Beginnend mit einer erfolgreichen Teilnahme beim 5x5000-Wettbewerb1 wurde über mehrere Jahre das eLab, eine virtuelle Lernumgebung zur QA, entwickelt. Der augenblickliche Stand (eLab 2.0) wurde im Wesentlichen durch das Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ der RUB ermöglicht. Das eLab ist dem eigentlichen Laborpraktikum als blended learning-Komponente vorangestellt und muss durchlaufen werden, um Zugang zur Praxisphase zu erhalten. Auch im eLab erhält jeder Studierende zufällige Salzmischungen, die er durch Nachweisverfahren analysieren muss. Die Durchführung der Nachweise wird in Form von Videos gezeigt und der Lernende muss selbst entscheiden, ob der Nachweis positiv oder negativ war. Auf diese Weise ist den Teilnehmern auch am Anfang der Praxisphase im Labor bereits visuell gewärtig, wie ein Nachweis durchzuführen ist, und sie haben gelernt, positive von negativen Nachweisen zu unterscheiden.

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In diesem Förderprogramm vergibt das Rektorat der RUB regelmäßig fünf Mal jeweils 5000 Euro, um innovative Entwicklungen im Bereich des eLearning zu initiieren.

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Technische Realisierung und Durchführung Aufgrund der spezifischen Problemstellung und der Komplexität der Anwendung lässt sich eine derartige eLearning-Komponente nicht mit klassischen Plattformen wie Moodle realisieren. Daher wurde eLab als Webanwendung komplett neu entwickelt. Es basiert auf dem Framework web2py (http://www.web2py.com), welches als freies Open-Source-Paket auf der Programmiersprache Python aufsetzt und mit einem typischen MCV-Ansatz (model/controler/view) ein SQL-Datenbank-Backend nutzt. In der zweiten Version (eLab 2.0) wurde darauf geachtet, zwei getrennte Datenbanken zu nutzen: Die eine Datenbank enthält die im spezifischen Semester relevanten Daten der Teilnehmer (Nutzerdaten, Proben, deren Inhalte usw.), die jedes Jahr gelöscht werden, wohingegen in der permanenten Datenbank die virtuellen Experimente (verlinkte Kette von Elementen wie Videos, Fragen, Wenn-Dann-Verzweigungen) gespeichert sind. Dadurch sind die virtuellen Experimente nicht mehr fest im Code verankert, wie das noch in der ersten Version der Fall war, sondern können durch das WebFrontend auch durch Assistenten mit entsprechenden Rechten erweitert werden. Nach dem Einloggen können in einer Übersicht die möglichen chemischen Elemente und deren Nachweise angesehen werden (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Übersicht möglicher chemischer Elemente und deren Nachweise im eLab

Jeder Teilnehmer im eLab erhält eine Reihe von (virtuellen) Salzproben, die aus einem oder mehreren Salzen bestehen, und für die jeweils alle Kationen und Anionen identifiziert werden müssen. Diese können dann in den verfügbaren Reagenzgläsern (RGG) in Lösung gebracht werden und wahlweise bestimmte Nachweise durchgeführt werden. Einige Nachweise müssen mit der Festsubstanz, andere mit Lösungen durchgeführt werden. Auch die Probenmenge ist unterschiedlich, so dass es erforderlich sein kann, für eine Probe Nachsubstanz anzufordern, wenn die Substanzmenge aufgebraucht wurde. Hier wird in einer simulationsartigen Form des game based learnings die tatsächliche Laborsituation möglichst realistisch nachgestellt (siehe Abbildung 2).

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Abbildung 2: Darstellung der Laborsituation im eLab

Bevor das Video eines Nachweises gezeigt wird, müssen die Studierenden eine Reihe von Multiple-Choice-Fragen zum chemischen Hintergrund des Nachweises korrekt eingeben. Damit werden Sie angehalten, sich über die ablaufenden Prozesse kundig zu machen. Erst nachdem die Fragen korrekt beantwortet wurden, wird das Video gezeigt, in dem das Nachweisverfahren (positiver oder negativer Nachweis, je nach Inhalt der Probe) durchgeführt wird. In einem Laborjournal müssen die Teilnehmenden ihre Beobachtungen notieren. Ganz bewusst sind die RGG nur nummeriert und zeigen nicht an, was darin enthalten ist. Um die Übersicht zu bewahren, müssen die Studierenden im Laborjournal notieren, in welchem RGG sich welche Lösung welcher Probe befindet – ganz so, wie das im realen Labor ebenfalls notwendig und der Fall ist.

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Rochus Schmid

Die Videos der Nachweise sind in der Regel, je nach Aufwand der jeweiligen Methode, ein bis zwei Minuten lang und zeigen insbesondere die wesentlichen Handgriffe, die für ein Gelingen des Versuchs notwendig sind. Das folgende Bild zeigt beispielhaft den Nachweis von Nitrationen (NO3-) durch die sogenannte Ringprobe, bei der im positiven Fall ein kaffeebrauner Ring im RGG zu sehen ist (in Abbildung 3 dunkelgrau).

Abbildung 3: Videos der Nachweise im eLab

Sobald sich der Teilnehmer über die Zusammensetzung der Probe sicher ist, kann er eine Lösung in der unten gezeigten Eingabemaske eingeben. Bei jeder Probe sind drei Versuche möglich. Entscheidend ist hierbei, dass auch in der späteren Präsenzphase die Realproben in der gleichen Eingabemaske gelöst

eLab – Eine virtuelle Lernumgebung zur Qualitativen Analyse

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werden können. Daraus ergibt sich ein ständiges Einüben sowohl der chemischen Operationen als auch des generellen Arbeitsablaufes im Labor (vgl. Abbildung 4).

Abbildung 4: eLab Eingabemaske

Im Prinzip erlaubt es das eLab natürlich auch, in den chemischen (Lehr-)Inhalten über die (aus Sicherheitsgründen beschränkten) Bereiche im Laborpraktikum hinauszugehen und etwa Nachweise toxischer Schwermetallsalze nur in virtueller Form als Lernstoff zu präsentieren. Einbettung in den Studiengang Das eLab ist seit Wintersemester 2013/14 integraler Bestandteil des Einführungspraktikums Allgemeine Chemie im ersten Semester für die Studiengänge Bachelor of Science Chemie und den 2-Fach-Bachelor Chemie+X. Seit dem Wintersemester 2016/17 wird dabei das erweiterte eLab 2.0 verwendet. Von Anfang an hat sich der Erfolg des Ansatzes vor allem in Bezug auf die Arbeitszeit in der anschließenden Präsenzphase manifestiert. Auch die schwächeren Studierenden waren durch die Vorübung im eLab in der Lage, in der gegebenen Zeit alle Proben erfolgreich zu bearbeiten. So schrieb ein Studierender nach Beendigung des Praktikums per E-Mail: „Ich bin sicher, dass das elab eine gute und sinnvolle Hilfestellung für den Beginn der Laborarbeit ist

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Rochus Schmid

und hoffe, dass es für kommende Semester noch erweitert und optimiert werden wird.“ Diesem Wunsch entsprechend wird das eLab immer wieder durch neue Videos und weitere Nachweisverfahren ergänzt. Der Erfolg von eLab zeigt, dass eine forschungsnahe Lernmethode wie die QA durch eine maßgeschneiderte eLearning-Komponente auch im Kontext der Erstsemesterausbildung Chemie durchaus möglich und ertragreich ist.

Forschendes Lernen und Kooperationen mit außeruniversitären Institutionen und Partnern

Einleitende Bemerkungen Pradeep Chakkarath & Sandra Plontke “A university is just a group of buildings gathered around a library.” (Shelby Foote, zitiert nach Chepesiuk 1994, S. 984) „Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, dass kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern dass sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben natürlich einzufügen hatte.“ (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1933/1975, S. 28).

Früh schon – und nicht nur in Europa – verließen Menschen, die nach autoritativem Wissen suchten, vertraute Kontexte und fanden in entfernten Hochburgen der Gelehrsamkeit Lehrer und Kooperationspartner, die der Verbreitung der Universitätsidee und damit auch einer Wissensform dienten, die Kontexte, Institutionen und Kulturen zu überschreiten vermochte.1 Früh schon dominierte auch die Ansicht, dass das Herz und Hirn der Wissenschaft das ist, was im Medium der Schrift zu Büchern und anderen Textformaten kondensiert, womit letztlich Bibliotheken als Tempel aufbewahrten Wissens das eigentliche Fundament des Lehrens, Lernens und des tiefergehenden Studiums darstellen, ganz so wie Shelby Foote dies in seiner vielzitierten Charakterisierung von Universitäten als Gebäuden, die um eine Bibliothek herum gruppiert sind, auf den Punkt zu bringen versuchte. Das Selbstverständnis der Universität als einer weltvergessenen Institution, in der Forschung und Lehre

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Eines von vielen nichtwestlichen Beispielen bildet das klösterlich geprägte Studienzentrum Nalanda; eine spätestens im Übergang vom 4. zum 5. Jahrhundert im Norden Indiens etablierte monumentale Stätte asiatischer Gelehrsamkeit, die Vielen trotz ihrer gleichzeitigen Funktion als Klosteranlage als erste Universität der Geschichte gilt (Sen 2011). Die mindestens bis Nalanda zurückreichende Verbindung von Kloster und Universität, Spiritualität und Wissenschaft, hat sicherlich einigen Anteil an der bis heute gängigen und selten schmeichelhaft gemeinten Kennzeichnung von Universitäten als geistig abgehobenen „Bildungstempeln.“

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hinter Mauern und abgeschirmt von der Außenwelt erfolgen, und deren Erträge letztlich auf schriftliche, fotografische oder audiovisuelle Dokumente reduziert werden, die dann im bibliothekarischen Zentrum des Campus ihre Kultstätte finden, hat erheblichen Anteil am bis heute vielerorts bestehenden Verständnis von der Universität als einem weltabgewandten Elfenbeinturm. Die Reformdebatten, die in Deutschland mit einigen hochschulpolitischen Folgen im 19. Jahrhundert begannen, aber besonders intensiv und kontinuierlich im 20. Jahrhundert geführt wurden, kreisten immer wieder auch um die Frage, wie die Universitäten ihre Beziehung zur Gesellschaft verstehen sollten, und es fanden sich durchaus auch Vertreter, die dem Bild vom Elfenbeinturm geradezu nostalgisch noch etwas abgewinnen konnten (vgl. Östling 2018).2 Dass Wissenschaft und die gesellschaftliche Aufgabe von Forscher_innen auch ganz anders gesehen werden können, zeigt in bis heute beeindruckender Art und Weise das Programm einer sozial engagierten Aktionsforschung, wie sie in der berühmten Studie über die Arbeitslosen von Marienthal schon in den 1930er Jahren umgesetzt wurde (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1933). Spätestens mit der intensiven Beteiligung der Studierenden an diesen Debatten gewann schließlich unter dem Slogan „Abschied vom Elfenbeinturm“ seit den 1960er Jahren die Frage an Relevanz, wie die Universitäten sich der Gesellschaft öffnen und ihre eigene soziale Position und damit verbundene Verantwortung neu definieren können. Dieser zentralen Frage, die in allen Beiträgen in diesem Kapitel mitschwingt, wollen wir hier nachgehen: der Frage nämlich, wie es um das Verhältnis von Universität und Gesellschaft steht bzw. inwieweit die Universität in der Lage ist, einige ihrer historisch überkommenen Selbstverständnisse zu überwinden und sich so zu öffnen, dass sowohl die außeruniversitäre Welt als auch die Universität, ihre Lehrenden und vor allem ihre Studierenden davon profitieren können.

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Für eine prominente Stellungnahme in diesem Zusammenhang siehe Erwin Panofskys Verteidigung des Elfenbeinturms (Panofsky 1957).

Einleitende Bemerkungen

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Der Abschied vom Elfenbeinturm: Forschendes Lernen und die Third

Mission In jüngster Zeit berühren sich die hier angesprochenen Fragen mit internationalen Debatten, die häufig unter dem Schlagwort der Third Mission geführt werden. Gemeint ist mit dieser „dritten Mission“ die in Teilen verordnete, in Teilen aber auch selbstauferlegte Aufgabe der Hochschulen, allen voran der Universitäten, sich neben ihren beiden traditionellen Missionen, nämlich inneruniversitärer Forschung und Lehre, auch verstärkt in die Gesellschaft einzubringen, dabei möglichst auch mit außeruniversitären Institutionen und Akteuren zu kooperieren und den Studierenden das sowohl forschungsbezogene als auch berufsvorbereitende Potential dieser Ausrichtung nahezubringen (vgl. Henke, Pasternack & Schmid 2017). In dieselbe Richtung gehen Rufe nach einer Third Generation University, einer Widening Participation oder auch einer Community-Based Research Culture – Schlagwörter, die, wie unschwer erkennbar, angelsächsischen, insbesondere amerikanischen Bildungsdiskussionen entlehnt sind. Hierzulande allerdings lässt sich die neuerdings propagierte Third Mission auch als Element in der jahrzehntelangen Bemühung um die Überwindung des so genannten und in mancher Hinsicht deutschlandtypischen Bildungsschismas verstehen, d.h. der soziokulturell fest verankerten Trennung von akademischer gymnasial-universitärer Allgemeinbildung und praktischer Berufsausbildung (Baethge 2007). Es ist leicht zu erkennen, dass es bei der angemahnten Third Mission um das Abschütteln des langlebigen Elfenbeinturm-Vorwurfs und eine Neubestimmung der Beziehung von Universität, Studium, Gesellschaft und akademischer Verantwortung geht. Forschendes Lernen ist nun nicht per se oder notwendigerweise ein Baustein im Aufbau eines neuen und offeneren universitären Selbstverständnisses. Forschendes Lernen könnte im Grunde ausschließlich inneruniversitär erfolgen, d.h. ausschließlich auf dem Campus. Studierende und Dozierende könnten sich gerade unter Bedingungen der modernen internetgestützten Informationsbeschaffung aufwändige Reisen in „entferntere Gebiete“ und Kooperationen mit Menschen, die „eine andere Sprache“ sprechen, ersparen. Didaktische Ziele, die mit forschendem Lernen gerne in Verbindung gebracht

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werden, wie etwa die weitergehende Ausbildung eines wissenschaftlichen Habitus und einer kognitiven Einstellung zur Welt, die wissenschaftliche Neugier und studentisches Selbstvertrauen in die eigenen akademischen Befähigungen über alle Phasen wissenschaftlicher Untersuchungen hinweg befördern, sind in ihrer Erreichung nicht zwingend auf die Kooperation mit außeruniversitären Institutionen und Partner_innen angewiesen. Wie einige der in diesem Band versammelten Beiträge anschaulich dokumentieren, können die hehren Ziele des forschenden Lernens durchaus auch auf dem Campus verfolgt werden, gelegentlich verlängert um den digitalen Zugriff auf die „Außenwelt“. Bedenkt man, dass die personellen, logistischen und technologischen Ressourcen auf dem Campus gebündelt und vergleichsweise überschaubar vorliegen und dass zumindest die Lehrenden damit in aller Regel auch recht vertraut sind, kann man sich durchaus mit guten Gründen fragen, wozu man die zusätzliche Anstrengung auf sich nehmen sollte, weniger vertraute Kontexte und Institutionen aufzusuchen und die Zusammenarbeit mit Kooperationspartner_innen anzustreben, deren Habitus, Interessen, Perspektiven und Sprache sich von den akademisch-universitären mitunter doch beträchtlich unterscheiden können. Nun, eine erste Antwort darauf haben wir mit dem Hinweis auf jüngere Bemühungen gegeben, die Universitäten über eine Neuausrichtung im Sinne der „dritten Mission“ weitergehend als bisher zur Gesellschaft hin zu öffnen. Diese Öffnung soll allerdings aus mehr bestehen als der mittlerweile etablierten Zulassung von Gasthörer_innen, dem Angebot von öffentlichen Vorträgen oder auch altersspezifisch abgestimmten Veranstaltungsreihen wie so genannten Kinder- oder Seniorenuniversitäten, die allesamt mehrheitlich darauf angelegt sind, die Öffentlichkeit in die Universität zu locken, nicht aber die Studierenden vom Campus. Und selbst da, wo beispielsweise Studierende der Archäologie, Architektur, Geographie oder Biologie Exkursionen zu Ausgrabungsstätten, Neubaugebieten oder erodierenden Waldböden unternehmen, bleiben sie doch in aller Regel in ihrem gewohnten Metier und weitgehend unter ihresgleichen. Vor allem aus wissenschaftsdidaktischer Sicht ist im Übrigen auch mehr gemeint als die vermehrt

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in den Natur- und Ingenieurwissenschaften praktizierte Kooperation mit außeruniversitären Unternehmen zwecks Forschungsfinanzierung. Versuchen wir also, dieses „mehr“, das hier im Rahmen der Third Mission anvisiert wird, nachfolgend ein wenig kenntlicher zu machen. Wissenschaftliche Kompetenzerweiterung jenseits des Campus Hat jemand ein Studium erfolgreich abgeschlossen, so werden ihm bestimmte Kompetenzen bescheinigt, die beispielsweise als akademische, wissenschaftliche oder intellektuelle Kompetenzen näher bestimmt werden. Trotz derartiger näherer Bestimmungen ist dennoch umstritten, worin eine bestimmte Kompetenz denn nun im genaueren besteht bzw. ob sie sich nicht letztlich aus anderen wiederum vagen Teilkompetenzen zusammensetzt (siehe hierzu etwa Straub 2007). Wie in der Einleitung zum vorliegenden Band Straub, Ruppel, Plontke und Frey andeuten, besteht auch keineswegs wissenschaftliche Übereinstimmung darin, welche zusätzlichen und genuinen Kompetenzen es eigentlich sind, um die das forschende Lernen die wissenschaftliche Qualifikation erweitert. Wenn wir dem auch zustimmen können, so mag für unsere hier verfolgten Zwecke dennoch ein Verständnis genügen, wonach Kompetenz ein auch in theoretischem Wissen begründetes praktisches Wissen bezeichnet, das sich in der Befähigung erweist, sein Handeln so auf ein Ziel hin ausrichten zu können, dass das Ziel erfolgreich und im besten Falle auch so wie gewünscht, folglich befriedigend erreicht wird.3 In einer von Roth (1971) im Rahmen seiner pädagogischen Anthropologie vorgeschlagenen, an amerikanischen Vorlagen orientierten und in den letzten Jahrzehnten sehr einflussreichen Differenzierung werden drei grundlegende und miteinander zusammenhängende Kompetenzen unterschieden:

3

Trotz der Knappheit der Formulierung verrät sie natürlich ihre Anlehnung an den antiken griechischen Begriff der τέχνη, der semantisch nicht gerade weniger unproblematisch ist als der Kompetenzbegriff, der sich nichtsdestotrotz in den philosophischen Wissensund Handlungstheorien bei Platon und Aristoteles als klärend und in seinem analytischen Potential als nützlich erwiesen hat.

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Sachkompetenz, Selbstkompetenz und Sozialkompetenz. Mögen neuere Differenzierungsvorschläge beispielsweise noch Fach- und Methodenkompetenz hinzufügen, so scheinen sich die meisten Ergänzungsvorschläge dieser Art doch ganz gut in Roths Modell zu fügen. Unter Sachkompetenz versteht man gemäß diesem Modell Fakten- bzw. Verfügungswissen (in den Wissenschaften z.B. Theorie- und Methodenwissen), einschließlich der Kenntnis grundlegender Informationen über den jeweiligen (z.B. beruflichen) Aufgabenbereich und die darin bestehenden Anforderungen. Unter Selbstkompetenz werden die Fähigkeit und Motivation verstanden, die eigenen Entwicklungspotentiale, Herausforderungen, Hemmnisse und Belastbarkeiten in relevanten privaten, schulischen, beruflichen und anderen öffentlichen Lebensbereichen realistisch einzuschätzen. Die Vermittlung von Selbstkompetenz soll vor allem Selbstständigkeit, Selbstvertrauen, Kritikfähigkeit (einschließlich der Fähigkeit zur Selbstkritik), Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein und damit einhergehend die Ausbildung auch selbstbestimmter Überzeugungen fördern. Sozialkompetenz meint diejenigen Befähigungen, die es ermöglichen, Interaktionen und Kooperationen mit anderen Personen auf Basis der Überzeugung zu gestalten, dass das empathische Verstehen der Perspektiven der Anderen und die eigene Anpassungsfähigkeit an neue Kontexte unverzichtbar sind – auch unverzichtbar, um eigene Ziele konstruktiv zu artikulieren und zu erreichen. Schon in dieser knappen Paraphrase wird deutlich, dass hier sich partiell überlappende und ineinandergreifende Kompetenzen angesprochen sind, die häufig im Zusammenhang mit Befähigungen und Entwicklungsgewinnen in Verbindung gebracht werden, die durch forschendes Lernen gefördert werden sollen. Deutlich wird allerdings auch, dass die Entwicklung und Förderung dieser Kompetenzen in abgegrenzten Kontexten, beispielsweise auf dem Campus und in der Bibliothek, nur begrenzt gelingen kann. Sachkompetenzen etwa, die ausschließlich universitätsintern vermittelt und erlangt werden, können sich beim späteren Übergang von Studienabsol-

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vent_innen in außeruniversitäre Berufsfelder schnell als unzulänglich erweisen, weil beispielsweise Einblicke in solche Berufsfelder und die darin erwarteten Leistungen nur unzureichend gegeben wurden. Es ist zu vermuten, dass die in vielen Studiengängen obligatorischen mehrwöchigen Praktika dieser Problematik nicht in ausreichendem Maße begegnen. Für eine vollere Entfaltung ihrer Selbstkompetenz und ihrer realistischeren Selbstevaluation dürfte es Studierenden dienlich sein, Selbsterfahrungen in unterschiedlichen Kontexten bzw. unterschiedlichen Handlungsfeldern zu machen und dort unterschiedlichen Anforderungen genügen zu müssen. Nun ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass auch Sonderlinge, so genannte „Nerds“ mit äußerst eingeengten Interessen, ausgeprägten Spezialkenntnissen und nur wenig Motivation, die universitären Computerräume zu verlassen, ihren ganz eigenen Charme haben können, doch verkörpern sie nicht den Typus von Studierenden, die man als Träger_innen einer sozialorientierten Öffnung der Universitäten im Auge hat. Andere Kontexte, auch andere Formen der Wissensgenerierung und Wissensvermittlung kennenzulernen, zu prüfen, inwieweit man fähig und interessiert ist, sich diese auch anzueignen, dient nicht nur der schlichten Erweiterung von Selbstkompetenz, sondern lässt auch darauf hoffen, dass bei dem einen oder der anderen Kreativitätspotentiale geweckt werden, die positiv auf das wissenschaftliche Tun, einschließlich seiner Reflexion zurückwirken. Was schließlich die Förderung der Sozialkompetenz angeht, so scheint es unbestreitbar, dass wie in den meisten Lebensbereichen so auch in der Universität soziale Kompetenzen unverzichtbare Grundlage für ein konstruktives Miteinander sind. Eine gewisse Art des Umgangs ist wesentlicher Teil dessen, was man einen akademischen und wissenschaftlichen Habitus nennt, der nach wie vor, heute lediglich weniger explizit als noch zu Humboldts Zeiten, auch von Studierenden erwartet wird. Spätestens bei Berufungsverfahren dürfte das dem wissenschaftlichen Nachwuchs nochmals klarer werden. Auch in außeruniversitären Kontexten, vor allem in interinstitutionellen Kooperationen, sind Anerkennungsbereitschaft, Offenheit für Neues und Anpassungsbereitschaft – was beispielsweise die Anpassung an abweichende Hierarchiestruk-

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turen angeht – zentrale Kompetenzen, von denen das Scheitern oder Gelingen von Brückenschlägen abhängen kann. Nicht selten und sehr stark kann das Betreten neuer Kontexte und die Interaktion mit darin agierenden Personen zudem von sprachlichen Problemen, einschließlich Übersetzungsproblemen, begleitet sein. Inneruniversitär ist das Fachsprachenproblem und die damit verbundene Schwierigkeit des interdisziplinären Austausches schon lange bekannt und von C.P. Snow (1959) gar als das Aufeinandertreffen zweier Kulturen beklagt worden, die sich nie würden verstehen können. Wie die in diesem Kapitel dokumentierten Lehrforschungsprojekte veranschaulichen, können mit derartigen „Kulturunterschieden“ Studierende wie auch Lehrende auf ähnliche Weise in Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen und Partner_innen zu tun haben. In der Tat können die Erwartungen an allgemeine soziale Kompetenzen dann der Erwartung an spezifischere interkulturelle Kompetenzen gleichen. Alle der in diesem Kapitel beschriebenen Projekte des forschenden Lernens zeigen, was sich – eben auch dank solcher Projekte – an Universitäten mittlerweile getan hat und weiterhin tut. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Überwindung historisch tief verwurzelter Selbstverständnisse und Zuschreibungen als auch im Blick auf wissenschaftsdidaktische Neuorientierungen, die manchmal vielleicht doch größer sind als sie scheinen. Die Lehrforschungsprojekte Im ersten Beitrag berichten Ralph Köhnen, Sandra Plontke und Jürgen Straub über ihr Lehrforschungsprojekt Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst, das in interfakultärer Kooperation zwischen der Fakultät für Philologie und der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) durchgeführt wurde. Wie einige der anderen in diesem Kapitel dokumentierten Projekte bewegte sich auch dieses an der letztlich unscharfen Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst bzw. entlang unterschiedlicher Formen der Auseinandersetzung mit zentralen Themen menschlicher Existenz. Die außeruni-

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versitäre Kooperation verdankte sich der Unterstützung durch den Maler Romain Finke, in dessen Ravensburger Atelier studentische Forschungsprojekte konzipiert und aus künstlerisch-ästhetischer wie auch wissenschaftlicher Sicht reflektiert wurden. Unter Anleitung versuchten sich die Studierenden, die ihre empirischen Studien vornehmlich mit Methoden der qualitativen Sozialforschung und der Text- und Bildanalyse durchführten, auch an künstlerischen Techniken der Erfassung und Darstellung ihrer Themen. Darüber hinaus befassten sie sich mit einer aktuellen und noch unvollendeten Bildserie des Künstlers zum Gedenken an die Anschläge und die Opfer vom 11. September 2001 in New York. Eine ebenfalls im Rahmen des Lehrforschungsprojektes organisierte Ausstellung mit Bildern aus dieser Serie im Bochumer Kubus Situation Kunst diente schließlich als Rahmung der Präsentation der studentischen Forschungsprojekte. Im zweiten Beitrag dokumentieren Paul Sebastian Ruppel, Pradeep Chakkarath und Jürgen Straub das in zwei Auflagen durchgeführte Projekt Die Sozialwissenschaften im Theater. Auch hier unternahmen die Studierenden gewissermaßen „Grenzüberschreitungen“, die sie von der sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchung des Theaters, des Schauspiels, der Improvisation, Identitäts- und Authentizitätsfragen bis hin zur performativen Umsetzung des Forschungsprozesses und ihrer Forschungsergebnisse auf der Bühne führten – in der ersten Auflage im Rahmen der Bad Hersfelder Festspiele und in Kooperation mit dem damaligen Intendanten Holk Freytag und Mitgliedern seines Ensembles, in der zweiten Auflage im Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) in Kooperation mit dem dortigen Theaterstab. In den studentischen Forschungsprojekten waren somit die Ausdrucksmittel des Theaters bzw. des Schauspiels zunächst Themen der studentischen Forschungsprojekte, im Anschluss aber die Mittel, derer die Studierenden sich nun selbst bedienen mussten, um sich, ihre Rolle als Wissenschaftler_innen, ihre Frustrationen, ihre Erträge usw. performativ an ein öffentliches Publikum, aber im Rahmen eingehender Selbstreflexion auch sich selbst, zu vermitteln. In ihrem Beitrag Lenz-Herbst berichtet Judith Schäfer von einem Projekt, das sich theater- und literaturwissenschaftlich dem Theaterwerk von J.M.R.

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Lenz annäherte und in Kooperation zwischen dem Institut für Theaterwissenschaft der RUB, dem Institut für Germanistik der Universität Hamburg und dem Theater an der Ruhr in Mülheim durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt des Projekts standen Planung und Durchführung eines öffentlichen Symposiums sowie der dort erfolgten wissenschaftlichen und künstlerischen Präsentationen der Studierenden. Die fach- und institutionenübergreifende Kooperation zwischen Wissenschaft und Kunst bzw. Theater regte einen intensiven Austausch über unterschiedliche Blick-, Zugangs- und Darstellungsweisen an, was dadurch gefördert wurde, dass die Veranstaltung von innerund außeruniversitären Teilnehmer_innen besucht wurde. Die nicht rein universitäre, sondern gemischte Zusammensetzung der Adressaten war in allen Etappen zu berücksichtigen: in der Organisation, Durchführung und Moderation des Symposiums, in der Entwicklung der künstlerischen und wissenschaftlichen Präsentationen, wie auch in der Bewerbung und Dokumentation der Veranstaltung. Eine kooperative Begegnung von Wissenschaft, Literatur und Kunst zu ermöglichen und dabei zugleich mit unterschiedlichen Herangehensweisen in verschiedenen Berufsfeldern vertraut zu machen, war auch das Anliegen in mehreren praktisch ausgerichteten Hauptseminaren der Angewandten Germanistik, von denen Markus Tillmann in seinem Beitrag Schreiben. Präsentieren. Gestalten berichtet. Einer der beteiligten außeruniversitären Lernorte war das Bochumer ROTTSTR5 Theater, wo die Studierenden Aufführungen besuchten, diskutierten, hinter die Kulissen schauten und regen Austausch mit den Theaterleuten hatten. Auch im Rahmen einer von den Studierenden mitorganisierten Tagung zu Weltentwürfen in der phantastischen Literatur bot sich Gelegenheit zur Kooperation mit dem Theater, das parallel einen Schwerpunkt zu utopischen und dystopischen Stoffen im Spielplan hatte. Ein wichtiges Ziel des Austausches mit den außeruniversitären Partner_innen besteht darin, die in vielerlei Berufsfeldern benötigten rhetorischen und literarischen Mittel der Darstellung und Vermittlung zu erweitern und in unterschiedlichen Kontexten kreativ umzusetzen. Das Projekt hat manche Studierende dazu bewogen, Praktika am Theater zu machen und/oder auch als Schauspieler_innen mitzuwirken.

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Von einem seit mehreren Semestern am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) angebotenen Lehr-Lern-Projekt berichten Patrick Krüger und Martin Radermacher in ihrem Beitrag Zwischen Bilderfluten und Bildersturm – Zur Rolle von Bildern in Religion und Gesellschaft. Aufgegriffen werden darin zwei Thematiken von anwachsender wissenschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Relevanz: Einerseits die so genannte „Bilderflut“, die vor allem im Zuge der Digitalisierung der Welt unübersehbare Ausmaße angenommen hat, zum anderen die seit Jahrtausenden eminente Bedeutung bildlicher Darstellungen in den Religionen, die sich u.a. in Formen der Ikonophilie wie auch des Ikonoklasmus zeigt. Unterstützt durch das Kunstmuseum Bochum und in Verbindung mit der dort präsentierten Ausstellung „Bild Macht Religion“ hatten die Studierenden Gelegenheit, sich mit Methoden der Bild- und Artefaktenanalyse vertraut zu machen, sich in unterschiedliche museumspädagogische Verfahren der Dokumentation und Informationsvermittlung einzuüben und diese im Museum auch praktisch umzusetzen. Nicht in Theater und nicht in Museen, sondern in campusferne Pflegeheime führen uns Katrin Bente Karl und Yvonne Behrens in ihrem Beitrag Das Projekt UnVergessen. Auch dieses am Institut für Slavistik verankerte Projekt wurde bereits in mehreren Durchläufen durchgeführt, anfangs unterstützt von einem Partner an der Hochschule für Gesundheit und mittlerweile in Kooperation mit neun Pflegeeinrichtungen im Ruhrgebiet. Mehrsprachige Studierende besuchen im Rahmen dieses Projekts polnisch- und russischsprachige pflegebedürfte Personen in den Pflegeheimen und beteiligen sich so an der psychosozialen Betreuungsarbeit. Zuvor werden die Studierenden in einem wöchentlich stattfindenden Seminar auf die wissenschaftlichen und kommunikativen Anforderungen ihrer verantwortlichen und von ihnen im weiteren Verlauf weitgehend selbstgestalteten Tätigkeit vorbereitet. Hier erwerben sie auch grundlegende Kenntnisse zu arbeitsrelevanten Themen wie zum Beispiel Alter, Demenz, Sprach- und Kommunikationsentwicklung. Beeindruckend ist der von allen Beteiligten berichtete persönliche und praktische Gewinn, der sich auf Seite der Studierenden auch als eine wissenschaftlich motivierende Erkenntnis über die Reichweiten ihres Studiums und ihre allgemeinen Handlungspotentiale zeigt.

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Den Ansatz so genannter öffentlicher Lehrforschung beschreiben Ines Gottschalk und Sabrina Zajak in ihrem Beitrag Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken. Ähnlich wie im zuvor geschilderten Projekt UnVergessen, aber vielleicht noch expliziter, wird hier dem Appell an die Universitäten entsprochen, größere soziale Verantwortung zu übernehmen und sie auch in den Studierenden zu wecken. Wie dies aussehen kann, wird am Beispiel von zwei Formen der engagierten öffentlichen Lehrforschung beschrieben. Die dialogorientierte Form fand ihre Umsetzung im Rahmen der seit 2015 schnell angewachsenen Flüchtlingsimmigration nach Deutschland. Die Forschungsarbeit der Studierenden basierte hier insbesondere auf Wissensaustausch in konkreten Interaktionen mit unterschiedlichsten Vertreter_innen aus Verwaltung und lokaler Zivilgesellschaft auf der einen Seite und mit den Migrant_innen auf der anderen Seite. Die (selbst-)transformative Form zielte dagegen auf selbstexperimentell erzielte Erkenntnisse am Beispiel der Teilnahme an praxisorientierten, zum Beispiel ökologischen Bewegungen, die etwa die Minimalisierung der Müll- und Plastikproduktion anstreben. In mehrwöchigen Selbstversuchen und im teilnehmenden Austausch mit Aktivist_innen gewannen die Studierenden dabei praxis- und realitätsgeschulte Einsichten in die Voraussetzungen des Erfolgs sozialer Bewegungen und in ihre Sach- und Selbstkompetenz. Ökologische Themen- und Praxisfelder stehen auch im Zentrum des letzten Beitrags, in dem Matthias Thome über das Projekt Nachhaltigkeitsforum RUB berichtet. Eruiert wurden hier Möglichkeiten einer integrativen und zukunftsfähigen Kooperation von Wissenschaft und Gesellschaft für die Bewahrung einer gesunden Umwelt. Die fächerübergreifende Relevanz dieses Themenbereiches wurde durch die Teilnahme von Studierenden aus allen drei Ruhr-Universitäten, aus der Hochschule Bochum und aus über 15 geistes-, sozial-, natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fachrichtungen unterstrichen. An den regelmäßigen Treffen des Nachhaltigkeitsforums (NHF) nahmen Studierende wie auch Gäste ohne Hochschulbezug teil. Resultat war u.a. die Entstehung verschiedener Arbeitskreise, etwa zu Bioabfall und Urban Gardening. Unterstützt wurde das Projekt beispielsweise durch das Umwelt- und Grünflächenamt der Stadt Bochum und einzelne außeruniversitäre Partner_innen,

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etwa aus der städtischen Verwaltung. Studierende erwarben hier nicht nur themenrelevantes Wissen, sondern setzten dieses auch – beispielsweise durch Teilnahme am Urban Gardening – praktisch und gesellschaftsdienlich um. Man sieht in all diesen Beiträgen, dass das Projekt „Forschendes Lernen“, gerade in Kooperation mit extrauniversitären Einrichtungen und Partner_innen, Bewegung in die universitäre Lehre und das Lernen gebracht hat. Es ist damit ein wichtiger Baustein im Fundament eines moderneren Verständnisses der Beziehung von Universität, Studium und Gesellschaft – ein Baustein, der vielleicht mehr trägt als Viele meinen. Literatur Baethge, Martin (2007): Das deutsche Bildungsschisma: Welche Probleme ein vorindustrielles Bildungssystem in einer nachindustriellen Gesellschaft hat. In: Lemmermöhle, Doris & Hasselhorn, Marcus (Hg.) (2007): Bildung – Lernen. Humanistische Ideale, gesellschaftliche Notwendigkeiten, wissenschaftliche Erkenntnisse. Göttingen: S. 93-116. Chepesiuk, Ron (1994): Writers at work: How libraries shape the muse. In: American Libraries 11/1994: S. 984-987. Henke, Justus, Pasternack, Peer & Schmid, Sarah (2017): Mission, die dritte: Die Vielfalt jenseits hochschulischer Forschung und Lehre: Konzept und Kommunikation der Third Mission. Berlin. Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul F. & Zeisel, Hans (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. Frankfurt a.M. [Original 1933]. Östling, Johan (2018): Humboldt and the modern German university. An intellectual history. Lund. Panofsky, Erwin (1957): In defense of the ivory tower. In: The Centennial The Centennial Review of Arts & Science 2/1957: S. 111-122. Roth, Heinrich (1971): Pädagogische Anthropologie, Bd. 2: Entwicklung und Erziehung. Hannover.

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Sen, Amartya (2011): Nalanda and the pursuit of science. Keynote address delivered at the 98th Indian Science Congress in Chennai on 4 January 2011. In: The Hindu, 8 January 2011: S. 8. Snow, Charles P. (1959): Die zwei Kulturen. In: Kreuzer, Helmut (Hg.) (1987): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion. München. Straub, Jürgen (2007): Kompetenz. In: Straub, Jürgen, Weidemann, Arne & Weidemann, Doris (Hg.) (2007): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz. Stuttgart: S. 35-46.

Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst – Wege des Verstehens, Formen der (Re-)Präsentation Ralph Köhnen, Sandra Plontke & Jürgen Straub Wie Menschen erlittenes Leid und erlebten Schmerz darstellen und beschreiben, repräsentieren und artikulieren, analysieren und in praxisorientierter Perspektive bedenken und behandeln, ist eine lebensweltlich und wissenschaftlich, aber auch pädagogisch und politisch gleichermaßen brisante Frage. Dasselbe gilt für die Rezeptions- oder Wahrnehmungsseite: Wie beschreiben und verstehen wir Menschen in ihrem Leid und Schmerz – auf eine ihrem Erleben möglichst ‚angemessene‘ Weise? In der hier skizzierten Veranstaltung – die an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) in variierter Form in mehreren Semestern angeboten wurde – standen plurimediale Repräsentationen von Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst im Zentrum forschenden Lernens. In einem umfassenden Spektrum von bildender und darstellender Kunst, Literatur, Psychologie, Medizin, Film und digitalen Medienprodukten wurden mögliche Übergänge und Synergien sowie wechselseitige Lernchancen zwischen Wissenschaft und Kunst ausgelotet. Grundlegend und leitend war die Annahme, dass in den Künsten ein von den Wissenschaften unausgeschöpftes Potenzial zur Erschließung und Beantwortung von existenziell bedeutsamen Fragen liegt, die die Konstitution des Menschen prinzipiell betreffen. Gerade der Blick auf erlebtes Leid eröffnet eine anthropologische Perspektive, die für mehrere Wissenschaften interessant und auch unter sozialen, politischen und ästhetischen Gesichtspunkten relevant ist. Wir gehen im Folgenden auf ein sich über ca. sechs Monate erstreckendes, forschungsorientiertes Seminar, das auch die vorlesungsfreie Zeit einbezog (Wintersemester 2017/18 bis zum Beginn des Sommersemesters 2018),

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_26

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etwas genauer ein.1 In der Veranstaltung wurden Studierende zunächst in drei theoretisch anspruchsvollen und methodisch ausgerichteten Präsenzveranstaltungen an grundlegende Themenbereiche des Gesamtprojekts herangeführt: „Wissenschaft und Kunst“, „Was heißt Repräsentation?“ und „Qualitative Methoden der Text- und Bildhermeneutik“ waren die drei eingehend behandelten Themenblöcke. Die drei Termine dienten der Vorbereitung der Studierenden, welche sodann eigenständige Forschungsfragen und kleine Projekte konzipieren und durchführen sollten. Dabei wurden sie von den Lehrenden begleitet und speziell bei der Anwendung qualitativer Methoden der Datenerhebung und -auswertung intensiv beraten und unterstützt. Neben der außeruniversitären Kooperation mit dem Maler Romain Finke stellte das Seminar eine interfakultäre Veranstaltung unter Beteiligung der Fakultät für Philologie und der Fakultät für Sozialwissenschaft dar. Es wurde außerdem im Rahmen eines ebenfalls durch inSTUDIESplus geförderten Projekts zur Förderung wissenschaftlichen Schreibens, Präsentierens und Publizierens unterstützt, von dem muttersprachlich und nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Studierende profitieren konnten.2 Darüber hinaus kooperierten alle Studierenden entsprechend einem Peer-to-Peer-Verfahren, das insbesondere die methodische und forschungspraktische Expertise der Beteiligten fördern sollte, eng mit am Seminar beteiligten Doktorand_innen der sozialwissenschaftlichen Fakultät (siehe hierzu Ruppel & Straub, in diesem Band). Teilnehmende waren Masterstudierende der Sozialwissenschaften (insb. des Studiengangs „Kultur und Person“ und des 2-Fach-Masters Sozialwissenschaft mit der Studienrichtung „Sozialtheorie und Kulturpsychologie“) sowie 1

2

Diese Veranstaltung wurde von inSTUDIESplus gefördert. Das erste Seminar zu diesem Thema, das zugleich den Auftakt zu einer anhaltenden Auseinandersetzung mit Beziehungen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Modi der Erfahrungsbildung und Erkenntnisgewinnung darstellte, wurde von Monique Kaulertz und Jürgen Straub im Rahmen des Universitätsprogramms zum Forschenden Lernen im Wintersemester 2014 entworfen und als Angebot der Fakultät für Sozialwissenschaft durchgeführt. Diese Teilprojekte zum wissenschaftlichen Schreiben, Präsentieren und Publizieren wurden und werden vor allem von Ines Gottschalk, Markus Tillmann und Ayşe Yıldırır durchgeführt (vgl. auch deren jeweilige Beiträge im vorliegenden Band).

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der Philologie (insb. Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) und schließlich der Philosophie. Sie alle waren dazu aufgefordert, Möglichkeiten und Mittel des symbolischen Ausdrucks, der beschreibenden Darstellung und kommunikativen Vermittlung von Leid und Schmerz in mehreren ausgewählten Bereichen zu erkunden. Fachstudierende der Kunstgeschichte waren nicht beteiligt. Die diesbezügliche (ästhetische, bildwissenschaftliche) Expertise beschränkte sich bei allen Studierenden auf ein allgemeines Wissen über Kunstgeschichte bzw. Malerei. Literatur zu den Arbeiten von Romain Finke allgemein und speziell zum Bilder-Zyklus 2753. To the People of New York stand zur Verfügung;3 der Schwerpunkt lag jedoch in der persönlichen Kommunikation mit dem Künstler, deren kontinuierliche Moderation von den Studierenden übernommen worden war (die teilweise auch Interviews mit dem Künstler führten). Das Forschungsseminar bestand aus zwei Modulteilen. Der erste umfasste theoretische und methodische Reflexionen und Anleitungen, die Kooperation mit Doktorand_innen (u.a. Methodenberatung) sowie die Ausarbeitung eines eigenen Forschungsthemas. Der zweite Teil befasste sich mit der Umsetzung des in Teil I erarbeiteten Forschungsthemas mit geeigneten Methoden, sodann die Kooperation mit dem Künstler Romain Finke und schließlich die öffentliche Präsentation der Forschungsarbeit während einer gemeinsam organisierten Ausstellung im KUBUS der Situation Kunst (einem zur RUB gehörenden und Max Imdahl gewidmeten Ausstellungs- und Veranstaltungsgebäudes fernab des Universitätscampus).

3

Wir erwähnen hier lediglich die beiden Katalogbände (vgl. Kubben 2014; Finke 2017), die unter anderem Beiträge von Ralph Köhnen und Jürgen Straub enthalten. Die Bände erschienen anlässlich zweier großer Ausstellungsprojekte, von denen eines in Bochum im Rahmen des hier vorgestellten Seminars zum Forschenden Lernen konzipiert und verwirklicht wurde (siehe unten). Die Zahl 2753 bezieht sich auf die offizielle Statistik, die nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 exakt so viele Menschen verzeichnete, die beim Einsturz der sogenannten Twin Towers in New York ihr Leben lassen mussten. Das Werk des Malers umfasst ebenso viele abstrakte Aquarelle gleichen Formats, die die unverwechselbaren Leben der umgekommenen Individuen repräsentieren (wobei mittlerweile ca. 2400 fertiggestellt sind).

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Die von intensiven Auseinandersetzungen begleitete Auswahl und Planung der studentischen Projekt-Themen geschah im Rahmen einer dreitägigen Exkursion, die die Studierenden und Dozent_innen von Donnerstag, dem 7., bis Samstag, dem 9. Dezember 2017 nach Ravensburg ins Atelier des Künstlers Romain Finke führte. Gemeinsam mit Finke wurden die individuellen Projekte der Studierenden diskutiert und insbesondere aus der Perspektive der Kunst reflektiert, wobei auch alternative Darstellungsformen von Forschungsergebnissen jenseits eines bereits etablierten wissenschaftlichen Paradigmas sondiert und ausgearbeitet wurden. Eine weitere wichtige Absicht der Exkursion bestand darin, den Studierenden Einblicke in das Schaffen des Künstlers und insbesondere in seine große Bildserie 2753. To the People of New York City zu gewähren und sie auch vor diesem Hintergrund zu weiteren Reflexionen hinsichtlich etwaiger Differenzen und Spannungen, aber auch Synergien zwischen Kunst und Wissenschaft sowie Bildlichkeit und Sprachlichkeit anzuregen. Die Aufgabe, die sich der Künstler mit der seit etwa fünf Jahren bearbeiteten Serie gestellt hatte, war nicht weniger als die Darstellung aller einzelnen Leben der Attentatsopfer in abstrakten Farbkompositionen auf jeweils einem Blatt, und zwar nicht in persönlich zugewiesener Form, sondern als Vergegenwärtigung von Lebensmöglichkeiten, die mit jedem einzelnen Tod verloren gegangen sind. Konkrete Blickpunkte der künstlerischen Arbeit waren z.B. die Beschaffenheit des Bilduntergrunds, die Farbmaterialien, die der Künstler in verschiedenen Kombinationen und Schichtungen einsetzt, die Proportionen der Farbflächen, die Farbtöne und ihre interne Stimmigkeit, die Einheit einer Blattdarstellung in sich und das Zusammenspiel im Ensemble, also in zusammengestellten Gruppen oder der gesamten Serie. Aber auch die längere Prozedur des Farbauftrags, also das Arbeiten in Phasen, das jedes einzelne Bild benötigt, und die Prozessualität auf der Ebene der Bilderstellung wurden besprochen. Als komplementäre Entsprechung zur prozessualen Bildherstellung zeigte sich nämlich, dass diese Bilderschließung dem Betrachtungsprozess und eine solche Rezeptionshaltung hier dem Gegenstand in besonderer Weise entspricht.

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Nicht nur galt es dabei, das interdisziplinäre Potenzial des Themas zur Geltung zu bringen und aus unterschiedlichen Diskursfeldern neue Perspektiven auf das anthropologische Thema zu gewinnen bzw. dieses auch in (sozial-)politischen Kontexten zu verorten. Insofern Trauma- und Katastrophenerfahrungen Gegenstand waren, sollte dabei untersucht werden, wie ein solches Thema auf bildkünstlerische Weise angegangen werden kann, um damit auch in der Analyse durch einen ästhetischen Sinnkomplex neue Dimensionen erschließen zu können. Aufschlussreich waren dabei die intensiven Gespräche, die mit Romain Finke in seinem Atelier geführt werden konnten; Gespräche, welche den Prozess des Bildgewinns von verschiedenen Seiten aus verdeutlichen konnten. Es ließen sich so nicht nur neue Fragestellungen gewinnen, sondern auch spezifisch künstlerische Verarbeitungswege verstehen und öffnen – bis hin zu Überlegungen, wie eigene Bilddarstellungen des Themas von Seiten der Studierenden aussehen könnten. Dieses Thema, aber auch die Umsetzungsproblematik sollte dann in die eigenen Forschungsprojekte einfließen, sei es in Form direkter Beobachtungen von Bild-Diskursverhältnissen, sei es durch Anregungen methodologischer Art. Umgekehrt konnte der Künstler Anregungen aus den Beiträgen der Studierenden beziehen, wobei besonders die Frage der Darstellbarkeit von Katastrophen überhaupt im Vordergrund stand. Denn lassen sich Schmerz, Leid und Katastrophen eigentlich überhaupt ästhetisch darstellen, oder steht eine solche Behandlung nicht immer in der Gefahr des Geschmäcklerischen oder der Verharmlosung? Dies ist in der historischen Diskussion (etwa anlässlich der Shoah, wie etwa Theodor W. Adorno in besonders einflussreicher Weise zu bedenken gab) immer wieder von Kritikern und Gegnern behauptet worden, die z.B. moralische Bedenken äußerten – wogegen aber vom Künstler der plausible Standpunkt entwickelt wurde, dass Kunst gerade ein geeignetes, kommensurables Medium zur Gedächtnisbildung sein kann, wenn sie der Gefahr der Idyllenbildung entgeht und mit Brüchen, Spannungen oder Widersprüchen arbeitet. Dass überhaupt das Thema ausführlich und mit anschaulichen, konkreten Bildobjekten debattiert wurde, schärfte das Problembewusstsein der Studierenden ganz offenbar auch für die eigene Themenbehandlung, wie sich später in ihren schriftlichen Arbeiten zeigte. Die Frage

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nach der „Darstellbarkeit“ (in ihren ästhetischen, kognitiven, emotionalen und moralischen Dimensionen) ist seit den gemeinsamen Tagen im Atelier eine Leitperspektive geblieben, und zwar dahingehend, wie überhaupt jenseits einer bloß diskursiven oder informativen Ebene solche Verbildlichung und Thematisierung exzessiven Leidens (der unmittelbar Betroffenen und der Hinterbliebenen) möglich sein kann. Insofern ließ sich auch beobachten, dass der Zugang über das Bildmedium nicht nur für die eigene Reflexion des Erkenntnismediums, sondern auch für die ‚angemessene‘ Darstellung von Ergebnissen sensibilisierte. Insgesamt konnte die Vermutung bestätigt werden, die als wissensgeschichtliche Diagnose spätestens mit dem Darstellungsprojekt Räume des Wissens (vgl. Rheinberger, Hagner & Wahrig-Schmidt 2004) in den Blickpunkt gerückt ist – dass nämlich die Inszenierungen von Forschungssettings bereits auf die Untersuchungen und ihre Ergebnisse einwirken und ihre Darstellungen nicht nur fertige Erkenntnisse ‚versichtbaren‘, sondern solche Modi der Präsentation auf die Wissensbestände einwirken (vgl. Breidbach 2005). Nebenbei korrespondiert dies auch der semiotischen Einsicht, dass Erkenntnis nicht auf sprachliche, symbolische oder arbiträre Zeichen beschränkt ist, sondern sich auch in präsentativ-bildlicher Logik vollziehen kann (vgl. hierzu die Unterscheidung Susanne K. Langers 1984, die an Ernst Cassirers Phiolosophie der symbolischen Formen anknüpft). Zumal in Bochum, namentlich in der Schule Max Imdahls oder Gottfried Boehms, ist seit langem auf die Eigenlogik der Bildzeichen bzw. des Sehens als primärem Erkenntnisorgan hingewiesen worden (vgl. Imdahl 1994, 1996; Boehm 1994). Unsere Themenbehandlung konnte dies jedenfalls für die Studierenden auch methodologisch evident machen. Die Präsentation der Forschungsergebnisse der Studierenden fand am Ende des Seminars in einer eigens aufgebauten Ausstellung gemeinsam mit ca. 500 Arbeiten aus Finkes Werk 2753. To the People of New York in den Räumlichkeiten des Bochumer Museums KUBUS / Situation Kunst (für Max Imdahl) von April bis Juni 2018 statt. Im Rahmen der Exkursion wurden die Ausstellung sowie weitere öffentliche Veranstaltungen zum Seminarthema,

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die ebenfalls in der Zeit der Ausstellung im KUBUS der Situation Kunst stattfanden, gemeinsam geplant und anschließend auch gemeinsam durchgeführt. Studierende halfen bei der aufwändigen Installation bzw. der Hängung der 500 Einzelbilder, standen für Erläuterungen gegenüber Ausstellungsbesuchern zur Verfügung und wirkten auch bei der Beaufsichtigung sowie beim Abbau der Ausstellung mit. Damit ist auch auf die soziale Dimension forschenden Lernens hinzuweisen: Nach unseren Beobachtungen und auch durch die Rückmeldungen der Studierenden wurde deutlich, dass solche Szenarien von Wissenschaftspraxis wohl für kleinere Gruppen ganz besonders geeignet sind. Ferner gibt es Hinweise darauf, dass sie nicht nur für Fortgeschrittene Gewinn bringen, sondern auch schon in Basisseminaren sinnvoll eingesetzt werden können, weil sie nicht nur attraktiv sind, sondern hohe Bindungskraft aufweisen und das eigenverantwortliche Handeln entscheidend fördern. Hier zeigte sich auch, dass Forschung und Lehre einen Wechselkreis bilden, an dem beide Seiten, Hochschullehrende und -lernende, teilhaben: Die eine Seite profitiert, indem sie Ergebnisse spiegelt und Forschungsbestände einer kritischen Einschätzung bzw. Revision aussetzt, die andere, indem sie partizipiert und dadurch den eigenen Horizont erweitert. Dabei ist allerdings anzumerken, dass beim „forschenden“ Lehren und Lernen nicht unbedingt an theoretisch fundierte und methodisch kontrollierte Forschungsprojekte auf höchstem Niveau gedacht werden sollte. Auch im hier skizzierten Seminar ging es in aller Regel eher um fragmentarisch gebliebene Versuche empirischer und theoretischer Erkundungen, die nicht selten an eine Art experimentellen Einsatz der ganzen Person gebunden war. Die intellektuelle Neugier und auch das Niveau der wissenschaftlichen Fragen und Anfragen – die auch wissenschaftliche Selbstkritik auf den Plan riefen – war nach unserer Erfahrung außergewöhnlich hoch.

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Literatur Boehm, Gottfried (Hg.) (1994): Was ist ein Bild? München. Breidbach, Olaf (2005): Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung. München. Knubben, Jürgen (Hg.) (2014): Romain Finke - 2753. To the People of New York City, Bd.1. Freiburg im Breisgau. Finke, Romain (Hg.) (2017): Romain Finke - 2753. To the People of New York City, Bd. 2. Freiburg im Breisgau. Imdahl, Max (1994): Ikonik. Bilder und ihre Anschauung. In: Boehm, Gottfried (Hg.) (1994): Was ist ein Bild? München: S. 300-324. Imdahl, Max (1996): Giotto – Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik. München. Langer, Susanne K. (1984): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt a.M. [Original 1942]. Rheinberger, Hans-Jörg, Hagner, Michael & Wahrig-Schmidt, Bettina (Hg.) (2004): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin.

Die Sozialwissenschaften im Theater Paul Sebastian Ruppel, Jürgen Straub & Pradeep Chakkarath Einleitung Das Theater eröffnet in mehrfacher Hinsicht ein für sozialwissenschaftliche Forschung ertragreiches Feld. Neben der empirischen Beschäftigung mit den unterschiedlichen Arbeits- und Lebensformen von „Theaterleuten“ – Schauspieler_innen, Intendant_innen, Regisseur_innen, Dramatiker_innen und Dramaturg_innen, Masken- und Kostümbildner_innen, Bühnenausstatter_innen, Licht-, Ton- und anderen Techniker_innen etc. – sind etwa das Publikum, die Kritiker_innen und die (z.B. geschlechts-, schicht-, milieu- oder kulturspezifische) Rezeption der Stücke von Interesse. Außerdem können zahlreiche psychosoziale und soziokulturelle Phänomene von genereller Bedeutung erforscht werden, auch unter Einbeziehung der literarischen ‚Stoffe‘ selbst, die auf die Bühne gebracht werden. Im Theater und rund ums Theater sind bleibende und sich wandelnde Selbst-Welt-Verhältnisse von Menschen, ihre alltäglichen und außeralltäglichen Gedanken und Gefühle, ihre Sorgen und existenziellen Nöte, ihre Träume, Phantasien und Sehnsüchte allgegenwärtig. Sozialwissenschaftler_innen können Formen des Erlebens und der Konstruktion von Wirklichkeit untersuchen, individuelle Schicksale und kollektive Identitäten sowie allerlei Abenteuer menschlichen Zusammenlebens. Es ist im Übrigen kein Zufall, dass das Theater als Metapher für das Leben längst in die Begriffs- und Theoriebildung der Sozialwissenschaften eingegangen ist. Das zeigt sich etwa in der soziologischen Rollentheorie, in George H. Meads Betonung des Rollenspiels bereits für die frühkindliche Sozialisation oder expliziter noch in Erving Goffmans Ansatz, der soziale Interaktion ganz grundsätzlich am Vorbild des Geschehens auf der Bühne modelliert und behauptet: „Wir alle spielen Theater“, und zwar unablässig im Rahmen einer nur kurzzeitig pausierenden „Selbstdarstellung im Alltag“ (Goffman 2009/1959).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_27

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Nicht zuletzt bieten Forschungen im und rund ums Theater interessante Möglichkeiten zur Kooperation zwischen Wissenschaft und Kunst – mit dem Ziel einer womöglich wechselseitigen Bereicherung. Eine solche Zusammenarbeit regt die Wissenschaften unter anderem dazu an, die in den darstellenden Künsten längst etablierten, jedoch für die Forschung bislang noch kaum genutzten Darstellungsformen auch in genuin wissenschaftlichen Zusammenhängen zu erproben und zu etablieren – eine Anregung, die sich u.a. der sogenannten „performativen Sozialwissenschaft“ verdankt (Gergen 2019; Gergen & Gergen 2010; Mey 2018) und mittlerweile z.B. auch im als „ArtsBased Research“ (ABR; siehe etwa Leavy 2015) bezeichneten Ansatz ihren Ausdruck findet. Mit dem besonderen Augenmerk auf das Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Inszenierung, das allem Theatralischen wie auch allem Sozialen innewohnt, greift das im vorliegenden Beitrag vorgestellte Projekt solche Anregungen auf. Zur Mitwirkung im Projekt Die Sozialwissenschaften im Theater sind Bachelorstudierende aus unterschiedlichsten Disziplinen eingeladen.1 Sie sollen mit qualitativen Forschungsmethoden ausgewählte Aspekte der Arbeits- und Lebenswelten von Theaterschaffenden (im weitesten Sinne des Wortes, der auch die Rezipient_innen ihres Schaffens einbezieht) erkunden. Im Projekt wird dabei eine doppelte Hinwendung zum Theater vollzogen, insofern seine Umsetzung im Sinne einer performativen Sozialwissenschaft erfolgt (siehe oben; vgl. in diesem Zusammenhang auch Lagaay & Seitz 2018). Die darstellenden Künste sind für die im Rahmen des Projekts durchgeführten, jeweils zweisemestrigen Lehrforschungsprojekte sowohl Forschungsgegenstand und damit Datenquelle als auch Inspirationsquelle für die Ergebnispräsentationen, welche selbst als Performances angelegt und tatsächlich 1

Initiiert wurde das Projekt 2012 von Jürgen Straub und Mario Paul mit einem erfolgreichen Antrag während der ersten Förderphase von inSTUDIES. Das Vorhaben wurde vom 1.10.2013 bis zum 30.9.2015 in wechselnden Konstellationen – mit Mario Paul und Jürgen Straub, später mit Pradeep Chakkarath und Paul Sebastian Ruppel als Dozenten – verfolgt und umgesetzt. Am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie wird auch weiterhin eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Kunst avisiert, wie sie bereits in unterschiedlichen Lehr- und Forschungsformaten realisiert werden konnte (siehe dazu auch Ruppel & Straub, in diesem Band).

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mittels Schauspiel, Musik, Tanz, Film und Installation multimedial verwirklicht werden. In Kooperationen mit den Bad Hersfelder Festspielen sowie dem Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT), konnten die bislang erzielten Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit präsentiert und – nach den experimentellen, kreativen Aufführungen durch die Studierenden – mit dem Publikum eingehend diskutiert werden. Die Reflexion auf den performativen, kunst-nahen Charakter der öffentlichen Vermittlung von studentischen Forschungsergebnissen (im Begleitprogramm der Bad Hersfelder Festspiele bzw. im Abendprogramm des FFT in Düsseldorf) bleibt bis zum Abschluss der Projekte ein wesentlicher Bestandteil dieser unkonventionellen Form Forschenden Lernens. Konzeption der Lehrforschungsprojekte, hochschuldidaktische Zielsetzung und Arbeitsmodi Die Lehrforschungsprojekte werden interdisziplinär und für den Optionalbereich der Ruhr-Universität Bochum als Angebot für Bachelorstudierende aller Disziplinen konzipiert. In der Fakultät für Sozialwissenschaft gilt das Angebot gleichzeitig als Empiriemodul, in dem über ein Jahr hinweg die zwar begleitete und betreute, im Kern aber eigenständige Planung und Durchführung eines Forschungsprojekts, mithin die intensive Auseinandersetzung mit qualitativen Forschungsmethoden im Zentrum steht (für einen Überblick zu Methoden qualitativer Forschung vgl. Mey & Ruppel 2018). Ein Dutzend Teilnehmende pro Durchgang sollen im Sinne des Forschenden Lernens alle Phasen des Forschungsprozesses kennenlernen und so systematisch sozialwissenschaftliche Forschungs- und Methodenkompetenzen erwerben.2 Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auch auf der Ergebnisdarstellung mit dem Ziel, 2

Es liegt auf der Hand, dass komplexe Ansätze der interpretativen, rekonstruktiven Datenanalyse (wie die dokumentarische Methode, die Relationale Hermeneutik, die objektive Hermeneutik oder die psychoanalytische Tiefenhermeneutik) im Bachelor-Studium kaum zum Zuge kommen. Das stellte eine Überforderung von Studierenden dar, die sich

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die qualitative Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung mit einer performativen Ergebnispräsentation gewinnbringend zu kombinieren. Mit der Übersetzung der Forschungsprozesse und -ergebnisse in eine schauspielerische Performance ist die anspruchsvolle Herausforderung verbunden, eine Übertragung von einer Wissenskultur in eine andere sowie die Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitsresultate an einen heterogenen Adressat_innenkreis zu meistern. Neben theoretischen und thematischen Perspektiven zur Rolle von Performanz und Performanzen in der sozialen Welt sowie der Entwicklung methodischer Expertise ist es ein wichtiges Anliegen, auch fachunabhängige und berufsqualifizierende Schlüsselqualifikationen zu vermitteln (zum Verhältnis von qualitativer Forschung und Schlüsselqualifikationen vgl. Albrecht, Kunz, Mey & Raab 2020). Die Erweiterung festgelegter Themen und Inhalte um einen vornehmlich von den Studierenden selbst-organisierten Lernprozess zielt auf die Förderung von Kreativität und die Peer-to-Peer-Kooperation in studentischen Forschungsgruppen. Auch die Entwicklung sozialer Kompetenzen in der Zusammenarbeit mit außeruniversitären (künstlerischen) Partner_innen und Institutionen ist ein offenkundiges Ziel des Projekts. Die regelmäßigen Seminarsitzungen dienen zunächst der theoretischthematischen Einführung sowie der Vermittlung methodischer Kompetenzen. Im Seminarverlauf wird die Veranstaltung sukzessive zu einer Forschungswerkstatt umgestaltet (vgl. die Vorschläge zur „Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens“ von Mruck & Mey 1998). Je näher die performativen Abschlusspräsentationen rücken, desto mehr wird das Geschehen vom Seminarraum auf die (Probe-)Bühne verlagert.

ab dem zweiten, dritten Semester zunächst mit verschiedenen Verfahren der Datenerhebung (z.B. narratives Interview, Gruppendiskussion) sowie einfacheren, theoretisch und methodologisch weniger voraussetzungsvollen Ansätzen der Datenauswertung (z.B. der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring 2010) vertraut machen müssen.

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Arbeitsergebnisse und Präsentationsformen Als Kernstück der Ergebnispräsentation dürfen die performativen Darstellungen des Forschungsprozesses und seiner Resultate gelten. Im ersten Lehrforschungsprojekt wurde von den Studierenden eine 75-minütige Matinee unter dem Titel 4 THINGS ABOUT THEATRE: erlebt-beforscht-performt im Rahmenprogramm der Bad Hersfelder Festspiele im voll besetzten Grebe-Keller am 6. Juli 2014 durchgeführt. In der als öffentliche Abschlusspräsentation konzipierten Matinee kamen die vier Teilforschungsprojekte der Studierenden im Sinne performativer Sozialwissenschaft zur Darstellung. Öffentlicher Abschluss des zweiten Durchlaufs war eine einstündige Performance unter dem Titel Performative Erkundungen – Forschen in szenierten Welten, die in einer Abendvorstellung auf der Hauptbühne der Kammerspiele des FFT Düsseldorf am 27. Juni 2015 von den Studierenden auf der Grundlage ihrer fünf Teilforschungsprojekte präsentiert wurde. Der Performance folgte ein von den Studierenden inhaltlich konzipiertes und moderiertes Publikumsgespräch. Für die Aufführungen haben die Studierenden neben Flyern, Plakaten und Texten für die Öffentlichkeitsarbeit auch umfangreiche Programmbroschüren erstellt. Daneben werden in allen hier vorgestellten und verwandten Lehrforschungsprojekten von den Studierenden Forschungstagebücher geführt und Forschungsberichte abgefasst, in denen der gesamte Forschungsprozess und die Ergebnisse dokumentiert sind. Obligatorisch ist außerdem eine reflektierende Einordnung der performativen Umsetzung, um die mit der eigenen Forschung und Performance verbundenen Überlegungen – bis hin zu dramaturgischen Aspekten der Aufführung – intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.

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Inner- und außeruniversitäre Kooperationen Die Arbeit in den Lehrforschungsprojekten ist geprägt von intensiver Kooperation mit inner- und insbesondere außeruniversitären Partner_innen und Institutionen, welche von zentraler Bedeutung für das Projekt sind. Für den interdisziplinären Austausch konnte unter anderem ein Gastvortrag von Günter Mey zum Thema Performative Sozialwissenschaft realisiert werden, in dessen Rahmen sich die Studierenden mit ihm über Methoden qualitativer Forschung und performativer Sozialwissenschaft austauschen und so ihre jeweiligen Projekte weiter präzisieren konnten. Mit dem Theaterwissenschaftler, Regisseur und konzeptionellen Künstler Sven Lindholm konnten entlang seines Gastvortrags Szenisches Forschen vs. Performative Sozialwissenschaft Fragen nach Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen künstlerischen Arbeitsprozessen und wissenschaftlichen Formen der Datenanalyse vertieft werden. Im Bereich der Zusammenarbeit mit außeruniversitären Partner_innen und Institutionen kam es zu einer Kooperation mit Holk Freytag, der zum Zeitpunkt des ersten Lehrforschungsprojekts Intendant der Bad Hersfelder Festspiele war und ermöglichte, dass die Abschlusspräsentation im Rahmenprogramm der Festspiele stattfinden konnte. In diesem Kontext wurde auch die Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Stephan Ullrich verwirklicht, mit dem eine der studentischen Forschungsgruppen intensiv an ihrer Performance arbeitete, in die sein Auftritt mit eingebunden war. Als Kooperationspartner für das zweite Lehrforschungsprojekt wurde das FFT Düsseldorf gewonnen. Mit dem Dramaturgen und Produktionsleiter Christoph Rech sowie der Dramaturgin Katja Grawinkel-Claassen konnte im Zuge einer sehr produktiven Kooperation die Performance erarbeitet werden. Dies erfolgte mit intensiven Proben im Theater selbst und mittels bedarfsbezogener kritischer Begleitung durch die professionell Kunstschaffenden. Auch im Rahmen von Exkursionen konnten Kooperationen angebahnt bzw. vertieft werden. So wurde die Vorbereitung der Performance des zweiten Lehrforschungsprojekts von einer Theaterexkursion nach Berlin flankiert, bei der die Studierenden mit der Projektleitung zwei Produktionen im Rahmen des Berliner Theatertreffens im Maxim Gorki Theater und im English

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Theatre Berlin besuchten. Das Lehrforschungsprojekt war zudem einen halben Tag zu Gast bei der Staatsoper Unter den Linden. Dort gab es eine Führung durch den Bühnenmeister, der Verantwortlichkeiten und Arbeiten am Ort des Geschehens veranschaulichte. Die Leiterin des Pressebüros, Victoria Dietrich, organisierte eine individuelle Besichtigung des gesamten Hauses. Im Anschluss fand eine Diskussion mit ihr und dem Dramaturgen Roman Reeger statt, auch um Fragen der performativen Auseinandersetzung mit Themen zu reflektieren, die für Kunst und Wissenschaft gleichermaßen bedeutsam sind. Der enge Austausch und die Kooperation mit Professionellen aus der Kunst eröffnet ganz generell mehrere Chancen, von denen hier lediglich drei exemplarisch genannt seien: a) Sensibilisierung für ästhetische Potenziale der Künste und der Wissenschaften Die Studierenden bekommen durch ihren Kontakt mit dem professionellen Handlungskontext – Spielstätten mit internationalem Renommee – die Möglichkeit, performativ-ästhetisierende Inspirationen zu sammeln, zu analysieren und zu kritisieren, um die eigenen Performances im Hinblick auf darstellerische Mittel zu hinterfragen und selbstdefinierte Zielsetzungen weiter zu entwickeln und zu explizieren. Wird das Theater im Forschungsverlauf zunächst als ein Medium zu sehen gelernt, das man in sozial- und kulturanalytischer Perspektive unter zahllosen Gesichtspunkten erforschen kann, wird für die eigenen Performances die Wahl des Mediums zur Präsentation von Forschungsergebnissen immer virulenter. Der Austausch mit Kunstschaffenden, der Besuch ihrer Wirkungsstätten und ihrer Darbietungen kann die Beschäftigung mit Fragen zu ästhetisch ansprechenden sowie inhaltlich-konzeptuell angezeigten, fruchtbaren Formen der Darstellung intensivieren und damit einhergehende Möglichkeiten und Grenzen ausloten helfen. In diesem Prozess ist auch die Kultivierung von ausdrücklich performativen Kommunikationsformen bzw. -kulturen intendiert, die an die Seite sozial- und kulturwissenschaftlicher Mitteilungsformen treten können.

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b) Sensibilisierung für gesellschaftspolitische Dimensionen der Künste und der Wissenschaften Der Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst bietet Anschlusspunkte für sozial- und kulturwissenschaftliche Reflexionen gerade auch über allgemeine gesellschaftspolitische Problembereiche. Für die Studierenden eröffnet sich die Chance, mit der Zeit aus der Rolle der Forschenden herauszuschlüpfen und die Perspektiven von gesellschaftspolitisch engagierten Künstler_innen kennenzulernen und en passant normative Aspekte der eignen Forschungsarbeiten, gerade auch im Hinblick auf ihre öffentliche Präsentation, vertiefend zu reflektieren. c) Sensibilisierung für professionelle Arbeitsteiligkeit der darstellenden Künste Nicht zuletzt gewährt eine intensive Kooperation zwischen Wissenschaft und Kunst differenzierte Einblicke in die Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Theaterszene (oder verwandter Milieus). Dies ermöglicht die weiterführende Bearbeitung von Fragen wie: Wie funktioniert ein Theater? Wer sind die Machenden, was tun sie, wie, warum und wozu? Wer gestaltet wann und was an einer Produktion und wie sind die organisationalen Strukturen aufgebaut? Es ist nicht zuletzt diese Arbeitsteiligkeit, welche für die eigenen Performances von den Studierenden in der Folge selbst nachgeahmt und in einer kooperativen Peer-to-Peer-Arbeit umgesetzt werden muss. Institutionelle Verstetigung: Performative Ansätze in curricular verankerten Formaten Forschenden Lernens Die Umsetzung des im Projekt erarbeiteten Wissens und die hochschuldidaktische Fortschreibung performativer Möglichkeiten kann durch die Weiterführung bzw. Implementierung in nachfolgenden Lehrforschungsprojekten geleistet werden (vgl. hierzu auch den Beitrag von Köhnen, Plontke & Straub zum Projekt Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst, in diesem Band). Die Fortführung bestehender sowie die Etablierung und Verstetigung von neuen

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Kooperationsbeziehungen mit Partner_innen sowie Institutionen aus dem Feld der Kunst ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die erfolgreiche Umsetzung der Projektidee in zukünftigen Formaten.3 Derlei Kooperationen legen den Grundstein für die Arbeit. Viele Kooperationen verdanken sich unserer Erfahrung nach primär persönlich-freundschaftlichen Kontakten zwischen den Projektverantwortlichen sowie den Künstler_innen bzw. der Verbundenheit mit ihren Wirkungsstätten. Daher sind sie stärker an Personen gebunden als formalisierte Formen der Zusammenarbeit und, sobald diese persönlichen Beziehungen und Bindungen wegfallen, nicht sofort weiter nutzbar bzw. nahtlos reaktivierbar. Die Projekterfahrungen machen deutlich, dass äußerst erfolgreiche Kooperationen mit überregional bzw. international renommierten künstlerischen Partner_innen und Institutionen im Rahmen innovativer Lehrforschungsprojekte möglich und gewinnbringend sind. Eine mittel- bzw. langfristig angelegte Fortschreibung bestehender Kooperationen bedarf jedoch personeller Kontinuität sowie finanzieller Planungssicherheit und beständiger Pflege. Die Kooperation mit etablierten Theatern beispielsweise verlangt gewöhnlich eine vergleichsweise langfristige Vorausplanung und verbindliche Arrangements. Dies stellt ein strukturell zu berücksichtigendes Erfordernis für Projekte mit dieser Ausrichtung dar. Forschendes Lernen in dieser Form beginnt bereits lange vor der Konzeption der studentischen Forschungsprojekte und findet mit der öffentlichen Performance sowie der Niederschrift und Bewertung der Forschungsberichte nicht zwangsläufig seinen Abschluss. Kooperationen lassen sich planen. Doch ist die Frage nach der für alle Beteiligten als angemessen empfundenen Beendigung bzw. mehr oder weniger offenen Weiterführung unseres Erachtens ebenso relevant wie die Initiierung von Kooperationen. Um etwa-

3

Die hier verfolgte performative Erschließung und Darstellung sozialwissenschaftlicher Phänomene fand ihre Fortsetzung u.a. in Seminaren, für die 2017 und 2018 Christian Scholze (Dramaturg am Westfälischen Landestheater) als Dozent und Julia Naunin (damals Leiterin des Musischen Zentrums der Ruhr-Universität Bochum, gegenwärtig Dramaturgin bei der Ruhr-Triennale) als Kooperateurin gewonnen werden konnten.

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igen Enttäuschungen vorzubeugen, ist es wichtig abzuschätzen, welche Zusagen hochschulseits realistischerweise möglich sind. Dies gilt vielleicht insbesondere für die auf Langfristigkeit angelegten Kooperationen, in deren Rahmen der universitäre Part keine nennenswerten finanziellen Mittel zur Verwirklichung einbringen kann und gleichzeitig auf einen großen Vertrauensvorschuss seitens des künstlerischen Parts angewiesen bleibt. Ausblick Abschließend seien ein paar wenige Aspekte hinsichtlich der Herausforderungen und Potenziale im Falle einer Weiterführung zentraler Projektideen skizziert. Herausforderungen solcher Veranstaltungsformate können – zumindest zeitweise auftauchende – studentische Berührungsängste mit einer performativen Ergebnispräsentation sowie Schwierigkeiten bei der Definition von Arbeitspaketen darstellen. Dies sollte durchaus bereits bei der Auswahl der Teilnehmenden bedacht werden, wobei das Format es auch möglich macht, sich bei der Präsentation nicht ausschließlich auf der Bühne, sondern auch hinter der Bühne einzubringen, wie es der Arbeitsteilung am Theater entspricht. Bezüglich der Arbeitsverpflichtungen ist von Zeit- und Vereinbarkeitsproblemen sowie einer anspruchsvollen Verteilung des Workloads auszugehen. Eine große zeitliche Flexibilität und gesteigerte persönliche Offenheit aller Beteiligten erscheinen unabdingbar. Bei derlei offen angelegten Formaten können sich daneben Steuerungsprobleme im Umgang mit Freiheiten ergeben, die eine große Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz voraussetzen bzw. diese aufbauen helfen können. Entstehende Gruppendynamiken sollten idealiter mit Unterstützung einer externen Supervision bearbeitet werden können. Konventionellere Formen der Evaluation und Bewertung müssen – in für alle Beteiligten transparenter Form – an das Lehr-Lern-Setting angepasst werden, um der performativen Umsetzung von Forschungsprozessen und ihren -ergebnissen angemessen Rechnung tragen zu können. Nicht zuletzt besteht als zentrale Herausforderung für Formate dieser Art die Finanzierung sowie der Umgang mit der starken Abhängigkeit von den externen Partner_innen.

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Als Potenziale eines solchen Formats sind insbesondere der TheoriePraxis-Transfer und die verantwortliche Teamarbeit während des Gesamtprozesses hervorzuheben, wobei die gemeinschaftliche Zusammenarbeit mit der eigenständigen Reflexion aller Entscheidungsschritte einhergeht und die Chance – aber auch die Notwendigkeit – mit sich bringt, öffentlich für die eigenen Forschungsergebnisse einzustehen. Im Idealfall kann sich in diesem Rahmen ein sehr intensiver interdisziplinärer Austausch ergeben, in dessen Verlauf auch die Organisations- und Reflexionsfähigkeiten der Beteiligten gesteigert werden. Die Ergebnispräsentation als Performance kann die Motivation und Eigeninitiative erhöhen, Kreativität fördern und die Persönlichkeitsentwicklung bereichern. Die disziplinären Grenzen der Umsetzung eines solches Formats erachten wir als vergleichsweise gering, eine interdisziplinäre Ausrichtung als überaus fruchtbar. Die in diesem Rahmen vermittelten soft skills sind unseres Erachtens von allgemeiner Bedeutung und keinen prinzipiellen disziplinären Begrenzungen unterworfen. Vielmehr erscheint uns gerade die Öffnung eines weiten Raums zum gedanklichen und praktisch-handelnden Explorieren disziplinunabhängig verheißungsvoll, wenn es gelingt, in den Sozialwissenschaften initiierte Arbeiten im Sinne der performativen Sozialforschung in andere Disziplinen zu transferieren und mit dort sich entwickelnden, anschlussfähigen Ansätzen zu verbinden. Die Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaften und den Künsten ist, dies haben mittlerweile viele Projekte wie das vorgestellte gezeigt, möglich und fruchtbar, ohne eine Aufweichung wissenschaftlicher Ansprüche und Ambitionen befürchten zu müssen.

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Literatur Albrecht, Felix, Kunz, Alexa Maria, Mey, Günter & Raab, Jürgen (Hg.) (2020): Qualitativ Forschen als Schlüsselqualifikation. Prämissen – Praktiken – Perspektiven. Weinheim [im Druck]. Gergen, Mary (2019): Performative Sozialwissenschaft. Eine Annäherung. In: Straub, Jürgen, Chakkarath, Pradeep & Rebane, Gala (Hg.) (2019): Kulturpsychologie in interdisziplinärer Perspektive. Hans-Kilian-Vorlesungen zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Psychologie und integrativen Anthropologie. Gießen: S. 289-312. Gergen, Mary M. & Gergen, Kenneth J. (2010): Performative Sozialwissenschaft. In: Mey, Günter & Mruck, Katja (Hg.) (2010): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: S. 358-366. Online unter: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92052-8_25 Goffman, Erving (2009): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 7. Auflage. München [Original 1959]. Lagaay, Alic & Seitz, Anna (Hg.) (2018): Wissen Formen – Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. Erkundungen mit dem Theater der Versammlung. Bielefeld. Leavy, Patricia (2015): Method meets art. Arts-based research practice. 2. Auflage. New York. Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. In: Mey, Günter & Mruck, Katja (Hg.) (2010): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: S. 601-613. Mey, Günter (2018): Performative Sozialwissenschaft und psychologische Forschung. In: Mey, Günter & Mruck, Katja (Hg.) (2018): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden. Online unter: https://doi.org/10.1007/978-3-65818387-5_29-1 Mey, Günter & Ruppel, Paul S. (2018): Qualitative Forschung. In: Decker, Oliver (Hg.) (2018): Sozialpsychologie und Sozialtheorie, Bd. 1: Zugänge. Wiesbaden: S. 205-244. Online unter: https://doi.org/10.1007/ 978-3-531-19564-3_14

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Mruck, Katja & Mey, Günter (1998): Selbstreflexivität und Subjektivität im Auswertungsprozeß biographischer Materialien – zum Konzept einer „Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens“ zwischen Colloquium, Supervision und Interpretationsgemeinschaft. In: Jüttemann, Gerd & Thomae, Hans (Hg.) (1998): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Weinheim: S. 284-306.

Lenz-Herbst – Ein Symposium zum Theater von J.M.R. Lenz. Mit Vorträgen, Lesungen und Präsentationen Judith Schäfer Ausrichtung und Aufbau des Projekts Das Projekt widmet sich dem bisher wenig erforschten Theater des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) aus theater- und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Es entstand in Kooperation zwischen dem Institut für Theaterwissenschaft der RUB (Judith Schäfer) und dem Institut für Germanistik der Universität Hamburg (Julia Freytag) mit dem Theater an der Ruhr (Mülheim) auf Initiative von Judith Schäfer. Das Projekt lief einsemestrig von April 2016 bis Oktober 2016. Dem eigentlichen Projekt (Projektseminar und anschließendes Symposium) ging ein reguläres Seminar (2 SWS) mit Lektüren der wichtigsten Texte von J.M.R. Lenz und der Auseinandersetzung mit relevanten Theorien voraus. Das anschließende (geförderte) Projektseminar (2 SWS) diente der inhaltlichen Vorbereitung wissenschaftlicher und künstlerischer Präsentationen der Studierenden sowie der Konzeption, Organisation und Durchführung des Symposiums. Dieses Seminar war über flexible Präsenzphasen in Arbeits- und Konzeptionstreffen gegliedert. Am Projektseminar mit Symposium beteiligten sich insgesamt acht Studierende der Bochumer Theaterwissenschaft unter Leitung von Judith Schäfer und acht Studierende der Hamburger Germanistik unter Leitung von Julia Freytag. Das Symposium fand am 8. und 9. Oktober 2016 am Theater an der Ruhr statt. Das Programm und Programmheft, die Pressearbeit, die Kommunikation mit dem Theater und die Zwischenmoderation sowie der Großteil der wissenschaftlichen Vorträge und künstlerischen Präsentationen wurden –

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_28

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stets durch die zuständige Dozentin betreut und unterstützt – von den Studierenden gestaltet und ausgerichtet. Zudem waren drei Gastredner_innen (ein Professor, eine Postdoktorandin und ein Doktorand), die künstlerische Leitung (Regie und Dramaturgie) sowie Schauspieler_innen des Theaters als weitere Beitragende beteiligt. Besucht wurde die Veranstaltung von insgesamt ca. 40 Personen aus dem inner- und außeruniversitären Kontext. Projektevaluation1 Zur Vereinbarkeit von Theorie und Praxis und ihren Schnittstellen Die Kombination von wissenschaftlichen und künstlerischen Präsentationen wurde sowohl von den Studierenden als auch von Gästen, Gastredner_innen, der Leitung und dem Ensemble des Theaters als sehr fruchtbar wahrgenommen. Sie trug entscheidend zur Vielfalt des Symposiums bei: einerseits inhaltlich, da sie je andere Schlaglichter auf die Thematik ermöglichte, andererseits dramaturgisch, da das Publikum mit unterschiedlichen Formaten konfrontiert wurde. Für das gemeinsame Nachdenken im Plenum wirkten sich die Perspektivwechsel bereichernd aus, da Vertreter_innen aus Kunst und Wissenschaft gut miteinander ins Gespräch kamen. Die Studierenden erfuhren, dass nicht allein die künstlerischen Projekte, sondern auch und vor allem die Arbeit an einem Vortrag als sowohl wissenschaftliche wie auch praktische Arbeit zu begreifen ist: Ein Vortrag kann eine praktisch ausgeführte, dargestellte oder vermittelte Theorie sein. Seine Erarbeitung ist theoretische und praktische Arbeit gleichermaßen. Umgekehrt arbeiten die künstlerisch forschenden Projekte mit theoretischem Wissen und sind häufig mit wissenschaftlichen Fragestellungen konfrontiert bzw. werfen selbst solche Fragen auf.

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Die im Folgenden berichteten Ergebnisse beruhen auf Diskussionsbeiträgen eines ausführlichen Feedbackgesprächs mit den Teilnehmer_innen.

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Orientierung und Selbstverortung im akademischen Berufsfeld Es gab von Beginn an ein hohes Bewusstsein dafür, dass die eigene Forschungsfrage und die Ergebnisse einem breiteren Publikum präsentiert werden würden. Der dadurch erzeugte ›positive Stress‹, verbunden mit einer festen Frist (Termin des Vortrags), wurde von den Studierenden als Herausforderung und besonders motivierend erlebt. Durch den Austausch mit anderen Wissenschaftler_innen wurde das eigene Thema mit aktuellen Forschungen in Beziehung gesetzt und auf diese Weise kontextualisiert, wodurch Wissenschaft als berufliche Praxis direkt erfahrbar wurde. Die Möglichkeit, selbst einen Beitrag zu erarbeiten, ihn (mehrfach) in der Gruppe zu diskutieren und ihn schließlich vor einem Publikum vorstellen und mit diesem teilen zu können, war für die Studierenden eine wichtige Erfahrung und eine berufsorientierende Hilfestellung. Interdisziplinarität des Projektes Die Interdisziplinarität des Projekts war bereits im vorbereitenden Seminar gegeben, da nicht nur Texte verschiedener Gattungen, sondern überdies Hörspiele und Inszenierungen besprochen wurden. Interdisziplinarität zwischen Theater- und Literaturwissenschaft war von Beginn an für die kritische Rezeption der einbezogenen Forschungsliteratur bedeutsam. Diese Integration facheigener und fachfremder Zugänge wurde durch den Austausch mit dem Seminar der Hamburger Germanistik intensiviert. Auch zwischen den Perspektiven von Theaterwissenschaft und Szenischer Forschung sowie zwischen diesen disziplinären Ansätzen und der Germanistik kam es zu einem regen Austausch. Die Studierenden formulierten ein gewachsenes Bewusstsein für die Unterschiede dieser Fachdisziplinen, die daraus erwachsenden Probleme sowie für die produktiven Aspekte der Kooperation.

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Durchführung der Veranstaltung: Seminar Neben Phasen der je eigenen Forschungsarbeit gab es regelmäßige Treffen sowie mehrere Probentage für die künstlerischen Arbeiten und Vortragsprojekte. Bei diesen Zusammenkünften war stets die gesamte Gruppe anwesend. Darüber hinaus gab es Einzelsprechstunden sowie Treffen in kleineren Gruppen (z.B. für die Gestaltung der Pressetexte oder des Programmhefts). Die Studierenden betonten im Rückblick den intensiven Austausch auch zwischen den Gruppen. Es fühlten sich stets alle Beteiligten in die Arbeitsprozesse und Vorbereitungen eingebunden, auch wenn es gerade einmal nicht (nur) um die ›eigenen‹ Projekte ging. Dieser stete Austausch wurde als sehr gewinnbringend wahrgenommen. Freiheitsgrade und Mitgestaltungsmöglichkeiten der Studierenden Der letztgenannte Aspekt des gemeinsamen Forschens stärkte bei den einzelnen Teilnehmer_innen das Gefühl der Mitverantwortung für die Kommiliton_innen und deren Arbeit. Dies führte wiederum zu einer erhöhten Motivation bei der eigenen Teilnahme und der Übernahme von Aufgaben. Die Dozentin hat auf ein ausgewogenes Verhältnis von Aufgabenübernahmen geachtet und auch die eher stillen, introvertierten Teilnehmer_innen involviert. In der Wahl des Projektthemas sowie seiner Gestaltung fühlten sich die Studierenden sowohl frei als auch gut begleitet. Inhalte aus dem Seminar konnten effektiv mit Kenntnissen aus anderen Kontexten verknüpft werden. Eine erhöhte Flexibilität gegenüber gängigen Seminar- und sonstigen Lehrstrukturen war durch die fast ausschließlich durch die Gruppe erfolgte Einteilung der Arbeitszeit gegeben. Öffentlichkeit und Präsentation der Forschungsarbeit Die Arbeiten der Studierenden wurden im Rahmen des Symposiums einem universitären wie außeruniversitären Publikum vorgestellt. Sowohl die einzelnen Arbeiten als auch das Symposium insgesamt waren sichtbare Ergebnisse des Projektseminars und konnten gemeinsam reflektiert werden. So wurde,

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anders als bei gängigen Seminarabschlussarbeiten wie einer schriftlichen Hausarbeit oder einer mündlichen Prüfung, jede (Teil-)Leistung aus mehreren Perspektiven wahrgenommen und kommentiert. Die Studierenden fühlten sich dadurch motiviert, bestärkt und ernst genommen. Die Öffentlichkeit wurde durch zwei Zeitungsartikel, Plakatwerbung, Werbung im Internet (Facebook und die Homepage des Theaters) sowie über die Verteiler der beteiligten Institute und des Theaters über das Symposium informiert. Bei dem Symposium selbst waren Studierende und Lehrende des Instituts sowie Verwandte, Freunde und andere auswärtige Gäste zugegen. Für zukünftige Formate würde sich ein Termin anbieten, der in der Vorlesungszeit oder kurz danach liegt, um eine noch größere Teilnehmerzahl zu erreichen. In Absprache mit dem Theater war in diesem Fall nur ein Termin kurz vor Beginn der Vorlesungszeit möglich. Abschließend hat ein Teil des Symposium-Teams in Zusammenarbeit mit weiteren Studierenden einige der wissenschaftlichen Symposiums-Beiträge – ergänzt um neue Texte von Studierenden – in einer Sonderausgabe der Online-Zeitschrift Thewis veröffentlicht und diese auf dem Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Düsseldorf im November 2018 vorgestellt. Durchführung der Veranstaltung: Symposium Für die Durchführung der Veranstaltung fühlte sich die gesamte Gruppe verantwortlich. Wesentliche Aufgaben (Moderation, Betreuung der Technik) waren vor der Veranstaltung verteilt worden; währenddessen trugen alle Teilnehmer_innen gemeinsam zu ihrem Gelingen bei. Es war – so auch das Feedback vieler Gäste – deutlich spürbar, dass die Studierenden als Gruppe mit Verantwortungsgefühl, Interesse und Engagement eine ihnen wichtige Veranstaltung durchführten.

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Wissens- und Kompetenzentwicklungsziele Für die Studierenden war eine klare Entwicklung ihrer kommunikativen und sozialen Kompetenzen sowie der Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Arbeiten erkennbar. Zwar waren in kürzeren Phasen während des Seminars und der Vorbereitung der Veranstaltung Einzelarbeiten zu leisten (Schreiben der Vorträge und Abstracts, Vorbereitung einer Installation etc.), jedoch wurden diese zeitnah in Feedbackgesprächen und im Kontext der gesamten Programmgestaltung immer wieder an die gemeinsame Arbeit der Gruppe rückgebunden. Wesentliche Anteile des Seminars wie der Veranstaltung selbst waren nur durch die verlässliche und teils sehr intensive Zusammenarbeit realisierbar. Diese Tatsache wie auch die daraus resultierenden (sozialen und kommunikativen) Effekte wurden als durchweg positiv evaluiert. Neben dem Erwerb fachlicher Kompetenzen betonten die Studierenden besonders den praktischen Erfahrungsgewinn durch den eigenen Vortrag vor einem fachlich geschulten und diskussionsfreudigen Auditorium. Das Vertrauen in das eigene Denken und Sprechen wurde gestärkt. Das Projekt stellte für viele eine Vertiefung ihrer bisherigen wissenschaftlichen Arbeit dar und gab eine klarere Vorstellung davon, worin diese konkret bestehen kann. Vor allem die Begegnung mit anderen Studierenden (auch anderer Fächer), die zu einem gemeinsamen Thema forschen, sowie mit den Gastredner_innen war für diese Erkenntnis produktiv. Auch die Fähigkeit, Forschungsliteratur und Einschätzungen etablierter Wissenschaftler_innen kritisch zu befragen, wurde vermittelt. Für die Studierenden, die je spezielle Aufgaben übernahmen, stellt sich der Kompetenz- und Wissenserwerb noch einmal differenzierter dar: Für die Kuratorinnen (Programm- und Programmheftgestaltung) war der Erwerb kuratorischen Wissens im Sinne einer Kontextualisierung einzelner Themen und Forschungsschwerpunkte sowie dramaturgischer Arbeit besonders ertragreich. Sie betonten außerdem ein tieferes Verständnis für verschiedene Textformen und Methoden (z.B. Synopse, Essay, Vortrag).

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Für die Pressearbeit bestand eine Herausforderung in der Komplexitätsreduktion eines Sachverhaltes bzw. wissenschaftlichen Themas, um dieses einem außeruniversitären Publikum zugänglich zu machen und es attraktiv erscheinen zu lassen. Kommunikative Fähigkeiten waren für diesen Bereich besonders von Belang und wurden geschult. Studierende verschiedener Aufgabenbereiche attestierten sich (auch gegenseitig) eine wachsende Kompetenz in der Projektorganisation sowie in der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Schwachstellen in diesem Bereich (Zeitmanagement, Gewichtung von Aufgaben etc.). Für die künstlerischen Projekte stellte sich besonders die Reflexion des wissenschaftlichen Anspruchs als herausfordernd heraus. Das Austarieren von individuellem künstlerischem Ausdruck vor einem wissenschaftlichen Hintergrund und theoretischer Reflexion wurde manchmal als ein schwieriger Prozess beschrieben. Der stete Austausch mit der Gruppe sowie die Rückmeldung von Professor Sven Lindholm (Szenische Forschung), der für einen Probentag anwesend war, wurden dabei als hilfreich wahrgenommen. Die Unsicherheit, wie wohl das Publikum auf ein künstlerisches Projekt reagieren werde, sowie die beständige Notwendigkeit der künstlerischen Flexibilität blieben dennoch weiterhin präsent. Ein Effekt dieser Unwägbarkeit und Offenheit war ein Bewusstsein dafür, dass die erlebten Verunsicherungen zum künstlerischen und künstlerisch forschenden Arbeiten hinzugehören und es ein wichtiges Lernziel sei, im künstlerischen Schaffen zugleich das Selbstbewusstsein für die eigene Position zu fördern als auch den eigenen Umgang mit Kritik zu üben und zu reflektieren. Die Studierenden stellten sich der Herausforderung, eigene künstlerische Methoden zu entwickeln. Verhältnis von Lehrenden und Lernenden Das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden entsprach einer zusammenarbeitenden Gemeinschaft mit flachen Hierarchien, in der sich, so die Rückmeldung, alle ernst- und wahrgenommen fühlten. Vor dem Hintergrund einer solchen Gruppendynamik ließen sich konstruktive Kritik, Lob und kritische Nachfragen gut anbringen und verhandeln.

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Was hätte man anders machen können? Für die Erarbeitung der künstlerischen Projekte war für einen gesamten Probentag Sven Lindholm für konstruktives Feedback anwesend. Dies war sehr sinnvoll, jedoch wäre für manche der künstlerischen Projekte ein weiterer Tag mit einem ›externen Experten‹ noch hilfreicher gewesen. Offen blieb in der Diskussion, ob bei einem nächsten Projekt dieser Art auch für die wissenschaftlichen Präsentationen ein ›Probepublikum‹ eingeladen werden sollte. Zur Vorbereitung erhielten die Studierenden von der Dozentin einen eigens entworfenen Leitfaden zur Gestaltung eines Vortrags. Im Rahmen der Vortragsproben wurde auch auf mögliche Szenarien in an den Vortrag anschließenden Diskussionen eingegangen. Solche Szenarien hätten noch ausführlicher geprobt und reflektiert werden können, um die Unsicherheit vor dem Vortrag weiter abzumildern. Das Erproben methodischer Fähigkeiten wurde im Rahmen der Eigenverantwortlichkeit in diesem Projekt gefördert. Die Darstellung und Reflexion dieser Methoden könnten künftig noch stärker systematisiert werden. Hierfür wäre eine Art Kolloquium denkbar, in welchem die bisher erarbeiteten Erkenntnisse genauer vorgestellt werden müssten, um ihre Entsprechung eben jener Forderungen an das wissenschaftliche Arbeiten zu überprüfen. Eine solche Reflexion war zwar insbesondere kurz vor dem Symposium gegeben, sie hätte aber von Beginn an noch stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten können. Hinweise für ähnliche künftige Projekte Wichtig erschien den Studierenden der Fokus auf den Forschungsstand des gewählten Projektthemas: Es wurde ein einerseits erforschter Gegenstand (Lenz) gewählt, während die spezifische leitende Thematik ein Forschungsdesiderat darstellte (Theater von Lenz). Die Studierenden empfanden es als motivierend, innerhalb eines recht gut erschlossenen Forschungsthemas eine ganz eigene Forschungsfrage stellen zu können.

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Als besonders fruchtbar wurde es empfunden, dass Studierende unterschiedlicher Semester (vom ersten Semester bis zur Endphase des Masterstudiums) gemeinsam ein Projekt planten und durchführten (peer learning-Prinzip). Dies wurde nicht nur für die gemeinsame inhaltliche Arbeit, sondern auch für den Austausch über Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens als bereichernd empfunden. Eine solche ›Vermischung‹ der Semester wäre für künftige Projekte auf jeden Fall zu empfehlen. Nachhaltigkeit Das Format sollte unbedingt weitergeführt werden, da es im Sinne des Forschenden Lernens sowie der künstlerischen Forschung ein breites Spektrum an Kompetenzen schult, deren Erwerb und Erweiterung für das akademische wie auch das außeruniversitäre Berufsumfeld unerlässlich sind. Dies sind soziale Kompetenzen ebenso wie Fähigkeiten zum Projektmanagement: vorrangig Methoden des (geistes-)wissenschaftlichen und künstlerisch forschenden Arbeitens und deren kritische Reflexion. Es ermöglicht zudem die Vernetzung mit Expert_innen der universitären wie künstlerischen Felder. Nicht zuletzt hilft es den Studierenden dabei, Anforderungen und Implikationen des wissenschaftlichen Berufsfeldes kennenzulernen sowie eine mögliche eigene Positionierung in diesem Feld bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Studiums zu erproben und zu reflektieren. Das Institut für Theaterwissenschaft strebt eine curriculare Fortführung in Zusammenarbeit mit weiteren Universitäten, Instituten und kulturellen Einrichtungen an und setzt bereits neue Symposiums-Projekte um, im Jahr 2019 zum Beispiel in Kooperation mit dem renommierten internationalen Festival der Ruhrtriennale.

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Informationen über das Projekt • •

https://www.facebook.com/lenzherbst Publikation in Thewis, der Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft: http://www.theater-wissenschaft.de/category /thewis/ausgabe-2018-flackernde-formen-theater-und-poetik-beij-m-r-lenz/

Schreiben. Präsentieren. Gestalten. – Ein Blick hinter die Kulissen des ROTTSTR5 Theaters Markus Tillmann „Was ist ein Theatertext? Von seiten des Autors her gesehen ist ein Theaterstück ein Text, der so geschrieben ist, daß er seine Erfüllung erst erfährt, wenn er auf der Bühne realisiert wird, als Theaterstück.“ (Goetz 1999, S. 229)

Forschungsorientiertes Schreiben und öffentliches Präsentieren In den letzten Semestern fanden im Bereich der Angewandten Germanistik viele praxisorientierte Hauptseminare statt, die unter anderem dazu gedacht waren, den berufsqualifizierenden Anteil des Studiums deutlich zur Geltung zu bringen: Die Seminare sollen nämlich einen Einblick in verschiedene Bereiche der beruflichen Praxis vermitteln, für die ein Studium der Germanistik qualifiziert. Dabei sollen die Studierenden einerseits erfahren, welches Wissen und welche Fähigkeiten in bestimmten Bereichen besonders gefragt sind. Andererseits dienten die Seminare der Förderung von Schreib- und Methodenkompetenzen sowie der Einübung von verschiedenen Präsentationsformen, wobei der inSTUDIES-Teilbereich Schreiben. Präsentieren. Gestalten. den konzeptionellen Rahmen für die gezielte Förderung von „Forschungsorientiertem Schreiben und öffentlichem Präsentieren“ bot. Der Bereich Schreiben. Präsentieren. Gestalten. ist als interdisziplinäres, fakultätsübergreifendes Angebot zu verstehen und richtet sich primär an Studierende, die ihre schriftlichen und rhetorischen Kompetenzen schulen möchten (um auf diese Weise ihre Forschungskompetenzen zu stärken). Ziel der Lehrveranstaltungen war und ist es, Prozesse und Formen des Schreibens sowie Präsentationspraktiken bis

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_29

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hin zu einem veröffentlichungs- bzw. präsentationsreifen Beitrag (einem Vortrag oder einer Lecture Performance) zu begleiten.1 Zudem soll innerhalb des Projekts die Kooperation und Vernetzung mit schriftlichen „Veröffentlichungsplattformen“ an der RUB (wie z.B. GeoLoge, satzzeichen!, fusznote etc.)2 intensiviert werden, um Studierenden die Möglichkeit zur Veröffentlichung und Präsentation ihrer Arbeiten zu geben. Außerdem sollen Formate erstellt und organisiert werden, bei denen Studierende ihre Arbeiten mündlich präsentieren (studentische Konferenzen oder Tagungen, Podiumsdiskussionsrunden, BA- oder MA-Arbeit als Vorlesung etc.), wobei als Kooperationspartner für mündliche Präsentationen auch außeruniversitäre Einrichtungen (Theater, Museen) gewonnen werden sollen, um die Vernetzung mit anderen Institutionen in der Region zu stärken. Während der Erprobung und Institutionalisierung dieser Seminarform konnten zudem eine Vielzahl an „Handreichungen“ zu Formaten der schriftlichen und mündlichen Präsentation erarbeitet werden, zum Teil auch in Zusammenarbeit mit den Studierenden, was zu einer Verstetigung des Lehrkonzepts beiträgt. Besonders zwei Seminarformen erwiesen sich dabei als ausgesprochen konstruktiv: (1) Lehrveranstaltungen, deren Ziel die Einübung von journalistischen bzw. feuilletonistischen Schreibweisen war, wobei unter anderem die Geschichte und die Schreibweisen der Literaturkritik behandelt und zugleich die Studierenden dazu aufgefordert wurden, Buch-Rezensionen, Veranstaltungskritiken oder längere essayistische Arbeiten für das in der Bochumer Germanistik angesiedelte Magazin fusznote zu verfassen; 1

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Wobei die Lecture Performance – laut Definition – traditionelle Methoden und Werkzeuge des Vortragens (wie etwa rhetorische Mittel) mit kreativen Elementen wie der Inszenierung der eigenen Person sowie selbstreflexiven, diskursiven und performativen Aspekten vereint. Die Lecture Performance stellt also eine hybride Form dar und ist an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft angesiedelt. Alle diese wissenschaftlichen Zeitschriften werden von Studierenden oder unter ihrer maßgeblichen Mitwirkung herausgegeben und produziert. Die GeoLoge entsteht in der Fakultät für Geographie, das satzzeichen! und die fusznote sind in der Fakultät für Philologie (Germanistik) angesiedelt.

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(2) Kurse, die in direkter Zusammenarbeit mit dem in Bochum ansässigem Theater ROTTSTR5 gestaltet wurden, einer Off-Bühne, die seit 2009 mit wechselndem Schauspiel-Ensemble agiert und auch Lesungen und Konzerte auf dem Programm stehen hat. Theater ist live! Gerade das Theater stellt einen Aufführungsort dar, der durch seine außergewöhnliche Präsentation und Gestaltung einer Textvorlage im Bühnenraum eine Vielzahl an (sowohl theoretischen als auch praktischen) Anreizen für das forschungsorientierte Schreiben und öffentliche Präsentieren von Forschungsergebnissen bieten kann. Dramatische Texte liefern nur einen Bestandteil der Aufführung: Der Dramentext ist primär szenisches Spielmaterial, ein virtuelles Kunstwerk, das erst, wie der deutsche Schriftsteller Rainald Goetz schreibt, in seiner Aufführung seine „Erfüllung“ erfährt. Erst in der Inszenierung (d.h. der Gestaltung und Organisation des Bühnenraums, der Verwendung von Kulissendekoration, Aufbauten und Bühnentechnik sowie durch den Einsatz von Lichteffekten und Musik etc.), dem Spiel der Schauspieler_innen (ihre Körperbewegungen und sprachlichen Äußerungen) und der außergewöhnlichen Relation zwischen Bühnen- und Zuschauerraum tritt die besondere Form der Räumlichkeit, Theatralität und Performativität hervor, die das Theater auszeichnet. Demnach erscheint Theatralität als ein komplexes mediales System, ein relationales Gefüge, das nur durch die Interferenz von Körperpraktiken und technisch-materiell gestützten Inszenierungs-, Interaktions- und Wahrnehmungsformen beschreibbar ist (vgl. Fischer-Lichte 2004). Die mit dem ROTTSTR5 Theater gestalteten Seminare sollten den Studierenden einen Blick hinter die Kulissen des Theaterbetriebs gestatten und zugleich die Augen öffnen für bestimmte Formen der Dramaturgie und Inszenierung. Einen Bestandteil der Seminare bildete dabei zunächst die theoretische Fundierung: Mittels Moodle-Kurs wurden den Studierenden sowohl

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Handouts als auch Sekundärtexte zu den Themen Textverständlichkeit, journalistische bzw. feuilletonistische Schreibweisen, Literatur- und Veranstaltungskritik, Dramenanalyse und Dramentheorie, Inszenierungs- und Aufführungsanalyse zu Verfügung gestellt, die im Rahmen der Seminarsitzungen ausführlich besprochen und diskutiert wurden. Zugleich wurden gemeinsam eine Anzahl an Theater-Vorstellungen besucht, die von den Studierenden in Form von kurzen Veranstaltungskritiken (ca. 3000 Zeichen) rezensiert werden sollten. Wenn zeitlich möglich, wurde auch die Text-Vorlage zu den Aufführungen intensiv im Seminar besprochen, um die Bearbeitung für die Theater-Bühne besser beurteilen zu können. Schon der gemeinsame Besuch der Vorstellungen und die daran anschließenden Diskussionen förderten eine gewisse Gruppendynamik, die davon bestimmt war, ins Gespräch zu kommen und das Gesehene zu reflektieren (vgl. Linz, Hrncal & Schlinkmann 2016).3 In einem nächsten Schritt wurden die Veranstaltungskritiken im Seminar besprochen und kritisiert. Dies erwies sich als besonders gewinnbringend, da die Rezensionen die Möglichkeit boten, die gewonnenen Impressionen noch einmal gemeinsam zu reflektieren und die entstandenen Kritiken abschließend zu überarbeiten. Intensiviert wurde das Ganze noch durch Probenbesuche und Gespräche mit Ensemble-Mitgliedern, den Regisseur_innen der besuchten Stücke, dem Intendanten Hans Dreher sowie anderen Beteiligten. Die Themenbreite der Gespräche, die alle im ROTTSTR5 Theater stattfanden, erstreckten sich dabei von der Pressearbeit über die Dramaturgie und Technik bis hin zur Arbeit mit Schauspieler_innen oder der Gestaltung des Bühnenraums.

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Der Beitrag von Linz, Hrncal & Schlinkmann untersucht die Aneignungskommunikation von Theaterbesucher_innen in Foyergesprächen aus gesprächslinguistischer Perspektive. Am Beispiel von Praktiken der Rekonstruktion und des Bewertens wird gezeigt, wie die Besucher_innen ihre Eindrücke bzw. ästhetischen Erfahrungen während der Theateraufführung im Zuge eines interaktiven Prozesses miteinander abgleichen, aushandeln und mit der eigenen Lebenswelt und den gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung setzen.

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Interaktion zwischen Kunst und Wissenschaft Die Theaterbühne kann – wie oben schon angedeutet – auch als ein Ort fungieren, wo Kunst und Wissenschaft auf produktive Art und Weise aufeinandertreffen: Sie bietet z.B. die Möglichkeit, Forschungsergebnisse stärker performativ einem Publikum zu präsentieren und somit die Interaktion zwischen Kunst und Wissenschaft zu stärken. Im Rahmen eines stark praxisorientierten Hauptseminars, das den Titel Mögliche/Zukünftige Welten in der phantastischen Literatur trug und im Wintersemester 2018/19 in der Bochumer Germanistik stattfand, hatten Studierende Vorträge konzipiert, die am 06. und 07. Mai 2019 im ROTTSTR5 Theater präsentiert wurden. Das Thema der Tagung fügte sich gut in den Spielplan des ROTTSTR5 Theaters ein: Seit Kurzem widmet sich das Off-Theater dem mehrjährigen Themenschwerpunkt „Last Exit: Utopia“, wobei unter anderem dystopische Stoffe wie zum Beispiel George Orwells Roman 1984, Ray Bradburys Fahrenheit 451 oder Aldous Huxleys Schöne neue Welt für die Bühne bearbeitet werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Relevanz in der Vergangenheit geschriebene Zukunftsvisionen für die Gegenwart besitzen können. In dem die Tagung vorbereitenden Seminar wurden zunächst die literaturwissenschaftlichen Grundlagen anhand von Primär- und Sekundärtexten besprochen: Was zeichnet das Genre der Science-Fiction- und Fantasy-Literatur aus? Wie werden dort phantastische Welten entworfen? In einem nächsten Schritt wurden praktische Fragen diskutiert: Wie finde ich ein Vortragsthema? Wie grenze ich mein Thema ein? Wie schreibe ich ein Abstract? Wie gestalte ich meinen Vortrag? Wie erstelle ich eine den Vortrag unterstützende Präsentation? Dabei konnten die Studierenden ihren Forschungsgegenstand frei wählen und im Rahmen des Seminars kurz vorstellen und begründen. Gleichzeitig wurden die erarbeiteten Abstracts besprochen und diskutiert, so dass sie in überarbeiteter Form als Grundlage für die weitere Ausarbeitung des Vortrags dienen konnten. Zugleich wurden in gemeinsamer Arbeit Bewertungskriterien für die Vorträge erstellt, die sowohl die Wissenschaftlichkeit des Gesag-

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ten als auch den mündlichen Vortrag bzw. seine Präsentation betrafen: Verständlichkeit bzw. Kohärenz des Gesagten, Relevanz und Eingrenzung des Themas, Berücksichtigung der aktuellen Forschungslage, Erklärung der Definitionen, Erläuterung der methodischen Vorgehensweise sowie Gestaltung der Präsentation sind wichtige exemplarische Kriterien. Neben ihrer Arbeit an den Vorträgen wurden die Studierenden auch in die Organisation und Logistik der Tagung einbezogen: Erstellung und Verteilung von Flyern und Plakaten, Einladung von Gästen, Gestaltung des Bühnenraums, Ablauf der Tagung bzw. Reihenfolge der Vorträge, Moderation der einzelnen Panels plus abschließende Diskussion mit Publikum. Die Bandbreite der Vortragsthemen erstreckte sich schließlich sowohl auf die Science-Fiction- als auch Fantasy-Literatur, wobei im Mittelpunkt die Frage stand, wie die in der phantastischen Literatur aufscheinenden Welten gestaltet sind und welche vielfältigen Diskurse dabei angesprochen werden. Unterstützt wurde die Veranstaltung auch durch Gäste aus dem Bereich Theater, Kunst und Literatur, die mit eigenen wissenschaftlichen Beiträgen oder Lesungen den performativen Charakter der Veranstaltung stärken sollten. Um die Schreibkompetenz der Studierenden in einem weiteren Schritt künftig noch stärker zu fördern, ist vorgesehen, sowohl die studentischen Vorträge als auch die Beiträge der Gäste in überarbeiteter Form in einer Broschüre zu bündeln. Zugleich soll das Lehrkonzept auch für andere Lehrende z.B. in Form von Handreichungen erarbeitet werden, die (derzeit mit Unterstützung von Ines Gottschalk) in den inSTUDIES-Baustein „Schreiben in den Fächern institutionalisieren“ einfließen können. Wünschenswert wäre es, wenn diese Form praxisorientierter und zugleich Forschungskompetenzen fördernder Seminare – nach einer intensiven Phase der Erprobung und Stabilisierung – eine Verstetigung insbesondere in der Angewandten Germanistik erfahren und in ein ausgeweitetes Lehrkonzept integriert würde, das darauf abzielt, sowohl die schriftlichen und rhetorischen Fähigkeiten von Studierenden zu schulen als auch berufliche Praxis zu vermitteln. Dies würde auch die Chance bieten, nicht zuletzt durch die Ansprache von außeruniversitären Institutionen (Museen, Theatern) neue Lernorte zu erschließen und weitere Möglichkeiten der Verwirklichung und Präsentation einzelner Projekte zu

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schaffen. Auch das hat die intensive Kooperation mit dem ROTTSTR5 Theater gezeigt: Durch die direkte Zusammenarbeit hat sich oftmals für die Studierenden ein Weg eröffnet, außerhalb des Seminarkontextes weiterhin am Theater mitzuwirken, sei es in Form eines Praktikums im Bereich Regieassistenz und Dramaturgie, sei es als Darsteller_in auf der Bühne. Literatur Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. Goetz, Rainald (1999): Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a.M. Linz, Erika, Hrncal, Christine & Schlinkmann, Eva (2016): Foyergespräche im Theater. Interaktionale Aneignungspraktiken des Publikums. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 4/2016: S. 523-546.

Zwischen Bilderflut und Bildersturm – Zur Rolle von Bildern in Religion und Gesellschaft Patrick Krüger & Martin Radermacher Forschungsprogramm und Lernziele Bilder sind allgegenwärtig – das macht ein Blick in die Tagespresse, in die ‚sozialen Medien‘ und in fast jede beliebige Einkaufspassage deutlich. Nicht erst seit der Technisierung und Digitalisierung von Bildherstellung und -verbreitung werden Bilder zirkuliert, zitiert, vervielfältigt und zerstört. Doch hat die ‚Bilderflut‘ spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungeahnte Dimensionen angenommen. Allerdings gab und gibt es in religiösen Kontexten immer wieder Vorbehalte gegenüber Bildern und anderen Formen der medialen Darstellung, die von der reflektierten Kritik bis hin zur gewaltsamen Zerstörung von Bildern und Statuen reichen. Religions- und kulturgeschichtlich sind auf der einen Seite die ‚Bildprogramme‘ zu nennen, wie wir sie beispielsweise aus den griechisch-römischen Traditionen kennen, und auf der anderen Seite die Ablehnung der Bilder, sei es im jüdischen Bilderverbot, im byzantinischen Bilderstreit (z.B. Brubaker 2012) oder im reformatorischen Bildersturm (z.B. Schnitzler 1996). Auch außerhalb jüdisch-christlicher Traditionen spielen und spielten Bilder eine umstrittene Rolle, denkt man beispielsweise an die anikonischen Tendenzen im Buddhismus oder Daoismus (z.B. Seckel 1976). Schließlich reicht die Debatte um Bilder und ihre Funktion bis in das politische Tagesgeschehen hinein: Der gewaltsame Streit um die Mohammed-Karikaturen oder die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban – all dies sind Beispiele für einen gegenwärtig und historisch brisanten Streit um Bilder (zur Geschichte des Ikonoklasmus z.B. Bremmer 2008; Besancon 2009).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_30

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Aus der Fülle historischer und gegenwärtiger religionsbezogener Fallbeispiele wählen Studierende in diesem Lehr-Lern-Format zu ihren Kenntnissen und Fähigkeiten passende Einzelthemen aus und entwickeln Fragestellungen, die vor dem Hintergrund eines übergeordneten, systematisch-komparativen Forschungsprogramms (s.u.) bearbeitet werden. Das Lehr-Lern-Projekt Zwischen Bilderflut und Bildersturm: Zur Rolle von Bildern in Religion und Gesellschaft wird seit dem Sommersemester 2018 am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum angeboten. Es handelt sich um ein einsemestriges Projekt, wobei auch die vorlesungsfreie Zeit von den Studierenden genutzt wird. Einzelne studentische Projekte erstrecken sich auch über ein Semester hinaus (z.B. im Rahmen aufwendiger Schritte für den angestrebten Wissenstransfer; s.u.). Der Ausgangspunkt des Lehr-Lern-Formats ist die in den letzten Jahren diskutierte Bilderflut, die auch vor Religionen nicht haltmacht. Nicht nur im christlichen Bereich gibt es inzwischen – trotz des alttestamentlichen Bilderverbots – zahllose Bilder von biblischen Gestalten, Heiligen, Jesus oder Gott. Das Ziel des Gesamtprojekts besteht darin, kultur- und religionsvergleichend sowie mit historischer Tiefenschärfe die Rolle der Bilder sowie die verschiedenen Positionen in Bezug auf Bilder zu untersuchen und damit besser zu verstehen, warum Bilder einerseits Identifikations- und Sinnstiftungspotenzial bieten, sich andererseits an Bildern, Statuen und anderen medialen Darstellungen immer wieder massive Konflikte entzünden. Damit schließt das Projekt an die rezenten Perspektivenwechsel der Kultur- und Geisteswissenschaften an (visual turn, iconic turn, material turn; für die Religionswissenschaft z.B. Morgan 1999; Hazard 2013). Zu dieser systematisch-komparativen Fragestellung tragen die studentischen Einzelforschungen in Bezug auf historische und gegenwartsbezogene Fallbeispiele Bausteine bei, sodass sich das Gesamtbild im Laufe der Semester stetig erweitert. Die historischen Fälle werden dabei zunächst idealtypisch in einer Klassifikation verortet, die von Ikonodulie (d.h. Anbetung/Verehrung von Bildern) bis zu Ikonoklasmus (d.h. Zerstörung von Bildern) reicht, und dann auf ihre jeweiligen Spezifika und historischen Rahmenbedingen hin untersucht.

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Das übergeordnete Lernziel für teilnehmende Studierende besteht darin, den historisch und gegenwärtig brisanten ‚Streit um die Bilder‘ besser zu verstehen, die Varianz historischer und gegenwärtiger Ausprägungsformen systematisch zu vergleichen und dies am konkreten Fall und auf Basis von bildlichen, textlichen oder materiellen Primärquellen zu untersuchen. Dieses Lernziel wird individuell an bereits erfolgte Studienfortschritte und aktuelle Interessen sowie an die jeweiligen Vorkenntnisse der Studierenden angepasst. Generell werden sowohl methodische als auch Sachkompetenzen vertieft, ebenso wie Kompetenzen der Selbstorganisation und des wissenschaftlichen Arbeitens. Studierende erwerben in der Zusammenarbeit miteinander und mit externen Partnern (Museen, Ausstellungen) auch berufsqualifizierende Kompetenzen. Ein besonders hervorzuhebendes Lernziel besteht darin, Kompetenzen in der Vermittlung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen an eine breitere Öffentlichkeit zu erwerben. Zu diesem Zweck kooperiert das CERES im Rahmen dieses Lehrforschungsprojekts mit verschiedenen Museen (z.B. Kunstmuseum Bochum, Situation Kunst, Römermuseum Haltern). Einbindung des Projekts in den Studiengang Religionswissenschaft Das Format richtet sich an Studierende in B.A.- und M.A.-Studiengängen, wobei die jeweiligen Fragestellungen an den individuellen Studienverlauf angepasst und fortgeschrittene Studierende aus dem Master als Mentor_innen für Bachelor-Studierende eingesetzt werden (peer learning-Prinzip). Studierende haben die Möglichkeit, einen thematischen Schwerpunkt zu wählen, erste eigene Forschungserfahrungen zu sammeln, gewonnene Erkenntnisse womöglich zu publizieren und darüber hinaus wertvolle berufsqualifizierende Kompetenzen durch die Zusammenarbeit mit Museen in der Region zu erwerben. Das forschende Lernen ist in den Studiengängen des CERES fest verankert (Modul R4 im B.A. bzw. Modul FR im M.A.) und wird regelmäßig im Wahlpflichtbereich angeboten.

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Praktische und didaktische Umsetzung Die didaktischen Methoden in diesem Lehr-Lern-Format schöpfen aus der ganzen Palette hochschuldidaktischer Möglichkeiten, soweit sie im Rahmen des forschenden Lernens in den Geistes- und Sozialwissenschaften relevant sind (z.B. Neumaier & Nagel 2013). Bereits vor Beginn eines Semesters bewerben sich alle interessierten Studierenden mit einer kleinen Projektidee für das Projekt. Zu diesem Zweck wird eine Einführung in das Thema mit Beispielen für Forschungsthemen bereitgestellt. Das Kick-Off-Meeting zu Beginn jedes Semesters mit allen beteiligten Studierenden dient der thematischen Einstimmung und anschließenden Präzisierung der individuellen Forschungsthemen. Es folgt – in enger Begleitung durch die Mentor_innen und Dozent_innen – ein selbstständiger Forschungs- und Lernprozess. Es ist davon auszugehen, dass die Durchführung eines solchen Projekts im Vergleich zur Teilnahme an Seminaren oder Übungen einen erheblich höheren Zeitaufwand erfordert. Die Bindung der Teilnahme an ein Bewerbungsverfahren unterstreicht diese besonderen Anforderungen bereits im Vorfeld. Um eine möglichst umfassende Betreuung der Einzelprojekte sicherzustellen, ist die Teilnehmerzahl bei jedem Projektdurchlauf auf maximal zehn Teilnehmer_innen beschränkt. Ein studentisches Projekt dauert in der Regel sechs Monate. Falls die Kommunikation und Präsentation der Ergebnisse einzelner Projekte im Rahmen von Ausstellungsformaten besonderes Gewicht erhalten, können Projekte auch länger dauern und entsprechend höher kreditiert werden. Der Forschungsprozess umfasst die Schritte Projektentwicklung, Durchführung und Dokumentation der Forschung sowie Verwertung der erzielten Forschungsergebnisse im Rahmen des Wissenstransfers. Die Projektbearbeitung findet während der Vorlesungszeit statt und umfasst einen Zeitraum von ungefähr vier Monaten. Mehrere Blockveranstaltungen in diesem Zeitraum führen die Studierenden über ihre individuellen Vorkenntnisse hinaus, konfrontieren sie aus unterschiedlichen Perspektiven mit Fragen zur Rolle von Bildern in Religion und Gesellschaft und führen sie an

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das jeweils übergeordnete Thema heran (z.B. Ikonoklasmus; chinesische Landschaftsmalerei; Antike und frühchristliche Religionen). Die Workshops unterstützen die Studierenden dabei, aus der anfänglichen Forschungsidee eine präzise Forschungsfrage zu entwickeln und begleiten sie beim Aufbau eines Materialkorpus. In einem anschließenden Methodenworkshop erarbeiten die Teilnehmer_innen gemeinsam an Lernstationen eine Auswahl von Methoden zur Bild- und Artefaktanalyse. Aus diesen Methoden, die mittels Plakatpräsentation und Kurzvortrag von den Studierenden erarbeitet werden, wählen die Teilnehmer_innen das für die Durchführung ihrer Projekte geeignete Instrumentarium aus. Die Auswertung des Materials erfolgt über einen Zeitraum von etwa zwei Monaten während der vorlesungsfreien Zeit. In dieser Zeit verfassen die Studierenden einen Forschungsbericht und bereiten in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Projektpartner ihre Ergebnisse für den Wissenstransfer vor. Hier stehen den Teilnehmer_innen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung: Der Wissenstransfer kann in Absprache mit den Projektpartnern über klassische Formate wie Vorträge oder Themenführungen in den Museen umgesetzt werden. Er kann aber auch unkonventioneller ausfallen und beispielsweise durch die Erstellung eines Rundfunkbeitrags eine größere Zielgruppe ansprechen. Nicht zuletzt wirken die Studierenden an der Vorbereitung und der Gestaltung des Begleitprogramms von Ausstellungsprojekten mit. Beim Kompetenzerwerb stehen das selbstgesteuerte Lernen sowie die handlungsorientierte Lehre im Vordergrund (s. hierzu für die Religionswissenschaft Weiß & Radermacher 2015; allgemein Macke, Hanke, Viehmann & Raether 2016). Das selbstgesteuerte Arbeiten der Studierenden umfasst unter anderem die Entwicklung von religionswissenschaftlichen Fragestellungen, die Recherche von Sekundär- und Primärquellen, die Auseinandersetzung mit Fragen der Datenerhebung und -auswertung, speziell die Analyse von Bildund Textquellen sowie Artefakten. Damit werden die unterschiedlichen Phasen des Lernens (Wissensaneignung, Transfer, Anwendung) berücksichtigt. Bei allen Arbeitsschritten stehen die Lehrenden beratend zur Verfügung. Darüber hinaus berichten alle Teilnehmer_innen in einer Zwischenevaluation

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über ihren Projektfortschritt. Damit werden auch der wissenschaftliche Diskurs sowie die Kommunikation in der Fachgemeinschaft eingeübt. Durch den gezielten Einsatz von E-Learning-Möglichkeiten (Moodle) wird das selbstgesteuerte Lernen unterstützt: Moodle bietet nicht nur einen Gesprächsraum neben den regelmäßigen Treffen vor Ort, sondern auch eine Plattform für Arbeitsmaterialien und Entwürfe. Studierende erhalten die Möglichkeit, von der Entwicklung der Fragestellung bis zur Präsentation der Ergebnisse aktiv und eigenständig zu forschen. Dabei steht neben dem klassischen Forschungsbericht in diesem Projekt auch die außeruniversitäre Wissenschaftskommunikation im Rahmen von Ausstellungsprojekten im Vordergrund. Dies verlangt durchaus mehr Engagement von Studierenden als ein reines Forschungsprojekt, ist aber auch besonders motivierend, weil die Ergebnisse der studentischen Projekte direkt an eine breitere, interessierte Öffentlichkeit vermittelt werden können. Ergebnisse ausgewählter Akteure Für die Präsentation von Forschungsergebnissen sind in diesem Projekt neben den typischen Forschungsberichten Formate des Wissenstransfers verlangt, die im Kontext von Ausstellungen entwickelt und umgesetzt werden. Das Projekt schafft auf diese Weise eine Schnittstelle zwischen Universität und Museum, wobei das Museum nicht allein zur Vermittlung erzielter Forschungsergebnisse genutzt wird. Zu den im Lehrforschungsprojekt produzierten Formaten des Wissenstransfer gehören beispielsweise: •



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Podcasts1 zu ausgewählten Exponaten in der Ausstellung BILD MACHT RELIGION (Kunstmuseum Bochum 2018/19) (Julia Poganski, Caroline Symassek, Anna K. Hippert, Elisabet M. Korda) Führungskonzept zu einer Themenführung mit Kindern in der Ausstellung BILD MACHT RELIGION (Katharina Heil)

Abrufbar unter: https://ceres.rub.de/de/forschung/projekte/bilderflut_bildersturm/

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Aufnahme von Interviewsequenzen zu ausgewählten Artefakten (Kimena Weise) Anfertigung von Comic-Sequenzen zur Vermittlung komplexer Inhalte für Schüler_innen (Dunja Sharbat Dar)

Außerdem fördert die enge Zusammenarbeit mit Museumspädagogik und Kunstvermittlung eine Ausrichtung der Forschung auf gesellschaftliche Diskurse und aktuelle Fragen. Indem die Einzelprojekte das Thema Bilderflut und Bildersturm in unterschiedlichen Epochen und Kulturen fallstudienartig beleuchteten, liefert das Lehrforschungsprojekt als Ganzes schließlich auch einen Beitrag zum besseren Verständnis des Umgangs mit Bildern in religiösen Traditionen. Zu den besonders überzeugenden studentischen Forschungsprojekten gehören beispielsweise die folgenden: • • • • •



Anna K. Hippert: Die Symbolik der Symbollosigkeit: Minimalistische Kunst und latenter Ikonoklasmus (2018) Elisabet M. Korda: Die Zerstörung des mandalas als ikonoklastischer Akt? (2018) Julia Poganski: Ikonoklasmus und Blasphemie (2018) Lars Rutenberg: Die Taiping-Bewegung: Ikonoklastisches Christentum in China (2018) Dunja Sharbat Dar: Schwarzmalerei im Paradies: Über reduktive und minimalistische Darstellung des Göttlichen im Shōjo-Manga Kamikaze Kaitō Jeanne von Arina Tanemura (2018) Kimena Weise: Das ikonoklastische Element in der minimalistischen Kunst der Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts (2018)

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Patrick Krüger & Martin Radermacher

Fazit Lehrforschungsformate unterstützen das selbstgesteuerte Lernen und führen die Studierenden an die Forschungspraxis heran. Gegenüber klassischen Lehrformaten (Seminare, Übungen) entsteht für Studierende wie Dozierende ein höherer Arbeitsaufwand, der von beiden Seiten nicht unterschätzt werden darf. Das hier vorgestellte Format stellt durch eine gezielte Zusammenarbeit mit den Projektpartnern (Museen) einen Praxisbezug her, der wertvolle berufsqualifizierende Kompetenzen vermittelt. Dabei müssen die Studierenden mit ihrer Projektarbeit in zweifacher Weise überzeugen, nämlich zunächst auf wissenschaftlicher Ebene mit einer methodisch soliden Auswertung und schlüssigen Dokumentation sowie anschließend bei der Vorstellung der Ergebnisse vor einer außeruniversitären Öffentlichkeit, wo auch die gesellschaftliche Relevanz der gewählten Forschungsfrage erkennbar werden soll. Bei der Ausarbeitung der Wissenstransferformate im Austausch mit den Projektpartnern lernen die Studierenden schließlich auch die Anpassung eigener Kreativität an die Machbarkeit und Bedürfnisse der Projektpartner. Literatur Besancon, Alain (2009): The Forbidden Image. An Intellectual History of Iconoclasm. Chicago. Bremmer, Jan N. (2008): Iconoclast, Iconoclastic, and Iconoclasm. Notes Towards a Genealogy. In: Church History and Religious Culture 1/2008: S. 1-17. Brubaker, Leslie (2012): Inventing Byzantine Iconoclasm (Studies in Early Medieval History). London. Hazard, Sonia (2013): The Material Turn in the Study of Religion. In: Religion and Society: Advances in Research 1/2013: S. 58-78. Macke, Gerd, Hanke, Ulrike, Viehmann, Pauline & Raether, Wulf (Hg.) (2016): Kompetenzorientierte Hochschuldidaktik. Lehren – vortragen – prüfen – beraten (Pädagogik, 3. Auflage.). Weinheim.

Zwischen Bilderflut und Bildersturm

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Morgan, David (1999): Visual Piety. A History and Theory of Popular Religious Images. Berkeley/CA. Neumaier, Anna, Nagel, Alexander-Kenneth (2013): Forschendes Lernen in den Geisteswissenschaften. Konzepte und Umsetzung. In: Nagel, Alexander-Kenneth & Neumaier, Anna (Hg.) (2013): Endzeit jetzt! Lehrforschung zur modernen Eschatologie. Marburg: S. 163-194. Schnitzler, Norbert (1996): Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts. München. Seckel, Dietrich (1976): Jenseits des Bildes. Anikonische Symbolik in der buddhistischen Kunst (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften). Heidelberg. Weiß, Sabrina, Radermacher, Martin (2015): Handlungsorientierte Didaktik in der Religionswissenschaft. Von den Zielen zu den Methoden. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2/2015: S. 371-397.

Das Projekt UnVergessen – Genese, Teilnehmende und Forschendes Lernen Katrin Bente Karl & Yvonne Behrens Projekthintergrund Deutschland ist ein Migrationsland und Deutschland altert. Die daraus resultierenden gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Folgen sind Gegenstand vieler Diskussionen, werden allerdings sehr selten in ihrer Verquickung betrachtet. Dabei liegt es auf der Hand, dass auch die mehrsprachigen Einwohner_innen Deutschlands altern und – als häufige Folge des Alter(n)s – in die Pflegebedürftigkeit geraten. Was aber geschieht, wenn ein Mensch, der Zeit seines Lebens in einer mehrsprachigen Umgebung gelebt hat und, je nach individuellen Lebensumständen, in zum Teil hohem Maße in seiner Erstsprache kommuniziert hat, sich über Nacht in einer meist deutschsprachigen Institution wiederfindet und nun in seinem Alltag nicht mehr die vertraute Sprache hört und sprechen kann? Für diese Menschen ist ein Umzug in ein Pflegeheim nicht nur mit einem Wechsel der gewohnten Lebenswelt, sondern auch der vertrauten Sprachumgebung verbunden. Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass sich Anpassungsschwierigkeiten in der neuen Umgebung verstärken und Betroffene in höherem Maße sozialer Isolation und daraus folgenden psychischen Problemen ausgesetzt sein können. Das Projekt UnVergessen wurde konzipiert, um diesen Menschen eine kleine Hilfestellung zu bieten und sie für ihre Situation zu sensibilisieren. Dabei stellt es zwei unterschiedliche Generationen von Mehrsprachigen in den Mittelpunkt und führt diese zusammen. Es handelt sich auf der einen Seite um die bereits benannten mehrsprachigen Pflegebedürftigen, die der älteren Generation zuzuordnen sind, und auf der anderen Seite um mehrsprachige Studierende, die der jungen Erwachsenengeneration angehören. Diese beiden

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_31

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Katrin Bente Karl & Yvonne Behrens

Generationen treffen im Projekt aufeinander und finden in einem mehrmonatigen Austausch in Paarkonstellationen zueinander. Damit interagieren im Projekt UnVergessen mehrere Partizipant_innen miteinander: Auf institutioneller Ebene findet eine Kooperation zwischen der Universität und den Pflegeheimen statt, auf persönlicher Ebene finden zwei unterschiedliche Generationen zueinander, auf wissenschaftlicher Ebene werden von den Studierenden im Modus des Forschenden Lernens Erkenntnisse aus der Theorie in die Praxis transferiert und von dort wiederum zurück in die Wissenschaft getragen und in Form einer eigenen wissenschaftlichen Arbeit aufgearbeitet. Projektgenese Das Projekt UnVergessen wurde im Jahr 2016 ins Leben gerufen und erstmals von Wintersemester 2016/17 bis Sommersemester 2017 an der Ruhr-Universität Bochum mit finanzieller Unterstützung der Robert Bosch Stiftung (in der Förderlinie „Werkstatt Vielfalt“) unter der Leitung von Katrin Bente Karl durchgeführt. Der erste Durchlauf stand im Zeichen eines explorativen Feldzuganges; es mussten in allen beteiligten Bereichen interessierte Projektteilnehmer_innen und Kooperationspartner_innen gefunden und diese erstmalig miteinander in Kontakt gebracht werden. Durch die universitäre Verankerung am Institut für Slavistik kam der Kontakt zu Studierenden mit slavischsprachigem Hintergrund zu Stande; ein Kooperationspartner an der Hochschule für Gesundheit – der Hochschullehrer André Posenau – vermittelte Ansprechpartner in Pflegeheimen rund um Bochum. Nachdem der erste und bis heute mit zwei Einrichtungen im Projekt vertretene Kooperationspartner auf überregionaler Ebene (das Evangelische Johanneswerk) sowie ein Bochumer Heim aus studentischer Initiative heraus (St. Marienstift) gewonnen werden konnten, sprach sich das Angebot unter den Pflegeheimen herum, sodass ein weiterer Kooperationspartner (die Einrichtung „Glockengarten“ der SBO/Senioreneinrichtungen Bochum gGmbH) von sich aus die Teilnahme am Projekt initiierte. So startete das Projekt mit drei beteiligten Pflegeheimen, in denen insgesamt sieben russisch- und polnischsprachige Bewohner_innen

Das Projekt UnVergessen

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lebten, für die eine Teilnahme am Projekt in Frage kam. Auf studentischer Seite kam eine Gruppe von sieben Studierenden zusammen, die sehr gute (meist muttersprachliche) Kenntnisse im Polnischen und Russischen mitbrachten und unterschiedliche Studiengänge besuchten (Slavische Philologie, Russische Kultur und Geschichte). Das Studienangebot in Form eines zweisemestrigen Moduls wurde in den (für Studierende vieler Fakultäten offenen) Optionalbereich eingespeist und mit 10 Credit Points (CP) für die gesamte Laufzeit vergütet. Die Studierenden besuchten über einen mehrmonatigen Zeitraum (von Januar bis August 2017) einen ihnen fest zugeordneten pflegebedürftigen Menschen und tauschten sich mit ihm in seiner Muttersprache aus. Im Laufe der Monate knüpften alle Teilnehmer_innen ein enges Band; die Studierenden berichteten in den wöchentlichen Austauschtreffen von vielen bewegenden Momenten und unterstrichen dabei vor allem immer wieder, als wie wichtig es empfunden wird, den Pflegebedürftigen die Möglichkeit zu geben, in ihrer vertrauten Sprache zu sprechen. Die Auswirkungen dieser sprachlichen Begleitung konnten dabei nicht nur die Studierenden beobachten, auch unsere Ansprechpartner_innen in den kooperierenden Pflegeheimen berichteten in Austauschtreffen über verblüffende Veränderungen bei den begleiteten Personen (ausführlicher dazu unten). Vor den mehr als positiven Erfahrungen des ersten Durchlaufes wurde das Projekt im zweiten Jahr – zunächst ohne finanzielle Förderung – ab Wintersemester 2017/18 fortgeführt. Dabei wuchs es in der Anzahl an Kooperationspartnern (auf sieben), an teilnehmenden Pflegebedürftigen (auf 10) und an Studierenden (auf acht) an. Im weiteren Verlauf offenbarten sich immer mehr die Potentiale der Betreuungsarbeit. Darunter fallen nicht nur die Auswirkungen auf die Pflegebedürftigen, der zu beobachtende Zuwachs an sozialer Kompetenz bei den Studierenden, eine Annäherung der Generationen oder die Sensibilisierung für die Situation in Pflegeheimen, sondern nicht zuletzt auch die Erkenntnis, dass es in diesem speziellen Bereich an Grundlagenforschung mangelt und sich so eine Vielzahl an potentiellen wissenschaftlichen Fragestellungen ergibt. Diese Erkenntnis leitete sodann den zweiten Durchlauf und führte dazu, dass sich Studierende aus der Teilnahme am praktischen Projekt heraus in wissenschaftlicher Weise mit dem Themengebiet

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Katrin Bente Karl & Yvonne Behrens

befassten und ihre Abschlussarbeiten dazu schrieben. So entstanden eine Bachelor- und eine Masterarbeit in diesem Zeitraum, parallel dazu entschied sich eine Teilnehmerin der ersten Runde, ihre Dissertation in diesem Feld anzusiedeln. Dies leitete dazu über, das Projekt in eine forschungsorientierte Richtung zu lenken und für den dritten Durchlauf unter dem Fokus des Forschenden Lernens neu auszurichten. Im Rahmen der Förderung von inSTUDIESplus in der Projektlinie „Forschendes Lernen“3 ab Juli 2018 (bis Ende Juni 2019) wurde UnVergessen zu UnVergessenPLUS. Der entsprechende dritte Durchlauf (seit Wintersemester 2018/19) steht nun unter dem Stern der Ausarbeitung studentischer wissenschaftlicher Arbeiten vor dem Hintergrund ihrer praktischen, insbesondere sprachlichen Betreuungsarbeit. Projektablauf, Einbindung in das Curriculum und Einblicke in die Forschungsthemen UnVergessenPLUS ist ein zweisemestriges Modul, das aus insgesamt drei Teilen besteht: einem Vorbereitungsseminar, der sprachlichen Betreuungsarbeit und einem Reflexionsseminar. Es ist curricular in mehreren Bereichen eingebunden. So können Studierende auf Bachelor-Ebene über die Einspeisung des Moduls in den Optionalbereich teilnehmen, auf Master-Ebene wird die Teilnahme über die Verankerung im Ergänzungsbereich ermöglicht. Daneben ist für Studierende des Studienganges Empirische Mehrsprachigkeitsforschung die Teilnahme als Praktikum anrechenbar. Im Durchlauf von Wintersemester 2018/19 bis Sommersemester 2019 nehmen zehn russisch- und polnischsprachige Studierende mit unterschiedlichen Studiengängen und in unterschiedlichen -phasen teil. In insgesamt neun kooperierenden Pflegeheimen besuchen sie seit Januar 2019 elf russisch- und polnischsprachige Pflegebedürftige. Der Einstieg in das Modul erfolgt jeweils im Wintersemester in Form eines universitären, wöchentlich stattfindenden Seminares, dessen Ziel es ist, eine wissenschaftliche, soziale und kommunikative Grundlage als Vorbereitung für die avisierte Betreuungsarbeit zu schaffen. Durch die Lektüre und

Das Projekt UnVergessen

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Besprechung wissenschaftlicher Grundlagentexte wird ein elementares Wissen in den thematisch relevanten Bereichen vermittelt: Konzepte und Vorstellung vom Alter(n); zentrale Erkrankungen des Alter(n)s wie (vor allem) Demenz; Sprache und Kommunikation (inkl. entsprechender Strategien) im Pflegeheim sowie die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und die Stellung der Sprachen im Laufe des Lebens. Im weiteren Verlauf wird der Bogen zur praktischen Anwendung geschlagen. Nach der Zuordnung der studentischen Teilnehmer_innen zu den Pflegebedürftigen erfolgt eine gezielte Vorbereitung auf die Betreuungsarbeit. Dies geschieht exemplarisch etwa durch die Simulation von ausgewählten Kommunikationssituationen und die Suche nach unterschiedlichen Möglichkeiten, womöglich auftretende (kommunikative) Probleme zu lösen. Hier findet, neben der gemeinsamen Vorbereitung im Seminar, eine Beratung und Betreuung durch Teilnehmer_innen der vorherigen Durchgänge von UnVergessen statt. In Einzeltreffen wird so eine Peer-to-PeerBegleitung ermöglicht, in der die Studierenden der letzten Jahre ihre Erfahrungen teilen. In dieser Weise erfolgt – bei Teilnahme der gleichen Pflegebedürftigen in der Folgerunde – eine Art „Übergabe“ zwischen den studentischen Teilnehmer_innen. In solch einem Fall finden die ersten Besuche der/des Pflegebedürftigen gemeinsam mit dem/der Teilnehmenden der vorherigen und der neuen Runde statt. Der zweite Modulteil umfasst die Betreuung und die sprachlich-soziale Arbeit in den Pflegeheimen. Vorgesehen ist der regelmäßige Besuch (ca. eine Stunde pro Woche) eines Pflegebedürftigen durch jeweils eine/n Studierende/n über den Zeitraum von ca. neun Monaten. Die Ausgestaltung der Besuche hängt von den Fähigkeiten und Bedürfnissen der/des Pflegebedürftigen und den Interessen der/des Studierenden ab. Sie kann reichen von Alltagskommunikation in der gemeinsamen Sprache, dem Schauen von Filmen oder dem Vorlesen von Büchern (Zeitschriften, Zeitungen etc.) über gemeinsames Singen bis hin zur Begleitung auf Spaziergängen inklusive von Erkundungen der näheren Umgebung. In diesem Teil des Moduls – das im Laufe der Vorlesungszeit im Wintersemester beginnt und sich dann bis zum Ende des Sommersemesters erstreckt – steht der Aufbau einer persönlichen Bezie-

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hung zwischen den beiden Tandempartner_innen im Vordergrund. Studierende und Pflegebedürftige sollen sich kennenlernen, die individuellen Besonderheiten (und auch Einschränkungen) wahrnehmen und vor diesem Hintergrund die gemeinsamen Aktivitäten planen. Die Studierenden erlangen hier Einblicke in den Pflegealltag, lernen einen pflegebedürftigen Menschen mit seinen körperlichen und/oder kognitiven Einschränkungen kennen und entwickeln ein Gespür für dessen Besonderheiten und Bedürfnisse. Vor diesem Erfahrungshintergrund kann im dritten Modulteil das eigenständige Forschende Lernen verfolgt werden. Die Studierenden sollen, basierend auf ihren Kenntnissen aus ihren studierten Fächern und unter Einbeziehung der Rahmenbedingungen ihres Projektpartners aus ihrem eigenen Interesse heraus eine Fragestellung formulieren, der sie im Laufe des Sommersemesters nachgehen. Diese kann in unterschiedlichen Disziplinen verankert sein, soll aber zum allgemeinen Themenbereich von UnVergessenPLUS passen. Die Forschungsthemen des aktuellen Durchlaufes zeigen, wie vielfältig die studentischen Interessen liegen und auf welch bereichernde Art diese das breite Spektrum des Projektes abbilden. Es lassen sich Arbeiten finden, die schwerpunktmäßig (kern)linguistische Themen betrachten, wie z.B. die Frage, ob unter Demenz eine Beeinträchtigung der Aspektverwendung im Russischen zu beobachten ist. Daneben beschäftigen sich einige Arbeiten mit der Beschreibung bzw. Auswirkung von unterschiedlichen Gesprächsstrategien im Umgang mit Demenzpatienten, zum Teil mit Fokus auf die Kommunikation zwischen einem mehrsprachigen Bewohner und seinem (deutschsprachigen) Pflegepersonal. Eine Studentin greift die (therapeutische) Wirkung von Musik auf und untersucht, in welcher Weise die Melodie bekannter russischer Volkslieder Einfluss auf die Erinnerungsfähigkeit haben kann. Eine vierte Reihe von Arbeiten ist im Bereich der Erforschung von biographisch-historischen, kulturellen und sozialen (intergenerationellen) Aspekten zu verorten. So geht eine Teilnehmerin der Frage nach, welche unterschiedlichen Konzepte von Heimat bei Vertretern verschiedener Generationen von ehemaligen Sowjetbürger_innen zu beschreiben sind. Eine weitere fokussiert sich auf eine

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introspektive Reflexion des Verhältnisses zwischen ihr als Vertreterin der jungen Generation zu Vertreter_innen der alten Generation mit Hinblick darauf, inwiefern sich ihre Erfahrungen aus dem Projekt darauf auswirken. Im Laufe des Seminares, das auch im Sommersemester in wöchentlichen Treffen stattfindet, wird im engen Austausch mit allen Teilnehmenden eine geeignete Methode für die jeweilige Forschungsfrage gesucht und ein entsprechendes Forschungsdesign erstellt. Dieses wird im Laufe des Sommersemesters umgesetzt und in seinen einzelnen Schritten im Seminar besprochen. Hierbei folgt das Seminar dem logischen Ablauf von Arbeiten im Bereich des Forschenden Lernens: Nach und während fortlaufender Sichtung der entsprechenden Forschung im Themenbereich erfolgt die Formulierung der Fragestellung, der sich die geeignete Methodenwahl anschließt. Die Ausformulierung des Forschungsdesigns und die exemplarische Erprobung stehen als Folgeschritte an, ebenso wie die (zunächst ebenfalls exemplarische) Auswertung und Konstruktion der Ergebnisse. Als letztes wird die Diskussion der Ergebnisse und die abschließende und umfassende Reflexion des gesamten Prozesses mit seinen Problemen, Lösungen und Perspektiven unternommen. Diese Schritte werden begleitet von entsprechenden Schreib- und Präsentieraufgaben (Zusammenfassung des Forschungsstandes und Formulierung der o.g. Schritte) sowie ihrer gemeinsamen, feedbackorientierten Besprechung im Seminar. So kann der Prozess des Forschenden Lernens unterstützt und reflektiert werden, zugleich dienen die Schreibaufgaben der Erstellung des schriftlichen Endberichtes. Neben diesem erarbeitet die gesamte Gruppe eine weitere Form der Darstellung ihrer geleisteten Arbeit, wobei beide Facetten – die sprachlich-soziale Betreuungsarbeit und die eigene wissenschaftliche Forschung – gleichermaßen berücksichtigt werden sollen. Im diesjährigen Durchlauf geschieht dies in Form einer Posterausstellung, in der anhand von insgesamt zehn Postern das Projektgeschehen visualisiert und der breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden soll. In dieser Weise reflektieren die Studierenden individuell und als Gruppe ihr Tun seit Beginn des Projektes. Durch die Ausstellung fungieren sie als Multiplikator_innen, tragen die Projektidee

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nach außen, sensibilisieren für die Situation von mehrsprachigen Pflegebedürftigen und adressieren potenzielle studentische Teilnehmer_innen für den Folgedurchlauf. Außeruniversitäre Kooperationspartner und deren Gewinn Das Projekt UnVergessenPLUS kooperiert mit aktuell neun Pflegeeinrichtungen im Ruhrgebiet. Für diese stellt die Teilnahme eine Erweiterung ihrer Angebote und einen Gewinn für Pflegebedürftige und Pflegekräfte dar. Das Besondere am Projekt sei, so äußerte sich ein Kooperationspartner, der Gewinn für alle Parteien. Sowohl Studierende, Pflegebedürftige als auch Pflegekräfte würden von UnVergessenPLUS profitieren. Die muttersprachliche Aktivierung der Pflegebedürftigen führt zu einem steigenden Gefühl der Sicherheit. Hierdurch fällt ihnen die Integration in ihre meist deutschsprachige Umgebung leichter. Bewohner, welche vor der Teilnahme den Tag allein verbrachten, bewegen sich heute frei in den Einrichtungen und sprechen eigeninitiativ ihre Mitmenschen an. Dieses Verhalten zeigt sich nach kurzer Zeit auch an Tagen, an denen keine Besuche seitens der Studierenden stattfinden. Der Anstieg des Sicherheitsgefühls führt ebenfalls zu einem aufkommenden Heimatgefühl in ihrer neuen Umgebung. Eine Einrichtung berichtet von einem dementiell erkrankten Bewohner, welcher vor der Teilnahme eine stark ausgeprägte „Hinlauftendenz“ aufwies, welche typisch für eine Demenzerkrankung ist und sowohl für den Bewohner, der das Heimgelände verlässt, als auch für andere Personen eine Gefahr darstellt. Bereits wenige Wochen nach den ersten russischsprachigen Besuchen minimierte sich diese Tendenz, sodass der Bewohner heute auf dem Gelände der Einrichtung bleibt. Das Pflegeheim wurde für ihn sein Zuhause. Die Studierenden lernen ihre zugeteilten Bewohner_innen kennen und finden Strategien, um den Zugang zu ihnen zu finden. Hierbei wird häufig Musik aus ihrer russisch- und polnischsprachigen Vergangenheit eingesetzt. Das gemeinsame Hören der Musik führt auch nach den Besuchen zu einer

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Erhöhung der Lebensfreude. Dies ist besonders an der Veränderung einer russischsprachigen Demenzerkrankten zu beobachten. Vor der Teilnahme wurde diese als apathisch und nicht-partizipierend beschrieben. Heute singt sie nicht nur während der Besuche mit den Studierenden, sondern auch im Pflegealltag. Ihre Aktivierung sei leichter geworden, berichten Pflegekräfte. Die Ermöglichung der muttersprachlichen Kommunikation habe ihr das Gefühl von Wertschätzung und Heimat gegeben. Diese Schlaglichter zeigen exemplarisch, in welcher Weise die Pflegebedürftigen, die Pflegekräfte und somit auch die Pflegeheime von einer Teilnahme an UnVergessen profitieren. In den Austauschtreffen unterstreichen die Kooperationspartner den großen Gewinn und empfehlen nachdrücklich die Partizipation. Zu den selbstverständlichen Erträgen gehören die wissenschaftlichen Ergebnisse, die seit Einführung des Forschenden Lernens erzielt worden sind (und teilweise in Haus- oder akademische Abschlussarbeiten mündeten). Wie aus den Ausführungen ersichtlich wird, sind die Erfolge von UnVergessen vielseitig. Aus der Zusammenführung von unterschiedlichen Institutionen und Generationen erwächst ein Mehrgewinn für alle beteiligten Partizipant_innen. Das überwältigende Gefühl, dass hier im besten Sinne tatsächlich alle und zugleich in mehrfacher Hinsicht profitieren, wird in der Reflexion immer wieder betont – die Teilnahme an UnVergessen bleibt unvergessen!

Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken – Der Ansatz öffentlicher Lehrforschung Ines Gottschalk & Sabrina Zajak Öffentliche Soziologie ist in aller Munde: Auf internationalen Kongressen, Tagungen und in zahlreichen Publikationen (Aulenbacher, Burawoy, Dörre, & Sittel 2017, Burawoy 2015, Selke 2019) wird über das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis und die gesellschaftliche Relevanz von Forschung diskutiert. Die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft hatte von Anbeginn an auch immer gesellschaftsgestaltenden Anspruch, sodass diese Debatte nicht neu ist (Bauman & May 2001). Dennoch findet man Ansätze zur Umsetzung einer öffentlichen Soziologie in der Lehre kaum. Das ist insbesondere für neuere Ansätze des Forschenden Lernens erstaunlich, denn es geht auch in der Lehrforschung um „die Gewinnung von auch für Dritte interessante[n] Erkenntnisse[n]“ (Huber 2009, S. 10). Im Projekt Öffentliche Sozialforschung: Engagement in der Ruhr-Metropole wurde eine Öffentlichkeitsorientierung in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses mitgedacht und zusammen mit Studierenden in unterschiedlichen Formaten Forschenden Lernens umgesetzt. Dieser Beitrag fokussiert die Rolle von Studierenden in doppelter Hinsicht: Erstens in ihrer Rolle als Forschende, die selbst aktiv Forschung betreiben und an größeren Forschungsprojekten beteiligt werden und diese mitgestalten können; zweitens in ihrer Rolle als öffentliche Kommunikator_innen, die lernen, ihre „Untersuchungssubjekte“ an der eigenen Forschung teilhaben zu lassen und dabei praxisnahes und gesellschaftsrelevantes Wissen zu produzieren. Kommen beide Aspekte zusammen, sprechen wir von öffentlicher Lehrforschung. Für öffentliche Lehrforschungsprojekte gilt es also insbesondere zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens muss klargestellt werden, wer die Öffentlichkeit bzw. das interessierte oder adressierte Publikum ist. Zweitens

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_32

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muss die Form des Dialogs in den verschiedenen Forschungsschritten konzeptualisiert werden. Lessenich und Neckel (2012) betonen beispielsweise die dialogische, interaktive und transformative Produktion wissenschaftlichen Wissens. Dabei geht es nicht einfach nur um die Kommunikation von Forschungsergebnissen in den öffentlichen Raum z.B. durch Pressemitteilungen oder öffentliche Veranstaltungen. Es geht auch um die Möglichkeit der Teilhabe von und des Austauschs mit Interessierten, Adressierten und „Beforschten“. Öffentliche Lehrforschung ist somit auch eine Form des „doing public sociology“. Öffentliche Sozialforschung: Engagement in der Ruhr-Metropole Im Folgenden werden zwei Ansätze öffentlicher Lehrforschung vorgestellt, die den Bezug zur Öffentlichkeit und Praxis unterschiedlich ausgestalten und in dem inSTUDIES-Projekt Öffentliche Sozialforschung: Engagement in der RuhrMetropole (2016-2018) entwickelt und mit Master- und Bachelorstudierenden der Sozialwissenschaft durchgeführt und erprobt wurden (https:// engagementforschung.blogs.ruhr-uni-bochum.de/). Eine Öffentlichkeitsorientierung ist gerade in der sozialen Bewegungs- und Zivilgesellschaftsforschung nicht ungewöhnlich, steht dahinter auch der normative Anspruch einer „Rückkehr der Soziologie in die Gesellschaft“ (Urban 2015, S. 223). Die Engagementforschung bietet sich aufgrund ihres Praxisbezugs sowie des Wunsches nach Handlungsempfehlungen der Praxis als gut geeignetes Anwendungsfeld einer öffentlichen Soziologie an (Unzicker & Hessler 2012). Konkret unterscheiden sich die vorgeschlagenen öffentlichen Lehrforschungsformate in der Art und Weise, wie die Rolle von nicht-wissenschaftlichen Akteur_innen (a) im Wissensgenerierungsprozess und (b) im Wissensdiffusionsprozess definiert wird sowie (c) durch den grundlegenden Mechanismus, mittels dessen Öffentlichkeitswirksamkeit erzeugt werden soll. Wir unterscheiden zwischen dialogorientierter und (selbst-)transformativer Lehrforschung.

Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken 365 Varianten öffentlicher Lehrforschung Wir zeigen anhand unserer beiden Konzepte der dialogorientierten und der (selbst-)transformativen öffentlichen Lehrforschung, dass man in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses das Verhältnis zwischen Lehrenden, Studierenden und spezifischer Öffentlichkeit unterschiedlich ausgestalten kann. Eine längere Version dieses Beitrags, der die beiden Formate unter anderem auch vergleichend in den Blick nimmt, findet sich bei Zajak und Gottschalk (2020). Dialogorientierte öffentliche Lehrforschung Eine Möglichkeit der Gestaltung des Lehrenden-Studierenden-Öffentlichkeits-Verhältnisses bezeichnen wir als dialogorientierte öffentliche Lehrforschung. Ziel ist es, den Studierenden neue Möglichkeiten der Wissensaneignung und des Wissenstransfers in konkreter Interaktion mit der lokalen Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Der Dialog in Form des gegenseitigen Austauschens und des reziproken Lernens findet dabei in unterschiedlichem Umfang in den einzelnen Forschungsschritten statt. Die Rollenverteilung zwischen Forschenden und „Beforschten“ bleibt bestehen. Es sind letztendlich die Forschenden (Dozent_innen und Studierende), die die finalen Entscheidungen über den Forschungsprozess treffen. In unserem Fall setzen wir dies in Form von sogenannten Engagementworkshops, von partizipativer Forschung sowie Veröffentlichungen im online Blog- und Sammelbandformat um. Diese Veranstaltung wurde im Rahmen eines zweisemestrigen Forschungsmoduls für Masterstudierende der Sozialwissenschaft zum Flüchtlingsengagement im Sommersemester 2016 und im Wintersemester 2016/2017 angeboten und mit 12 Credit Points (CP) vergütet (vgl. auch Gottschalk & Ruppel 2019). Für das Projekt wurde ein Thema ausgewählt, welches 2015 nach dem Sommer erhöhter Migrationen auch in Deutschland von großer gesellschaftspolitischer Relevanz war. Es war klar, dass dieses Thema auch auf lokaler Ebene in Bochum von Bedeutung für die Stadt, die Verwaltung, die Medien und natürlich für die zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie

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Ines Gottschalk & Sabrina Zajak

einzelnen Helfer_innen sein würde. Im Rahmen eines ersten Engagement-Workshops im Juni 2016 fand zwischen Engagierten, Praktiker_innen und Studierenden ein Austausch statt, wie über Engagement gesprochen und wie es erforscht werden sollte. Den Engagierten wurde zudem die Möglichkeit gegeben, Forschungsbedarfe aus ihrer Sicht einzubringen. Die zentralen Erkenntnisse sind anschließend unmittelbar in den weiteren Forschungsprozess, insbesondere in die Entwicklung von Fragestellungen sowie quantitativen Fragebogen und qualitativen Interviewleitfaden eingeflossen. Der Workshop diente den Engagierten auch dazu, für ihr Engagement zu werben. Da die soziale Bewegungsforschung oftmals mit partizipativen Elementen einhergeht (Kemmis, McTaggart & Nixon 2013, Reason & Bradbury 2013), war ein Engagement der Studierenden in der Flüchtlingshilfe parallel zum Forschungsprozess durchaus intendiert. Außerdem konnten die Studierenden auf diese Weise Kontakte für Interviews knüpfen. Der Austausch mit den Engagierten hatte somit auch eine Auswirkung auf den Datengenerierungsprozess. Ende Januar 2017 kam es dann gegen Ende der zweiten Seminarhälfte zum zweiten Engagement-Workshop. Neben den Studierenden und Engagierten sowie der interessierten Öffentlichkeit wurden außerdem Personen aus der Stadtverwaltung und ein Verwaltungswissenschaftler eingeladen, da der Umgang zwischen Behörden und Zivilgesellschaft (das sogenannte „Verwaltungschaos“) ein wichtiges Anliegen der Engagierten im ersten Workshop war und sich dementsprechend diesem Gesichtspunkt auch viele Handlungsempfehlungen der Studierenden widmeten. Die Engagierten hatten hier die Gelegenheit, die Ergebnisse der Studierenden zu kommentieren. Somit konnten wir auf der Grundlage des Dialogs zwischen Wissenschaft und Praxis verschiedene Öffentlichkeiten erreichen und den Input der Engagierten in die Überarbeitung der Texte mit aufnehmen. Diese Texte wurden auf dem Projektblog (https://engagementforschung.blogs.ruhr-uni-bochum.de/) sowie in einem Sammelband (vgl. Zajak & Gottschalk 2018) publiziert (für eine ausführlichere Darstellung des Begleitprozesses vgl. Ruppel & Gottschalk 2018; Gottschalk & Ruppel 2019).

Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken 367 (Selbst-)Transformatives Forschen Eine weitere Form der öffentlichen Lehrforschung ist das (selbst-)transformative Forschen, bei dem die Grenzen zwischen Forschenden und Aktiven aufgehoben werden. Die Studierenden werden in ein politisches, gesellschaftsgestaltendes Subjekt transformiert, welches neue Möglichkeiten der gesellschaftspolitischen Gestaltung für sich und andere erschließt (für eine ausführlichere Diskussion des Beitrags zur Bewegungsforschung sowie zur Darstellung der methodischen und didaktischen Umsetzung vgl. Zajak 2018). Im Gegensatz zur dialogorientierten Variante ‚beforschen‘ Studierende soziale Bewegungen hier nicht von außen, sondern führen ein Selbstexperiment durch, bei dem der/die Forschende selbst seine/ihre Alltagshandlungen über einen gewissen Zeitraum zu transformieren sucht. Das (selbst-)transformative Selbstexperiment weist viele Gemeinsamkeiten mit partizipativer, aktionsorientierter Forschung (PAF) auf. Ähnlich wie in der PAF verschmelzen Forschungssubjekt und -objekt in einer Person und die/der Forschende wird selbst zur aktiv handelnden Person. Neues Wissen wird auf nicht-hierarchische Weise und in Interaktion mit anderen generiert. Kontinuierlicher Wandel eigener Verhaltensweisen bilden den Kern der Wissensproduktion durch Reflexion. Gleichzeitig ist ein solches Selbstexperiment transformativ, da es eine Form der Selbstermächtigung („empowerment“) und das Erfahren eigener, individueller und kollektiver politischer Gestaltungsmacht auf Seite der Forschenden impliziert. Das (selbst-)transformative Selbstexperiment wurde sowohl im zweisemestrigen Bachelor-Empiriemodul (SS 2017 und WS 2017/2018) zur Engagementforschung im Ruhrgebiet (14 CP) als auch im Rahmen eines einsemestrigen (SS 2018) englischsprachigen Masterseminars zu Social movements and prefigurative politic in a global perspective (4 bzw. 5 CP) realisiert. Empirischer Gegenstand der von den Studierenden durchgeführten Selbstexperimente waren praxisorientierte soziale Bewegungen, die vom Wunsch angetrieben werden, breiten sozialen und politischen Wandel über Verhaltensänderungen zu erreichen (Yates 2015). Die Studierenden versuchten in zwei- bis sechswöchigen Experimenten, ihr Handeln zu transformieren. Gewählte

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Ines Gottschalk & Sabrina Zajak

Handlungspraktiken waren zero waste, zero plastic und zero social media, wobei die beiden erst genannten mit einem do-it-yourself-Lifestyle einhergehen. Den Kern des Selbstexperiments bildet die kontinuierliche Reflexion von Forschenden über ihre eigenen Handlungen, in erster Linie über ihre gesellschaftliche Rolle als politisches Subjekt. Im Verlauf des Selbstexperiments beobachten sich Forschende selbst bei der Wahl verschiedener Wissenskonstruktionspraktiken und in Interaktion mit anderen. Sie transformieren dieses Wissen in eigenes Handeln, womit es erfahrbar gemacht wird. Diese Erfahrungen erweitern letztlich den Horizont der Forschenden und ermöglichen verstehendes Erklären auf einer sehr grundlegenden Ebene. Gleichzeitig basiert diese Form der Wissensproduktion nicht auf Ausbeutungsverhältnissen und Machtasymmetrien, sondern auf gleichberechtigtem Dialog mit anderen. Dies geschieht nicht über die öffentliche Bereitstellung von Forschungsergebnissen, sondern durch den gegenseitigen Austausch. Anders als bei der dialogorientierten Variante teilen die Studierenden/Forschenden/Aktiven gelebte Erfahrungen mit den Aktivist_innen und lernen von ihnen, ohne eine dominante Position in der Koproduktion von Wissen einzunehmen. Da die Forschenden selbst zu Aktivist_innen werden und während ihres Experiments immer wieder zwischen Reflexions- und Aktionsphasen hin und her wechseln, wird die Unterscheidung sowohl zwischen Forschung und aktivistischer Praxis, als auch zwischen Wissensgenerierungs- und Wissensdiffusionsphasen in einem zu durchlaufenden Forschungszyklus radikal aufgelöst. Dementsprechend liegt dem Selbstexperiment weniger Vorstrukturierung durch die Lehrenden zugrunde. Die Studierenden/Forschenden werden mit dem entwickelten Reflexions-Aktions-Zyklus (Zajak 2018) bei der Wahl und Transformation ihrer Handlungspraktiken begleitet. Dabei zählt das Wechselspiel von Aktion und Reaktion auch als Kernelement partizipatorisch-aktiver Forschung im Allgemeinen (Starodub 2018).

Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken 369 Fazit: Innovationspotential und Limits öffentlicher Lehrforschung Öffentliche Lehrforschung besitzt enorme Potentiale für die universitäre Lehre und die Erzeugung eines wissenschaftlichen und öffentlichen Beitrags. Darüber hinaus wird öffentliche Sozialforschung zu einem Erfahrungsraum, in dem sich die Subjekt- und Kompetenzbildung der Studierenden vollzieht. Es ist ein adäquater Ansatz, um einige der Ziele, die im Forschenden Lernen angestrebt werden, umzusetzen. So stärkt er die Selbstermächtigung der Studierenden und schafft die Grundlage, reflexive Handlungskompetenz und ihre zukünftige berufliche Praxis kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Gleichzeitig trägt die gemeinsame Planung und Umsetzung öffentlichkeitswirksamer Ergebnispräsentationen (wie der Blogeinträge und der Workshops) zur Entfaltung von organisatorischen wie publikatorischen Kompetenzen bei. Durch das Knüpfen von Kontakten erweitern Studierende ihr persönliches Netzwerk. Zugleich werden durch begrenzte institutionelle Mittel und durch den zu organisierenden Einbezug der Öffentlichkeit und limitierte Zeitressourcen der Studierenden auch didaktisch zu lösende Herausforderungen deutlich (vgl. auch Ruppel & Gottschalk 2018, Gottschalk & Ruppel 2019). Öffentliche Lehrforschung ist somit ein anspruchsvolles Format, welches nicht nur öffentlichen und gesellschaftspolitischen Nutzen hat, sondern auch vielfältige (forschungsbezogene, andere professionelle und soziale) Kompetenzen der Studierenden fördert. Als Lern-, Erfahrungs- und Qualifikationsraum für Studierende sind öffentlicher Lehrforschung jedoch auch Grenzen gesetzt. So stellt der Brückenschlag von der Praxis in die Wissenschaft insbesondere Studierende vor große Herausforderungen und ist unseres Erachtens nur durch gute Vermittlung des Forschungsfeldes und der Zusammenhänge mit der Praxis durch die Dozent_innen zu leisten. Problematisch bleibt zudem, dass insbesondere Studierenden – gerade den besonders stark gesellschaftskritisch denkenden und politisch engagierten Persönlichkeiten – der „Erkenntnisvorteil der Distanz“ (Neidhardt 2017, S. 311) verloren gehen kann, wenn sie sich sehr mit dem Thema identifizieren und dann nicht mehr in der Lage sind, das bearbeitete Problem in größere

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gesellschaftliche Zusammenhänge einzubetten und zugrunde liegende Herrschaftszusammenhänge sichtbar zu machen. Von Seiten der Lehrenden müssen also nicht nur dialogische Formate organisiert und bereitgestellt werden, sondern es muss auch immer wieder zu selbstkritischen Reflexionsprozessen angeregt werden. Literatur Aulenbacher, Brigitte, Burawoy, Michael, Dörre, Klaus, & Sittel, Johanna (Hg.) (2017): Öffentliche Soziologie: Wissenschaft im Dialog mit der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Bauman, Zygmunt; May Tim (2001): Thinking sociologically. Hoboken. Burawoy, Michael (2015): Public Sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit. Weinheim/Basel. Gottschalk, Ines & Ruppel, Paul S. (2019): Funktionen des Schreibens im Forschendes Lernen. Ein Systematisierungsversuch am Beispiel eines schreibintensiven sozialwissenschaftlichen Lehrforschungsprojekts. In: Berendt, Brigitte, Fleischmann, Andreas, Schaper, Niclas, Szczyrba, Birgit, Wiemer, Matthias & Wildt, Johannes (Hg.) (2019): Neues Handbuch Hochschullehre 92: S. 65-94. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: ders., Hellmer, Julia & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld: S. 9-35. Kemmis, Stephen, McTaggart, Robin & Nixon, Rhonda (2013): The action research planner: Doing critical participatory action research. Luxemburg. Lessenich, Stephan, & Neckel, Sighard (2012): DGS goes public! In: Soziologie 3/2012: S. 317-319. Neidhardt, Friedhelm (2017): „Public Sociology“ – Burawoy-Hype und linkes Projekt. In: Berliner Journal für Soziologie 2/2017: S. 303-317.

Forschendes Lernen und öffentliche Soziologie gemeinsam neu denken 371 Reason, Peter & Bradbury, Hilary (Hg.) (2013): The SAGE Handbook of Action Research: Participative Inquiry and Practice. New York. Ruppel, Paul S. & Gottschalk, Ines (2018): Kooperative Prozesse qualitativen Forschens im Rahmen eines interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Studiums. In: Neuber, Nils, Paravicini, Walter & Stein, Martin (Hg.) (2018): Forschendes Lernen – the wider view. Münster: S. 459-562. Selke, Stefan (Hg.) (2019): Öffentliche Soziologie. Eine Einführung in Theorie, Debatte und Praxis eines alternativen Disziplinverständnis. Wiesbaden. Starodub, Alissa (2018): Horizontal participatory research action: Refugee solidarity in the border zone. Online unter: https://rgs-ibg.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/area.12454 Unzicker, Kai & Hessler, Gudrun (Hg.) (2012): Öffentliche Sozialforschung und Verantwortung für die Praxis. Zum Verhältnis von Sozialforschung, Praxis und Öffentlichkeit. Wiesbaden. Urban, Hans-Jürgen (2015): Soziologie, Öffentlichkeit und Gewerkschaften. Versuch eines vorausschauenden Nachworts zu Michael Burawoys Public Sociology. In: Burawoy, Michael (Hg.) (2015): Public Sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit. Weinheim: S. 221-242. Yates, Luke (2015): Rethinking prefiguration: Alternatives, Micropolitics and Goals in Social Movements. In: Social Movement Studies 1/2015: S. 1-21. Zajak, Sabrina (2018): Engagiert, politisch, präfigurativ – Das Selbstexperiment als transformative Bewegungsforschung. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 4/2018: S. 98-105. Zajak, Sabrina & Gottschalk, Ines (2018) (Hg.). Flüchtlingshilfe als neues Engagementfeld. Chancen und Herausforderungen des Engagements für Geflüchtete. Baden-Baden. Zajak, Sabrina & Gottschalk, Ines (2020): Forschendes Lernen als öffentliche Sozialforschung: Zum Konzept der öffentlichen Lehrforschung. In: Selke, Stefan, Bude, Heinz, Jende, Robert, Lessenich, Stephan & Neun, Oliver (Hg.) (2020): Handbuch „Öffentliche Soziologie“. Wiesbaden.

Nachhaltigkeitsforum RUB – Zukunftsfähiges Gestalten: Umwelt – Wissenschaft – Gesellschaft Matthias Thome Beginns der Umsetzung des Konzepts, Dauer eines Lehrforschungsprojekts Die Umsetzung des Projekts Nachhaltigkeitsforum RUB (NHF) startete am 1. April 2017. Es war auf einen Zeitraum von zwei Semestern angelegt (Sommersemester 2017 und Wintersemester 2017/18) und wurde ein Jahr lang im Universitätsprogramm „Forschendes Lernen“ gefördert. Modus der Durchführung Das Projektziel war es, einen grundlegenden Rahmen für die partizipative Bearbeitung von Nachhaltigkeitsthemen zu schaffen und ausgewählte Themen praktisch zu behandeln Das Projekt wurde zeitlich mit offenem Ende ausgelegt. Es zielt auf den weiteren, nachhaltigen Auf- und Ausbau einer nach Bedarf wachsenden und lernenden Infrastruktur. Zu den zielführenden Tätigkeiten zählten im geförderten Zeitraum die Durchführung von offenen, moderierten Treffen für a) die Identifikation relevanter Themen, b) die Identifikation interessierter TN-Gruppen und interessierter Einzelpersonen (TN = Teilnehmende). Die offenen Treffen fanden einmal im Monat in einem Zeitrahmen von 2-3 Stunden statt. Dort wurden mögliche Themen vorgestellt, aus der Runde aufgenommen und moderiert erörtert. Dabei wurde festgehalten, welche The-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_33

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men auch bei künftigen Treffen aufgegriffen und gegebenenfalls durch Teilnehmende weiter vorbereitet und entwickelt werden können. Daraus entstanden sind etwa die Arbeitskreise Urban Gardening und Bioabfall. Durch das offene Format, einen direkten Austausch während des moderierten Ablaufs und durch einzelne Abfragen über Listen (optional anonym) wurde zudem deutlich, aus welchen Kreisen und mit welcher Motivation die Teilnehmenden zum Projekt gekommen sind. Der TN-Kreis bestand im Jahr 2017 aus Studierenden und Promovierenden unter anderem aus den folgenden Fachrichtungen: Umwelttechnik und Ressourcenmanagement (UTRM), Bauingenieurwesen, Angewandte Informatik, Europäische Kultur und Wirtschaft/European Culture and Economy (ECUE), Sozialwissenschaften, Geowissenschaften, Elektrotechnik, Architektur, Politikwissenschaften (Universität Duisburg-Essen), Raumplanung (Technische Universität Dortmund), Philosophie, Chemie, Nachhaltige Entwicklung (Hochschule Bochum), Geschichte. Über den Förderzeitraum erfolgte ein nahezu durchgängiges Protokollieren der Ergebnisse. Für die Protokolle war folgende Verwendung vorgesehen: a) Versand an Teilnehmende, b) Dokumentation auf dem Blog. Die besprochenen Themen wurden inhaltlich festgehalten und über einen Mailverteiler an die Teilnehmenden sowie an gemeldete Interessierte verschickt, so dass ein gemeinsamer Wissensstand erhalten und aufgebaut werden konnte. Auf dem Blog (www.nachhaltigkeitsforum.wordpress.com) wurden die Protokolle der durchgeführten Foren und Veranstaltungen veröffentlicht. Der Blog konnte dabei als „Schaufenster“ der vollbrachten Arbeit sowie als „Ideenschauplatz“ dienen. Dargestellt wurden auch und insbesondere Updates zu laufenden Projekten, beispielsweise zu den Arbeitskreisen Urban Gardening und Bioabfall. Ebenso konnte über den Blog auf interne als auch für den TN-Kreis interessant erscheinende externe Veranstaltungen hingewiesen werden.

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Bei den NHF-Treffen erfolgte zudem die Festlegung fokussierter Themen a) für die Organisation von offenen Vortragsveranstaltungen, b) für die Organisation möglicher Arbeitsgruppen. Die über die Förderung unterstützten Tätigkeiten umfassten über das Jahr gesehen unter anderem folgende Aspekte: • • •

Dokumentation, Aufbau eines Blogs, Einrichtung der Infrastruktur a) Mailverteiler, b) Ansprechpersonen und Kontakte (Mail), c) Content-Management-System und webbasierter Texteditor (Share-Point und PADs) für die gemeinsame Bearbeitung durch Interessierte (Mischung aus RUB-Infrastruktur und Open Source/Free Ware).

(Exemplarische) Ergebnisse und Präsentationsformen Die Themen, das Diskussionsformat und auch die strukturellen Rahmenbedingungen wurden im stetigen Austausch mit allen Teilnehmenden abgestimmt und weiterentwickelt. Neben der Abstimmung eines gemeinsamen Selbstverständnisses, an dem sich das Forum und das Organisationsteam orientieren können, wurde aus dem TN-Kreis heraus in einem mehrstufigen Entscheidungsprozess ein Logo entwickelt.

Abbildung 1: Erstelltes Logo & abgestimmtes Selbstverständnis des Nachhaltigkeitsforums

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Matthias Thome

Regelmäßige Treffen des Nachhaltigkeitsforums mit verschiedenen Impulsvorträgen führten zu weiteren Resultaten. Bei den offenen Treffen (Kolloquien) hatten Interessierte aus allen Fachbereichen die Möglichkeit, sich zu ausgewählten Themen zu informieren oder eigene Ideen einzubringen. Als besondere Merkmale der Zusammenkünfte können gelten: • • •



Vielfalt der behandelten Themen Disziplinäre Heterogenität der eingeladenen Gäste Unterschiedliche Hintergründe der mitwirkenden Teilnehmenden, nämlich o Studierende diverser Fachbereiche (Schwerpunkt: Ingenieurund Naturwissenschaften) o Studierende unterschiedlicher Hochschulen (Schwerpunkt: RUB-Studierende) o Gäste ohne Hochschulbezug Variierende Anzahl der Teilnehmenden zwischen 15 und 100 Personen

Insgesamt lässt sich die Ablaufstruktur folgendermaßen wiedergeben:

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Abbildung 2: Schema des NHF

Diese regelmäßigen Treffen – mittlerweile fest terminiert an jedem ersten Dienstag im Monat – laufen in einer gemeinsam abgestimmten und standardisierten Form ab: • • •

Begrüßung, Allgemeines & Neues Vorstellung Stand der Dinge & anstehende Aufgaben in den AKs Kurzer Impuls zum Thema „Das Transition Town-Konzept: Übergangsansatz für eine postfossile & relokalisierte Wirtschaft“ von Patrick Schulte

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Matthias Thome • • •

Exkursionsplanungen: „BoWusst-Stadtführung“ Künftige Vorträge/Vortragende für NHF-Veranstaltungen Sonstiges

Neben vorgeschlagenen und aufbereiteten Impulsvorträgen wurden zusätzlich Themen angeschnitten, die sich aus der Gruppe heraus ergaben und für die zum Teil Vorträge durch Gastreferierende organisiert wurden. Den Auftakt zum Wintersemester 2017 machte eine im NHF abgestimmte Veranstaltung am 24.10.2017 für ein ausgeweitetes Publikum im Universitätsforum Ost. Circa 70 Teilnehmenden wurde durch Gäste aus Bochum, Essen, Dortmund und Wuppertal ein Einblick in divergierende Herangehensweisen in unterschiedlichen Fachbereichen zum Thema „Alternative Wege der Stadtentwicklung“ gegeben. In kleinerem Rahmen wurden zudem weitere Impulsvorträge zu unterschiedlichen Themen organisiert: • • • • • •

„Energiespeichersysteme – bringt Power-to-Gas Licht in die Dunkelflaute?“ „Coffee to Go: Die neue Herausforderung – sind ökologische Alternativen möglich und realisierbar? “ „Gemeinwohlökonomie – Theoretischer Überblick und praktische Ansätze“ „Das Transition Town-Konzept: Übergangsansatz für eine postfossile & relokalisierte Wirtschaft“ „Die Klimakonferenz COP23 – Hintergründe, Ziele & Entwicklungen“ „CO2 und Plastiktüte – Stoff- und Objektgeschichte als neue Forschungsmethode“

Aus diesen Impulsen entwickelten sich unterschiedliche Arbeitskreise (AK). Diese AKs waren dabei Ausdruck des gemeinsamen Wunsches der Teilneh-

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menden, tiefer in Themenfelder einzudringen und gemeinschaftlich und konstruktiv zu bearbeiten. Beispiele solcher Entwicklungen sind die bereits erwähnten Arbeitskreise Bioabfall und Urban Gardening. Aus den NHF-Treffen haben sich unterschiedliche Schwerpunktthemen sowie eine Gruppe an interessierten Beteiligten ergeben. Über die NHF-Koordination unterstützt wurden einzelne Themen und mögliche Untersuchungsziele konkretisiert, ausformuliert und für einen Projekte über den inSTUDIES-Wettbewerb „initiativ handeln“ ausgearbeitet. Die beiden im Folgenden kurz skizzierten Projektanträge aus dem AK Bioabfall und dem AK Urban Gardening wurden bewilligt und ab dem Wintersemester 2017/18 im Zeitraum eines Jahres umgesetzt. Beispiel 1: Bioabfall: Potenzial- und Wirtschaftlichkeitsanalyse (AK Bioabfall) Ziel des Projekts im Arbeitskreis Bioabfall war die Betrachtung der Potenziale hinsichtlich einer optimierten, lokalen Bioabfallentsorgung mithilfe bestehender Entsorgungsmöglichkeiten. Konkret äußerte sich dies in der Überprüfung der Realisierbarkeit, eine zusätzliche Tonne für biologische Abfälle in studentischen Wohnheimen einzuführen. Grundlage hierfür waren ökologische und ökonomische Anreize sowie das Bereitschaftspotential von Studierenden in Wohngemeinschaften. In Abhängigkeit von den Ergebnissen wurde als Anknüpfungspunkt ein konkretes Umsetzungskonzept für die Einführung einer Biotonne oder eine Empfehlung für weitere Handlungsmaßnahmen angedacht. Während des Projektes wurde gezielt auf die Situation in Bochum eingegangen, da sich dort eine Vielzahl an studentischen Wohnheimen befinden. Aufgabe des Projekts war es unter anderem, die Vorteile der Trennung von organischem Abfall und Restmüll sowie mögliche (lokale) Probleme bei der Umsetzung einer solchen Trennung herauszuarbeiten. Dabei wurde speziell auf die studentischen Wohnheime des Akademischen Förderungswerks (AKAFÖ) in Bochum eingegangen. Anhand des Bereitschaftspotentials der Studierenden wurde die Realisierbarkeit einer Trennung durch die Einführung einer Biotonne, zusätzlich zur vorhandenen Restmülltonne, beurteilt.

Abbildung 3: Schematische Ziel- und Vorgehensübersicht

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Beispiel 2: Urban Gardening im Ruhrgebiet (AK Urban Gardening) Im Rahmen des Projekts Urban Gardening sollte ein Leitfaden zu urbaner Gärtnerei entwickelt werden, der über theoretische Grundlagen und botanische Hintergründe aufklärt sowie auf das verstärkt in Deutschland, speziell auch im Ruhrgebiet aufkeimende soziokulturelle Phänomen der individuellen bzw. alternativen Stadtbegrünung eingeht. Des Weiteren wurde ein Workshop mit dem Fokus auf technische und praktische Grundlagen für individuelle Stadtgartenprojekte organisiert und durchgeführt. Ziel war es, über die Fachgrenzen hinaus für die Frage einer regionalen und nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion zu sensibilisieren und elementare Informationen verfügbar zu machen. Um einen praktischen Einblick in bereits bestehende Strukturen zu ermöglichen und sich mit erfahrenen Akteur_innen aus der Region auszutauschen, wurde ergänzend ein Exkursionskonzept entwickelt und durchgeführt. Die Ergebnisse aus den verschiedenen Bearbeitungsfeldern wurden im Rahmen einer Abschlussveranstaltung im Oktober 2018 einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ergebnisse aus den Projekten (mit und ohne Förderung) wurden für den Blog aufbereitet und können dort eingesehen werden (www.nachhaltigkeitsforum.wordpress.com). Dazu zählen unter anderem • • • • • •

die Informationssammlung zum Thema Biotonne, der Informationsflyer zum Thema Bioabfall, der Leitfaden „Urban Gardening“, eine Online-Übersicht zu Gemeinschaftsgärten in Bochum, Fotodokumentation des Urban Gardening-Workshops, die Ergebnisse einer Abfrage zur Mehrwegbechernutzung (Kooperationsveranstaltung mit dem Umwelt- und Grünflächenamt der Stadt Bochum).

Abbildung 4: Schematische Ziel- und Vorgehensübersicht

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Einbindung des Projekts in Studiengänge, -programme und -curricula Das Nachhaltigkeitsforum wurde als offenes Format konzipiert. Es ergaben sich jedoch bereits nach kurzer Zeit verschiedene Unterstützungs- und Anknüpfungsmöglichkeiten für eine curriculare Anbindung. Dazu zählen eine Projektarbeit am Lehrstuhl für Umwelttechnik und Ökologie im Bauwesen sowie die Unterstützung bei der Themenfindung für BA- und MA-Abschlussarbeiten. Durchgängig wurde das Format als nicht-kreditierte Ergänzung zum Lehrangebot als interessensmotivierter Einstieg in wissenschaftliche Themen mit Gesellschaftsbezug genutzt. Nach der erfolgreichen Durchführung der beiden Projekte Bioabfall und Urban Gardening wurde zudem über die bestehende NHF-Struktur (im Anschluss an den Förderzeitraum) aus dem Anfang 2018 entstandenen AK Tiny House das Projekt Nachhaltiges Bauen und Wohnen am Beispiel Tiny House entwickelt, im Rahmen einer weiteren inSTUDIES-Wettbewerbsrunde eingereicht und bewilligt. Dieses Projekt ist optional-curricular in das Lehrangebot der Fakultät für Bau- und Umweltingenieurwissenschaften eingebunden. Es wird unterstützt durch den Lehrstuhl für Ressourceneffizientes Bauen (ReB) und läuft in kreditierter Form organisiert über zwei UTRM-Studierende seit dem Sommersemester 2019 mit über 30 Teilnehmenden. Des Weiteren haben sich über Kontakte und Kooperationen weitere Anknüpfungspunkte für die gemeinsame Bearbeitung praxisrelevanter Themen an der Ruhr-Universität Bochum und im regionalen Umfeld ergeben, die über den Förderzeitraum Bestand haben. An einer Umsetzung über geeignete Bearbeitungsformate für eine nachhaltige Mitgestaltung des Umfelds wird derzeit zusammen mit Beteiligten der Universität (Baudezernat, Botanischer Garten) sowie mit verschiedenen Fakultäten gearbeitet.

Forschendes Lernen in der Lehrer_innenausbildung

Einleitende Bemerkungen Gabriele Bellenberg Ein zentrales Ziel der gesamten Lehrer_innenbildung ist es, dass (angehende) Lehrkräfte eine reflexive Grundhaltung zu ihrem professionellen Handeln als Lehrperson aufbauen und möglichst ein Berufsleben lang aufrechterhalten können. Diese Reflexivität wird als Basis für die (selbst)kritische Distanz zum eigenen professionellen Handeln als Lehrkraft angesehen. Forschendes Lernen im Lehramtsstudium soll in diesem Zusammenhang zweierlei leisten: Es ermöglicht die notwendige Distanz durch systematische, wissenschaftsbasierte Beobachtung von (eigenen) schulischen Praxen, die im Bachelor- wie im Master of Education-Studium, insbesondere (aber keinesfalls ausschließlich) in den Schulpraxisphasen eingeübt werden kann. Zweitens ist das Forschende Lernen als eine reflexive Technik auch die Voraussetzung, um durch Erfahrung sowie gezielte Fort- und Weiterbildungen die eigene Professionalität während der eigenen Berufsbiographie aufrechtzuerhalten und zu erneuern. Eine zentrale Rolle für die Entwicklung einer reflexiv-forschenden Grundhaltung wird in der ersten Phase der Lehrer_innenbildung den schulischen Praxisphasen zugeschrieben: In Nordrhein-Westfalen (NRW) findet das für angehende Lehrkräfte verpflichtende und bildungswissenschaftlich verantwortete Eignungs- und Orientierungspraktikum im Bachelor-Studium statt und wird im Master of Education-Studium durch ein fünfmonatiges Praxissemester ergänzt. Zielstellung des Praxissemesters ist eine professionsorientierte Theorie-Praxis-Verzahnung, bei der das für den Lehrerberuf relevante, erworbene Theorie- und Reflexionswissen aus den Fachwissenschaften, den Fachdidaktiken und den Bildungswissenschaften im Modus einer forschenden Grundhaltung mit der Tätigkeit in der Schule verknüpft werden soll (MSB NRW o.J., Hervorhebung G.B.).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_34

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Gabriele Bellenberg

NRW hat ein Konzept des Praxissemesters geschaffen, bei dem in festgelegten Ausbildungsregionen Universitäten, Schulen und Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) kooperieren und ihre Tätigkeiten untereinander eng abstimmen. Universitätsseitig werden die Studierenden auf das Praxissemester, das an der RUB in der Regel im dritten Mastersemester stattfindet, in vorauslaufenden Seminaren (im normalen Semesterbetrieb) vorbereitet und während des Praxissemesters sowohl durch ihre beiden Fächer als auch durch die Bildungswissenschaftlichen (fach-)didaktisch begleitet. Die spezifische Anlage des Praxissemesters in Nordrhein-Westfalen (in der Regel pro Woche vier Schulbesuchstage sowie ein Tag für die universitäre Begleitung in den Fächern und Bildungswissenschaften) führt zu zeitlichen Restriktionen für die universitären Begleitveranstaltungen zum Praxissemester. Die (beliebige) Kombination aus 22 Unterrichtsfächern der Studierenden plus Bildungswissenschaften wird an der RUB dadurch realisiert, dass alle Begleitseminare zum Praxissemester nur alle drei Wochen (und damit fünf Mal pro Semester) als Präsenzseminar durchgeführt und durch Blended-Learning-Angebote ergänzt werden. Die Begleitveranstaltungen zum Praxissemester stehen damit vor der Herausforderung, das Forschende Lernen innerhalb dieser spezifischen Seminarvorgabe zu realisieren. Die folgenden Beiträge dieses Schwerpunktteils geben einen ersten Einblick in die hohe Bedeutung, die dem Forschenden Lernen in der Lehrer_innenbildung an der RUB beigemessen wird wie auch in die Vielfalt der konzeptionellen Umsetzungen. Peter Floss und Carolin Kull zeigen, wie im Begleitseminar zum Eignungs- und Orientierungspraktikum das Forschende Lernen bereits im Bachelor-Studium angeleitet und mit Fokus auf den individuellen Professionalisierungsprozess verankert wird. Auf diese Grundlage können die bildungswissenschaftlichen und fachlichen sowie fachdidaktischen Studien im Master of Education-Studium zurückgreifen. Für die Vielfalt erziehungswissenschaftlicher Begleitseminare zum Praxissemester stehen die Beiträge von Grit im Brahm und Nele Kullmann. Grit im Brahm zeigt in ihrem Beitrag, wie und mit welchen hochschuldidaktischen Entscheidungen das Forschende Lernen mit der anspruchsvollen affektiven

Einleitende Bemerkungen

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Zielstellung auf die professionelle Haltung auch im Rahmen von nur wenigen Präsenzphasen und überwiegenden Blended-Learning-Angeboten realisiert werden kann. Nele Kullmann stellt ein seminaristisches Begleitkonzept vor, welches didaktisch als kasuistisches Lernen am Fall entwickelt ist und darauf abzielt, Studierende in die Lage zu versetzen, Alltagssituationen auf Spannungen hin lesen und vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien deuten zu können. Exemplarisch für die Bandbreite der Umsetzung Forschenden Lernens in den Fächern stehen die Beiträge von Anastasie Drackert (Russisch) sowie Cornelius Herz, Ralf Glitza und Lisa-Marie Stremmer (Deutsch und Philosophie). Für die Praxissemester-Begleitveranstaltung im Fach Russisch arbeitet Anastasia Drackert heraus, wie aufgrund der Anbahnung in der auf das Praxissemester vorbereitenden Veranstaltung Studierende die Themen ihres Studienprojektes selbst (weiter) entwickeln und zeigt an exemplarischen Rückmeldungen von Studierenden den individuellen Gewinn durch das Forschende Lernen auf. Ralf Glitza, Cornelius Herz und Lisa-Marie Stremmer stellen in ihrem Beitrag ein interdisziplinär angelegtes Seminar vor, in welchem Studierende selbstständig eigene Forschungsfragen am Beispiel von Kinder- und Jugendliteratur bzw. Kinder- und Jugendmedien (KJLM) an der Schnittstelle zwischen Germanistik und Philosophie entwickeln und erproben können. Das letzte Beispiel macht deutlich, dass sich das Forschende Lernen im Lehramtsstudium keineswegs auf die Begleitung von schulischen Praxisphasen beschränken muss (und darf), sondern für die gesamte Lehrer_innenbildung mit ihrer reflexiven Zielstellung von grundlegender Bedeutung ist.

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Gabriele Bellenberg

Literatur MSB NRW (Ministerium Schule und Bildung Nordrhein-Westfalen) (o.J.): Was sind die Ziele des Praxissemesters? Online unter: https:// www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Lehrer/Lehrkraft-werden/ Lehramtsstudium/Praxiselemente/Praxissemester/FAQ-Lehramtsstudium-Praxissemester/FAQ2-Lehramtsstudium-Praxissemester/ index.html

Kinder- und jugendliterarische Medien – Perspektiven empirisch forschenden Lernens im Master of Education Ralf Glitza, Cornelius Herz & Lisa-Marie Stremmer Thema und Genese des Projekts Forschendes Lernen hat sich in der universitären Lehramtsausbildung als neues, fächerübergreifendes Leitprinzip fest etabliert (vgl. Fichten 2017, S. 155ff.). Davon ausgehend werden in dem inSTUDIES-Projekt Kinder- und jugendliterarische Medien: Perspektiven empirisch forschenden Lernens im Master of Education interdisziplinäre Zugänge auf der Grundlage germanistischer Ansätze erprobt. Im Zentrum steht die Frage, wie Studierende selbstständig eigene Forschungsfragen am attraktiven und zugleich populären Beispiel von Kinderund Jugendliteratur bzw. Kinder- und Jugendmedien (KJLM) entwickeln und erproben können. Empirische und kritisch-geisteswissenschaftliche Perspektiven sollen integriert werden. Im Sommersemester 2018 wurde erstmalig ein Lehrangebot zum Thema „Werte in KJLM“ gemacht. Im Hauptseminar Ethik und Kritik. Forschendes Lernen zur Kinder- und Jugendliteratur wurden germanistische und philosophische Zugänge kombiniert. Dieser interdisziplinäre Ansatz wurde gewählt, da KJLM – in ihrer Tradition schon lange mit Fragen von Erziehung und Wertvermittlung verwoben – immer wieder als Medium ethischer Reflexion fungieren.1 Eine systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit der „narrativen Ethik“ in KJLM ist in der Forschung bislang allerdings ausgeblieben (Anselm 2014, S. 17, 22). Ein germanistisch-philosophischer Themenzuschnitt 1

Sie können unmittelbar ethikrelevante Themen (Schicksale oder Dilemmata) behandeln, in denen anthropologische Grenzerfahrungen oder Wertekonflikte zum Ausdruck kommen (vgl. Abraham 2017, S. 7; vgl. ebenfalls Anselm 2014, S. 16).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_35

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besitzt somit einen Neuigkeitswert, der das forschende Lernen im Seminar motivational fördert. Dasselbe gilt für die wissenschaftliche und praktische Bedeutung des Themas. Aufgrund der großen Resonanz, der positiven Evaluation der Lehrveranstaltung und des weiterhin bestehenden Forschungsbedarfs wird das Projekt seither in Form des einsemestrigen germanistisch-philosophischen Hauptseminars Ethik und Kritik für Masterstudierende beider Studienfächer sowie anderer Fächerkombinationen fortlaufend durchgeführt. Modus der Durchführung Im Hauptseminar werden philosophisch-ethische sowie narratologische Analysen auf den Ebenen des Handlungs- und Symbolsystems von KJLM2 kombiniert. Fokussiert werden Werte und Wertediskurse. Die Studierenden erwerben Wissen zu moralphilosophischen Theorien, um auf dieser Grundlage Werteverhandlungen in fiktionalen KJLM sowie öffentlichen Kontroversen aus ethischer Perspektive analysieren zu können. Als Forschungsgrundlage stehen den Studierenden Texte verschiedener moralphilosophischer Schulen zur Verfügung (u.a. Utilitarismus, Deontologie, Tugendethik), die im Seminar unter Anleitung systematisch erschlossen und diskutiert werden. Die ethischen Analysen des Inhalts und der Form von KJLM (Symbolsystem) widmen sich verschiedenen Publikationen von klassischen Jugendbüchern bis hin zu visuell vermittelten Narrativen, bei denen etwa bildästhetische Repräsentationen von Gesellschaft(en) kindliche Wertvorstellungen wesentlich prägen können.3 Ziel ist es, dass die Studierenden eine kritisch-reflexive und theoriegestützte Haltung zu fiktional vermittelten Werteverhandlungen in KJLM entwickeln. Im Hinblick auf einen möglichen berufsqualifizierenden Lehramtsabschluss entwerfen sie dabei in der Einheit Unterrichtseinsatz didaktische Konzepte zur Förderung ethischer Urteils- und 2

3

Gemäß Carsten Gansel bezeichnet das „Handlungssystem“ die Produktion, Distribution und Rezeption, das „Symbolsystem“ hingegen den Inhalt (histoire) und die Form/Darstellungsweise (discours) kinder- und jugendliterarischer Texte (2014, S. 21). U.a. zu den Themen Migration, Gewalt, Religion usw. wie beispielsweise bei Teller (2013, 2017) oder bei Göbel und Göbel (2011a, 2011b) sowie Tuckermann (2014).

Kinder- und jugendliterarische Medien

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Handlungsfähigkeit im Umgang mit KJLM. Die analytische Auseinandersetzung mit einzelnen öffentlichen Debatten zu KJLM (Handlungssystem) aus moralphilosophischer Perspektive findet in der Einheit Philosophie integriert statt. Aktuell erfolgt dies am Beispiel von Gerichtsurteilen, die gerade im Rahmen von Schule die (Nicht-)Sanktion von KJLM im öffentlichen Interesse thematisieren, sowie an publizistischen und wissenschaftlichen Texten über andere Beschwerdevorgänge4 oder über die Verbannung von KJLM mit umstrittenen Inhalten aus US-amerikanischen Bibliotheken (vgl. dazu z.B. die Banned Books Week; vgl. Bonin & Leffers 2006). Insgesamt werden orientierende Plenumsarbeit und selbstregulierte Team- sowie Forschungsarbeit kombiniert. Ausgehend von einer selbstgewählten Debatte zu KJLM untersuchen Studierende eine eigene Forschungsfrage entlang vorgegebener philosophisch-ethischer Konzeptionen. Darüber hinaus entwerfen sie anschließend ein eigenes Forschungsdesign zur Überprüfung ihrer Fragen. Die Ergebnisse der Projekte stellen die Studierenden schließlich in einer Posterpräsentation vor und reflektieren sie mit ihren Kommiliton_innen (Peer-Feedback). Diese im wissenschaftlichen Umfeld gängige Präsentationsmethode dient der Aneignung sowohl fachlicher als auch überfachlicher Kompetenzen. Die kritisch-geisteswissenschaftliche Forschungsperspektive im Seminar wird durch eine empirische ergänzt. Als semesterbegleitende Aufgabe entwerfen die Studierenden wissenschaftliche Hypothesen bzw. Fragestellungen zur Seminarthematik, die sich sowohl aus hermeneutisch-geisteswissenschaftlicher als auch aus empirischer Sicht erörtern lassen. Diese Beiträge stellen sie in der Sitzung Thesenroulette zur Diskussion. Dazu dient ein methodisches Konzept, das gemeinsam mit dem ebenfalls durch inSTUDIES geförderten Methodenzentrum5 entwickelt wurde und das es den Studierenden an verschiedenen Stationen während des „Roulettes“ erlaubt, ihre Forschungsfragen aus divergierenden Perspektiven (qualitative empirische Forschung, 4 5

z.B. die Debatte um Rassismus in Kinderbuchklassikern (vgl. Bochmann & Staufer 2013). Vgl. Homepage des Methodenzentrums für Geistes- und Gesellschaftswissenschaften an der RUB (https://methodenzentrum.ruhr-uni-bochum.de).

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quantitative empirische Forschung, philosophisch-ethische Forschung, narratologisch-ästhetische Forschung sowie fachdidaktisch-professionsbezogene Perspektiven) zu betrachten. Die entsprechenden Überlegungen können in der Folge nicht nur als Lernprodukt des Hauptseminars dienen, sondern auch die Grundlage für weitere Prüfungen, Haus- oder Abschlussarbeiten bilden. Darunter fällt beispielsweise der schriftliche Forschungsbericht zum Praxissemester, der sich insbesondere deswegen anbietet, weil er in den Prüfungsordnungen ebenfalls spezifisch als Leistung forschenden Lernens modelliert ist. Darüber hinaus wurde für den zweiten Durchgang des Hauptseminars Ethik und Kritik im Wintersemester 2018/19 mit den KJLM-Dialogen ein weiteres praxisorientiertes Format angestoßen. Dazu werden mindestens einmal pro Kalenderjahr KJLM-Autor_innen eingeladen. Die Dialoge bieten den Studierenden einen offenen Rahmen zum vielfältigen Austausch und unterstützen die Verstetigung eines neugierigen, skeptischen Blicks auf die Praxis. Die Gäste führen gemeinsam mit den Studierenden unterschiedliche Angebote wie Workshops, Interviews, Vorträge, Lesungen oder Werkstattgespräche durch. Im ersten Durchgang am 12. Dezember 2018 war die deutschdänische Kinder- und Jugendbuchautorin Annette Herzog6 zu Gast in Bochum. Neben einem Vortrag, in dem sie über die kulturellen Unterschiede bei der Literaturproduktion und -distribution auf den nationalen Buchmärkten Deutschlands und Dänemarks sowie über die unterschiedlichen Kinderbuchkulturen mit ihren Norm- und Wertvorstellungen sprach, führte sie mit den Studierenden, Lehrenden sowie externen Besucher_innen ein anschließendes Werkstattgespräch und las aus ihren Büchern vor. Im Sommersemester 2019 liegt der Fokus aus Anlass der 30. Jährung der „Wende“ auf KJLM über die BRD und DDR. Dazu geben die Kinder- und Jugendbuchautorin Franziska

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Annette Herzog (*1960) ist in Deutschland u.a. bekannt für ihre Mumpf-Kinderbücher (2012, 2017, 2018) sowie für die Graphic Novels Pssst! (2016) und Herzsturm – Sturmherz (2017).

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Gehm7 und der Illustrator Horst Klein8 insbesondere in Bezug auf ihr „Sachbuch“ Hübendrüben. Als deine Eltern noch klein und Deutschland noch zwei waren (2018) Auskunft. Exemplarische Ergebnisse und Präsentationsformen Eine verstetigte Präsentationsform ist die bereits beschriebene seminarinterne Posterpräsentation von Ergebnissen der kooperativen Forschungsprojekte zu Debatten über KJLM. Zusätzlich erfolgt eine öffentliche Ausstellung der Poster im Fachbereich der Literaturdidaktik sowie auf der Projekthomepage.9 Die Forschungsergebnisse der Studierenden werden somit bereits einem (kleinen) interessierten Fachpublikum zugänglich gemacht. Die Poster aus dem Wintersemester 2018/19 zeigen ein großes Interesse der Studierenden an Gerichtsfällen zu KJLM. Insbesondere den gerichtlichen Diskurs über die von den Eltern aus religiösen Gründen betriebene Befreiung eines Schülers von der Teilnahme an der Vorführung des Spielfilms Krabat10 nahmen viele als Ausgangspunkt für ihre Untersuchungen (vgl. OVG NRW 2011; sowie BverwG 2013). Sie fokussierten vor allem die Diskrepanz zwischen Eingriffen aufgrund familialer Glaubensüberzeugungen (Erziehungsrecht) und der Rezeption von KJLM in der Schule zum Erwerb von literarischen sowie medialen Kompetenzen im Sinne des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages. Forschungsprodukte von Studierenden aus Untersuchungen im Umfeld von Schule und Unterricht beschäftigen sich darüber hinaus beispielsweise mit Kriterien für die Auswahl von KJLM für den Unterricht anhand

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Franziska Gehm (*1974) ist Autorin und Übersetzerin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie ist insbesondere für die Buchreihe Vampirschwestern Bd. 1-13 (2008-2016) bekannt. Horst Klein (*1965) ist Illustrator und Grafiker. Zu seinen Werken zählen u.a. die Kinderbücher Haltet den Die! (2016) und K(l)eine Bewegung, Dieb! (2017). Die Projekthomepage (http://staff.germanistik.rub.de/kjl-und-forschendes-lernen) gibt zu allen Ergebnissen aus der Seminararbeit sowie zu den einzelnen KJLM-Dialogen nähere Auskunft. Realverfilmung des gleichnamigen Romans von Otfried Preußler (1971) unter der Regie von Marco Kreuzpaintner aus dem Jahr 2008.

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von kritischen Sichtungen unterschiedlicher Schulmaterialien. Außerdem befragten Studierende Lehrer_innen zu ihren Lektürepräferenzen in unterschiedlichen Fachunterrichten oder führten Analysen zu möglichen heimlichen Curricula und den damit verbundenen Wertsetzungen in der Schulpraxis bzw. im Erziehungssystem durch. Im Rahmen des ersten Durchgangs der KJLM-Dialoge konnte zudem mittels Audioaufnahmen eine Abschrift des Werkstattgesprächs mit der Autorin Annette Herzog angefertigt werden. Anhand dieser Mitschnitte werden aktuell didaktische Lehr-/Lernmaterialien sowie ein Konzept für deren zukünftige Verwendung entwickelt. Einbindung des Projekts in Studiengänge, -programme und -curricula Im Rahmen der bisherigen Laufzeit konnte das Projekt bereits fest in die Studiengänge Philosophie und Germanistik eingebunden werden. Insbesondere im Rahmen des Masters of Education bieten sich dazu einerseits aus inhaltlichen, andererseits aus methodischen Gründen passende Potentiale. Inhaltlich existiert über die Frage der Werteerziehung und der Einbindung von KJLM in Erziehungskontexte eine ohnehin gegebene Nähe. Aus methodischer Sicht eröffnen sich insbesondere über eine Einbindung im Rahmen des forschenden Lernens im Praxissemester weitere Perspektiven. Studierende müssen während ihrer Zeit an den Schulen, wie oben angedeutet, einen schriftlichen Forschungsbericht verfassen, der sich an die beschriebenen Schnittstellen des Projektseminars ankoppeln lässt. Eine weitere Einbindung in die universitäre Praxis konnte über die KJLM-Dialoge ermöglicht werden. Mittlerweile erfährt das Format – wegen des angestoßenen Austauschs von Studierenden mit Beteiligten des Literaturbetriebs und Verlagswesens über deren Berufsfelder – ebenso eine organisatorische wie finanzielle Unterstützung durch das Germanistische Institut der Ruhr-Universität Bochum. Im dargestellten Rahmen werden kontinuierlich nicht nur weitere Studierende sowie Kolleg_innen, sondern auch externe Besucher_innen in den Kontext des Projekts und die Erörterung seiner Fragen und Ergebnisse einbezogen.

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Der in der Philosophiedidaktik bislang nur ansatzweise legitimierte Einbezug literarischer Texte in den philosophischen Unterrichtsdiskurs konnte durch das Projekt bereits ansatzweise um das Spektrum der KJLM insbesondere im Fach Praktische Philosophie erweitert werden (vgl. Sistermann 2015, S. 270ff.). Über weitere Kooperationen mit anderen Studiengängen wird aktuell nachgedacht. Insgesamt besteht die begründete Hoffnung, dass einzelne Ideen und Themen oder innovative Ansätze und Ergebnisse aus dem Projekt auf vielfältige Weise nach außen getragen werden – nicht zuletzt im Übrigen auch an die Schulen in der Region, sobald aktuelle Absolvent_innen der Universität dort in Zukunft als Lehrer_innen tätig werden. Literatur Primärliteratur Gehm, Franziska (2008-2016): Die Vampirschwestern, Bd. 1-13. Bindlach. Gehm, Franziska & Klein, Horst (2018): Hübendrüben. Als deine Eltern noch klein und Deutschland noch zwei waren. Leipzig. Göbel, Doro & Göbel, Peter (2011a): Im Zirkus. Eine Wimmel-Geschichte. Weinheim. Göbel, Doro & Göbel, Peter (2011b): Unser Zuhause. Eine Wimmel-Geschichte. Weinheim. Herzog, Annette & Clante, Katrine (2016): Pssst! Wuppertal [dän. Original 2013]. Herzog, Annette, Clante, Katrine & Bregnhøi, Rasmus (2017): Herzsturm – Sturmherz. Wuppertal [dän. Original 2016]. Klein, Horst (2016): Haltet den Die! Das verrückte ABC der geklauten Buchstaben. Leipzig. Klein, Horst (2017): K(l)eine Bewegung, Dieb! Das verrückte ABC der zurückgebrachten Buchstaben. Leipzig. Preußler, Otfried (1971): Krabat. Würzburg. Teller, Janne (2013): Alles – worum es geht. München.

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Teller, Janne (2017): Krieg – Stell dir vor, er wäre hier. München [dt. Original 2011; dän. Original 2004]. Tuckermann, Anja (2014): Alle da! Unser kunterbuntes Leben. Leipzig. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2017): Die ethische Dimension literarischen Lernens. In: Ethik & Unterricht 3/2017: S. 4-8. Anselm, Sabine (2014): Ethische Bildung und Literatur(unterricht). In: Temeswarer Beiträge zur Germanistik 11/2014: S. 7-26. Bochmann, Corinna & Staufer, Walter (2013): Vom „Negerkönig“ zum „Südseekönig“ zum …? Politische Korrektheit in Kinderbüchern. In: BPJM Aktuell 2/2013: S. 3-17. Bonin, Sonja & Leffers, Jochen (2006): Was US-Schüler nicht lesen sollen. In: SPIEGEL Online, 28.09.2006. Online unter: http://www.spiegel.de/ lebenundlernen/schule/buecher-giftschrank-was-us-schueler-nichtlesen-sollen-a-439628.html Bundesverwaltungsgericht (2013): Urteil vom 11.09. 2013 – 6 C 12/12. Fichten, Wolfgang (2017): Forschendes Lernen in der Lehramtsausbildung. In: Mieg, Harald A. & Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen. Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M./New York: S. 155-164. Gansel, Carsten (2014): Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht (Scriptor Praxis). Berlin. Herz, Cornelius & Stremmer, Lisa-Marie (Hg.) (2019): „Ich möchte nicht belehren und nicht pädagogisch sein.“ KJLM-Dialog mit der deutsch-dänischen Autorin Annette Herzog (12.12.2018). Bochum [im Druck]. Oberverwaltungsgericht NRW (2011): Beschluss vom 22.12.2011 – 19 A 610/10. Sistermann, Rolf (2015): Literarische Texte. In: Nida-Rümelin, Julian, Spiegel, Irina & Tiedemann, Markus (Hg.) (2015): Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. 1. Didaktik und Methodik. Paderborn: S. 270-276.

Forschendes Lernen am Fall – Kasuistisches Pilotseminar zur Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters im Master of Education Nele Kuhlmann Forschendes Lernen im Praxissemester Das Praxissemester gehört seit der Reform der Lehrer_innenausbildung NRW 2009 und ihrer Implementierung seit dem Sommersemester 2015 zum Kernstück des Master of Education in NRW. Für die Zeit eines Schulhalbjahres, d.h. für fünf Monate, verbringen Studierende des Lehramts ihre Studienzeit zu großen Teilen am Lernort Schule, welcher die Möglichkeit bietet, sowohl ohne Handlungsdruck im Unterricht (und weitere Interaktionen in der Schule) gezielte Beobachtungen anzustellen, als auch selbst in Zusammenarbeit mit Lehrer_innen Unterrichtseinheiten zu planen und durchzuführen. „Ziel des Praxissemesters ist es“ – so heißt es in der Rahmenkonzeption – „im Rahmen des universitären Masterstudiums Theorie und Praxis professionsorientiert miteinander zu verbinden und die Studierenden auf die Praxisanforderungen der Schule und des Vorbereitungsdiensts wissenschaftsund berufsfeldbezogen vorzubereiten“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2010, S. 4). Diese angestrebte Verzahnung von bildungswissenschaftlicher sowie fachdidaktischer Theorie und schulischer Praxis soll in einer „forschenden Grundhaltung“ realisiert werden, welche Studierende dazu befähigt, sich mit „Praxisphänomenen und der eigenen Lehrerpersönlichkeit“ kritisch-konstruktiv auseinanderzusetzen (ebd.; vgl. dazu u.a. die Beiträge von im Brahm sowie Floß & Kull, in diesem Band). Universitäten mit Lehramtsausbildung standen vor der Herausforderung, neue Prüfungsordnungen für ihren Master of Education zu entwickeln, die sowohl im Hinblick auf die formale Organisation, die Studieninhalte als auch auf (hochschul-)didaktische Prinzipien ein sinnvolles Gesamtkonzept darstellen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_36

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An der Ruhr-Universität Bochum wird konzeptionell an das hochschuldidaktische Prinzip des Forschenden Lernens angeknüpft, um eben jener Forderung nach kritisch-reflexiver Kopplung von Theorie und Praxis nachzukommen. Studierende sollen in ihren jeweiligen Fächern sowie in den Bildungswissenschaften Studienprojekte durchführen, in welchen sie unter Bezugnahme auf ihre Beobachtungen und Erfahrungen im Kontext der Schule sowie auf bildungswissenschaftliche und fachdidaktische Theorien eine eigene Fragestellung formulieren und im Modus des Forschenden Lernens verfolgen. Dabei werden die Studierenden durch Lehrende in universitären Begleitveranstaltungen der Fächer und der Bildungswissenschaften bei der Formulierung ihrer Forschungsfrage sowie der Wahl des geeigneten forschungspraktischen Vorgehens unterstützt. Zusätzliche Beratungs- und Selbstlernangebote werden durch das fakultätsübergreifende Methodenzentrum der Ruhr-Universität Bochum zur Verfügung gestellt, welches seit 2016 als Teil des inSTUDIESplus-Projekts aus Mitteln des Qualitätspakts Lehre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert wird (vgl. den Beitrag von Weins, Jeworutzki, Gerhartz, Kohlbrunn, Kuhlmann & Weller, in diesem Band). Geleitet von der Annahme, dass eine reflexiv-forschende Haltung zu unterrichtlichen und schulischen Phänomenen nur möglich ist, wenn die Analyse dieser Phänomene methodisch kontrolliert ist, bietet das Methodenzentrum Unterstützung im Bereich qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden. Gerade im Kontext von Schule, die uns allen durch einen langjährigen Besuch sehr vertraut erscheint, ist es unabdingbar, dass Studierende Verfahren der analytischen Distanznahme kennenlernen und einüben, um überhaupt Neues im Feld Schule sehen zu können. Studierende können in Kurz-Workshops (wie etwa Beobachtungen im Kontext Schule oder Das Durchführen von Interviews), in E-Learning-Angeboten mit inhaltlichen Einführungen und praktischen Erprobungen sowie in individuellen Beratungen in Sprechstunden oder im Seminarkontext ihre Kenntnisse im Bereich empirischer Forschungsmethodik vertiefen und gezielt Fragen zu ihrem eigenen Vorgehen mit Expert_innen diskutieren. Diese am konkreten Forschungsprozess ansetzenden Angebote des Methodenzentrums werden durch konzeptionelle Arbeit in enger Kooperation mit Lehrenden im

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Master of Education ergänzt. So wurde vonseiten des Methodenzentrums an der Neu-Konzeptionierung der Prüfungsordnung des Master of Education im Rahmen einer Curriculums-AG mitgewirkt, es wurden Fortbildungen für Lehrende zum Forschenden Lernen angeboten sowie – und darauf liegt der Fokus des vorliegenden Beitrags – ein Pilotseminar zur Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters entwickelt und durchgeführt. Dieses Pilotseminar, welches von Fabian Dietrich und mir konzipiert und im Sommersemester 2018 und Wintersemester 2018/19 angeboten wurde, hatte das Ziel, das Konzept der Kasuistischen Lehrer_innen-Bildung für das Forschende Lernen im Praxissemester nutzbar zu machen. Zunächst soll dieses Konzept skizziert werden, um daran anschließend das zweisemestrige Pilotseminar vorzustellen. Zwei in diesem Rahmen entstandene Studienprojekte von Studierenden werden abschließend vorgestellt und dahingehend diskutiert, welche Potenziale der von uns gewählte, rekonstruktive Zugang bietet. Kasuistisches Konzept des Pilotseminars Kasuistik wird häufig synonym mit dem Begriff „Fallarbeit“ verwendet und beschreibt allgemein die kommunikativ-diskursive Auseinandersetzung, Analyse und/oder Rekonstruktion eines empirisch-vorliegenden Falls. Der Ansatz der kasuistischen Lehrer_innen-Bildung erfährt derzeit eine hohe Konjunktur, da er zum einen verspricht, die geforderte Verbindung von Theorie und Praxis leisten zu können, und zum anderen für viele Professionstheorien anschlussfähig ist (vgl. Pieper, Frei, Hauenschild & Schmidt-Thieme 2013). Kunze (2016) unterscheidet zwischen einer „praxisreflexiven“ und „rekonstruktiven Kasuistik“. In der praxisreflexiven Fallarbeit wird an konkreten pädagogischen Handlungsproblemen gearbeitet, um diskursiv zu einem „vertieften Verständnis der qua Fall vorliegenden Handlungswirklichkeit“ und damit zu einer „Steigerung praktischer Urteilskraft und Reflexivität“ zu gelangen (ebd., S. 119). Fälle sind hier beispielsweise Erzählungen von konkret erlebten und als problematisch wahrgenommenen Situationen mit Schüler_innen oder

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Kolleg_innen. Die rekonstruktive Fallarbeit ist demgegenüber ein forschungsorientierter Zugang, der anstrebt, anhand von qualitativ-rekonstruktiven Methoden die Strukturlogik der pädagogischen Handlungspraxis zu erschließen. Ihr zentrales Ziel ist nicht die Lösung eines handlungspraktischen Problems, sondern die Rekonstruktion von – je nach professionstheoretischer Rahmung – konstitutiven Antinomien, latenten Spannungsverhältnissen und impliziten Logiken des pädagogischen Felds, welche alltagsweltlich (notwendig) unverfügbar bleiben (vgl. ebd.). Das Ziel der rekonstruktiven Kasuistik besteht in der Herausbildung eines forschenden Habitus, welcher es Studierenden ermöglichen soll, unterrichtliche und schulische Interaktionen in ihrer impliziten Strukturiertheit lesen und dementsprechend reflexiv wenden zu können. Das von Fabian Dietrich und mir konzipierte Pilotseminar war dem Zugang der rekonstruktiven Fallarbeit verpflichtet. Im Rahmen des bildungswissenschaftlichen Vorbereitungsseminars, welches von Studierenden im zweiten Semester des Master of Education direkt vor dem Praxissemester wöchentlich besucht wurde, sollte die interpretative Praxis nach dem Vorgehen der Objektiven Hermeneutik eingeübt werden. Die Objektive Hermeneutik bietet vor diesem Hintergrund den Zugang der Wahl, da sie zum einen durch das sequentielle Vorgehen – sprich die intensive Interpretation Sequenz für Sequenz – eine analytische Distanznahme ermöglicht und zum anderen die Rekonstruktion von latenten Sinnstrukturen verfolgt, d.h. implizite Spannungen und Logiken sichtbar machen kann (vgl. Wernet 2018b). Nachdem in den ersten Sitzungen methodologisch-methodische Grundlagen präsentiert und kontrovers diskutiert wurden, stand in den folgenden Sitzungen die diskursive Interpretation von Protokollen schulischer und unterrichtlicher Interaktion im Vordergrund, welche zu großen Teilen aus Online-Fallarchiven wie dem der Universität Kassel oder Hannover entnommen waren. Unser Seminarkonzept sah vor, drei Phänomenbereiche unterrichtlicher Handlungspraxis – 1. Erziehen und Stören, 2. Vermitteln und Aneignen sowie 3. Bewerten – sowohl aus theoretischer Perspektive als auch anhand von konkreten Fällen zu erkunden. In diesem Zusammenspiel von theoretischer Rahmung und gemeinsamer Interpretation wurde ein Zugang zum Forschenden Lernen gewählt,

Forschendes Lernen am Fall

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welcher der Praxis in Forschungswerkstätten gleicht und ein konsequentes Learning by Doing anstrebt. Konkret wurden beispielsweise unterrichtliche Interaktionen analysiert, in denen Lehrpersonen Störungen von Schüler_innen markieren und auf diese Störung erziehend reagieren. Besonders durch die sequenzielle Interpretation wurde sichtbar, an welchen Punkten der Interaktion eine klassenöffentliche Erziehung in Form einer einfachen Ermahnung in einen handfesten Schlagabtausch vor Publikum umschlagen und bis hin zu Bloßstellungen von Schüler_innen eskalieren konnte. Dabei liegt das Erkenntnissinteresse der rekonstruktiven Kasuistik nicht darin, individuelles Fehlverhalten von Lehrer_innen aufzudecken, sondern stattdessen zu rekonstruieren, wie genau die unterrichtliche Handlungspraxis strukturiert ist, sodass Formen der Eskalation und Entgrenzung begünstigt werden. Die anhand der konkreten Fallarbeit entwickelten Hypothesen wurden im Rahmen der Seminarsitzungen mit erziehungswissenschaftlichen Theorien zur Spezifik – d.h. immer auch zur besonderen Fragilität – der Lehrer_innen-Autorität (vgl. Helsper 2009) und empirischen Forschungsergebnissen zum Phänomen der pädagogischen Entgrenzung (vgl. Wernet 2018a) in ein Verhältnis gesetzt. Ausgehend von den theoretisch gerahmten Fallrekonstruktionen wurde dann diskutiert, welche konkreten Forschungsfragen für eine weiterführende empirische Erkundung des untersuchten Phänomens interessant sein und welche Art von Fällen aufschlussreiches Datenmaterial liefern könnten. Die Annahme hinter dieser Seminar-Konzeption ist, dass Studierende durch die intensive Auseinandersetzung mit Mikro-Szenen pädagogischer Interaktion eine analytisch-distanzierte Perspektive auf das Feld Schule einzunehmen lernen, die es ihnen ermöglicht, Neues im Vertrauten zu sehen und davon ausgehend neue Fragen zu stellen. Dadurch, dass die Studierenden bereits in der Vorbereitung zum Praxissemester ein Verfahren der qualitativrekonstruktiven Interpretation intensiv kennengelernt und mögliche vertiefende Fragestellungen entwickelt haben, konnten sie bereits die ersten Wochen ihres Praktikums nutzen, um selbst Fälle zu erheben und ihre eigene Fragestellung zu präzisieren. Die Begleitveranstaltung des Praxissemesters, welche im darauffolgenden Semester von uns angeboten wurde, wurde dann

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im Modus einer Forschungswerkstatt konzipiert:1 Die fünf Präsenzsitzungen wurden genutzt, um Fälle, die Studierende während ihrer Hospitationen im Praktikum erhoben hatten, gemeinsam zu interpretieren und im Hinblick auf mögliche theoretische Ausdeutungen zu diskutieren. Im Folgenden werden zwei exemplarische Studienprojekte, die im Rahmen des Pilotseminars entstanden sind, vorgestellt. Studienprojekte mit fallrekonstruktivem Vorgehen Die meisten der entstandenen 25 Studienprojekte hatten unterrichtliche und schulische Phänomene zum Gegenstand, welche wir im Vorbereitungsseminar bereits intensiv diskutiert hatten. Ein besonderer Schwerpunkt der Studierenden lag dabei auf klassenöffentlichen Erziehungssituationen; ein weiterer auf der Untersuchung von Ironie und Humor im Unterricht. Anhand von zwei im Unterricht erhobenen Fällen analysiert Sebastian Driske in seinem Studienprojekt, welcher impliziten Logik die Praktik des klassenöffentlichen Drohens folgt und welche Spannungen sich daraus für Lehrpersonen ergeben. Zunächst argumentiert er mit Bezug auf erziehungswissenschaftliche Theorien, dass die Autorität von Lehrer_innen durch eine besondere Fragilität gekennzeichnet ist, da der Beruf zum einen in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen eine Entauratisierung erfahren habe und dadurch heute unter einer besonderen Legitimationspflicht steht. Zum anderen sind Lehrpersonen in der konkreten Unterrichtssituation auf die Anerkennung von Schüler_innen angewiesen, da sie intendierte (Lern-)Ziele nur durch deren Mitwirkung erreichen können. Die klassische unterrichtliche Interaktionsordnung – eine Person spricht, viele hören zu – ist dabei aufgrund der geteilten Aufmerksamkeit besonders sensibel für Abweichungen von die-

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Normalerweise ist keine Kopplung von Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters vorgesehen, wodurch wir auf eine Randzeit ausweichen mussten, um eine TerminKollision mit anderen Begleitseminaren zu vermeiden. Etwa zwei Drittel der Studierenden besuchten nach der Vorbereitung auch das Begleitseminar.

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ser Ordnung. Lehrpersonen stehen also vor der Herausforderung, die (Interaktions-)Ordnung in einer Art und Weise aufrecht zu erhalten, die von Schüler_innen Anerkennung erfährt. Herr Driske interpretierte zwei Fälle, in denen Lehrpersonen zu drohenden Adressierungen greifen: „S1, willst du noch’n Text schreiben?“ und „Wer hat sie nicht gemacht? Seid ehrlich. Ich werde sie gleich alle kontrollieren.“ Mit Bezug auf machttheoretische Analysen zur Praxis des Drohens arbeitete er heraus, welche interaktiven Gewinne und Risiken mit diesen Adressierungen einhergehen. Insbesondere der zweite Fall, in dem nach der zitierten Ansprache ein Schüler ohne Hausaufgaben entlarvt wurde, macht deutlich, wie interaktiv ein Zugzwang für den Lehrer entsteht, am besagten Schüler ein Exempel zu statuieren. Die Situation kippt in eine lehrerseitige Entgrenzung. Solcher Art ‚Folgekosten‘ einer klassenöffentlichen Drohung bilden den Fokus von Herrn Driskes Analyse. Theresa Fries hat sich im Rahmen ihres Studienprojekts mit der Frage beschäftigt, welche Spannungen für Referendar_innen im Ausbildungsunterricht – sprich unter der Anwesenheit von Ausbildungslehrer_innen – vorliegen. In dem von ihr erhobenen Fall weisen Schüler_innen eine Referendarin klassenöffentlich zurecht (S1: „Das geht so nicht“, S2: „Frau H., Sie müssen härter durchgreifen. Sie sind viel zu nett.“) und adressieren sie somit als „noch nicht fertige Lehrerin“, welche von den Schüler_innen erst lernen müsse, wie sie für Ruhe zu sorgen habe. Schließlich wird der anwesende Ausbildungslehrer von einem Schüler explizit angesprochen, woraufhin sich dieser in überaus ambivalenter Weise in das Geschehen einschaltet (L: „Nein, Frau H. ist eure Lehrerin, eine sehr junge ja, aber dennoch.“). Theresa Fries arbeitete heraus, wie diese Ansprache den Schüler_innen in ihren Zweifeln Recht gibt und von ihnen verlangt, dennoch ‚mitzuspielen‘. Diese implizite Negierung von Kollegialität diskutierte Frau Fries vor dem Hintergrund der deutschen Spezifik, dass ausbildende Lehrer_innen eine Doppelrolle als Beratende und Bewertende innehaben, was kollegiale Kooperation strukturell verunmöglicht. In beiden vorgestellten Studienprojekten wurden unter jeweils eigener Fragestellung implizite Sinnstrukturen und Spannungen im unterrichtlichen

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Handeln von (angehenden) Lehrpersonen rekonstruiert. Unsere leitende Annahme ist, dass diese intensive Auseinandersetzung mit Mikro-Strukturen des Unterrichts Studierende dazu befähigt, Alltagssituationen auf eben jene Spannungen hin lesen und vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien deuten zu können. Darüber hinaus sehen wir in der Sequenzialität des Vorgehens die Möglichkeit, rekonstruktive und praxisreflexive Kasuistik in ein produktives Gespräch zu bringen: Die vom Handlungsdruck entlastete sequentielle Interpretation bietet die Möglichkeit, problematische Interaktionspfade, d.h. eskalierende, entgrenzende Adressierungen zu erkennen und diesbezüglich diskursiv nach Handlungsalternativen zu fragen. Rückblickend erscheint uns insbesondere die von uns erprobte Kopplung von Vorbereitungs- und Begleitseminar als zentrale Gelingensbedingung für ein Forschendes Lernen im Praxissemester: Um in der Beobachtung des so vertrauten Schul- und Unterrichtsgeschehens nicht bloß das zu bestätigen, was aus der eigenen Schulzeit bekannt ist, bedarf es der Einübung methodischer Distanzierungsstrategien. Diese sollten daher – so unsere Perspektive – ein zentraler Gegenstand der Vorbereitung auf das Praxissemester sein. Literatur Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW. (Hg.) (2010): Rahmenkonzeption zur strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung des Praxissemesters im lehramtsbezogenen Masterstudiengang. Online unter: http://www.zfsl-engelskirchen.nrw.de/Praxissemster_2017_07/ Rechtlicher_Rahmen/Rahmenkonzeption-zur-strukturellen-undinhaltlichen-Ausgestaltung-des-Praxissemesters-im-lehramtsbezogenenMasterstudiengang-2010.pdf Helsper, Werner (2009): Autorität und Schule – zur Ambivalenz der Lehrerautorität. In: Schäfer, Alfred & Thompson, Christiane (Hg.) (2009): Autorität. Paderborn: S. 65-83.

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Kunze, Katharina (2016): Ausbildungspraxis am Fall. Empirische Erkundungen und theoretisierende Überlegungen zum Typus einer praxisreflexiven Kasuistik. In: Hummrich, Merle, Hebenstreit, Astrid, Hinrichsen, Merle & Meier, Michael (Hg.) (2016): Was ist der Fall? Kasuistik und das Verstehen pädagogischen Handelns. Wiesbaden: S. 97-121. Pieper, Irene, Frei, Peter, Hauenschild, Katrin & Schmidt-Thieme, Barbara (Hg.) (2013): Was der Fall ist. Fallarbeit in Lehrerbildung und Bildungsforschung. Wiesbaden. Wernet, Andreas (2018a): Entgrenzung. In: Proske, Matthias & Rabenstein, Kerstin (Hg.) (2018): Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung. Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren. Bad Heilbrunn: S. 240-256. Wernet, Andreas (2018b): Über das spezifische Erkenntnisinteresse einer auf die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen zielenden Bildungsforschung. In: Heinrich, Martin & Wernet, Andreas (Hg.) (2018): Rekonstruktive Bildungsforschung. Zugänge und Methoden. Wiesbaden: S. 125-139.

Studierende erforschen Fachbiographien und Fachvorstellungen zu Deutsch und Mathematik Katrin Rolka & Sebastian Susteck Einleitung Nach Huber (1998) können Grenzen zwischen Disziplinen durch forschendes Lernen leicht überschritten und Studierende unterschiedlicher Fachwissenschaften zusammengeführt werden. Im Kontext des hier vorgestellten Projektes geschieht dies für Lehramtsstudierende der Fächer Deutsch und Mathematik. Deutsch und Mathematik sind an Schulen in Deutschland zentrale Fächer des Curriculums, die nicht unwesentlich an der Vergabe von Berufs- und Lebenschancen beteiligt sind und gleichzeitig oftmals als sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund erforschen Studierende die biographischen Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern sowie ihren Vorstellungen von Deutsch und Mathematik. Das Veranstaltungskonzept ermöglicht eine frühe Einbindung der Studierenden in authentische, relevante Forschungskontexte und bietet ihnen die Gelegenheit, im Studium Distanz zu eigenen Schulerfahrungen zu gewinnen, sodass sie neue Perspektiven auf ihr Fach und auf die Sicht ihrer zukünftigen Schülerinnen und Schüler erlangen können, was einen Beitrag zu ihrer Professionalisierung leisten kann. Theoretische Hintergründe zum Projekt Haag und Götz (2006, S. 32) kennzeichnen Fachunterricht als ein „Abbild des disziplinären Denkens“, wobei fachspezifische Kulturwerkzeuge und Gegenstände eine besondere Rolle spielen. Lüders (2007, S. 7f.) formuliert als

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_37

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ein Ziel der Fachkulturforschung, Schulfächer „als komplexe Handlungsfelder mit ihren Sinnkonstruktionen, Glaubenssystemen, Ritualen und Gewohnheiten, Sprech- und Handlungsweisen“ zu beschreiben. Dabei geht es beispielsweise um die Fragen, welche Charakteristika das eigene Fach ausmacht, welche typischen Denk- und Arbeitsweisen für das Fach konstitutiv sind, aber auch welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es zu anderen Fächern gibt (vgl. auch Hericks & Körber 2007). Unter der Bezeichnung „epistemologische Überzeugungen“ finden sich bei Köller, Baumert und Neubrand (2000) ähnliche Überlegungen, wobei die Autor_innen einen deutlichen Einfluss von epistemologischen Überzeugungen auf „Denken und Schlussfolgern, Informationsverarbeitung, Lernen, Motivation und schließlich auch die akademische Leistung“ (ebd., S. 268) von Schülerinnen und Schülern hervorheben. Während diese Ausführungen die Bedeutung epistemologischer Überzeugungen für Schülerinnen und Schüler herausstellen, weisen andere Publikationen auch auf deren Relevanz für Lehrpersonen hin, etwa im Hinblick auf das Unterrichtshandeln (z.B. Blömeke, Kaiser & Lehmann 2008). In ihrer Studie mit mehr als 1.200 Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 8 und 11 zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten von sieben Unterrichtsfächern fanden Haag und Götz (2012) heraus, dass verschiedene Fächer ganz unterschiedlich stark zu bestimmten Eigenschaften in Beziehung gesetzt werden. Dabei stellen sie für den Deutschunterricht Begriffe wie Abwechslung, Meinungsaustausch, aktuelle Themen und Alltagsbezug als kennzeichnend heraus, wohingegen der Mathematikunterricht durch Merkmale wie richtige Lösung, Schwierigkeit, Stoffmenge, Anstrengung und Zusammenhang der Themen charakterisiert wird. Im Rahmen einer Befragung von Deutsch-Lehramtsstudierenden zu Besonderheiten des Schulfaches Deutsch im Vergleich zu Mathematik ermittelte Winkler (2015) die beiden Dimensionen Freiheit und Eindeutigkeit. Während mit dem Deutschunterricht „Möglichkeiten der individuellen Entfaltung“ (ebd., S. 194) und „Kreativität“ (ebd., S. 194) assoziiert werden, wird demgegenüber „Logik“ (S. 194) als kennzeichnend für den Mathematikunterricht

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gesehen. Freiheiten im Deutschunterricht ergeben sich durch die Mehrdeutigkeit des Faches, in dem es nach Meinung der Befragten kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ gibt, sondern vielfältige Deutungen und subjektive Interpretationen üblich sind. Als Folge der Ergebnisse aus den PISA-Studien wird seit den 2000er Jahren immer wieder der Versuch unternommen, anhand von entsprechenden Beobachtungen zugehörige Problemfelder einzelner Fächer zu adressieren, wobei angedachte Lösungen eine Annäherung der Fächer und Fachkulturen begründen könnten. Ohne allzu stark verallgemeinern zu wollen – und recht knapp formuliert – kann ein entsprechender Überblick etwa wie in Tabelle 1 dargestellt werden: Tabelle 1: Beobachtungen, Probleme und angedachte Lösungen in den Bereichen Deutschund Mathematikunterricht

Deutschunterricht

Mathematikunterricht

Beobachtung

Dominanz einer Debattenkultur, die der Suche nach einem Verstehen gewidmet ist, das keine eindeutigen Ergebnisse kennt

Dominanz von Lösungsorientierung, Vermittlung von und Suche nach Formeln, Rezepten, Algorithmen

Problem

Verzicht auf Verbindlichkeit, Marginalisierung erlernbaren Wissens

Verzicht auf mathematisches Verstehen

Angedachte Lösung

Stärkere Orientierung an klar definierten Zielen und Kriterien, stärkere Betonung intersubjektiver Anspruchsniveaus, verbindlichere Ergebnisdefinitionen

Stärkere diskursive Orientierung, stärkere Problemorientierung, größere lebensweltliche Orientierung

Auch wenn den oben erwähnten Annäherungsbemühungen durch die Natur der Unterrichtsfächer sicherlich Grenzen gesetzt sind, so ist aus Tabelle 1 durchaus ersichtlich, dass Ansätze, die traditionell eher mit anderen Schulfächern verbunden wurden, auch für das jeweils eigene Fach fruchtbar gemacht werden können.

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Veranstaltungskonzept Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen lässt sich festhalten, dass jeder Fachkultur Chancen, aber auch Grenzen inhärent sind, und dass ein darauf bezogenes Wissen für (angehende) Lehrpersonen in besonderem Maße berufsrelevant ist, da es ein in hohem Maße reflektiertes Studium sowie später eine ebenso reflektierte Berufstätigkeit als Fachlehrer_in und damit eine reflektierte Selbstpositionierung im „System Schule“ ermöglicht bzw. fördert. Um den Studierenden Einblicke in die Relevanz der Fachkulturforschung zu ermöglichen, beinhaltet das Veranstaltungskonzept unterschiedliche Phasen, die durch das Projektteam durchgeführt werden. Zum Projektteam zählen zwei Wissenschaftler_innen sowie zwei wissenschaftliche Hilfskräfte, die das Vorhaben in enger Kooperation betreuen. In Kürze lässt sich der Ablauf folgendermaßen skizzieren: In der ersten Phase erfolgt im Rahmen einer Blockveranstaltung ein theoretischer Input zu Fachkulturen einerseits und ausgewählten forschungsmethodischen Vorgehensweisen andererseits. Daran schließt sich in der zweiten Phase die Durchführung der obligatorischen Forschung an. In der Regel befragen die Studierenden zwei Schüler_innen, von denen eine Person einen Migrationshintergrund aufweist, die andere nicht. Durch diese Zusammensetzung sollen – explorativ und exemplarisch – mögliche Besonderheiten, die mit dem Migrationsstatus der Befragten zu tun haben, erkundet werden (vgl. dazu mit Blick auf die Lesekompetenzen PISA 2010 sowie bezüglich der mathematischen Kompetenzen PISA 2004). Folgende Elemente waren Bestandteile des Erhebungsprozesses: •

Narrative Interviews: In Anlehnung an Dawidowski (2009) und Jakubanis (2017) wurde den Schülerinnen und Schülern folgender Impuls zu Beginn des narrativen Interviews (als Aufforderung für eine Stegreiferzählung) gegeben: „Denk doch einmal bitte zurück an dein bisheriges Leben und versuche mir so ausführlich wie möglich von den Erinnerungen zu erzählen, die du an den Deutschund Mathematikunterricht hast!“

Studierende erforschen Fachbiographien und Fachvorstellungen





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Mit Hilfe der narrativen Interviews sollten Erinnerungen an den Deutsch- und Mathematikunterricht erfragt und somit Informationen über zugrundeliegende Fachkulturen erhoben werden, wobei die Schülerinnen und Schüler nicht explizit nach ihren Fachkulturvorstellungen gefragt wurden. Auseinandersetzung mit Aufgaben: Die Schülerinnen und Schüler wurden aufgefordert, sich mit jeweils einer Aufgabe aus dem Deutsch- und Mathematikunterricht auseinanderzusetzen und durch lautes Denken ihre Überlegungen zugänglich zu machen. Diese Vorgehensweise wurde in der Hoffnung gewählt, dass sich bestimmte Aspekte von Fachkulturen implizit durch die Auseinandersetzung mit konkreten Aufgaben zeigen würden. Polaritätsprofile: Schließlich sollten die Schülerinnen und Schüler mit Blick auf den Deutsch- und Mathematikunterricht auf einer 7-stufigen Ratingskala jeweils ihre Einschätzungen hinsichtlich 22 vorgegebener Gegensatzpaare markieren (z.B. bedeutend-unbedeutend, eindeutig-mehrdeutig, sprachlastig-spracharm). Durch die Polaritätsprofile sollte erhoben werden, welche Vorstellungen die Schülerinnen und Schüler mit den beiden Unterrichtsfächern verbinden (vgl. dazu auch Bortz & Döring 2006). Im Unterschied zu den beiden anderen Erhebungsmethoden handelt es sich hierbei also um eine direkte und explizite Abfrage von wahrgenommenen Eigenschaften der beiden Unterrichtsfächer Deutsch und Mathematik.

Vor- und Nachteile der hier verwendeten Erhebungsmethoden – insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Projekt – wurden von Susteck und Rolka (2017) eruiert und erörtert (sodass wir hier darauf verzichten können). In der dritten Phase erhielten die Studierenden im Rahmen einer weiteren Blockveranstaltung eine Einführung in Grundregeln des Transkribierens von Interviews. Darüber hinaus gab es Informationen zur Auswertung der Interviews einschließlich einer Übungs- bzw. Praxisphase anhand eines vorab erstellten Transkriptes. Im Anschluss daran erfolgten in der vierten Phase die Anfertigung der Transkripte und die Auswertung der Interviews

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durch die Studierendenden unter Betreuung des Projektteams, um schließlich in der fünften Phase in der letzten Blockveranstaltung die gewonnenen Ergebnisse zusammenzutragen, zu diskutieren und zu reflektieren. Insgesamt liegen Daten von mehr als 80 Schüler_innen mit und ohne Migrationshintergrund der Jahrgangsstufe 10 unterschiedlicher Gesamtschulen im Ruhrgebiet vor. Einblicke in ausgewählte Ergebnisse Eine ausführlichere Darstellung der Ergebnisse einschließlich ausgewählter Interviewtranskripte findet sich in einem Beitrag von Susteck und Rolka (2017), sodass hier lediglich einige allgemeinere und beispielhafte Einblicke gegeben werden. Eine wesentliche Erkenntnis des Projektes liegt darin, dass der gewählte Impuls als Aufforderung für eine Stegreiferzählung nicht in erwarteter Weise funktionierte. Insgesamt zeigt sich bei vielen Schülerinnen und Schülern unabhängig von einem vorhandenen oder nicht vorhandenen Migrationshintergrund, dass die Interviews oftmals durch kurze, syntaktisch einfache Antworten, längere Pausen und/oder Redundanzen gekennzeichnet sind. Längere Erzählungen blieben häufig aus. Diese „Artikulationsknappheit“ (ebd., S. 218) ist ein in der Literatur durchaus bekanntes Problemfeld narrativer Interviews (z.B. Küsters 2009). Es ist auffällig, dass es den befragten Schülerinnen und Schülern kaum oder gar nicht gelingt, Unterrichtserinnerungen narrativ zu artikulieren. Mögliche Gründe hierfür können zunächst einmal einfach fehlende Erinnerungen an den jeweiligen Unterricht sein. Darüber hinaus sind unzureichende sprachliche und speziell narrative, aber auch mangelnde kognitive Möglichkeiten denkbar, um eine Erzählung zu dieser durchaus anspruchsvollen Thematik zu entwickeln. Schließlich kann auch ein ungünstiges Selbstkonzept eine Rolle spielen, sodass sich die Befragten nicht zutrauen, als Person etwas Relevantes zu sagen zu haben. Dass Erinnerungen an den Deutsch- und Mathematikunterricht entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt artikuliert werden, zeigt sich darin, dass kaum Unterrichtsinhalte, kaum eigene Entwicklungen,

Studierende erforschen Fachbiographien und Fachvorstellungen

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kaum subjektiv bedeutsame Lern- oder Misserfolge und kaum positiv oder negativ emotional besetzte Episoden aus dem Unterricht thematisiert werden. Vielfach wird in den Interviews deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler sowohl den einzelnen Unterrichtsfächern als auch der Institution Schule distanziert gegenüberstehen. Des Weiteren thematisierten die Schülerinnen und Schüler in vielen Interviews überwiegend persönliche Schwierigkeiten mit den beiden Unterrichtsfächern oder allgemein schulische Probleme. Dadurch kann der Eindruck entstehen, „Schule sei ein Ort systematischer Produktion von Misserfolgen“ (Susteck & Rolka 2017, S. 228; vgl. dazu auch Zaborowski, Meier & Breidenstein 2011). Fazit und Ausblick Vor dem Hintergrund einer Veranstaltung im Format forschenden Lernens ist erwähnenswert, dass selbst vordergründig und aus Sicht der Studierenden zunächst „unergiebige“ oder „misslungene“ Interviews im Nachhinein interessant und aufschlussreich für die Studierenden waren, da diese sowohl für eine forschungsmethodische als auch inhaltliche Reflexion genutzt werden konnten. Zum einen konnten Möglichkeiten und insbesondere auch Grenzen ausgewählter qualitativer Erhebungsmethoden erfahren sowie diskutiert werden. Zum anderen bietet die Artikulationsknappheit zahlreiche Anlässe zur Reflexion mit Blick auf mögliche Ursachen, aber auch entsprechende Implikationen im Hinblick auf die zukünftige Tätigkeit als Lehrer_in. Im Sinne der Weiterentwicklung und künftigen Verstetigung des Veranstaltungsformates könnte überlegt werden, weiterhin narrative Interviews, dann allerdings mit Schülerinnen und Schülern von Gymnasien, durchzuführen, wie dies etwa bei Dawidowski (2009) in äußerst ergiebiger Weise funktionierte. Allerdings kann auch eine methodische Veränderung in Erwägung gezogen werden. Anstelle des sehr offenen Impulses, der zudem mit den Erinnerungen an den Deutsch- und Mathematikunterricht zugleich auf zwei Phänomene abzielt und damit hohe Anforderungen an die Schülerinnen und

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Schüler stellt, könnten die Impulse zeitlich getrennt voneinander formuliert oder aber ein Leitfadeninterview entwickelt werden (vgl. Bortz & Döring 2006), um so ausführlichere Informationen zu den interessierenden Aspekten zu gewinnen. Literatur Bortz, Jürgen & Döring, Nicola (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Heidelberg. Blömeke, Sigrid, Kaiser, Gabriele & Lehmann, Rainer (Hg.) (2008): Professionelle Kompetenz angehender Lehrerinnen und Lehrer. Wissen, Überzeugungen und Lerngelegenheiten deutscher Mathematikstudierender und -referendare – Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung. Münster. Dawidowski, Christian (2009): Literarische Bildung in der heutigen Mediengesellschaft – Eine empirische Studie zur kultursoziologischen Leseforschung. Frankfurt a.M. Haag, Ludwig & Götz, Thomas (2012): Mathe ist schwierig und Deutsch aktuell: Vergleichende Studie zur Charakterisierung von Schulfächern aus Schülersicht. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 59/2012: S. 32-46. Hericks, Uwe & Körber, Andreas (2007): Methodologische Perspektiven quantitativer und rekonstruktiver Fachkulturforschung in der Schule. In: Lüders, Jenny (Hg.) (2007): Fachkulturforschung in der Schule. Opladen/Farmington Hills: S. 31-48. Huber, Ludwig (1998): Forschendes Lehren und Lernen – eine aktuelle Notwendigkeit. In: Das Hochschulwesen 1/1998: S. 3-10. Jakubanis, Matthias (2017): Literacy im Deutschunterricht: Funktionalisierungen von literarischen Rezeptionsprozessen bei SchülerInnen mit Migrationshintergrund. In: Susteck, Sebastian (Hg.) (2017): Empirische Untersuchungen zu Deutschunterricht und Migration. Frankfurt a.M.: S. 167189.

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Köller, Olaf, Baumert, Jürgen & Neubrand, Johanna (2000): Epistemologische Überzeugungen und Fachverständnis im Mathematik- und Physikunterricht. In: Baumert, Jürgen, Bos, Wilfried & Lehmann, Rainer (Hg.) (2000): TIMSS / III. Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftstudie – Mathematische und naturwissenschaftliche Bildung am Ende der Schullaufbahn, Bd. 2. Mathematische und physikalische Kompetenzen am Ende der gymnasialen Oberstufe. Opladen: S. 229269. Küsters, Ivonne (2009): Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen. Wiesbaden. Lüders, Jenny (2007): Fachkulturforschung in der Schule. Opladen/Farmington Hills. PISA (2004): PISA 2003: Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster. PISA (2010): PISA 2009: Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster. Susteck, Sebastian & Rolka, Katrin (2017): Fachkulturen des Deutsch- und Mathematikunterrichts bei SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund. Ergebnisse eines Projekts Forschenden Lernens. In: Susteck, Sebastian (Hg.) (2017): Empirische Untersuchungen zu Deutschunterricht und Migration. Frankfurt a.M.: S. 211-258. Winkler, Iris (2015): Durch die Brille der anderen sehen. Professionsbezogene Überzeugungen im Lehramtsstudium Deutsch. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2/2015: S. 192-208. Zaborowski, Katrin Ulrike, Meier, Michael & Breidenstein, Georg (2011): Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule. Wiesbaden.

Forschendes Lernen im Praxissemester im Fach Russisch als Fremdsprache – Vorbereitung der Studierenden auf die Durchführung von Studienprojekten Anastasia Drackert Die Einführung des Praxissemesters an der Ruhr-Universität Bochum in der Folge des neuen landesweiten Lehrerbildungsgesetzes war mit vielfältigen curricularen Veränderungen verbunden. Das Ziel, die Vermittlung der Fähigkeit, „theoriegeleitete Erkundungen im Handlungsfeld Schule zu planen, durchzuführen und auszuwerten“1 sowie in der neuen Praxisphase zu realisieren, ist ein Anspruch für die Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und die Bildungswissenschaften zugleich. Die Herausforderung bestand unter anderem darin, ein praktikables Konzept zu entwickeln, das die Studierenden im Rahmen der knapp bemessenen Phase des Master of Education-Studiengangs, die vor dem Praxissemester zur Verfügung steht, befähigt, den praktischen wie reflexiven Anforderungen im Rahmen des Praxissemesters gerecht zu werden. Der Beitrag beschreibt, wie diese Zielstellung im Fach Russisch als Fremdsprache in den ersten Durchgängen des Praxissemesters (seit dem Sommersemester 2016) praktisch umgesetzt wurde, und gibt Einblicke in studentische Reflexionen des Praxissemester-Begleitseminars im Fach Russisch.

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Verfahrensordnung für das Praxissemester im Studiengang Master of Education (M. Ed.) an der Ruhr-Universität Bochum: http://www.pse.rub.de/sites/studium/praktikumsbuero/downloads/2018-05-15%20Verfahrensordnung%20Praxissemester_Beschluss_ SB.pdf

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_38

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„Warum soll ich als Lehrer_in überhaupt forschen (können)?“ Diese Frage hört man nicht selten von Studierenden, die von ihrem Studium in erster Linie die Vorbereitung auf das Lehrer-Kerngeschäft des Unterrichtens erwarten. Das erfolgreiche Unterrichten einer Fremdsprache hängt, wie die Forschung zeigt, von vielen Faktoren ab. Dazu gehören unter anderem soziopolitische Faktoren (z.B. der Status der Fremdsprache in der eigenen Kultur), personenbezogene Faktoren der Lehrenden und Lernenden (z.B. Motivation), das unterrichtliche Geschehen (z.B. Lernziele oder Lehrinhalte), Lehr- und Lernumgebungsfaktoren (z.B. die technische Ausstattung oder Lerngruppengröße) (vgl. Edmondson & House 2011, S. 24ff.). Auch weitere Faktoren, die sich aus der Sprachlehrforschung, Psycholinguistik, Fremdsprachendidaktik und anderen Disziplinen ableiten lassen (vgl. ebd.), spielen dabei eine Rolle. Im Rahmen des Master of Education-Studiums werden Studierende mit diesen Kontextfaktoren in ihrer Komplexität und Bedeutung für das Unterrichten vertraut gemacht. Dabei erscheint grundlegend, dass Studierende im Laufe des Studiums vor allem den „Produkten“ der Wissenschaft begegnen und deshalb – so Schocker-von Ditfurth (2001) – „fachdidaktischen Wissensbeständen eher misstrauisch gegenüber (stehen) und [...] ihnen entweder keine oder nur eine sehr geringe berufsrelevante Bedeutung bei(messen)“ (ebd., S. 91). Außerdem sind sie häufig der Meinung, dass ihnen das aus Büchern gewonnene Wissen nicht helfen kann, komplexe Anforderungen der Unterrichtspraxis zu bewältigen (vgl. ebd., S. 94). Die an diesen Beispielen augenfällig werdende Aufgabe der Integration von Theorie und Praxis im Laufe des Studiums kann durch das Forschende Lernen adressiert werden. Forschendes Lernen Forschendes Lernen setzt die „aktive Teilhabe der Studierenden am Prozess der Wissensgewinnung“ (Pasternack 2017, S. 38f.) voraus. Nach Pasternack bedeutet dies nicht, dass „Studierende sich an den Fronten der Forschung

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bewegen sollen“, d.h. sie sollen keine „neuen“ Erkenntnisse erarbeiten (ebd.). Dennoch ist Forschendes Lernen vor allem durch Selbstständigkeit, Theoriebezug sowie Reflexion seitens der Studierenden gekennzeichnet (vgl. Fichten 2017). Dabei sollen Studierende selbst Entscheidungsträger_innen hinsichtlich der Organisation und Umsetzung von Forschungsvorhaben sein; die universitäre Lehrkraft soll sie dabei unterstützen und Feedback geben (vgl. Mieg 2017). Im engeren Sinne zeichnet sich Forschendes Lernen „dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens […] in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit)gestalten, erfahren und reflektieren.“ (Huber 2009, S. 11)

Diese Definition des Forschenden Lernens wurde für die Konzeptentwicklung der Praxissemestervorbereitung zugrunde gelegt. Vorbereitung auf die Studienprojekte am Seminar für Slavistik Das auf das Praxissemester vorbereitende Seminar wird in aller Regel im zweiten Master of Education-Semerster absolviert. Es ergänzt fachwissenschaftliche und fachdidaktische Seminare sowie die Sprachpraxis. Ziel ist es, neben der fachlichen und didaktischen Vorbereitung auf das Unterrichten, die Studierenden auf die Durchführung eines eigenen Studienprojekts im Sinne des Forschenden Lernens vorzubereiten. Die Konzeption des Begleitseminars sieht als ersten Baustein vor, exemplarisch für die Unterrichtspraxis relevante fachdidaktische Studien zum Fach Russisch als Fremdsprache mit den Studierenden reflexiv zu erarbeiten. Die Studierenden erschließen sich die Studien mit Hilfe vorstrukturierter Leitfragen, die sowohl auf Verstehensprozesse wie den Transfer für das Planen eines eigenen fachdidaktischen Studienprojektes zielen.2 Ziel ist es, dass die Studierenden 2

Die Leitfragen können unter dem Link https://tinyurl.com/y5s3ge87 abgerufen werden.

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Anastasia Drackert (1) die Logik der Wissenschaft verstehen und an bereits bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse anknüpfen, (2) das methodische Vorgehen (von Wissenschaftler_innen) begreifen bzw. begründen können, (3) Erkenntnisse der Studien für die Theorie und die Praxis analysieren können sowie (4) neue Fragestellungen zu einem bestimmten Phänomen für den Kontext Schule entwickeln, potenzielle Studien planen und in Bezug auf die Durchführbarkeit im Praxissemester reflektieren können.

Als zweiten Baustein des Seminars bekommen die Studierenden die Möglichkeit, mindestens zwei Studienprojekte eines vorherigen Praxissemesterdurchgangs kennenzulernen, die durch die Studierenden selbst im Seminar vorgestellt werden. Ergänzend werden den Studierenden weitere Praxisberichte auf der Lernplattform Moodle als Beispiele zur Verfügung gestellt und auf diese Weise die Erwartungen nicht nur an die Studienprojekte, sondern auch an die Berichte von Anfang an transparent gemacht. In der Mitte des auf das Praxissemester vorbereitenden Seminars nehmen die Studierenden an einem obligatorischen Beratungsgespräch mit der Dozentin teil. Zu diesem Zeitpunkt wissen sie in der Regel, in welcher Schule sie das Praxissemester absolvieren werden, was für die Planung des Studienprojektes hilfreich ist. Ziel des Gesprächs ist es, die Studierenden bei der Themenfindung bzw. Formulierung der zu erforschenden Fragestellung zu unterstützen. Eine Herausforderung besteht darin, dass die Studierenden die von ihnen gewählten Themen so in einer Fragestellung präzisieren, dass sie auch in der schulischen Praxis und in der knappen, zur Verfügung stehenden Zeit von ihnen umgesetzt werden können. Basierend auf der gewählten Fragestellung erarbeiten die Studierenden bis zum Beginn des Praxissemesters schriftlich den dazugehörigen theoretischen Überblick und das geplante methodische Vorgehen für das eigene Studienprojekt und erhalten dazu eine individuelle Rückmeldung, so dass sie ihre

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Planungen gegebenenfalls modifizieren können. Während des praxissemesterbegleitenden Seminars berichten die Studierenden jeweils einmal vom Stand ihrer Studienprojekte und bekommen nach Bedarf Rückmeldung zu den entwickelten Instrumenten. Diese individuelle Beratung und Betreuung der Studierenden ist wegen des hohen Aufwandes jedoch nur mit kleinen Gruppen zu realisieren. Beispiele von Studienprojekten im Fach Russisch Die Themensuche für das Studienprojekt geht ausschließlich von den Studierenden selbst aus: Eine didaktische Entscheidung, die sich als gewinnbringend erweist. Nicht nur empfanden die Studierenden die Möglichkeit zur Selbstbestimmung als motivationsfördernd, die entstandenen Studienprojekte spiegelten zudem eine große Vielfalt und Breite fremdsprachendidaktischer, praxisbezogener Forschungszugänge wider. So sind Arbeiten entstanden, die eher sprachspezifisch und der linguistisch verorteten Mehrsprachigkeitsforschung zuzuordnen sind, wie z.B. die „Untersuchung zur Interkomprehension mit der Methode des Lauten Denkens“ oder die „Studie zur orthographischen Vielfalt im Russischen bei Fremd- und Herkunftssprachenlernern“. Einige Studienprojekte, z.B. die „Untersuchung zu Wahrnehmung und Einstellungen herkunftssprachlicher Schüler_innen zur Differenzierung im fremdsprachlichen Russischunterricht“ oder zu „Differenzierungsmaßnahmen im Russischunterricht und ihr Einfluss auf das Lernen der Herkunftssprecher_innen“ beschäftigten sich mit dem für die Fachdidaktik des Russischen sehr bedeutsamen Thema „Umgang mit Heterogenität im Russischunterricht“, das durch die Präsenz von Schüler_innen mit dem Russischen als Familiensprache eine besondere Herausforderung für das Fach darstellt. Auch interdisziplinäre Fragestellungen werden in den Studienprojekten bearbeitet, wie etwa in den Studien „Der Einfluss digitaler Medien auf die lexikalische Kompetenz von Schülerinnen und Schülern im Russischunterricht. Die Förderung der Abrufgeschwindigkeit mithilfe einer Online-App,

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Mündliche Fehlerkorrektur im Russischunterricht, Sprechaktivität im Russisch- und Spanischunterricht. Eine empirische Untersuchung zum Einfluss der Sozialformen auf die Sprachwahl und Lehrer- bzw. Schülersprechzeit oder Lernerautonomie im Fremdsprachenunterricht. Welche Auswirkungen haben Wahlmöglichkeiten bei Aufgaben im Fremdsprachenunterricht?“ Die zuletzt genannten Untersuchungen wurden allesamt interdisziplinär eingelegt und parallel in den Fächern Spanisch, Englisch und der Bildungswissenschaft durchgeführt. Einige der Studien waren für die Fachdidaktik des Russischen sehr innovativ und konnten durch ihre methodische Qualität sogar in den Sammelband des 2. Arbeitskreises der Didaktik der slawischen Sprachen aufgenommen werden, der demnächst in der Reihe Innsbrucker Beiträge zur Fachdidaktik (Innsbruck University Press) erscheint. Reflexion der bisherigen Praxis Eine der Herausforderungen bei der Planung des Studienprojekts besteht darin, dass viele Studierende erst in der Praxis beginnen, sich für bestimmte Fragestellungen aufgrund eigener Erfahrungen zu interessieren und nicht schon vor Beginn der Praxisphase. Trotz dieser Schwierigkeit sieht die Konzeption der Seminare auch weiterhin vor, die Themenwahl und das geplante methodische Vorgehen bereits während des auf das Praxissemester vorbereitenden Seminares, also vor dem Praxissemester, zu thematisieren. Es dürfte nämlich aus Praktikabilitätsgründen nicht sinnvoll und kaum möglich sein, sich das theoretische Wissen zu einer Fragestellung (und dies in drei unterschiedlichen Fächern) während des Praxissemesters – also neben der Unterrichtsplanung, den Hospitationen, dem Pendeln zur Schule usw. – anzueignen und darauf basierend eine neue Untersuchung zu planen und durchzuführen. Wenn das Ziel des Praxissemesters darin bestehen soll, theoriegeleitete und nicht einfach ‚instinktive‘ Erkundungen im Handlungsfeld Schule zu planen, durchzuführen und auszuwerten, dann ist es sinnvoll, sich bereits vor dem

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Praxissemester mit der Theorie zur eigenen Fragestellung auseinanderzusetzen. Dies nehmen auch die Studierenden wahr. So berichtet eine Teilnehmerin bei der Reflexion des Studienprojekts: „Die vorbereitende Aneignung von Wissen im Bereich der mündlichen Fehlerkorrektur war insofern sinnvoll, als dass ich mich zunächst aus theoretischer Perspektive mit den unterschiedlichen Möglichkeiten zum Lehrerfeedback beschäftigt habe, bevor ich diese in ihrer Umsetzung in der Unterrichtspraxis beobachten konnte. Durch diese Vorbereitung und den für die Untersuchung angefertigten Beobachtungsbogen war es mir möglich, das Feedback relativ schnell den verschiedenen Kategorien zuzuordnen, wobei es bis zum Schluss schwierig blieb, in Echtzeit auf alle Feinheiten des vom Lehrer gewählten Korrekturverhaltens zu achten und diese zu dokumentieren.“

Außerdem können, wie eine Absolventin des Praxissemesters berichtet, die Themen, die sie nach dem Praxissemester zu interessieren begannen, im Laufe der weiteren Ausbildung angegangen werden: „Im Rahmen des Praxissemesters und basierend auf meinen Beobachtungen hat sich für mich der Bereich der Fehlerkorrektur als höchst relevant erwiesen. Dazu hatte ich mir vorher wenig Gedanken gemacht. Mir ist jedoch aufgefallen, dass jeder Lehrer unterschiedlich in diesem Bereich vorgeht. Es kam also die Frage auf, wie ich in Zukunft mit Fehlern umgehen werde bzw. soll. Daher bin ich zu dem Entschluss gekommen, mich bis zum Referendariat näher und ausführlicher damit auseinanderzusetzen.“

Eine positive Konsequenz der im Laufe des Praxissemesters durchgeführten Studienprojekte besteht darin, dass die Studierenden bewusster und mit breiterem Hintergrundwissen die Themen ihrer Masterarbeiten auswählen und nicht selten die im Laufe des Praxissemesters durchgeführten Projekte ausweiten und vertiefen. Hierbei handelt es sich aus universitärer Sicht um eine besonders erfreuliche Entwicklung. Neben der Anknüpfung eigener Untersuchungen an die bisherigen theoretischen Erkenntnisse ist es für die Entwicklung von Reflexionskompetenz wichtig, dass die Studierenden die Erkenntnisse aus dem eigenen Projekt nach

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den im Portfolio zum Praxissemester3 vorgeschlagenen Fragen (vgl. S. 9) reflektieren,4 und zwar in Bezug auf den theoretischen und praktischen Gewinn. Der Auszug aus der Reflexion einer Studentin zeigt, dass ein solcher Gewinn durch die Durchführung eigener Studienprojekte möglich ist und sogar über die untersuchte Fragestellung hinausgehen kann: „Retrospektiv kann ich sagen, dass ich aus der Untersuchung neue Erkenntnisse für die Praxis ziehen konnte. Durch die Beschäftigung mit der Interkomprehension ist mir klar geworden, wie wichtig zuvor erlernte Sprachen, besonders die Muttersprache, für das Verständnis des Russischen sind. Die Methode des Lauten Denkens hat mir dabei genügend Einblicke in die mentalen Prozesse der SuS [Schülerinnen und Schüler] ermöglicht. Da nicht allen SuS die Wortarten bekannt sind, würde ich als zukünftige Lehrerin Sequenzen in den Unterricht einbauen, in denen dies geübt wird. Denn hinsichtlich der Ergebnisse ist das sprachliche Wissen über Wortarten ein wichtiger Aspekt in Bezug auf das Verständnis von russischen Wörtern bzw. Texten [...]. Abschließend kann ich sagen, dass ich ohne dieses Forschungsprojekt nicht herausgefunden hätte, wie hilfreich die Methode des Lauten Denkens ist, und hätte sie somit vielleicht niemals ausprobiert bzw. angewendet.“

Bei der Reflexion konnte ich nicht nur beurteilen, ob die gewünschte TheoriePraxis-Integration stattgefunden hat, sondern auch, ob die Studierenden ihr Forschungsdesign kritisch reflektieren können. Ziel dieses Prozesses ist es keineswegs, die Lehramtsanwärter_innen zur nächsten Generation von Wissenschaftler_innen zu machen, auch wenn dies möglicherweise ein zu begrüßender Nebeneffekt wäre. Wichtig ist in erster Linie, die Lehrkräfte und zukünftigen Führungskräfte im Bildungssektor zu befähigen, ihre (Unterrichts-) Entscheidungen begründet zu treffen. Nur wer sich mit einer – wenn auch sehr kleinen – Forschungsfrage empirisch auseinandergesetzt hat und die Komplexität der wissenschaftlichen Durchdringung des Lern- bzw. Lehrprozesses selbst erfahren hat, weiß, dass die mit den unterschiedlichen Aspekten des Unterrichts einhergehenden Entscheidungen für jede individuelle Lerngruppe bzw. jeden individuellen Lernenden in den meisten Fällen auch individuell getroffen werden müssen und dass ‚fertige Rezepte‘ in der Regel nicht 3 4

http://www.pse.ruhr-uni-bochum.de/sites/studium/praktikumsbuero/downloads/ RUB%20Praxissemester%20-%20Portfolio.pdf Diese Reflexion soll am Ende des Berichts erfolgen und ca. zwei Seiten umfassen.

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greifen. Ob dieses Ziel durch forschendes Lernen tatsächlich erreicht werden kann – wofür es meinen Erfahrungen zufolge durchaus Belege gibt –, lässt sich allerdings nur anhand noch ausstehender longitudinaler Untersuchungen genauer feststellen. Literatur Drackert, Anastasia & Felberg, Darja (2019): Ausbildung der Testentwicklungskompetenz angehender LehrerInnen und LinguistInnen durch Forschendes Lernen. In: Drackert, Anastasia & Karl, Katrin B. (Hg.) (2019): Didaktik der slawischen Sprachen. Beiträge zum 2. Arbeitskreis in Innsbruck (19.02.-20.02.2018). Innsbruck [im Druck]. Edmondson, Willis & House, Juliane (2011): Einführung in die Sprachlehrforschung. 4. Auflage. Tübingen. Fichten, Wolfgang (2017): Forschendes Lernen in der Lehramtsausbildung. In: Mieg, Harald A. & Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen: Wie die Universität und die Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M./New York: S. 155-164. Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: Huber, Ludwig, Hellmer, Julia & Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld: S. 9-35. Mieg, Harald A. (2017): Einleitung: Forschendes Lernen – erste Bilanz. In: Mieg; Harald A. & Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen: Wie die Universität und die Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M./New York: S. 15-31. Pasternack, Peer (2017): Konzepte und Fallstudien: Was die Hochschulforschung zum Forschenden Lernen weiß. In: Mieg; Harald A. & Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen: Wie die Universität und die Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt a.M./New York: S. 37-44.

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Schocker-v. Ditfurth, Marita (2001): Forschendes Lernen in der fremdsprachlichen Lehrerbildung. Tübingen.

Die Einnahme einer forschenden Grundhaltung im Praxissemester – Perspektiven einer bildungswissenschaftlichen Begleitung Grit im Brahm Im Jahr 2015 wurde in Nordrhein-Westfalen das Praxissemester als fester Bestandteil der universitären Lehrerausbildung implementiert. Diese fünfmonatige, im dritten Semester des Studiengangs Master of Education verortete Praxisphase verfolgt eine professionsorientierte Theorie-Praxis-Verzahnung, bei der das für den Lehrerberuf relevante, erworbene Theorie- und Reflexionswissen aus den Fachwissenschaften, den Fachdidaktiken und den Bildungswissenschaften im Modus einer forschenden Grundhaltung mit der Tätigkeit in der Schule verknüpft werden soll (vgl. Ministerium für Schule und Bildung [MSB] o.J.). Mit dieser Zielsetzung folgt das Praxissemester den Empfehlungen des Deutschen Wissenschaftsrates (2001) zur künftigen Struktur der Lehrerbildung, in denen es heißt, „Hochschulausbildung soll[e] die Haltung forschenden Lernens einüben und fördern, um die zukünftigen Lehrer zu befähigen, ihr Theoriewissen für die Analyse und Gestaltung des Berufsfeldes nutzbar zu machen und auf diese Weise ihre Lehrtätigkeit nicht wissenschaftsfern, sondern in einer forschenden Grundhaltung auszuüben“ (ebd., S. 41). Für den Professionalisierungsdiskurs spielt im Kontext der forschenden Grundhaltung auch das von Schön (1983) geprägte Lehrerbild des „reflective practitioner“ eine zentrale Rolle, der die kognitive Fähigkeit zur sowie die affektive Überzeugung der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reflexion der eigenen Berufstätigkeit verinnerlicht hat. Reflexivität als Bewusstheit über das eigene Tun wird in diesem Konzept zur Schlüsselkompetenz der Professionalität (Combe & Kolbe 2004 S. 835). Sie erfordert eine bewusste Distanzierung vom ‚Gegenstand‘, auf welchen die kritisch fragende, prüfende Auseinandersetzung dann wieder ‚zurückgeworfen‘, also reflektiert werden soll.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_39

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Diese kritisch-prüfende Auseinandersetzung gilt als zielführend und der in der Regel begrenzten subjektiven Sicht auf das eigene pädagogische Tun als deutlich überlegen, da sie durch vielfältige, insbesondere auch wissenschaftliche Perspektiven angereichert wird. So betont Fichten (2005, S. 116) die Bedeutung wissenschaftlicher Wissensbestände als Referenzpunkte einer Reflexion, die sich ja nicht allein im Horizont subjektiver Annahmen bestätigen bzw. verdoppeln soll. Dem Prozess der Reflexion als integraler Bestandteil einer forschenden Grundhaltung wird das Potential zugeschrieben, sich durch die Bezugnahme auf wissenschaftliche Theorien von der selbst erlebten und gestalteten Praxis zunächst distanzieren zu können, um sich derselben dann mit erweiterten Blickwinkeln wieder zuwenden, diese neu betrachten, verstehen und kritisch überdenken zu können. Der vorliegende Beitrag stellt das Lehrkonzept einer bildungswissenschaftlichen Begleitveranstaltung vor, das darauf abzielt, eine schlüssige Lernumgebung zu ermöglichen, welche die Studierenden sukzessive darin unterstützen kann, eine reflexive, forschende Grundhaltung gegenüber der (eigenen) schulischen Handlungspraxis einnehmen zu können. Alle Begleit-veranstaltungen zum Praxissemester finden an der Ruhr-Universität Bochum freitags in einem 3-Wochen-Turnus statt und flankieren die schulische 4-TageWoche (Montag bis Donnerstag). Dieser Turnus resultiert primär aus organisatorischen Bedingungen, um angesichts 22 an der RUB angebotener, lehrerbildender Unterrichtsfächer und der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten überschneidungsfreie Zeitslots für alle Studierenden zu ermöglichen. Es bedeutet, dass die Begleitungsveranstaltung auf vier bis maximal fünf Präsenztermine limitiert ist. Neben den Begleitkursen sind sogenannte Studienprojekte, welche systematische, theorie- und methodengeleitete Erkundungen und Reflexionen des Handlungsfelds Schule (MSB o.J.) darstellen, das zentrale Element, um den intendierten Theorie-Praxis-Transfer zu fördern und eine forschende Grundhaltung einzuüben. Bislang dienen die Studienprojekte in den Fächern und den Bildungswissenschaften in der Regel als Modulprüfung und sind somit bewertungsrelevant. Der Begleitkurs wird in den Bildungswissenschaften mit 4 CP, d.h. 120 Arbeitsstunden, und das Studienprojekt mit weiteren 2 CP, also 60 Arbeitsstunden, kreditiert.

Die Einnahme einer forschenden Grundhaltung im Praxissemester

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Das schulische Praxissemester startet vor den universitären Begleitkursen. Das vorgezogene Anmeldeverfahren in den Bildungswissenschaften stellt jedoch sicher, dass die Studierenden mit dem Einstieg in das Praxissemester bereits einem Begleitkurs zugeteilt wurden und wissen, welche Anforderungen mit diesem einhergehen bzw. auch, welche Form der Unterstützung sie darin für die Erstellung des Studienprojektes erwarten können. Diese Transparenz erscheint umso wichtiger, als die Erwartungen der Studierenden an das Praxissemester in der Regel nicht mit den formalen Zielsetzungen des Praxissemesters deckungsgleich sind. Diese suchen – so ein Zitat eines Studierenden aus einem meiner Begleitkurse – im Praxissemester „endlich“ die Möglichkeit, sich als „echter Lehrer beim Unterrichten ausprobieren“ und „in die Praxis eintauchen“ zu können. Doch gerade letztgenanntes steht in deutlichem Widerspruch zur erforderlichen Distanzierung zum Forschungs-Gegenstand, die der Modus des reflexiven, forschenden Lernens von den Studierenden einfordert. Da die Studierenden bislang nur einmal im Bachelor-Modul Schulpraxisstudien (vgl. Floß & Kull, in diesem Band) Gelegenheit für die Einnahme einer forschenden Haltung gegenüber der schulischen Praxis hatten, muss dieser Lernprozess auch im Masterstudiengang zunächst gut strukturiert und mit Unterstützung (Scaffolds) versehen werden, bevor dieser bei der Entwicklung und Durchführung des Studienprojekts weitgehend eigenständig verlaufen kann. Bei der Durchführung des Studienprojekts müssen die Studierenden im Modus des forschenden Lernens eigenständig • • • • •

eine schul- bzw. unterrichtsnahe bildungswissenschaftliche Fragestellung entwickeln, ein sinnvolles Erhebungsdesign planen, erforderliche Daten erheben, diese systematisch und interindividuell nachvollziehbar auswerten und im Kontext einschlägiger Theorien, dem aktuellen Forschungsstand und unter der Perspektive der eigenen pädagogischen Professionalisierung kritisch reflektieren können.

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Letztlich soll der Erwerb einer forschenden Grundhaltung gegenüber der eigenen (künftigen) Berufstätigkeit befördert werden. Im Rückgriff auf Bloom (1976) kann die Einnahme einer Haltung – die Verinnerlichung eines eigenständig strukturierten Wertesystems – als das oberste affektive Lernziel angenommen werden. Das setzt grundsätzlich die bewusste Beachtung dieser Haltung voraus, eine konstante Sensibilisierung dafür und die grundlegende Bereitschaft dazu, ihre Anerkennung und außerdem ein nach ihrer subjektiven Relevanz hierarchisiertes Wertesystem, das es nahelegt, die eigene Berufstätigkeit in einer forschenden (und damit sich immer wieder von dieser Tätigkeit distanzierenden) Haltung ausüben zu wollen. Angesichts der zuvor bereits thematisierten „Sehnsucht“ einiger Studierender, im Praxissemester vor allem in die Praxis eintauchen zu wollen, wirkt diese affektive Zielsetzung mit Blick auf die Möglichkeiten einer universitären Begleitveranstaltung als eine anspruchsvolle Intention; umso wichtiger ist es, durch didaktische Entscheidungen eine Lernumgebung zu schaffen, welche neben dem kognitiven Kompetenzerwerb auch die Bearbeitung dieser emotionalen Ebene ermöglicht. Aufgrund der organisatorischen Rahmung wird der Begleitkurs nach dem Blended-Learning-Prinzip konzipiert, das Phasen des online-basierten Selbststudiums in einem Moodle-Kurs durch punktuelle Präsenztermine flankiert. Der Moodle-Kurs versteht sich als strukturiertes Lernangebot, das die Studierenden darin unterstützt, wissenschaftliche Wissensbestände mit Ausschnitten aus der eigenen Schulpraxis in Bezug zu setzen. Eine ‚Gamifizierung‘ des Kurses durch die Vergabe von Erfahrungspunkten und sogenannten Badges soll zudem die Motivation und die Bereitschaft der Studierenden erhöhen, die Aufgaben zu bearbeiten. Der Moodle-Kurs integriert alle im Rahmen der Begleitung vorgesehenen Arbeitsaufträge und schafft so für die Studierenden größtmögliche zeitliche Flexibilität für deren Bearbeitung. Die dort eingestellten Beobachtungsaufträge und vertiefenden Lernstationen sollen die Erkenntnis befördern, dass die eigene praktische Erfahrung im Praxissemester zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden kann. Die subjektive Wahrnehmung wird so durch neue, aus der Theorie und empirischen Befunden abgeleitete Blickwinkel erweitert, welche die Studierenden als persönlich relevant erleben. Daher erhalten die Studierenden

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zu Beginn die Aufforderung, unterschiedliche, unter bildungswissenschaftlichen Fragestellungen relevante Daten zu sammeln bzw. Beobachtungen zu notieren. Dazu gehört beispielsweise bezogen auf die Klassenführung als Basisdimension guten Unterrichts das Protokollieren, was genau in den ersten fünf Minuten des Unterrichts geschieht oder wie Lehrende auf Unterrichtsstörungen reagieren. Diese Beobachtungen, zu denen die Studierenden in der Regel noch kein wissenschaftlich angereichertes Vorwissen mitbringen, fokussieren die Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ausschnitt der Unterrichtspraxis. Sie münden in sechs vergleichbar strukturierte Lern- und Vertiefungsstationen zu den Basisdimensionen guten Unterrichts (Klieme & Rakoczy 2008): • • • • • •

Klassenführung (Lernzeit/Umgang mit Störungen), Lernaufgaben (als Indikator kognitiver Aktivierung), Lehrerfragen (als Indikator kognitiver Aktivierung), Umgang mit Fehlern (als Indikator einer konstruktiven Unterstützungskultur), Lehrerfeedback (als Indikator einer konstruktiven Unterstützungskultur), Gruppenarbeit (als Kombination aus Klassenführung, kognitiver Aktivierung und konstruktiver Unterstützungskultur).

An den jeweiligen Stationen werden die Studierenden aufgefordert, eingestellte Texte mit der Leittextmethode zu bearbeiten und dann die zuvor dokumentierten Beobachtungen im Rückgriff auf die in den Texten ausgeführten Konzepte zu analysieren oder mit Bezug auf empirische Befunde als Stand der Forschung einzuschätzen. So werden z.B. die Beobachtungen dessen, was in den ersten fünf Minuten des Unterrichts geschieht, unter der Fragestellung der aktiven Lernzeitnutzung diskutiert, die Reaktionsformen auf Unterrichtsstörungen im Rückgriff auf Helmkes Low-Profile-Ansatz oder Kounins Techniken der Klassenführung betrachtet. Die Studierenden haben sich sowohl durch die vergangene Zeit seit der Protokollierung als auch durch die

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Grit im Brahm

Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Texten von der beschriebenen Situation distanziert und wenden sich dieser nun wieder systematisch angeleitet durch Aufgabenstellungen zu. Die Ergebnisse der Bearbeitung werden in Moodle hochgeladen, durch die Seminarleitung geprüft und ggfs. mit weiteren Denkimpulsen oder auch mit Lob versehen. Von den sechs Stationen können die Studierenden drei Stationen zur Bearbeitung frei auswählen. Dies trägt einer notwendigen Differenzierung der Lernangebote Rechnung, die einerseits interessensbedingte Wahlen ermöglicht, andererseits aber auch von Studierenden unerwünschte Redundanzen z.B. zu Angeboten in den Fächern vermeiden hilft. Die Stationenarbeit verläuft vollständig autonom. Sie erzeugt bei insgesamt zufriedenstellenden bis sehr guten Arbeitsergebnissen nur wenige Rückfragen, die entweder im kursinternen Blog untereinander oder von der Seminarleitung auch per Mail beantwortet werden. Die Lernstationen leiten den Prozess des forschenden Lernens exemplarisch in besonders strukturierter Art und Weise an. Damit tragen sie jedoch dem Selbstständigkeitspostulat des forschenden Lernens (Huber 2003) nur eingeschränkt Rechnung. Bei der Durchführung des Studienprojektes sollten sich die Studierenden auch im Kontext der Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci (2000) stärker als autonome Lernende erleben können, wobei der Fokus immer auf dem forschenden Lernprozess und weniger auf dem Ergebnis liegen sollte. Aus diesem Grund und in der Annahme, dass das Studienprojekt dann als persönlich bedeutsamer erlebt wird, wird bei der Auswahl des Reflexionsgegenstandes des Studienprojektes ein interessensgeleiteter Zugang gefördert. Die Studierenden werden bei dem ersten Treffen nach Beginn des Praxissemesters aufgefordert, von Erfahrungen in Schule und Unterricht zu berichten, die in ihnen Erstaunen oder Verwunderung ausgelöst haben bzw. die sie als Lehrperson herausgefordert haben. Diese Irritationen lassen sich zumeist gut im Seminar bearbeiten und in eine Fragestellung für das Studienprojekt übersetzen. So zeigten sich z.B. einige Studierende irritiert darüber, dass die zuvor im Kontext eines Didaktikseminars als bedeutsam herausgestellten Einstiege in den Unterricht ‚entfielen‘. Die Studierenden

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nahmen dies als ein Problem wahr, das sie aus persönlichem Interesse bearbeiten wollten. Die nachfolgenden Schritte zielen auf die Entwicklung einer konkreten Fragestellung, z.B. „Wie beginnt der Unterricht, wenn der Einstieg fehlt?“ oder „Welche didaktische Funktion schreiben Lehrende dem Unterrichtseinstieg zu?“, und möglicher Erhebungsdesigns, mit denen die Fragestellungen systematisch bearbeitet werden können. Zum zweiten Treffen erstellen die Studierenden ein Plakat, auf dem die Fragestellung, der geplante methodische Erhebungs- und Auswertungszugang sowie zentrale Literaturquellen für einschlägige wissenschaftliche Perspektiven zur Bearbeitung der Fragestellung abgebildet sind. Diese werden in einem Rundgang durch den Kurs selbst begutachtet und durch Post-it-Zettel mit Fragen, Hinweisen etc. versehen. Die oben exemplarisch angeführten Fragestellungen wurden beispielsweise durch Beobachtung der ersten zehn Unterrichtsminuten bzw. durch ein leitfadengestütztes Interview bearbeitet. Studierende sollen nach dem zweiten Treffen Arbeitsbündnisse eingehen, die sowohl themen- als auch methodengebunden (Interviews, Fragebogen, Beobachtung, Dokumentenanalyse) sind. In diesen Gruppierungen werden aufkommende Fragen zusammen mit der Seminarleitung diskutiert. So haben Studierende immer Ansprechpartner, die sich mit ähnlichen Aspekten befassen. Zudem erhalten die Studierenden durch das von inSTUDIESplus geförderte (und für eine Verstetigung vorgesehene) Methodenzentrum der RUB z.B. konkrete methodenbezogene Workshopangebote oder eine Methodenberatung, die sie bei der Entwicklung ihres Forschungsdesigns unterstützen können. Von nun an orientiert sich die Begleitung weitgehend individualisiert an den Herausforderungen der einzelnen Studienprojekte, wobei die Treffen grobe Schwerpunkte setzen. Beim dritten Treffen soll ein erstes themenbezogenes Exposé, das relevante Wissensbestände zusammenstellt, vorliegen und ein konkreter Plan feststehen, welche Daten wie und wann erhoben werden sollen. Beim vierten und fünften Treffen werden insbesondere Aspekte der Auswertung thematisiert. Darüber hinaus besuchen die Studierenden regelmäßig die Sprechstunden und erhalten zusätzliche Unterstützung – wenn dies erforderlich wird. Die persönlichen Auswertungen der Studienprojekte bezogen auf ihre Bedeutung für ihre eigene Professionalisierung verdeutlichen die Stärke eines

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interessengeleiteten Zugangs für eine positive Bewertung des Studienprojektes als sinnvolle Tätigkeit. Viele Studierende betonen, die Durchführung als herausfordernd, aber gewinnbringend erlebt zu haben. Ein Stolperstein liegt in der Rolle des Studienprojekts als benotete abschlussrelevante Modulprüfung. Dies führt häufig zu einer Überbetonung des Berichtes als Forschungsergebnis und gleichsam dazu, den forschend-entdeckenden Lernprozess als besonders wichtiges Ergebnis des Studienprojektes auf dem Weg zu einer reflexiv-forschenden Grundhaltung zu vernachlässigen. Literatur Bloom, Benjamin S. (1976): Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich. Weinheim/Basel. Combe, Arno & Kolbe, Fritz-Ulrich (2004): Lehrerprofessionalität: Wissen, Können, Handeln. In: Helsper, Werner & Böhme, Jeanette (Hg.) (2004): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden: S. 833-852. Deutscher Wissenschaftsrat (2001): Empfehlungen zur künftigen Struktur der Lehrerausbildung. Online unter: https://www.wissenschaftsrat.de/ download/archiv/5065-01.pdf?__blob=publicationFile&v=3 Fichten, Wolfgang (2005): Selbstbeobachtung von Forschung – Reflexionsund Erkenntnispotenziale der Oldenburger Teamforschung. In: Eckert, Ela & Fichten, Wolfgang (Hg.) (2005): Schulbegleitforschung. Erwartungen, Ergebnisse, Wirkungen. Münster: S. 105-125. Huber, Ludwig (2003): Forschendes Lernen an deutschen Hochschulen. Zum Stand der Diskussion. In: Obolenski, Alexandra & Meyer, Hilbert (Hg.) (2003): Forschendes Lernen. Theorie und Praxis einer professionellen LehrerInnenausbildung. Bad Heilbrunn: S. 15-36. Klieme, Eckhard & Rakoczy, Katrin (2008): Empirische Unterrichtsforschung und Fachdidaktik. Outcome-orientierte Messung und Prozessqualität des Unterrichts. In: Zeitschrift für Pädagogik 2/2008: S. 222237.

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Ministerium für Schule und Bildung (o.J.): FaQ Praxissemester. Online unter: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Lehrer/Lehrkraftwerden/Lehramtsstudium/Praxiselemente/Praxissemester/FAQLehramtsstudium-Praxissemester/index.html Ryan, Richard M. & Deci, Edward L. (2000): Intrinsic and extrinsic motivations: classic definitions and new directions. In: Contemporary Educational Psychology 1/2000: S. 54-67. Schön, Donald A. (1983): The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. New York.

Forschendes Lernen in den Schulpraxisstudien des Lehramtsstudiums in der Bachelor-Phase – Ein Ansatz zur Bildung von Theorie-Praxis-Bezügen Peter Floß & Carolin Kull Einleitung Im Bereich der Lehrer_innenbildung nimmt das Forschende Lernen, insbesondere bei der Ausgestaltung der universitär begleiteten schulischen Praxisphasen (Orientierungs- und Fachpraktika bzw. Praxissemester), mittlerweile einen zentralen Stellenwert ein, um bereits in Veranstaltungen der ersten Phase der Lehrer_innenbildung Grundlagen für einen wechselseitigen Theorie-Praxis-Bezug zu schaffen. Hintergrund für diese Entwicklung ist, dass die universitäre Lehrer_innenbildung in der jüngeren Vergangenheit die Schule, ihre Akteure und die damit verbundenen Handlungsfelder verstärkt in den Blick genommen und die Zielsetzungen der Schulpraxisstudien im Rahmen des Studiums entsprechend ausgestaltet hat. Das Feld „Schule“ ist aufgrund politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen einem stetigen Wandel unterworfen. Mit diesen Veränderungen ergeben sich zugleich Anforderungen an die Akteure, die in diesem Berufsfeld tätig sind: Lehrer_innen müssen auf der Basis der von ihnen im Verlauf ihrer Berufsbiographie erworbenen Kompetenzen immer wieder neue Bereiche in ihre Tätigkeit integrieren und ausgestalten (wie derzeit beispielsweise Inklusion und Digitalisierung). Erfolgreiches Agieren in dieser dynamischen Komplexität des schulischen Handlungsfelds erfordert von Lehrkräften eine fortlaufende Professionalisierung und Reflexion eigener Überzeugungen und Vorgehensweisen (vgl. Frey 2014). Die Studierenden sehen sich während der schulischen Praxisphasen mit dieser Vielschichtigkeit der Schule als System konfrontiert und haben darüber

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_40

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hinaus mit den Zielsetzungen der Schulpraxisstudien bereits selbst eine komplexe Aufgabe zu bearbeiten: Einerseits sollen sie eigene pädagogische Handlungsmöglichkeiten erproben, andererseits sollen sie die eigene sowie die vorgefundene (Schul-)Praxis erkunden, reflektieren und in theoretische Bezüge einordnen. Damit die Begegnung mit dieser doppelten Komplexität von den Studierenden als Lerngelegenheit zur Professionalisierung erfahren werden kann, bedarf es eines Ansatzes, der sowohl subjektive als auch theoretische Zugänge zu einem spezifischen Thema eröffnet. Der Ansatz des Forschenden Lernens im Kontext von Schulpraxisphasen ermöglicht es, die Bezugsgrößen Wissenschaft (theoretisches Reflexionswissen), Praxis (Handlungswissen) und Person (selbstreflexives Wissen) in einen wechselseitigen Bezug zueinander zu setzen und damit der schulischen „Praxis nicht nur aus der Perspektive des Handelns und Könnens, sondern auch aus einer methodisch abzusichernden Erkenntnishaltung zu begegnen“ (Schneider & Wildt 2009, S. 8). Forschendes Lernen in den Schulpraxisstudien der Bachelor-Phase an der Ruhr-Universität Bochum Entwicklung Die Umsetzung des Ansatzes des Forschenden Lernens in den Schulpraxisstudien der Bachelor-Phase an der Ruhr-Universität Bochum hat eine lange Tradition. Weil Schulpraktika keine isolierten, genuinen Praktika sind, sondern mit einer universitären Lehrveranstaltung verbunden und damit Bestandteil der Schulpraxisstudien sind, ist die Theorie-Praxis-Verknüpfung (schon immer) eine konstitutive Eigenschaft dieses Studienelements gewesen.

Forschendes Lernen in den Schulpraxisstudien des Lehramtsstudiums

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Im Zuge des für das Lehramtsstudium in ganz Nordrhein-Westfalen vorgeschriebenen und mit verpflichtenden Zielstellungen1 verbundenen Orientierungspraktikums (seit 2016 „Eignungs- und Orientierungspraktikum“) und auch mit Blick auf das einzuführende Praxissemester in der Master-Phase2 erfolgte eine neue verbindliche Modulkonzeption zu den Schulpraxisstudien. Konstitutiver Bestandteil sind hochschuldidaktische Festlegungen zur Umsetzung des Forschenden Lernens im Rahmen des Moduls. Seitdem ist von den Bachelor-Studierenden im Modulportfolio eine Aufgabe nach dem Prinzip des Forschenden Lernens zu bearbeiten. Der aktuelle Stand in Bezug auf das Forschende Lernen im Rahmen der fortlaufend weiterentwickelten Modulkonzeption wird im Folgenden dargestellt. Verständnis und Potenzial des Forschenden Lernens Trotz – oder wegen – der weiten Verbreitung des Forschenden Lernens mit unterschiedlichen Akzentsetzungen fehlt eine allgemein anerkannte Definition des Forschenden Lernens. In den Schulpraxisstudien der Bachelor-Phase der RUB wird Forschendes Lernen in Anlehnung an Fichten und Meyer (2014) als ein didaktisches Konzept definiert, in dem die Lernenden (1) relevante Fragestellungen im Praxisfeld Schule bearbeiten,

1

2

In der Lehramtszugangsverordnung von Nordrhein-Westfalen (2016) wird bestimmt, dass Studierende im Eignungs- und Orientierungspraktikum unter anderem dazu befähigt werden sollen, „die Komplexität des schulischen Handlungsfelds aus einer professions- und systemorientierten Perspektive zu erkunden und auf die Schule bezogene Praxis- und Lernfelder wahrzunehmen und zu reflektieren“ sowie „erste Beziehungen zwischen bildungswissenschaftlichen Theorieansätzen und konkreten pädagogischen Situationen herzustellen“ (LZV 2016, §7). Auch für das Praxissemester, dessen schulpraktischer Teil erstmals im WS 2014/15 in der Ausbildungsregion der RUB durchgeführt wurde, wurden in der o.g. Lehramtszugangsverordnung Standards festgelegt. So sollen Absolvent_innen des Praxissemesters über die Fähigkeit verfügen, „theoriegeleitete Erkundungen im Handlungsfeld Schule zu planen, durchzuführen und auszuwerten sowie aus Erfahrungen in der Praxis Fragestellungen an Theorien zu entwickeln“ (LZV 2016, §8) und diese Erkundungen in Studienprojekten in ihren Fächern und den Bildungswissenschaften dokumentieren.

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Peter Floß & Carolin Kull (2) in wesentlichen Phasen des „Forschungsprozesses“ (von der Fragestellung über die Datenerhebung bis hin zur Auswertung und Interpretation der Daten) selbstständig arbeiten, (3) in universitären Veranstaltungen von Lehrenden und Lernenden Theoriebezüge zum jeweiligen Thema hergestellt werden, vorhandene empirische Erkenntnisse und im Verlauf des Forschenden Lernens erhobene Daten berücksichtigt werden und (4) die Fähigkeit ausbilden, eine reflexive Distanz zum Praxisfeld Schule (Überprüfung von subjektiven Theorien bzw. persönlichen Überzeugungen) herzustellen (vgl. Fichten & Meyer 2014, S. 21).

Obgleich dieses Verständnis eine systematische, methodische Datenerhebung und -auswertung einschließt, wird in den Schulpraxisstudien ein weniger strenges Forschungsverständnis verfolgt als es Fichten und Meyer betonen. Vielmehr wird hervorgehoben, dass eine Fragestellung geplant und anhand wissenschaftlicher Methoden (z.B. Beobachtungs- oder Interviewverfahren) untersucht werden soll. Die Anforderungen genuiner Forschung im Bereich der Wissenschaft sind allerdings bezüglich Systematik, Kontrollier- und Überprüfbarkeit wesentlich höher als beim Forschenden Lernen (vgl. dazu Lötscher 2016, S. 192). Mit einem solchen Verständnis wird deutlich, dass die im Prozess des Forschenden Lernens erhobenen Daten durchaus (Forschungs-) Ergebnisse generieren können, der Hauptaspekt des Ansatzes aber auf den Lernprozess und die Reflexion der Studierenden abzielt. Das Potenzial des Forschenden Lernens in den Schulpraxisstudien kann auf zwei Ebenen näher bestimmt werden. Erstens trägt Forschendes Lernen mit der Theorie-Praxis-Relation dazu bei, dass eine weitergehende, problemorientierte Wissensverarbeitung stattfinden kann (und vermeidet zugleich den Aufbau „trägen“ Wissens, das in der Praxis nicht angewendet werden kann). Zweitens erfordert Forschendes Lernen die Ausbildung einer fragenden, kritisch-reflexiven Grundhaltung und trägt somit dazu bei, dass unkritisches Imitationslernen vermieden werden kann und dass sich subjektive Theorien zum Praxisfeld Schule und den Akteuren unreflektiert verfestigen können. Übergeordnetes Ziel des Forschenden Lernens ist die Entwicklung und der

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Aufbau einer forschenden (Grund-)Haltung bei den angehenden Lehrer_innen. Diese angestrebte reflexive Haltung in Bezug auf die Praxis und das Berufsfeld qualifiziert das Forschende Lernen als Teil des Professionalisierungsprozesses von Lehrkräften. Aufgrund der Komplexität der Anforderungen im Lehrerberuf ist pädagogisch-professionelles Handeln, das die Fähigkeit einschließt, sein Handeln begründen zu können, unabdingbar. An wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, sollen Lehr- und Lernprozesse geplant und durchgeführt sowie Klassenführung gestaltet werden. Lehrpersonen sollen im System Schule mit allen Beteiligten entwicklungsorientiert zusammenarbeiten und sich an Zukunftsaufgaben von Bildung und Erziehung beteiligen. Handlungsfelder wie Diagnostik und Innovation können jedoch nur dann bearbeitet, die dort anzutreffenden Aufgaben nur dann angegangen und umgesetzt werden, wenn Lehrpersonen eine reflexive Distanz und eine „quasi-experimentelle Einstellung zu ihrer Unterrichts-“ und Schulpraxis einzunehmen bereit sind, was strukturelle Ähnlichkeiten zu einer Forschungstätigkeit aufweist (Weinert & Helmke 1996, S. 232). In diesem Sinn ist insbesondere gezieltes Beobachten eine bedeutsame Tätigkeit von Lehrpersonen in schulischer Praxis. Dies beinhaltet beispielsweise – zur Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts – das Gewinnen von Erkenntnissen (Daten) hinsichtlich des Entwicklungs- und Lernstandes, der Lernbereitschaft sowie des Verhaltens von Schüler_innen. Ein solch gezieltes Beobachten im Unterricht und ein anschließendes Analysieren und Interpretieren der „Daten“ wird auch als pädagogische Diagnostik bezeichnet (Ingenkamp & Lissmann 2008, S. 115; vgl. zum Überblick Meyer & Jansen 2016). Forschendes Lernen ist entsprechend kein praxisfernes Konzept, sondern bedeutet vielmehr professionelles Lernen: Ein Lernen, das nicht nur Beobachtung und Beobachtetes in Bezug zueinander setzt, sondern den Lernvorgang zum Beobachter selbst in Beziehung bringt. Auf diese Weise wird „systematisch Wissen über die Praxis generiert und zu eigenen Praxisdeutungen in Beziehung gesetzt […], um daraus Maßstäbe für das eigene Handeln zu gewinnen“ (Fichten & Meyer 2014, S. 26; siehe auch Wildt 2003).

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Hochschuldidaktische Umsetzung Im Rahmen des Moduls Schulpraxisstudien wird der Ansatz des Forschenden Lernens als Lerngelegenheit zur Professionalisierung eingeführt. Die Vorlesung Schule und Lehrerberuf aus schulpädagogischer Perspektive und das vorbereitende und begleitende Seminar zur Praxisphase Lehr-Lernprozesse aus schulpädagogischer Perspektive nehmen wesentliche Handlungsfelder des Lehrberufs in den Blick3 und thematisieren die entsprechenden relevanten bildungswissenschaftlichen Inhalte.4 Um den Aufbau einer forschenden Grundhaltung zu fördern und Reflexion hinsichtlich der berufsspezifischen Aufgaben und Kompetenzen zu ermöglichen, wird in den Schulpraxisstudien der individuelle Professionalisierungsprozess der Studierenden in den Fokus gerückt. Demzufolge wird das Konzept des Forschenden Lernens unter dem Leitaspekt des Lernens verfolgt. Forschend erfolgt das Lernen auf der Grundlage erster Zugänge zu Methoden qualitativer und quantitativer sozial- und bildungswissenschaftlicher Forschung. Theoretische Vorüberlegungen aus der Vorlesung und im Seminar Lehr-Lernprozesse aus schulpädagogischer Perspektive sowie Erfahrungen aus der erlebten Schulpraxis bilden den Ausgangspunkt zur Entwicklung eigener, subjektiv als relevant eingestufter Fragestellungen. Bei der Entwicklung der Fragestellung bzw. Themenfindung agieren die Studierenden selbstständig, da der Ausgangspunkt das eigene Interesse sein soll(te). Entsprechend werden die Studierenden anhand von Leitfragen wie „Was fällt mir in Schule/Unterricht auf?“, „Was löst Fragen aus?“, „Was möchte ich herausfinden?“, „Was verstehe ich unter einem bestimmten Be-

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Vgl. hierzu die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2014). In der Vorlesung werden u.a. die Themenschwerpunkte Schule als Institution, Aufgaben und Herausforderungen in Schule und Unterricht sowie Grundlagen des Forschenden Lernens behandelt. Im Seminar werden u.a. die Bereiche Qualitätsmerkmale von Unterricht, Grundlagen der Unterrichtsplanung (Didaktik, Methodik, Medien), Klassenmanagement, Umgang mit Heterogenität, Inklusion und praktische Umsetzung des Forschenden Lernens thematisiert.

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griff/was meine ich mit einer bestimmten Idee?“ etc. angeregt, ihre Überlegungen zu strukturieren und bis zu einer konkreten Fragestellung einzugrenzen, wobei sie während der Praxisphase in universitären Begleitsitzungen bei Bedarf beratend unterstützt werden. Dementsprechend sind die Fragestellungen und Projekte sehr vielfältig und breit gefächert. Fragestellungen reichen von sogenannten Existenzfragen („Gibt es schüler_innenaktivierende Unterrichtseinstiege im xy-Unterricht der Klasse xy?“)5 über Fragen, die eine Situationsbeschreibung vornehmen („Wie gestaltet sich der Einsatz kooperativer Lernmethoden im xy-Unterricht der Klasse xy?“) bis zu umfangreicheren, komplexeren Fragestellungen („Fördert der Einsatz aktivierender Unterrichtseinstiege im Fach xy der Klasse xy die Mitarbeit der Schüler_innen?“). Die Darstellung des Studienprojekts im Modulportfolio erfolgt nach einem im Seminar festgelegten Schema: •



• •

5

Hinführung: Eigene Fragestellung vorstellen, formulieren und begründen, weshalb die Bearbeitung dieser Frage als relevant eingestuft wird und welche Erkenntnisse die Bearbeitung dieser Fragestellung liefern soll. Theoretische Fundierung: Theoretische Grundlagen zur Fragestellung vorstellen, bereits bestehende (empirische) Erkenntnisse darstellen und diskutieren. Es soll aufgezeigt werden, in welchem Bereich die gewählte Fragestellung verortet wird. Methodisches Vorgehen: Erläutern und begründen, welche Methode der „Datenerhebung“ und „Datenauswertung“ angewandt wird. Forschend Lernen, Ergebnisse entwickeln: Beschreibung und Analyse der in der Praxis „erhobenen Daten“. Es wird ausgeführt, welche Schlussfolgerungen nach Auswertung der Daten hinsichtlich der gewählten Fragestellung gezogen werden können, und Stellung dazu

Die Studierenden sind aufgefordert, ihre Fragestellung so konkret wie möglich zu formulieren, d.h. mit Bezug zu einer bestimmten Lerngruppe sowie zu einem gewählten Unterrichtsfach.

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genommen, inwiefern das Ergebnis die Sicht sowohl auf den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch auf das Praxisfeld „Schule“ (bezogen auf die untersuchte Fragestellung) verändert. Reflexion: Einordnung der Erkenntnisse mit Blick auf die eigene berufsbiographische Entwicklung und das Handeln in pädagogischer Praxis.

Damit die Studierenden das Format des Forschenden Lernens nicht nur als ein von der Universität auferlegtes Studienelement wahrnehmen, das womöglich als praxisferne Verpflichtung eher negativ eingeschätzt wird, ist es wichtig, dass im Rahmen der Lehrveranstaltungen der mögliche Mehrwert dieses Zugangs herausgearbeitet wird. Dieser wird in den universitären Sitzungen dadurch verdeutlicht, dass good-practice-Beispiele aus vorangegangenen Studierendenkohorten behandelt werden. Gelegentlich haben auch schon Studierende, die ein Projekt zum Forschenden Lernen erfolgreich abgeschlossen haben, die Lehrveranstaltungen besucht, um ihr Projekt vorzustellen und von ihren Erfahrungen zu berichten. Der Ablauf und die Resonanz dieser „Peerto-Peer-Vorstellungen“ lassen die Einschätzung zu, dass diese Einheiten auf die Studierenden eine auf den Ansatz des Forschenden Lernens bezogene motivations- und erkenntnisfördernde Wirkung haben. Ausblick Die Evaluationen der Schulpraxisstudien zeigen, dass die Studierenden den Ansatz des Forschenden Lernens mehrheitlich als kompetenzsteigernd beurteilen, zugleich aber auch die damit verbundene Arbeitsbelastung als hoch einschätzen. Dementsprechend wird seitens der Lehrenden darauf geachtet, dass sich die durch die Studierenden gewählte Fragestellung im Rahmen der gegebenen Bedingungen (z.B. Workload oder Möglichkeiten der Schule) bearbeiten lässt. Auf diese im Bachelor grundgelegten Erfahrungen und Kompetenzen in Bezug auf das Forschende Lernen kann auch während des Praxissemesters im Master of Education zurückgegriffen werden.

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Literatur Fichten, Wolfgang & Meyer, Hilbert (2014): Skizze einer Theorie forschenden Lernens in der Lehrer_innenbildung. In: Feyerer, Ewald, Hirschenhauser, Katharina & Soukup-Altrichter, Katharina (Hg.) (2014): Last oder Lust? Forschung und Lehrer_innenbildung. Münster/New York: S. 11-42. Frey, Andreas (2014): Kompetenzmodelle und Standards in der Lehrerbildung und im Lehrerberuf. In: Terhart, Ewald, Bennewitz, Hedda & Rothland, Martin (Hg.) (2014): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf . 2. Auflage. Münster/New York: S. 712-744. Ingenkamp, Karl-Heinz & Lissmann, Urban (2008): Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik. 6. Auflage. Weinheim/Basel. Lehramtszugangsverordnung Nordrhein-Westfalen (2016): Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW. Ausgabe 2016 Nr. 12). Online unter: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6&vd_id= 15620&vd_back=N211&sg=1&menu=1 Lötscher, Hanni (2016): Beobachtung. In: Aeppli, Jürg, Gasser, Luciano, Gutzwiller, Eveline & Tettenborn, Anette (Hg.) (2016): Empirisches wissenschaftliches Arbeiten. Ein Studienbuch für die Bildungswissenschaften. Bad Heilbrunn: S. 192-203. Meyer, Markus & Jansen, Christian (2016): Schulische Diagnostik. Bad Heilbrunn. Schneider, Ralf & Wildt, Johannes (2009): Forschendes Lernen in Praxisstudien – Wechsel eines Leitmotivs. In: Roters, Bianca, Schneider, Ralf, Koch-Priewe, Barbara, Thiele, Jörg & Wildt, Johannes (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Lehramtsstudium. Hochschuldidaktik, Professionalisierung, Kompetenzentwicklung. Bad Heilbrunn: S. 8-36. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2014): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i.d.F. vom 16.05.2019). Online unter: https://www.kmk.org/fileadmin/

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veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-StandardsLehrerbildung-Bildungswissenschaften.pdf Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2019): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i.d.F. vom 16.05.2019). Online unter: https://www.kmk.org/fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-Lehrerbildung-Bildungswissenschaften.pdf Weinert, Franz E. & Andreas Helmke (1996): Der gute Lehrer: Person, Funktion oder Fiktion? In: Zeitschrift für Pädagogik, 34/1996, Beiheft, S. 223-233. Wildt, Johannes (2003): Reflexives Lernen in der Lehrerbildung – ein Mehrebenenmodell in hochschuldidaktischer Perspektive. In: Obolenski, Alexandra & Meyer, Hilbert (Hg.) (2003): Forschendes Lernen. Theorie und Praxis einer professionellen LehrerInnenbildung. Bad Heilbrunn: S. 71-84.

Forschendes Lernen in interdisziplinären Formaten

Einleitende Bemerkungen Birgit Frey Ein mit zehn Menschen besetzter Bus hält und elf steigen aus. Drei Wissenschaftler erklären das Phänomen. Der Biologe: „Die müssen sich unterwegs vermehrt haben.“ Der Physiker: „Was soll’s. Zehn Prozent Messtoleranz müssen drin sein.“ Und der Mathematiker? „Wenn jetzt einer einsteigt, ist der Bus leer.“

Wir nähern uns Alltags- und Wissenschaftsphänomenen immer noch zu selbstverständlich innerhalb gewohnter disziplinärer Grenzen. Aber sind die Herausforderungen unserer Zeit wie etwa der Klimawandel oder die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche wirklich noch ohne ein „integrationsorientiertes Zusammenwirken der Disziplinen“ (Di Giulio & Delfia 2008, S. 37) zu verstehen, zu analysieren, zu bearbeiten oder gar zu lösen? In der Wirtschaft fördert die Arbeit in interdisziplinären Teams die Leistungsfähigkeit und Innovationskraft eines Unternehmens, und selbst im Alltag verstehen wir es, die Vielfalt der Fähigkeiten und Kompetenzen des Einzelnen lösungsorientiert einzusetzen. Auch in Forschung und Lehre werden interdisziplinäre Perspektiven (wieder) konsequent gefordert und gefördert.1 Die hier versammelten good practices zeigen die Bandbreite der Möglichkeiten, Interdisziplinarität in der forschenden Lehre systematisch-methodisch zu berücksichtigen. Di Giulio und Defila, beide ausgewiesene Expert_innen in der Analyse und Evaluation interdisziplinärer Forschungs- und Lehrprojekte sowie Studiengangreformen, definieren drei grundlegende Bedingungen für ein gelingendes Miteinander der Disziplinen. Dazu gehört, „dass (a) die Beteiligten eine gemeinsame Sicht auf das behandelte Problem und das angestrebte Vorhaben entwickeln (Konsens), dass (b) ein Ergebnis hervorgebracht wird, zu dem alle 1

Dank des Qualitätspakt Lehre sind in den letzten acht Jahren eine Reihe von Projekten an deutschen Universitäten und Hochschulen entstanden, die sich der Erprobung von interdisziplinären Lehrprojekten und deren dauerhafter Implementierung in Studiengang übergreifende Strukturen anstreben.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_41

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Beteiligten beitragen und das mehr ist als das bloße Nebeneinanderstellen individueller (disziplinärer) Ergebnisse (Integration), sowie dass (c) die Ergebnisse von den verschiedenen wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Zielpublika verstanden, rezipiert und genutzt werden können (Diffusion)“ (ebd., S. 38). Teilhabe wurde bereits mehrfach als ein, wenn nicht das didaktische Prinzip im forschenden Lernen benannt (vgl. u.a. die Beiträge von Straub, Ruppel, Plontke & Frey sowie Salden oder Reinmann, alle in diesem Band). Dies gilt auch für interdisziplinäre Formate, wobei sich hier Teilhabe bei der didaktischen Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse noch sehr viel facettenreicher und herausfordernder darstellt als in disziplinär forschenden Formaten. Die ausgewählten good practices zeigen, dass interdisziplinäre Formate mehr von integrativ-iterativen Lehr- und Lernprozessen abhängen, die nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrenden deutlich mehr fordern. Wege entstehen im Gehen Ergebnisoffene Lehr- und Lernprozesse schaffen Unsicherheiten bei allen Beteiligten. Studierende und Lehrende sind stets herausgefordert, andere Sichtweisen einzunehmen, die eigene Disziplin kritisch zu hinterfragen, eigene Standpunkte zu entwickeln und auch revidieren zu können. Beispielhaft hierfür ist der Einsatz von künstlerisch-ästhetischen Verfahren, die im Beitrag Fragen stellen mit allen Sinnen – künstlerische Verfahren Forschenden Lernens vorgestellt und deren Einsatzmöglichkeiten anhand von drei ausgewählten Lehrprojekten diskutiert werden. Über die Dekonstruktion, die Reflexion bis zum Transfer von Wissen schulen und stärken diese Methoden insbesondere das affektive Lernen der Studierenden. Das problembasierte Lernen (PBL) ist eine weitere Methode in interdisziplinären Projektseminaren und an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) häufig in den technischen Disziplinen anzutreffen. Im Modul Not in my Backyard! – Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten lernen

Einleitende Bemerkungen

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Studierende anhand realer Fallbeispiele, wie im öffentlichen Dialog die oftmals konfliktreiche Beteiligung von Bürger_innen mit den Interessen von Politik und Wirtschaft eingefangen und in gesellschaftlich tragfähige Lösungen bei der Planung und dem Bau beispielsweise von Windkraftanlagen oder großen Verkehrsprojekten übersetzt werden können. In dem Modul Interdisziplinäre Produktentwicklung im Team trainieren die Studierenden ihre Fähig- und Fertigkeiten bei der Entwicklung, der Herstellung, der Markteinführung und Vermarktung von neuartigen Produktideen. Ein besonderer Fokus im Lernprozess liegt unter anderem auf dem Umgang mit und der Bewältigung von Unsicherheiten und Frustrationen im Rahmen des eigenständigen Projektmanagements in den Gruppen. Studierende auf die Komplexität eigenständiger Forschung und Projektarbeit vorzubereiten und dabei zu begleiten, kann auch mit dem Einsatz von simulationsgestützten Planspielen gelingen. Das Transdisciplinary Learning Lab – Ein simulationsbasiertes und transferorientiertes Modul schafft ein virtuelles Lernlabor, in dem die Studierenden neuartige Geschäftsmodelle – sogenannte Product Service Systems (PSS) – entwickeln und im Wettbewerb untereinander über vier Geschäftsjahre lang den Wertschöpfungsprozess unternehmerisch erfolgreich managen sollen. Das simulationsgestützte Verfahren schafft eine experimentelle Lernsituation, die den Studierenden die Ergebnisse ihrer unternehmerischen Entscheidungen in Echtzeit spiegelt und damit deren Problemlösungs- und Handlungskompetenz intensiv trainiert. Die Auseinandersetzung mit Wissenskulturen und Normen anderer Fächer führt bei den Studierenden häufig zu Veränderungen ihrer eigenen Einstellung oder der Werthaltung: nicht nur bezogen auf das persönliche Handeln, sondern auch gegenüber dem eigenen Fach. Besonders intensiv ist diese Lernerfahrung in Lehrforschungsprojekten mit einem interdisziplinären Zuschnitt angelegt. In dem Lehrforschungsprojekt Das ist doch krank, oder? aus der Medizinethik erforschen Studierende der Medizin, Philosophie und Sozialwissenschaft Gesundheit und Krankheit als normativ-philosophische und empirisch-sozialwissenschaftliche Wissenschaftskonstrukte. Ziel ist die Aneignung methodischer Reflexionskompetenz in einem multi- und interdisziplinären

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Forschungsfeld, das zwischen disziplinären Wissenskulturen und methodischen Ansprüchen an das forschende Lernen oszilliert. Auch das Lehrforschungsprojekt Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Menschen in prekären Lebenslagen beschäftigt sich mit Gesundheit und Krankheit in einem interdisziplinären Setting von Medizin und Sozialwissenschaft. Studierende werden befähigt, Entwicklungen und daraus resultierende medizinische und gesellschaftliche Problemlagen zu erkennen und anhand konkreter Themenstellungen zu bearbeiten. Das Besondere an dem Lehrformat ist die interdisziplinäre Tandem-Lernstruktur. In einem Peer-Learning-Modus werden die forschenden Bachelor-Kleingruppen von erfahrenen Mastertutor_innen interprofessionell angeleitet, betreut und geschult. Die hier zusammengetragenen good practice-Beiträge beschreiben auf eine hoffentlich inspirierende Weise, wie durch eine interdisziplinäre Ausrichtung der Lehre neue, spannende und oft auch unerwartete Lehr- und Lernräume entstehen und wie interdisziplinäre bzw. integrationsorientierte Ziele, Methoden und Gestaltungsoptionen das forschende Lernen bereichern. Festzuhalten bleibt, das interdisziplinäre Forschung und Lehre (1) immer zu einer (Neu-) Positionierung des eigenen Wissenschafts- und Fachverständnis führt bzw. führen kann, (2) mit einer Neu-Situierung der Disziplinen im jeweiligen Anwendungskontext einhergeht und daher (3) mehr als eine reflexive Schleife im Lehr- und Lernprozess mit sich bringt. Den Beginn machen die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum, der Archetyp eines interdisziplinär-fachübergreifenden Formats und entwickelt, um Lehrenden und Studierenden über alle disziplinären Grenzen hinweg die Auseinandersetzung mit den großen Herausforderungen unserer Zeit zu ermöglichen.

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Literatur Di Giulio, Antonietta & Defila, Rico (2008): Interdisziplinarität in der Lehre – Qualitätsmerkmale und Kompetenzvermittlung. In: Darbellay, Frédéric & Paulsen, Theres (Hg.) (2008): Le défi de l’inter- et transdisciplinarité. Concepts, méthodes et pratiques innovantes dans l’enseignement et la recherche. Herausforderung Inter- und Transdisziplinarität. Konzepte, Methoden und innovative Umsetzung in Lehre und Forschung. Lausanne: S. 37-61.

Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum Birgit Frey & Flora Mehrabi Die interdisziplinären Summer Schools gehören zum Qualitätspakt LehreProjekt inSTUDIES und inSTUDIESplus. Sie werden seit dem Sommersemester 2012 regelmäßig angeboten. Bisher wurden 46 Summer Schools mit rund 900 teilnehmenden Studierenden durchgeführt. Das fachübergreifend konzeptionierte Lehr-Lern-Format steht für eine innovative Hochschullehre und verbindet auf besondere Weise ein konsequent interdisziplinäres LehrLern-Setting mit Elementen des forschenden Lernens. Das Format, die Zielsetzung und die Erfolgsfaktoren Die interdisziplinären Summer Schools finden als ein- bis zweiwöchige Blockveranstaltungen in der vorlesungsfreien Zeit statt. Damit entsteht ein Zeitfenster außerhalb des regulären Semesterbetriebs, welches einerseits Aufmerksamkeit für das neue Lehrformat schafft und andererseits sicherstellt, dass Studierende möglichst vieler Studiengänge unabhängig von ihren semesterbegleitenden Stundenplänen an den Summer Schools teilnehmen können. Die Themen der Summer Schools sind an aktuellen gesellschaftlichen Diskursen orientiert und multidisziplinär konzipiert. Sie eröffnen den Studierenden faszinierende Einblicke in und Zugänge zu fachübergreifenden und innovativen Forschungsfeldern wie zum Beispiel der Migrations- oder Weltraumforschung, der Human- und Lebensforschung, der Erforschung transnationaler Beziehungen, der Nachhaltigkeits- und Klimaforschung, der Digitalisierung oder dem in Deutschland noch jungen Feld der Food Studies.1

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Eine aktuelle Übersicht über die Themenvielfalt der Summer Schools bietet der Summer School Blog: https://summerschool.blogs.ruhr-uni-bochum.de.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Straub et al. (Hrsg.), Forschendes Lernen an Universitäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30828-5_42

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Das gegebene Zeitfenster und die multidisziplinäre inhaltliche Ausrichtung bilden die formalen Anker des Formats. So sollen Lernräume außerhalb der klassischen Semesterstruktur entstehen, in denen „das Interdisziplinäre“ mit einer forschenden Haltung in didaktisch durchdachten Lehr- und Lernprozessen gestaltet werden kann. Das Ziel ist, Studierenden eine wissenschaftlich reflektierte Auseinandersetzung mit Fragestellungen zu ermöglichen, die über die eigenen Fachgrenzen hinausgehen, und damit den überfachlichen Kompetenzerwerb zu stärken und eine individuelle Profilbildung im Studium zu ermöglichen.2 Zielsetzung ist auch, das Format Summer School flächendeckend in möglichst vielen Studiengängen curricular zu verankern, was bei einer Universität mit 108 Studiengängen, davon 85 Masterund 23 Bachelorstudiengänge, durchaus einer Herkulesaufgabe gleicht. Folgende Erfolgsfaktoren haben sich auf diesem Weg als nützlich erwiesen: Das Thema Die Erfahrung mit 46 Summer Schools zeigt: Ein knapper, treffender Titel und ein aktuelles Thema, das mit kontroversen Diskussionen oder starken Entwicklungsprozessen in gegenwärtigen Gesellschaften assoziiert ist, sind Gold wert, um Studierende zu gewinnen. Komplizierte, lange Titel, ein zu stark eingegrenzter Themenbereich oder eine enge Beschränkung der Zielgruppen haben sich hingegen als kontraproduktiv erwiesen. Gerade aktuell bewegende Themen wie Nachhaltigkeit oder Digitalisierung haben für die Studierenden eine starke Anziehungskraft, da sie ihnen die Möglichkeit eröffnen, die unterschiedlichen (disziplinären) Blickwinkel auf ein hochrelevantes Thema kennenzulernen und in kurzer Zeit ihren eigenen Horizont sowie ihre Kenntnisse zu einem komplexen Wissensgebiet disziplinübergreifend zu erweitern.

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Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Schlüssel- bzw. interdisziplinären Kompetenzen (eine fundierte Einführung und erste Systematisierung bietet Lerch 2018 sowie Ufert 2015). Zu den Zielsetzungen des Qualitätspakt Lehre-Projektes inSTUDIES siehe Mehrabi, in diesem Band.

Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum 459 Das Vorbild „Sprechen Sie interdisziplinär?“ (Lerch 2014). In ihrer Vorbildfunktion müssen sich auch die Lehrenden aus ihrem fachlichen Kontext lösen und den Blick anderer Disziplinen einnehmen können. Eine offene Haltung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, um Studierende unterschiedlicher Fachbereiche in ihren jeweiligen Stärken anzuerkennen und eine konstruktive Atmosphäre für den Austausch auf Augenhöhe zu schaffen. Es erfordert ein neues Lehrverständnis, sich gemeinsam mit Studierenden und Lehrenden anderer Fächer im Team-Teaching den Themen und Fragestellungen aus verschiedenen disziplinären Perspektiven zu nähern. Daher war es wichtig, die Lehrenden mit hochschuldidaktischen Angeboten dabei zu unterstützen, eine interdisziplinäre Veranstaltung zu konzipieren, zu planen und umzusetzen. Entstanden ist unter anderem eine als Workshop-Reihe angelegte hochschuldidaktische Fortbildung sowie eine Text- und Materialsammlung zum Thema „interdisziplinäre Lehre“, die über das Downloadcenter Lehre laden online zugänglich ist und systematisch ausgebaut werden soll.3 Das Curriculum Die Summer Schools werden in den Wahl- und Ergänzungsbereichen der Bachelor- und Masterstudiengänge angeboten. Dort finden sich am ehesten die Module, die eine überfachliche Kompetenzorientierung erlauben. Um die Summer Schools an die jeweiligen, zum Teil stark differierenden Vorgaben zu Workload und Kreditierung anzupassen, wird die Teilnahme an einer Summer School in Abhängigkeit vom Leistungsumfang der jeweils angesprochenen Fächer flexibel kreditiert. Das bedeutet: Studierende können je nach fachlicher Anforderung unterschiedlich viele CPs erwerben, müssen dafür aber auch Leistungen erbringen, die den dafür erforderlichen Workload abbilden. 3

Lehre laden ist ein Online-Angebot des Zentrums für Wissenschaftsdidaktik der RUB und gibt Lehrenden Einblick in verschiedene Themenbereiche der Hochschuldidaktik und vielfältige Anregungen für die eigene Lehre durch das Bereitstellen von Materialien: https://dbs-lin.ruhr-uni-bochum.de/lehreladen.

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Die Summer School Social Movements beispielsweise ist im Ein-Fach-Master Geschichtswissenschaften mit 8 CPs modularisiert und kann für die Sozialwissenschaft geöffnet werden. Das hierfür passende fakultätsfremde Ergänzungsmodul der Sozialwissenschaft sieht jedoch einen Workload von 3 bzw. 6 CPs vor. Also werden zwei Leistungspakete definiert, die die Anforderungen an die Modulprüfung erfüllen: für den Erwerb von 3 CPs eine Präsentationsleistung, für den Erwerb von 6 CPs zusätzlich eine fachspezifische schriftliche Ausarbeitung. Die Erfahrung zeigt, dass ein flexibel definiertes Leistungspaket von 3, 5 und 6 CPs pro Angebot in die meisten Bachelor- und Masterstudiengänge curricular eingebunden werden kann. Was außerdem zu beachten bleibt und oft übersehen wird: Damit die Modularisierung funktioniert, muss die Themenstellung für die teilnehmenden Studierenden immer auch inhaltlich anschlussfähig an ihr Fachstudium sein – nicht nur wegen der CPs, sondern auch, um ihnen eine individuelle Profilbildung ermöglichen zu können. Der Wettbewerb Über eine universitätsweite wettbewerbliche Ausschreibung von Fördermitteln4 wird sichergestellt, dass jedes Jahr ein attraktives und qualitativ hochwertiges Angebot an Summer Schools auf die Beine gestellt werden kann. Das Vergabeverfahren ist mehrstufig organisiert5 und folgt folgenden Förderkriterien: (1) Mehrwert für Studierende, (2) Interdisziplinarität des methodischdidaktischen Konzepts, (3) Angemessenheit der kalkulierten Kosten, (4) Verstetigungsperspektiven.

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Für die Vergabe von Summer Schools steht ein jährliches Budget von rund 65.000 Euro zur Verfügung. Damit können im Schnitt fünf bis acht Angebote im Jahr realisiert werden. Die zum jährlichen Stichtag (15. April) eingereichten Anträge werden zunächst von dem/der Maßnahmefeld- bzw. Teilprojektleiter_in, den Mitgliedern des Student Advisory Board sowie dem inSTUDIES-Projektmanagement begutachtet und anschließend in den projektverantwortlichen Gremien beraten. Die Studiendekan_innenrunde beschließt die Vergabe der Summer Schools und das Rektorat bewilligt entsprechend die Vergabe der Mittel.

Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum 461 Die wettbewerbliche Ausschreibung von Fördermitteln für forschende und fachübergreifende Lehrinnovation hat eine langjährige Tradition an der Ruhr-Universität Bochum (vgl. Berbuir, Hansen, Koch-Thiele & Ricken 2013; siehe auch Ricken, in diesem Band) und liefert wichtige strategische Impulse für die Hochschul- und Curriculumentwicklung in den Fächern. In der Projektlinie Summer School werden jährlich zwischen 10 und 15 Anträge gestellt und bearbeitet. Die professionelle Koordination Die Entwicklung und Erprobung eines neuen, fach- und strukturübergreifenden Lehrformats ist mit einem hohen administrativen und organisatorischen Aufwand verbunden. Es bedarf des Engagements vieler, wie zum Beispiel der Lehrenden, Studierenden, der Studiendekan_innen und Modulbeauftragen in den Fächern, der Mitarbeiter_innen aus der Hochschuldidaktik, den Kolleg_innen aus der Hochschulkommunikation und – nicht zu vergessen – der fakultätsübergreifenden Gremien und der Hochschulleitung. Und es bedarf einer Person, die alles im Blick behält und die erforderlichen Arbeits- und Abstimmungsprozesse koordiniert: von der Beratung der Lehrenden bei der Ideenentwicklung und Antragstellung, der Koordinierung der Begutachtungsund Genehmigungsverfahren, der Modularisierung der Angebote bis hin zur Beratung und organisatorischen Unterstützung der Lehrenden bei der Umsetzung und Evaluation. Gerade die wettbewerbliche Ausschreibung der Fördermittel und eine strukturierte Koordination aller Prozesse sind sogenannte kritische Erfolgsfaktoren, wenn interdisziplinäre Lehr-Lern-Formate in größerer Zahl campusweit etabliert werden sollen.

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Das Interdisziplinäre und die forschenden Elemente Beispiele aus der Lehrpraxis Die bisherige Beschreibung der Summer School als ein in sich stimmiges Lehr-Lern-Format könnte die Vermutung nahelegen, dass die einzelnen Angebote einem so grundlegenden Konzept folgen, dass eine Summer School nahezu der anderen gleicht. Einfach das Thema wechseln und weiter geht’s? Dem ist nicht so. Die Summer Schools sind vor allem eines: vielfältig. So setzt eine Summer School auf den wissenschaftlichen Diskurs, das forschende Bearbeiten und den interdisziplinären Erkenntnisgewinn, während die nächste den Fokus auf ein eher anwendungsorientiertes Design richtet, zum Beispiel durch die Einbeziehung von Praktiker_innen, und den Wissenstransfer als Lernziel priorisiert. Es gibt aber auch Summer Schools, die ein sehr exploratives Setting wagen, in dem sie sich mit drängenden Zukunftsfragen beschäftigen, in innovativen Lernräumen, in denen die Vermittlung von kreativen, zum Beispiel künstlerisch-ästhetischen oder designerischen Methoden im Vordergrund steht. Die Summer Schools sind aber auch voraussetzungsvoll. Der kompakte Block, in dem Lehrende verschiedener Disziplinen mit Studierenden unterschiedlicher Fächer zusammenkommen, ist ein dynamischer Lernraum für alle Beteiligten, der vieles abverlangt: hohe Motivation, flexibles Anpassen an (Gruppen-)Dynamiken, eine gute (soziale) Wahrnehmung und viel Kommunikation.6 Dies beschreibt einen Lehr- und Lernprozess, der viel mit dem forschenden Lernen gemein hat. Betrachten wir uns ein paar Beispiele.

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Christof Arn (2016) plädiert in solchen Lehr-Lern-Settings für eine agile Didaktik in der Hochschullehre. Er liefert die bildungs- und lerntheoretischen Bezüge, Beispiele aus der Lehrpraxis und konkrete Anleitungen, wie man als Lehrende die Aufmerksamkeit für situative Herausforderungen trainiert und darauf richtet, was mit den Studierenden in der konkreten Situation passiert und wie sich die Lehre dynamisch daran anpassen lässt.

Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum 463 Die transferorientierten Formate In der Summer School Humanitarian Action lernen die Studierenden nicht nur die rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen der Humanitären Hilfe kennen und zu verstehen. Im Rahmen eines Planspiels lernen sie auch, was es heißt, im Falle einer humanitären Krise handeln zu müssen. Dafür übernehmen sie in kleinen Gruppen für zwei Tage die Rolle eines relevanten Akteurs, zum Beispiel einer NGO, der UNO, des Technischen Hilfswerks, lokaler Konfliktparteien, auch die Rolle eines Warlords oder der lokalen Regierung, und sie müssen in einem intensiven Mit- und Gegeneinander in wechselnden Koalitionen die Krise bewältigen und über alle Parteien hinweg zu einer Lösung kommen (ausführlich beschrieben bei Bohlen, Dijkzeul & Mehrabi 2017). Die Summer School Digitalisierung und Entrepreneurship präsentiert den Studierenden eine reale unternehmerische Herausforderung, für die in nur fünf Tagen eine Lösung gefunden werden muss. Hierbei kann es sich um Nutzungskonzepte für Einrichtungen handeln, um die Verbesserung von Produkten oder um die Erschließung neuer Zielgruppen für ein Produkt. Die Studierenden erleben einen intensiven Crashkurs zur Methode der Ideation, sie entwickeln in interdisziplinären Teams aus den Fächern Ökonomie, Informatik, Ingenieurwissenschaften und Psychologie in sehr kurzer Zeit Lösungen in Form von Prototypen, testen diese auf dem Campus und präsentieren am fünften Tag der Challenge ihre Ergebnisse einer Jury aus Expert_innen. Die forschungsorientierten Formate Im Mittelpunkt der Summer School Nachhaltigkeit und Resilienz steht die Auseinandersetzung mit zwei wissenschaftlichen Konzepten, hinter denen sich eine multidisziplinäre (fach-)wissenschaftliche Welt verbirgt. Durch jene Auseinandersetzung erarbeiten sich die Studierenden Zugänge in die Denk- und Arbeitsweisen geistes- und naturwissenschaftlicher Disziplinen. In thematisch fokussierten Projektteams geht es darum, eine differenzierte Vorstellung der Begriffe und ihrer verschiedenen Interpretationen zu entwickeln und deren Gebrauch inhaltlich-kritisch zu hinterfragen, Zusammenhänge zwischen

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ihnen zu erkennen und ihre Bedeutung für verschiedenste Akteure in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft richtig einzuordnen. In der dreiwöchigen Summer School Über den Tellerrand werden die Studierenden in das interdisziplinäre Forschungsfeld der Food Studies eingeführt und ergründen Wirkungszusammenhänge von Essen und Ernährung aus sozialer, politischer, geographischer, kultureller, ökonomischer, technischer oder medizinischer und biologischer Perspektive. Anhand einer selbstgewählten Fragestellung führen sie in fachlich gemischten Teams eine angeleitete empirische Untersuchung durch und präsentieren ihre Ergebnisse einem hochschulöffentlichen Fachpublikum. Die experimentellen Formate Was passiert, wenn? Die Summer School Interstellare Raumfahrt geht mit Studierenden der Geistes-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften auf eine zweiwöchige unbemannte interstellare Reise zum nächstgelegenen Exoplaneten der Erde und dockt damit an ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der University of California, Santa Barbara (UCSB)7 an, von der auch zwei prominente Wissenschaftler aktiv an der Summer School mitwirken. Die Studierenden erhalten Einblicke in ein hochaktuelles interdisziplinäres Forschungsfeld und bearbeiten wissenschaftlich fundiert die sozialen, kulturellen, ethischen, politischen und ökonomischen Dimensionen und Herausforderungen einer solchen Mission. In Kooperation mit dem Förderprogramm LabExchange (siehe den Beitrag von Yeh, in diesem Band) ist es den Studierenden möglich, im Anschluss an die Summer School einen Forschungsaufenthalt an der UCSB zu absolvieren. Die Summer School Arts & Science in Urban Contexts fragt nach dem Jetzt und der Zukunft von Urbanität und will die Studierenden dafür sensibilisieren, die Räume – seien sie sozial, geografisch oder umbaut –, in denen wir uns wie selbstverständlich bewegen, bewusst wahrzunehmen, zu erleben und zu

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Ausführliche Informationen zum Starlight-Projekt an der UCSB finden sich hier: https://www.deepspace.ucsb.edu/projects/starlight.

Die interdisziplinären Summer Schools an der Ruhr-Universität Bochum 465 verändern. Mithilfe einer künstlerisch-ästhetischen Methodik in sehr experimentellen Settings beschäftigen sich die Studierenden mit „Räumen von Morgen“. Mit solchen Methoden werden die Studierenden in Teams angeleitet, Räume zu erobern, sich diese anzueignen und gemeinsam mit den Lehrenden und Praktiker_innen aus dem Feld die disziplinären Dimensionen zu analysieren (ausführlich zur Methodik und deren Anwendung in der Lehre siehe den Beitrag von Klinge, Schulte & Weber, in diesem Band). Evaluation der Summer Schools Die Summer Schools bringen Studierende verschiedenster Fächer zusammen. Dabei entstehen kompetenzorientierte Lernräume, über deren Wirkung wir noch sehr wenig wissen. Was lernen die Studierenden, die an einer Summer School teilnehmen, wie zufrieden sind sie mit dem Format und vor allem: welche Kompetenzen erwerben sie? Die durchgeführten Summer Schools durchliefen eine umfangreiche Projektevaluation mithilfe standardisierter und individueller Erfassungsinstrumente. Betrachtet wurden die Anzahl der Teilnahmen und Abbrüche, die Entwicklungen der fachlichen und fachübergreifenden Kompetenzen sowie verschiedene Zufriedenheitsmaße, welche auch spezifische Einschätzungen zur Interdisziplinarität (zum Beispiel: „Die Veranstaltung hat mir dabei geholfen, die Stärken anderer Wissenschaftsdisziplinen zu erkennen.“) und offene Angaben abfragten. Zur Erfassung des fachlichen und überfachlichen Kompetenzerwerbs wurde im inSTUDIES-Projekt der Fragebogen zur Erfassung fachlicher und fachübergreifender Kompetenzen (FEffKo) entwickelt, mit dessen Hilfe die Selbsteinschätzung der Studierenden sowie deren Entwicklung im Prä-PostVergleich bezüglich der Fachkompetenz, Forschungskompetenz, interdisziplinären Kompetenz, interkulturellen Kompetenz, Anwendungskompetenz

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und Projektmanagementkompetenz erfasst werden.8 Darüber hinaus wird die Entwicklung der fachlichen Kompetenzen auch objektiv mithilfe von veranstaltungsspezifischen Wissenstests9, ebenfalls im Prä-Post-Design, erfasst. Die Evaluation der Summer Schools fällt durchweg positiv aus. Die mithilfe des FEffKo selbst eingeschätzten Kompetenzen zeigen einen signifikanten Zuwachs in allen Kompetenzbereichen.10 Auch die objektiv durch die Lehrenden beurteilten Wissensbestände11 der einzelnen Studierenden erreichten signifikante Zuwächse. Im Projektverlauf von inSTUDIES ist insgesamt zu beobachten, dass die Summer Schools sinkende Abbruchzahlen und eine stetig steigende Nachfrage aufweisen und dass sie insbesondere bei Masterstudierenden gefragt sind. Was sich den Zahlen entnehmen lässt: •



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Die Vermittlung überfachlicher Kompetenzentwicklung sollte eng an Fachinhalte gebunden sein, was für ein multidisziplinäres Setting mit klaren fachlichen und (fach-)methodischen Bezügen spricht. Das Konzept scheint aufzugehen. Der intensive Block in der vorlesungsfreien Zeit ermöglicht ein konzentriertes Lernen mit insgesamt

Die insgesamt 39 Items wurden in enger Zusammenarbeit mit allen inSTUDIES-Maßnahmenfeldern (siehe Mehrabi, in diesem Band) entwickelt und anhand einer projektübergreifenden Stichprobe (N=1023) erprobt. In einer Faktorenanalyse wurden sechs Subfaktoren hypothesenkonform extrahiert. Die interne Konsistenz der Subskalen ist hoch (Cronbachs Alpha=.894 bis .928). Die Einschätzung der 39 Selbstaussagen („Ich kann…“) erfolgt anhand einer Likert-Skala von 1=“gar nicht“ bis 5= „voll und ganz“. Der/die Lehrende erstellt den Wissenstest für die eigene Veranstaltung anhand eines Leitfadens einige Wochen vor dem Beginn, sodass der gleiche Test mit zehn inhaltlichen Fragen sowohl am Anfang als auch am Ende der Lehrveranstaltung den jeweils aktuellen Wissensstand bei allen Teilnehmenden erfasst. Die Erhebung erfolgt anonymisiert mithilfe eines Codes, sodass die Prä- und Postwerte anschließend zusammengeführt werden können. In Zahlen: Fachkompetenz (F(1,265)=47,37, p